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German Pages 357 [360] Year 2006
ULRICH MUHLACK
Staatensystem und Geschichtsschreibung
Historische Forschungen Band 83
Ulrich Muhlack
ULRICH MUHLACK
Staatensystem und Geschichtsschreibung Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung
Herausgegeben von Notker Hammerstein und Gerrit Walther
Duncker & Humblot • Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-12025-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Am 3. Oktober 2005 beging Ulrich Muhlack seinen 65. Geburtstag. Nach akademischen Gepflogenheiten wäre dies Anlaß gewesen, ihm eine Festschrift aus Beiträgen seiner Freunde, Schüler und Bekannten darzubieten. Um Zahl, Qualität und Interesse der zu erwartenden Artikel hätte man nicht bange sein müssen. Beeindruckend genug sind das Ansehen, dessen sich der Jubilar in der Fachwelt erfreut, seine Erfolge als akademischer Lehrer, Rang und Format seiner gelehrten Freunde, aber auch seiner wissenschaftlichen Gegner. Die Voraussetzungen also wären ideal gewesen. Gleichwohl stand einer solchen Würdigung ein unüberwindliches Hindernis entgegen: wie einst sein Lehrer Otto Vossler lehnt Ulrich Muhlack solche gut gemeinten, aber notwendig planlosen Sammlungen entschieden ab. Deshalb nehmen wir das Datum zum Anlaß einer Auswahl seiner eigenen, verstreut erschienenen Aufsätze. Sie ehrt den Autor, indem sie einmal mehr die Breite seiner Interessen dokumentiert und die Präzision seines Zugriffs, die Meisterschaft seiner Methodik erkennen läßt. Einer breiteren Fachöffentlichkeit gibt sie zudem Gelegenheit, sich die Forschungsleistung eines Gelehrten zu vergegenwärtigen, der die deutschsprachige Historiographiegeschichte seit den Siebziger Jahren auf wichtigen Themenfeldern entscheidend mitgeprägt hat. Diese Öffentlichkeit kennt Ulrich Muhlack, der als Professor für Allgemeine historische Methodenlehre und Geschichte der Geschichtswissenschaft am Historischen Seminar in Frankfurt a. M. lehrt, als Fachmann für die Ideengeschichte des Humanismus, der Aufklärung und des Historismus. Seit der gemeinsam mit Ada Hentschke verfaßten „Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie" (1972) verfolgt er diese Themen; ihnen ist seine grundlegende Darstellung zur „Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung" (1991) gewidmet. Sein magistraler Artikel über Beatus Rhenanus für den „Humanismus"-Band des „Verfasserlexikons" und sein derzeit wichtigstes Projekt, die im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unternommene historisch-kritische Edition des Briefwechsels Leopold von Rankes, sind die jüngsten Manifestationen dieses Forschungsschwerpunkts. Eben deshalb aber sollten diese klassischen Muhlack-Themen in diesem Band nicht im Zentrum stehen. Absichtsvoll haben wir vielmehr solche Schriften ausgewählt, die eventuell weniger bekannt sind. Dazu gehören Aufsätze zum frühneuzeitlichen Frankreich, einem Thema, das der Jubilar nicht nur oft in der akademischen Lehre, sondern auch in Publikationen behandelt hat. Ferner präsentiert der
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Vorwort
Band Arbeiten, die in besonders charakteristischer Weise Fragestellungen und Argumentationsweisen des Historikers Muhlack sichtbar machen. Dieser wissenschaftliche Ansatz besteht, sehr verkürzend gesagt, darin, Konstellationen der Historiographiegeschichte aus ihrem Wechselverhältnis mit der zeitgenössischen Politik zu analysieren, Probleme der Epochenbildung und der Genese europäischer Staatlichkeit hingegen stets unter Rekurs auf die Formen und Weisen zu diskutieren, in denen sie in der Geschichtsschreibung ihrer eigenen wie späterer Epochen dargestellt und gedeutet wurden. Im Geiste Benedetto Croces und Otto Vosslers betrachtet auch Ulrich Muhlack „Geschichte als Gedanke und als Tat". Abstraktes Theoretisieren hingegen, Positivismen und politische Korrektheiten aller Art gelten ihm als Rückfälle hinter die kritischen Errungenschaften jenes Historismus, dessen Prinzipien und Methoden er nicht nur maßgeblich erforscht, sondern auf eine prägnante, dem Zeitgeist mitunter provokante Art zu aktualisieren gewußt hat. Die in diesem Band versammelten Aufsätze umfassen Muhlacks gesamte Schaffenszeit - von den Anfängen in den Siebziger Jahren bis in die jüngste Gegenwart. Die mögliche Frage, aus welchen Gründen wir keine chronologische, sondern eine systematische Ordnung gewählt haben, wird sich bei der Lektüre von selbst beantworten. Mehrere Helferinnen und Helfer haben dazu beigetragen, den Band auf den Weg zu bringen. Die wichtigsten unter ihnen waren Herr Prof. Dr. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot, der ihn in die Reihe der „Historischen Forschungen" aufnahm, und Herr Prof. Dr. Johannes Kunisch (Köln), der entscheidende Hilfe bei der Durchführung des Unternehmens geleistet hat. Ihnen danken wir ebenso wie den Verlagen, bei denen die Aufsätze zuerst erschienen sind, und der Gerda Henkel Stiftung, die das Werk durch einen Druckkostenzuschuß unterstützt hat. Nicht minder hilfreich wirkten die Energie und der Enthusiasmus, mit denen die Wuppertaler Mitarbeiter Cornelia Hespers, Jennifer Hübing, Martin Szameitat und Oliver Waldinger alle technischen Vorbereitungen erledigten. Ihnen, den Enkelschülern des zu Ehrenden, danken wir besonders. Notker Hammerstein und Gerrit Walther
Inhalt Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze Die Frühe Neuzeit als Geschichte des europäischen Staatensystems
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Thronfolge und Erbrecht in Frankreich
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Absoluter Fürstenstaat und Heeresorganisation in Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV.
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Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland
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Die humanistische Historiographie. Umfang, Bedeutung, Probleme
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Historie und Philologie
142
Geschichte und Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
173
Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus
200
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Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin
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Universalgeschichte und Nationalgeschichte. Deutsche Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts und die „Scientific Community" 254 Die „Germania" im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert
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Historie und Politik im Vormärz
300
Das europäische Staatensystem in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts 313
Register
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Mittelalter und Humanismus Eine Epochengrenze Gibt es eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus? Die bloße Frage könnte, streng genommen, nicht nur falsch gestellt, sondern geradezu widersinnig scheinen. Denn der Humanismus oder, wie man heute gewöhnlich sagt, Renaissance-Humanismus, um den es hier gehen soll, gehört, zumal in seinem Ursprungsland Italien, weithin selbst dem Mittelalter an; er ist wesentlich ein Phänomen des 14., 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Und überhaupt: die Begriffe „Mittelalter" und „Humanismus" sind offenbar völlig inkommensurabel; der eine ist ein Zeitbegriff, der andere bezeichnet eine kulturgeschichtliche Erscheinung; wie soll da von einer Epochengrenze die Rede sein? Man könnte also höchstens fragen, wie der Humanismus sich zu anderen Kulturerscheinungen des Mittelalters verhält, ob oder inwieweit er da Epoche macht. Freilich: eine solche Umformulierung wäre nur geeignet, den Kern des Problems zu verdecken, das hier anhängig ist. Denn wer nach einer Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus fragt, dem geht es nicht um die Binnengliederung der Kulturgeschichte des Mittelalters, sondern um den Aufbruch zur Moderne, der fragt also nach dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit. Diese Betrachtungsweise reicht bekanntlich bis in die Zeiten des Humanismus selbst zurück. Die Humanisten grenzen sich aufs schärfste von der bisherigen mittelalterlichen Welt ab und führen nach ihrem Selbstverständnis eine ganz neue Epoche herauf. Mehr noch: sie bringen aus dieser Entgegensetzung heraus zum erstenmal den Begriff des Mittelalters wie damit überhaupt die uns vertraute Epochentrias hervor. Das Mittelalter: das ist ursprünglich der Zeitraum zwischen dem verehrungswürdigen Altertum und der Gegenwart, die durch die Wiederbelebung des Altertums zur Neuzeit wird. Der Humanismus konstituiert sich, indem er sich von diesem Mittelalter distanziert, das er am liebsten aus dem Gedächtnis der Menschheit ausgelöscht hätte. Der Mediävistik sei Dank, daß wir inzwischen ein sehr viel erfreulicheres Bild vom Mittelalter haben; aber das Wort hat überlebt und hält den humanistischen Begriff mitsamt seinen Implikationen und Konnotationen gegenwärtig; die Mediävistik selbst ist auf ihn gegründet, und obwohl sie alles daran gesetzt hat, ihre zugegebenermaßen unrühmliche Geburt vergessen zu machen, sollte sie doch wiederum unablässig den Tag preisen, an dem der Humanismus ihr durch die Erfindung des Mittelalters zur Existenz verholfen hat. JedenErstveröffentlichung in: Barbara Schlieben / Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, 51-74.
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Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
falls ist es bis heute dabei geblieben, daß wir Mittelalter und Humanismus einander gegenüberstellen, zueinander in Beziehung setzen, als je eigene Begriffe gebrauchen: daß wir nach einer Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus fragen. Allerdings ist diese Grenze, verglichen mit der scharfen humanistischen Zäsur, längst fließend geworden. Heute haben wir es vielfach mit einem Humanismus-Begriff zu tun, der nicht nur den alten Kontrast des Renaissance-Humanismus zum Mittelalter einebnet, sondern auch sonst epochale Unterschiede oder Gegensätze aufhebt. Es ist nämlich üblich geworden, den Humanismus, über den RenaissanceHumanismus hinaus, als eine Jahrhunderte und Jahrtausende übergreifende Bildungsbewegung aufzufassen: sie beginnt bei den Griechen, setzt sich bei den Römern fort, lebt im Mittelalter weiter, wird in der Renaissance aufgenommen, bleibt auch im konfessionellen Zeitalter und in der Aufklärung wirksam und erreicht vorerst letzte Höhepunkte im Neuhumanismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und im „dritten Humanismus" des beginnenden 20. Jahrhunderts. Zwar werden Differenzen zwischen den einzelnen „Humanismen" nicht geleugnet; jeder von ihnen bekommt sein spezifisches Epitheton wie eben auch der RenaissanceHumanismus im Verhältnis zum mittelalterlichen Humanismus. Aber das eigentliche Interesse gilt doch dem Gemeinsamen, Verbindenden, Durchgängigen, den Momenten der Kontinuität. Das neueste Buch über den Renaissance-Humanismus bringt das in den allerersten Sätzen sozusagen auf einen geschichtstheoretischen Begriff: „Wirkliche Geschichte", so heißt es da, „kennt keine Diskontinuitäten. Sie ist unduldsam gegenüber Periodisierungen. Die wahre Aufgabe des Historikers besteht in nichts anderem, als die Kontinuitäten in der menschlichen Geschichte freizulegen und die langfristigen Entwicklungen zu ermitteln, die unter der bewegten Oberfläche der eher zufälligen Ereignisse liegen."1 Eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus ist hier nicht mehr vorgesehen. Mir scheint, daß dieser universale Humanismus-Begriff noch vor aller empirischen Überprüfung, rein durch seinen Zuschnitt stärkste Bedenken erregen muß. Natürlich ist Kontinuität eine Grundkategorie der Geschichte: wer wollte das bestreiten! Aber in der Geschichte gibt es offenbar auch Veränderungen, Einschnitte, Brüche, die sich auf keine Weise kleinreden oder wegreden lassen, es sei denn um den Preis völliger historischer Blindheit. Wenn man schon von der „wahren Aufgabe des Historikers" spricht, dann besteht sie darin, Kontinuitäten und Diskontinuitäten dynamisch aufeinander zu beziehen und aus ihnen gewissermaßen Kontinuitäten höherer Ordnung zu gewinnen. Es ist demgemäß nichts dagegen einzuwenden, ein Phänomen wie den Renaissance-Humanismus in einen größeren Traditionszusammenhang einzuordnen. Um so mehr kommt es aber darauf an, unser terminologisches Instrumentarium so zu schärfen, daß uns dabei keine Nuance, keine Facette, nichts Besonderes oder Individuelles entgeht. 1 Anthony Levi, Renaissance and Reformation. The intellectual genesis, New Haven/London 2002, 1.
Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
Der universale Humanismus-Begriff, der heute im Schwange ist, leistet das nicht und kann das nicht leisten. Ein historischer Begriff sollte, um zur Analyse historischer Phänomene zu taugen, hinreichend allgemein und hinreichend trennscharf sein. Dieser Humanismus-Begriff ist derart verallgemeinert, daß er so gut wie nichts mehr trennt. Er bezeichnet nur noch, wie man zuletzt definiert hat, „das Streben nach Bildung zum Menschen in der Auseinandersetzung mit der antiken, insbesondere der griechischen Kultur". 2 Er ist damit zwar immer noch ein gutes Stück von dem Allerweltshumanismus unserer Alltagssprache entfernt, der, um es mit August Buck zu sagen, „jeden beliebigen Inhalt deckt, sofern er nur in irgendeiner Beziehung zu den Angelegenheiten des Menschen steht".3 Aber er ist nicht nur vollkommen außerstande, zu einer Spezifizierung der von ihm befaßten Phänomene beizutragen, sondern verleitet gewissermaßen auch dazu, sich von diesem notwendigen Geschäft zu dispensieren. Eine qualifizierte Aussage über das Verhältnis des Renaissance-Humanismus zum Mittelalter schließt er aus. In dieser Situation liegt es nahe, frei mit Friedrich Gundolf gesprochen, an große Menschen zu erinnern, die wir zwar nicht nachahmen können, aber die uns doch Maßstäbe liefern. Ich meine die Diskussion um Mittelalter und Humanismus, die am Ende des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland geführt worden ist und der auf seine Weise auch Gundolf zugerechnet werden kann. Den Ausgangspunkt der Debatte bildet das Renaissance-Buch von Jacob Burckhardt, das eine förmliche mediävistische Reaktion auslöst, bis dann auf höherer Ebene eine Rückkehr zu Burckhardt stattfindet, die einer Fortentwicklung Burckhardts gleichkommt. Die Teilnehmer an dieser Debatte, die aus dem ganzen Spektrum der historischen Disziplinen stammen, verfolgen Erkenntnisinteressen, die aufs engste mit den politischen und ideologischen Konfliktlagen ihrer Zeit zusammenhängen. Was sie alle bewegt und am Ende, nach dem Schock der deutschen Niederlage von 1918, geradezu umtreibt, ist die Frage, welcher Platz ihrer Nation unter den Nationen zukommen soll: die Frage nach der Geltung des „deutschen Geistes" in einer Welt der sich verschärfenden nationalen Gegensätze. Sie stellen diese Frage, je nach ihrem politischen Standort, auf verschiedene Weise und in verschiedener Absicht. Sie haben dabei aber ein gemeinsames Bedürfnis an historischer Bestandsaufnahme oder historischer Aufklärung dessen, womit sie sich konfrontiert sehen. Wo der gegenwärtige und zukünftige Rang der deutschen Nation auf dem Spiele steht, kommt es offenbar zunächst darauf an, Klarheit über ihre Herkunft zu gewinnen, und zwar im Vergleich zur Herkunft anderer europäischer Nationen. Dabei konzentriert sich alles Interesse auf die Anfänge der deutschen Moderne, auf den Beginn der „deutschen Neuzeit" im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Geschichte Europas. In diesem Kontext bekommt der Ausgang 2 Eckard Lefevre, Humanismus und humanistische Bildung, in: Stiftung „Humanismus heute" des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.), Humanismus in Europa (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, R. 2. N. F., Bd. 103), Heidelberg 1998, 1 -43, hier 2. 3 August Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen (Orbis academicus, Bd. 1 / 16), Freiburg i. Br. / München 1987, 448.
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Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
der europäischen Nationen aus der mittelalterlichen Welt und bekommen damit auch die verschiedenen nationalen Spielarten des Renaissance-Humanismus besondere Bedeutung. Man sucht zu ergründen, wie sich die Differenzierung der Nationen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzogen habe, ob oder inwieweit der Humanismus und seine Verbreitung zu dieser Differenzierung beigetragen hätten, auch im Verhältnis zu anderen Phänomenen wie der Reformation, die für Deutschland als entscheidendes Merkmal hinzutritt: bis zu dem Punkt, daß man die „deutsche" Reformation von dem „westlichen" Renaissance-Humanismus abhebt. Es ist unausweichlich, daß diese Debatte durchgängig von den ideologischpolitischen Positionen der Kontrahenten geprägt bleibt. Wesentlich ist aber, daß sie keineswegs in ihnen aufgeht, sondern zugleich der wissenschaftlichen Klärung der Probleme dient, um die sie sich dreht. Sie bietet damit ein Schulbeispiel dafür, wie aus praktischen Motiven eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung entsteht, die auch jenseits dieser Motive Bestand hat oder doch schlicht Anerkennung verdient. In der Folge soll allein diese wissenschaftliche Dimension der Debatte interessieren. Wohlgemerkt: es ist nicht beabsichtigt, die ideologisch-politischen Voraussetzungen der Debatte auszuklammern oder zu verdrängen. Sie sind offensichtlich genug und müssen daher, wie das oben auch geschehen ist, in Ansatz gebracht werden. Beabsichtigt ist vielmehr etwas anderes: nämlich den wissenschaftlichen Anspruch, den die Teilnehmer an dieser Debatte erheben, ernst zu nehmen und damit den wissenschaftlichen Ertrag der Debatte zu würdigen. Der wissenschaftliche Anspruch ergibt sich aus dem Erkenntnisinteresse selbst, das diese Autoren leitet: Sie wollen, um sich in ihrer von nationalen Kämpfen oder Herausforderungen erfüllten Gegenwart zu orientieren, wissen, aus welchen Wurzeln die Gegenwart erwachsen ist, und sie wollen und müssen das so zuverlässig, so objektiv wie möglich wissen; sie haben, um es zugespitzt zu sagen, einen politisch-ideologischen Bedarf an historischer Objektivität. Das unterscheidet sie, so wenig sie auch, bis in die Verzweigungen ihrer wissenschaftlichen Studien hinein, ihren jeweiligen politisch-ideologischen Standort verleugnen können, von Tendenzhistorikern, und das berechtigt und verpflichtet uns, sie an wissenschaftlichen Kriterien oder Standards zu messen. Man kann verallgemeinernd sagen, daß diese Dialektik politischideologischer und wissenschaftlicher Motive einen Grundzug der modernen Geschichtswissenschaft ausmacht, jedenfalls von ihr zum erstenmal ins Bewußtsein gehoben worden ist. Jeder, selbst der „zünftigste" Historiker steht, direkt oder indirekt, im Banne normativer Anschauungen; aber als Historiker geht einer nur dann durch, wenn es ihm gelingt, solche Anschauungen in wissenschaftliche Fragestellungen zu übersetzen. Die Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft zeugt von dem fortgesetzten Bemühen um eine Lösung dieser Aufgabe, und die dichte Reihe „guter" Historiker demonstriert uns, daß sie, egal in welchen politisch-ideologischen Verhältnissen, tatsächlich gelöst werden kann. Natürlich ist es völlig legitim, die normativen Anschauungen von Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts zu thematisieren und insoweit Historiographie-
Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
geschichte als politische Ideengeschichte oder überhaupt politische Geschichte dieser Zeit zu betreiben. Andererseits ist es ebenso legitim, sich vorrangig ihrem wissenschaftlichen Tun zu widmen. Diese Intention ist hier auch deswegen die maßgebliche, weil sich davon ein besonderer Erkenntnisgewinn erhoffen läßt. Denn daß sich Historiker von bestimmten normativen Anschauungen leiten lassen, ist, offen gestanden, weder überraschend noch auch besonders aufschlussreich. Genuine politische Denker, Programmatiker oder gar Akteure finden sich unter Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts eher selten; die meisten schwimmen im Strom der gängigen Meinungen mit. Man sollte sie daher primär dort aufsuchen, wo ihr originärer Sitz ist: in ihrer wissenschaftlichen Arbeit, in der auch ihre politischen Ansichten allererst ihren spezifischen Stellenwert erhalten. Das trifft gerade auch in unserem Fall zu. Autoren wie Konrad Burdach oder Paul Joachimsen, die uns gleich beschäftigen werden, vertreten politische Positionen, eignen sich aber nicht zu einer politischen Biographie; sie wären mit Recht längst vergessen, wenn es allein um Politik ginge. Sie haben uns vielmehr nur deswegen etwas zu sagen, weil sie, aus ihrer Lebenswelt heraus, sich wissenschaftliche Probleme gestellt haben, auf die zurückzukommen sich heute noch lohnt. Eines allerdings ist absolut illegitim: sich mit Historiographiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter der Voraussetzung zu befassen, daß es prinzipiell unmöglich sei, politisch-ideologische und wissenschaftliche Motive eines Historikers zu unterscheiden, daß vielmehr die letzteren eine bloße Funktion oder eigentlich nur eine Variante der ersteren seien. Natürlich gab und gibt es immer wieder Historiker oder sogenannte Historiker, für die das gilt: Anbeter der Macht, Handlanger einer Partei, Liebediener der öffentlichen Meinung. Mit Anspruch und Wirklichkeit der Geschichtswissenschaft insgesamt darf das nicht verwechselt werden. Wer sich dieser Einsicht verweigert, gibt damit nur zu erkennen, daß er nach ebenderselben Devise verfährt, die er fälschlich zum Prinzip der Geschichtswissenschaft schlechthin erklärt. In der Tat: wo immer der Historie die Möglichkeit zur Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird, sehen wir politisch-ideologische, nichtwissenschaftliche Motive am Werk. Deutsche Historiker um 1900 geraten dabei besonders ins Fadenkreuz, weil sie vielfach politische Vorstellungen hegen, mit denen die unseren nicht harmonieren. Um so wichtiger ist es, daß man sich ihrer auf wissenschaftliche Weise annimmt. Dazu gehört, daß man ihre politischen Vorstellungen selbst, statt sie im nachhinein und damit völlig wirkungslos zu kritisieren, im Horizont ihrer Zeit zu verstehen sucht, und dazu gehört vor allem, daß man zum Gegenstand der Analyse macht, was ihnen eigentümlich ist: ihr wissenschaftliches Werk. Genug solcher Betrachtungen, die sich im Grunde von selbst verstehen, die aber, wie jeder Kundige weiß, alles andere als überflüssig sind.4 Es sei noch bemerkt, 4 Ein extremes Beispiel für die Auffassungen, von denen sich dieser Exkurs abhebt: Stefan Berger, The Search for Normality. National Identity and Historical Consciousness in Germany since 1800. Providence, R.I./Oxford 1997; dazu meine Rezension in: German Historical Institute London. Bulletin 22, 2000, 36-43. Der Autor will vor der Wiederkehr der
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Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
daß die folgende Skizze von den unmittelbaren inhaltlichen Ergebnissen der Debatte, um die es sich hier handelt, absieht; sie sind naturgemäß durch die nachfolgende Spezialforschung in vielem überholt. Im Vordergrund steht vielmehr ihr begrifflich-methodischer Gehalt, der uns immer noch angeht. Die Debatte geht von Burckhardt aus; auf ihn ist daher zunächst zurückzukommen. Man kann sagen, daß die Humanismus-Deutung, die Burckhardt 1860 in seinem Renaissance-Buch gibt 5 , auf der Selbstdeutung der italienischen Humanisten des 14.-16. Jahrhunderts fußt. Diese Humanisten stellen das ästhetische Programm einer Wiederbelebung der klassischen lateinischen Sprache und Literatur auf, von der sie eine Erneuerung der Welt erwarten; sie verstehen sich als Literaten, die nur dies sein wollen und sich dabei einer ebenso ständeübergreifenden wie europaweiten res publica litteraria zugehörig fühlen; sie haben eine genaue Vorstellung von den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihr Aufkommen begünstigen; die Blüte der italienischen Staatenwelt seit dem Ende der Stauferherrschaft steht ihnen dabei obenan. Sie haben also nicht nur ein intellektuelles und soziales Selbstverständnis, sondern wissen sich auch in allgemeinen Rahmenbedingungen aufgehoben. Sie gewinnen aus alledem das Bild einer humanistisch geprägten Kultur oder Zivilisation, die sie insgesamt, ausgehend von der Abgrenzung ihres Bildungsprogramms, als im schroffen Gegensatz gegen das von ihnen so genannte Mittelalter befindlich ansehen. Flavio Biondo hat diese humanistische Selbstdeutung in seinen großen historiographischen Werken, in den „Dekaden" und in der „Italia illustrata", schulbildend niedergelegt.6 Seitdem ist sie in die verschiedensten Zusammenhänge eingegangen: Cellarius bezieht sie in sein von der Reformation bestimmtes Geschichtsbild ein 7 ; Voltaire überträgt sie in sein Modell einer Geschichte der Zivilisationen, die ihm auf die aufgeklärte Zivilisation der Gegenwart „Nation" bei deutschen Historikern warnen, indem er mit der „nationalen Tradition" der deutschen Geschichtswissenschaft und ihren angeblichen Nachfolgern politisch abrechnet; er hat kein wissenschaftliches Motiv und daher auch keinerlei Blick für die wissenschaftlichen Motive seiner Gewährsleute. Man trifft die „methodische" Gesinnung, die hier hervortritt, gewiß selten in dieser Unverblümtheit an; aber ihre Versatzstücke sind weiter verbreitet, als man zunächst denken möchte. 5 Neueste Ausgabe: Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Hrsg. v. Horst Günther (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 38. = Bibliothek der Geschichte und Politik, Bd. 8), Frankfurt/Main 1989; zum methodischen Ansatz des Buches auch Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften, hrsg. v. Peter Ganz, München 1982, 225 ff. - Alles Folgende trifft grundsätzlich auch auf das fast gleichzeitige Humanismus-Werk von Georg Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Berlin 1859, zu. 6 Dazu zuletzt: Ottavio Clavuot, Flavio Biondos „Italia illustrata". Porträt und historischgeographische Legimitation der humanistischen Elite Italiens, in: Johannes Helmrath/Ulrich Muhlack/Gerrit Walther (Hrsg.) Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 55-76. 7 Christoph Cellarius, Historia universalis, in antiquam, medii aevi ac novam divisa, Jena 1696.
Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
und Zukunft zuläuft 8; Michelet behandelt sie als Vorspiel zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert. 9 Burckhardt baut diese ganze Tradition zu einem freilich bis dahin einzigartigen Panorama aus, das er die „Kultur der Renaissance in Italien" nennt. Die humanistische Wiederbelebung des Altertums, der spezifische soziale Status der Humanisten, der allgemeine Lebenszusammenhang, in den sie einbezogen sind, die Abkehr vom Mittelalter: das alles wird jetzt systematisch entfaltet und unendlich differenziert. Die bisherige Auffassung des Humanismus erscheint hier abschließend und gültig kodifiziert, auch in dem Sinne, daß Burckhardt selbst noch ganz den Wertvorstellungen der Humanisten verpflichtet oder verhaftet bleibt. Es wäre allzu vereinfacht, wollte man der mediävistischen Reaktion gegen Burckhardt, die ein paar Jahrzehnte nach der Erstausgabe des Renaissance-Buchs einsetzt, unterstellen, es sei ihr lediglich um eine Aufwertung des Mittelalters gegenüber dem Humanismus oder, allgemein gesprochen, der Renaissance gegangen. An Mittelalterbegeisterung hat es bekanntlich auch vor Burckhardt nicht gefehlt, ohne daß das traditionelle Humanismus-Bild dadurch umgestoßen worden wäre. Als die Romantiker seit 1800 das Mittelalter neu entdecken, lassen sie gewöhnlich die humanistische Tradition daneben weiter gelten, die sie höchstens bis zu einem gewissen Grade marginalisieren, aber nicht grundsätzlich in Frage stellen. Sofern sie aber doch das Mittelalter gegen den Humanismus ausspielen, bleibt die unvermittelte Trennung, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, erhalten. Die mediävistische Reaktion gegen Burckhardt zielt noch auf etwas anderes: nämlich auf diese schroffe Opposition selbst, die Burckhardt von der traditionellen Deutung übernimmt und gewissermaßen noch steigert. Burckhardts Stärke ist, daß ihm auf seinem Wege eine genaue, festumrissene, in sich abgeschlossene Beschreibung der Phänomene gelingt, die er thematisiert: der Renaissance, die ihm für die Gesamtheit des italienischen Lebens vom 13. bis zum 16. Jahrhundert steht, und des Humanismus, der in ihr als besondere Formation enthalten ist, dabei aber nicht getrennt von ihr gedacht werden kann. Er führt damit vor, welche Kriterien erforderlich sind, um geschichtliche Erscheinungen dieser Art analytisch zu durchdringen und zu spezifizieren. Wer das Wort vom Renaissance-Humanismus ernst nimmt, dem erschließt sich hier die ganze Komplexität einer Sache, die gleichermaßen der Ideengeschichte, der Sozialgeschichte und der politischen Geschichte angehört und nur von daher erfaßt werden kann. Die andere Seite der Medaille besteht darin, daß Burckhardt dabei alles auf ein statisches Bild fixiert. Er gibt eine Zustandsbeschreibung, die ganz auf sich selbst beruht: eine als Querschnitt oder Querdurchschnitt angelegte Strukturanalyse, die ihren Gegenstand sozusagen stillstellt. Die Frage nach dem Anfang, nach der weiteren Ent8
Voltaire , Essai sur les moeurs et l'esprit des nations et sur les principaux faits de l'histoire depuis Charlemagne jusqu'à Louis XIII. Ed. René Pomeau, 2 Bde., Paris 1963. 9 Jules Michelet, Histoire de France au seizième siècle: Renaissance (ders., Histoire de France, Vol. 7) Paris 1855.
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Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
wicklung und nach dem Ende der Renaissance-Kultur kommt nicht zur Erörterung. Das Mittelalter erscheint als Hintergrund, von dem sich diese Kultur abhebt, aber weder als ihre Voraussetzung noch als ihre Herausforderung. Burckhardt bringt allenfalls wenige ganz isolierte Hinweise auf Verbindungslinien, die vom Mittelalter zur Renaissance führen; eine methodische Gesamtanalyse fehlt. Dazu kommt, durchaus folgerichtig, ein gleichsam naiver Begriffsgebrauch. Burckhardt liefert eine präzise Charakteristik der Phänomene, hält es aber nicht für nötig, eigens auf die Terminologie zu reflektieren, die er für sie benutzt. Er spricht von „Renaissance" und „Humanisten", ohne sich weiter dabei aufzuhalten. Beide Begriffe, seit Michelet 10 und Ranke11 üblich, entbehren schon bisher einer analytischen Distinktion und haben sich eher absichtslos entwickelt: der eine aus der rinascita der Künste bei Vasari 12, der andere aus den studia humanitatis und ihrer Anfechtung durch den Philanthropinismus 13. Burckhardt übernimmt sie zur äußeren Etikettierung, gebraucht sie auch nur selten, aber dabei wie selbstverständlich; kurzum, ein terminologisches Problembewußtsein liegt ihm gänzlich fern. Wie sollte er auch eines haben, da ihm die Phänomene selbst als ebenso deutlich konturierte wie tektonisch festgefügte Gebilde vor Augen stehen! Die mediävistische Reaktion auf Burckhardt hat diese beiden Punkte im Visier, die sie als Defizite ansieht. Einerseits kommt es ihr darauf an, das statische Bild von Renaissance und Humanismus in historische Dynamik zu versetzen, beide in Zusammenhang mit dem Mittelalter zu bringen, den geschichtlichen Prozeß offenzulegen, der das bis dahin Getrennte verbindet; die entscheidende Frage lautet, wie Renaissance und Humanismus aus dem Mittelalter entstanden sind; die strukturelle Analyse weicht der genetischen. Diese neue Fragestellung bringt notwendigerweise ein neues Interesse an begrifflicher Klärung mit sich. In demselben Maße, in dem die Phänomene ihre statische Geschlossenheit verlieren, wächst den Begriffen analytische Bedeutung und damit eine durch klare Definitionen festzulegende Bestimmtheit zu. Wenn ein Autor es verdient, stellvertretend für diese ganze Richtung genannt zu werden, dann ist es der Germanist Konrad Burdach, auch deswegen, weil in seinem über Jahrzehnte hin entstandenen Œuvre gewissermaßen auch die von anderen Autoren gesponnenen Fäden zusammenlaufen 14; unter ihnen sind vor allem noch 10 Wie Anm. 9. 11
Vgl. Leopold Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1, Berlin 1839, 264. 12 Giorgio Vasari, Le vite de' piu eccellenti pittori scultori e architettori. Hrsg. v. Karl Frey, Bd. 1, 1911, 5; nach: Jan Huizinga, Das Problem der Renaissance. Renaissance und Realismus (Libelli, Bd. 6), 2. Aufl., Darmstadt 1952, 9, 62. 13 Friedrich Immanuel Niethammer, Philanthropinismus - Humanismus. Texte zur Schulreform. Hrsg. v. Werner Hillebrecht (Kleine pädagogische Texte, Bd. 29), Weinheim / Basel / Berlin 1968. 14
Von Burdach kommen hier vor allem folgende Schriften in Betracht: Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung, 2. Aufl. Berlin 1917 (Neudruck Berlin
Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
die beiden Kunsthistoriker Henry Thode 15 und Carl Neumann16 zu erwähnen. Burdach ist auf Wegen, die hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen sind, von der Erforschung der Anfänge der neuhochdeutschen Sprache und Literatur auf das Gebiet des frühen deutschen und dann alsbald des italienischen Humanismus sowie der italienischen Renaissance und ihrer außeritalienischen Analogien vorgedrungen und hat es in immer neuen Anläufen bearbeitet. Es wird sein erklärtes Ziel, auf Renaissance und Humanismus „die historisch-genetische Auffassung" anzuwenden 17 ; im formulierten Widerspruch zu Burckhardt heißt es: „Meine Forschung [ . . . ] betont weniger das Zuständliche und Gesetzliche. Sie sucht überhaupt nicht den Querschnitt der Epoche, sondern ihren Längsschnitt: den wechselvollen genetischen Prozeß." 18 Allerdings ist es ihm, anders als Thode oder Neumann19, nicht darum zu tun, Renaissance und Humanismus weithin im Mittelalter aufgehen zu lassen. Jedenfalls verwahrt er sich entschieden gegen die Vorstellung, „dass ich zu viel aus dem Mittelalter herleite und das eigentümliche Neue, das die Renaissance brachte, unterschätze." 20 Er spricht vielmehr ausdrücklich vom „Jahrhundert der beginnenden Erneuerung, der Anfänge des modernen Geistes"21, „von einer Scheide der Epochen"22, und er hat insoweit auch keine Bedenken, wiederum „der universalen Behandlung der Epoche des Humanismus" bei Burckhardt zuzustimmen. 23 Er will also das Burckhardtsche Bild von Renaissance und Humanismus, jedenfalls in den großen Zügen, nicht auflösen, sondern historisch einordnen. Mit dieser Haltung geht übrigens zusammen, daß er sich der damals aufkommenden neoromantischen Glorifizierung des Mittelalters widersetzt und etwa einen Autor wie Richard Benz zurückweist, der die Renaissance zum „Verhängnis der deutschen Kultur" erklärt. 24
1920); Dante und das Problem der Renaissance, in: Deutsche Rundschau, 1924, 129-154 und 260-277; Reformation. Renaissance. Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, 2. Aufl., Berlin/Leipzig 1926 (Neudruck Darmstadt 1963); Die seelischen und geistigen Quellen der Renaissancebewegung, in: Historische Zeitschrift 149, 1934, 477-521. - Zu Burdach zuletzt: Klaus Garber, Versunkene Monumentalität. Das Werk Konrad Burdachs, in: ders., Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit, München 2002, 109- 157. 15 Henry Thode, Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1885. 16 Carl Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, in: Historische Zeitschrift 91, 1903,215-235. 17 Burdach, Deutsche Renaissance (wie Anm. 14), III. Burdach, Reformation (wie Anm. 14), VIII. 19 Neumann, Byzantinische Kultur (wie Anm. 16) spricht vom „Reifwerden mittelalterlicher Kultur, die nun herrliche Blüten entfaltet" (229 f.), bezeichnet die Renaissance „als letztes Wort des reif gewordenen mittelalterlichen Menschen" (231). 20 Burdach, Dante (wie Anm. 14), 260. 21 22 23
Burdach, Deutsche Renaissance (wie Anm. 14), 32. Burdach, Reformation (wie Anm. 14), 112, u. ders., Dante (wie Anm. 14), 266. Burdach, Reformation (wie Anm. 14), 98.
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Burdach setzt bei den Begriffen an, die sein Forschungsgebiet bestimmen, und da besonders bei dem Begriff der Renaissance, dem er denjenigen des Humanismus umstandslos gleichsetzt: beide seien „Wechselbegriffe, seien für eine wirkliche, aus den Quellen schöpfende kulturgeschichtliche Forschung eine Einheit." 25 Er verweist damit zugleich auf den Ausgangspunkt seiner Begriffsbestimmung: er hält sich nämlich an die Quellensprache und fragt nach der Bedeutung des Worts „Renaissance" oder richtiger: seiner Entsprechungen wie renovatio und regenerate im Selbstverständnis der Zeitgenossen des 13.-15. Jahrhunderts. Der nächste Schritt besteht darin, daß er in diesem Selbstverständnis den Kern des kulturellen Wandlungsprozesses erkennt, der sich, zunächst in Italien, dann auch in anderen Ländern, vom Mittelalter zur Renaissance vollzieht. Er gelangt also von der philologischen zu einer Analyse des zeitgenössischen Bewußtseins, aus der heraus er wiederum die Renaissance-Kultur insgesamt zu verstehen sucht. Seine Grundthese lautet, daß die Renaissance auf eine allgemeine Sehnsucht nach einer ganz diesseitigen, innerweltlichen Wiedergeburt des Menschen zentriert sei, die sich wiederum aus der joachimitisch-franziskanischen Sehnsucht nach religiöser Wiedergeburt entwickelt habe. Dieser Umschlag der einen in die andere Sehnsucht oder, anders gewendet, diese „Säkularisierung des Gedankens der Wiedergeburt", die zugleich ein neues Verständnis der Antike bedingt oder einschließt, macht für ihn gleichermaßen Kontinuität und Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance aus: „aus der Flamme der Selbstzerfleischung, der Selbstverzehrung entzündete sich das starke Feuer einer Sehnsucht, die im Irdischen die Schöpferkraft der Persönlichkeit mit überpersönlichem Gehalt zu erfüllen und in der Liebe zur Schönheit des Daseins, in deren künstlerisch-poetischer Gestaltung die Wiedergeburt des Menschentums, die Umfassung des Göttlichen zu gewinnen sucht." 26 Wie Burdach von dieser Bestimmung her die verschiedenen Seiten der Renaissance-Kultur durchleuchtet, muß hier außer Betracht bleiben. Genug, daß er überall auf die Autonomie der Renaissance-Gesinnung gegenüber zeitgenössischen „verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen" dringt; er sieht in solchen Gegebenheiten lediglich fördernde Bedingungen, auf die wiederum der Renaissance-Geist zurückgewirkt habe.27 Burdach hat, mitsamt seiner ganzen Richtung, von vornherein vehementen Einspruch erfahren, und zwar keineswegs nur von Historikern der Neuzeit. Walter 24 Richard Benz, Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Kultur, Jena 1915; dazu Burdach, Deutsche Renaissance (wie Anm. 14), 3 ff. - Vgl. insgesamt Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 116), Göttingen 1996, 137-162, sowie ders., Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz' „Kaiser Friedrich der Zweite" in den politischen Kontorversen der Weimarer Republik, in: ebd., 163-215. 25
Burdach, Reformation (wie Anm. 14), 93, 97 f. 6 Ebd., 83, 112. 27 Ebd., 146 ff. 2
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Goetz 28 , Karl Brandi 29 und Paul Joachimsen30 stehen an vorderster Front, aber als Exponenten eines breit- und tiefgestaffelten Lagers. 31 Am Ende ist ihnen nicht zweifelhaft, wer in diesem Streit obsiegt hat. Als Brandi 1932 eine Art Resümee zieht, stellt er fest: „In der Hauptsache aber, müssen wir gestehen, bleibt es bei dem, was Burckhardt zuerst so deutlich herausstellte." 32 „In der Hauptsache": diese Einschränkung bedeutet, daß es gegenüber Burckhardts Renaissance-Buch sehr wohl Veränderungen gegeben hat. In der Tat: Burdach und seine Richtung erleiden zwar, was ihre unmittelbaren Ergebnisse betrifft, einigermaßen Schiffbruch; aber sie haben methodische Postulate aufgestellt, die auch ihre Kritiker teilen; ja, die Kritik selbst besteht vielfach darin, daß man vor allem Burdach mangelnde Stringenz oder Konsequenz bei der Durchführung dieser Postulate vorhält. Es bleibt zunächst bei der Dynamisierung des Übergangs vom Mittelalter zur Renaissance und zum Humanismus, d. h. bei der genetischen Fragestellung. Burckhardts „Kultur der Renaissance" hört, wie der in sie eingelagerte Humanismus, auf, ein erratischer Block zu sein, und wird durchgängig, sei es im Positiven oder im Negativen, auf das Mittelalter bezogen, gerade in ihrer epochalen Neuheit vom Mittelalter her verständlich gemacht; es gibt jetzt auch Entwicklungsstufen oder Epochen innerhalb der Renaissance und innerhalb des Humanismus; es handelt sich also durchgängig, im strikten Sinne, um eine Historisierung des Burckhardtschen Querschnitts. Dazu kommt, um die Abgrenzung zum Mittelalter zu präzisieren, eine systematische Besinnung auf die leitenden Begriffe; die terminologische Naivität ist, angesichts der seit Burckhardt veränderten Fragestellung, verflogen; statt dessen herrscht jetzt ein Höchstmaß an terminologischer Reflexivität vor. Man kann insoweit sagen, daß Burckhardts Deutung erst jetzt auf Begriffe gebracht wird. Hier hat am meisten Paul Joachimsen geleistet, und zwar im scharfen Gegensatz zu den Definitionen Burdachs, die freilich, formal gesehen, 28 Walter Goetz, Mittelalter und Renaissance, in: Historische Zeitschrift 98, 1907, 30-54, sowie ders., Renaissance und Antike, in: Historische Zeitschrift 113, 1914, 237-259. 29 Vgl. besonders Karl Brandi, Das Werden der Renaissance. Vom Mittelalter zur Reformation; Renaissance und Reformation, in: ders., Ausgewählte Aufsätze. Als Festgabe zum 70. Geburtstag am 20. Mai 1938 dargebracht von seinen Schülern und Freunden, Oldenburg i. O./Berlin 1938, 279-304, 305-317 u. 348-354. 30 Von Joachimsen sind hier vor allem drei Abhandlungen einschlägig: Vom Mittelalter zur Reformation; Renaissance, Humanismus und Reformation; Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hrsg. v. Notker Hammerstein, Aalen 1970, 13-57, 125-147 u. 325-386. - Zu Joachimsen zuletzt: Notker Hammerstein, Paul Joachimsen, in: Garber (Hrsg.), Kulturwissenschaftler (wie Anm. 14), 159-173. 31 Vgl. etwa noch Ernst Troeltsch, Renaissance und Reformation, in: Historische Zeitschrift 110, 1913, 519-556; überarbeiteter Wiederabdruck in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hrsg. v. Hans Baron (Gesammelte Schriften, Bd. 4), Tübingen 1925 (Neudruck Aalen 1966), 261-296. 32 Brandi, Renaissance (wie Anm. 29), 348.
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seine eigenen Bemühungen stimuliert und damit ermöglicht haben; auch hier gilt sozusagen eine Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität. Joachimsen kommt zunächst wiederum auf die Unterscheidung von Renaissance und Humanismus zurück. 33 Seine Definition des Renaissance-Begriffs stammt nicht aus dem Sprachgebrauch der Zeitgenossen, sondern dient der nachträglichen Kennzeichnung eines bestimmten geschichtlichen Komplexes34, dem er zunächst einmal einen einheitlichen politisch-sozialen Charakter zuschreibt; es geht ihm also nicht um das Wort als solches, sondern um das damit umschriebene Kultursystem: ganz im Sinne Burckhardts, aber doch so, daß das Wort, anders als bei Burckhardt, nunmehr eindeutig terminologisch festgelegt wird. Entsprechend heißt es jetzt explizit, Renaissance solle „eine Periode italienischer Geschichte bezeichnen, die etwa von 1250-1550 reicht: Ihr politisch-soziales Kennzeichen, fährt Joachimsen fort, das allein für die historische Begriffsbildung in Betracht kommt, ist das Emporkommen des Stadtstaats."35 Auch Brandi fragt, im Zusammenhang mit der Erörterung solcher Begriffe, nach der „Bedeutung für das Verständnis der im engeren Sinne damit bezeichneten Periode." 36 Hier steht ein historischer gegen einen philologischen Begriffsgebrauch; es ist kein Zufall, daß sich der Germanist Burdach einer Phalanx von Historikern gegenübersieht. Die neue Definition gestattet eine exakte Verhältnisbestimmung gegenüber dem Mittelalter, das dabei gleichermaßen auf einen geschärften Begriff gebracht wird. Der Stadtstaat der Renaissance, der nach Autonomie, Autarkie, Rationalität strebt, etabliert sich, so Joachimsen, als „das erste individualistische Gebilde der abendländischen Welt, d. h. als ein solches, welches innerhalb des transzendentalen organischen Systems des Mittelalters sich seinen Lebensspielraum nach den Interessen des eigenen Daseins absteckt, nicht nach seiner Stellung als Glied des Systems"37: das ist hier, im und aus dem Koordinatensystem der mittelalterlichen res publica Christiana , die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Renaissance. Ganz ähnlich, nämlich im Sinne eines sozialen Komplexes, faßt Joachimsen den Humanismus-Begriff, der uns hier direkt betrifft; er ist damit überhaupt der erste, der diesen Begriff, den Burckhardt und Voigt ohne nähere Erläuterung einfach gebrauchen und den Burdach ohne weiteres dem Begriff der Renaissance inkorporiert, zum Gegenstand einer ebenso systematischen wie differenzierenden Bestimmung macht. Er versteht unter Humanismus „eine geistige Bewegung, die in einem Drang nach Wiederbelebung des klassischen Altertums wurzelt." 38 Diese Wieder33
Joachimsen, Der Humanismus (wie Anm. 30), 331 f. Joachimsen, Vom Mittelalter (wie Anm. 30), 21. 35 Joachimsen, Der Humanismus (wie Anm. 30), 332. 36 Brandi, Vom Mittelalter (wie Anm. 29), 308. - Vgl. auch Troeltsch, Renaissance, in: Aufsätze (wie Anm. 31), 266: „Im übrigen kämpft Burdach m. E. allzusehr gegen die historischen Allgemeinbegriffe vom Standpunkte eines historischen Nominalismus aus, der mit der philologischen Wortforschung und deren Uebergewicht zusammenzuhängen scheint." 34
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Joachimsen, Der Humanismus (wie Anm. 30), 332. « Ebd., 325.
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belebung hat für ihn eine ästhetische und eine historische Seite; ich halte mich zur Verdeutlichung auch in der Folge, soweit möglich, an Joachimsens eigene Formulierungen. Einerseits handelt es sich darum, der Antike „die Prinzipien der Formung und der Normierung für die eigene Kultur" zu entnehmen: „Das Problem des Humanismus ist [ . . . ] ein Problem der Formung und der Normierung. Als Problem der Formung ist der Humanismus primär ästhetisch, aber so, dass in den ästhetischen Werten die ethischen als beschlossen gedacht werden." 39 Andererseits handelt es sich darum, daß die „Menschen zwischen sich und dem Altertum einen Abstand, besser gesagt, eine Kluft empfinden", die es durch einen Akt authentischer Wiederaneignung zu überwinden gilt: damit „beginnt die kritische und die geschichtliche Betrachtung des Altertums, man könnte sagen, das geschichtliche Denken überhaupt." 40 In beiden Hinsichten unterscheidet sich der Humanismus von der Geltung der Antike im Mittelalter. Das Mittelalter kennt im Verhältnis zum Altertum lediglich ein „Stoffproblem", das darin besteht, „ein paar Werkstücke oder Pfeilerfiguren mehr für den mittelalterlichen Kulturbau zu gewinnen", der auf ganz anderer Grundlage errichtet ist und in ganz andere Höhen reicht. 41 Daher fehlt ihm auch jedes Bewußtsein eines geschichtlichen Abstands gegenüber der Antike, die vielmehr als dem Horizont der Gegenwart unmittelbar zugehörig erscheint. 42 Das ist für Joachimsen die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus. Zur historischen Existenz kommt der Humanismus dadurch, daß er, wie Joachimsen sagt, die ihn jeweils umgebende Kultur „formend und normierend ergreift" 43 und ihr damit eine bis dahin fehlende Rechtfertigung liefert. In Italien, dem Ursprungsland des Humanismus, ist das die Staatenwelt der Renaissance, die, nach ihrem Ausgang aus der mittelalterlichen res publica christiana, dieser Formung und Normierung durch die Antike bedarf; in Frankreich und Deutschland herrschen andere Verhältnisse und damit andere Legitimierungsbedürfnisse, die dem Humanismus hier nicht nur ein je eigenes Gepräge geben, sondern auch, zumal in Deutschland, je eigene Komplikationen schaffen. Es ließe sich nicht unrichtig sagen, daß es Friedrich Gundolf zukommt, diese Richtung zu vollenden, indem er die nunmehr erreichte methodisch-begriffliche Reflexivität in einer neuen historiographischen Darstellung im Stile Burckhardts aufhebt. Er ist ein Verehrer Burckhardts wie nur einer und lobt an ihm schon frühzeitig „die Reinlichkeit und Knappheit seiner Disposition, die nicht ein erzwungen abstraktes Verstandesgewebe ist, sondern die natürliche Gliederung der ungeheuren Massen durch eine helle Denkkraft: das Bedürfnis nach philosophischer Durchdringung des Materials bei bewußter Ablehnung philosophischer Methode und Spekulation."44 Er trifft damit nicht nur das doppelsinnige Verhältnis Burckhardts 39 Ebd., 325 f. 40 Ebd., 325, 331. 41
Joachimsen, Renaissance (wie Anm. 30), 131 f. 42 Ebd., 132. 43 Joachimsen, Der Humanismus (wie Anm. 30), 331.
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zur Geschichtsphilosophie, sondern auch sein eigenes historiographisches Verfahren, durch das er Burkhardt noch überbietet. Jedenfalls ist das Humanismus-Bild in Gundolfs Caesar-Buch ganz in diesem Sinne gestaltet: eine Burckhardtsche Konzentration auf die Phänomene selbst, aber in einer Form, die den Durchgang durch die neuerdings um Methoden und Begriffe geführte Debatte verrät. Wer Gundolfs Übergang vom „magischen Namen" zur „historischen Person" Caesars verfolgt, findet alle Aufstellungen Joachimsens zur Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus wieder: „der ästhetische und historische Petrarca löst da Caesar aus einem metaphysisch gegebenen Raum" heraus, in dem es weder „Formsinn für menschliches Wesen noch Zeitsinn für menschliches Gewesensein" gibt. 45 Gleichzeitig ist aber in solchen Sätzen die Angestrengtheit des expliziten Begriffs überwunden; alles legt sich aus in einem Sprachkunstwerk, dem der Begriff immanent oder implizit geworden ist. Es sei noch hinzugefügt, daß alle diese Burckhardtianer, von Goetz bis Gundolf, zugleich auch entschiedene Rankeaner sind: ein bemerkenswerter historiographiegeschichtlicher Befund, der der späterhin aus den verschiedensten Gründen beliebten Entgegensetzung von Ranke und Burckhardt ostentativ widerstreitet. Ranke hat ihnen nicht nur eine genetisch-entwicklungsgeschichtliche, auf die Erfassung „real-geistiger" Phänomene oder Komplexe gerichtete Methode zu bieten, sondern auch Beobachtungen zum Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, an die sie unmittelbar anknüpfen können. Rankes historiographisches Interesse selbst gilt ursprünglich geradezu, wie es in einem Brief vom Jahre 1820 heißt, dem „Leben der Nationen im 15. Jahrhundert", dem „nochmaligen Aufgehen aller Keime, die das Altertum gesäet"46, und wenn er sich auch schon bald seinem neuen Generalthema, der Geschichte des frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems, zugewandt hat, so ist er doch immer wieder auf Renaissance und Humanismus zurückgekommen, am eingehendsten in seiner 1837 erschienenen Schrift „Zur Geschichte der italienischen Poesie".47 Ranke steht hier zunächst noch ganz im Banne jener unvergleichlichen „Umwandelung, welche das Mittelalter von der modernen Zeit trennt" 48 ; er beläßt es aber nicht bei dieser traditionellen Feststellung, sondern will, nicht ohne die Schwierigkeit des Unternehmens zu ermessen, dazu beitragen, „diese Umwandelung allseitig und in ihrem inneren Gange zu beobachten"49; als Exempel dient ihm die Entwicklung der Romanliteratur und der epischen Dichtung in Italien vom 14. bis zum 16. Jahrhundert: „bis aus der Manier des Mittelalters die 44 Friedrich Gundelfingen Jakob Burckhardt und seine weltgeschichtlichen Betrachtungen, in: Preußische Jahrbücher 128, 1907, 209-220, hier 209 f. - Dazu Burdach, Reformation (wie Anm. 14), 205. 4 5 Friedrich Gundolf, Cäsar. Geschichte seines Ruhms, 2. Aufl. Berlin 1925, 106, 108. 46
Leopold von Ranke, Das Briefwerk. Hrsg. v. Walther Peter Fuchs, Hamburg 1949, 17. Leopold Ranke, Zur Geschichte der italienischen Poesie. Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1837. 4 s Ebd., 1. 49 Ebd., 2. 47
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moderne hervorging" 50 ; alles wird dabei eingeordnet in die Herausbildung neuer politisch-kultureller Verhältnisse, die Ranke schon ganz mit Burckhardts Augen sieht.51 Es ist begreiflich, daß ein solches Konzept der Historisierung einer, „avant la lettre", Burckhardtschen Betrachtungsweise bei Brandi 52 oder Joachimsen53 Anklang findet; selbst ein Autor wie Neumann erweist Ranke seine Reverenz 54, ganz zu schweigen von Gundolf, der Ranke direkt neben Burckhardt stellt. 55 Was hat diese Debatte um die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert erbracht? Sie hat das Problembewußtsein für eine Beziehungsgeschichte erzeugt und ausgeprägt, die man bis dahin als unproblematisch angesehen hat. Die Autoren, die sich an ihr beteiligen, haben dieses Problem nicht nur erstmals reflektiert und damit exponiert, sondern sind auch den Umkreis der methodischen-theoretischen Fragen abgeschritten, die sich bei dem Versuch einer Problemlösung stellen. Gemessen daran, herrscht heute eklatanter Mangel an einem solchen Problembewußtsein: der Zustand einer drohenden Begriffsverwirrung und eines drohenden Begriffsverfalls, der dringend nach Abhilfe verlangt. Wie ist es dazu gekommen? Es wäre natürlich völlig abwegig, die Geschichte der neueren und neuesten Humanismus-Forschung als Fehlentwicklung zu bezeichnen; das ist eine normative, keine logisch-analytische Kategorie, mit der auf keinem Feld der historischen Forschung mit irgendeiner Aussicht auf Erkenntnisgewinn gearbeitet werden kann. Ja, man kann und muß ohne jedes Bedenken sagen, daß hier alles, wie immer in der Geschichte, sozusagen durchaus mit rechten Dingen zugegangen ist. Der Hauptgrund für die Wendung der Dinge liegt in jener Debatte um 1900 selbst, und zwar nicht deswegen, weil ihre Ergebnisse auf grundsätzlichen Widerstand gestoßen wären, sondern im Gegenteil deswegen, weil sie weithin akzeptiert worden sind. Man hatte allenthalben den Eindruck, daß die prinzipiellen Entscheidungen gefallen waren, daß damit ein Rahmen für weitere konkrete Forschungsarbeit abgesteckt war und daß das Gebot der Stunde lautete, diese Arbeit zu leisten. so Ebd., 21. 51
Ranke verfolgt den Aufstieg neuer Staaten, in denen er „Kaufleute zu Herren geworden" sieht (ebd. 21); er charakterisiert „die Manier der Reflexion" bei der „das rhetorische Verdienst" besonders geschätzt wird (51); er bemerkt eine in der Gesellschaft sich geltend machende „Sinnesweise, welche das Decorum in der jedes Mal beliebten Form als eine Pflicht forderte" (51); er konstatiert die individuellere Entwicklung des Lebens und „eine entschlossene Lossagung von der Idee der Kirche" (83); er hebt schließlich den alles durchdringenden „Einfluß der classischen Studien" hervor, der „bis in die Formen des Privatlebens, der geselligen Mittheilung sichtbar" wird (83 f.). 52 Brandi, Das Werden (wie Anm. 29), 293 f. 53 Joachimsen, Vom Mittelalter zur Reformation (wie Anm. 30), 21 und ders., Der Humanismus (wie Anm. 30), 325 f. 54 Neumann, Byzantinische Kultur (wie Anm. 16), 228, 231. 55
Gundelfingen Jakob Burckhardt (wie Anm. 44), 218.
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Es war nur ein anderer Ausdruck dieser Grundstimmung, daß man der Grundsatzdebatten überhaupt müde oder überdrüssig wurde und ins historische Detail drängte. An die Stelle der allgemeinen Diskussion trat, an sie anknüpfend und sie zugleich hinter sich lassend, eine unendlich nuancenreiche Spezialforschung. Man betrieb „Grundlagenforschung", indem man „zurück zu den Handschriften und ersten Drucken" ging 56 ; man befaßte sich „mit einer Vielzahl von Strömungen und einzelnen Autoren". 57 Die Folge war, daß man zwar immer noch von „Mittelalter", von „Renaissance" und von „Humanismus" sprach und dabei die vertrauten Assoziationen oder Konnotationen mitklingen ließ oder doch beim Leser voraussetzen konnte, daß aber solche Grundbegriffe immer mehr an den Rand rückten, Zug um Zug gewissermaßen entleert wurden und bald nur der äußerlichen Etikettierung jener „Vielzahl" der Phänomene und Dokumente dienten, für die man sich tatsächlich interessierte. Der nächste Schritt war, daß die Fülle des Materials immer weniger mit den traditionellen Begriffen kompatibel und damit „von vornherein jeder Versuch einer allgemeinen Beschreibung erschwert schien." 58 Sofern man den Begriffen noch ein qualitatives Gewicht beimaß, suchte man sie, wie das dem Drang zu den „Grundlagen" entsprach, aus der zeitgenössischen Quellensprache herzuleiten oder mit ihr in Einklang zu bringen. Wer in diesem Sinne von Renaissance redete, meinte eine „Wiedergeburt- oder Wiedererweckungsidee." 59 Vor allem aber wurde es üblich, den Humanismus mit den studia humanitatis und dem humanista des 15. und 16. Jahrhunderts zu identifizieren. 60 Das Verfahren, das man hier verfolgte, war alles andere als neu. Der philologische Begriffsgebrauch überhaupt erinnert an Burdach, der ihn zugleich am Begriff der Renaissance vorexerziert; die begriffsbildende Funktion der studia humanitatis spielt schon in den Anfängen des Humanismus-Begriffs eine Rolle. Es ist deutlich, daß dieser ganze Prozeß folgerichtig zu jener Verwirrung beim Gebrauch des Humanismus-Begriffs führen mußte, mit der wir es heute zu tun haben; die analoge Karriere des Renaissance-Begriffs mag hier auf sich beruhen, ist freilich nicht weniger bemerkenswert. 61 In demselben Maße, in dem der Huma56
Otto Herding, Probleme des frühen Humanismus in Deutschland, in: Archiv für Kulturgeschichte 38, 1956, 344-389, hier 346. 57 Paul Oskar Kristeller, Die humanistische Bewegung, in: Humanismus und Renaissance I. Die antiken und mittelalterlichen Quellen. Hrsg. v. Eckhard Keßler (UTB, Bd. 914), München o. J., 11-29, hier 13. 58 Ebd. 59
Dieter Mertens, Deutscher Renaissance-Humanismus, in: Stiftung „Humanismus heute" des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.), Humanismus in Europa (wie Anm. 2), 187-210, hier 203. 60 Kristeller, Die humanistische Bildung (wie Anm. 57), 16 ff.; dazu auch Hans Erich Bödeker, Menschheit, Humanität, Humanismus, in: Otto Brunner/Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, 1063-1128, hier 1069 ff. 61 Ein jüngstes Beispiel bietet der in Anm. 59 zitierte Aufsatz von Mertens. Der Verfasser handelt vom „deutschen Renaissance-Humanismus", bemerkt freilich einleitend, daß der
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nismus-Begriff sein ursprüngliches Substrat einbüßte, wurde er beliebig und damit unspezifisch, d. h. auch auf andere Phänomene übertragbar: ein Beispiel für „den Gebrauch vager und schlecht definierter Begriffe" 62 , der notwendigerweise immer auf unverbindlichen und willkürlichen Begriffsgebrauch hinausläuft. Auch der Rekurs auf die studia humanitatis wies da keinen Ausweg, im Gegenteil: er hat diese Tendenz zur Universalisierung des Begriffs sogar noch verstärkt. Denn nichts lag näher, als nach studia humanitatis oder analogen Quellenbegriffen auch in anderen Epochen zu suchen und aus den reichlich zutage geförderten Belegen einen epochenübergreifenden Humanismus zu konstruieren. So hat man die Existenz eines römischen Humanismus aus der Verwendung des Begriffs humanitas in der römischen Literatur, zumal bei Cicero gefolgert 63; vom Sprachgebrauch schloß man da auf ein kulturgeschichtliches Phänomen. Wie soll es weitergehen? Man kann gewiß nicht einfach hinter den gegenwärtigen Forschungsstand zurückfallen, um so weniger, als wir der Entwicklung, die zu ihm geführt hat, viel Positives zu verdanken haben. Es versteht sich zunächst, daß die Spezialforschung über Jahre und Jahrzehnte hinweg ungeheure Fortschritte erzielt hat, die keiner in Frage stellen kann, die vielmehr eine unverrückbare Grundlage für alles bilden, was auf diesem Gebiet künftig noch erforscht werden mag. Selbst die zunehmende Abkehr von den allgemeinen Begriffen hatte dann ihr Gutes, wenn sie mit einer unbefangenen, vorbehaltlosen, vorurteilsfreien Einstellung auf die immanenten Probleme der konkreten Texte und Sachverhalte einherging. Andererseits war auch die Entdeckung oder Wiederentdeckung der studia humanitatis durchaus erkenntnisfördernd. Warum sollte ein zeitgenössischer Sprachgebrauch bei der Begriffsbildung nicht in Ansatz kommen? Jedenfalls lassen sich die studia humanitatis aus unserem Bild des Humanismus nicht wegdenken. Sogar die Universalisierung des Humanismus-Begriffs hat VerbinRenaissance-Begriff in der deutschen Forschung zur deutschen Geschichte selten verwendet werde, die vielmehr die Reformation als das damals epochale Ereignis bevorzuge, sieht sich andererseits aber nicht zu einer eigenen begrifflichen Klarstellung veranlaßt (187); seine allgemeine Charakteristik des Renaissance-Humanismus hebt dann auf den „Traditionsbruch" (189) zum Mittelalter ab; aber die Pointe des ganzen Aufsatzes ist wiederum, daß der deutsche Renaissance-Humanismus, anders als der italienische, der „in einer Renaissance-, also Wiedergeburts- oder Wiedererweckungsidee, die einen Kontinuitätsbruch voraussetzt" (203) gründe, „ein Translations-Humanismus" sei, „der darum die Grenzen zum Mittelalter partiell verwischt" (205) und außerdem einer in gleicher Richtung wirkenden „reformatio-Idee" anhänge: „Für eine solche Interpretation spricht die Tatsache, dass der Begriff ,renasci' selten, die Begriffe ,reformare' und reformatio' außerordentlich häufig vorkommen. Eine eigentliche Renaissance-Idee, die von einer Diskontinuität ausgeht, scheint nicht im Vordergrund zu stehen, wohl aber eine reformatio'-Idee. ,Reformatio' rettet Kontinuität. Der deutsche »Renaissance-Humanismus' erscheint analog zur ,translatio'-Idee ein weiteres Mal einer Kategorie des Kontinuitätsdenkens verhaftet" (207). Der deutsche Renaissance-Humanismus ist also ohne Renaissance-Idee, wie der Wortgebrauch zeigt; es gibt ihn, und es gibt ihn nicht; hier kommt alles zusammen, um den Begriff der Renaissance zu verwirren. 62 63
Kristeller, Die humanistische Bewegung (wie Anm. 57), 11. Lefévre, Humanismus und humanistische Bildung (wie Anm. 2), 3 ff.
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dungslinien oder Zusammenhänge zwischen den Epochen ergeben, die einfach unleugbar sind. Freilich ist ebensowenig zu übersehen, daß wir es bei dieser Lage der Dinge nicht belassen dürfen. Eine auf Dauer begriffslose Spezialforschung kann nur in der Sackgasse eines irrelevanten Positivismus enden. Auch die Herleitung eines kulturgeschichtlichen Phänomens wie des Humanismus aus der Terminologie oder dem Vokabular zeitgenössischer Autoren ist bestenfalls kurzschlüssig; die Beobachtungen, die dabei zu machen sind, besagen nichts oder wenig ohne den Kontext, dem dieser Sprachgebrauch angehört und der offenbar mit einem breiter angelegten methodischen Instrumentarium erfaßt werden muß. Schließlich: Die Universalisierung des Humanismus-Begriffs, die aus alledem resultiert, mag in manchem verdienstlich sein, sie entbindet uns aber nicht von der primären Notwendigkeit, Kriterien bereitzustellen, die uns eine präzise Unterscheidung der fraglichen „Humanismen" gestattet. Wenn man im alten Rom und im Renaissance-Humanismus eine übereinstimmende Wortbedeutung von humanitas antrifft, ist das sicher wichtig und auch nicht weiter verwunderlich; der Renaissance-Humanismus erstrebt nun einmal die Wiederbelebung der Antike. Aber diese Feststellung kann allenfalls der Anfang für weitergehende Untersuchungen sein, die uns, aus einer komplexen Analyse der jeweiligen Gesamtsituation heraus, über den ganz verschiedenen historischen Sinn des gleichen Wortes und des gleichen ihm zuzuordnenden Unterrichtsprogramms aufzuklären hätten. In dieser Konstellation sollten wir uns auf jene Debatte um 1900 besinnen. Sie demonstriert uns ein Problembewußtsein, das zwar nach seinen unmittelbaren Impulsen und Inhalten nicht mehr das unsere ist, das uns aber nach seiner formalen Qualität immer noch ein Vorbild sein kann. Denn wenn eines gegenwärtig not tut, dann ein, in veränderten Verhältnissen, neues Problembewußtsein, das es uns ermöglicht, gewissermaßen auf einer höheren Ebene die methodisch-theoretischen Fragen zu stellen, die damals zum erstenmal gestellt worden sind. Auch heute geht es um ein gleichermaßen strukturanalytisches und genetisches Verständnis des Humanismus, auch heute, als Leitfaden für die Einzelforschung, um eine taugliche, d. h. differenzierende Definition. Schon damals gab es eine Diskussion um die Möglichkeit, Begriffe im Anschluß an die Quellensprache zu bilden. Burdach, der diese Möglichkeit bejaht, hat damit den Widerspruch der Historiker herausgefordert. Es ist eigenartig, daß man sich heute weithin ausgerechnet an die Burdachsche Methode hält, auch wenn man sich dieser Provenienz sicher nicht immer bewußt ist. Man lese aber, was Joachimsen dagegen einwendet: „So wichtig und unbestreitbar diese Erkenntnis ist, so verhängnisvoll kann sie für das historische Denken werden, wenn die Forschung, statt von der Untersuchung des Kulturwandels, der sich in sozialen Erscheinungen zeigen muß, zu denen des Bildungswandels und von da zu den sprachlichstilistischen Problemen fortzuschreiten, den umgekehrten Weg geht." 64 Darin steckt ein historiographisches Programm zur 64 Joachimsen, Vom Mittelalter zur Reformation (wie Anm. 30), 20; vgl. auch ebd., 21, über Renaissance und Reformation bei Burdach: es komme nicht auf die „Beobachtung des
Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze
Erforschung des Humanismus, das auch heute noch gilt und jedenfalls für die historische Humanismus-Forschung maßgeblich sein sollte, auch wenn wir Joachimsens Thesen im einzelnen bezweifeln mögen. Gibt es eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus? Jene Autoren um 1900 haben sie behauptet und ausgearbeitet, und sie haben dabei besonders eine Erkenntnis hervorgebracht, die so evident ist, daß man sich ihr auch heute nicht verschließen kann: eine Erkenntnis übrigens, die seitdem am wenigsten bestritten worden ist, die man in mancherlei Variationen wiederholt hat, die aber nicht immer in ihrer ursprünglichen Tragweite begriffen worden ist. Gemeint ist die dem Humanismus zugeschriebene „kritische" und „geschichtliche Betrachtung des Altertums", mit der „das geschichtliche Denken überhaupt" beginne65: der Anfang eines immanenten GeschichtsVerständnisses, das zu den schlechthin sinnfälligen Kennzeichen der heraufziehenden Moderne gehört. Wenn eines den Humanismus vom Mittelalter scheidet, dann ist es dieser Umbruch des Denkens. Der Begriff des Mittelalters selbst ist davon nicht zu trennen. Eingangs war davon die Rede, wie die Humanisten, aus einer polemischen Gegenstellung heraus, das Mittelalter als Epoche geschaffen oder konstituiert haben. Es ist augenscheinlich, daß sich in diesem Epochenbegriff, daß sich in der ganzen Epochentrias von Altertum, Mittelalter und Neuzeit das neue geschichtliche Bewußtsein auslegt, das die Humanisten erfüllt: es ist das eine Epochalisierung der Geschichte, die ihre Maßstäbe nicht mehr aus einer außergeschichtlichen Welt, sondern aus der Geschichte selbst hat oder einer immanenten Deutung der Geschichte entspricht. Die humanistische Polemik gegen das Mittelalter ist uns vergangen. Unverloren ist uns aber das humanistische Konzept des Mittelalters als Inbegriff eines vorher unbekannten historischen Denkens. So gesehen, ist das „Mittelalter" der vielleicht stärkste Beweis für die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus.
Sprachgebrauchs von renasci und reformare " an, sondern darauf, „dass wir im Rankeschen Sinne die Tendenzen der Bewegungen aus ihnen selbst zu bestimmen suchen und sie dann miteinander vergleichen." 65 Joachimsen, Der Humanismus (wie Anm. 30), 331.
Die Frühe Neuzeit als Geschichte des europäischen Staatensystems Wer einen anderen Blick auf die Frühe Neuzeit weifen will, sollte keinen Zweifel daran lassen, daß sein Sprachgebrauch lediglich metaphorischer Art ist.1 Die Frühe Neuzeit ist kein Gegenstand, der uns einfach immer schon vorliegt und unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Sie existiert vielmehr erst seit wenigen Jahrzehnten, und zwar in der Vorstellung der Historiker, die sie aus forschungspraktischen Gründen erfunden oder eingeführt haben.2 Sie gehört nicht der Welt der historischen Erscheinungen an, sondern ist ein bloßes Hilfsmittel, dessen wir uns bedienen, um unser geschichtliches Wissen in eine äußere Ordnung zu bringen. Sie teilt diese rein instrumentelle oder pragmatische Funktion mit allen anderen Epochenbegriffen und steht daher wie sie immer zur Disposition. Die Periodisierung der Geschichte wechselt mit den Fragestellungen der Historiker. Die Epochenreihe Altertum - Mittelalter - Neuzeit, der die Frühe Neuzeit zuzurechnen ist, ist noch besonders auf diesen Wandel geradezu angelegt. Denn bei ihr handelt es sich lediglich um eine formale Zeiteinteilung, die auf die jeweilige Gegenwart zuläuft und im Lichte der jeweiligen Gegenwart ihre inhaltliche Bestimmung oder Ausprägung erfährt. Je weiter wir von Gegenwart zu Gegenwart fortschreiten, desto mehr müssen sich die Abgrenzungen zwischen den drei Epochen verschieben. Auch die Frühe Neuzeit entstammt einem solchen Bedürfnis nach chronologischer Differenzierung, und sie wird, jedenfalls in ihrer jetzigen Form, nur so lange bestehen, wie sie diesem Bedürfnis genügt.
Erstveröffentlichung in: Renate Dürr/Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hrsg.), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs (Historische Zeitschrift, Beiheft 35), München 2003, 23-41. 1 Dieser Sammelband ist aus einer Frankfurter Konferenz im Dezember 2001 hervorgegangen, die den Untertitel „Der andere Blick auf die Frühe Neuzeit" trug. Ich gebe hier den Text meines damals gehaltenen Vortrags, nicht ohne dabei Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die in der Diskussion vorgebracht worden sind. Angesichts des thesenartigen Charakters des Ganzen scheint es gerechtfertigt, die Anmerkungen auf die nötigsten Nachweise zu beschränken. 2 Eine vorläufige Bilanz zieht Winfried Schulze, Die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff: Erfahrungen, Defizite, Konzepte, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen (Historische Studien, Bd. 73), Berlin 2002, 71-90.
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Wer von der Frühen Neuzeit spricht, muß zuerst von der Neuzeit reden. Als die Renaissance-Humanisten des 14. bis 16. Jahrhunderts diesen Begriff prägten, meinten sie damit die von ihrem Bildungsgedanken erfüllte Gegenwart; die Neuzeit war für sie, in diesem Sinne, die schlechthin moderne Zeit. Dieser unmittelbare Gegenwartsbezug ist für den Begriff bis heute konstitutiv geblieben, ganz gleich, auf welche Gegenwart oder welches Gegenwartsinteresse man ihn jeweils bezog; die Neuzeit war und ist jene Epoche der europäischen Geschichte, die direkt zur Gegenwart führt: die Zeit, in der sich das moderne Europa herausbildet. Die Frühe Neuzeit nimmt in diesem Zusammenhang eine doppelte Stellung ein. Sie ist einmal, tautologisch gesprochen, die Frühzeit der Neuzeit, in der die Grundlagen der Gegenwart gelegt werden: die Frühmoderne, in der die Wurzeln der Moderne enthalten sind. Der Begriffsgebrauch ist nur dann legitim, wenn diese Implikation des Gegenwärtigen und Modernen mitgedacht wird oder mitgedacht werden kann. Auf der anderen Seite erscheint die Frühe Neuzeit abgehoben von einer „späteren" Neuzeit, in der sich der eigentliche Übergang zur Moderne und damit zu unserer gegenwärtigen Welt vollzieht; sie bleibt auf die Gegenwart bezogen, aber vermittels einer Epoche oder „Subepoche", die noch direkter zur Gegenwart hinführt. Der Begriff der Frühen Neuzeit hat die Vorstellung einer solchen Zäsur innerhalb der Neuzeit zur Voraussetzung; die Frühzeit der Neuzeit wird erst dadurch zur Frühen Neuzeit. Über die Datierung dieser Zeiteinheiten herrscht in der Forschung weithin Einigkeit. Was den Beginn der Neuzeit betrifft, so hat im Grunde immer noch der humanistische Ansatz Gültigkeit, auch wenn der humanistische Bildungsgedanke längst vergangen ist: nämlich die Zeit um 1500, die sich als eine Art Durchschnittswert für eine Fülle möglicher Ansätze zwischen 1400 und 1600 anbietet; sie ist jedenfalls mit den verschiedensten Erkenntnissen oder Erkenntnisinteressen kompatibel und bleibt damit ein einprägsamer Wende- oder Haltepunkt für unser historisches Gedächtnis; die ganz pragmatische Funktion, die der Bildung historischer Perioden überhaupt zukommt, wird hier sinnfällig. Auch die Dauer der Frühen Neuzeit bis zur „Doppelrevolution" um 1800, der Französischen Revolution wie der von Großbritannien ausgehenden Industriellen Revolution, ist unbestritten; diese Zäsur wird in vielerlei Hinsicht als so tiefgehend empfunden, daß sie eine Epochenscheide innerhalb der neuzeitlichen Geschichte zu rechtfertigen scheint. Es liegt mir in der Folge völlig fern, diese Epochenscheide in Frage zu stellen, wie es überhaupt ein Mißverständnis meiner bisherigen Bemerkungen wäre, wenn man aus ihnen ein Unbehagen über die Frühe Neuzeit herausläse. Im Gegenteil: ich halte diesen Epochenbegriff nicht nur nach wie vor für brauchbar, sondern möchte ihn sogar von einer neuen Seite her untermauern und insoweit wirklich einen anderen Blick auf die Frühe Neuzeit werfen. Es geht mir nämlich darum zu zeigen, daß die Frühe Neuzeit auch eine spezifisch außenpolitische Signatur hat. Im Zentrum steht dabei das Phänomen des europäischen Staatensystems.
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Allgemein gilt die Entstehung und Ausbildung dieses Systems seit dem 15. Jahrhundert als Fundamentalvorgang der neuzeitlichen europäischen Geschichte schlechthin. Die ältere deutsche Forschung hatte an der Ausarbeitung dieser Vorstellung stärksten Anteil; die große „Geschichte des europäischen Staatensystems" von Eduard Fueter, Walter Platzhoff, Max Immich und Adalbert Wahl, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Below-Meineckeschen „Handbuchs der mittelalterlichen und neueren Geschichte" herauskam, blieb, jedenfalls in Deutschland, für lange Zeit maßgeblich und wurde größtenteils noch nach dem Zweiten Weltkrieg neugedruckt.3 Freilich gab es auch externe Gründe, warum die neuere deutsche Geschichtswissenschaft, im Gegensatz zur außerdeutschen Forschung4, bis vor kurzem nichts Vergleichbares hervorgebracht hat. Die Geschichte der Außenpolitik hatte es in Deutschland nach 1945 schwer; die Zeitverhältnisse luden weithin zu einem „Primat der Innenpolitik" ein. Erst die Wende von 1989/90 ließ das Interesse an der außenpolitischen Geschichte schlagartig geradezu neu entstehen oder hervortreten; das von Heinz Duchhardt und Franz Knipping herausgegebene „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen", ein auf neun stattliche Bände berechnetes Projekt, von dem bisher zwei Bände erschienen sind, ist eine Frucht dieses Interesses, und alles spricht dafür, daß es das ältere und bislang kanonische Werk ersetzen wird. 5 Die neuere Forschung sucht naturgemäß vielfach andere Wege zu gehen als die ältere, aber sie hat doch auch mancherlei mit ihr gemeinsam. Dazu gehört die Voraussetzung, daß die Geschichte des europäischen Staatensystems, bei aller Ent3 Eduard Fueter, Geschichte des europäischen Staatensystems von 1492-1559, München/Berlin 1919; Walter Platzhoff, Geschichte des europäischen Staatensystems 1559-1660, München / Berlin 1928, Neudruck Darmstadt 1967; Max Immich, Geschichte des europäischen Staatensystems 1660-1789, München/Berlin 1905, Neudruck Darmstadt 1967; Adalbert Wahl, Geschichte des europäischen Staatensystems im Zeitalter der Französischen Revolution und der Freiheitskriege (1789-1815), München /Berlin 1912 (Neudruck Darmstadt 1967). 4 Statt vieler Einzeltitel sei nur auf die einschlägigen Bände der „New Cambridge Modern History" verwiesen, die die Geschichte des europäischen Staatensystems mit höchster Priorität behandeln. 5 Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 4 ) , Paderborn 1997; Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 6), Paderborn 1999. - Weitere Veröffentlichungen aus jüngster Zeit: Peter Krüger (Hrsg.), Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems (Marburger Studien zur Neueren Geschichte, Bd. 1), Marburg 1991; ders. (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 35), München 1996; Jens Siegelberg / Klaus Schlichte (Hrsg.), Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden, Wiesbaden 2000; Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 10), München 2000.
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wicklung und Veränderung, durchaus in kontinuierlichen Bahnen verlaufen sei. Für eine Frühe Neuzeit, für eine scharfe Zäsur um 1800 gibt es da keinen Platz. Es ist kennzeichnend, daß weder Max Immich, der die Geschichte des europäischen Staatensystems bis 1789 behandelt, noch Adalbert Wahl, der den Fortsetzungsband schreibt, eine Reflexion über das Epochenjahr 1789 anstellt; es handelt sich da um „eine neue Epoche"6, die aber sofort nach dem durchgängigen „Wesen" des Systems beurteilt und damit relativiert wird. 7 Aber auch heute, nachdem die Frühe Neuzeit zu einem festen Bestandteil unseres chronologischen Instrumentariums geworden ist, denkt man darüber kaum anders. Heinz Schilling, einer der beredtesten Verfechter des neuen Epochenbegriffs, der auch an dem „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen" mitarbeitet, stellt fest, „daß die Mächtekonstellation des 19. Jahrhunderts und die sie tragenden Normen und Spielregeln nicht nur die frühneuzeitliche Entwicklung voraussetzen, sondern in gewisser Weise deren volle Entfaltung bedeuten": „Im internationalen System war der Bruch zwischen Alteuropa und moderner Welt weniger abrupt als in Wirtschaft, Gesellschaft, Verfassung, Mentalität oder Kultur." 8 Ganz entsprechend kommt es einem von Peter Krüger herausgegebenen Sammelband über „Das europäische Staatensystem im Wandel" nicht auf den „Wandel" an, sondern auf den „Gesamtzusammenhang und die Entwicklungslinien seit der frühen Neuzeit trotz des tiefen Epocheneinschnitts um 1800."9 Dieser „Gesamtzusammenhang" und diese „Entwicklungslinien" lassen sich gewiß nicht leugnen; sie sind der außenpolitische Beweis für die Einheit der Neuzeit, ohne die eine Frühe Neuzeit nicht zu haben ist. Aber diese Einheit besteht auch für die neuzeitliche Geschichte jener Phänomene, bei denen Schilling mit Recht einen abrupten „Bruch zwischen Alteuropa und moderner Welt" konstatiert: „Wirtschaft, Gesellschaft, Verfassung, Mentalität oder Kultur". Einheit und abrupter „Bruch", Kontinuität und Diskontinuität brauchen sich also nicht auszuschließen. Es wäre verwunderlich, wenn die Geschichte des europäischen Staatensystems dieser Dialektik nicht unterläge, man müßte denn der äußeren Staatengeschichte grundsätzlich einen von der inneren unabhängigen Verlauf zuerkennen. Freilich hat dieser Grundsatz nach allen unseren Erkenntnissen über die neuere europäische Geschichte nur eine geringe Plausibilität. Wir stoßen immer wieder auf Wechselbeziehungen zwischen inneren und äußeren Verhältnissen, die eine derartige „Gleichzei6
Immich, Geschichte (wie Anm. 3), 445. Wahl, Geschichte (wie Anm. 3), 7. 8 Heinz Schilling, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit - Phasen und bewegende Kräfte, in: Krüger (Hrsg.), Kontinuität (wie Anm. 5), 19-46, hier 21 f. 9 Peter Krüger, Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Das europäische Staatensystem (wie Anm. 5), VII-XV, hier XIV. - Vgl. auch Jens Siegelberg, Staat und internationales System ein strukturgeschichtlicher Überblick, in: ders. / Schlichte (Hrsg.), Strukturwandel (wie Anm. 5), 11-56 sowie Heinz Duchhardt, Grundmuster der internationalen Beziehungen in der Früheren und Späteren Neuzeit, in: ebd., 74-85. 7
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tigkeit des Ungleichzeitigen" als zweifelhaft erscheinen lassen. Jedenfalls läßt sich die Epochenschwelle um 1800 in der Geschichte des europäischen Staatensystems schärfer akzentuieren, als es bisher geschehen ist. Zum Verständnis ist bei den Hauptcharakteristika des frühneuzeitlichen Staatensystems einzusetzen; sie sind der Forschung allesamt geläufig, aber nicht immer mit der notwendigen Kohärenz oder Konsequenz erfaßt. 10 Das europäische Staatensystem entsteht aus der mittelalterlichen res publica Christiana , die, ausgehend „von der Einheit der romanischen und germanischen Völker und von ihrer gemeinschaftlichen Entwicklung" 1 1 , die lateinische Christenheit umfaßt und der griechischen, durch alle Spannungen hindurch, verbunden ist. Voraussetzung für seine Formierung ist, daß diese universale Ordnung in eine Krise gerät, und zwar dadurch, daß sie mit neuen Problemen konfrontiert wird, für deren Lösung ihre Kapazitäten nicht ausreichen; Türkengefahr, Krise der Kirche, Krise des Reiches, Krise des Feudalsystems sind die Stichworte. Es zeigt sich, daß angesichts dieser Herausforderungen sozusagen eine neue Ordnung benötigt wird. Sie gründet sich auf die Partikularität einzelner politischer Gebilde, die bisher in den hierarchischen Bau des „orbis ad deum ordinatus" 12 eingefügt waren oder ihm zugeordnet wurden, aber nunmehr eine selbständige Existenz zu führen beginnen. Das ist der Auftakt für bald das ganze christliche Europa erfassende Verstaatlichungs- oder Staatsbildungsprozesse, die ihre regulative Idee im Prinzip der Souveränität haben; das Wort begegnet schon im Sprachgebrauch des Mittelalters, tritt aber erst jetzt in den uns geläufigen Kontext und erscheint seitdem, vollends in der Ausprägung durch Bodin, als genuine Kategorie modernen politischen Denkens.13 Der souveräne Staat versteht sich als Träger von oberster, letzter, nicht weiter ableitbarer Gewalt; er beansprucht Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Innern und nach außen; Staatsräson, Staatsinteresse, Autonomie der Politik sind komplementäre Begriffe oder Vorstellungen. Die Verwirklichung dieses Anspruchs erfordert eine neue Organisation politischer Herrschaft: ein ganzes institutionelles 10 Vgl. dazu zuletzt: Schilling, Formung (wie Anm. 8); Duchhardt, Balance of Power (wie Anm. 5), bes. 7 ff.; Peter Nitschke, Grundlagen des staatspolitischen Denkens der Neuzeit: Souveränität, Territorialität und Staatsraison, in: Siegelberg / Schlichte (Hrsg.), Strukturwandel (wie Anm. 5), 86-100; Holger Th. Graf, Funktionsweisen und Träger internationaler Politik in der Frühen Neuzeit, in: ebd., 105 -123. 11 Leopold Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1824, IX. 12 Paul Joachimsen, Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte. Hrsg. v. Otto Schottenloher, München 1951 (Neudruck Aalen 1970), 1. 13 Dazu: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt am Main 1970, 249 ff.; Jürgen Dennert, Bemerkungen zum politischen Denkens Bodins, in: Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München (Münchener Studien zur Politik, Bd. 18), München 1973, 213-232, hier 224 ff.; Nitschke, Grundlagen (wie Anm. 10), 90.
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System, das ein Höchstmaß an konzentrierter Machtausübung und Machtprojektion gewährleistet. Zum wirksamsten Vollstrecker des neuen Staatsgedankens wird, nach dem Vorlauf der Stadtstaaten der Renaissance und ungeachtet der Fortdauer republikanischer Formen, der dynastische Fürstenstaat in West- und Mitteleuropa. Er tritt zuerst im dualistischen Ständestaat in Erscheinung, der die Souveränität gewissermaßen auf zwei Träger verteilt und damit eine im bisherigen Feudalsystem nicht gekannte Einheit oder Einheitlichkeit schafft, freilich auf Dauer in einen Antagonismus zwischen dem Fürsten und den Ständen gerät. Die Hauptgewinner dieses Konflikts sind die Fürsten, die, ohne gewisse Grundfesten der ständischen Ordnung anzutasten, zur absoluten Monarchie fortschreiten; es gibt aber auch das englische Gegenbeispiel eines ständisch-parlamentarischen Absolutismus, der freilich wiederum - jedenfalls einstweilen - durch gewisse Attribute der königlichen Prärogative gedämpft bleibt. Alle diese Entscheidungen fallen im 17. Jahrhundert; bis zum Beginn der Französischen Revolution hat es von da an in den innerstaatlichen Verhältnissen dieser Länder keine wesentliche Änderung gegeben. Das europäische Staatensystem läßt sich am einfachsten und zugleich am schlüssigsten als ein Nebeneinander der neuen politischen Gebilde definieren. Anders gewendet: Dieses System ist nicht denkbar ohne den souveränen oder nach Souveränität strebenden Staat; es bezeichnet ein zwischenstaatliches Verhältnis, das das Prinzip der Souveränität jedes einzelnen zu ihm gehörigen Staates zur Voraussetzung hat; sein Systemcharakter selbst beruht auf diesem Prinzip. Die Geschichte des Systems handelt von Staatenbeziehungen, in denen jeder Akteur seinen Anspruch auf äußere Selbstbestimmung oder Selbstbehauptung geltend zu machen sucht, und es hängt von dem jeweiligen Potential, einer Summe der verschiedensten Faktoren, ab, inwieweit ihm das gelingt. Zunächst, seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, bilden sich regionale Staatensysteme heraus, die aber, im Zeichen des habsburgisch-französischen Gegensatzes, immer mehr zu einem einheitlichen europäischen Staatensystem zusammenwachsen; die Kaiserwahl von 1519 ist insoweit das erste gesamteuropäische Ereignis. Freilich gewinnt das System erst mit dem Dreißigjährigen Krieg ein höheres Maß an Verdichtung, und das lange an der Peripherie gelegene Rußland tritt im Zuge der ihm von Peter dem Großen verordneten „Verwestlichung" endgültig erst seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in den Kreis der europäischen Mächte ein. Der Ablauf des Systems ist geprägt durch gleichbleibende oder immer wiederkehrende Strukturen und Mechanismen, die teilweise schon im regionalen Rahmen, vor allem im vielfach idealtypischen oder prototypischen Staatensystem der italienischen Renaissance, hervorgetreten sind. Das System präsentiert sich durchweg in einer Hierarchie großer, mittlerer und kleinerer Mächte. Es hat über weite Strecken hin einen bipolaren Charakter, d. h. es steht von Mal zu Mal im Zeichen zweier um die Hegemonie in Europa oder Übersee ringender Mächte, denen alle anderen Staaten, sei es direkt, sei es indirekt, untergeordnet oder zugeordnet sind. Gelegentlich geht es um die Alternative „Gleichgewicht oder Hegemonie", um den 3 Muhlack
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Titel des berühmten Buches von Ludwig Dehio zu zitieren 14 : eine nach Vorherrschaft strebende Macht bringt eine Staatenkoalition gegen sich auf, die statt der Hegemonie einer einzelnen Macht einen Zustand herbeiführen will, in dem die großen Mächte sich gegenseitig in Schach halten. Am Ende unserer Epoche nimmt das System die Form einer Pentarchie an, die freilich gleichfalls schon im Italien der Renaissance vorgebildet ist. Alle diese Konstellationen ergeben jeweils wechselnde Mischungsverhältnisse oder Gemengelagen. Frankreich kämpft im 16. und 17. Jahrhundert gegen die spanische Universalmonarchie im Namen des europäischen Gleichgewichts, um nach dem Sieg eine eigene Vorherrschaft zu begründen, die wiederum England im Namen des europäischen Gleichgewichts auf den Plan ruft; das Ergebnis ist eine „balance of power", die England zur Absicherung seiner hegemonialen Stellung in Übersee einrichtet, nicht ohne dabei aufs neue Frankreich zum Kampf um die kontinentale wie die überseeische Hegemonie herauszufordern. Entscheidend ist, daß diese Strukturen oder Mechanismen sozusagen nicht durch sich selbst wirken, sondern jeweils im Zuge von Machtkämpfen hervorgebracht oder aktualisiert werden, die im partikularen Interesse einzelner Staaten ihren einzigen Beweggrund haben. Es handelt sich dabei um Sekundärphänomene, die den jeweiligen Stand der Machtverhältnisse zwischen den Gliedstaaten des Systems ausdrücken und daher jederzeit zu revidieren sind. Die Pentarchie des 18. Jahrhunderts etwa führt kein Eigenleben; sie existiert vielmehr nur, weil die fünf Mächte Frankreich, England, Österreich, Rußland, Preußen - durch ihre faktische Entwicklung auf diese Stufe gelangt sind; von einem gleichsam grundsätzlichen Einverständnis über die Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung oder auch nur von einer vorbehaltlosen Anerkennung jeder dieser fünf Mächte kann unter ihnen naturgemäß keine Rede sein; die prekäre Existenz Preußens, das Friedrich der Große durch bis dahin unerhörte Akte der Aggression und des Vertragsbruchs zur Großmacht emporgerissen hat, ist notorisch. Nicht anders steht es mit einem weiteren Vorgang, der sich zusammen mit der Ausbildung des europäischen Staatensystems vollzieht: nämlich mit dem einer Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Sofern die Gliedstaaten des Systems, ausgehend von der Etablierung eines europäischen Gesandtschaftsrechts, ein Völkerrecht hervorbringen oder akzeptieren, das schließlich auch Ordnungsbegriffe wie das europäische Gleichgewicht umfaßt, geschieht das nicht aus irgendeinem Rechtszwang, sondern aus dem wohlverstandenen staatlichen Machtkalkül heraus. Dieses Völkerrecht baut auf dem Prinzip der Souveränität jedes einzelnen Staates auf, sucht es zu regeln oder zu normieren, hat die fortdauernde Zustimmung aller Staaten zur Voraussetzung, die sich ihm unterwerfen; die Bedingung seiner Möglichkeit ist, daß der souveräne Staat aus eigenem Interesse die Errichtung einer solchen zwischenstaatlichen Rechtsordnung als nützlich ansieht. Das Völkerrecht stellt sich hier also als Funktion der Politik dar; es ist im Grunde kein Recht, sondern ein Machtspruch, der in der Form des Rechts daherkommt. 14
Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948.
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Die Geschichte des frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems bietet einen spektakulären Einschnitt, auf den ich noch zu sprechen kommen muß: das Zeitalter der Konfessionalisierung, die das gesamte okzidentale Europa erfaßt. Über dieses Phänomen findet sich in der neueren Literatur viel Ungereimtes; es sollte daher in unserem Zusammenhang geklärt werden. 15 Politisch bedeutet Konfessionalisierung, daß Politik und Konfession sich durchdringen und sozusagen für identisch erklärt werden, daß die Politik konfessionell und die Konfession politisch wird, daß es jedenfalls unmöglich ist, zwischen beiden zu unterscheiden; als man diese Unterscheidung treffen kann, ist das Zeitalter der Konfessionalisierung zu Ende. Der Staat wird im Zeichen des konfessionellen Prinzips zur Religionspartei; innerhalb des europäischen Staatensystems beginnen sich große konfessionelle Lager zu bilden. Diese Identifizierung von Politik und Konfession kann eine gewaltige Verstärkung und Intensivierung staatlicher Macht, aber auch innere Zerrissenheit und permanenten Bürgerkrieg bewirken und bewirkt jedenfalls eine neuerliche Mediatisierung der Politik; die Souveränität geht da sozusagen vom Staat auf die Konfession über. Was für die einzelnen Staaten gilt, gilt auch in den äußeren Beziehungen: Das europäische Staatensystem kann zwar im Zuge der Konfessionalisierung seinen Zusammenhalt verdichten und festigen, wird aber zugleich seinem ursprünglichen Charakter als eines Systems souveräner Staaten, die der immanenten Logik ihrer jeweiligen Machtlage folgen, entfremdet. Das konfessionelle Prinzip erweist sich damit beide Male als existentielles Hindernis. Es muß außer Kraft gesetzt werden, wenn die früheren Prozesse der Verstaatlichung und der zwischenstaatlichen Verflechtung nicht blockiert, sondern weitergeführt werden sollen; die Konfessionalisierung der Politik muß der Entkonfessionalisierung und Säkularisierung der Politik weichen. Eine solche Gegenwirkung gegen das konfessionelle Prinzip gibt es seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts, als das Frankreich Heinrichs IV zum Kampf gegen das Spanien Philipps II. antritt: das Musterland für eine überkonfessionelle Politik, das fast an seiner konfessionellen Zwietracht zerbrochen wäre, gegen die Führungsmacht der Gegenreformation, die ihre Stärke aus der konfessionellen Homogenität ihrer Länder bezieht. Der Sieg Richelieus und Mazarins ist daher gleichbedeutend mit dem endgültigen Durchbruch zum souveränen Staat und damit zum europäischen Staatensystem. Es ist offenkundig, daß von dem frühneuzeitlichen Staatensystem Wege zur Moderne und damit zur Gegenwart führen. Der souveräne Staat, sein institutioneller Apparat, die darauf gegründeten zwischenstaatlichen Beziehungen, bestimmte Strukturen oder Mechanismen des Systems, die Korrelation von Politik und Völkerrecht, die Säkularisierung der Politik: das alles ist bis zu einem gewissen Grade immer noch unsere Welt, was immer sich seit 1800 ereignet haben mag. Gleichwohl sind die Veränderungen, die sich damals vollzogen haben, so beträchtlich, daß sie für den Beginn einer von der Frühen Neuzeit qualitativ unterschiedenen Epoche stehen können, die die Gegenwart mit ganz anderer Dynamik betrifft. Der 15
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Vgl. dazu etwa Schilling, Formung (wie Anm. 8), 29 ff.
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souveräne Staat und das System souveräner Staaten, wie sie aus der Frühen Neuzeit überkommen sind, geraten in den Sog einer Politik, die den Status des einen wie des anderen vollkommen verwandelt. Es ist die Französische Revolution, die auch hier revolutionierend gewirkt hat. Im Grunde haben wir es auch dabei mit altbekannten Tatsachen zu tun, die allerdings nicht immer richtig gewichtet werden. Wenige allgemeine Bemerkungen mögen genügen.16 Die Revolutionierung der zwischenstaatlichen Verhältnisse folgt aus der Revolutionierung des Staates, die sich am besten auf den Begriff der Nation fixieren läßt. 17 Nation ist ein altes Wort und ein altes Phänomen, die sich seit der Antike in verschiedenen Bedeutungen und Richtungen entwickelt oder ausgeprägt haben; die Verbindungslinien zur revolutionären Nation sind unleugbar. Aber die revolutionäre Nation ist - verglichen mit dieser Vorgeschichte - doch wiederum von völlig anderer Qualität, und zwar durch eine bis zum äußersten gesteigerte Politisierung, für die es bis dahin an jeder Parallele oder Analogie fehlt. Sie ist nationaler Staat oder strebt danach; sie konstituiert sich durch den Willen aller zu ihr gehörigen Individuen, diesen Staat zu bilden und aufrechtzuerhalten; sie lebt, solange dieser Wille lebt; sie ist nach der berühmten Definition von Ernest Renan ein „plébiscite de tous les jours", eine täglich wiederholte Volksabstimmung18; sie wird damit zum Inbegriff menschlicher Selbstbestimmung überhaupt. 19 In diesem Nationalgedanken ist das ganze politische und soziale Erneuerungsprogramm der Revolution enthalten: der Durchbruch zur Demokratie, die den nationalen Willen zur Darstellung bringt, und die Aufrichtung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn freisetzt. Als diese Nation den alten Staat übernimmt, ist das nicht einfach ein Regierungs- oder Machtwechsel, sondern ein Systemwechsel schlechthin, die Durchset16 Vgl. zum Folgenden insgesamt: Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994, und ders., The Vienna System and Its Stability: The Problem of Stabilizing a State System in Transformation, in: Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem (wie Anm. 5), 107-122; Baumgart, Europäisches Konzert (wie Anm. 5), bes. 3 ff. u. 113 ff.; Anselm Doering-Manteujfel, Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Loth/Osterhammel (Hrsg.) Internationale Geschichte (wie Anm. 5), 93-115. 17 Dazu: Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, München/Berlin 1937; Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt am Main 1985; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; Herfried Münkler/Hans Grünberger/ Kathrin Mayer, Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen, Bd. 8.) Berlin 1998; Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Bruno Schloch, Nationalismus - Überlegungen zur widersprüchlichen Erfolgsgeschichte einer Idee, in: Siegelberg /Schlichte (Hrsg.), Strukturwandel (wie Anm. 5), 167-193. Ernest Renan, Qu'est-ce qu'une nation? Conférence faite en Sorbonne, le 11 mars 1882, in: ders., Discours et Conférences Paris o. J., 277-310, hier 307. Vossler, Der Nationalgedanke (wie Anm. 17), 20: „Nation ist Gemeinschaft des Fühlens und Glaubens, des Bewußtseins und Denkens, vor allem aber Gemeinschaft des politischen Wollens und Tuns."
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zung einer neuen politischen Weltanschauung, ja eines neuen politischen Glaubens, der auch von dem politischen Konfessionalismus des 16. und 17. Jahrhunderts, zu dem man ihn formal in Beziehung setzen könnte, durch Abgründe getrennt ist. Souveränität, Staatsräson, Staatsinteresse, Machtstaat: das alles bleibt erhalten, wird aber nunmehr transformiert in ein Gemeinschaftsgebilde von höherer Legitimität und gewinnt damit zugleich eine vorher beispiellose Durchschlagskraft. Aus dem Staat als Selbstzweck wird ein Mittel zu dem ideologisch ungeheuer aufgeladenen Zweck der Nation. Der revolutionäre Nationalstaat steht nicht nur von vornherein neben dem traditionellen europäischen Staatensystem, sondern ist auch eine einzige Kriegserklärung an die hergebrachte zwischenstaatliche Ordnung. Er erkennt sie nicht an, verneint sie radikal, will eine neue Ordnung nach seinem Ebenbild errichten: ein von Frankreich beherrschtes System von Nationalstaaten. „Krieg den Palästen, Friede den Hütten": das ist eine Kampfansage, vor dem das alte System keinen Bestand hat, das ist die Parole für ein neues Europa, für eine neue Menschheit. Sofern das revolutionäre Frankreich an alte Ziele der Königszeit anknüpft oder sich herkömmlicher außenpolitischer Instrumente bedient, geschieht das mit einer Zielsetzung, die vom bisherigen Charakter des Systems grundverschieden ist. Das Napoleonische Empire, weit entfernt vom traditionellen Begriff einer Hegemonie, kommt der Verwirklichung des revolutionären Anspruchs sehr nahe. Napoleon hat sich später, auf St. Helena, förmlich das Projekt einer Einigung Europas zugeschrieben; er habe aus jedem europäischen Volk „un seul et même corps de nation" machen wollen; sie hätten sich alle nach gemeinsamen Prinzipien und Institutionen organisieren sollen, um schließlich „la grande famille européenne" zu bilden. 20 Die nachträgliche Stilisierung darf nicht verdecken, daß hier das Grundmotiv französischer Außenpolitik nach 1789 genau getroffen wird: die radikale Nationalisierung Europas. Aber nach dem Sturz Napoleons wird das alte europäische Staatensystem nicht nur restauriert, sondern geradezu vollendet; erst jetzt, nach den Friedens- und Kongreßbeschlüssen von 1814 bis 1818, sind Gleichgewicht und Pentarchie sozusagen institutionalisiert. So scheint es, aber so ist es nicht oder vielmehr: so ist es nur der Form nach. Tatsächlich kann von einer Wiederherstellung und Festigung des alten Systems wie des alten Staates keine Rede sein; die restaurierte Form faßt einen neuen Inhalt. Der Sieg über Napoleon ist nicht zu denken ohne die Mobilisierung nationaler Energien, in denen sich die revolutionäre Nationsidee, in vielfachen Brechungen und Gemengelagen, gegen Frankreich stellt, und demgemäß beruht auch die Staatenwelt der Restaurationszeit im Innern wie in den territorialen Verhältnissen teilweise auf Grundlagen, die revolutionärer Herkunft sind. Allerdings hat die Wiener Ordnung zugleich und vor allem eine antirevolutionäre Spitze; aber sie demonstriert gerade dadurch, daß sie im Banne der Revolution verharrt. Die Heilige Allianz, die monarchische Solidarität, der ideologisch begründete Interven2
o Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène. Ed. par André Fugier, Vol. 2. Paris 1961, 545 ff.
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tionismus der großen Mächte sind in der Geschichte des alten europäischen Staatensystems ohne jedes Vorbild; sie setzen gleichsam die Revolution mit umgekehrten Vorzeichen fort. Obendrein geht aus den Revolutionen von 1830 und 1848/49 eine Folge von Konstellationen hervor, die noch ganz anders auf das neue nationale Denken programmiert sind: von den ideologischen Blockbildungen der dreißiger und vierziger Jahre über die nationalen Einigungskriege nach der Jahrhundertmitte bis zu den im Zeichen der voll entwickelten Industrialisierung gewaltig verschärften nationalstaatlichen Rivalitäten, die alsbald die Welt ergreifen. Natürlich verläuft diese Entwicklung nicht bruchlos oder einlinig, und auch danach, bis zur Gegenwart, fehlt es ersichtlich nicht an veränderten Umständen und Impulsen. Es mag auch abzusehen sein, daß dies zu neuen Periodisierungsansätzen führen wird. Aber einstweilen bleibt evident, daß es sich bei alledem um Prozesse handelt, die auf das Jahr 1789 zurückgehen. Dieses Jahr scheidet wirklich eine frühe von einer späteren Neuzeit der außenpolitischen Beziehungen. Der Umbruch macht sich noch in einer anderen Hinsicht geltend, von der bisher nur im Vorübergehen die Rede war, nämlich dann, wenn man nach den Außenbeziehungen, der Außenwirkung, der globalen Dimension europäischer Staatenpolitik fragt. Auch hier geht es nicht um neue Fakten, sondern darum, längst erschlossenes und verfügbares Wissen auf einen systematischen Begriff zu bringen. 21 Das europäische Staatensystem der Frühen Neuzeit ist wirklich ein europäisches, das ganz um sich selbst kreist. Der Grund dazu ergibt sich aus seiner spezifischen kulturellen Physiognomie. Es entsteht aus der mittelalterlichen res publica christiana, und es bleibt, bei aller Autonomisierung und Säkularisierung der Politik, von seiner Herkunft geprägt. Diese immanente Wendung der Politik selbst vollzieht sich in vorgezeichneten Bahnen, ist ohne die christliche Tradition nicht zu denken, setzt sie voraus und ist ihr noch lange verhaftet. Jedenfalls bildet das frühneuzeitliche Staatensystem, von Süd nach Nord und von West nach Ost, von Italien bis Schweden und von England bis Rußland, eine Gemeinschaft christlicher Staaten, und seine Glieder sind oder bleiben sich, ungeachtet der herrschenden kirchlichen oder konfessionellen Differenzen, dieser Gemeinschaft bewußt. Sie grenzen sich daher scharf von der nichtchristlichen Welt ab. Das heißt bekanntlich nicht, daß die europäischen Staaten sich aus dieser Welt herausgehalten hätten, im Gegenteil: Sie stoßen seit dem 15. Jahrhundert nach Afrika, Asien und Amerika vor; sie entsenden Expeditionen, errichten Stützpunkte, begründen Kolonialreiche, geraten deswegen untereinander in langandauernde Konflikte. Aber sie bewegen sich dabei in einer Sphäre, die ihnen grundsätzlich fremd oder heterogen bleibt, von der sie sich qualitativ getrennt wissen. Ihre Kolonien sind Außenposten oder Exklaven in einer Welt, die sich europäischen Maßstäben entzieht. Freilich müssen sich die Europäer immer wieder mit einheimischen Potentaten ins Verhältnis setzen, die ihnen selbständig entgegentreten. Aber das 21
Vgl. zuletzt Duchhardt, Balance of Power (wie Anm. 5), 82 ff. u. 221 ff., und Baumgart, Europäisches Konzert (wie Anm. 5), 429 ff.
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sind faktische Beziehungen, die nirgends zu einer förmlichen Anerkennung führen. Sie haben nichts mit den Regeln zu tun, die innerhalb des europäischen Staatensystems gelten; sie lassen sich ihm weder koordinieren noch subsumieren. Kennzeichnend dafür ist die Haltung der Europäer gegenüber dem Osmanischen Reich. Sie empfinden es durchgängig als fundamentale Bedrohung ihrer christlichen „Weitegemeinschaft", befinden sich mit ihm im Grunde ständig im Kriegszustand, stellen mit ihm allerdings von Zeit zu Zeit eine Art Koexistenz her, die selbst zum Bündnis und zum Friedensschluß führen kann, bleiben aber von „normalen" Beziehungen weit entfernt. Das Osmanische Reich wird - übrigens ganz im Einklang mit seinen eigenen Interessen - kein Glied des europäischen Staatensystems. Die außereuropäischen Besitzungen der europäischen Staaten bieten noch eine andere Seite dar, die hier von Bedeutung ist. Es handelt sich bei ihnen um Außenposten nicht nur in dem Sinne, daß sie inmitten einer fremden Welt liegen, sondern auch insofern, als sie bloße Projektionen des jeweiligen Mutterlandes darstellen. Sie stehen nirgends für sich, sondern sollen das Potential des Mutterlandes in Europa stärken. Allerdings nimmt ihr Umfang wie ihr Gewicht ständig zu; die Rivalität der westeuropäischen Großmächte bekommt immer mehr eine koloniale Komponente; die englisch-französischen Kriege des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts, vom Pfälzischen Erbfolgekrieg bis zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, sind Weltkriege, in denen Europa am Schluß nur noch als Nebenkriegsschauplatz erscheint. Es ist aber entscheidend, daß die europäischen Kontrahenten nicht nur gewissermaßen unter sich bleiben, sondern auch zunächst alles auf ihre europäischen Interessen berechnen. Sie betreiben Weltpolitik, aber unter europäischer Perspektive: eine Weltpolitik Europas. Das alles wird seit 1789 von Grund auf anders. Europa öffnet sich zur Welt und wird ein Teil der Welt, in der es sich bald einem Prozeß fortgesetzter Relativierung anheimgegeben sieht. Zunächst und grundlegend: Im Zeichen der Revolution werden die Grenzen, die das europäische Staatensystem bisher von der nichtchristlichen Welt getrennt haben, hinfällig. Der revolutionäre Nationalstaat etabliert sich im erklärten Gegensatz zur christlichen Tradition; er verkündet einen neuen Glauben für die ganze Menschheit; am 22. September 1792, dem Tag der Verkündung der Republik, beginnt eine neue Zeitrechnung. Allerdings weicht die radikale Kampfansage schon bald dem Arrangement von Staat und Kirche; überhaupt bleibt das neue nationale Denken allenthalben noch lange mit herkömmlichen religiösen Vorstellungen oder Begriffen versetzt oder durchsetzt. Aber das Arrangement entspringt einem äußerlichen politischen Kalkül, und die übliche christliche Fassung des Nationalgedankens ist bloße Metaphorik, die keinerlei konstitutive Bedeutung hat. Freilich ist unleugbar, daß auch die Ideen der Revolution einer Gedankenbewegung entstammen, die zuletzt auf christliche Voraussetzungen zurückgeht. Aber sie sind diesen Voraussetzungen zugleich in einem Maße entrückt, daß sich daraus keine Limitierung ihres Anspruchs ergibt. Der revolutionäre Nationalstaat, der das
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europäische Staatensystem zum Einsturz bringt, überwindet damit auch die Demarkationslinien gegenüber der nichtchristlichen Welt; er ist auf ein weltweites System von Nationalstaaten angelegt: auf eine ganz säkular gewordene Welt „vereinter Nationen". Auch hier bedeutet allerdings die Restauration einen bemerkenswerten Einschnitt. Sie versucht nicht nur die Rekonstruktion des alten europäischen Staatensystems, sondern auch die Wiederherstellung der alten christlichen Gemeinschaft unter den europäischen Staaten. Die Heilige Allianz von 1815 richtet eine Form der res publica christiana ein, wie sie vorher in dieser Perfektion noch niemals bestanden hat: ein dauerhaftes Bündnis zwischen Staaten fast aller christlichen Kirchen und Bekenntnisse, das sie zur Befolgung christlicher Grundsätze in der Politik verpflichtet. Diese Verpflichtung richtet sich zunächst einmal nach innen; sie soll den Kampf gegen revolutionäre Bestrebungen in Europa legitimieren. Aber sie kommt auch einer neuerlichen Abgrenzung Europas gegenüber der nichtchristlichen Welt gleich. Die Heilige Allianz ist freilich in beiden Hinsichten gescheitert. Sie hat auf Dauer weder die revolutionären Bestrebungen in Europa niederhalten können noch auch eine gemeinsame Front in der bald virulent werdenden orientalischen Frage herbeigeführt, bei der es sich wieder einmal um das Verhältnis zum Osmanischen Reich handelte; das Ergebnis der neuen Lage im Nahen Osten ist, daß die Türkei, die während der Frühen Neuzeit außerhalb des europäischen Staatensystems gestanden hat, ihm fortan assoziiert erscheint. Die Nationalisierung der Welt seit 1789 wird wesentlich vorangetrieben durch die Entwicklung der europäischen Kolonialreiche. Sie tendiert zunehmend zur Ausbildung nationaler Weltimperien, die sich nicht mehr in den Rahmen der europäischen Staatenbeziehungen einfügen lassen, und zwar um so weniger, als allmählich auch nichteuropäische Kolonial- und Weltmächte die Bühne betreten und eine immer größere Rolle zu spielen beginnen. Zum Vörreiter dieses Prozesses wird das britische Weltreich, das, nachdem es die Kriege gegen die Revolution und Napoleon triumphal gewonnen hat, eine Art Welthegemonie einnimmt; seine universalen Interessen lassen es seit 1815 auf wachsende Distanz zu Europa gehen; es kann sich leisten, gegenüber dem Kontinent „splendid isolation" zu wahren. Keiner der anderen europäischen Kolonialmächte, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach einer Zeit der Abstinenz, wieder oder neu formieren, ist es gelungen, dieses Niveau zu erreichen; aber alle streben danach und machen dabei erhebliche Fortschritte. Bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellt sich damit eine Gesamtkonstellation ein, die die Dimensionen vorrevolutionärer Weltpolitik endgültig sprengt. Das ist nicht mehr die Weltpolitik Europas, sondern Weltpolitik schlechthin. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, mögen sie auch ihren Schwerpunkt auf den europäischen Schauplätzen haben, finden in diesem erweiterten Horizont statt: im Unterschied zu den Weltkriegen vor 1789, die zwar verstärkt in Übersee geführt werden, aber wesentlich von europäischen Motiven bestimmt sind; der neue Name selbst ist ein Zeichen des außenpolitischen Systemwechsels, der sich hier vollzogen hat.
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Andererseits gehört es zu den unmittelbaren Konsequenzen der Französischen Revolution, daß sie eine erste Welle der Entkolonialisierung auslöst. Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika bietet dazu das Vorspiel, auch dadurch bedeutungsvoll, daß der Erfolg der Amerikaner das Aufkommen einer revolutionären Situation in Frankreich begünstigt: eine Umkehrung der bisherigen weltpolitischen Richtung, nachdem der Unabhängigkeitskrieg selbst weithin lediglich eine neue Phase oder Epoche des traditionellen englisch-französischen Gegensatzes gewesen ist. Dem entspricht, daß die Vereinigten Staaten nach 1789 auf die Seite Frankreichs treten und bis zum Schluß, sei es indirekt oder direkt, an den Kriegen der Revolution und Napoleons teilnehmen; das wirkt wie der Kern einer neuen transatlantischen Weltordnung. Diese Revolutionierung der außenpolitischen Beziehungen innerhalb der westlichen Welt wird nun aber durch die Unabhängigkeitsbewegungen in den lateinamerikanischen Kolonien gewaltig beschleunigt. Sie resultieren aus einer von dem Napoleonischen Frankreich hervorgerufenen Kettenreaktion und beruhen allesamt auf den Ideen von 1789. An die Stelle europäischer Besitzungen treten selbständige Nationalstaaten; das ist ein Signal oder Fanal für die Zukunft. Diese Motive und Erfahrungen bleiben auch unverloren, als die Entkolonialisierung, entgegen verbreiteten Erwartungen, zum Stehen kommt und das Zeitalter der nationalen Weltimperien heraufzieht. England, die erste und dominierende dieser Mächte, nimmt noch während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, geschreckt durch den Schock der Erhebung, Kurs auf koloniale Selbstverwaltung, gründet das Empire in der Folge auf „Dominions" und Formen indirekter Herrschaft und gelangt immer mehr zu einer föderativen Reichsverfassung, aus der im Laufe des 20. Jahrhunderts das „British Commonwealth of Nations" erwächst. Eine im Interesse der Stärkung des Reiches unternommene Politik führt Schritt für Schritt zur Unabhängigkeit der Kolonien, ohne den Zusammenhalt des Ganzen förmlich preiszugeben: ein Schrittmacher des Völkerbundes und der Vereinten Nationen. Andere europäische Kolonialmächte wie Frankreich stehen vor den gleichen Problemen, und auch wenn sie nicht einfach dem Weg des britischen Reiches folgen können, kommen sie nicht um Lösungen herum, die zuletzt auf die Unabhängigkeit ihrer kolonialen Besitzungen abzielen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die nächste Welle der Entkolonialisierung losbricht, da geschieht das in Strukturen, deren Grundlagen im Zuge der kolonialen Emanzipationsbewegungen des revolutionären Zeitalters gelegt worden sind. Ein spektakuläres Ereignis aus der Geschichte der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen führt schlagartig vor Augen, wie weit die außenpolitische Globalisierung im Gefolge der Französischen Revolution damals gediehen ist. 1822 faßt die spanische Regierung, gedeckt durch die Heilige Allianz, den Entschluß, Truppen zur Niederwerfung der iberoamerikanischen Aufstände auszurüsten und einzuschiffen. Aber da treten die Vereinigten Staaten auf den Plan; die Monroe-Doktrin von 1823 verkündet den Ausschluß Europas vom amerikanischen Kontinent; der eine Erdteil steht gegen den anderen. Daß es nicht zum Zusammen-
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stoß kommt, liegt an England, das seine Flottenmacht zwischen die beiden Kontrahenten schiebt. England, gestützt auf seine die Ozeane überspannende Weltmachtstellung, hält sozusagen zwei Kontinente im Gleichgewicht. Das alles ist Weltpolitik von wahrhaft universalem Zuschnitt, wie es sie vor 1789 schlechterdings nicht geben konnte. Es scheint mir erwägenswert, aus allen diesen Befunden - einfach zur besseren äußeren Orientierung - eine terminologische Konsequenz zu ziehen. Man sollte den Begriff des europäischen Staatensystems auf die Frühe Neuzeit beschränken und für die Zeit danach von internationalen Beziehungen sprechen. Dieser letztere Begriff ist heute sehr im Schwange, wird aber meist vollkommen unspezifisch gebraucht und nicht selten mit dem des Staatensystems gleichgesetzt; das „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen" verwendet beide Begriffe unterschiedslos. Wenn man aber beide Begriffe ernst nimmt oder in einem strikten Sinne versteht, dann eignen sie sich vorzüglich dazu, die Spezifik der beiden Epochen zu bezeichnen, die durch die Zäsur um 1800 voneinander geschieden sind. Es ist bemerkenswert, daß in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine Diskussion über diese Epochenscheide stattfindet, die auf die Vorstellung eines spezifisch frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems hinausläuft. 22 Das System wird seit seinen Anfängen fortlaufend von einer historisch-politischen Reflexion begleitet; Machiavelli und Guicciardini sind die ersten, noch lange avant la lettre; der Begriff selbst kommt seit dem 18. Jahrhundert auf. Damals wird auch an den deutschen Universitäten eine Disziplin eingerichtet, die sich diesem Thema widmen soll: die europäische Staatenkunde oder Staatengeschichte, ein Hilfsfach der Jurisprudenz. Der letzte große Vertreter dieser Disziplin, Arnold Herrmann Ludwig Heeren, veröffentlicht im Jahre 1809 ein „Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems", das den ganzen Zeitraum vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur jüngsten Vergangenheit behandelt. Er ist sich bei der Niederschrift bewußt, daß das europäische Staatensystem im Zuge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege „in seinen wesentlichsten Theilen" zusammengestürzt sei: „Auf seinen Trümmern ward seine Geschichte geschrieben." 23 Er leidet furchtbar in „jenen traurigen Tagen" und will 22 Dazu Ulrich Muhlack, Das europäische Staatensystem in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Annali dellTstituto storico italo-germanico in Trento 16, 1990, 43-92; vgl. auch Gerhard Th. Mollin, Internationale Beziehungen als Gegenstand der deutschen Neuzeit-Historiographie seit dem 18. Jahrhundert. Eine Traditionskritik in Grundzügen und Beispielen, in: Loth / Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 5), 3-30. 23
Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonieen, von seiner Bildung seit der Entdeckung beider Indien bis zu seiner Wiederherstellung nach dem Fall des Französischen Kaiserthrons, und der Freiwerdung von Amerika, 2 Bde. (Historische Werke, Bd. 8 - 9 ) , 4. Aufl., Göttingen 1822, hier Bd. 1,X.
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zur „Erhaltung des Andenkens an eine bessere Zeit, und der Grundsätze, auf denen in ihr die Politik von Europa ruhte", beitragen, indem er die Historie einer abgeschlossenen Epoche schreibt. 24 Was ihn dennoch über die Bedrückungen des Moments hinweg tröstet, ist „die Aussicht zu einer größern und herrlichem Zukunft", in der „er statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte" ein transatlantisches „Weltstaatensystem" entstehen sieht: „der Stoff für den Geschichtschreiber kommender Geschlechter!" 25 Die „verflossenen Jahrhunderte" rücken damit freilich noch weiter in die Vergangenheit zurück; sie werden zur bloßen Vorstufe eines ganz neuen Weltzustandes. Das ist - auch ohne das Wort - die Geburtsstunde der Frühen Neuzeit. Als Heeren 1819 die dritte Auflage seines „Handbuchs" herausbringt, hat sich für ihn, nach dem Sieg über Napoleon, der Prospekt vollständig geändert. Triumphierend fügt er jetzt ein Kapitel über die „Wiederherstellung des Europäischen Staatensystems" hinzu. 26 Sowenig er den unwiderruflichen Wandel in den inneren und äußeren Verhältnissen der europäischen Staaten seit 1789 verkennt, so sehr steht für ihn fest, daß eine wirkliche Restauration stattgefunden habe: „So schloß sich, auf die würdigste Weise, das große, dreihundertjährige Drama der Geschichte des Europäischen Staatensystems mit seiner Wiederherstellung. Möge die Zukunft den erhabenen Gesinnungen der Monarchen entsprechen!" 27 Der „Schluß" des „Dramas" ist in Wahrheit ein „Wiederanschluß" an den bisherigen Gang der Dinge, das Zeitalter, das Heeren 1809 vollendet sah, wiederum zur Gegenwart und zur Zukunft hin geöffnet. Ganz ähnlich verfährt Leopold Ranke noch 1833 in seinem Essay „Die großen Mächte", wo er unter dem Eindruck der Julirevolution und der von ihr ausgehenden ideologischen Polarisierung Europas die gleichwohl fortdauernde Präsenz jener Pentarchie konstatiert, die sich im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet habe, sich in der Zeit der Revolution und Napoleons „verjüngt" und schließlich ihre „Wiederherstellung" erlebt habe.28 Diese Deutung wird allerdings bald von anderen Autoren bestritten. Johann Gustav Droysen, einer der frühesten historiographischen Wortführer eines nationalen Verfassungsstaats, kommt in seinen „Vorlesungen über die Freiheitskriege" erneut zu einer scharfen Abgrenzung zwischen dem „alten Europa" des 15. bis 18. Jahrhunderts und dem Europa der neuesten Zeit. Dem „alten Europa" schlägt er den „modernen Staat" und „das europäische Staatensystem" zu. 29 Sie haben für ihn eine fortdauernde Gegenwartsbedeutung durch „die Idee des Staa24 Ebd., XIII. 25 Ebd., X I f. 26 Ebd., Bd. 2, 408 ff. 27 Ebd., 451. 28 Leopold von Ranke, Die großen Mächte, in: ders., Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Hrsg. v. Ulrich Muhlack. Frankfurt am Main/Leipzig 1995, 9 - 7 0 , bes. 61 ff. 29 Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, 2 Bde., Kiel 1846, hier Bd. 1, 18 u. 180.
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tes" 30 und durch die Idee einer zwischenstaatlichen Verfassung, „in der Friede, Recht und Freiheit Aller gesichert ist." 31 Sie scheinen ihm freilich im Laufe ihrer Entwicklung von ihren ursprünglichen Ideen abgewichen: „Je mehr sich der moderne Staat über die mittelalterlichen Beschränkungen erhob, um so irrationaler, willkührlicher, verworrener wurden die Staatsverhältnisse; es schien endlich jede Basis, jedes Princip, jede tiefere Berechtigung aus dem System der Mächte, wie sie nun waren, dahinzuschwinden."32 Mit der nationalen Revolution von 1789 bricht das „alte Europa" zusammen und beginnt daher eine „neue Zeit" 3 3 , die auch die Entartung der Revolution und das Restaurationswerk von 1814/15 nicht aufhalten können: „Mit dem Frieden begann das zweite Stadium der neuen Zeit". 3 4 Die Aufgabe dieser „neuen Zeit" ist die Aufrichtung eines nach Nationalstaaten gegliederten Europa, das in der Umgestaltung der „transoceanischen Verhältnisse", vom „Freiheitskrieg" der Nordamerikaner bis zu dem „insurgirten spanischen Amerika", eine Parallele hat 35 : „eine große Friedensunion, in sich mannigfach nach der Mannigfaltigkeit der Völksindividualitäten, staatlich gegliedert nach deren Unterschied, die Staaten selbst in verfassungsmäßiger Ordnung". 36 Das ist die Antithese zum „alten Europa", das hinter der „neuen Zeit" versinkt. Georg Gottfried Gervinus bekräftigt diese Periodisierung von einer republikanischen Warte aus, wenn er 1853 in seiner „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" die Geschichte seit 1789 in „einen geraden Gegensatz gegen die Zeit des 18. Jahrhunderts" und die ihr vorangegangene Zeit setzt.37 Zu diesem „Gegensatz" gehört ihm auch, daß mit der Französischen Revolution eine weltweite Geschichte der „Volksbewegungen" beginnt, nachdem es vorher einen „Rückschlag der freiheitlichen Bestrebungen" in Nordamerika auf Frankreich gegeben hat 38 ; er führt diesen Gedanken in seiner „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" aus, in der dem „Unabhängigkeitskampf im spanischen Amerika" breitester Raum gegeben wird. 39 Es verdient angemerkt zu werden, daß auch Ranke sich später sozusagen ohne viel Aufhebens dieser Epochalisierung angenähert hat. Es ist unter dem unmittel30 Ebd., 7. 31 Ebd., Bd. 2, 644. 32 Ebd., Bd. 1, 181. 33 Ebd., Bd. 2, 166. 34 Ebd., Bd. 1, 17. 35 Ebd., Bd. 1, 225, und Bd. 2, 664. 36 Ebd., Bd. 2, 644. 37 Georg Gottfried Gervinus, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Hrsg. v. Walter Boehlich. Frankfurt am Main 1967, 150. 38 Ebd., 97 f. u. 151 ff. 39 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, 8 Bde., Leipzig 1855-1866, hier Bd. 3, 3-339 und Bd. 4, 441 -782.
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baren Eindruck der „Einleitung" von Gervinus, daß er 1854 in den Berchtesgardener Vorträgen von den „fünf unabhängigen Mächten" nur im Zusammenhang mit der Geschichte des 18. Jahrhunderts spricht 40 , während er die Geschichte seit 1789 im Zeichen des „Widerstreits" zwischen den „beiden Prinzipien der Monarchie und der Volkssouveränität" sieht.41 In einer Vorlesung von 1868 verweist er, mit Blick auf 1859 und 1866, auf „neue Kriege, welche dem System der europäischen Mächte einen neuen Charakter gegeben haben; die Souveränität der Nationalitäten ist zu allgemeiner Geltung gelangt; - neue Staaten sind darauf gegründet worden; noch ist sie bei weitem nicht zu ihren Zielen gelangt, - noch hat sie auch keine nachhaltige Beschränkung gefunden." 42 Im gleichen Jahr schließt er seine „Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert", die mit einem Ausblick auf das 18. Jahrhundert endet, mit Sätzen, die diese Geschichte in einem fundamentalen Sinne von derjenigen des 19. Jahrhunderts abheben.43 Nur kurz danach öffnet ihm die Reichsgründung eine „universale Aussicht für Deutschland und die Welt" 4 4 ; das ist Heerens Vision eines „Weltstaatensystems", das sich „statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte" erhebt. Ich kann hier abbrechen. Genug, daß deutlich geworden ist, daß der Umschlag des europäischen Staatensystems in eine durch die Französische Revolution grundlegend erneuerte Weltordnung sich in seiner entscheidenden Phase in der Reflexion zeitgenössischer Autoren widerspiegelt. Die heutige Frühneuzeitforschung täte gut daran, sich ihrer zu erinnern. Jedenfalls sind sie Kronzeugen eines Epochenwandels, der hohe Evidenz oder Plausibilität beanspruchen kann. Wenn es überhaupt ein Phänomen gibt, das sich zur Kennzeichnung einer frühen Neuzeit der europäischen Geschichte eignet, dann ist es das europäische Staatensystem.
40 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Hrsg. v. Theodor Schieder/Helmut Berding (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 2) München/Wien 1971, 401. 41 Ebd., 436. - Zur Motivierung Rankes durch Gervinus Ernst Schulin, Zeitgeschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, 65-116, hier 92. 42 Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen. Hrsg. v. Volker Dotterweich / Walther Peter Fuchs (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4), München/Wien 1975,450. 43 Leopold Ranke, Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert, Bd. 7, Leipzig 1868, 153. 44 Leopold von Ranke, Aufsätze zur eigenen Lebensbeschreibung, in: ders., Zur eigenen Lebensgeschichte. Hrsg. v. Alfred Dove (Sämmtliche Werke, Bd. 53/54), Leipzig 1890, 1-76, hier 76.
Thronfolge und Erbrecht in Frankreich „La royauté est indivisible et déléguée hériditairement a la race regnante de mâle en mâle, par ordre de primogéniture, a l'exclusion perpétuelle des femmes et de leur descendance."1 Dieser Satz aus der französischen Konstitution von 1791 bedeutet im strengen Sinne die erste verfassungsrechtliche Fixierung des im Ancien Régime gültigen Thronfolgerechts. Es kann also der Eindruck entstehen, daß die alte Monarchie gewissermaßen erst nach ihrem Sturz ein Thronfolgegesetz erhalten hat, und es kann dies für ein Zeichen historischer Paradoxie oder Ironie genommen werden. Dieser Eindruck kommt freilich nur durch eine falsche Optik zustande: durch die unhistorische Übertragung eines modernen Verfassungsbegriffs auf alteuropäische Verfassungsverhältnisse. Tatsächlich ist gar nicht zweifelhaft, daß das Frankreich des Ancien Régime zwar keine Konstitution, wohl aber eine Verfassung besitzt und daß die Regelung der Thronfolge einen von deren Grundpfeilern bildet.2 Man kann geradezu sagen, daß das Thronfolgeproblem in Frankreich seit den Anfängen der Monarchie ein Verfassungsproblem gewesen ist. Der im westfränkisch-französischen Reich schon frühzeitig einsetzende Verstaatlichungsprozeß führt dazu, daß auch das Königtum schon frühzeitig staatlich wird, eine durch die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben legitimierte Institution, ein Amt statt eines bloßen dynastischen Besitzes.3 Im werdenden dynastischen Fürstenstaat hat der Staat den Vorrang vor der Dynastie oder steht die Dynastie im Dienste des Staates. Infolgedessen ist die Regelung der Thronfolge niemals lediglich hausinterne Übereinkunft, vielmehr immer schon ein Bestandteil des institutionellen Systems der Monarchie und damit immer schon Verfassungsrecht. 4 Erstveröffentlichung in: Johannes Kunisch/Helmut Neuhaus (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates (Historische Forschungen, Bd. 21), Berlin 1982, 173-197. 1 T.III, Art. 4 der französischen Konstitution vom Sept. 1791, zit. nach Henri de la Perrière, Du droit de succession à la couronne de France dans la dynastie capétienne, Paris 1908, 135. 2 Vgl. dazu André Lemaire, Les lois fondamontales de la monarchie française d'après les théoriciens de l'ancien régime, Paris 1907 (Nachdruck Genf 1975), I ff. 3 In diesem Zusammenhang sind zwei Aufsätze von Joachim Ehlers zur mittelalterlichen Nationsbildung in Frankreich wichtig: Karolingische Tradition und frühes Nationalbewußtsein in Frankreich, in: Francia 4, 1976, 213 ff.; Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich (10.-13. Jahrhundert), in: Historische Zeitschrift 231, 1980, 565 ff. 4 Vorformulierung dieser Fragestellung bei Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, (Historische Forschungen 15), Berlin 1979.
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Die Verstaatlichung der französischen Monarchie tritt in ihr letztes und höchstes Stadium beim Beginn des Absolutismus. Es muß dabei bleiben, daß dieser Beginn in der Regierungszeit Heinrichs IV. angesetzt wird. Nach allgemeiner Ansicht stellt selbst die unter Franz I. kulminierende Renaissance-Monarchie noch keine unumschränkte Monarchie dar, sondern eine durchaus gemäßigte Monarchie, in der die ständisch-korporativen Gruppierungen neben der Krone ein hohes Maß von Autonomie behaupten.5 Andererseits bleibt ebenso richtig, daß die Errichtung der absoluten Monarchie seit Heinrich IV. nicht voraussetzungslos geschieht, sondern auf dem Herrschaftsapparat basiert, den die Krone im hohen und späten Mittelalter geschaffen hat. Die gemäßigte Monarchie der Renaissance-Epoche, wie sie sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts darbietet, ist weithin dem Status einer unumschränkten Monarchie angenähert. Franz I. hat die Machtfülle eines absoluten Herrschers, verfügt über ein effektives Instrumentarium zur Durchsetzung seines Willens, kann die bestehenden ständisch-korporativen Gruppierungen, ohne ihre Rechte formell zu bestreiten, faktisch unter die Hoheit der Krone beugen. Jedenfalls handelt es sich bei seiner Herrschaft um ein frühabsolutistisches Regime, auch in dem Sinne, daß es intendierte königliche Politik ist, die eminente Position der Krone systematisch zu konsolidieren und auszubauen. Die Transformierung vom Frühabsolutismus zum Absolutismus hat die Krise der französischen Monarchie im Zeitalter der Religionskriege zur fundamentalen Voraussetzung. Der konfessionelle Gegensatz droht die Einheit Frankreichs im Innern und nach außen zu zerbrechen und damit das schon geleistete Aufbauwerk der Krone zu zerstören. Heinrich IV. kann das Königtum aus dieser schwersten Gefahr heraus zur absoluten Monarchie emporführen, weil es ihm gelingt, den konfessionellen Gegensatz im Zeichen einer über- oder außerkonfessionellen Politik zu schließen. Es ist nicht unnötig, darauf zu insistieren, daß diese Politik die notwendige Bedingung für die Etablierung des französischen Absolutismus bildet, daß in ihr dessen historischer Sinn liegt. Französischer Absolutismus ist Verabsolutierung der Königsmacht durch Überwindung des konfessionellen Prinzips. Diese Definition wird durch den Übertritt Heinrichs IV. zum Katholizismus ebensowenig widerlegt wie durch die spätere Hugenotten Verfolgung Ludwigs XIV.: in beiden Fällen gilt ersichtlich der Primat der Politik, nicht der Konfession, im Gegensatz zum Zeitalter der Religionskämpfe, in dem Politik und Konfession eine untrennbare Einheit ausmachen. Es liegt nahe, die Geltung des Absolutismus-Begriffs überhaupt vom Nachweis dieser Gegenstellung gegen das konfessionelle Prinzip abhängig zu machen.6 5 Dazu jetzt zusammenfassend Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne. Wirtschaft-, Gesellschaft- und politische Institutionengeschichte 1630-1830, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 109 ff. - Vgl. auch das große Werk von J. Russell Major, Representative Government in Early Modern France, New Häven/London 1980. 6 Daß Mager (wie Anm. 5), 111 f., in seiner Skizze zur Entstehung des französischen Absolutismus die Auseinandersetzung um das konfessionelle Problem gar nicht erwähnt, ist kennzeichnend für eine ganz neue Forschungsrichtung, die Absolutismus wesentlich auf
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Der französische Absolutismus übernimmt also den bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts geschaffenen königlichen Herrschaftsapparat, stellt ihn aber in den Kontext einer neuen Politik, entwickelt ihn darin weiter. Dieses allgemeine Verhältnis trifft exemplarisch auch für die französische Thronfolgegesetzgebung zu. Unter den Instrumenten, die der werdende Absolutismus vorfindet, steht an vorderster Stelle eine „loi de succession ä la couronne", ein juristisch fixiertes und zugleich theoretisch fundiertes Grundgesetz zur Regelung der Thronfolge. Aber dieses Grundgesetz muß angesichts der Krise der Monarchie neu gerechtfertigt, sozusagen neu fixiert werden und wird erst dadurch ein Grundgesetz der absoluten Monarchie. Die „loi de succession ä la couronne" existiert seit dem 14. Jahrhundert, bringt freilich lediglich einen längeren historischen Prozeß zum Abschluß und kann daher nur auf diesem Hintergrund angemessen beurteilt werden.7 In der ersten Epoche des westfränkisch-französischen Reiches, unter den Karolingern und den ersten Kapetingern, lassen sich drei mögliche Kriterien für die Legitimität königlicher Herrschaft und damit der Nachfolge im Königtum unterscheiden: das Erbrecht, abgeleitet vom Geblütsrecht der Dynastie; die Wahl, ausgeübt durch die Großen in Vertretung des Volkes; die kirchliche Weihe, bestehend aus Salbung und Krönung, in der Regel vorgenommen durch den Erzbischof von Reims. Das ungeklärte Verhältnis zwischen ihnen reflektiert die unentschiedene Machtlage zwischen Königtum, Adel und Kirche. In demselben Maße, in dem das Königtum seine Position verstärkt, kann sich das Erbrecht gegenüber der Wahl und der Weihe durchsetzen und schließlich zum einzigen Kriterium werden. Zuerst wird die Wahl abgeschafft. Die ersten kapetingischen Könige haben die Gewohnheit, jeweils schon zu ihren Lebzeiten ihre ältesten Söhne zu Nachfolgern wählen zu lassen, suchen also eine Erbfolge zugleich vermittels der Wahl zu installieren. Philipp II. August, selbst noch unter der Ägide seines Vaters Ludwig VII. gewählt, verzichtet seinerseits auf diese Übung; sein Sohn Ludwig VIII. folgt ihm Institutionen reduziert, ohne den jeweiligen konkreten historischen Inhalt zu berücksichtigen. Vgl. aber Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. Die Einheit der Epoche, in: ders., Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 4), Stuttgart 1968, 1 ff., hier 88, wo zutreffend „ein fortschreitender Rationalisierungsprozeß der Herrschermacht" zum hauptsächlichen Wesensmerkmal des Absolutismus erklärt wird. 7 Die folgende Darstellung beruht neben den schon genannten Titeln von de la Perriere (wie Anm. 1) und Lemaire (wie Anm. 2) vor allem auf folgenden Arbeiten: Robert FLoltzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München /Berlin 1910 (Nachdruck Darmstadt 1965), 104 ff., 178 ff. u. 310 ff.; J. M. Potter, The Development and Significance of the Salic Law of the French, in: English Historical Review 52, 1937, 235 ff.; Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates, 2 Bde., 2. Aufl., Darmstadt 1960; Ralph E. Giesey, The Juristic Basis of Dynastie Right to the French Throne, in: Transactions of the American Philosophical Society, N.S. 51, T. 5, Philadelphia 1961.
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ohne Wahl, allein kraft des Erbrechts. Dieser Sieg des Erbrechts über die Wahl erweist sich fortan als unwiderruflich. 8 Zwar bewahrt das Zeremoniell der Königsweihe gewisse Relikte der ursprünglichen Wahlhandlung auf. Der Erzbischof von Reims holt nach der Eidesleistung des Königs und vor dessen Salbung und Krönung die Zustimmung des anwesenden Volkes ein; aber dabei handelt es sich künftig nicht mehr um einen eigentlichen Wahlakt, sondern um eine rituelle Akklamation, die einer Verpflichtung zum Gehorsam gegen den erbberechtigten König gleichkommt.9 Die seit der Zeit Ludwigs des Heiligen nachweisbare Beteiligung der Pairs an der Krönung und Thronsetzung bedeutet keine Erneuerung des Wahlgedankens, sondern ist Ehrendienst der Großen des Reiches.10 Es darf lediglich die Rechtsverbindlichkeit der Annahme unterstellt werden, daß im Falle der Ermangelung eines erbberechtigten Thronfolgers die Wahl eines neuen, dann wiederum erblichen Königs stattfinden müsse. Seit dem 15. Jahrhundert ist unumstritten, daß in diesem Falle die Generalstände das Wahlrecht ausüben11; jedenfalls können sich die ligistischen Generalstände im Kampf gegen Heinrich IV. dieses Rechtstitels bedienen. Der aus dem geltenden Thronfolgerecht ausgeschiedene Wahlgedanke lebt andererseits vielfach in der politischen Theorie fort, verbindet sich hier mit naturrechtlichen Vorstellungen vom Gesellschaftsvertrag und von der Völkssouveränität. Die Einsetzung des Königs durch das Volk oder die Installierung einer Erbfolgeordnung durch das Volk sind Formeln oder Figuren, die wiederholt in der Literatur auftauchen. Dabei geht es weniger um eine Infragestellung als vielmehr um eine bestimmte Deutung der Verfassungswirklichkeit. Das kann in einem der Krone günstigen oder in einem ihr entgegengesetzten Sinne geschehen. Vinzenz von Beauvais hebt auf „populi consensus vel electio" als Attribut königlicher Würde ab. 12 Jean de Terre-Rouge erklärt die bestehende französische Thronfolgeordnung zu einer Schöpfung des „corpus civile seu mysticum regni", um ihre Unabänderlichkeit zu bestätigen.13 Derartige Argumente lassen sich aber auch gegen das Königtum wenden und haben deshalb in allen oppositionellen Richtungen bis zum Schluß des Ancien Régime immer wieder eine Rolle gespielt, von Hotman über Boulainvilliers bis zu Montesquieu und Diderot. 14
8
Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 110 f. Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 180 f. Die neueste Behandlung dieses Themas bei Anton Haueter, Die Krönungen der französischen Könige im Zeitalter des Absolutismus und in der Restauration, Zürich 1975, 148 ff. 10 Dazu Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 169 ff., u. Haueter, Krönungen (wie Anm. 9), 209 ff. 11 Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 311. 12 De morali principis institutione, c. 4, zit. bei Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 174. 9
13
Contra rebelles suorum regum, Ausgabe Arras 1586, Tr. I, Art. I, concl. 24, zit. bei Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 13. 4 Muhlack
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Dem Abbau der Wahl folgt die Mediatisierung der Weihe. Noch Philipp II. August und seine beiden nächsten Nachfolger datieren ihre Regierungsjahre vom Tage ihrer Weihe an, werten also die Weihe neben der Erbfolge als konstitutiven Akt der Thronfolge. Philipp III. weicht erstmals von dieser Verfahrensweise ab. 15 Er erlebt 1270 den Tod seines Vaters auf dem Kreuzzug in Tunis, kann in absehbarer Zeit nicht mit dem Vollzug der Weihe rechnen und muß gleichwohl sofort die Regierung übernehmen. Er läßt sich daher in einer Versammlung des Heeres zum König erklären und datiert von diesem Tage an seine Urkunden. Die einberufene Heeresversammlung vollzieht keinen Wahlakt, soll aber die kraft des Erbrechts vollzogene sofortige Erhebung zum Königtum bestätigen. Durch dieses Verfahren erhält die eingetretene Änderung des Thronfolgemodus eine öffentliche Sanktion, die einer prinzipiellen Regelung für die Zukunft gleichkommt. Seitdem wird es üblich, daß die Regierungszeit eines Königs mit dem Tod des Vorgängers beginnt. Daraus entwickelt sich der im 16. Jahrhundert bereits als topisch angesehene Grundsatz: „Le roi ne meurt jamais 1 6 Ihm entspricht die zuerst bei Franz I. nachgewiesene Sitte, daß der Herold am Sarg des toten Königs verkündet: „Le roi est mort, vive le roi!" 1 7 Die Weihe hört damit auf, ein konstitutiver Akt der Thronfolge zu sein; das Erbrecht gilt fortan absolut. Daß ein äußerer, praktischer Grund hinreicht, um diese Zäsur herbeizuführen, zeigt, daß die Entwicklung faktisch längst dahin tendiert ist. Die Weihe behält trotzdem im Zuge der Thronfolge eine überragende Bedeutung. 18 Sie ist nicht nur feierliche Form der Erhebung zum Königtum, sondern verleiht dem König vor allem eine sakrale Legitimation. Der König wird durch die Weihe zum Abbild Gottes, erhält durch die Salbung mit dem Himmelsöl die Fähigkeit, die Skrofeln zu heilen, gewinnt damit eine priesterliche Stellung. Die Weihe steht für das Gottesgnadentum des Königs, bringt die göttliche Einsetzung des Königtums zur Anschauung. Jeder Thronfolger braucht zu seiner Anerkennung diese sakrale Legitimation. Andererseits wird dadurch die absolute Geltung des Erbrechts keineswegs aufgehoben oder beeinträchtigt. Vielmehr herrscht die Auffassung, daß der erbberechtigte Thronfolger die Disposition zum Gottesgnadentum von vornherein in sich trägt, daß die Erbberechtigung wesentlich durch diese Disposition bestimmt ist. Die Weihe stellt also eine Realisierung oder Aktualisierung 14 Statt umständlicher Einzelbelege kann hier zusammenfassend verwiesen werden auf die klassische Darstellung von Martin Göhring, Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich, (Vom Mittelalter zu 1789), 2. Aufl. Tübingen 1947. 15 Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 226. 16 Jean Bodin, Les six livres de la république, Paris 1583, (Nachdruck Aalen 1977), 986: „C'est pourquoy on dit en ce royaume que le Roy ne meurt iamais: qui est un proverbe ancien." 17 Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 260, u. Bd. 2, 125. Zur Weihe ist neben den Werken von Schramm (wie Anm. 7) und Haueter (wie Anm. 9) zusätzlich heranzuziehen Louis Rougier, Le caractère sacré de la royauté en France, in: La regalità sacra, Contributi al tema deH'VIII congresso internazionale di storia delle religioni (Roma, Aprile 1955), Leiden 1959, 609 ff.
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dessen dar, was substantiell im Erbrecht enthalten ist, schafft also kein neues Recht. Demgemäß impliziert die Mediatisierung der Weihe gegenüber dem Erbrecht zunächst durchaus keine Relativierung des Gottesgnadentums und damit keine Säkularisierung des Königtums. Relativiert wird zunächst lediglich die Stellung der Kirche. Es findet eine Emanzipation des Königtums von der Kirche, nicht von Gott statt. Allerdings ist soviel richtig, daß diese Konstellation unter veränderten politisch-ideologischen Bedingungen zum Ausgangspunkt für eine Differenzierung des weltlich-politischen und des geistlichen Bereichs werden kann. Die Mediatisierung der Weihe durch das Erbrecht schließt allerdings keineswegs aus, daß die Weihe im populären Bewußtsein noch lange den ersten Platz einnimmt. 19 Das Ansehen des Königtums in der Volksmeinung wird primär durch dessen sakralen Charakter begründet, wie er im Akt der Weihe unmittelbar in Erscheinung tritt. Die Weihe gilt daher weithin als primärer Legitimitätsgrund der Thronfolge. Die Geschichtsmächtigkeit solcher Vorstellungen ist vom Beispiel der Jeanne d'Arc her hinlänglich bekannt. Karl VII. verdankt den Durchbruch zur tatsächlichen Anerkennung seines Königtums der durch die Pucelle propagierten „religion royale", nach der die Rechtmäßigkeit des Königs durch die Weihe in Reims nachgewiesen wird. 20 Die Krone hat infolgedessen das größte Interesse, diese auf die Weihe zentrierte Religiosität wachzuhalten und damit ihre populäre Basis zu stabilisieren. Es ist gleichwohl wichtig zu betonen, daß die Rechtslage dadurch nicht berührt wird, daß die alleinige Geltung des Erbrechts seit 1270 unangefochten bleibt. Gleichlaufend mit der Verabsolutierung des Erbrechts vollzieht sich dessen Präzisierung. Das ursprüngliche fränkische Erbrecht enthält, entsprechend der bestehenden patrimonialen Staatsauffassung, das Prinzip der Teilbarkeit. Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts besitzt das westfränkisch-französische Reich durch Abgrenzung nach außen und Zusammenschluß im Innern ein politisches Einheits- oder Identitätsbewußtsein, das zur Vorstellung einer Unteilbarkeit des Reiches und damit zur Aufhebung des Prinzips der Erbteilung führt. Diese Entwicklung, zunächst vor allem vom Adel und von der Kirche getragen, wird wesentlich befördert durch die im 11. Jahrhundert einsetzenden zentralisierenden Bestrebungen der Krone. Die Erbfolge wird von nun an strikt nach dem Grundsatz der Primogenitur abgewickelt. Primogenitur heißt zunächst ganz konkret, daß die Herrschaft auf den ältesten Sohn übergeht; da einstweilen immer ein erbberechtigter Sohn da ist, ist vorderhand keine weitere Spezifizierung vonnöten. Als das Erbrecht im 12. und 13. Jahrhundert zum einzigen Kriterium der Thronfolge aufsteigt, ist dieser Grundsatz fest im Gewohnheitsrecht verankert. 21 Der Teilungsgedanke lebt lediglich 19
Zum folgenden Schramm, passim (wie Anm. 7), u. Haueter, Krönungen (wie Anm. 9), 286 ff. 20 Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7) zitiert in Bd. 1, 249, die Rede der Pucelle an Karl VII. nach dessen Krönung: „Gentil Roy, or est executé le plaisir de Dieu qui voulait que vinssiez à Rheims recevoir vostre digne Sacre, en monstrant que vous estes vray Roy, et celuy auquel le Royaume doibt appartenir." 4*
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rudimentär, jedenfalls ohne die Oberhoheit des Königs zu tangieren, im System der Apanagierung fort. Dabei wird die Tendenz vorwaltend, die staatlichen Befugnisse der Apanagenfürsten zu reduzieren. 22 Die Sonderentwicklung des Herzogtums Burgund seit 1364, die in der Vision eines erneuerten Lotharingien und damit einer neuen selbständigen europäischen Großmacht gipfelt, ist eher eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Eine weitere Modifizierung gegenüber dem ursprünglichen fränkischen Erbrecht liegt darin, daß unter dem Einfluß römisch-rechtlicher und kirchlicher Anschauungen uneheliche Söhne von der Erbfolge ausgeschlossen werden. 23 Eine letzte und entscheidende Präzisierung wird durch die politische Notwendigkeit erzwungen: der Ausschluß der Frauen vom Thron und, damit einhergehend, die Ausdehnung des Thronrechts auf männliche Seitenlinien.24 Sie verläuft in zwei kurz aufeinander folgenden Etappen, 1316/17 und 1328. Als Ludwig X. 1316 stirbt, hinterläßt er keinen Sohn, aber eine Tochter. Der Fall hat insofern kein Präzedens, als bis dahin die französische Erbfolge immer eine unproblematische Sohnesfolge gewesen ist, und bedarf daher der Klärung. Es gibt aber insofern Präzedenzfälle, als das Prinzip der Erbfolge in weiblicher Linie im außerfranzösischen Thronfolgerecht wie im französischen Feudalrecht längst zur Anerkennung gekommen ist. 25 Die Etablierung des angevinischen Königtums in England unter Heinrich II. 1154 dokumentiert zum ersten Mal die Möglichkeit, daß ein Königreich auch in weiblicher Deszendenz vergehen werden kann. Die Entstehung des angevinischen Reiches ist zugleich ein prominentes Beispiel für die schon frühzeitig übliche weibliche Erbfolge in den französischen Lehnsfürstentümern. Bis 1316 hat auch und gerade die Krone von dieser Übung profitiert; denn viele französische Lehnsfürstentümer sind vermittels von Erbtöchtern an die Krondomäne angeschlossen worden. Dazu kommt, daß, parallel zu diesen Entwicklungen des Erbrechts, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts auf einem ganz anderen Feld Bestrebungen beginnen, das Prinzip der weiblichen Erbfolge auch auf die Krone von Frankreich anzuwenden.26 Die verbreitete literarische Kritik an der vermeintlichen Usurpation Hugo Capets 987, die die Legitimität der kapetingischen Dynastie überhaupt in Frage stellt, löst unter den literarischen Helfern des Hofes eine gegenläufige Argumentation aus, die darauf abzielt, den Kapetingern eine weibliche Deszendenz von den Karolingern zu attestieren und damit alle Zweifel an ihrer 21 Dazu Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 111 ff., u. Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 49 ff., 94 ff. u. 110. 22 Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 193 ff. 23 Ebd., 104. 24
Ebd., 181 ff.; de la Perriere, Droit de succession (wie Anm. 1), 40 ff.; Potter, Development (wie Anm. 7), 235 ff.; Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 230 ff.; Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 11 f. 25 Vgl. dazu Karl Ferdinand Werner, Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des „Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli", in: Welt als Geschichte 12, 1952, 203 ff., hier 218 f., und Ehlers, Elemente (wie Anm. 3), 578. 26 Zum Folgenden Werner, Legitimität (wie Anm. 25).
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Legitimität zu entkräften. Philipp II. August wird wegen seiner Mutter Adela von Champagne als Nachkomme Karls des Großen gefeiert. Die Thronbesteigung Ludwigs VIII., der durch seine Mutter Elisabeth von Hennegau von den Karolingern abstammt, avanciert sogar zum „reditus regni Francorum ad stirpem Karoli". Die Legitimität der Kapetinger beruht danach also auf dem Prinzip der weiblichen Erbfolge. Diese literarischen Deduktionen haben keine juristischen Konsequenzen, tangieren also nicht die offizielle Regelung der Thronfolge entsprechend dem Erbrecht des ältesten Sohnes. Sie haben aber erhebliche politische Bedeutung, werden daher auch von der Krone bereitwillig aufgegriffen und planmäßig gefördert. Sie lassen überdies eine spätere juristische Umsetzung durchaus als möglich erscheinen. Jedenfalls spricht 1316 alles für eine Lösung im Sinne der weiblichen Erbfolge. 27 Die Dinge nehmen jedoch einen anderen Verlauf. Philipp von Poitou, der nächste Bruder des verstorbenen Königs, nutzt die entstandene Situation, erreicht 1317, daß er selbst in Reims gekrönt wird, und läßt sein Vorgehen im nachhinein durch eine Notablenversammlung, die aus hohen Adeligen, Prälaten und Abgesandten der Stadt Paris zusammengesetzt ist, sowie durch Magister der Universität Paris billigen. Die einschlägige Stelle aus der Fortsetzung der Chronik des Guillaume de Nangis lautet: „omnes coronationem regis Philippi pariter approbabant, nec non ipsi tamquam regi pariter obedire, et post eum, filio ejus Ludovico primogénito tamquam successori et heredi legitimo, juramento firmarunt, magistris universitatis civitatis ipsius hoc ipsum unanimiter approbantibus, quamvis non adhibito juramento. Tune etiam declaratum fuit quod ad coronam Franciae mulier non succedit". 2 8 Die Notablen und Magister statuieren also zweierlei: sie erklären einmal die Thronfolge Philipps und seines erstgeborenen Sohnes für rechtens; sie verkünden zum andern den Grundsatz, daß eine Frau nicht zur Krone von Frankreich gelangen könne. Die Verkündung dieses Grundsatzes soll das Königtum Philipps rechtfertigen und zugleich eine allgemeine Norm aufstellen. Die Notablen und Magister geben keine weitere Begründung für den von ihnen verkündeten Grundsatz. Dadurch soll der Eindruck entstehen, daß sie im Einklang mit der ganzen bisherigen Tradition stünden, daß der Ausschluß der Frauen vom Thron sich logisch aus den Prinzipien des herkömmlichen französischen Thronfolgerechts ergebe. Der neue Grundsatz wird als Interpretation des Gewohnheitsrechts verstanden. Dahinter steht das Bedürfnis nach legalistischer Absicherung. Die Beschlüsse der Notablen und Magister bedeuten, daß die Thronbesteigung Philipps staatsrechtlich anerkannt wird und daß das dabei befolgte Verfahren die Qualität eines Staatsgesetzes erhält. 1328 tritt nach dem Tod Karls IV. ein weiterer klärungsbedürftiger Erbfall ein, der zu einer endgültigen gesetzlichen Regelung führt. Zwei Kandidaten melden 27
Ähnlich Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 185 ff. Dagegen betont Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 11, die Offenheit der Rechtslage; ihm ist insofern zuzustimmen, als jedenfalls eine eindeutige juristische Festlegung fehlt. 28 Zit. bei Potter, Development (wie Anm. 7), 238.
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Ansprüche an: Philipp von Valois, durch den Vater ein Enkel Philipps III., und König Eduard III. von England, durch die Mutter ein Enkel Philipps IV. Die Lage ist dadurch rechtlich unsicher, daß der 1317 statuierte Ausschluß der Frauen vom Thron sich nicht ausdrücklich auf die männlichen Nachkommen von Frauen bezieht. Jedenfalls hält Eduard III. dafür, daß sein Thronfolgeanspruch nicht gegen den 1317 verkündeten Grundsatz verstoße. Die Krone fällt tatsächlich an Philipp von Valois. Eine neue Notablenversammlung tritt zusammen und faßt neue Beschlüsse, diesmal vor der Erhebung des neuen Königs, wodurch die staatsrechtliche Fundierung des Thronwechsels noch verstärkt wird. Der Fortsetzer des Guillaume de Nangis schreibt: „et continuo vero Uli de regno Franciae, non aequanimiter ferentes subdi regimini Anglicorum; quod si dictus filius Izabellae haberet aliquod jus in regno, hoc sibi naturaliter accederet ratione matris; ubi ergo mater nullum jus haberet, per consequens nec filius: aliter esset principalius principali. Et hac sententia saniori accepta, et a baronibus approbata, traditum est regimen regni Philippi comiti Valesii". 29 Die Notablen argumentieren also gleichermaßen politisch und juristisch. Sie negieren zunächst die Möglichkeit einer Unterordnung Frankreichs unter das Königreich England. Diese Einstellung reflektiert den immer noch herrschenden englisch-französischen Gegensatz und verweist damit in der Tat auf den entscheidenden Grund für die Ablehnung der englischen Thronfolge. Hier schlägt somit die außenpolitische Räson des werdenden französischen Nationalstaats auf die Regelung der Thronfolge durch; diese gewinnt eine nationale Dimension. Die Ablehnung Eduards III. läßt für die Zukunft zugleich das Prinzip entstehen, daß kein Ausländer den Thron von Frankreich besteigen dürfe. 30 Die Notablen postulieren weiterhin, daß der Ausschluß der Frauen vom Thron den ihrer männlichen Nachkommen mit sich bringe, gelangen also zu einer restriktiven Auslegung des 1317 verkündeten Grundsatzes. Es kommt ihnen deutlich auch jetzt darauf an, die Übereinstimmung ihrer Beschlußfassung mit der ganzen bisherigen erbrechtlichen Tradition zu betonen und damit jeden Anschein der Ungesetzlichkeit zu vermeiden. Die Akte von 1317 und 1328 bilden die rechtliche Grundlage für die künftige Gestaltung der Thronfolge in Frankreich. Seitdem gilt unverrückbar die Regel, daß jeweils der nächste Agnat zur Thronfolge berechtigt sei, daß ein auch noch so weit entfernter Sproß des Mannesstammes allen Nachkommen von Tochterseite vorangehe, daß die Krone also vom Ältesten auf den Ältesten und vom Mann zum Mann übergehe. Die Geltung dieser Regel muß freilich im nunmehr beginnenden Hundertjährigen Krieg verteidigt werden gegen Gefährdungen durch einen äußeren Feind, der zeitweise mit einer starken innerfranzösischen Partei verbündet ist. 31 29 Zit. ebd. 30
Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 293. Vgl. zum Folgenden de la Perrière, Droit de succession (wie Anm. 1), 63 ff.; Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 246 ff.; Raoul de Warren, La loi salique a-t-elle été la plus grande mystification de l'histoire de France?, in: La science historique, N.S. 12, 1969/70, 3 ff. u. 69 ff., hier 70 ff. 31
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Den Moment der äußersten Gefährdung bezeichnet der Vertrag von Troyes von 1420, in dem Karl VI. auf englisch-burgundischen Druck hin den Dauphin Karl enterbt und König Heinrich V. von England zu seinem wahren Sohn und Nachfolger bestimmt. Immerhin respektiert selbst dieser nur als flagranter Rechtsbruch zu qualifizierende Vertrag den Schein der bestehenden Thronfolgeordnung, indem er die Fiktion der Illegitimität des Dauphin unterstellt und den englischen Usurpator zum Sohn des Königs von Frankreich erhebt. Die nachfolgenden Ereignisse gehen über diese Konstellation hinweg. Am Ende des Hundertjährigen Krieges hat die 1317 und 1328 festgelegte Thronfolgeordnung sich gegen alle externen und internen Bedrohungen behauptet und damit gewissermaßen ihre historische Bewährungsprobe bestanden. Es ist wesentlich, daß die Akte von 1317 und 1328 nicht einseitige Willenskundgebungen des jeweiligen Thronfolgers darstellen, sondern durch öffentliche Beschlüsse sanktioniert sind. 32 Die versammelten Notablen und Magister üben keine legislative Kompetenz aus, aber sie konstatieren die Rechtmäßigkeit der jeweils getroffenen Regelung und machen dieselbe dadurch rechtsverbindlich. Auch in der Folgezeit bleibt die Thronfolgeordnung dergestalt in der Obhut öffentlicher Institutionen; sie wird auf diese Weise ihrerseits institutionalisiert und damit möglicher Willkür prinzipiell entzogen. An die Stelle jener ad hoc einberufenen Versammlungen treten dabei verfassungsrechtlich fest etablierte Institutionen: die Universität von Paris, die Generalstände, das Parlament von Paris. Unter ihnen beginnt im Laufe der Zeit das Parlament von Paris hervorzuragen, das immer mehr die Funktion eines Verfassungsgerichts übernimmt. Das Parlament beansprucht vor allem die Kontrolle über die Einhaltung des geltenden Erbrechts bei einem Thronwechsel. Aus diesem Anspruch entsteht die Gewohnheit, daß die Erklärung der Großjährigkeit des Thronfolgers jeweils im Parlament stattfindet. 33 Es ist bemerkenswert, daß es sogar die Initiatoren des Vertrags von Troyes für nötig befunden haben, die Zustimmung aller kompetenten Institutionen, der Universität von Paris, der Generalstände und des Parlaments von Paris zu erzwingen, also die äußere Form des überkommenen institutionellen Systems der Thronfolge zu wahren. 34 Einen erheblichen Beitrag zur Verankerung der Akte von 1317 und 1328 im allgemeinen Rechtsbewußtsein leistet die juristisch-legistische Literatur. Die Juristen erheben die neufixierte Thronfolgeordnung in den Rang eines Grundgesetzes, d. h. eines die Monarchie konstituierenden Gesetzes. Es stimmt, daß der Begriff der „loi fondamentale" in der französischen juristischen Literatur nicht vor 1576 erscheint und offensichtlich die Erschütterung der Verfassungsordnung Frankreichs im Zeitalter der Religionskriege voraussetzt.35 Andererseits steht außer Frage, daß die 32
Dazu Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 11. Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 347 f. 34 de Warren, Loi salique (wie Anm. 31), 70 f. 35 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a. M. 1970, 349. 33
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Diskussion über die Thronfolgeordnung seit den Akten von 1317 und 1328 zunehmend auf eine analoge Begriffsbildung und jedenfalls auf ein übereinstimmendes substantielles Verständnis hinausläuft. Der Verfasser des „Songe du Vergier" aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts spricht im Zusammenhang mit der französischen Thronfolgeordnung von einer „ordonnance on institución première". 36 Jean de Montreuil gebraucht 1415/16 die Wendung „constitution et ordonnance" 37 Jean de Terre-Rouge 1418/19 die Ausdrucksweise „ea quae ad statum publicum regni sunt ordinata". 38 Ein unbekannter Autor von 1464 nennt das französische Thronfolgegesetz „première loy des françois". 39 Im 16. Jahrhundert heißt es bei Charles du Moulin ganz entsprechend „très ancienne, perpétuelle et inviolable loy de la couronne de France". 40 Diese Beispiele dürften hinreichen, um die Einführung des Grundgesetzbegriffs zur Kennzeichnung der juristischen Literatur über die Thronfolge nach 1317/28 zu rechtfertigen. Die juristische Begriffsbildung reflektiert die konkrete historische Entwicklung und wirkt wiederum auf sie zurück. Die Juristen sind weiterhin bestrebt, die 1317 und 1328 fixierte Thronfolgeordnung zugleich historisch und logisch-philosophisch zu legitimieren. Die historische Rechtfertigung geht dahin, diese Ordnung möglichst aus den ältesten Zeiten der Monarchie herzuleiten. 1358, in einem Text von Richard Lescot, begegnet ein erster Verweis auf das salische Gesetz, dazu bestimmt, die Position des Königs von Frankreich in dessen Auseinandersetzung mit dem König von England zu stärken: „Legem vero salicam, quam ab omnibus doctoribus legum quoscumque novi petii utrum de ea cognitionem haberent et tarnen michi nullum penitus respondentes, libentissime vobis demonstrarem." 41 Daraus erhellt zunächst, daß es bis dahin keine Berufung auf das salische Gesetz gegeben hat, daß es sich dabei vielmehr um eine sekundäre oder subsidiäre Argumentationsfigur handelt. Es dauert bis zum 15. Jahrhundert, ehe sich diese Berufung endgültig durchsetzt und das salische Gesetz zum Inbegriff der französischen Thronfolgeordnung wird. Zwei Autoren haben daran ein besonderes Verdienst: Jean de Montreuil und der Anonymus von 1464. Sie tragen zugleich bestimmte Versionen über den Ursprung des salischen Gesetzes vor, die fortan die gelehrte Erörterung bestimmen. Jean de Montreuil vertritt die Auffassung, daß das salische Gesetz von den Römern stamme, daß es in Frankreich bereits in vorchristlicher Zeit gegolten habe und später von Karl dem 36
Ausgabe Lyon 1491, fol. 24v, zit. bei Potter, Development (wie Anm. 7), 243. Traité contre les Anglois, Ausgabe Paris 1503, fol. 257v, col. 1, zit. ebd., 247. 3 8 Wie Anm. 13, Tr. I, Art. I, concl. 24, zit. bei Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 16. 37
39
Der Titel dieser Schrift lautet: „La loy salique, premiere loy des françois"; s. Potter, Development (wie Anm. 7), 249 u. Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 18. 40 De l'origine, progrès, et excellence du royaume et monarchie des François et couronne de France, § 79, Bd. 3 der Gesamtausgabe Paris 1658, col. 1061, zit. bei Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 77. 41 Genealogia aliquorum regum Francie, Ausgabe Paris 1896, 178, zit. bei Potter, Development (wie Anm. 7), 247; vgl. auch Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 18 f.
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Großen bestätigt worden sei. 42 Demgegenüber behauptet der Anonymus von 1464 die fränkische Herkunft des salischen Gesetzes: das Gesetz ist danach von dem fränkischen König Pharamund am Ende des 4. nachchristlichen Jahrhunderts eingerichtet und von dessen Nachfolgern erweitert worden; seit der Zeit Karls des Großen soll es unverändert geblieben sein.43 Es herrscht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem salischen Gesetz, das diese Juristen meinen, und dem historischen salischen Gesetz. Die Juristen beziehen sich, sofern sie das wirkliche Gesetz überhaupt kennen, durchweg auf einen Passus: „De terra vero Salica nulla in muliere hereditatis transeat portio, sed ad virile sexus tota terra propriaetatis sue possideant."44 Dies ist eine privatrechtliche Bestimmung, die den Ausschluß der Frauen von der Erbschaft an Immobilien fordert. 45 Sie läßt sich allerdings im Zeichen einer patrimonialen Staatsauffassung auf die Regelung der Thronfolge anwenden. Dagegen ist eine solche Applikation im Frankreich des 14. und 15. Jahrhunderts ein absoluter Anachronismus, wenn nicht eine objektive Verfälschung. Sie hat daher schon frühzeitig Kritik herausgefordert, etwa bei Jean du Tillet, der die französische Thronfolgeordnung ausdrücklich nicht auf das salische Gesetz, sondern ganz allgemein auf altes Herkommen und Gesetz zurückführt. 46 Das Mißverständnis hat freilich Gründe. Offensichtlich kommt es bei der Deduktion der französischen Thronfolgeordnung aus dem salischen Gesetz nicht auf die Entlehnung als solche, sondern darauf an, das Alter dieser Ordnung herauszustellen, dazu, wie im Falle des Anonymus von 1464, ihren nationalfranzösischen Ursprung nachzuweisen.47 Auch die Gegner der Deduktion aus dem salischen Gesetz insistieren auf solchen Annahmen. Durchgängig herrscht die Überzeugung vor, daß das Thronfolgegesetz das älteste und darum ein ewiges und unabänderliches Gesetz sei. Ein frühes und fortan kanonisches Beispiel einer logisch-philosophischen Rechtfertigung bietet 1418/19 Jean de Terre-Rouge. 48 Ausgangspunkt ist der Versuch, den Begriff der Erbfolge neu zu fassen. Der Autor stellt die These auf, daß die Thronfolge in Frankreich gar keine eigentliche Erbfolge sei, sondern allein durch die Macht der Gewohnheit, durch das Gewohnheitsrecht bestimmt werde: „ex sola 42 43 44
Potter, Development (wie Anm. 7), 247. Ebd., 250, u. Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 19.
Lex Salica, § 4, zit. bei Quaritsch, Staat und Souveränität (wie Anm. 35), 350. Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 185. 46 Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 84. Auf die präzise Kritik Hotmans am staatsrechtlichen Mißverständnis der Lex Salica verweist Quaritsch, Staat und Souveränität (wie Anm. 35), 351. 47 Dazu Hans-Achim Roll, Zur Geschichte der Lex Salica-Forschung, (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N.F. 17), Aalen 1972, 6: „Der Vorzug, im eigenen Land alte Gesetze zu haben, wurde mit Nachdruck beansprucht". 48 Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 54 ff.; de la Perrière, Droit de succession (wie Anm. 1), 97 ff.; Potter, Development (wie Anm. 7), 244 ff.; Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 12 ff. 45
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vi consuetudinis".49 Er konstatiert demgemäß, daß die Könige von Frankreich keine testamentarische Verfügungsgewalt über das Reich hätten, sondern die Thronfolge allein entsprechend der Gewohnheit vollzogen werde: „quod reges Franciae numquam consueverunt de regno testari, sed solum ex vi consuetudinis defertur successio".50 Die Thronfolge erscheint ihm daher lediglich als eine quasierbliche. Er führt diese gewohnheitsrechtliche Ordnung gleichermaßen auf göttliches und menschliches Recht zurück. Er erklärt sie weiterhin aus einem ursprünglichen legislatorischen Akt des in den drei Ständen versammelten Volkes. Seine wichtigste Folgerung lautet, daß der König kein Gesetz erlassen dürfe, durch das die Thronfolge auf eine andere Weise geregelt werde: „regi non licet immutare ea quae ad statum publicum regni sunt ordinata". 51 Freilich soll auch das Volk das einmal von ihm beschlossene Gesetz nicht umstoßen oder abändern dürfen. Der Autor hält vielmehr dafür, daß die bestehende Regelung der Thronfolge überhaupt jeder Diskussion entzogen wird. Diese ganze Argumentation involviert eine prinzipielle Scheidung zwischen der öffentlich-rechtlichen und der privatrechtlichen Sphäre: „Dominium quod rex habet in regno est alterius speciei a dominio rerum quae patrimonialiter succedentur." 52 Das französische Thronfolgegesetz steht für einen autonom gewordenen Staat, dem sich auch der Monarch unterzuordnen hat. Der Traktat von Jean de Terre-Rouge hat zunächst einmal einen unmittelbaren praktischen Zweck: er soll die Rechte des Dauphins Karl gegenüber Karl VI. und Heinrich V. von England wahrnehmen, die sich damals gerade anschicken, die herrschende Thronfolgeordnung umzustoßen. Er hat andererseits eine über diesen Anlaß hinausgehende theoretische Bedeutung, indem er erstmals den Verstaatlichungsprozeß der französischen Monarchie, wie er durch die Entwicklung des französischen Thronfolgerechts manifest wird, adäquat auf den Begriff bringt. Es muß hinzugefügt werden, daß auch die Probleme der Minderjährigkeit und der Regentschaft bereits in vorabsolutistischer Zeit geklärt sind. 53 Richtlinie zur Festlegung des Zeitpunktes, an dem die Volljährigkeit eines Königs eintritt, ist zunächst die privatrechtliche Bestimmung des fränkischen Volksrechts, die die Mündigkeit einer Person mit dem 15. Lebensjahr beginnen läßt. Der Zeitpunkt schwankt in den folgenden Jahrhunderten zwischen dem 15. und dem 12. Lebensjahr, bis Karl V. 1374 durch ein Edikt endgültig das 14. Lebensjahr festsetzt. Was die Regentschaft im Falle der Minderjährigkeit betrifft, so kommen zwei Grund49
Wie Anm. 13, Tr. I, Art. I, concl. 8, zit. bei Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 13. Wie Anm. 13, Tr. I, Art. I, concl. 9, zit. bei de la Perrière , Droit de succession (wie Anm. 1), 98. De la Perrière bezieht sich auf eine Ausgabe von 1585. 51 Wie Anm. 13, Tr. I, Art. I, concl. 24, zit. bei Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 16. 52 Wie Anm. 13, Tr. I, Art. I, concl. 13, zit. bei de la Perrière, Droit de succession (wie Anm. 1), 100. 53 Zum Folgenden Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 122 ff., 187 ff. u. 313 ff., sowie Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 298 ff. 50
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sätze in Gebrauch. Der erste Grundsatz ist, daß der vorhergehende König das unbeschränkte Recht hat, einen Regenten seiner Wahl zu nominieren. Der zweite Grundsatz ist, daß für den Fall, daß der König keinen Regenten benannt hat, der präsumtive Erbe die Regentschaft übernimmt. Die Regelung der Regentschaft wird also der Regelung der Thronfolge angenähert. Als der Absolutismus sich in Frankreich etabliert, benötigt er kein neues Thronfolgegesetz, kann er vielmehr auf dieser überkommenen Ordnung aufbauen. Verabsolutierung des Erbrechts gegenüber Wahl und Weihe, Primogenitur, die zweifelsfreie Klärung aller möglichen Erbfälle, die staatsrechtliche und institutionelle Sicherung, die historisch-philosophische Legitimierung: das alles sind Positionen, die schon auf den Absolutismus hindeuten, einen notwendigen Rahmen für die Entstehung der absoluten Monarchie abgeben und daher bis zum Ende des Ancien Régime gültig bleiben. Das seit dem 14. Jahrhundert existierende Grundgesetz über die Thronfolge wird zur vornehmsten „loi fondamentale" der absoluten Monarchie. Ein erster gewichtiger Kronzeuge für diesen Zusammenhang ist Jean Bodin. Gegenwärtig geht eine bestimmte Tendenz dahin, Bodin als eher konservativen Theoretiker der gemäßigten Monarchie aufzufassen: er soll den Konsens zwischen Herrscher und Untertanen zur gewöhnlichen Verfassung der Monarchie erklärt und dem Herrscher lediglich in Krisenzeiten das Recht absoluter Entscheidungskompetenz zugebilligt haben.54 Trotzdem besteht kein Anlaß, dieser Meinung beizupflichten. Vielmehr gibt sich Bodin durch seine Souveränitätslehre immer noch untrüglich als Programmatiker des werdenden französischen Absolutismus zu erkennen; er schaut vorwärts, nicht zurück. Worum es hier allein geht, ist, daß Bodin die hergebrachte französische Thronfolgeordnung ohne Schwierigkeiten in sein System einer absoluten Monarchie einbauen kann. 55 Er rekapituliert im Verlauf der „Six livres de la république" alle wesentlichen Punkte des französischen Thronfolgerechts und interpretiert sie im Sinne seiner absolutistischen Doktrin. Bodin führt zunächst die Abschaffung der Wahl als Beweis für die Unwählbarkeit des souveränen Fürsten an. Er bekämpft daher „erreur de ceux qui pensent que la Royaume de France soit tombé en élection" und setzt dagegen die Auffassung, „que les trois lignes des Rois de France ont usé du droit successif, daß also das Königtum in Frankreich von den Merowingern über die Karolinger bis zu den 54 Vgl. einzelne Beiträge im Sammelband: Horst Denier (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München (Münchener Studien zur Politik, Bd. 18), München 1973, darunter Ernst Hinrichs, Das Fürstenbild Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie, 281 ff.; zuletzt Mager, Frankreich (wie Anm. 5), 109. Demgegenüber die beiden grundlegenden Bücher von Julian H. Franklin, Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in the Methodology of Law and History, 2. Aufl. New York/ London 1966; Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory, Cambridge 1973. 55 Vgl. zum Folgenden Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 111 ff.; Giesey, Dynastic Right (wie Anm. 7), 29 f.; Quaritsch , Staat und Souveränität (wie Anm. 35), 349 f.; Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory (wie Anm. 54), 70 ff.
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Kapetingern immer erblich gewesen sei. 56 Er weist sogar die gängige Meinung zurück, daß im Falle des Aussterbens der Dynastie die Wahl eines neuen Königs durch die Generalstände stattfinden müsse, und konzediert diesen lediglich die Möglichkeit, unter mehreren gleichberechtigten Kandidaten auszulosen: „Et quand la ligne des Monarques est fallie, et que le droit est dévolu aux estats, en ce cas il est beaucoup plus seur dy procéder par sort, ayant faicts chois des plus dignes, ou de ceux qui sont égaux en noblesse, ou en vertu, ou en puissance, à fin que l'un d'iceux soit tiré au sort, plustost que d'entrer aux termes d'élection." 57 Bodin befürchtet offenbar, daß selbst ein marginaler Rekurs auf eine Wahlhandlung geeignet sei, die Souveränität des Königs anzuzweifeln oder zu schädigen. Bodin betont weiterhin die Mediatisierung der Weihe, teils um der Deutung der Zustimmungsfrage als Wahlakt entgegenzutreten, teils um die Unabhängigkeit des Fürsten von der Kirche zu demonstrieren: „C'est pourquoy on dit en ce royaume que le Roy ne meurt iamais: qui est un proverbe ancien, qui monstre bien que le Royaume ne fut onques electif: et qu'il ne tient son sceptre du Pape, ny de l'Archevesque de Rheims, ny du peuple, ains de Dieu seul." 58 Er besteht also im Sinne der 1270 begründeten Tradition auf einem Gottesgnadentum des Königs ohne Vermittlung der Kirche. Dabei ist deutlich, daß dieses Gottesgnadentum kaum noch eine inhaltliche Bestimmung hat und damit faktisch die ursprünglich nur potentielle Differenzierung des weltlichpolitischen und des geistlichen Bereichs realisiert. Bodin fordert schließlich die Aufrechterhaltung des salischen Gesetzes. Er zählt es zu jenen Gesetzen, die die Verfassung der Monarchie betreffen, untrennbar mit der Krone verbunden sind, auf denen die souveräne Majestät beruht, die er deswegen „loix Roy aies" nennt: „aux loix qui concernent l'estât du Royaume, et de l'establissement d'autant qu'elles sont annexees et unies avec la couronne, ... et sur lesquelles est appuyé et fondé la maiesté souveraine". 59 Er führt dafür verschiedene Argumente an. Er argumentiert historisch, indem er gleich den bisherigen Theoretikern des salischen Gesetzes auf dessen Alter hinweist: ,,és plus vieilles et anciennes loix des Saliens".60 Er sucht die Rechtswirksamkeit des Gesetzes schon unter den frühesten fränkischen Königen zu belegen, behauptet auch, daß das „Parlement des Pairs de France" 1328 sich ausdrücklich auf das salische Gesetz berufen habe.61 Er bezieht sich weiterhin auf das Naturrecht und das göttliche Recht, die eine Herrschaft von Frauen und damit zugleich der Nachkommen von Frauen grundsätzlich ausschlössen: „attendu que la Gynecocratie est droitement contre les loix de nature, qui a donné aux hommes la force, la prudence, les armes, le commandement, et l'a osté aux femmes: et la loy de Dieu a disertement ordonné que la 56
5v 58 59 60
Bodin, Six livres (wie Anm. 16), 983. Ebd., 988. Ebd., 986. Ebd., 137. Ebd., 1011.
61 Ebd., 1012.
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femme fust subiecte a l'homme". 62 Das wichtigste Argument ist im Begriff der „loix Royales" selbst enthalten. Bodin führt diesen Begriff ein, um, ganz im Sinne von Jean de Terre-Rouge, darzutun, daß der König sich über derartige Gesetze nicht hinwegsetzen dürfe 63 , während ihm sonst, abgesehen von der unaufhebbaren Bindung an die Gesetze Gottes und der Natur, eine absolute Befugnis, Gesetze zu erlassen und zu verändern, zugestanden wird. 64 Er richtet hier also eine Schranke der Souveränität und damit des Absolutismus auf. Tatsächlich gilt nicht nur, daß Bodin durchweg keinerlei Zwangs- oder Sanktionsmittel gegen den souveränen Fürsten vorsieht, daß also auch die Einhaltung der „loix Royales" nicht erzwungen werden kann. Vor allem handelt es sich bei der Schranke der Souveränität nach der Meinung Bodins in Wahrheit um eine Voraussetzung oder Bedingung. Die „loix Royales" sind dadurch definiert, daß sie die Basis der souveränen Majestät bilden. Bodin schränkt den Fürsten also deswegen durch diese Gesetze ein, weil sie den Bestand fürstlicher Souveränität sichern. Die Unantastbarkeit des salischen Gesetzes kann demgemäß damit begründet werden, daß es die Kontinuität fürstlicher Souveränität gewährleistet. Die historische Realität stimmt mit der theoretischen Beweisführung überein. Die tradierte Thronfolgeordnung erweist sich in der Tat als entscheidende Prämisse für den kontinuierlichen Bestand der absoluten Monarchie in Frankreich. Andererseits geht die Applikation des salischen Gesetzes auf den Absolutismus keineswegs bruchlos vonstatten, wie überhaupt das im hohen und späten Mittelalter geschaffene institutionelle System sich keineswegs bruchlos zur absoluten Monarchie fortentwickelt. Dazwischen liegt vielmehr die schwere Krise Frankreichs im Zeitalter der Religionskriege. Sie ist in ihrer Schlußphase auch und gerade eine existentielle Krise der herkömmlichen Thronfolgeordnung. 65 Als 1584 Franz von Anjou, der letzte Bruder Heinrichs III., stirbt, steht, angesichts der Kinderlosigkeit des Königs, nach dem salischen Gesetz völlig zweifelsfrei fest, wer zur Thronfolge berechtigt ist: Heinrich von Bourbon, König von Navarra. Daß in Ermangelung eines direkten Nachfolgers Heinrichs III. die nächste männliche Linie zum Zuge kommt, resultiert aus der 1317 und 1328 getroffenen 62 Ebd., 1001.
63 Ebd., 137: „le Prince n'y peut deroger, comme est la loy Salique". 64 Ebd., 131 ff. 65 Gesamtdarstellungen zur Krise Frankreichs im Zeitalter der Religionskriege: Leopold von Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Hrsg. v. Otto Vossler, Bd. 1, Stuttgart 1954; André Bourde, Frankreich vom Ende des Hundertjährigen Krieges bis zum Beginn der Selbstherrschaft Ludwigs XIV. (1453-1661), in: Josef Engel (Hrsg.), Die Entstehung des neuzeitlichen Europa (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3), Stuttgart 1971, 719 ff.; Georges Livet, Les guerres de religion (15599-1598), 4. Aufl. Paris 1977; Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962; Frederic J. Baumgartner, Radical Reactionaries. The Political Thought of the French Catholic League, Genf 1976.
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Regelung und ist seitdem wiederholt, 1498 und 1515, praktiziert worden, ohne daß sich auch nur das geringste Bedenken dagegen geregt hätte. Daß das Haus Bourbon sich bereits im 13. Jahrhundert von der königlichen Hauptlinie abgezweigt hat, also noch vor den Beschlüssen von 1317 und 1328, fällt nicht ins Gewicht, da das durch diese festgestellte Recht als seit Anbeginn der Monarchie geltend angenommen wird. Der einzige mögliche Einwand betrifft die Tatsache, daß Heinrich König von Navarra ist: Ausländer sind prinzipiell vom französischen Thron ausgeschlossen. Aber dieser Einwand erledigt sich dadurch, daß Navarra faktisch zu Frankreich gehört und jedenfalls bei einer Thronfolge Heinrichs keine Angliederung Frankreichs an Navarra, sondern eine Angliederung Navarras an Frankreich bevorsteht.66 Gemäß der herrschenden Thronfolgeordnung gibt es also nach 1584 kein Thronfolgeproblem. Trotzdem löst die Aussicht auf eine Thronfolge Heinrichs von Bourbon eine scharfe Kontroverse aus, die nach der Ermordung Heinrichs III. 1589 in einen regelrechten Thronfolgekrieg umschlägt. Es entsteht ein Konflikt, nicht weil die Rechtslage unklar wäre, sondern obwohl oder weil die Rechtslage absolut klar ist. Grund des Konflikts ist der alle staatsrechtlichen Traditionen überlagernde konfessionelle Gegensatz. Der französische und europäische Katholizismus - die Ligue, der König von Spanien, der Papst - lehnen die Thronfolge des Hugenottenführers ab, stellen das konfessionelle Prinzip über das salische Gesetz und damit über das staatlich-politische Interesse der Monarchie. Die katholische Partei geht aus von einem neuen Grundgesetz, das sie als das oberste von allen Grundgesetzen einstuft: von der „loi de catholicité". 67 Die katholisch beherrschten Generalstände von 1576 verkünden, „que la profession de la religion catholique apostolique et romaine n'est point seulement l'ancienne coutume, mais la principale et fondamentale loi du royaume". 68 Bereits dieser Beschluß steht im Zusammenhang mit einer möglichen Thronfolge Heinrichs von Bourbon, impliziert damit die Anwendung der „loi de catholicité" auf die Thronfolge. Nach 1584 wird die „loi de catholicité" nach katholischer Auffassung mit der „loi de succession à la couronne" geradezu identisch. Diese Auffassung tangiert das herkömmliche Thronfolgerecht so lange nicht, wie der Thronfolger katholisch ist. Tatsächlich arbeitet die katholische Partei zunächst darauf hin, diesen Zustand herbeizuführen und damit die „loi salique" und die „loi de catholicité" zur Deckung zu bringen. Es ergehen in der ersten Zeit wiederholte Appelle an Heinrich von Bourbon, zum Katholizismus zurückzutreten, allerdings vergeblich. Daraufhin wird die katholische Partei zu einer Haltung veranlaßt oder gedrängt, die einer fortgesetzten Manipulation des geltenden Rechts gleichkommt und am Ende auf dessen vollständige Demontage hinausläuft. 66 67
Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 293. Vgl. zum Folgenden ebd., 133 ff., u. de la Perrière,
67 ff. 68 Zit. ebd., 76.
Droit de succession (wie Anm. 1),
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Am Anfang steht das Manifest der Ligue vom März 1585. Darin wird ein konkreter Rechtstitel für die Übertragung der „loi de catholicité" auf die Thronfolge genannt: die beim Krönungseid abgegebene, aus der Zeit der Albigenserkriege stammende Zusage des Königs, die Ketzer in seinem Land ausrotten zu wollen. 69 Das Manifest betont, daß die Könige nur durch diese Zusage den Gehorsam der Untertanen erlangten, d. h. legitim würden: „en ce royaume très-chrestien, on ne souffriroit jamais régner un héretique, attendu que les sujets ne sont tenues de reconnoître, ni souffrir la domination d'un prince dévoyé de la foi chrétienne et catholique, étant le premier serment que nos rois font, lorsqu'on leur met la couronne sur la tête, que de maintenir la religion catholique, sous lequel serment ils reçevoient celui de fidélité de leurs sujets et non autrement." 70 Die Ligue spricht unter diesem Prätext Heinrich von Bourbon das Recht auf die Thronfolge ab und verlangt die Erhebung eines katholischen Königs. Diese Begründung macht eine im 13. Jahrhundert vollzogene Entwicklung rückgängig: die Mediatisierung der Weihe durch das Erbrecht. Sie signalisiert damit zugleich eine neue Unterordnung der Krone unter die Kirche. Diese Unterordnung führt schließlich dazu, daß der Papst, mit Billigung der Ligue und des Königs von Spanien, ein ausschlaggebendes Mitspracherecht in der französischen Thronfolgefrage beansprucht: seit 1585 schließen päpstliche Bullen Heinrich von Bourbon durch Exkommunikation vom französischen Thron aus. Was die Erhebung eines katholischen Königs angeht, so sucht sich die katholische Partei zunächst immer noch möglichst eng an das salische Gesetz zu halten; sie bestimmt anstelle Heinrichs dessen nächsten Seitenverwandten Karl von Bourbon zum König und läßt ihn 1589, mit Zustimmung des Parlaments von Paris, auch proklamieren. Karl von Bourbon ist einverstanden, befindet sich freilich 1589 in Heinrichs Gewahrsam und stirbt überdies 1590. Danach geht die katholische Partei gänzlich vom salischen Gesetz ab. Der König von Spanien lanciert den Thronfolgeanspruch seiner Tochter Isabella, einer Enkelin Heinrichs II., der nächsten weiblichen Verwandten. Er glaubt also um der katholisch-spanischen Interessen willen den 1317 und 1328 festgesetzten Ausschluß der Frauen vom Thron und außerdem das seit 1328 bestehende Verdikt über eine ausländische Thronfolge ignorieren zu können. Die Ligue erkennt diese Prätention an, besteht aber zugleich auf einer Wahl der Infantin durch die Generalstände, will also dem Erbrecht die Wahl hinzufügen, das Erbrecht durch die Wahl verbessern. Sie restituiert damit einen Rechtszustand, der seit Philipp II. August aufgehoben ist: die Verbindung von Erbrecht und Wahl. Ein weiterer Schritt führt Frankreich noch mehr zum Status einer Wahlmonarchie zurück. Der König von Spanien und die Ligue verständigen sich darüber, ebenfalls von den Generalständen einen Gemahl für die Infantin wählen zu lassen, der den Titel eines Königs von Frankreich führen und die Leitung der Regierung übernehmen soll. Aus der Sicht der Ligue ist ein solcher Akt geeignet, die eingeräumte Zulassung einer Frau zum Thron zu relativieren. Aber das wesentliche ist, daß damit den Generalständen das 69
Dazu Schramm, König von Frankreich (wie Anm. 7), Bd. 1, 199 f.
70
Zit. bei Lemaire, Lois fondamontales (wie Anm. 2), 134.
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Recht der freien Königswahl zuerkannt wird. Die Ligue kann zwar darauf hinweisen, daß nach der Exkommunikation Heinrichs von Bourbon und nach dem Tod Karls von Bourbon der Thron vakant sei und die Generalstände daher lediglich ein für diesen Fall seit dem 15. Jahrhundert unumstrittenes Recht ausübten. Aber gerade die Thronvakanz ist nach dem herkömmlichen Thronfolgerecht nicht gegeben, gerade sie bildet die Mitte des Konflikts. Binnen kurzem sind also maßgebliche Positionen der traditionellen Thronfolgeordnung umgestoßen oder verrückt. Allerdings setzt sich am Ende Heinrich IV. gegen die katholische Partei durch. Das salische Gesetz siegt über seine Gegner, bleibt in Kraft, wird durchgeführt. Das liegt sicher auch daran, daß das seit dem 14. Jahrhundert fest etablierte Grundgesetz der Monarchie im allgemeinen Bewußtsein ein gewisses Legalitätsprestige besitzt oder behauptet, daß auch im katholischen Lager Skrupel gegen eine Gesetzesverletzung verbreitet sind. Zum Wortführer dieser Skrupel macht sich das Pariser Parlament, der traditionelle Hüter der Verfassung. Als die ligistischen Generalstände 1593 in Paris zusammentreten, um die Wahl der Infantin und ihres Gemahls ins Werk zu setzen, warnt das Parlament in einer feierlichen Erklärung vor Verstößen gegen das salische Gesetz und die anderen Grundgesetze von Frankreich. Die Erklärung hebt vor allem auf die Notwendigkeit ab, Ausländer vom französischen Thron abzuhalten, wendet sich damit also direkt gegen das Projekt, die Infantin zur Königin von Frankreich zu berufen: „à ce que aucun traité ne se fasse pour transférer la couronne en la main de prince ou princesse étrangers". 71 Aber dieselbe Korporation hat bis dahin die katholische Partei unterstützt, hat 1589 an der Proklamation Karls von Bourbon teilgenommen, verweigert auch jetzt einer protestantischen Thronfolge die Anerkennung, fordert vielmehr ausdrücklich, daß die früheren Beschlüsse des Parlaments zur Erhebung eines katholischen Königs ausgeführt würden: „les arrêts donnés par ladite cour, pour la déclaration d'un roi catholique et français soient exécutés".72 Der parlamentarisch-katholische Legalismus kann und will also den Primat des konfessionellen Prinzips nicht erschüttern. Entscheidend für den Erfolg Heinrichs IV. ist daher nicht das Legalitätsprestige des salischen Gesetzes, sondern die Politik des Bourbonen. Heinrich IV. betreibt zunächst protestantische Politik. Er muß freilich bald erkennen, daß der Hugenottenführer keinerlei Chance hat, eine allgemeine Anerkennung als König von Frankreich zu erlangen. Andererseits kommt für ihn aus dem gleichen Grund auch eine katholische Politik nicht in Frage. Er hat nur eine einzige Wahl: nämlich von der konfessionellen Politik überhaupt abzugehen, die vom konfessionellen Gegensatz verursachte innere und äußere Zerrissenheit Frankreichs zu überwinden durch eine neue, über- oder außerkonfessionelle Politik der Staatsräson. Diese Politik bringt ihm in der Folge die allgemeine Anerkennung. Heinrich gewinnt das Ver71 72
Zit. bei de la Perrière , Droit de succession (wie Anm. 1), 91. Zit. ebd.
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trauen der französischen Katholiken, indem er zum Katholizismus übertritt, sich in Chartres in hergebrachter Weise zum König weihen läßt, die Absolution des Papstes erlangt; er kann erst dadurch die im katholischen Lager verbreiteten legalistischen Skrupel für sich mobilisieren. Er behält andererseits das Vertrauen der französischen Protestanten, indem er das Edikt von Nantes inauguriert. Er ergänzt diese innenpolitische Leistung nach außen durch den Friedensschluß mit Spanien und erlangt dadurch die Anerkennung ganz Europas. Alle diese Maßnahmen werden zur notwendigen Grundlage für die Legitimierung seines Königtums. Es ist richtig, daß sie für die Thronfolge rechtlich nicht relevant sind, daß vielmehr das salische Gesetz die einzige Rechtsbasis bleibt. Die Zugeständnisse Heinrichs sind politischer, nicht rechtlicher Natur. Dennoch ist offenkundig, daß der Bourbone seinen Rechtsstandpunkt nur durch solche politischen Zugeständnisse aufrechterhalten kann. Es kommt an dieser Stelle vor allem auf ein genaues Verständnis von Heinrichs Konzessionen an die Katholiken an. Es kann zunächst überhaupt keine Rede davon sein, daß Heinrich die rechtlichen Prämissen der katholischen Partei, also die „loi de catholicité" akzeptiert hätte.73 Er tritt 1593 zum Katholizismus über; aber er datiert seine Regierungszeit von 1589 an. Er läßt sich 1594 weihen; aber er gründet sein Königtum allein auf das Erbrecht. Er erlangt 1594 die päpstliche Absolution; aber er verwahrt sich mit Erfolg gegen eine päpstliche Rehabilitation, d. h. gegen das Ansinnen der Kurie, ihm zugleich mit der Wiederaufnahme in die römische Kirche die Befähigung zur Ausübung des königlichen Amtes auszusprechen. Er berücksichtigt die „loi de catholicité" nur insoweit, als er sie politisch in Rechnung stellt, d. h. indem er ihren Anhängern faktisch so weit entgegenkommt, daß sie ihm die Anerkennung als König auch ohne förmliche Geltendmachung ihrer Rechtsposition nicht versagen können. Die Katholizität Heinrichs IV. bedeutet also keinen Rückfall in die konfessionelle Politik, sondern soll ganz im Gegenteil konfessionelle Politik destruieren helfen. Jede andere Deutung muß das Wesen seiner Politik gründlich verfehlen. Zugleich ist unbestritten, daß Heinrichs Konzessionen an die Katholiken entscheidend zur Realisierung seines Thronfolgeanspruchs beigetragen haben. Die Katholizität des französischen Königtums bleibt auch in Zukunft den durch die Politik Heinrichs IV. geschaffenen Bedingungen verhaftet. Sie beruht nicht auf einem Grundgesetz der Monarchie, sondern auf einem politischen Konsens, der wiederum die Fortdauer der überkommenen Thronfolgeordnung bedingt. Der Thronfolgekrieg nach 1589 hat also ein doppeltes Ergebnis. Er führt einmal dazu, daß die herkömmliche Thronfolgeordnung bestätigt wird. Der durch das salische Gesetz erbberechtigte Thronfolger erreicht seine Anerkennung. Auf der anderen Seite wird deutlich, daß diese Bestätigung der herkömmlichen Thronfolgeordnung nur teilweise auf deren immanenter Geltungskraft beruht, daß es dazu vielmehr primär einer neuen Politik bedarf. Der durch das salische Gesetz erb73
Richtig Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 7), 311.
5 Muhlack
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berechtigte Thronfolger verdankt hauptsächlich dieser neuen Politik seine Anerkennung. Zugespitzt könnte man sagen, daß Heinrich IV. nicht durch das salische Gesetz, sondern daß umgekehrt das salische Gesetz durch die Politik Heinrichs IV. siegt. Das tradierte Grundgesetz der Monarchie bleibt bestehen; aber es wird historisch neu legitimiert, neu begründet; neu sanktioniert. Die Politik Heinrichs IV. bedeutet die Grundlegung der absoluten Monarchie. Sie bedeutet damit zugleich, daß das salische Gesetz allein durch diese Neulegitimierung, Neubegründung, Neusanktionierung zum Fundamentalgesetz der absoluten Monarchie aufsteigen kann. 74 Die absolutistische Praxis findet ihre Entsprechung in der absolutistischen Theorie. Bodin ist ein erster Kronzeuge für die Möglichkeit, die hergebrachte französische Thronfolgegesetzgebung in die Verfassung der absoluten Monarchie einzubeziehen. Er ist zugleich ein erster Kronzeuge für die Notwendigkeit, diese Möglichkeit im Rahmen einer neuen Politik zu verwirklichen. Die Bodinsche Souveränitätslehre entsteht im Gegensatz zu den das Zeitalter der Religionskriege beherrschenden politischen Auffassungen. Der Begriff der Souveränität zielt primär auf die Erhebung der Monarchie über die Konfessionsparteien, auf die Verpflichtung der Krone, die Konfessionsparteien im Namen eines überkonfessionellen Staatsgedankens zur politischen Koexistenz zu zwingen.75 Bodins Darlegungen zur französischen Thronfolgeordnung setzen diese primäre Implikation des Souveränitätsbegriffs voraus. Bodin vindiziert die hergebrachte Gesetzgebung für eine Monarchie, die in der Beilegung des konfessionellen Gegensatzes ihre vornehmste Aufgabe erblickt. Er hat zur Erörterung dieses Themas um so eher Veranlassung, als er die Auseinandersetzung um die Thronfolge Heinrichs von Bourbon schon frühzeitig kommen sieht. Er muß überdies in den ersten Auflagen der „Six livres de la république" zu bestimmten Staatsschriften der protestantischen Partei Stellung nehmen, die aus dem Gegensatz zum katholischen Königtum heraus die Auffassung Frankreichs als Wahlmonarchie propagieren; dieselben Autoren treten freilich nach 1584 verständlicherweise ganz auf den Boden des salischen Gesetzes.76 74 Zur Diskussion um die Thronfolgegesetzgebung in der Zeit Richelieus vgl. Rudolf von Albertini, Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 1), Marburg 1951, 30 ff. u. 59 sowie Fritz Diekmann, Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu. Studien an neuentdeckten Quellen, in: ders., Friedensrecht und Friedenssicherung, Studien zum Friedensproblem in der Geschichte (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 321), Göttingen 1971, 36 ff., hier 54 f. u. 59 f. 75 Die einschlägigen Stellen (wie Anm. 16), 1 ff. u. 652 ff. Die Argumentation Bodins ist verwickelt, aber eindeutig. Er hält zunächst prinzipiell an der Einheit oder Zuordnung von Staat und Religion fest: er weitet die Religion als Inbegriff des höchsten Staatszwecks; er erklärt die Religion zum Hauptfundament des Staates. Er fordert aber gleichzeitig die Unterordnung der Religion unter den Staat: er proklamiert den Vorrang der gewöhnlichen Politik die vor allem für äußere und innere Sicherheit zu sorgen hat, vor der religiösen Politik; er sieht die Religion als Funktion des Staates an; er verlangt die Neutralität des Staates gegenüber religiösen Konflikten. Er gelangt damit faktisch dahin, die Einheit von Staat und Religion aufzulösen, den Staat auf eine autonome, außer- oder überkonfessionelle Position zu stellen.
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Die Stabilität der französischen Thronfolgeordnung im Zeitalter des Absolutismus wird lediglich durch zwei Irritationen in der Spätzeit Ludwigs XIV. berührt, die die beginnende Krise der absoluten Monarchie in Frankreich widerspiegeln. 77 Der im Frieden von Utrecht festgesetzte gegenseitige Thronverzicht der französischen und der spanischen Bourbonen, der das Philipp V. von Spanien vorbehaltene Recht auf den französischen Thron negiert, stellt eine völkerrechtliche Reglementierung der französischen Thronfolge im Sinne der dominierend gewordenen Gleichgewichtsdoktrin dar, stimmt freilich auch mit jenem alten Prinzip des französischen Erbrechts selbst überein, wonach kein Ausländer den Thron von Frankreich besteigen dürfe. Größere staatsrechtliche Bedeutung hat der zweite Vorgang. Ludwig XIV. erklärt in einem Edikt vom Juli 1714, das er vom Parlament einregistrieren läßt, seine legitimierten Söhne für erbberechtigt; er revidiert damit den bis dahin üblichen Ausschluß unehelicher Nachkommen vom Thron. Er will auf diese Weise die Stellung des künftigen Regenten, des Herzogs von Orleans, einrahmen oder einschränken. Jedoch der Herzog von Orleans läßt in einem Edikt vom Juli 1717, das ebenfalls vom Parlament einregistriert wird, diese Verfügung aufheben und damit die ursprüngliche Rechtslage wiederherstellen. Dieser Vorgang läßt verschiedene Schlußfolgerungen zu. Er zeigt zunächst die exklusive Kompetenz, die sich das Parlament in Thronfolgefragen wie überhaupt hinsichtlich der Grundgesetze der Monarchie angeeignet hat; dies ist ein Zeichen für die fortgeschrittene Institutionalisierung des Thronfolgerechts, freilich auch Ausdruck einer aus der Sicht der Krone krisenhaften Machtverschiebung zwischen dem Königtum und dem Parlament. Der Vorgang zeigt weiterhin die mögliche Verletzung der Staatsverfassung durch monarchische Willkür in der Praxis absolutistischer Politik, die nach Bodin dem Prinzip monarchischer Souveränität und damit dem Prinzip der absoluten Monarchie zuwiderläuft. Der Vorgang zeigt gleichwohl ebenfalls, daß die Staatsverfassung die monarchische Willkür überdauert, daß damit der Staat 76 Vgl. dazu Schnur, Französische Juristen (wie Anm. 65), 12 ff. u. 42 f., sowie Quaritsch, Staat und Souveränität (wie Anm. 35), 351 f. Ausführliche Darstellung von Hotmans Einstellung zur Thronfolgefrage bei Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 30 ff. - Die neueste Arbeit über Bodins Einstellung zur bourbonischen Thronfolge stammt von Paul Lawrence Rose, Bodin and the Bourbon Succession to the French Throne, 1583-1594, in: The Sixteenth Century Journal 9, 1978, 75 ff. Der Verfasser will entgegen der herkömmlichen Meinung nicht nur von vornherein Bodin von der Partei Heinrichs von Navarra distanzieren, sondern überdies, gestützt auf die lateinische Ausgabe der Six livres von 1586, den Nachweis führen, daß Bodin bereits seit diesem Zeitpunkt aus juristischen Gründen die Kandidatur Karls von Bourbon unterstützt habe. Dagegen stehen aber gerade die folgenden vom Verfasser selbst zitierten Sätze aus der lateinischen Ausgabe (De Republica, Paris 1586, 733): „Valeat igitur pro nepote sententia veterum aeque ac iuniorum; non tantum in directa sed etiam in obliqua successione. Quae a nobis aliquanto accuratius disputata sunt propter eam quae proxime abesse videtur regni Francorum successionem". 77 Vgl. zum Folgenden Ranke, Französische Geschichte (wie Anm. 65), Bd. 2, Stuttgart 1954, 15. Buch, 773 ff., 16. Buch, 84 ff. u. 17. Buch, 109 f.; de la Perrière, Droit de succession (wie Anm. 1), 109 ff.; Giesey, Dynastie Right (wie Anm. 7), 3; Robert Mandrou, Louis XIV. en son temps, (Peuples et Civilizations, Vol. 10), Paris 1973, 526 f.
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sich endgültig losgelöst hat von der Person des Königs, ihr als selbständige Macht entgegentritt. Zugleich weist der Begriff des Staates bereits über die absolute Monarchie hinaus. Die Legitimierten appellieren gegen das Edikt vom Juli 1717 an die Generalstände als Vertretung der Nation. Dagegen erklärt der Herzog von Orleans, er habe alle Rechte der Nation in dieser Angelegenheit anerkannt. Die Argumentation beider Seiten läßt die Nation als letzte Instanz des Staates erscheinen. Sie rekurriert damit offensichtlich auf traditionelle ständische Zustände, deutet aber ebenso offensichtlich schon auf die Möglichkeit eines Nationalstaats neuen Typs hin, wie er im Zuge der Französischen Revolution zum Durchbruch kommen wird.
Absoluter Fürstenstaat und Heeresorganisation in Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV. Solange man sich von dem absolutistischen Frankreich Ludwigs XIV. das Musterbild eines alles beherrschenden monarchischen Zentralstaates machte, hat man, zur Begründung dieser Ansicht, immer vorrangig auch die Einrichtung des Heerwesens angeführt. Die nach 1661 geschaffene Organisation der französischen Armee galt als eine der konstitutiven Institutionen einer nunmehr unumschränkt gewordenen Königsmacht: aus den politischen Notwendigkeiten des absoluten Fürstenstaates entstanden und zugleich auf dessen weitere Ausgestaltung zurückwirkend. Le Tellier und Louvois erschienen neben Colbert als die wichtigsten Diener des Königs beim Aufbau der neuen Ordnung. Diese Auffassung begegnet schon bei Voltaire, der mit seinem Werk „Le siècle de Louis XIV" die erste und zugleich für alle künftige Historiographie grundlegende Gesamtdarstellung des ludovizianischen Absolutismus geliefert hat. Geleitet von der Idee, daß das Jahrhundert Ludwigs XIV. durch eine neue Blüte der Künste und Wissenschaften den endgültigen Siegeszug der Aufklärung eröffnet habe, betont er andererseits zunächst die dazu in seiner Sicht unumgängliche politische Voraussetzung: die Errichtung eines starken Staates durch die Erhebung der königlichen Autorität über alle ihr widerstrebenden Gewalten.1 Was der König für die Erneuerung des Heerwesens geleistet hat, kommt dabei gleich nach den von ihm veranlaßten Reformen in Verwaltung, Justiz, Handel, Polizei, Gesetzgebung: „Législateur de ses peuples, il le fut de ses armées". Voltaire beginnt mit der Uniformierung der Regimenter, handelt sodann von der obersten Kommandogewalt des Königs, fährt mit der technischen Modernisierung der Armee fort, erwähnt die Einsetzung von „inspecteurs généraux" zur Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin, nennt die Heeresstärken, auf die es der König durch alle diese Bemühungen gebracht habe, und rühmt am Schluß die „attention, qu'il eut à former des armées es de terre nombreuses et bien disciplinées, même avant d'être en guerre". 2 Hundert Jahre später bietet RanErstveröffentlichung in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit (Historische Forschungen, Bd. 28), Berlin 1986, 249-278. 1 Voltaire, Le siècle de Louis XIV. in: Voltaire, Œuvres historiques. Ed. par René Pomeau, Paris 1957, 603 ff., hier 618: „II faut, pour qu'un Etat soit puissant, ou que le peuple ait une liberté fondée sur les lois, ou que l'autorité souveraine soit affermie sans contradiction." Der erste Verfassungstyp scheint Voltaire in England, der zweite in Frankreich paradigmatisch verwirklicht. 2 Ebd., 973 ff.
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kes „Französische Geschichte" ein ähnliches Urteil. Der Historiker des frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems geht von anderen Prämissen aus als Voltaire, aber er hat den gleichen Begriff von der Machtfülle des Königtums Ludwigs XIV. und von der in ihr eingeschlossenen militärischen Macht. Auch Ranke stellt die „militärische Einrichtung" neben die Reformen der Finanzen, des Handels, der Justiz. Er sieht sie auf dem Prinzip beruhend, „daß das Recht der Waffen ausschließend der höchsten Gewalt angehöre", beschreibt die Beugung der Befehlshaber unter die unbedingte Autorität des Königs, erkennt im Offizierskorps der Garde ein „Seminar für die Führung der Truppen", würdigt die Zunahme der Friedensstärke der Armee, verweist durchgängig darauf, daß „die wiederhergestellten Finanzen die Mittel dazu darboten".3 Es ist endlich Otto Hintze, der, im Rahmen seiner Studien zur vergleichenden Verfassungsgeschichte, diese Anschauung in terminologisch scharfen Definitionen fixiert. Der von ihm konstatierte Zusammenhang von „Absolutismus und Militarismus" in den Staaten des Kontinents seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, durch den ihm „die Armee geradezu zum Rückgrat des neuen zentralisierten Großstaats" wird, tritt ihm vorab in Frankreich in Erscheinung. Hier wird der absolutistische Einheitsstaat aufgerichtet, „den man vorher nicht gekannt hatte", und hier sind daher zuerst die Züge des neuen Militärwesens zu beobachten: stark vergrößertes stehendes Heer; die Übernahme der obersten Kommandogewalt durch den Monarchen; die Durchführung einer hierarchischen Ordnung von Dienstgraden; die Tätigkeit der Kriegskommissare; die Hinordnung des Steuerwesens und der Wirtschaft auf die Bedürfnisse der Armee; durch dies alles Verstaatlichung der Armee bei gleichzeitiger Militarisierung des Staates.4 Es bedarf keiner umständlichen Belege, um deutlich zu machen, daß alle diese Vorstellungen bis in jüngste Handbücher hinein geläufig geblieben sind.5 Wer sich heute erneut mit dem Verhältnis von Staatsverfassung und Heeresverfassung im Frankreich Ludwigs XIV. beschäftigt, kommt freilich nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Grundlagen der traditionellen Deutung inzwischen von vielen Seiten her erschüttert worden sind. Unter allen Revisionismen, die in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft im Schwange sind, ist eine verbreitete Neigung zur fast vollständigen Demontage des früheren Absolutismus-Bildes vielleicht am denkwürdigsten. Statt des alles beherrschenden monarchischen Zentralstaates ersteht vor unseren Augen ein ziemlich fragiles oder prekäres Staatswesen, in dem alles auf den Kompromiß zwischen dem Fürstentum und den immer noch 3
Leopold von Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Hrsg. v. Otto Vossler, Bd. 2, Zwölftes Buch, 336 ff. 4 Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1970, 52 ff., hier 69 ff. 5 Zwei neuere Beispiele: Eberhard Weis, Frankreich von 1661 bis 1789, in: Fritz Wagner (Hrsg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 4), Stuttgart 1968, 164 ff., hier 179 f. u. 200 f.; Robert Mandrou, Louis XIV en son temps 1661 - 1715 (Peuples et civilisations, Vol. 10), Paris 1973, 227 ff.
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fest verwurzelten ständisch-feudalen Interessen ankommt: eine absolute Monarchie, die diesen Namen allenfalls insoweit verdient, als es dem Fürsten zeitweilig gelingt, die ihm widerstreitenden Bestrebungen auszubalancieren und damit einen gewissen, aber stets eng begrenzten Spielraum zur Ausweitung und Konsolidierung seiner eigenen Macht zu gewinnen.6 Daß diese Betrachtungsweise auch vor dem Frankreich Ludwigs XIV. nicht halt macht, zeigen letzthin die Arbeiten von James Russell Major und David Parker. In Majors großem Werk über die Geschichte der ständischen Institutionen in Frankreich vom 15. bis zum 17. Jahrhundert präsentiert sich der ludovizianische Staat als ein höchst unvollkommenes Gebilde, dessen Gedeihen mehr und mehr von den persönlichen Beziehungen des Fürsten zu den Repräsentanten ständisch-korporativer Gruppierungen abhängt: ein absolutistisches Regime auf ständestaatlicher Basis, das am Ende unvermeidlich in eine Dauerkrise geraten muß.7 Parker geht in seinem Buch „The Making of French Absolutism" noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur Entstehung, Aufstieg und Niedergang des französischen Absolutismus aus den immanenten Konflikten der feudalständischen Ordnung erklärt, sondern auch der Krone selbst dabei Ziele zuschreibt, die sich ganz im Rahmen des alten Systems halten. Das Königtum scheint ihm nicht den Bruch mit der Vergangenheit zu intendieren, sondern eine Wiederherstellung der monarchischen Autorität, die immer auch den notwendigen Ausgleich mit den ihr entgegenstehenden Interessen einschließt.8 Es ist hier nicht der Ort, den Gründen dieser „Tendenzwende" nachzuforschen. Wie in solchen Fällen üblich, kommen dabei wissenschaftsexterne wie wissenschaftsinterne Momente zusammen, abgesehen von der leicht schulbildenden Routine, wie sie von neuen sogenannten Forschungsständen häufig auszugehen pflegt. Jedenfalls ist bemerkenswert, daß das neue Bild des Absolutismus im allgemeinen und des französischen Absolutismus im besonderen nicht eigentlich der Entdekkung neuer Daten oder neuer Kategorien von Daten zu danken ist, sondern einer neuen Bewertung von an sich längst bekannten Tatsachen. Der Hinweis mag genügen, daß Ranke die ständisch-feudalen Züge der absoluten Monarchie in Frankreich selbstverständlich auch kennt. Seine „Schlussbemerkung" über die Regierungszeit Ludwigs XIV. gibt darüber zusammenfassende Auskunft: „Und niemand könnte die Elemente des feudalistischen Staates verkennen, die unter ihm noch in großem Umfang bestanden. Wenn man von denselben mit einemmal eine Anschauung haben will, so braucht man sich nur zu erinnern, wie viel die Revolution davon zu zerstören notwendig fand: die Besonderheiten der Provinzen, festgehalten durch ständische und gerichtliche Institutionen, oder selbst durch Verträge ge6
Von den neuesten Gesamtdarstellungen zum Absolutismus-Problem steht dieser Auffassung am nächsten: Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648 -1779 (Fischer Weltgeschichte, Bd. 25), Frankfurt a. M. 1981. 7
James Russell Major, Representative Government in Early Modern France, New Haven / London 1980, 630 ff., bes. 672; vgl. dazu die Rezension des Verfassers in: Der Staat 21, 1982, 464 ff. 8 David Parker, The Making of French Absolutism, London 1983, bes. 118 ff.
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währleistet; die Prärogative der großen Städte; die Vorrechte des Adels in seinen verschiedenen Klassen: alle die Herrenrechte, gegen welche später politische Theorie und der Haß der Population vereint oder abwechselnd ankämpften. Noch in seinem Testament spricht Ludwig XIV. die Überzeugung aus, daß die vornehmste Kraft seines Reiches in dem Adel bestehe". Allerdings ergibt ihm die Abwägung aller Argumente, daß das „Gewicht der monarchischen Gewalt" überwiegt also unter genauer Berücksichtigung derselben Phänomene, die heute einer entgegengesetzten Interpretation zugrunde liegen.9 In dieser Situation vermag eine neuerliche Betrachtung des Heerwesens im Staat Ludwigs XIV. zum Testfall zu werden und damit zur Klärung des zwischen beiden Deutungsmustern herrschenden Widerspruchs beizutragen, ohne daß der fragwürdige Ausweg einer dezisionistischen Parteinahme für die eine oder andere Seite beschritten werden muß. Sie lehrt einmal, welche Stellung die Heeresverfassung in dem Koordinatensystem von monarchischem Zentralstaat und ständisch-feudalem Staat einnimmt. Wenn ferner die Prämisse des Kolloquiums stimmt, daß zwischen Staatsverfassung und militärischer Exekutive ein struktureller Zusammenhang besteht, sind zum andern Rückschlüsse von der Heeresorganisation auf die Staatsorganisation möglich. Die „revisionistische" Forschung über den französischen Absolutismus ist bisher an diesen Fragestellungen eher vorbeigegangen. Andererseits liegt vor allem durch die in den beiden letzten Jahrzehnten sehr intensivierte französische Spezialforschung zur französischen Militärgeschichte im Zeitalter des Absolutismus eine ungeheure Fülle aufgearbeiteten Materials vor, an das ein Interpretationsversuch anknüpfen kann. 10 9
Ranke , Französische Geschichte (wie Anm. 2), Bd. 2, Sechzehntes Buch, 91. Von der älteren französischen Literatur sind vor allem immer noch die beiden Bücher von Louis André unentbehrlich: Michel Le Tellier et l'organisation de l'armée monarchique, Paris 1906 (Nachdruck Genf 1980); Michel Le Tellier et Louvois, Paris 1942 (Nachdruck Genf 1974). Die heutige französische Forschung läßt sich ganz auf die Schriften von André Corvisier zentrieren. Die im Zusammenhang unseres Themas wichtigsten Titel dieses Autors: L'armée française de la fin du X V I I e siècle au ministère de Choiseul. Le soldat, 2 Bde., Paris 1964 (vgl. dazu die Rezension von Robert Mandrou in: Revue Historique 236, 1966, 487 ff.); Les contrôles de troupes de l'ancien régime, Bd. 1, Paris 1968; Les Français et l'armée sous Louis XIV. D'après les mémoires des intendants, Chateau de Vincennes 1975; La France de Louis XIV. 1643-1715. Ordre intérieur et place en Europe (Regards sur l'histoire, Vol. 33), 2. Aufl. Paris 1979, 175 f f ; Armées, état et administration dans les temps modernes, in: Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Eds.), Histoire comparée de l'administration (IV e XVIII e siècles). Actes du XIV e colloque historique franco-allemand de l'Institut Historique Allemand de Paris (Beihefte der Francia, Bd. 9), München 1980, 555 ff.; Clientèles et fidélités dans l'armée française aux XVII e et XVIII e siècles, in: Yves Durant (Ed.), Hommage à Roland Mousnier: Clientèles et fidélités en Europe à l'époque moderne, Paris 1981, 213 ff.; Louvois, Paris 1983. Gute Zwischenbilanz der neueren französischen Forschung: Pierre Goubert, L'Ancien régime, Vol. 2: Les pouvoirs, Paris 1973, 112 ff. Von der älteren deutschen Literatur ist weiterhin heranzuziehen: Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München/Berlin 1910 (Nachdruck Darmstadt 1965), 425 ff. Neuere deutsche Arbeiten, die jeweils durch exemplarische Behandlung konkreter Einzelthemen zum Verständnis der Militärverfassung 10
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Wie es die Themenstellung des Kolloquiums gebietet, konzentriert sich dieses Referat auf die Einrichtung des Heerwesens im engeren Sinne. Die Verhältnisse in der französischen Kriegsmarine müssen dagegen außer Betracht bleiben. Mag diese Ausklammerung auch unbefriedigend anmuten, so läßt sie sich doch bis zu einem gewissen Grad durch die Rangordnung beider Teilstreitkräfte rechtfertigen. Obwohl die Regierung Ludwigs XIV. im Zuge ihrer Handels- und Kolonialpolitik gerade im Bereich der maritimen Rüstung große Anstrengungen unternommen und ihm zeitweise fast sogar Priorität eingeräumt hat, ist unstrittig, daß das ludovizianische Frankreich nach Interesse und Selbstverständnis primär Landmacht gewesen ist und daher die Armee letztlich immer vor der Marine dominiert hat: ein Phänomen, das ebenso mit der außenpolitisch-geopolitischen Lage der Monarchie zu tun hat wie mit der nur zögernden Hinneigung der führenden Schichten der französischen Gesellschaft zu kommerziellen Aktivitäten in Übersee. Dazu kommt, daß die Verfassung der Marine unter den hier interessierenden Aspekten, jedenfalls mutatis mutandis, Strukturen aufweist, wie sie auch der Heeresverfassung eigentümlich sind, ihre Einbeziehung also kein grundsätzlich neues Bild ergäbe.11 Wenn man, noch ganz im Banne der „revisionistischen" Deutung des französischen Absolutismus, auf die Organisation der französischen Armee nach 1661 schaut, wird zunächst einmal eine kaum leugbare Diskrepanz offenbar, die eine Revision der Revision unabweisbar macht. Selbst bei Aufbietung des allergrößten Scharfsinns ließe sich nur schwerlich behaupten, daß das Heer Ludwigs XIV. die ihm von der älteren Literatur zugerechneten Attribute nicht besessen hätte. Vielmehr sind die Ergebnisse der neueren Forschung ganz dazu geeignet, die traditionelle Auffassung nicht nur zu bestätigen, sondern noch weiter zu fundieren. Sie zeigen vorab, daß die Krone über die Armee als ein jederzeit schlagkräftiges Instrument ihrer Politik unbedingt verfügt hat, und sie müssen daher vorab alle Vorstellungen eines eher eingeschränkten Königtums schlechterdings erledigen.
im absolutistischen Frankreich insgesamt beitragen: Werner Gembruch, Zur Kritik an der Heeresreform und Wehrpolitik von Le Tellier und Louvois in der Spätzeit der Herrschaft Ludwigs XIV., in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2, 1972, 7 ff.; ders., Persönlichkeit und Werk Vaubans als „Ingénieur de France", in: H.-W. Herrmann/Franz Irsigler (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Garnisons- und Festungsstadt, (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. 13), 48 ff.; Bernhard Kroener, Les Routes et les Étapes. Die Versorgung der französischen Armeen in Nordostfrankreich (1635-1661). Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Ancien Régime (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte, Bd. 11), Münster 1980; ders., La planification des opérations militaires et le commandement supérieur. La crise de l'alliance franco-bavaroise à la veille de la bataille de Höchstädt, in: Forces armées et systèmes d'alliances. Colloque international d'histoire militaire et d'études de défense nationale Montpellier 2 - 6 Septembre 1981 (Histoire Militaire Comparée, Vol. 1). 165 ff. 11 Zur französischen Kriegsmarine in der Zeit Ludwigs XIV. zuletzt Geoffrey Symcox, The Crisis of French Sea Power 1688-1697. From the guerre d'escadre to the guerre de course, Den Haag 1974.
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Ludwig XIV. sagt in seinen Memoiren, er habe bei seinem Regierungsantritt 1661 in Frankreich einen Zustand der Unordnung vorgefunden: „Le désordre régnait partout. " 1 2 Er meint damit das Übergangsstadium zwischen einem alten und einem neuen politischen System, in dem sich die Monarchie seit 1659 befindet. Einerseits sind nunmehr schwerste innere und äußere Kämpfe siegreich abgeschlossen und damit die Voraussetzungen für die Errichtung eines neuen Regimes geschaffen. Andererseits ist dieser Neubau keineswegs schon aufgeführt, sind die organisatorischen Konsequenzen aus dem Sieg keineswegs schon gezogen; die Lage in Frankreich ist vielmehr durchaus noch offen, schwankend, ungeklärt, ungeformt, ungestaltet. Die Unordnung, um die es sich nach 1659 im Heerwesen handelt, resultiert aus bestimmten negativen Erscheinungen der gerade zu Ende gegangenen langwierigen Kriegszeit, in denen wiederum der ständestaatliche Typ der Armee paradigmatisch zutage tritt. Die Neuordnung des Heerwesens, wie sie in diesen Jahren in Angriff genommen wird, verfolgt kein anderes Ziel, als diesen Typ zu überwinden und die Armee fortan völlig in den Dienst der Königsmacht zu stellen. Daß es um eine wirkliche Strukturreform geht und um den Willen, sie mit allen Konsequenzen durchzusetzen, bezeugt die dichte Reihe von Ordonnanzen, die der „secrétaire d'état de la guerre" nach dem Pyrenäenfrieden herausgeben läßt. Diese Gesetzgebung ermangelt freilich aller abstrakten Systematik, sondern geht immer von konkreten Problemen aus. Sie gelangt daher auch nicht zur Kodifizierung, sondern zerfällt in einzelne Gruppen von Ordonnanzen über bestimmte Teilgebiete, wobei jeweils ein gleiches Verfahren der Problemlösung befolgt wird: Beginn mit einem „règlement particulier", Fortgang mit dessen wiederholter Einschärfung, dabei, wenn nötig, Modifikationen, Zusätze, Interpretationen, schließlich Erlaß eines „règlement général". 13 Gleichwohl erhält die neue Legislation nicht nur durch diese Gleichheit der Methode inneren Zusammenhang. Die Hauptsache ist, daß hinter ihren sämtlichen Akten, klar erkennbar, das einheitliche Konzept einer königlichen Armee steht. Wenn man versucht, die wesentlichen Bestimmungen dieses Konzeptes zu fassen, kommt man auf zwei komplementäre Prinzipien: stehendes Heer und absolute Verfügungsgewalt der Krone. Beide sind der Heeresverfassung in der Epoche des Ständestaates direkt entgegengesetzt, in der das im Kriegsfall angeworbene Heer und eine relative Autonomie des Heeres gegenüber der Krone vorwalten. Die Wende vom bisherigen Soldheer zum stehenden Heer wäre nur unzureichend verstanden, wollte man sich mit der Feststellung begnügen, daß die Krone künftig dauernd ein Soldheer unter Waffen hat: eine Armee, die im Frieden den Krieg vorbereitet sowie der äußeren und inneren Politik des Königs Nachdruck verleiht und die im Krieg, abgesehen davon, daß sie sofort einsatzfähig ist, einen Kader für etwa notwendige zusätzliche Truppenaushebungen bildet: 1664 45.000 Mann, am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. über 100.000 Mann, im Spa12 Louis XIV., Mémoires et divers écrits. Ed. par Bernhard Champigneulles, Paris 1960, 4; vgl. dazu Mandrou, Louis XIV (wie Anm. 5), 13. 13 André, Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 309 ff.
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nischen Erbfolgekrieg bis auf 400.000 Mann angewachsen.14 Die Schöpfung dieses dauernden Soldheeres bedeutet zugleich auch, daß das Soldheer eine dauernde Organisation bekommt. Rekrutierung, Formierung, Disziplinierung, Exerzierung, Ausrüstung, Unterhaltung der Armee: das alles ist auch im ständestaatlichen Soldheer geregelt, aber unterliegt hier naturgemäß immer wieder einem systemimmanenten Zwang zur Improvisation, der sich über jegliche Reglementierung hinwegsetzt und damit die Ausbildung fester organisatorischer Strukturen erschwert. Erst im Zeichen des stehenden Heeres kann von einer eigentlichen Institutionalisierung dieser Erfordernisse die Rede sein, die zugleich mit einem Höchstmaß an technischer Zweckmäßigkeit, Effizienz, Rationalität, Modernität einhergeht. Die Regierung legt Regeln der Rekrutierung fest: der Rekrut muß sich freiwillig verpflichten, darf kein anderes Engagement haben, muß diensttauglich sein; die Modalitäten der Anwerbung und Einstellung werden fixiert, dabei Unterschiede zwischen der inländischen und der ausländischen Rekrutierung bezeichnet; hinzu treten Vorschriften über die Bedingungen für die Einstellung von Strafgefangenen. 15 Die Differenzierung der Waffengattungen schreitet fort: neben der Kavallerie und der Infanterie etabliert sich die Artillerie und beginnen sich die Ingenieure als selbständiges Korps zu etablieren. 16 Die Gardetruppen erhalten ihre endgültige Gestalt.17 Die Heeresformationen stehen nunmehr fest: Kompanie, Bataillon, Regiment, Armee, ebenso die Prinzipien ihrer jeweiligen Rangordnung: Anciennität, Vorrang der Garde vor den allgemeinen Verbänden, Vorrang der französischen vor den ausländischen Einheiten.18 Gleichlaufend damit kommt die Entwicklung des Offizierskorps zum Abschluß: es wird Klarheit über die jeweiligen Grade und über die auf jeder Stufe bestehende Hierarchie herbeigeführt. 19 Die Regierung erkennt die Notwendigkeit einer systematischen Offiziersschulung und beginnt zu diesem Zweck Kadettenanstalten zu gründen. 20 Es ergehen genaue Regelungen für den militärischen Dienst und die militärische Gerichtsbarkeit. 21
14 Diese Zahlen nach Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 200; Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10), Bd. 2, 116. Über die Schwierigkeit, die damalige Stärke französischer Armeeinheiten zu bestimmen, Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 152 ff.; Kroener, Les Routes (wie Anm. 10), 3 ff.. 15 Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 149 ff., 159 ff., 259 ff., 281 ff. 16 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 497 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 383 ff.; Anne Blanchard, Les ingénieurs du „roy" de Louis XIV a Louis XVI, Montpellier 1979, 60 ff., 71 ff., 115 ff.; Gembruch, Persönlichkeit und Werk Vaubans (wie Anm. 10), 52. 17
Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), 427. André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 188 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 325 ff. 19 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 115 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 317 ff.; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 97 ff., 183 ff.; Kroener, La planification (wie Anm. 10), 173 ff. 18
20 André, Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 324 f.; Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 200; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 182 f.
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Die Ausrüstung und die Unterhaltung des Heeres, früher den zahlreichsten Mißständen ausgesetzt, werden zum Gegenstand methodischer Planungen. Am Ende steht ein ganzes System von Einrichtungen, um die Besoldung, Uniformierung, Bewaffnung, Unterbringung, Ernährung, Versorgung der Soldaten zu gewährleisten: vornehmlich eine für alle diese Aufgaben zuständige Armeeverwaltung, die Anlage von Kasernen, die Erweiterung der Magazine, Waffenarsenale, Munitionslager, der Bau von Hospitälern und eines „hötel des invalides". 22 Es versteht sich von selbst, daß in diesem Zusammenhang auf weiteres Detail verzichtet werden muß und kann. Was hier allein interessiert und daher allein festzuhalten ist, ist das durchgängige Prinzip: daß die Aufstellung eines stehenden Heeres zur Verwirklichung einer dauernden Heeresorganisation führt. Die absolute Verfügungsgewalt der Krone über dieses Heer hat ihre Basis in dem Gesetz, daß allein der König das Recht habe, Truppen auszuheben. Im erklärten Gegensatz gegen die Praxis der Fronde-Zeit wie der Epoche der konfessionellen Bürgerkriege beharrt die Krone auf ihrem militärischen Monopol. Der König verbietet allen Untertanen, gleich, welchen Standes, welcher Würde, welchen Amtes sie seien, unter irgendeinem Vorwand Truppen aufzustellen, außer auf seinen ausdrücklichen Befehl hin; widrigenfalls soll gegen die Verantwortlichen als gegen Rebellen und Verletzer der königlichen Majestät vorgegangen werden. 23 Der einzige Werbeherr beansprucht zugleich, sein eigener Kriegsunternehmer zu sein. Der Zustand, daß die „colonels" der Regimenter und die „capitaines" der Kompanien auf eigene Rechnung oder im Auftrag eines höheren Offiziers, wenn auch niemals eines einzigen „chef de guerre" im Stile Wallensteins, rekrutieren, hört auf; sie haben vielmehr hinfort allein auf Rechnung des Königs Soldaten einzustellen.24 Wenn bis dahin die Formen privaten Kriegsunternehmertums eine Privatisierung des Heerwesens bewirkt haben, so bewirkt die königliche Herrschaft über das Rekrutierungsverfahren, daß das Heerwesen zu einer Veranstaltung des monarchischen Staates wird. Die andere Seite dieses königlichen Kriegsunternehmertums ist die Bereitschaft der Krone, dauerhaft für die Finanzierung des Heeres aufzukommen. Das Verschwinden des privaten Kriegsunternehmertums setzt die grundsätzliche Unabhängigkeit der Krone von privater Finanzaushilfe, die Verstaatlichung des Heerwesens, die Verstaatlichung des Heeresunterhalts voraus, aus 21 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 537 ff., 573 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 384 ff., 403 ff. 22 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 271 ff., 329 ff., 359 ff., 415 ff., 469 ff., 609 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 343 ff., 349 ff., 358 ff., 368 ff., 379 ff., 409 ff.; Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10), Bd. 2, 121 ff.; Corvisier, Les Français (wie Anm. 10), 177 ff., 194 ff., 205 ff.; ders., Louvois (wie Anm. 10), 108 ff., 190 ff.; Musée de l'armée (Ed.), Les invalides. Trois siècles d'histoire, Paris 1975, bes. 139 ff., 199 ff. 23 Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 147. 24 Ebd. 147 f.; vgl. auch Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 80 ff. über das bisherige Kriegsunternehmertum in der französischen Armee.
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der dem Staat wiederum, ohne ihn der Eigenherrlichkeit der Gläubiger auszuliefern, fast unbegrenzter Kredit erwächst. Mit dieser Entwicklung geht zusammen, daß die Krone das oberste militärische Kommando übernimmt. Gehört dessen Besitz auch zu den ältesten Titeln des Königtums, so trifft Ludwig XIV. bei seinem Regierungsantritt gleichwohl bestimmte Barrieren an, durch die die monarchische Ausübung der obersten Kommandogewalt entscheidend beeinträchtigt, wenn nicht tatsächlich blockiert oder suspendiert wird. Im Zeichen des privaten Kriegsunternehmertums ist den Truppenführern ein Maß an selbständiger Autorität zugewachsen, das mit dem neuen Autoritätsanspruch der Krone unverträglich ist. Entsprechend zieht die Abkehr von dem bisherigen Rekrutierungssystem eine Änderung der bisherigen Kommandostruktur nach sich. Grundlegend ist, daß der König sich, wie zu seinem eigenen Kriegsunternehmer, so zu seinem eigenen Chef der Armee erklärt. Der Weg dahin führt über die Beseitigung oder Entmachtung gewisser „officiers généraux", die die Krone bis dahin mit dem Kommando über die Armee betraut hat und die damit eine intermediäre Stellung zwischen der Krone und dem Heer erlangt haben. Zunächst gilt, daß das Amt des „connétable" als Oberbefehlshabers des Heeres, das bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts bestanden hat, nicht erneuert wird; genauso verfährt man übrigens mit dem zur gleichen Zeit erloschenen Amt des „grand amiral de France" als Oberbefehlshabers der Marine, bis es 1669 als reine Sinekure wiederhergestellt wird. Die Unterbeamten des „connétable", die „maréchaux de France", und ihre Vertreter, die „lieutenants généraux", bleiben unmittelbar der Krone untergeordnet. 25 Freilich behält Turenne das ihm 1660 übertragene Amt eines „maréchal général des camps et armées du roi", das ihn aus den übrigen Marschällen von Frankreich heraushebt und überhaupt an die Spitze aller Offiziere setzt; aber das ist ein, als Anerkennung für unschätzbare Leistungen im Dienste der Krone verliehenes, persönliches Ehrenamt, das die Position des Königs als Oberbefehlshabers der Armee nicht tangiert. 26 Ein besonderes Problem stellen die Chefs der Waffengattungen und der ausländischen Verbände mit ihren überkommenen Privilegien dar. 27 Der König beseitigt das Amt des „colonel général de l'infanterie", das seinen Besitzer „rendait plus maître que le Roi meme des principales forces de l'Etat" 2 8 , nach dem Tod von dessen letztem Inhaber, reduziert die Funktionen des „colonel général de cavalerie" wie des „grand maître de l'artillerie" bis zur Bedeutungslosigkeit und macht die „colonels généraux" der Schotten, Korsen, Engländer, Polen, Schweizer ganz von sich abhängig. 25 Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), 430, 433; Gembruch, Zur Kritik (wie Anm. 10), 12; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 97 f. 26 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 119 f.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 317 f.; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 97. 27 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 148 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 319 ff.; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 98. 28 Louis XIV, Mémoires (wie Anm. 12), 28.
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Eine gleiche Behandlung wie diese „officiers généraux" erfahren andere Amtsträger, soweit sie durch ihre Befugnisse dem königlichen Oberkommando Eintrag tun. Die „gouverneurs" der Provinzen, die, von der Krone ernannt, bis dahin erhebliche militärische und zivile Eigenmacht kumuliert haben, erleben ihre schrittweise Zurückdrängung aus den im Laufe der Zeit erworbenen Vorrechten. Nachdem sie faktisch alle zivilen Kompetenzen an die „intendants provinciaux" verloren haben, verbleibt ihnen allenfalls, wie es der Provenienz ihres Amtes entspricht, eine durch strikte königliche Anweisungen genau fixierte militärische Zuständigkeit, die kaum über das nominelle Kommando in den Provinzen hinausgeht.29 Ludwig XIV., der die Unbotmäßigkeit mancher „gouverneurs" während der Fronde erfahren hat, widmet in seinen Memoiren diesem Vorgang besondere Aufmerksamkeit. Wenn die „gouverneurs des provinces" bisher ihre, der königlichen Autorität schädliche, Selbständigkeit am meisten auf das Recht, Kontributionen zu erheben, und die Freiheit, ihre Garnisonen mit nur von ihnen abhängigen Truppen zu belegen, gegründet hätten, habe er beschlossen, ihnen beides „peu à peu" wegzunehmen. 30 Er macht sich die „gouverneurs" also dadurch gefügig, daß er sie der ökonomischen Basis ihrer bisherigen Macht beraubt, und exemplifiziert damit eindrücklich, gegen welchen Gegner die königliche Kommandogewalt hauptsächlich aufgerichtet werden muß: gegen das private Kriegsunternehmertum. Als das wichtigste Attribut des obersten Befehlshabers steht dem König das Recht zur Ernennung der Offiziere zu. Er erlangt, zumal von den „colonels généraux" der Infanterie und der Kavallerie und dem „grand maître" der Artillerie, vornehmlich das Recht, die „officiers des régiments" zu ernennen: notwendige Bedingung der Möglichkeit, daß diese Truppenoffiziere, anders als bisher, in ein Verhältnis unmittelbarer Loyalität zum König treten. Allerdings steht einer uneingeschränkten Disposition der Krone über die Offiziersstellen zunächst noch die Praxis der Ämterkäuflichkeit entgegen, die, in allen Bereichen des königlichen Dienstes üblich, im Bereich der Armee ebenfalls in untrennbarem Zusammenhang mit dem privaten Kriegsunternehmertum emporgekommen ist. 31 Selbst ein ausschließliches Recht des Königs zur Ernennung der Offiziere droht entwertet zu werden, wenn die Offiziere durch den Kauf ihrer Chargen quasi ein Eigentum an ihren Stellen gewinnen und obendrein die eingerissene Gepflogenheit des direkten Weiterverkaufs jeden königlichen Einfluß auf die Wiederbesetzung zunichte 29
Dazu Corvisier, Les Francais (wie Anm. 10), 89 ff.; Robert R. Harding, Anatomy of a Power Elite. The Provincial Governors of Early Modern France, New Häven/London 1978; regionale Fallstudie, die die Besonderheit einer neueroberten Grenzprovinz herausarbeitet: Georges Livet, L'autorité à Strasbourg sous l'ancien Régime: Gouverneurs et commandants en chef de la province et de la ville, in: Revue historique des armées 3, 1981, 35 ff. 30 Louis XIV, Mémoires (wie Anm. 12), 28 f.; dazu auch 92: „continuant dans le dessein de diminuer l'autorité des gouverneurs des places et des provinces". Vgl. Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Institutionengeschichte 1630-1830, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 152. 31 Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), 429; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 102 f.
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macht. Gestützt auf Ordonnanzen, die den Verkauf aller Offiziersstellen untersagen, nicht ohne die Gefahr mangelnder militärischer Eignung der durch bloßen „commerce des charges" berufenen Offiziere auszumalen, gehen erste Maßnahmen der Regierung Ludwigs XIV. erfolgreich dahin, die Käuflichkeit der Chargen der „officiers généraux" und im Bereich der „gardes du corps" zu unterdrücken. 32 Sofern die Krone in die Lage versetzt wird, frei über die Offiziersstellen zu disponieren, hält sie sich an die Prinzipien der Befähigung und der Anciennität, mit denen immer auch das Prinzip der Ergebenheit gegen den König korreliert. 33 Eingedenk der in der Vergangenheit erfahrenen frondierenden Haltung adeliger Offiziere, sucht sie den Anteil bürgerlicher Offiziere über das Subalternoffizierskorps hinaus zu erweitern. 34 In den vom Adel eher geringgeschätzten modernen Waffengattungen der Artillerie und der Ingenieure findet sie dafür die günstigsten Ansätze vor. 35 Als ein Hauptreservoir königlicher Personalpolitik erweisen sich bald die Offiziere der Garde. Nachdem der König ihm geeignet erscheinende Offiziere der nach 1659 aufgelösten Regimenter in die „maison militaire du roi" aufgenommen hat, schickt er sie später wieder, als Kommandeure neuaufgestellter Verbände, zur allgemeinen Truppe zurück. 36 Schließlich obliegt es den neubegründeten Kadettenanstalten, ein gleichermaßen fachlich qualifiziertes wie königstreues Offizierskorps hervorzubringen. Der königliche Oberbefehlshaber der Armee sieht sich gleichzeitig als deren obersten Administrator. Die Armeeverwaltung, ausgebaut zu dem Zweck, die Ausrüstung und die Unterhaltung des Heeres zu sichern, wandelt sich in demselben Maße von einer der wichtigsten Domänen des privaten Kriegsunternehmertums zu einem Instrument der königlichen Regierung. Die darin tätigen „controlleurs", „intendants", „commissaires", durchweg vom König ernannte Zivilbeamte, reichen in abgestufter Folge von der zentralen über die regionale bis zur lokalen Verwaltungsebene und kooperieren aufs engste nicht nur mit den jeweiligen Heeresoffizieren, sondern insbesondere auch mit den jeweiligen Beamten der allgemeinen Verwaltung: „im ganzen eine zivile Hierarchie innerhalb der Streitkräfte neben der militärischen .. .". 3 7 Die wichtigste Aufgabe haben dabei die „intendants d'armée", die jeweils für die Verwaltung der in einer Provinz stationierten Truppen oder einer im Felde stehenden Armee zuständig sind. 38 Gewöhnlich der „noblesse de robe" ent32 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 201 f.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 315 ff.; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 103 f. 33 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 201; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 316. 34 Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 200; Gembruch, Zur Kritik (wie Anm. 10), 12. 35 Gembruch, Persönlichkeit und Werk Vaubans (wie Anm. 10), 51 f. 36 Ranke, Französische Geschichte (wie Anm. 3), Bd. 2. Zwölftes Buch, 339. 37 Gembruch, Zur Kritik (wie Anm. 10), 9; dazu das Schema der Befehlsstruktur der Heeresversorgung, wie sie beim Regierungsantritt Ludwigs XIV. besteht und seitdem verfestigt wird, bei Kroener, Les Routes (wie Anm. 10), 182, sowie allgemein Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 87 ff., 180 ff.
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stammend, besitzen sie kein käufliches Amt, sondern eine Kommission, die dem König jegliche Freiheit der Verfügung über ihre Stelle beläßt: im Unterschied zu den ihnen nachgeordneten „commissaires des guerres", deren Name mit ihrem Status schon geraume Zeit nicht mehr übereinstimmt. 39 Die „intendants d'armée" sind damit als zuverlässige Vollstrecker des königlichen Willens ausgewiesen. Sie haben mit den „gouverneurs" der Provinzen und zumal mit den „intendants provinciaux" zusammenzuwirken, die sich wie sie aus dem Amtsadel rekrutieren und wie sie die primäre Funktion haben, die königlichen Interessen durchzusetzen. Gelegentliche Personalunion zwischen den beiden Intendanturen führt eindringlich vor, wie eng die jeweiligen Aufgabenbereiche aufeinander bezogen sind. Der König erhebt sich endlich auch zum obersten Kontrolleur der Armee. Von den „inspecteurs généraux" der Infanterie und Kavallerie abgesehen, die Militärs sind, zieht er eine zivile Beaufsichtigung des Heeres vor, für die zuvörderst, ebenfalls auf allen Ebenen, die Organe der Armee Verwaltung zum Einsatz kommen. Sie haben nicht nur dafür zu sorgen, daß die von ihnen getroffenen Maßregeln zur Ausrüstung und Unterhaltung des Heeres tatsächlich befolgt werden, sondern überwachen außerdem Rekrutierungen, Disziplin, militärische Übungen, Manöver, Kriegführung, beaufsichtigen bei alledem Offiziere wie Mannschaften, haben der Regierung über ihre Erkenntnisse regelmäßig Bericht zu erstatten. Ein ausgeklügelter Kontrollmechanismus erweist sich namentlich in dem, chronischen Mißständen ausgesetzten, Bereich der Rekrutierung als vonnöten. Das Unwesen der „passe-volants", „déserteurs", „rouleurs", „billardeurs", das die Einsatzfähigkeit der Armee wie die Finanzen des Königs schädigt, erzwingt durchschlagende Gegenvorkehrungen. Man bedient sich dabei des Mittels, die alten Musterungslisten der Kompanien zu förmlichen Musterungsregistern fortzubilden. Während die alten Listen lediglich die Namen der einzelnen Soldaten enthalten und damit allenfalls bei überschaubaren Soldatenzahlen eine effektive Kontrollmöglichkeit bieten, beginnt man jetzt ein Konzept zu erarbeiten, das über die Namen hinaus eine ganze Reihe von persönlichen Daten erfaßt und damit eine hinreichend genaue Beaufsichtigung auch starker Truppenverbände gestattet. Nach wiederholten Anläufen ergeht auf Grund der gemachten Erfahrungen im Juli 1716 eine Ordonnanz zur Einführung der „contrôles de troupe" in der französischen Armee. Die „colonels" der Regimenter werden daraufhin verpflichtet, Register über die in ihren Einheiten dienenden Soldaten anlegen zu lassen. Die Listen sollen von jedem Soldaten die folgenden Angaben vermerken: Namen, Zunamen, „nom de guerre", Geburtsort, 38 André , Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 628 ff.; ders ., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 415 ff.; Douglas Clark Baxter, Servants of the Sword. French Intendants of the Army 1630-1670, Urbana / Chicago / London 1976, 139 ff. 39 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 611 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 410 ff.; Claude C. Sturgill, L'armée faisait partie intégrante de la société française au début du XVIII e siècle: L'exemple des commissaires des guerres, 1715-1730, in: Actes du 104e congrès national des sociétés savantes Bordeaux 1979. Section d'histoire moderne et contemporaine, Vol. 2: La Gironde de 1610 à nos jours. Questions diverses, Paris 1981,411 ff.
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Amtsbezirk des Geburtsortes, Alter, Größe, besondere körperliche Kennzeichen, Namen der Eltern, Beruf, Beruf des Vaters, gegebenenfalls Todesdatum des Vaters; später sind etwaige weitere Daten hinzuzufügen wie Urlaub, Tod, Desertion. Die „commissaires des guerres" haben das Recht, jederzeit Einsicht in diese Register zu verlangen, und dürfen vor allem keine Rekrutierung eines Soldaten ohne vorherige Verifizierung der Einregistrierung genehmigen. Abschriften aller Eintragungen müssen, um die Regierung jederzeit umfassend ins Bild zu setzen, nach Versailles eingesandt werden. Das Ganze ist ein Musterbeispiel königlicher Kontrolle über die Armee. 40 Die oberste Institution, auf die sich der König bei der Ausübung seiner Verfügungsgewalt über das Heer stützt, ist der zivile „secrétaire d'état de la guerre". 41 Sein Amt ist es, die aus der königlichen Verfügungsgewalt entstehenden Geschäfte zu führen. Er leitet im Namen des königlichen Werbeherrn die Aushebung der Truppen; er repräsentiert das oberste militärische Kommando; in seinem Büro laufen alle Fäden der Armeeverwaltung und der Armeekontrolle zusammen. Er kontrasigniert alle Erlasse des Königs und setzt sie erst damit in Wirksamkeit. Sämtliche militärischen und zivilen Dienststellen der Armee empfangen von ihm ihre Weisungen und sind ihm gegenüber berichtspflichtig; er ist ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. Der „secrétaire d'état de la guerre" hat also die faktische Kompetenz eines „maître de l'armée". Diese bedeutende Machtfülle hebt gleichwohl die Verfügungsgewalt des Königs keineswegs auf. Der König kann die Amtsinhaber, wie auch die anderen Staatssekretäre, nach Belieben einsetzen und absetzen; sie sind nichts ohne den König, sind ganz auf dessen Gnade angewiesen, sind durch die Konstruktion ihres Amtes „hommes du roi". Ludwig XIV. hat durchweg bürgerliche Kriegsminister, die durch ihre Politik stets das Vertrauen des Königs rechtfertigen, abgesehen davon, daß sein autokratischer Regierungsstil von vornherein eine Einheit der politischen Aktion garantiert. Es ist aus bloßen inneren Gründen augenscheinlich, daß diese Heeresreform nicht in einer ihr heterogenen politischen Gesamtsituation durchgefühlt worden sein kann. Sie hat vielmehr den Zustand einer schon zur Alleinherrschaft erhobenen Königsmacht zur unerläßlichen Voraussetzung. Sie setzt zunächst voraus, daß die Krone dauerhaft in der Lage ist, das unter ihrer Verfügungsgewalt eingerichtete stehende Heer zu finanzieren. Sie setzt damit voraus, daß die Krone die Steuerkraft des Landes in einem größtmöglichen Maße ausschöpft. Sie setzt damit weiterhin voraus, daß die Krone die für eine größtmögliche Ausschöpfung der Steuerkraft günstigsten ökonomischen Bedingungen schafft. Sie setzt damit ebenso voraus, daß die Krone einen Beamtenapparat besitzt, der diese doppelte Aufgabe erfüllen 40 Diese Darstellung folgt Corvisier, Les contrôles de troupes (wie Anm. 10), 3 ff.; über die „inspecteurs généraux" der Infanterie und Kavallerie Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 186 ff. 41 André, Michel Le Tellier et l'organisation (Anm. 10), 640 ff.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 424 ff.; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 78 ff.
6 Muhlack
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kann. Sie setzt ganz allgemein voraus, daß die Krone Frankreich politisch beherrscht. Sie setzt damit zuletzt voraus, daß die Krone ihre inneren und äußeren Gegner jedenfalls einstweilen niedergeworfen hat. Es ist kaum leugbar, daß alle diese Prämissen nach 1661 tatsächlich bestehen oder sich allmählich einstellen. Die Krone hat das zur Einrichtung des Heeres erforderliche Geld. Colbert liefert ihr die dazu notwendigen Steuereinnahmen und betreibt die dafür notwendige Wirtschaftspolitik. Es ist ihm zu diesen Zwecken ein geeigneter Beamtenapparat unterstellt. Die Krone ist, nach dem Sieg über die Fronde und über Spanien, die beherrschende politische Macht in Frankreich. Andererseits trifft unzweifelhaft auch die Umkehrung zu: daß die Heeresreform nach 1661 die Konsolidierung der Königsmacht befördert. Indem die neue Armee aus dem neuen Staat erwächst, hilft sie mit, den neuen Staat zu verwirklichen, wird sie vielfach sogar für ihn zum Modell. 42 Die Heeresreform profitiert von der Colbertschen Finanz- und Wirtschaftspolitik und profitiert damit zugleich von dem Beamtenapparat, der diese Politik ins Werk setzt. Aber die Heeresreform ist durch ihre Bedürfnisse auch der stärkste Anstoß, um diese Politik einzuleiten oder voranzutreiben, und damit zugleich am ehesten imstande, den sie exekutierenden Beamtenapparat zu aktivieren. Sie greift überdies direkt auf beide Bereiche über. Der Bedarf der Armee an Waffen, Munition, Uniformen verursacht die Anlage entsprechender Industriebetriebe. 43 Manche Institutionen der Armeeverwaltung bereiten bestimmte Institutionen der allgemeinen Verwaltung vor: die Vermutung ist kaum von der Hand zu weisen, daß die „intendants d'armée" den „intendants provinciaux" vorausgehen44; die Organisation der Armee findet Nachahmung in der Organisation der bewaffneten Organe der zivilen Verwaltung wie der „maréchaussée" sowie der Beamten der „douanes" und der „gabelies" 45 ; die Kadettenanstalten und die Sozialdienste der Armee wirken sich auf das allgemeine Schul- und Sozialwesen aus 46 ; die „contrôles de troupe" liefern das Muster für Gemeinderegister 4 7 Die Heeresreform hat endlich zur Prämisse, daß die Krone Frankreich politisch beherrscht, aber das neue Heer sichert gleichzeitig die Basis dieser Herrschaft: nicht nur durch seine unmittelbare militärische Einsatzbereitschaft, sondern auch durch sein institutionelles System. Von allen Einrichtungen der Monarchie verkörpert die Armee am meisten innere Geschlossenheit und kann sie damit am ehesten der Einheit des ganzen Staates Vorschub leisten. Die absolute Verfügungsgewalt der Krone über die Armee, die alles von oben nach unten durchdringt, keine Absonderung duldet, jedes eigene Recht prinzipiell verneint, trägt an vorderster Stelle dazu bei, die Verfügungsgewalt der Krone überhaupt absolut zu machen, beschleunigt 42
Dazu allgemein Corvisier, Armées, état et administration (wie Anm. 10). Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 200. 44 Vgl. Baxter, Servants of the Sword (wie Anm. 38), 8. 45 Corvisier, Armées, état et administration (wie Anm. 10), 561 f. 4 6 Ebd., 562 f. 47 Ebd., 560. 43
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allenthalben ein Streben nach Zentralisierung, Uniformierung, Nivellierung. Treffend bemerkt André Corvisier über den Einfluß der französischen Armee auf den französischen Staat am Anfang des 18. Jahrhunderts: „A chaque fois l'influence de l'armée s'exerce dans le sens d'une uniformisation et d'une hiérarchisation strictes des fonctions dans l'ensemble du royaume." 48 Wenn der ludovizianische Staat von daher also eine entschiedene militärische Prägung hat, so nimmt er deswegen doch nicht die Gestalt einer Militärmonarchie an, wie sie sich damals in Brandenburg-Preußen zu bilden beginnt. So wenig die Leitfunktion der Armee bei der Reorganisation des Königreichs in Frage steht, so wenig darf übersehen werden, daß die Armee nur eines neben anderen Instrumenten eines Königtums ist, das vor allen staatlichen Einrichtungen den Gedanken der Staatseinheit in sich selbst trägt und daraus die Legitimierung seines absoluten Machtanspruchs ableitet. Das Zentrum dieser Monarchie ist nicht das Heer, sondern der königliche Hof, der die Identität der Krone mit dem Staat am vollkommensten manifestiert. Sofern es so etwas wie eine offizielle Staatsideologie gibt, wird sie weniger von einer militärischen Denkart bestimmt als von einer weltlich gewendeten „religion royale", die, im Zuge der Religions- und Kirchenpolitik Ludwigs XIV., mit einem intransigenten Gallikanismus verschmilzt. Der „Chefideologe" Bossuet gibt dieser Überordnung der Religion über das Militär beredten Ausdruck: seine an den Dauphin gerichtete „Politique", diese einzige Folge von Variationen über das Thema, daß die Würde des Königs von Frankreich primär in dessen vorbehaltloser Hingebung an die wahre Religion bestehe, rechnet das Heerwesen unter die „secours essentiels et nécessaires" eines durch „religion" und „justice" konstituierten Staates; die „réputation d'être homme de guerre" rangiert ihm nach der sakralen Weihe der Monarchie. 49 Gerade die Religions- und Kirchenpolitik Ludwigs XIV. macht zudem sichtbar, daß der Modellcharakter der Armee für den Staat keineswegs uneingeschränkt gilt. Die Armee umfaßt Soldaten aller religiösen Bekenntnisse, unter denen ein Geist der konfessionellen Toleranz oder Indifferenz herrscht. 50 Aber das hat keinerlei Auswirkungen auf die Haltung der Krone gegenüber den Hugenotten, und die erfolgreiche Durchführung der Dragonaden zeigt, daß die Armee selbst dadurch nicht aufhört, ein allezeit willfähriges und einsatzfähiges Instrument königlicher Politik zu sein. Für das populäre Bewußtsein, in dem sich nach den schlimmen Erfahrungen vergangener Kriegszeiten eine starke militärfeindliche Tradition hält, bleibt die Armee ohnehin ein Fremdkörper, ohne daß dies dem zunächst verbreiteten Grundkonsens mit dem Regime Abbruch täte.51
48 Ebd., 562. 49
Jacques-Bénigne Bossuet , Politique tirée des propres paroles de l'Ecriture sainte. Ed. par Jacques Le Brun (Les classiques de la pensée politique, Vol. 4), Genf 1967, 212 u. 365. 50 Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 288 ff. 51 Über die in der französischen Gesellschaft vorherrschende Aversion gegen das Militär ebd., 109 ff. u. Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10), Bd. 2, 123 ff. 6*
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Dieser Darstellung der französischen Heeresreform nach 1661 sind zwei Relativierungen hinzuzufügen, die in entgegengesetzte Richtungen gehen. Die eine Relativierung geht dahin, daß die Heeresreform keine völlig neue Schöpfung ist, sondern in vielem auf schon ausgebildeten Formen aufbaut. Die andere Relativierung geht dahin, daß in der französischen Armee nach 1661 noch manche Elemente der ständestaatlichen und selbst einer noch älteren Heeres Verfassung fortleben. Seit die Krone einen erkennbaren Kurs auf systematische Erweiterung und Stabilisierung ihrer Machtstellung im Innern und nach außen steuert, ist es eines ihrer Hauptinteressen, sich dazu ständige Streitkräfte unter ihrer unbedingten Verfügungsgewalt zu halten.52 Mit den in der Endphase des Hundertjährigen Krieges aufgestellten „compagnies d'ordonnance" steht sogar schon vor der eigentlichen Ära der Söldnerheere eine königliche Armee von anfangs 9.000 Mann dauernd unter Waffen. Diese Berufsreiterei ist aus Soldaten zusammengesetzt, die sich freiwillig zum Dienst des Königs verpflichten. Die „capitaines" und die „gens d'armes", die die einzelnen „lances" einer Kompanie anführen, müssen zunächst Adelige sein; diese Positionen werden aber späterhin auch Bürgerlichen zugänglich. Der König bezahlt die Soldaten, ernennt die „capitaines", setzt „commissaires des guerres" zur Heeresverwaltung und zur Kontrolle ein. Die fortan regelmäßige Erhebung der „taille" soll die Finanzierung dieser Verbände sicherstellen. Eine strukturelle Analogie zur ludovizianischen Heeresverfassung ist ganz unübersehbar. Dennoch gibt es keine direkte Verbindungslinie. Militärische oder militärtechnische Gründe haben vielmehr zur Folge, daß die „compagnies d'ordonnance" im Laufe des 16. Jahrhunderts gegenüber den Söldnerheeren immer mehr an Wichtigkeit einbüßen und in der Mitte des 17. Jahrhunderts praktisch tot sind. Lediglich einige Kompanien der Garde bleiben nach ähnlichen Grundsätzen organisiert. Die eigentliche Vorgeschichte der ludovizianischen Heeresreform beginnt im 16. Jahrhundert mit dem Versuch, aus den zeitweilig angeworbenen Söldnerheeren feste Einheiten zu bilden und diese unter die volle Verfügungsgewalt der Krone zu stellen. Zunächst handelt es sich um die Abgrenzung der „vieilles bandes" von den „nouvelles bandes" der Infanterie und der vorläufig noch in ihr enthaltenen Artillerie, bald auch um Abteilungen der Kavallerie. Diese Truppen machen, bei wechselnder Stärke, die ganze folgende Zeit hindurch den Kern der französischen Armee aus. Alle Probleme und rudimentär auch alle Lösungen der ludovizianischen Heeresreform treten hier zum erstenmal scharf hervor. Außerdem ist zu bemerken, daß die Krone anhaltend danach strebt, die Prinzipien und Organisationsschemata, nach denen sich der Aufbau der ständigen Einheiten vollzieht, auch auf die Führung der nichtständigen Heeresteile zu übertragen. Auch nach dem Ausbruch der 52 Gesamtdarstellungen für das 15. und 16. Jahrhundert: Robert Doucet, Les institutions de la France au X V I e siècle, Bd. 2: La Seigneurie. Les services publics. Les institutions ecclésiastiques, Paris 1948, 608 ff.; Hélène Michaud, Les institutions militaires des guerres d'Italie aux guerres de religion, in: Revue historique 258, 1977, 29 ff.; Ilja Mieck, Die Entstehung des modernen Frankreich 1450-1610. Strukturen, Institutionen, Entwicklungen, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1982, 207 ff.
Absoluter Fürstenstaat und Heeresorganisation im Zeitalter Ludwigs XIV.
konfessionellen Bürgerkriege brechen diese Entwicklungen nicht völlig ab. Es ist kennzeichnend, daß der Regierung Ludwigs XIV. das Gesetz über das Werbemonopol der Krone vorab in einer Ordonnanz Heinrichs III. vom Jahre 1583 vorliegt. Freilich erlebt gerade dieser König mit dem tiefsten Fall der Königsmacht die äußerste Desorganisation des königlichen Heerwesens. Erst der Wiederaufstieg der Krone unter Heinrich IV., Richelieu und Mazarin gibt auch den auf ein stehendes königliches Heer gerichteten Tendenzen neuerdings Auftrieb. Auf Richelieu muß dabei besonderes Licht fallen. 53 Er betreibt, um den als unvermeidlich angesehenen Krieg gegen Spanien vorzubereiten, gleich nach seinem Amtsantritt eine beträchtliche Vermehrung der stehenden Truppen, von 60.000 Mann 1625 auf 150.000 Mann 1635, und ebenso eine Ausgestaltung des dazu erforderlichen institutionellen Rahmens. Er kümmert sich namentlich angelegentlichst um die Verbesserung des Versorgungswesens der Armee und müht sich überhaupt darum, die Effektivität der Heeresverwaltung zu steigern. 54 Auf seine Initiativen geht der erste planmäßige Einsatz von „intendants d'armée" zurück, wie er auch in der allgemeinen Verwaltung zunehmend mit den ihnen verbundenen „intendants provinciaux" arbeitet. 55 Die Ausübung der obersten militärischen Kommandogewalt erscheint ihm als unentbehrlicher Bestandteil königlicher Machtvollkommenheit. Es ist Richelieu, der 1627 das Amt des „connétable" als Oberbefehlshabers der Armee kassiert 56, ebenso wie 1626 das Amt des „grand amiral de France" als Oberbefehlshabers der Marine. 57 Er fängt auch damit an, den Einfluß der Provinzgouverneure einzudämmen.58 Seit 1626 gibt es weiterhin, nach bis in die Zeit Heinrichs III. zurück reichender Vorbereitung, einen „secrétaire d'état de la guerre" mit fest umrissener Kompetenz: auf Grund einer von Richelieu getroffenen Regelung, die erstmals die Tätigkeitsbereiche der einzelnen, bis dahin kaum voneinander geschiedenen, Staatssekretäre spezialisiert. 59 Der sogenannte „code Michau", die von Marillac redigierte große Ordonnanz vom Jahre 1629, die mit ihren in alle Belange des Staates eingreifenden Regelungen einem Grundgesetz der werdenden absoluten Monarchie gleichkommt, schreibt auch Maximen von Richelieus Militärpolitik fest: die Ordnung befaßt sich mit der Aufrechterhaltung 53 Überblick bei Carl J. Burckhardt, dinals, München 1966, 184 ff.; Parker, 59 ff.
Richelieu, Bd. 3: Großmachtpolitik und Tod des KarThe Making of French Absolutism (wie Anm. 8),
54
Vgl. dazu die einschlägigen Kapitel bei Kroener, Les Routes (wie Anm. 10). Baxter, Servants of the Sword (wie Anm. 38), 60 ff.; Richard Bonney, Political Change in France under Richelieu and Mazarin 1624- 1661, Oxford 1978, 34 ff., 263 ff. 56 Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), 325. 57 Burckhardt, Richelieu, Bd. 2: Behauptung der Macht und kalter Krieg, München 1965, 55
18.
58
Bonney, Political Change (wie Anm. 55), 284 ff.; Harding, Anatomy (wie Anm. 29), 191 ff. 59 André, Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 308; vgl. auch Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), 326 ff.; Kroener, Les Routes (wie Anm. 10), 9.
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der Disziplin im Heer; sie erneuert das Verbot von Truppenaushebungen, die nicht vom König autorisiert sind; sie stellt das Recht des Königs zur Ernennung aller Offiziere im Heer fest und bestimmt, daß dem „colonel général de l'infanterie" das Recht, die Offiziere im Bereich seiner Waffengattung zu ernennen, zu entziehen sei; sie untersagt strikt den Verkauf von Offiziersstellen; sie fordert, daß die „commissaires des guerres" von allen Soldaten der Infanterieregimenter ein „enrollement nouveau" anfertigen sollten, in dem Name, Zuname, Alter, Wohnsitz und etwaige körperliche Merkmale jedes Soldaten zu spezifizieren seien; sie verlangt die Aufnahme von Kadetten in die Kompanien der Kavallerie und Infanterie; sie regelt das Zusammenwirken der Offiziere mit den „commissaires des guerres" bei der Rekrutierung. 60 Die Heeresreform nach 1661, wie sie ganz allgemein auf der Vorarbeit Richelieus fußt, besitzt vor allem in diesen Forderungen des „code Michau" ein vorformuliertes Programm, auf das sie sich wiederholt bezieht. Zuletzt ist daran zu erinnern, daß Le Tellier, der erste der Reformminister Ludwigs XIV., bereits seit 1643 das Amt eines „secrétaire d'état de la guerre" bekleidet, nachdem er von 1640 bis zu diesem Zeitpunkt als „intendant d'armée" bei den französischen Truppen in Italien tätig gewesen ist. Durch die Praxis von Richelieus Militärpolitik hindurchgegangen, sucht er als Minister Mazarins diese Politik fortzusetzen. Sein Reformwerk nach 1661 schließt insoweit direkt an seine Tätigkeit vor 1661 an. Viele seiner neuen Erlasse sind einfach Reprisen, Rekapitulationen, Bestätigungen alter Erlasse. 61 Andererseits muß konstatiert werden, daß trotz dieser weitgehenden Fortschritte ein qualitativer Durchbruch zu einer neuen Heeresverfassung auch unter Richelieu und Mazarin noch nicht gelingt. Der seit 1630 verstärkt geführte indirekte Krieg und der 1635 beginnende offene Krieg gegen Spanien nötigen die Regierung generell zum einstweiligen Verzicht auf umstürzende institutionelle Reformen und zum einstweiligen Arrangement mit den Verhältnissen. Zwischen den Bestimmungen des „code Michau" und der Verfassungswirklichkeit beginnt ein Abgrund zu klaffen. Daß die durch den Krieg heraufbeschworene Situation besonders auf die Wirklichkeit der Heeresverfassung durchschlägt, ist fast zwangsläufig. 62 Die Kriegführung konfrontiert die Armee mit Anforderungen, denen die bisherigen institutionellen Neuerungen im Heerwesen nur unzulänglich gewachsen sind. Angesichts des stets wachsenden Bedarfs an neuen Truppenaushebungen bei gleichzeitiger Erschöpfung der königlichen Finanzen glaubt die Regierung vielmehr nicht um die Notwendigkeit herumkommen zu können, erneut und immer mehr die traditionelle 60 Nachweise: André , Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 315, 325, 327; Corvisier, Les contrôles de troupes (wie Anm. 10), 5; Major, Representative Government (wie Anm. 7), 512 f. 61 Über Le Telliers Tätigkeit vor 1661 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 45 ff., 89 ff. 62 Zur Entwicklung der Heeresverfassung nach 1635 Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10). Bd. 2, 119 ff.; Bonney, Political Change (wie Anm. 55), 259 ff.; Corvisier, La France (wie Anm. 10), 175 ff.
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Aushilfe des privaten Kriegsunternehmertums in Anspruch zu nehmen: mit allen Folgen, die sich daraus für die innere Organisation der Armee und für die Stellung der Krone gegenüber der Armee ergeben. Ein Rückblick auf die militärpolitischen Maximen des „code Michau" reicht hin, um die Reichweite dieses erzwungenen Kurswechsels zu ermessen: kaum eine dieser Maximen hat vor der Realität Bestand. Das vorformulierte Programm der Heeresreform ist weithin Programm, dessen Verwirklichung unabsehbar geworden scheint. Die Regierung hält gewiß prinzipiell an diesem Programm fest, schärft die einzelnen Punkte bei jeder nur möglichen Gelegenheit ein; von den vielen Erlassen des Kriegsministers von Mazarin ist gerade die Rede gewesen. Aber die Regierung muß hinnehmen und muß sich darauf einstellen, daß fast alle ihre Appelle fruchtlos bleiben, daß sie selbst vielfach bestimmter Praktiken, denen sie grundsätzlich abschwört, gar nicht entraten kann, um den Erfordernissen der Kriegführung zu entsprechen. Ein bemerkenswerter Teil dieses Krisenmanagements ist es, daß Richelieu und Mazarin es für geboten halten, persönliche Heerespolitik zu machen.63 Diese beiden Premierminister bauen ihre ziemlich unabhängige Stellung an der Spitze der Monarchie auch dadurch aus, daß sie möglichst viele Offiziere an sich binden, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, eine eigene Truppenmacht gewinnen, die ihnen unbedingt ergeben ist. Am Ende der Regierungszeit Mazarins gibt es in der Tat statt eines Heeres des Königs faktisch ein Heer des Kardinals. Sicher geht das nicht gegen die Krone, sondern soll das gerade den wohlverstandenen Interessen der Krone nützen. Aber von einer monarchischen Heeresverfassung ist dieser Zustand noch weit entfernt. Er ist eine der Erscheinungsformen jenes „désordre", mit dem es Ludwig XIV. bei der Übernahme der Regierung in Frankreich zu tun hat. Die Heeresreform nach 1661 hat also eine Vorgeschichte, aber sie ist, tautologisch gesprochen, die eigentliche Geschichte, um die es hier geht. Sie macht aus Ansätzen ein Ganzes, aus Konzepten Realität. Sie vollzieht den qualitativen Durchbruch zu einer neuen Heeresverfassung, der auch unter Richelieu und Mazarin noch nicht stattgefunden hat. Es ist indessen die Dialektik dieses historischen Prozesses, daß dieselbe Politik, an der ein solcher Durchbruch zuletzt gescheitert ist, schließlich jene Konstellation hervorbringt, ohne die die Heeresreform nach 1661 nicht denkmöglich ist. Die Politik Richelieus und Mazarins hat zum Ergebnis, daß Spanien mitsamt der spanischen Partei in Frankreich eine endgültige Niederlage erleidet, daß die Krone nach außen und im Innern Vormacht wird. Sie bannt damit zugleich die Gefahr eines Rückfalls in die konfessionellen Kämpfe, die so lange bestanden hat, wie Spanien sich Hoffnung machen konnte, Frankreich niederzuringen. Dieser Erfolg ist gleichbedeutend mit dem Sieg über den bisherigen Hauptgegner der Königsmacht; er ist der Akt, der die Begründung der absoluten Monarchie in Frankreich zum Abschluß bringt. Es ist richtig, daß Richelieu und Mazarin um der Kriegführung gegen Spanien willen vorläufig auf umstürzende institutionelle Reformen und damit auch auf eine grundlegende Neuordnung 63
Ranke, Französische Geschichte (wie Anm. 3), Bd. 2, Zwölftes Buch, 337 f.
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des Heerwesens verzichten. Aber sie tun das, weil es ihnen nötig erscheint, alle verfügbaren Kräfte, wo immer sie sich bieten, auf den Hauptgegner der Monarchie zu konzentrieren. Sie stellen die institutionelle Ausgestaltung hinter die existentielle Sicherung des Absolutismus zurück; die Machtfrage kommt ihnen vor der Verfassungsfrage. Major attestiert Marillac mehr absolutistische Gesinnung als Richelieu, weil er nach 1629 gegen den Kardinal den Primat der institutionellen Reform vor der Kriegführung gegen Spanien verteidigt habe.64 Man braucht noch nicht einmal auf der katholisch-spanischen Einstellung Marillacs zu insistieren, um der Fragwürdigkeit dieser Reduzierung des französischen Absolutismus auf ein Problem der Institutionengeschichte inne zu werden. Als Ludwig XIV. 1661 die Regierung ergreift, ist die Machtfrage gelöst und damit die Verfassungsfrage lösbar geworden. Er sieht überall „désordre", aber ihm sind alle Mittel gegeben, um statt dessen, in der Armee wie in den anderen Zweigen des staatlichen Lebens, „ordre" aufzurichten: „L'occasion est offerte d'affirmer une autorité nécessaire". 65 Man kann keineswegs ernsthaft behaupten, daß die Kriege Ludwigs XIV. sich auf die Heeresverfassung genauso ausgewirkt hätten wie die Kriege Richelieus und Mazarins, daß also in ihrem Gefolge wiederum eine Zerrüttung oder Deformierung des militärischen Systems eingetreten wäre. Es trifft aber zu, daß die neue Kriegsära die Virulenz gewisser struktureller Widersprüche fördert, die der Heeresreform nach 1661 von vornherein anhaften. Diese Widersprüche resultieren daraus, dass die Reform Traditionen beibehält, respektiert, fortführt, die den von ihr verfolgten Prinzipien an sich konträr oder heterogen sind. Das Erste ist, daß neben der regulären Armee andere Truppenkörper fortbestehen, deren Ursprünge bis in die Anfänge der Monarchie zurückreichen: das Lehnsaufgebot und die Milizen. Die „convocation du ban et de l'arrière-ban", die älteste Form des Heeresaufgebots, hat alle Jahrhunderte überdauert und ist auch unter Ludwig XIV. wenigstens bis zum Pfälzischen Erbfolgekrieg nachweisbar: trotz aller organisatorischen Transformationen, die diese Truppe im Laufe der Zeit durchgemacht hat, und ungeachtet der Tatsache, daß ihre Stärke wie ihr militärischer Wert seit der Einrichtung der „compagnies d'ordonnance" beständig abgenommen haben und ihre Funktion sich bald fast nur auf ihren untergeordneten Einsatz im rückwärtigen Garnisonsdienst beschränkt hat. 66 Das ebenfalls aus dem Mittelalter übriggebliebene Milizwesen erlebt unter Ludwig XIV. sogar einen ganz neuen Aufschwung. Zu den überkommenen Milizverbänden in einzelnen Städten 64
Major, Representative Government (wie Anm. 7), 518, 618 f., 672. Louis XIV, Mémoires (wie Anm. 12), 1: treffende Zusammenfassung der Argumentation des Königs durch den Herausgeber. Die eigenen Worte des Königs lauten: „En effet, tout était calme en tous lieux; ni mouvement ni crainte ou apparence de mouvement dans le royaume qui pût m'interrompre ou s'opposer à mes projets; la paix était établie avec mes voisins, vraisemblablement pour aussi longtemps que je le voudrais moi-même, par les dispositions où ils se trouvaient" (7). 65
66 Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10), Bd. 2., 115; Corvisier, Anm. 10), 134 ff.
Les Français (wie
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und Provinzen tritt am Anfang des Pfälzischen Erbfolgekrieges und wiederum am Anfang des Spanischen Erbfolgekrieges und später ständig eine allgemeine Miliz. 6 7 Grundsätzlich hat jede „paroisse" oder „communauté de métier" aus dem Kreis ihrer waffenfähigen jungen Männer einen Milizsoldaten durchs Los zu bestimmen und zu unterhalten, der jeweils zwei Jahre Dienst zu tun hat. Exemtion und Stellvertretung sind möglich, so daß die Dienstpflicht faktisch nur die unteren Bevölkerungsschichten trifft. Die Milizsoldaten rücken in regionalen Verbänden ins Feld und bilden neben den Regimentern der regulären Armee „seconds bataillons", die freilich bald regelmäßig an der vordersten Linie mitkämpfen; während des Spanischen Erbfolgekrieges werden insgesamt ungefähr 200.000 Mann aufgeboten. Daß diese „milice royale" im Zusammenhang des traditionellen Milizwesens gesehen werden muß, zeigt sich direkt daran, daß von ihr jene Provinzen ausgenommen sind, in denen noch intakte Milizen existieren. Anläufe zu einer solchen quantitativen Erweiterung der bestehenden Milizen hat es übrigens schon im 15. und 16. Jahrhundert gegeben: die „franc-archers" Karls VII. und die „légions" Franz' I. sind zweifellos eine Art königlicher Miliz. 6 8 Nur angemerkt werden soll, daß allein schon die, ebenfalls an die Vergangenheit anknüpfenden, Regelungen über Exemtion und Stellvertretung es nicht zulassen, die „milice royale" bereits im Lichte des revolutionären Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht zu sehen. Mit beiden Truppenkörpern, dem Lehnsaufgebot und den Milizen, stehen neben der regulären Armee militärische Institute, die nach ihrer Herkunft nichts mit dem Gedanken der unbeschränkten Königsmacht zu tun haben: Überreste einer alten politischen Ordnung, die noch jenseits des Ständestaates liegt. Mag dem im Hinblick auf das eher unscheinbare Lehnsaufgebot auch kaum irgendein Gewicht beigemessen werden, so ist dabei der. eklatante Ausbau des Milizwesens um so höher zu veranschlagen. Die Errichtung der „milice royale" an der Seite der regulären Armee, beim Aufzug neuer Kriegsnotwendigkeiten, denen diese offenkundig noch nicht oder nicht mehr ganz zu genügen schien, rechtfertigt es, seitdem geradezu von einer dualistischen Militärverfassung in Frankreich zu sprechen. Aber auch die Verfassung der regulären Armee selbst ist durch analoge strukturelle Widersprüche gekennzeichnet. Das stehende Heer der absoluten Monarchie 67
Allgemeine Darstellungen: Georges Girard, Racolage et milice (1701-1715), Paris 1921, 163 ff.; Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 197 ff.; ders., Les Français (wie Anm. 10), 137 ff.; Goubert, l'Acien régime (wie Anm. 10), Bd. 2, 115 f., 117 f.; Claude C. Sturgill, Le tirage au sort de la Milice en 1726 ou le début de la décadence de la Royauté en France, in: Revue historique des armées 3, 1975, 27 ff. Regionalstudien: Claude C. Sturgill, Les miliciens de Dijon en 1722, in: Annales de Bourgogne 46, 1974, 115 ff.; ders., L'administration des bataillons de la milice en Auvergne 1726- 1730. in: Bulletin historique et scientifique de l'Auvergne 86, 1975, 391 ff.; Robert Molis, L'armée d'ancien régime. Milice, miliciens et recrues au bataillon de Saint-Gaudens, in: Revue de Comminges 88, 1975, 409 ff.; Michel Bodin, Un exemple de recrutement de la milice provinciale. Tours au XVIII e siècle, in: Revue historique des armées 4, 1980, 3 ff. 68 Dazu Doucet, Les institutions (wie Anm. 52), Bd. 2, 629 f., 638 ff., sowie Mieck, Die Entstehung (wie Anm. 52), 209 f.
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bewahrt Merkmale eines früheren Heerwesens in sich auf. Auf älteste Wurzeln läßt sich das letztlich unangefochtene Privileg des Adels zurückführen, die höheren Offiziersstellen in der Armee zu besetzen. Alle Bemühungen der Krone, den Anteil Bürgerlicher am Offizierskorps zu vermehren, ändern nichts daran, daß adelige Kommandeure vor allem an der Spitze der Regimenter und Kompanien eindeutig überwiegen: die seit dem Niedergang des Lehnstaates zeitgemäße Form der feudalen Vasallität, die in der „convocation du ban et de V arrière-ban" nur noch eine unzeitgemäße Randexistenz zu Ende lebt. Die Auffassung des Adels als eines „ordre militaire" ist auch der Krone immer noch so selbstverständlich, daß gelegentliche Abweichungen als bloße Ausnahme von der Regel erscheinen.69 Diese Vorzugsstellung wird, nach dem Vorgang des alten Söldnerheeres, untermauert durch die Tradierung von Gewohnheiten jenes privaten Kriegsunternehmertums, das die Heeresreform hauptsächlich zu überwinden gesucht hat. Dahinter, daß die „colonels" der Regimenter und die „capitaines" der Kompanien nur noch auf Rechnung und unter strengster Kontrolle des Königs rekrutieren, führt zwar kein Weg mehr zurück. Auch etwaige kriegsbedingte Vorschüsse der Werbeoffiziere haben niemals zur Folge, daß sich geradezu die früheren Usancen einnisten. Aber die „colonels" und „capitaines", jeweils mit pauschalen Rekrutierungsgeldern versehen, haben auch bei strikter Einhaltung der geltenden Vorschriften einen hinreichend großen Spielraum, um ihren eigenen Vorteil wahrzunehmen. Sie machen nicht nur in jedem Fall ein gutes Geschäft, sondern haben es auch weitgehend in der Hand, sich über die Rekrutierung eine Klientel zu sichern, die ihre persönliche Reputation innerhalb und außerhalb der Armee vergrößert. Mancher adelige Werbeoffizier stellt einfach Leute ein, die in seiner Grundherrschaft dienen, und überträgt damit die seigneuriale Abhängigkeit oder Loyalität auf die militärische, verstärkt diese durch jene und umgekehrt. 70 Solchen Interessen kommt zustatten, daß es die Krone im allgemeinen nicht vermag, die Ämterkäuflichkeit im Bereich dieser „officiers des régiments" abzuschaffen: außerstande, früher verkaufte Stellen zurückzukaufen, wird sie vielmehr durch den unveränderten Geldmangel oder Geldbedarf noch gezwungen, neue Stellen zu verkaufen. 71 Ähnliche Klientelverhältnisse wie in Regimentern und Kompanien bilden sich im Laufe der Zeit in der Armeeverwaltung heraus. Auch die „intendants d'armée", diese Männer des königlichen Vertrauens par excellence, zögern nicht, die von ihnen abhängigen Stellen mit Männern ihres eigenen Vertrauens zu besetzen.72 Die Personalpolitik der Familie Le Tellier in der Zentralregierung demonstriert die gleiche Haltung auf höchster Ebene.73 Es ist unausweichlich, daß die Kriegszeiten erheblich dazu beitragen, alle 69 Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 200; Corvisier, Les Français (wie Anm. 10), 73 ff.; ders., Clientèles (wie Anm. 10), 219. 7 0 Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 171; ders., Clientèles (wie Anm. 10), 218 ff. 71 André, Michel Le Tellier et l'organisation (wie Anm. 10), 201 f.; ders., Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 316 f. 72 Corvisier, Clientèles (wie Anm. 10), 214 ff.
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diese von vergangenen Zuständen herrührenden Momente zu potenzieren. Dazu schafft der Krieg unablässig konkrete Probleme der Heeresorganisation, durch die vorher vielfach latente Unzulänglichkeiten akut werden. Wenn die Regierung etwa vorschreibt, daß ein Rekrut sich freiwillig zu verpflichten habe, dann trägt sie in der Kriegspraxis keinerlei Bedenken, die schlimmsten Methoden der „racolage" zu dulden und selbst anzuempfehlen, um allzu groß gewordene Lücken in einzelnen Verbänden zu schließen oder die Mannschaften für neue Verbände aufzubringen. 74 Vor allem aber führt die jederzeit labile Finanzlage dazu, daß die Armeeverwaltung oftmals in Engpässe gerät, aus denen sich leicht Exzesse im Stile früherer Kriege entwickeln.75 Dennoch ist evident, daß die Heeresreform an diesen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten nicht zerbricht, sondern sich, auch unter der Anspannung der Kriege, durchaus bewährt. Der Grund ist nicht nur, daß das Reformsystem die hinlängliche Überlegenheit besitzt, alles ihm Entgegenstehende oder von ihm Abweichende zurückzudrängen oder niederzuhalten. Was am meisten hervorsticht, ist, daß die Krone damit Erfolg hat, dies alles gewissermaßen in ihr System einzubeziehen, sich dies alles, ohne es in seiner Besonderheit anzutasten, zu unterwerfen und dienstbar zu machen. Das Lehnsaufgebot und die Milizen, die die Krone neben der regulären Armee unterhält, sind Überreste einer alten Ordnung. Aber sie sind gleichzeitig fest in die neue Ordnung eingegliedert: Instrumente der königlichen Kriegführung, unter königlichem Kommando und königlicher Kontrolle. Wenn die Errichtung der „milice royale" dazu berechtigt, von der Entstehung einer dualistischen Militärverfassung zu sprechen, so besteht andererseits aller Anlaß zu der Feststellung, dass es sich dabei um eine integrierte Militärverfassung handelt, in der die Integrierung von der regulären Armee ausgeht. Diese Miliz wird jeweils nach den Direktiven des „secrétaire d'état de la guerre" und unter der unmittelbaren Leitung der „intendants provinciaux" rekrutiert, unter dem Kommando abgedankter Offiziere der regulären Armee formiert und ausgebildet, im Feld in die Reihen der regulären Armee gestellt, meist den regulären Verbänden inkorporiert: die Reserve der regulären Armee, ihr eingeordnet, von der in ihr herrschenden Disziplin und Mentalität durchdrungen. Daß die „milice royale" sicher der notorischen Abneigung der französischen Bevölkerung gegen das Militär neue Nahrung gegeben hat, ist nur das eine. Das andere ist, daß sie unter der Bevölkerung zusammen mit dem Geist der militärischen Subordination noch am ehesten den Geist einer Identifizierung, wenn 73 André, Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 579 ff.; Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 180; Corvisier, Louvois (wie Anm. 10), 130 ff. 74 André, Michel Le Tellier et Louvois (wie Anm. 10), 332 f.; Corvisier, L'armée française (wie Anm. 10), Bd. 1, 189 ff. 75 Zur Kriegsfinanzierung in der Zeit Ludwigs XIV. vgl. Goubert, L'Ancien régime (wie Anm. 10), Bd. 2, 121 ff.; Henry Germain-Martin, Le financement des guerres de Louis XIV et les trésoriers de l'extraordinaire des guerres, in: Revue des travaux de l'Académie des sciences morales et politiques 125, 4, 2, 15 ff.
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nicht mit der Armee als Institution, so doch mit den militärischen Anstrengungen und Erfolgen der Krone verbreitet und damit eine der Monarchie günstige Gesinnung zu erzeugen oder wachzuhalten hilft. Wie es Ranke unnachahmlich ausgedrückt hat: „Der Bauer fluchte, wenn er die Steuer zu zahlen hatte; mit dem Reste seines Geldes begab er sich dann in das Wirtshaus, um mit seinem Nachbar zu schwatzen; den Gegenstand ihres Gesprächs bildeten die Kriegsereignisse: in Gedanken eroberten sie Festungen, gewannen Schlachten und nahmen teil an den kriegerischen Großtaten ihrer Landsleute; sie endigten damit, auf die Gesundheit des Königs und der namhaftesten Kriegsführer zu trinken." 76 Ähnlich aufgehoben erscheinen die der Verfassung der regulären Armee selbst inhärenten Widersprüche. Das Offiziersprivileg des Adels setzt der Verfügung der Krone über die Offiziersstellen eine Grenze, hat aber auch den Sinn, den „ordre militaire" für immer mit der Krone zu verbinden. Der in der Fronde geschlagene Adel hat kaum eine realistische Chance, sich dieser königlichen Strategie zu entziehen, und wird auch von sich aus immer mehr bereit, den Offiziersdienst in der neuen Armee des Königs als exklusiven Ruhmestitel seines Standes zu empfinden. Es wäre abwegig, die Spannungen zu verkennen, die sich auch jetzt zwischen der Krone und dem „ordre militaire" einstellen oder einstellen können. Selbst adelige Offiziere, die dem König am loyalsten dienen, bleiben so weit von ihrer Herkunft geprägt, daß sie sich gegen eine völlige Gleichschaltung sperren. Ein militärisches Debakel kann auch in ihnen oppositionelle Motive wachrufen. Aber es ist nicht zu bezweifeln, daß die Krone, aufs Ganze gesehen, mit ihren Intentionen obsiegt.77 Was die Gewohnheiten privaten Kriegsunternehmertums bei den „colonels" und „capitaines" betrifft, so können sie ebenfalls zur Funktion königlicher Interessen werden oder brauchen sie ihnen zumindest nicht zu schaden. Die Werbeoffiziere haben pauschale Rekrutierungsgelder zu ihrer Verfügung; aber es sind königliche Gelder, die sie in direkter Verantwortung vor der Krone verwalten. Sie suchen im Vollzug der Anwerbung persönliche Klientelverhältnisse zu begründen oder zu befestigen; aber sie unterbinden dabei soldatische Loyalität gegenüber der Krone um so weniger, als das Prestige der Patrone wesentlich in deren Rang als königlicher Offiziere besteht und als der Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Klientel häufig einen militärischen Korpsgeist hervorruft, der wiederum der Qualität des militärischen Dienstes zugute kommt. 78 Daß es auch weiterhin üblich ist, die Stellen der „officiers des régiments" zu verkaufen, stellt ganz gewiß eine klare Negierung dessen dar, was die Heeresreform ursprünglich beabsichtigt hat. Aber einmal sichert diese Übung der Krone Einkünfte in Zeiten, in denen die Steuereinnahmen hinter dem Finanzbedarf des Staates zurückbleiben: das ist die, wenn auch sicherlich immer prekäre, Legitimierung des Instituts der Ämterkäuflichkeit überhaupt. Zum andern erlangt die Krone auch unter diesen Umständen Einfluß auf die Beset76 77 78
Ranke , Französische Geschichte (wie Anm. 3), Bd. 2, Sechzehntes Buch, 95. Ebd., Zwölftes Buch, 340; Corvisier, Les Français (wie Anm. 10), 78 ff. Corvisier, Clientèles (wie Anm. 10), 230 f., 236.
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zung der Offiziersstellen. Sie weiß durchzusetzen, daß es keinen Automatismus des Stellenverkaufs gibt, sondern daß sie sich die Prüfung der Kandidaten vorbehält und es von ihrem Ermessen abhängt, wer die Stelle kaufen darf. Auch wenn manche Stellen wenigstens zeitweise in Familienbesitz übergehen, ist daraus nicht zu folgern, daß die Krone etwa jeweils auf ihr Prüfungs- und Entscheidungsrecht verzichtet hätte.79 Von den Klientelverhältnissen innerhalb der Armeeverwaltung ist zu bemerken, daß sie gewöhnlich dazu beitragen, die Administration mit tüchtigem Personal zu versorgen. Wenn ein „intendant d'armée" seine Verwandten und Freunde fördert, dann auch, um sich solcher Beamter zu versichern, die in der Lage sind, seine amtlichen Zielvorstellungen zu erfassen und zu realisieren. 80 Daß fernerhin die Rivalisierung von Ministerdynastien ins Arsenal königlicher Regierungskunst gehört hat, ist allgemein bekannt.81 Fast unnötig zu sagen, daß auch die gelegentlichen Unzulänglichkeiten der Heeresorganisation in Kauf genommen werden können, wenn sie wenigstens kurzfristige Problemlösungen verheißen. Die „racolage" ist offiziell verboten; aber wenn sie dem König die Soldaten liefert, die er braucht und anders nicht bekommen kann, ist sie nützlich. Ausschreitungen, die sich aus finanziellen Engpässen entwickeln, sind bedauerlich; aber wenn die notwendige Versorgung der Truppen fürs erste keinen anderen Ausweg läßt, sind sie naturgemäß hinzunehmen. Aus einem Vergleich dieser Verhältnisse mit dem allgemeinen politischen System der Monarchie sind zwei Erkenntnisse zu ziehen. Offensichtlich ist, daß die Konservierung traditioneller Strukturen neben und in dem militärischen Reformwerk mit den Zuständen übereinstimmt, die der Staat Ludwigs XIV. auch sonst darbietet. Sie bestätigt, worüber seit jeher Einigkeit erzielt werden konnte: daß diese Monarchie, weit entfernt von monolithischer Geschlossenheit, durch ein komplexes Nebeneinander neuer und alter, absolutistischer und ständisch-feudaler Institutionen, Tendenzen, Motive charakterisiert ist. Lehnsaufgebot, Milizen, Adelsprivileg, Patronage, Ämterkäuflichkeit, Mängel der Heeresorganisation: die Entsprechungen, Parallelen, Analogien in anderen Bereichen springen ins Auge. Die Betrachtung der Heeresverfassung legt aber noch eine weitere Konsequenz nahe: daß die Komplexität des französischen Absolutismus nicht etwa den Schluß auf eine strukturelle Schwäche dieses Systems erlaubt. Es spricht vielmehr alles dafür, daß die Krone nicht nur im Heerwesen, sondern auch auf dem Feld der allgemeinen Regierung und Verwaltung vor den traditionellen Strukturen weniger haltmacht oder zurückweicht als vielmehr darauf abzielt, sie in den eigenen Herrschaftsapparat einzubauen, und daß sie das weitgehend erreicht. Wer diese Politik als ein Zeichen von Schwäche ansieht, der mißt den Staat Ludwigs XIV. dem anachronistischen Moden einer perfekten, womöglich „totalen" Staatsverfassung. Die Heeresverfassung bekräftigt, daß es der Regierung Ludwigs XIV. nicht um ein ab79 Ebd., 219. so Ebd., 217. 8i Dazu Weis, Frankreich (wie Anm. 5), 180.
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straktes Ziel monarchischer Allmacht zu tun ist, sondern um das konkrete Ziel, die überkommene Königsmacht im Gesamtrahmen der überkommenen politischen Situation so weit zu stärken, wie ihr das im Angesicht bestimmter politischer Herausforderungen notwendig zu sein scheint. Der Gedanke der absoluten Monarchie ist ihr der Inbegriff einer konkreten Politik in einer konkreten politischen Lage. Die völlige Einebnung oder Vernichtung der bestehenden ständisch-feudalen Strukturen im Namen eines absolutistischen Prinzips liegt dieser Regierung ganz außerhalb alles politischen Wollens und alles politischen VorstellungsVermögens. Was sie will und wollen muß, ist, diese Strukturen zu dominieren: nicht mehr und nicht weniger. Es ist eine reine Frage machtpolitischer Zweckmäßigkeit, wie weit dabei die Grenze gezogen wird. Richelieu und Mazarin halten es im Existenzkampf gegen Spanien noch für unumgänglich, eine vorher geplante institutionelle Reform zunächst zu sistieren. Die Heeres Verfassung unter Ludwig XIV. zeigt, dass die Krone sich seitdem ein institutionelles System aufgebaut hat, das in seinen Grundfesten auch in neuen Kämpfen nicht wirklich erschüttert werden kann. Die Krone hat also jene Grenze qualitativ hinausgeschoben, aber innerhalb derselben Grundkonstellation, die sie als solche niemals in Frage stellt. Wer die Regierung Ludwigs XIV. an diesen Maximen ihres Handelns mißt, wird sie erfolgreich finden. Eine ganz andere Sache ist, daß die Krone im Fortgang ihrer Politik vor neue Probleme gestellt wird, deren Lösung auf Dauer eine neue Grundkonstellation erfordert und die damit auf Dauer einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen dem Königtum und den überkommenen ständisch-feudalen Strukturen heraufbeschwören müssen, an dem die Monarchie schließlich zerbricht. Diese seit der Spätzeit Ludwigs XIV. erkennbare Wendung signalisiert keineswegs, daß sich die absolute Monarchie in Frankreich von Anfang an in einer Krise befunden hätte; sie hat vielmehr gerade die definitive Lösung der alten Probleme und mit ihr die gelungene Integrierung der alten Strukturen zur Bedingung. Wenn man will, wird durch diese Interpretation die ältere Auffassung über die Natur des französischen Absolutismus erneuert. Die „revisionistische" Schule hat immerhin das Verdienst, daß sie durch die eindringliche neue Beleuchtung an sich schon bekannter Phänomene der Suggestion eines vollkommenen absolutistischen Zwangsstaates, von der die ältere Forschung nicht immer ganz frei gewesen ist, endgültig alle Grundlagen entzogen hat.
Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland Otto Vossler zum 80. Geburtstag am 14. Februar 1982 Der Physiokratismus ist ungeachtet seiner zeitweiligen europäischen Bedeutung zunächst und hauptsächlich ein französisches Phänomen.1 Seine eigentliche Geschichte beginnt, kulminiert und endet in Frankreich, ist ein Stück französischer Geschichte, im strengen Sinne beschränkt auf die kurze Periode vom Erscheinen des „Tableau économique" von Quesnay im Jahre 1758 bis zur Entlassung Turgots im Jahre 1776. Die Begründer und Wortführer der physiokratischen Bewegung, neben Quesnay und Turgot vor allem der ältere Mirabeau, Dupont de Nemours, Mercier de la Rivière, Baudeau, sind nicht nur durchweg Franzosen, sondern sind auch, unbeschadet ihres Anspruchs auf Allgemeingültigkeit, ganz auf die französischen Verhältnisse eingestellt: sie gehen von bestimmten Gegebenheiten in Frankreich aus, suchen für sie ein geeignetes Konzept zu entwickeln, wenden sich daher primär an ein französisches Publikum, wollen primär in Frankreich wirken. Das gilt gleichermaßen für ihre Wirtschaftslehre wie für ihre Staatslehre, gilt aber vornehmlich für ihr hier interessierendes Verhältnis zum Absolutismus. Alle ihre Feststellungen zum Problem des Absolutismus sind orientiert an der Realität der absoluten Monarchie in Frankreich. Der außerfranzösische Physiokratismus ist dagegen ein ausgesprochenes Sekundärphänomen: aus Frankreich übernommen, gleichwohl den jeweiligen durchaus heterogenen Umständen angepaßt, dadurch immer schon qualitativ verfremdet, jedenfalls im Rahmen der gesamten Bewegung nur von partieller oder marginaler Bedeutung. Die Geschichte der Physiokratie kennt außerhalb Frankreichs kaum einen wirklich erwähnenswerten Autor und muß auch den physiokratischen Reformansätzen in verschiedenen europäischen Ländern eine eher untergeordnete Rolle zubilligen. Diese Vorbemerkung erscheint notwendig, um die thematische Anlage des folgenden Referats zu rechtfertigen. Das Schwergewicht liegt auf dem Verhältnis der französischen Physiokraten zum Absolutismus, d. h. zur absoluten Monarchie in Frankreich, während auf die deutsche Physiokratie lediglich in einem knappen Anhang hingewiesen werden soll. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für historische Forschung 9, 1982, 15-46. Der nachfolgende Aufsatz gibt den um Anmerkungen erweiterten Text eines Referates wieder, das dem 4. deutsch-sowjetischen Historikertreffen in Moskau vom 18. bis zum 25. Oktober 1981 vorgelegen hat. 1
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Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland Daß das Absolutismus-Problem das Denken der französischen Physiokraten kei-
neswegs nur äußerlich betrifft, sondern vielmehr umgekehrt direkt ins Zentrum der von ihnen ausgearbeiteten Doktrin führt, ist in der Forschung unumstritten, seit man aufgehört hat, die physiokratische Lehre als abstrakte nationalökonomische Theorie zu betrachten, und auf ihre politisch-gesellschaftliche Seite aufmerksam geworden ist. 2 Freilich gehen dabei die Interpretationen immer noch beträchtlich auseinander. Sie reichen von der Vorstellung, daß die Physiokraten unmittelbare Vörbereiter der Französischen Revolution seien, bis zur Behauptung eines spezifisch physiokratischen Absolutismus, der auf die Verteidigung und Stärkung des herrschenden politischen Systems abgezielt habe. 3 Die meisten Deutungen ver-
2 Die letzte Arbeit über die Einstellung der Physiokraten zum Absolutismus, zugleich die erste umfassende Erörterung dieser Problematik, stammt von Folkert Hensmann, Staat und Absolutismus im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot, Frankfurt a. M. 1976. Diese Frankfurter Dissertation knüpft teilweise an Seminardiskussionen an, die unter meiner Leitung am Historischen Seminar in Frankfurt stattgefunden haben, und nimmt daher manche der im folgenden vorgetragenen Thesen vorweg. Meine eigene Reprise ist um so eher gerechtfertigt, als gleichwohl immer noch beträchtliche Differenzen zwischen der Auffassung Hensmanns und der meinigen bestehen. Daß ich andererseits der Arbeit von Hensmann viele neue Anregungen verdanke, möchte ich ausdrücklich bemerken und werde ich im einzelnen an gegebener Stelle nachweisen. Hensmann verzeichnet die gesamte ältere Literatur. Aus ihr soll hier allein der grundlegende Aufsatz von Heinz Holldack herausgehoben werden: Der Physiokratismus und die absolute Monarchie, in: Historische Zeitschrift 145, 1932, 517 ff., wiederabgedruckt in: Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hrsg.), Der aufgeklärte Absolutismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 67), Köln 1974, 137 ff.; hier wird nach dieser letzteren Ausgabe zitiert. Gleichzeitig mit der Arbeit von Hensmann ist eine neue Gesamtdarstellung über die Ursprünge der Physiokratie erschienen, die auch auf das Verhältnis der Physiokraten zum Absolutismus eingeht: Elizabeth Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy. Economic Revolution and Social Order in Eighteenth Century France, Ithaca/ London 1976. Vgl. von derselben Autorin: The Physiocratic Model and the Transition from Feudalism to Capitalism, in: Journal of European Economic History 4, 1975, 725 ff., und: Physiocracy and the Overthrow of the Ancien Régime, in: Proceedings of the 3 r d Meeting of the Western Society for French History, Denver 1975 (1976), 156 ff. Ich nenne schließlich aus einer Vielzahl weiterer in jüngster Zeit erschienener Beiträge zu einzelnen Problemen des Physiokratismus: Peter Bürger/Gerhard Leithäuser, Die Theorie der Physiokraten. Zum Problem der gesellschaftlichen Funktion wissenschaftlicher Theorien, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 3, Heidelberg 1976, 355 ff.; Heinrich Häufle, Aufklärung und Ökonomie. Zur Position der Physiokraten im siècle des Lumieres (Münchener Romanistische Arbeiten, Bd. 48), München 1978. 3 Vgl. dazu Karl Erich Born, Vom aufgeklärten Absolutismus zum Liberalismus. Die politischen Ideen des französischen Reformministers Turgot in: ders. (Hrsg.), Historische Forschungen und Probleme, Peter Rassow zum 70. Geburtstag dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern, Wiesbaden 1961, 181 ff., hier 182, Anm. 1: die Physiokraten „erscheinen in der Literatur als direkte Vorbereiter der französischen Revolution und als geistige Vorläufer einer besonderen Art Tyrannei, die man als demokratischen Despotismus bezeichnet' (Tocqueville), auf der anderen Seite sieht man sie als Reformer des aufgeklärten Absolutismus und Verteidiger der alten Monarchie (A. Wahl, G. Weulerssee, M. Göhring) und auch als geistige Wegbereiter des Liberalismus (M. Göhring)". Born selbst unterscheidet zwischen absolutistischen und parlamentarisch-liberalen Physiokraten und will am Fall Turgots „die
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suchen eine vermittelnde Lösung, indem sie diesen Widerspruch in den Physiokratismus selbst hineinverlegen und eine Spannung zwischen absolutistischen und revolutionären Tendenzen konstatieren. Der Physiokratismus erscheint unter dieser Perspektive als Sonderform oder Variante des sogenannten aufgeklärten Absolutismus; dabei wird vorausgesetzt, dass diesem politischen Typus eine Gegensätzlichkeit von Absolutismus und Aufklärung eigentümlich sei. Heinz Holldack hat schon 1932 in seinem Aufsatz über den Physiokratismus und die absolute Monarchie diese bis heute dominierende These klassisch formuliert: die Schriften der Physiokraten zeigten „die beiden sich widersprechenden Entwicklungstendenzen des aufgeklärten Despotismus, von denen die eine auf eine immer stärkere Machtkonzentration in der Hand des einen Herrschers abzielte, während die andere von innen her dem in Jahrhunderten mühsam errichteten Bau die gedanklichen Grundlagen entzog".4 Diese These hat nicht nur sozusagen den formallogischen Vorzug, daß sie die beiden anderen einander entgegengesetzten Thesen in einer übergeordneten Position vereinigt, sondern weist auch, inhaltlich gesehen, zweifellos in die richtige Richtung, kann und muß als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen dienen. Wenn man unter dem Begriff des aufgeklärten Absolutismus die systematische Einbeziehung aufklärerischer Forderungen in die Theorie und Praxis der absoluten Monarchie versteht, dann ist der Physiokratismus dafür in der Tat ein paradigmatischer Fall. 5 Diese These fordert aber dadurch grundsätzlichen Einspruch heraus, gedankliche Wende vom aufgeklärten Absolutismus zum Liberalismus" aufzeigen (182). Von den gegenwärtigen Autoren läßt sich Fox-Genovese (wie Anm. 2) der „revolutionären" und Hensmann (wie Anm. 2) der „absolutistischen" Interpretationsrichtung zuordnen, obwohl beide in gewisser Weise immer auch auf die entgegengesetzte Deutung reflektieren und sich damit einer starren Festlegung entziehen. Fox-Genovese hat primär „physiocratic contributions to the undermining of the ancien régime" zum Thema: „The physiocrats remained as deeply committed as any divine-right-absolutist to the notion of a divine order that governed collective social life. Nonetheless, by transferring the locus of authority from the summit of a hierarchy to the individual embodiments of the economic process, they effected a major theoretical revolution. In their thought, the traditional community reemerged, at least potentially, as the sovereign nation. The political language and practice introduced during the Revolution would set the final seal on their legacy" (Physiocracy and the Overthrow of the Ancien Régime, 162). Umgekehrt geht es Hensmann primär um die „Verbindung von Physiokratie und Absolutismus", auf die er den Begriff des physiokratischen Absolutismus anwendet: „Die physiokratische Lehre war ein Versuch, den bestehenden französischen Absolutismus zu retten und zu reformieren. Sie war dabei auf die spezifischen Verhältnisse des Ancien Régime zugeschnitten und auf die Staatsform des Absolutismus ausgerichtet. Die physiokratische Lehre muß in erster Linie als Reformtheorie für den Absolutismus verstanden werden" (304 u. 310). 4
Holldack, Physiokratismus (wie Anm. 2), 138. Die Dominanz dieser Auffassung erhellt aus den übrigen Beiträgen des Aretinschen Sammelbandes (wie Anm. 2); vgl. zusammenfassend die Einleitung von Aretin, ebd., 11, 18, 20 f. u. 37. 5 Diese Feststellung setzt voraus, daß der Physiokratismus zur Aufklärung gehört. Wenn neuerdings Bürger I Leithäuser, Theorie (wie Anm. 2) und Häufle, Aufklärung (wie Anm. 2) eine Differenz zwischen Aufklärern und Physiokraten annehmen, so liegt dem offensichtlich 7 Muhlack
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daß sie dem aufgeklärten Absolutismus im allgemeinen und dem Physiokratismus im besonderen „widersprechende Entwicklungstendenzen44 zuschreibt oder unterstellt. Demgegenüber soll im folgenden vielmehr gerade die innere Einheit dieser Phänomene nachgewiesen werden. Zunächst ist deutlich zu machen, daß die bloße Möglichkeit eines aufgeklärten Absolutismus einen Primat der Gemeinsamkeit zwischen Absolutismus und Aufklärung voraussetzt. Auf diesem Hintergrund ist sodann die eigentümliche Geschlossenheit des Physiokratismus aufzuzeigen. Die These lautet, daß absolutistische und revolutionäre Tendenzen in der physiokratischen Doktrin keine Gegensätze bilden, sondern aufs engste zusammengehören. Es ist ersichtlich, daß davon auch wiederum Rückwirkungen auf das Gesamtverständnis des aufgeklärten Absolutismus ausgehen müssen. Die Untersuchung des Physiokratismus wird gerade auch unter diesem Aspekt zur paradigmatischen Fallstudie. Die vorrangige Übereinstimmung zwischen Absolutismus und Aufklärung, wie sie im Typus des aufgeklärten Absolutismus in Erscheinung tritt, resultiert aus der ursprünglichen Gemeinsamkeit des Gegners. Beide sind im Gegensatz gegen Konfession und Kirche entstanden, keinesfalls in dem Sinne, daß sie dieselben schlechthin negieren, aber dergestalt, daß sie sie ihrem jeweiligen Anspruch unterwerfen oder unterordnen. Der Absolutismus befreit den Staat von der Geltung des konfessionellen Prinzips; die Aufklärung befreit das Denken überhaupt von den Fesseln konfessionell-kirchlicher Tradition und Autorität. Der Absolutismus postuliert die Autonomie des Staates; die Aufklärung postuliert die Autonomie des Denkens. Der Absolutismus bestimmt den Staat durch die immanente Staatsräson; die Aufklärung bestimmt das Denken durch die immanente Vernunft. Absolutismus und Aufklärung sind also in gleicher Weise Momente des neuzeitlichen Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesses, der allenthalben aus der bisherigen konfessionell-kirchlichen Gebundenheit herausführt. Es ergibt sich daraus die notwendige Folge, daß eigentlich von vornherein eine enge Symbiose oder Kommunikation zwischen Absolutismus und Aufklärung vorwaltet. Absolutistisch regierende Fürsten oder Minister suchen Aufklärer zu engagieren, verwirklichen faktisch durch ihre Politik aufklärerische Forderungen, bedienen sich aufklärerischer Terminologie als zusätzlichen Mittels zur Legitimierung ihrer Herrschaft oder Regierung. Umgekehrt betrachten die Aufklärer solche Fürsten oder Minister ihrerseits als potentielle Verbündete oder Adressaten. Der aufgeklärte Absolutismus stellt, ohne von dem klassischen Absolutismus qualitativ verschieden zu sein, lediglich eine Spätform dieses durchgängigen Verhältnisses dar.
ein eingeschränktes literarisch-philosophisches Verständnis von Aufklärung zugrunde. Vgl. aber schon Ernst Troeltsch, Art. Aufklärung, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 2, Leipzig 1897, 225 ff., wiederabgedruckt in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Zwölf Aufsätze, München 1976, 245 ff., hier 263, wo die Physiokraten zutreffend als Bestandteil der Aufklärungsbewegung erscheinen.
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Andererseits ist völlig evident, daß Absolutismus und Aufklärung in dieser Übereinstimmung nicht aufgehen, vielmehr auf Dauer unvereinbar sind und daher schließlich auseinandertreten. Der Absolutismus proklamiert die Autorität des Fürsten; dagegen erkennt die Aufklärung nur die Autorität der Vernunft an, unter die sich auch die Autorität des Fürsten beugen muß. Der Absolutismus fordert die Alleinherrschaft des Fürsten; dagegen gründet die Aufklärung den Staat vermittels ihrer Modelle eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages auf die Zustimmung der Individuen. Es liegt also in der Konsequenz der Aufklärung, über den Absolutismus hinauszugehen und sich erst in einem Staat nach dem Ebenbild der Französischen Revolution zu erfüllen. Der Bruch zwischen Absolutismus und Aufklärung ist daher unabwendbar. Im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus wird diese Transformation der Aufklärung zur Gegenstellung gegen den Absolutismus unmittelbar vollzogen. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß auch der Absolutismus selbst über sich hinausreicht, aus sich selbst Ansätze zum nachabsolutistischen Staat hervorbringt. Daß die absolute Monarchie in Frankreich durch die von ihr geschaffene geographisch-administrative Einheit des Staates und durch die unter ihr vollzogene Bildung eines politisch nivellierten Untertanenverbandes die revolutionäre Nationalstaatsbildung entscheidend vorbereitet hat, ist seit Tocqueville bekannt. Die schließliche Abkehr der Aufklärung vom Absolutismus hat in dieser Disposition des Absolutismus zur Selbstaufhebung ihre Entsprechung, ja, geradezu eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Sogar der Bruch zwischen Absolutismus und Aufklärung bezeugt also die prinzipielle Kongruenz oder Analogie. Im Grunde verläuft die Bruchlinie nicht zwischen Absolutismus und Aufklärung, sondern jeweils innerhalb des Absolutismus und der Aufklärung: indem diese jeweils nach innerer Logik über ihre ursprünglichen Positionen hinausgelangen. Zugleich ist deutlich, daß es sich dabei in beiden Fällen nicht um eine abrupte Zäsur, sondern um Kontinuität handelt: um eine Entwicklung, die als einheitlicher Wirkungszusammenhang begriffen werden muß.6 6 Diese Überlegungen stehen im Gegensatz zu jener Meinung, wie sie Aretin in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband über den aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 2) resümiert und zuspitzt. Vgl. etwa ebd., 43: „Aufklärung und Absolutismus schließen sich in letzter Konsequenz aus." Der Analogie von Absolutismus und Aufklärung entspricht zugleich eine Analogie des klassischen und des aufgeklärten Absolutismus also zwischen Ludwig XIV. und Joseph II. oder Friedrich d. Gr. Diese letztere Analogie wird vielfach mit unzulänglichen Argumenten bestritten. Ein neues Beispiel liefert Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776-1847 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4), Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, 36 ff. Er nennt zwei hauptsächliche Unterschiede zwischen dem klassischen und dem aufgeklärten Absolutismus. Der erste Unterschied betrifft die theoretische Selbstrechtfertigung: danach bezieht sich der klassische Absolutismus auf das Gottesgnadentum, dagegen der aufgeklärte Absolutismus auf einen Gesellschafts- und Herrschafts vertrag; demgemäß soll für den klassischen Absolutismus die Vorstellung einer Identität von Fürst und Staat, dagegen für den aufgeklärten Absolutismus der Grundsatz, daß der Fürst der erste Diener des Staates sei, maßgeblich sein. Der zweite Unterschied betrifft die innerpolitischen Zielvorstellungen und Regierungsmaßnahmen: danach akzeptiert der klassii*
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Die französische Physiokratie ist in dieses Koordinatensystem von Absolutismus und Aufklärung einzuordnen. Die Physiokraten verlangen eine umfassende Reform des überkommenen Systems. Sie verlangen aber nicht die Abschaffung oder Überwindung des Absolutismus, im Gegenteil: sie gehen von der Gegebenheit der absoluten Monarchie aus, sehen in ihr das geeignete Instrument zur Durchsetzung ihrer Reformvorstellungen, präsentieren sich zugleich als Vorkämpfer absolutistischer Politik. Jedoch ist in der physiokratischen Auffassung des Absolutismus zugleich die Möglichkeit enthalten und teilweise auch schon realisiert, die absolute Monarchie zu transzendieren, den Absolutismus in ein politisches System umschlagen zu lassen, wie es kurz darauf durch die Französische Revolution geschaffen wird. Worauf es ankommt, ist, daß diese beiden Momente, die Begründung und die Transzendierung des Absolutismus, nicht unvermittelt oder widersprüchlich nebeneinander stehen, sondern eine und dieselbe Sache sind: dieselben Argumente, die zur Begründung des Absolutismus angeführt werden, implizieren auch die Transzendierung des Absolutismus. Die Physiokraten repräsentieren oder exponieren damit alle wesentlichen, das Verhältnis zwischen Absolutismus und Aufklärung konstituierenden Bezüge: die ursprüngliche Übereinstimmung zwischen Absolutismus und Aufklärung, indem sie sich zur absoluten Monarchie bekennen; die aufklärerische Überwindung des Absolutismus, indem sie gleichzeitig den Übergang zu einem nachabsolutistischen Staat einleiten; die beginnende Selbstaufhebung der absoluten Monarchie, die sie dadurch gleichsam auf den Begriff bringen. Der französische Physiokratismus besitzt sowohl eine Reformtheorie, die aus den Schriften der eingangs genannten Autoren erhellt, wie eine Reformpraxis, die sehe Absolutismus den Fortbestand der Struktur und der Rechtsverhältnisse der ständischen Gesellschaft, während der aufgeklärte Absolutismus eine radikale Umgestaltung erstrebt. Beide Unterscheidungen bedürfen der Modifizierung oder Relativierung. Die angeblichen Kennzeichen des aufgeklärten Absolutismus lassen sich zumindest ansatzweise auch beim klassischen Absolutismus nachweisen, so daß allenfalls von graduellen Abstufungen die Rede sein kann. Auch Bossuet, der Chefideologe Ludwigs XIV., baut in seine Theorie der absoluten Monarchie Elemente eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages ein. Das Gottesgnadentum Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger ist bis zur äußersten Grenze säkularisiert und gerade dazu bestimmt, den absoluten und damit auch von jeglicher kirchlichen Beeinflussung entbundenen politischen Machtanspruch der Krone zu rechtfertigen. Die Überzeugung Ludwigs XIV., daß der Fürst mit dem Staat identisch sei, schließt die Annahme einer obersten Verantwortung des Fürsten gegenüber dem Staat ein und antizipiert damit den friderizianischen Grundsatz vom Fürsten als dem ersten Diener des Staates. Vollends gilt, daß die Monarchie Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger die ständische Gesellschaft zwar nicht abgeschafft, aber gemäß der Logik des absolutistischen Prinzips gleichwohl von vornherein auf ihre Einebnung und Überwindung hingearbeitet und dabei bis zur Revolution erhebliche Fortschritte gemacht hat, wie wir seit Tocqueville wissen. Dazu kommt, daß umgekehrt einige angebliche Merkmale des klassischen Absolutismus auch im aufgeklärten Absolutismus fortdauern. Joseph II. stellt den primär katholischen Charakter der österreichischen Monarchie keineswegs in Frage. Die Realität des josephinischen und des friderizianischen Absolutismus wird durchweg von notwendigen Rücksichten auf bestehende ständische Strukturen bestimmt.
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mit der Ministerschaft Turgots zusammenfällt. Beide Bereiche sollen in der Folge nacheinander beleuchtet werden.7 Die physiokratische Reformtheorie basiert auf einer Wirtschaftsdoktrin, die gleichbedeutend mit der Entdeckung der Autonomie der Wirtschaft ist und damit die Epoche modernen ökonomischen Denkens eröffnet. Ohne daß diese hier extensiv dargestellt werden kann, ist es dennoch im Hinblick auf die weiteren Ausführungen vielleicht nicht ganz unangebracht, wenigstens kurz an einige Grundannahmen und Grundbegriffe zu erinnern. 8 Am Anfang steht das Axiom, daß die Wirtschaft nach bestimmten natürlichen Gesetzen ablaufe, ein natürliches System (ordre naturel) bilde. Das nächste Axiom lautet, daß der potentielle Reichtum der Natur die einzige Grundlage alles wirtschaftlichen Reichtums sei. Die Physiokraten begründen dies damit, daß allein die Natur Neues hervorbringe, daß der Mensch ohne die Möglichkeit einer eigenen originären Leistung auf die Hervorbringungen der Natur angewiesen sei und durch seine Arbeit lediglich dieselben realisieren könne. Diese Realisationsleistung wiederum wird in zweifacher Weise klassifiziert oder qualifiziert. Den obersten Rang nimmt nach physiokratischer Auffassung der produktive Sektor ein. Er umfaßt hauptsächlich die Landwirtschaft, daneben auch Bergbau und Fischerei und heißt deshalb produktiv, weil diese Zweige unmittelbar den Reichtum der Natur erschließen. Dagegen gelten alle anderen ökonomischen Zweige, Manufaktur, Industrie, Handel, als steril, da sie nur die durch den produktiven Sektor hervorgebrachten Stoffe bearbeiten, transportieren, tauschen, ohne ihnen irgend etwas Neues hinzuzufügen. Inbegriff der Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft ist der vom produktiven Sektor erzielte Reinertrag (produit net): jener Betrag, der nach Abzug aller Investitions- und Reproduktionskosten übrig bleibt. Er drückt exakt den jeweils der Natur abgewonnenen oder abgerungenen Reichtum aus und ist damit ein zuverlässiger Gradmesser des jeweils 7 Die neuere Forschung ist gelegentlich dahin gelangt, die Einheit des Physiokratismus zu leugnen und Brüche oder Abweichungen innerhalb der Bewegung herauszustellen. So verweist Ernst Hinrichs auf eine „radikale Richtungsänderung" im Bereich der physiokratischen Nettoproduktlehre und Fiskaltheorie: Produit net, propriétaire, cultivateur. Aspekte des sozialen Wandels bei den Physiokraten und Turgot, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 1, hrsg. v. den Mitarbeitern des Max-PlanckInstituts für Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 36/1), Göttingen 1971, 473 ff., hier 504. Andere Autoren heben unterschiedliche Staatsanschauungen einzelner Physiokraten hervor: hier ist neben Born, Vom aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 3) vor allem Hensmann, Staat (wie Anm. 2) zu nennen, der eine Entwicklung von der Ökonomisierung über die Legalisierung bis zur Etatisierung des Absolutismus nachzeichnet (bes. 298 ff.). Jedoch zeigt sich bei näherem Zusehen, daß alle etwaigen Differenzen durchweg sekundär bleiben und jedenfalls die Gemeinsamkeit der Grundkonzeption nicht berühren. Der Versuch einer einheitlichen Charakteristik des Physiokratismus, wie er im folgenden gegeben wird, scheint daher der Sachlage am ehesten angemessen, zumal gerade dadurch bestehende Verschiedenheiten prägnant identifiziert und eingeordnet werden können. 8 Die Grundlage der folgenden Skizze bildet Quesnay, Analyse du tableau économique, in: Eugène Daire (Ed.), Physiocrates (Collection des principaux économistes, Bd. 2), Paris 1846 (Neudruck Osnabrück 1966), 57 ff.
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erwirtschafteten Reichtums überhaupt. Die Physiokraten haben die Vorstellung, daß dieses ganze System sich in einem beständigen Kreislauf (circulation complète) befinde. Die Hauptmomente dieses Kreislaufs ergeben sich danach aus den verschiedenen ökonomischen Funktionen der Bevölkerung. Die Physiokraten unterscheiden drei Klassen: die produktive Klasse (classe productive); die Klasse der Eigentümer (classe des propriétaires); die sterile Klasse (classe stérile). Die produktive Klasse, vorwiegend aus bäuerlichen Pächtern bestehend, füllt den produktiven Sektor aus, erarbeitet den Reinertrag, führt diesen als Pachtzins an die Klasse der Eigentümer ab. Die Klasse der Eigentümer, wesentlich eine Klasse ländlicher Grundeigentümer, lebt von dem Reinertrag, den die produktive Klasse an sie zahlt. Die sterile Klasse begreift die Berufe des sterilen Sektors in sich; ihre ökonomische Existenz hängt durchweg vom Bedarf der produktiven Klasse und der Klasse der Eigentümer ab. Die Klasse der Eigentümer und die sterile Klasse finanzieren zugleich durch Käufe und Investitionen die notwendigen Vorschüsse der produktiven Klasse. Der Kreislauf geht also von der produktiven Klasse aus und kehrt wieder zu ihr zurück. Der Sinn dieses Prozesses ist die Bildung, Umverteilung, Neubildung, Steigerung des Reinertrags. Die physiokratische Wirtschaftsdoktrin hat weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung der damaligen Staats- und Gesellschaftsordnung in Frankreich. Die erste Konsequenz ist eine Negation des Merkantilismus. Der Gegensatz zum Merkantilismus bietet überhaupt die nächste Erklärung zur Entstehung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin. Die Physiokraten konstituieren ein natürliches System der Wirtschaft, weil das merkantilistische System ihnen als willkürlich, unnatürlich, den natürlichen Gesetzen der Wirtschaft zuwiderlaufend gilt. Sie behaupten den Primat der Landwirtschaft, weil der Merkantilismus den Primat der industriellen Produktion und des Handels behauptet und damit nach physiokratischer Auffassung gescheitert ist. Daß diese Kritik die Realität des Agrarlandes Frankreich reflektiert, ist ganz offenkundig: die fortdauernde agrarische Grundstruktur Frankreichs läßt die auf Industrie und Handel zentrierte merkantilistische Wirtschaftspolitik als für Frankreich ungeeignetes ökonomisches System erscheinen.9 Die Physiokraten erheben gemäß diesen Prämissen die Forderung nach Abbau des Merkantilismus und nach Inaugurierung einer neuen Wirtschaftspolitik. Der wichtigste Punkt ihres detaillierten Programms wirtschaftspolitischer Maßnahmen heißt durchgängige Befreiung des wirtschaftlichen Lebens von der bisherigen staatlichen Reglementierung: Freiheit des Ackerbaus, Freiheit des Getreidehandels, all9
Vgl. dazu Hinrichs, Produit net (wie Anm. 7), 475 f.: „Frankreich war im 18. Jahrhundert noch ein Agrarstaat, die Mechanismen des wirtschaftlichen Kreislaufs wurden weitgehend vom Getreide bestimmt, dem einzigen Gut, für das eine wirkliche Massennachfrage bestand. Wenn Quesnay und seine Schule von diesem Tatbestand auf die ausschließliche Produktivität des Bodens schlossen und nur durch die Landwirtschaft, den Bergbau (und den Fischfang) einen echten Mehrwert entstehen sahen, so waren sie dazu durch die besonderen Verhältnisse der französischen Wirtschaft im 18. Jahrhundert und durch die Fehlentwicklungen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik berechtigt, auch wenn sich diese Auffassung später als irrig erweisen sollte."
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gemeine Gewerbe- und Handelsfreiheit. Der Staat soll sich künftig strikt aus der Wirtschaft heraushalten, soll die Wirtschaft ihren eigenen Gesetzen überlassen.10 Die Physiokraten setzen also dem merkantilistischen Dirigismus das Konzept einer liberalen Wirtschaftspolitik entgegen. Eine weitere Konsequenz der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin ist eine radikale Umgestaltung der herrschenden Steuerverfassung. Die Physiokraten verlangen eine Bemessung der Steuererhebung nach der wirtschaftlichen Produktivität. Sie folgern daraus, daß die Steuern allein vom Reinertrag, d. h. von der Klasse der Eigentümer erhoben werden dürften und daß also die produktive und sterile Klasse steuerfrei bleiben müssten.11 Dies bedeutet zunächst gewissermaßen eine Umkehrung des bisherigen Systems der Steuerprivilegien. Die physiokratische Klassifizierung der Bevölkerung läuft in der französischen Realität darauf hinaus, daß die Klasse der Eigentümer wesentlich mit den beiden oberen Ständen übereinstimmt, dagegen die produktive und die sterile Klasse wesentlich dem Dritten Stand entsprechen. Das bisherige System ist dadurch gekennzeichnet, daß die beiden oberen Stände weithin von Steuerleistungen befreit sind und die eigentliche Steuerbelastung fast ausschließlich auf dem Dritten Stand ruht. Das physiokratische System beabsichtigt im genauen Gegensatz dazu faktisch die Abwälzung der Steuerleistung auf die beiden oberen Stände und die Steuerfreiheit des Dritten Standes. Die innerhalb der Physiokratie gelegentlich ausgetragene Kontroverse darüber, ob auch die Investitionen der Eigentümer aus der Besteuerung herausgenommen werden sollten, berührt nicht die Geltung des Prinzips, daß allein der Reinertrag die Grundlage der Besteuerung sein dürfe. 12 Die Begründung der Steuererhebung auf den !0 Alle diese Forderungen werden erstmals systematisch erhoben von Quesnay, Maximes générales du gouvernement économique d'un royaume agricole, in: Daire (Ed.), Physiocrates (wie Anm. 8), 81 ff.: „liberté de culture" (91); „nul obstacle à l'exportation des denrées" (97); „entière liberté de commerce" (101). Weitere Präzisierung bei Dupont de Nemours, De l'origine et des progrès d'une science nouvelle, ebd., 335 ff.: „liberté de travail" (362); „liberté d'échangé, de commerce, d'emploi de ses richesses" (363); „liberté de l'emploi de sa terre" (ebd.). 11 Umfassende Darstellung der physiokratischen Fiskaltheorie bei Mirabeau, Théorie de l'impôt, Paris 1761 (Neudruck Aalen 1972). Mirabeau verwirft die bisherige Besteuerung des Handels und der bäuerlichen Arbeit (346) und verlangt statt dessen, que l'imposition soit établie immédiatement à la source des revenus (374). Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 136 ff. Vgl. auch Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 83: „que l'impôt [ . . . ] soit établie immédiatement sur le produit net des biens fonds", und Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 364: „impôt direct, ou partage du produit net de territoire entre les propriétaires fonciers et l'autorité souveraine." 12 Hinrichs, Produit net (wie Anm. 7), 501, meint über die These von Mercier de la Rivière, daß die „avances foncières" nicht zur „masse à partager entre les propriétaires et l'impôt" gehören dürften: „Mit dieser Forderung waren die Prinzipien der Nettoproduktlehre Quesnays und Turgots praktisch aus den Angeln gehoben." Tatsächlich handelt es sich für Mercier de la Rivière lediglich um eine Spezifizierung des produit net und damit der auf der Basis des produit net vollzogenen Besteuerung; die Geltung des Systems selbst bleibt dadurch unangetastet: Mercier de la Rivière, L'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, in: Daire (Ed.), Physiocrates (wie Anm. 8), 445 ff., hier 463 ff.
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Reinertrag bedeutet zugleich, daß es künftig nur noch eine einzige Steuer (impot unique) geben soll anstelle der bisherigen Vielfalt von Steuern. 13 Sie bedeutet oder impliziert schließlich auch, daß die geforderte Steuer in einem angemessenen, d. h. ökonomisch sinnvollen Verhältnis zur jeweiligen Höhe des Reinertrags stehen müsse, im Unterschied zur bisherigen, von Gesichtspunkten wirtschaftlicher Proportionalität immer wieder absehenden Praxis der Steuererhebung. Jedenfalls halten es die Physiokraten zunehmend für geboten, auf eine präzise Bestimmung des Steueranteils am Reinertrag zu dringen. 14 Eine dritte Konsequenz der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin ist eine soziale Neustrukturierung. Die physiokratische Klassifizierung der Bevölkerung kommt einer ökonomischen Gliederung der Gesellschaft gleich: die ökonomische Funktion wird zum einzigen gesellschaftlichen Ordnungsprinzip. Die Physiokraten schaffen, angesichts der tatsächlichen Deckungsgleichheit der von ihnen eingeführten Klassen mit den herkömmlichen Ständen, in der Realität keineswegs schon die ständische Gesellschaft ab. Sie stellen sie aber auf eine neue Legitimationsbasis und verleihen ihr damit eine innere Dynamik, die sich durchaus zutreffend vermittels der Kategorie des sozialen Wandels charakterisieren lässt.15 Die physiokratische Wirtschaftsdoktrin bedingt weiterhin die Notwendigkeit zur Beseitigung aller feudalen Strukturen, wie sie die tradierte Gesellschaftsordnung prägen. Die Physiokraten verneinen nicht nur die Steuerprivilegien der beiden oberen Stände. Die von ihnen vorgenommene Differenzierung zwischen Grundeigentümern und bäuerlichen Pächtern setzt zugleich die vollständige Verwirklichung einer reinen Pächterwirtschaft und damit eine durchgreifende Modernisierung der französi13
Diese Folgerung ergibt sich unmittelbar aus den Prämissen der physiokratischcn Fiskaltheorie. Paradigmatische Explizierung bei Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 85: „Une imposition établie également sur les terres, sur les produits, sur les hommes, sur leur travail, sur les marchandises et sur les animaux de service, présenterait une gradation de six impositions égales, posées les unes sur les autres, portant toutes sur une même base, et néanmoins payées chacune à part, mais qui toute ensemble fourniraient beaucoup moins de revenu au souverain qu'un simple impôt réel, établi uniquement et sans frais sur le produit net, et égal dans sa proportion à celle des six impositions qu'on pourrait regarder comme réelles." 14
Quesnay , Maximes (wie Anm. 10), 83: „que l'impôt ne soit pas destructif, ou disproportionné à la masse du revenu de la nation", und 84 f.: „la forme d'imposition [ . . . ] qui est établie proportionellement au produit net"; Mirabeau, Théorie (wie Anm. 11), 374: „que l'imposition [ . . . ] soit dans une proportion connue et convenable avec ces mêmes revenues"; Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 364: „proportion essentielle et nécessaire de l'impôt direct avec le produit net"; Mercier de la Rivière , L'ordre naturel (wie Anm. 12), 450: „proportion de la contribution au revenue public"; Baudeau, Première introduction à la philosophie économique ou analyse des états policés, in: Daire (Ed.) Pysiocrates (wie Anm. 8), 657 ff., hier 776: „loi du partage amical fondé sur la raison et sur l'équité naturelle". Vgl. dazu Hinrichs, Produit net (wie Anm. 7), 499 f.; der von Hinrichs behauptete Gegensatz zwischen Quesnay und Mercier de la Rivière ist, wie die obigen Zitate beweisen, so nicht haltbar. 15 Hinrichs, Produit net (wie Anm. 7), 490, begreift die nationalökonomische Doktrin Quesnays und Turgots geradezu „als konkretes Instrument des wirtschaftlichen und sozialen Wandels".
Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland
sehen Agrarverhältnisse voraus. Ausgangspunkt der physiokratischen Überlegungen ist dabei die bisher lediglich im Norden Frankreichs existierende Form der Großgutswirtschaft (grande culture), in der ein von allen Feudallasten befreiter Pächter sein Land bestellt.16 Der Kampfansage an den Feudalismus entspricht eine qualitative Aufwertung des bisherigen Dritten Standes. Die Übertragung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin auf die Realität macht deutlich, daß der Dritte Stand zum Hauptfaktor des gesamten ökonomischen Prozesses wird. Die bäuerliche Bevölkerung, die bis dahin auf der untersten Stufe des gesellschaftlichen Systems rangiert hat, rückt nunmehr durch den neugewonnenen Status der produktiven Klasse in die oberste Stellung ein. Die physiokratische Wirtschafts- und Steuerpolitik führt in dieselbe Richtung: die geforderte Liberalisierung der Wirtschaft setzt vor allem die wirtschaftlichen Interessen und Energien des Dritten Standes frei; die geforderte Umgestaltung der bisherigen Steuerverfassung hat die völlige fiskalische Entlastung des Dritten Standes zur Folge. Nutznießer der Modernisierung der Agrarverhältnisse ist wiederum eindeutig die bäuerliche Bevölkerung. Die Physiokraten betonen freilich unentwegt, daß das von ihnen konzipierte Wirtschaftsmodell dem wahren ökonomischen Interesse aller Klassen, also auch der Klasse der Eigentümer und damit der beiden oberen Stände gerecht werde. 17 Aber es ist unverkennbar, daß dieses Modell jedenfalls den traditionellen Prätentionen der beiden oberen Stände diametral widerspricht. Die letzte Konsequenz der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin ist eine neue Staatsauffassung. Der Staat erhält in physiokratischer Sicht eine völlig veränderte Aufgabe. Er soll sich fortan zum obersten Ziel setzen, die Realisierung des natürlichen Systems der Wirtschaft, d. h. die Durchführung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin zu gewährleisten. 18 Die Physiokraten richten alle staatlichen Aktivitäten auf diese Zielsetzung aus. Der Staat hat zunächst einmal die von ihnen geforderte neue Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik zu vollstrecken. Die gesamte übrige innere Politik hat zusätzliche Rahmenbedingungen für einen unge16 Vor allem Quesnay legt von vornherein auf diesen Punkt größtes Gewicht. Zusammenfassung seiner Vorstellungen in den „Maximes générales" (wie Anm. 10), 96: „que les terres employées à la culture des grains soient reunies, autant qu'il est possible, en grandes fermes exploitées par de riches laboureurs". Vgl. dazu Hinrichs , Produit net (wie Anm. 7), 490 ff., und Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 37 ff. 17 Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), sieht in der Prosperität der Landwirtschaft den Vereinigungspunkt aller Interessen (81), hält die von ihm projektierte Form der Besteuerung für die am wenigsten drückende (85), betont den ökonomischen Nutzen der Großgutswirtschaft für die Grundeigentümer (97). Ganz analog insistieren auch die anderen Physiokraten durchweg auf der Identität aller Interessen. Vgl. dazu auch Hinrichs, Produit net (wie Anm. 7), 496 ff. 18 Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 81: „l'ordre du gouvernement d'un royaume agricole qui doit réunir tous les intérêts à un objet capital, à la prospérité de l'agriculture"; Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 347: „Les ordonnances des souverains, qu'on appelle lois positives, ne doivent être que des actes déclaratoires de ces lois essentielles de l'ordre social"; Mercier de la Rivière , L'ordre naturel (wie Anm. 12), 469: „que les conséquences des lois essentielles de l'ordre soient adoptées comme lois positives".
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hinderten Ablauf des physiokratisehen Wirtschaftsprozesses zu schaffen. Die Physiokraten nennen vor allem die Aufrechterhaltung absoluter Rechtssicherheit, den Ausbau des Verkehrswesens und die Organisation eines öffentlichen Erziehungswesens, das die Heranbildung des physiokratischen Wirtschaftsbürgers als des Trägers der neuen ökonomischen Ordnung bezwecken soll. 19 Es wird oft übersehen, daß die Physiokraten darüber hinaus auch die Außenpolitik ganz in den Dienst ihrer Wirtschaftsdoktrin stellen. Sie protestieren gegen die Künstlichkeit und Willkür der bisherigen, wesentlich von merkantilistischen Intentionen bestimmten Außenpolitik, verwerfen die herkömmliche Hegemonial- und Gleichgewichtspolitik und treten demgegenüber für die Herstellung einer universalen Wirtschaftsordnung auf der Basis unbeschränkter Handelsfreiheit ein, sprechen sogar vereinzelt von der Bildung einer europäischen Konföderation. 20 Der Staat wird also in allen Bereichen zur Funktion der Wirtschaft, zum Exekutor der natürlichen Gesetze der Wirtschaft. Die Physiokraten verknüpfen diese Staatsauffassung mit der seit den Anfängen der Aufklärung erneuerten und zuletzt durch Diderot fixierten Naturrechts- und Vertragslehre. Sie nehmen ebenfalls natürliche Rechte der Menschheit an, begründen den Staat ebenfalls auf diese Rechte, lassen den Staat ebenfalls aus einem Herrschaftsvertrag hervorgehen, der die Bedingungen für den inneren und äußeren Schutz dieser Rechte festlegt. Aber entscheidend ist, daß sie alle diese Vorstellungen wiederum auf ihre Wirtschaftsdoktrin beziehen, aus ihr ableiten, durch sie rechtfertigen. 21 Zur Verdeutlichung liegt das Beispiel des Eigentumsrechts nahe. Die Physiokraten stellen das Eigentumsrecht als unantastbar hin, verlangen den staatlichen Schutz des Eigentums, aber mit der Begründung, daß das Eigentum die notwendige Grundlage des von ihnen propagierten wirtschaftlichen Systems (le fondement essentiel de l'ordre économique de la société) sei. 22 Die physiokrati19 Genaue Spezifizierung der staatlichen Aufgaben bei Baudeau, Première introduction (wie Anm. 14), 670 ff.; Zusammenfassung: 688. Baudeau unterscheidet drei Abteilungen: „instruction générale"; „protection judicielle, militaire et politique"; „administration". Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 213 ff. 20 Die beste Quelle für das außenpolitische Denken der Physiokraten: Mercier de la Rivière, L'ordre naturel (wie Anm. 12), 524 ff.; dort die Bemerkung: „qu'une confédération générale est l'état naturel de l'Europe; et que tous les peuples de notre continent, divisés dans le fait et par des méprises, ne forment cependant dans la droit qu'une seule et même société" (531). 21 Ausführliche Darlegung der physiokratischen Naturrechts- und Vertragslehre bei Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 341 ff.; präzise Definition ebd., 342 f.: „II y a donc un ordre naturel et essentiel auquel les conventions sociales sont assujéties, et cet ordre est celui qui assure aux hommes réunis en société la jouissance de tous leurs droits par l'observance de tous leurs devoirs." Daneben ist vor allem auf Mercier de la Rivière, L'ordre naturel (wie Anm. 12), 469 f., zu verweisen. Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 149 ff. u. 175 ff. 22 Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 83: „que la propriété des biens fonds et des richesses mobilières soit assurée à ceux qui en sont les possesseurs légitimes; car la sûreté de la propriété est le fondement essentiel de l'ordre économique de la société". Hinrichs, Produit net
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sehe Naturrechts- und Vertragslehre gibt sich also als Unterabteilung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin zu erkennen. Das physiokratische Reformprogramm resultiert aus massiver Kritik an der Realität des französischen Absolutismus. Die Physiokraten reagieren damit auf die Krise, in die die absolute Monarchie in Frankreich seit der Spätzeit Ludwigs XIV. und dann wiederum nach einstweiliger Konsolidierung während der Friedensepoche von 1715 bis 1740 seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geraten ist. Trotzdem sind sie keineswegs prinzipielle Gegner des Absolutismus; sie sind vielmehr umgekehrt prinzipielle Anhänger des Absolutismus, erwarten die Durchsetzung ihres Programms von der absoluten Monarchie, verstehen ihr Reformkonzept damit zugleich als Mittel, den Absolutismus aus der über ihn hereingebrochenen Krise herauszuführen. Die Physiokraten lassen nirgends auch nur den geringsten Zweifel an ihrer Überzeugung aufkommen, daß allein eine absolute Monarchie zur Erreichung des obersten Staatszwecks, d. h. zur Durchführung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin imstande sei und daß demgemäß der Absolutismus in Frankreich beibehalten und stabilisiert werden müsse. Sie tragen diese These in immer neuen Wendungen und Variationen vor und bieten damit eine größtmögliche und ganz unmißverständliche Präzisierung. Quesnays erste Maxime seiner „Maximes générales du gouvernement économique d'un royaume agricole" statuiert die Einheit der souveränen Autorität (unité d'autorité), also die Einheit und damit Unumschränktheit der souveränen monarchischen Autorität. Das Montesquieusche System der Gewaltenteilung (le système des contreforces) verfällt der Ablehnung, ebenso die ständische Verfassung (la division des sociétés en différents ordres). Quesnay nennt den einfachen Grund, daß nur eine einheitliche souveräne Autorität das gemeinsame Interesse der Nation an der Erfüllung des hauptsächlichen Staatszwecks, der Förderung der Landwirtschaft, zusammenfassen könne, während Gewaltenteilung und ständische Verfassung unweigerlich einen unheilvollen Widerstreit partikularer Interessen nach sich zögen. Er gibt also eine physiokratische Begründung für die Not(wie Anm. 7), 487, bemerkt über Quesnays Eigentums Verständnis: „Das Eigentumsrecht am Grund und Boden galt ihm nicht als heiliges, unverletzliches Menschenrecht des einzelnen, sondern als soziales und politisches Faktum, das ausschließlich im Dienst eines ökonomischen Zieles stand - der Sicherung und Steigerung des Nationaleinkommens." Daran ist soviel richtig, daß Quesnay das Eigentumsrecht primär als Bestandteil der Nationalökonomie begreift und insoweit von der gemeinaufklärerischen Betrachtungsweise abweicht. Vgl. auch Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 346, wo das Eigentumsrecht aus der Notwendigkeit einer größtmöglichen Steigerung des Reinertrags abgeleitet wird: „Pour qu'il y ait le plus grand produit net possible, il faut que tous les travaux qui concourent à la renaissance et au débit des productions, soient exécutés avec le moins de dépense qu'il soit possible. Pour que ces travaux soient exécutés avec le moins de dépense possible, il faut qu'il y ait la plus grande concurrence possible ... Pour qu'il y ait la plus grande concurrence possible ... il faut qu'il y ait la plus grande liberté possible dans l'emploi de toutes les propriétés personnelles, mobilières et foncières, et la plus grande sûreté possible dans la possession de ce qu'on acquiert par l'emploi de ces propriétés."
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wendigkeit einer absoluten Monarchie. 23 Ganz analog bezeichnet Dupont de Nemours die absolute Erbmonarchie als einzigen möglichen Garanten der physiokratischen Wirtschaftsordnung. Er hat die Prämisse, daß die Funktionsfähigkeit eines Staates im physiokratischen Sinne entscheidend von einer Interessenidentität zwischen Staat und Volk abhänge, und hält diese Interessenidentität allein in der absoluten Erbmonarchie für gegeben oder realisierbar: der Herrscher partizipiert durch die Steuererhöhung am Reinertrag, ist infolgedessen Miteigentümer des Reinertrags (souverain co-propriétaire) und muß daher ein eigenes Interesse an der beständigen Erhöhung des Reinertrags und damit an der beständigen Durchführung des physiokratischen Systems haben. Jede andere Staats- und Regierungsform bleibt dagegen für Dupont einer strukturellen Interessendivergenz verhaftet. 24 Mercier de la Rivière führt den Begriff des legalen Despotismus (despotism légal) ein. Er versteht darunter einen absoluten Monarchen, der die Gesetze der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin befolgt. Es geht ihm dabei vornehmlich um die Wechselbeziehung zwischen Legalität und Despotismus. Er betont einerseits, daß die Anwendung der physiokratischen Gesetze lediglich in einem despotischen Staat gesichert sei. Er betont andererseits, daß lediglich der legale Despot ein wahrer Despot sei; er argumentiert dahingehend, daß der legale Despot als Verkörperung des durch die Natur gesetzten Gemeininteresses jeder von außen kommenden Willkür enthoben sei und damit vollständige Unabhängigkeit besitze. Der legale Despotis23
Quesnay , Maximes (wie Anm. 10), 81: „Maxime I. - Unité d'autorité. Que l'autorité souveraine soit unique, et supérieure à tous les individus de la société et à toutes les entreprises injustes des intérêts particuliers; car l'objet de la domination et de l'obéissance est la sûreté de tous et l'intérêt licite de tous. Le système des contreforces dans un gouvernement est une opinion funeste qui ne laisse apercevoir que la discorde entre les grands et l'accablement des petits. La division des sociétés en différents ordres de citoyens, dont les uns exercent l'autorité souveraine sur les autres, détruit l'intérêt général de la nation, et introduit la dissension des intérêts particuliers entre les différentes classes de citoyens: cette division intervertirait l'ordre du gouvernement d'un royaume agricole qui doit réunir tous les intérêts à un objet capital, à la prospérité de l'agriculture, qui est la source de toutes les richesses de l'Etat et de celles de tous les citoyens." 24
Dupont de Nemours , De l'origine (wie Anm. 10), 359 ff.; Zusammenfassung, 364: „Monarchie héréditaire, pour que tous les intérêts présents et futurs du dépositaire de l'autorité souveraine, soient intimiment liés avec ceux de la société par le partage proportionel du produit net." Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 159 ff. Dem scheint die folgende Aussage Duponts im Brief an den Erbprinzen Carl Ludwig von Baden vom 15. Juli 1773 zu widersprechen: „Tout gouvernement qui respectera et fera respecter le droit naturel des hommes, sera un gouvernement conforme à leur nature, sera un gouvernement physiocratique" (Cari Knies [Hrsg.], Carl Friedrichs von Baden brieflicher Verkehr mit Mirabeau und Dupont, Bd. 2, Heidelberg 1892, 126); vgl. Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 172. Jedoch diese Feststellung gibt zunächst nur den Maßstab zur Beurteilung von Regierungsformen an und schließt daher eine faktische Bevorzugung der absoluten Erbmonarchie keineswegs aus. Es erhellt daraus andererseits, dass Dupont, gleich den anderen Physiokraten, die absolute Monarchie nicht als Selbstzweck ansieht, sondern einzig als Mittel zum Zweck der physiokratischen Wirtschaftsordnung und daß darin allerdings die Möglichkeit einer Überwindung des Absolutismus liegt, nämlich dann, wenn das Instrument der absoluten Monarchie bei der Erfüllung des ihm zugeschriebenen Zwecks versagen sollte.
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mus wird also deutlich als Steigerung oder Radikalisierung des herkömmlichen Absolutismus hingestellt.25 Entsprechend prägt schließlich Baudeau den Begriff der ökonomischen Monarchie (monarchie économique).26 Alle diese Aussagen zielen auf den untrennbaren Zusammenhang von Physiokratismus und Absolutismus und damit auf eine physiokratische Rechtfertigung des Absolutismus. Dazu kommt, daß das physiokratische Reformprogramm, das die absolute Monarchie in die Tat umsetzen soll, zwar gegen die Realität des französischen Absolutismus konzipiert ist, sich aber nicht gegen die absolute Monarchie an sich richtet, sondern durchaus grundsätzlich mit der allgemeinen Richtung des französischen Absolutismus konform geht. Erst diese Konformität macht auch zuletzt erklärlich, daß die Physiokraten die absolute Monarchie zum Vollstrecker ihres Reformprogramms ausersehen. Allerdings bedarf es hier der Differenzierung oder Modifizierung. Es trifft zunächst fraglos zu, daß die physiokratische Kritik bestimmte Grundzüge absolutistischer Politik berührt. Das gilt zumal für die entschiedene Negation des Merkantilismus, mit der die Physiokraten beginnen und die alle weiteren Programmpunkte determiniert. Gleichwohl muß festgehalten werden, daß die physiokratische Wirtschaftspolitik immer auch das wichtigste Ziel absolutistischer Wirtschaftspolitik verfolgt: das Ziel einer dauerhaften Sicherung der staatlichen Einkünfte. 27 Das Verdikt über den Merkantilismus schließt ein, daß er dieses Ziel nicht erreicht und damit dem Interesse der absoluten Monarchie geschadet habe. Die Physiokraten beanspruchen demgegenüber, mit ihrem neuen Konzept die chronische Finanzmisere des absolutistischen Regimes beheben zu können.
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Mercier de la Riviere, L'ordre naturel (wie Anm. 12), 469 f. Die entscheidenden Sätze lauten: „Impossible donc qu'il puisse exister alors deux autorités distinctes; impossible que le despotisme des lois ne soit pas personnel à la puissance qui commande et agit d'après l'évidence dont les lois ne sont que l'expression ... Le despote arbitraire n'est point propriétaire de l'autorité qu'il exerce; elle n'est qu'empruntée, puisqu'elle appartient réellement à ceux qui l'ont formée par une association qui n'a rien que d'arbitraire: celle du despote légal lui est propre personnelle: elle est à lui, parce qu'elle est inséparable de l'evidence qu'il possède, et qui, habitant en lui, fait que sa volonté devient le point de réunion de toutes les autres volontés et de toutes les forces. Ainsi le premier, toujours et nécessairement dépendant, n'est despote que de nom; et le second, toujours et nécessairement indépendant, est despote en réalité." Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 176 f. 26 Baudeau, Première introduction (wie Anm. 14), 748 ff. Das Kapitel behandelt die „principes fondamentaux des monarchies économiques", die mit den Prinzipien der physiokratisch verstandenen Naturrechts- und Vertragslehre zusammenfallen. Dazu Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 202. 27 Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 101, erklärt: „l'accroissement des revenus" zu einer seiner „maximes générales". Entsprechend fordert Dupont de Nemours , De l'origine (wie Anm. 10), 350: „L'autorité souveraine ne peut remplir ces fonctions tutélaires, garantir la propriété de tous et de chacun par des forces supérieures à toutes celles qui voudraient y attenter, subvenir aux frais de la justice distributive et de l'instruction publique, que par des dépenses et même par des dépenses considérables." Vgl. auch Baudeau, Première introduction (wie Anm. 14), 683: „II est donc de toute nécessité que le souverain fasse une forte dépense dans les sociétés policées; il est donc de toute nécessité qu'il y jouisse d'un grand revenu."
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Vor allem aber läßt sich gar nicht übersehen, daß das Gros der weiteren physiokratischen Reformforderungen wesentliche Maximen traditioneller absolutistischer Politik aufgreift. Aufhebung der Steuerprivilegien von Klerus und Adel, Einrichtung einer einzigen Steuer, wirtschaftliche Angemessenheit der Steuererhebung, Abbau des Feudalismus, Förderung des Dritten Standes, Rechtssicherheit, Ausbau des Verkehrswesens, Organisation öffentlicher Erziehung: das alles sind Absichten, die sich der Absolutismus nach der Logik seines Systems seit Anbeginn setzt. Es mag der Hinweis genügen, daß die Generalkontrolleure der Finanzen seit Colbert sozusagen einen einzigen, offenen oder verdeckten Kampf gegen die Steuerprivilegien der beiden oberen Stände geführt haben, nicht nur aus unmittelbaren materiellen Gründen, sondern ebenso, um die absolutistische Nivellierung der Untertanen auch über den politischen Bereich hinaus voranzutreiben. Daß die Physiokraten diese Forderungen erneut aufstellen, liegt daran, daß diese bisher trotz aller Bemühungen nicht oder nur unzulänglich durchgeführt worden sind, daß zumal die Pläne zur Beseitigung der Steuerprivilegien immer wieder gescheitert oder festgefahren sind, daß die absolute Monarchie wesentlich aus diesem Grund in die Krise geraten ist. Die physiokratische Kritik attackiert also die Inkonsequenz oder Unfertigkeit des Absolutismus und weist einen neuen Weg zur Fortbildung und Vollendung des Absolutismus, der die Monarchie endgültig aus der Krise retten soll. Dennoch muß die physiokratische Konzeption des Absolutismus zugleich als eine Konzeption zur Überwindung oder Ablösung des Absolutismus begriffen werden, die schon auf die Französische Revolution hindeutet. Dies läßt sich ebenso an der neuen Rechtfertigung des Absolutismus wie an dem physiokratischen Reformprogramm zeigen. Die Physiokraten deklarieren die absolute Monarchie zum notwendigen Vollstrecker ihrer Wirtschaftsdoktrin. Andererseits ist offenkundig, daß die absolute Monarchie damit zugleich unter dem absoluten Primat der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin steht. Der Monarch wird durch die ökonomische Funktionalisierung des Staates total vom natürlichen System der Wirtschaft abhängig, sinkt zum bloßen Agenten dieses Systems herab, hört also auf, ein absoluter Herrscher zu sein. Alle bisherigen Theoretiker des Absolutismus und des aufgeklärten Absolutismus lehren die Abhängigkeit der monarchischen Gewalt von natürlichen Gesetzen. Aber sie fassen diese Gesetze nur höchst vage und räumen damit dem Monarchen einen faktisch unbegrenzten Ermessens- und Handlungsspielraum ein: Bodin etwa scheint die Verpflichtung des Fürsten gegenüber den göttlichen und natürlichen Gesetzen gelegentlich nur deshalb zu betonen, um die Unabhängigkeit des Fürsten von anderen Gesetzen und damit dessen souveräne Gesetzgebungsbefugnis herauszustreichen. 28 Dagegen sind die von den Physiokraten behaupteten natürlichen Ge28 Dies wird in der jüngsten Literatur über Bodin nicht immer genügend beachtet. Vgl. etwa zuletzt Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648-1779 (Fischer Weltgeschichte, Bd. 25), Frankfurt a. M. 1981, 88 ff.: der Verfasser stellt die rechtlichen und institutionellen Bindungen des Königtums in Bodins Souveränitäts-
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setze derart präzisiert, konkretisiert, spezifiziert, daß dem Monarchen kaum noch eine eigene Kompetenz verbleibt. Die physiokratische Wirtschafts- und Steuerpolitik macht das Ausmaß dieser Abhängigkeit des Monarchen ganz deutlich: der Monarch soll sich aus der Wirtschaft heraushalten und soll sich bei der Steuererhebung an vorgegebenen wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten orientieren, wird also auf beiden Gebieten unmittelbar seines Souveränitätsrechts beraubt. Die Physiokraten verbieten gleich den früheren Absolutismus-Theoretikern die Institutionalisierung einer Kontrollinstanz gegenüber dem Monarchen oder gar ein Widerstandsrecht für den Fall, daß der Monarch die ihm durch die natürlichen Gesetze gezogene Grenze überschreitet. 29 Aber es ist unverkennbar, daß die inhaltliche Prägnanz der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin sozusagen eine permanente Kontrolle durch eine interessierte Öffentlichkeit ermöglicht, die auf Dauer auch zu institutionellen Konsequenzen führen muß. Diese Öffentlichkeit nimmt im Rahmen der von den Physiokraten projektierten Reformpolitik schon Gestalt an. Die Physiokraten knüpfen mit ihrem Programm an maßgebliche Ziele herkömmlicher absolutistischer Politik an und wollen damit die Krise der absoluten Monarchie wenden. Andererseits stellt sich im Zuge ihrer Reformforderungen eine Konstellation her, die durch die Konstituierung einer zur politischen Selbstbestimmung fähigen Nation gekennzeichnet ist. Dabei spielt die physiokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik eine zentrale Rolle. Die geforderte Liberalisierung der Wirtschaft muß eine Liberalisierung des politischen Systems befördern, läßt jedenfalls den Zeitpunkt absehen, an dem nach dem politischen Pendant zur wirtschaftlichen Freiheit gefragt wird. Die geforderte Neustrukturierung der Gesellschaft bringt eine durch ein allgemeines Interesse integrierte Gemeinschaft mündiger Wirtschaftsbürger hervor, die nicht immer von der politischen Macht ferngehalten werden kann. Die Konzentration aller gesellschaftspolitischen Anstrengungen auf die Förderung des Dritten Standes rückt bereits den künftigen Machthaber ins Blickfeld. Das physiokratische Programm zur Rettung des Absolutismus erweist sich mithin als Programm zur Demontage des Absolutismus und zur Errichtung eines Nationalstaats. Die Physiokraten treiben damit die immanente Dialektik des absolutistischen Systems radikal auf die Spitze. Die physiokratische Theorie erwägt niemals auch nur die partielle Übertragung effektiver politischer Macht an die Nation. Es gibt in ihr jedoch ein politisches lehre in den Vordergrund, muß freilich selbst einräumen, daß Bodin dazu geneigt habe, die Stellung des Königtums zu stärken. 29 Vgl. die Belege Anm. 23 bis 26: die jeweilige Definition der Monarchie schließt die Möglichkeit einer unabhängig von der Krone bestehenden öffentlich-rechtlichen Gewalt rigoros aus. Nach Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 179, soll Mercier de la Rivière gegenüber dem willkürlichen Despoten ein Widerstandsrecht zugebilligt haben: vgl. Mercier de la Rivière , L'ordre naturel (wie Anm. 12), 470. Hier wird jedoch lediglich bemerkt, daß ein willkürlicher Despot mit ständigen Unruhen Unzufriedener zu rechnen habe; eine normative Konsequenz zieht Mercier daraus nicht. Diese Argumentation ist in der ganzen bisherigen staatstheoretischen Literatur über die absolute Monarchie seit jeher geläufig.
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Postulat, das die unmittelbare Vorstufe zur Forderung nach institutioneller Beteiligung der Nation am Staat bezeichnet: die Organisation öffentlicher Erziehung. Quesnay befaßt sich bereits in der zweiten Maxime seiner „Máximes générales" mit diesem Thema, in direktem Anschluß an seine Ausführungen über die Einheit der souveränen Autorität, und hebt damit schon äußerlich auf den doppelten Sinn seiner Staatsanschauung ab. Er verlangt, daß die Nation über die allgemeinen Naturgesetze, d. h. über die physiokratische Wirtschaftsdoktrin unterrichtet werden solle. Das letzte der von ihm dafür beigebrachten Argumente lautet, daß die Kenntnisse der Nation die Regierung zu einer Gesetzgebung befähigten, die dem Wohl aller adäquat sei, d. h. die konsequente Durchführung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin gewährleiste. Das ist noch keine nationale Selbstverwaltung, aber ersichtlich ein großer Schritt dahin. 30 Dupont de Nemours nimmt dieses Projekt auf und entwickelt es weiter. Er bestimmt den Wert der öffentlichen Erziehung dergestalt, daß sie gleichermaßen die Bürger, den Fürsten und die Magistrate vermöge, niemals die unabänderlichen Gesetze des Naturzustandes aus dem Blick zu verlieren, sich niemals von exklusiven partikularen Interessen leiten zu lassen. Der Fürst soll danach also der Beaufsichtigung durch die Nation und die Magistrate unterstehen. Dupont hat weiterhin die Vorstellung, daß die Magistrate die Befugnis haben sollten, die Rechtmäßigkeit fürstlicher Ordonnanzen, d. h. ihre Übereinstimmung mit der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin, zu überprüfen. Auch ohne förmliche Sanktionsmöglichkeit bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung der fürstlichen Machtvollkommenheit. Dupont unterläßt es, dieselbe Befugnis auch der Nation zuzusprechen. Aber der Analogieschluß scheint so zwingend, daß es dessen fast gar nicht mehr bedarf. 31 Baudeau bringt die physiokratische Diskussion über diesen Gegenstand zum Abschluß. Er erklärt die öffentliche Erziehung der 30 Quesnay, Maximes (wie Anm. 10), 81 f.: II. - „Instruction. Que la nation soit instruite des lois générales de l'ordre naturel, qui constituent le gouvernement évidemment le plus parfait. L'étude de la jurisprudence humaine ne suffit par pour former les hommes d'Etat; il est nécessaire que ceux qui se destinent aux emplois de l'administration soient assujétis à l'étude de l'ordre naturel le plus avantageux aux hommes réunis en société. Il est encore nécessaire que les connaissances pratiques et lumineuses, que la nation acquiert par l'experience et la réflexion, se réunissent à la science générale du gouvernement; afin que l'autorité souveraine, toujours éclairée par l'évidence, institue les meilleures lois et les fasse observer exactement pour la sûreté de tous, et pour parvenir à la plus grande prospérité possible de la société." 31 Dupont de Nemours, De l'origine (wie Anm. 10), 363: „Magistrats, pour décider dans les cas particuliers quelle doit être l'application des lois de l'ordre naturel réduites en lois positives par l'autorité souveraine, et qui ont le devoir impérieux de comparer les ordonnances des souverains avec les lois de la justice par essence, avant de s'engager à prendre ces ordonnances positives pour règle de leurs jugements. Instruction publique et favorisée, pour que les citoyens, l'autorité et les magistrats ne puissent jamais perdre de vue les lois invariables de l'ordre naturel, et se laisser égarer par les prestiges de l'opinion, ou par l'attrait des intérêts particuliers exclusifs qui, dès qu'ils sont exclusifs, sont toujours mal entendus." Die von Dupont vorgesehenen Magistrate weisen formale Parallelen zur herkömmlichen parlamentarischen Magistratur auf, vertreten freilich einen dieser völlig konträren Staatsgedanken. Vgl. dazu auch Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 166 f.
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Nation zum einzigen Mittel, um einen Machtmißbrauch der souveränen Gewalt zu verhindern. Er sieht darin ausdrücklich keine eigentliche Partizipierung der Nation an der Souveränität, wendet sich vielmehr scharf gegen jede Bindung des Monarchen an menschliches Recht und Gesetz, faßt das Konzept der öffentlichen Erziehung gerade als prinzipielle Alternative zu solchen Bindungen auf. Er schafft andererseits durch dieses Konzept eine aufgeklärte Nation, die notwendigerweise zum wahren Herrn des Staates aufsteigt. 32 Es ist nach all dem ganz klar, daß das doppelte Verhältnis der Physiokraten zum Absolutismus nichts mit Widersprüchlichkeit oder mangelnder Konsequenz zu tun hat. Es handelt sich nicht darum, daß die Physiokraten einmal absolutistisch eingestellt sind und ein anderes Mal Pläne verfolgen, die auf die Beseitigung des Absolutismus hinzielen. Vielmehr haben sie eine einzige, zugleich absolutistische und antiabsolutistische Einstellung. Sie treten für den Absolutismus mit Gründen ein, die den Absolutismus sprengen. Sie antizipieren umgekehrt den Nationalstaat dadurch, daß sie den Absolutismus konsequent zu Ende denken. Am richtigsten ließe sich sagen, daß sie die Transformation vom Absolutismus zum Nationalstaat vollziehen, daß darin die Einheit ihrer Theorie liegt. Die physiokratische Praxis, die durch die Ministerschaft Turgots markiert wird, offenbart dasselbe doppelsinnige Verhältnis zum Absolutismus.33 Die Turgotsche Politik stellt keinen unvermittelten Versuch zur systematischen Verwirklichung der physiokratischen Theorie dar. Turgot, eher Pragmatiker als Doktrinär, der seine Berufung zum Generalkontrolleur der Finanzen seiner administrativen Erfahrung verdankt, setzt vielmehr an bestimmten konkreten Problemen an. Er besitzt jedoch ein klares physiokratisch bestimmtes Konzept und ist bemüht, danach zu handeln, die konkrete Problemlösung auf seine physiokratischen Ziele zu beziehen und damit Schritt für Schritt die Verwirklichung seines Konzepts zu befördern. Turgots erste und wichtigste Aufgabe ist die Sanierung der Finanzen, d. h. die Beseitigung des Haushaltsdefizits und die Verringerung der Staatsschuld. Seine Strategie drastischer Sparsamkeit geht noch nicht über den Rahmen des bestehenden Finanzsystems hinaus, deutet aber doch schon in eine neue, physiokratischen Anschauungen entsprechende Richtung. Er widerrät etwa eine Erhöhung oder Ver32 Baudeau, Première introduction (wie Anm. 14), 776 ff., bes. III : „Tous les autres moyens, tels que les formes républicaines, les contreforces politiques et la réclamation des lois humaines et positives, appelées fondamentales, sont des remèdes insuffisants pour arrêter les abus de la force prédominante, destinée à servir l'autorité véritable, instruisante, protégeante et administrante. Mais l'enseignement économique est le vrai remède à cet abus." 33 Die beste Darstellung der Ministerschaft Turgots liefert immer noch Douglas Dakin, Turgot and the Ancien Régime in France, 1939 (Neudruck New York 1965), 118 ff. Vgl. außerdem Born, Vom aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 3) sowie Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft, Bd. 36), Frankfurt a. M. 1973, 115 ff., und Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet. Ein Beitrag zur späten Aufklärung in Frankreich (Pariser Historische Studien, Bd. 10), Bonn 1973, 129 ff.
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mehrung der Steuern, um den Dritten Stand vor neuen Belastungen zu bewahren, und plädiert für eine Einschränkung der königlichen Pensionen, um die Privilegien des Adels zu schmälern. 34 Die nächsten von Turgot ergriffenen Maßregeln betreffen Hauptpunkte des physiokratischen Reformprogramms: die Befreiung des Getreidehandels und die Verkündung allgemeiner Gewerbefreiheit. 35 Beide Maßregeln bedeuten, daß das merkantilistische System außer Kraft gesetzt und durch ein liberales System abgelöst wird. Ein weiteres Projekt Turgots ist die Reform der königlichen Wegefron (corvée royale), die die Bauern bis dahin jährlich zu leisten haben: Turgot erreicht, daß die bäuerliche Dienstleistung künftig wegfällt und durch eine Steuer ersetzt wird, die von allen Grundbesitzern entrichtet werden muß. Das ihn dabei leitende Fernziel ist die Abschaffung aller bisher erhobenen direkten und indirekten Steuern und statt dessen die Einführung einer einzigen allgemeinen Grundsteuer. 36 Turgot nimmt damit drei physiokratische Forderungen auf: Besteuerung des Grundeigentums, Abschaffung der Steuerprivilegien der beiden oberen Stände, Einführung einer einzigen Steuer. Der Physiokrat Turgot schaltet sich auch in die Außenpolitik ein. Er spricht sich vehement gegen eine französische Intervention im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg aus und macht dafür die defizitäre Finanzlage sowie die erstrangige Notwendigkeit von inneren Reformen zum Wohle des Staates und des Volkes geltend. Er beharrt also im Interesse seiner physiokratischen Reformabsichten auf dem Primat der Innenpolitik. Er stellt aber zugleich vom physiokratischen Standpunkt aus eine Betrachtung der nunmehr entstandenen außenpolitischen Situation an, die die Anweisung zu einem Kurswechsel der französischen Außenpolitik enthält. Er wertet die offensichtliche Krise des englischen Kolonialreichs als Krise der traditionellen Kolonialpolitik schlechthin, ist vom Sieg der Amerikaner über34
Lettre au Roi en prenant possession de la place de Contrôleur général, 24. August 1774, in: Gustave Schelle (Ed.), Œuvres de Turgot et documents le concernant, Bd. 4, Paris 1922 (Neudruck Glashütten /Taunus 1972), 109 ff. So heißt es 110: „II faut Sire, vous armer contre votre bonté de votre bonté même; considérer d'où vous vient cet argent que vous pouvez distribuer à vos courtisans, et comparer la misère de ceux auquels on est quelquefois obligé de l'arracher par les exécutions les plus rigoureuses, à la situation des personnes qui ont le plus de titres pour obtenir vos liberalits." 3 5 Die einschlägigen Texte in: ebd., 148 ff. u. 200 ff. 3 6 Mémoire au Roi, Januar 1776, in: ebd., 148 ff.; vgl. bes. 152: „Le principe de regarder la dépense pour les chemins comme une charge locale, à laquelle chacun contribue à proportion de son intérêt, entraine la conséquence de faire payer le clergé pour ses biens fonds. Cette conséquence n'est que juste; cependant V.M. imagine bien qu'elle excitera des réclamations: on pourrait absolument les éluder en demandant au clergé un abonnement particulier pour cet objet, mais je crois très important de maintenir le principe. V.M. verra, quand je lui rendrai compte en détail des vices des différentes natures d'impositions, que le principal obstacle à la réforme des impôts sur les consommations est la difficulté de faire payer aux privilégiés les impositions de remplacement." Präzisierung dieser Zielsetzung im Mémoire sur les municipalités von 1775, in: ebd., 592 ff.: Turgot fordert eine Umwandlung der allen Ständen auferlegten indirekten Steuern in eine entsprechend von allen Ständen zu entrichtende direkte Steuer und den schrittweisen Abbau aller direkten Steuern, von denen Adel und Klerus eximiert sind.
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zeugt, hofft auf eine Signalwirkung des amerikanischen Sieges und erwartet schließlich den Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche und damit die Bildung einer neuen Weltordnung, die vom Geist einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen allen Staaten der Erde geprägt ist. 37 Ein letztes Turgotsches Projekt, das freilich im Stadium der bloßen Planung steckengeblieben ist, geht von dem physiokratischen Gedanken der öffentlichen Erziehung aus und baut ihn folgerichtig zur Idee einer Verwaltungsreform aus.38 Turgot schlägt ein System nationaler Erziehung vor, das zur geistigen Grundlage eines Systems von Selbstverwaltungsorganen oder Munizipalitäten werden soll. Er will solche Munizipalitäten auf allen Verwaltungsebenen etablieren: in den Landgemeinden und Städten, in den Distrikten, in den Provinzen, schließlich auf der zentralen Ebene des ganzen Königreichs. Sie sollen die Zuständigkeit für die Umlage der Steuern sowie die Erledigung bestimmter öffentlicher Arbeiten wie vor allem des Wegebaus und der Armenpolizei haben, also über keinerlei originäre legislative oder exekutive Befugnisse verfügen. Das Wahlrecht für die Munizipalitäten wird nach physiokratischer Prämisse an ein jährliches Einkommen aus Grundbesitz gebunden. Turgot verspricht sich von diesem System eine Einebnung der tradierten ständisch-partikularistischen Gegensätze, die Bildung der Franzosen zur Nation und damit ihre Befähigung, den Monarchen über die Bedürfnisse und Interessen des Landes angemessen zu informieren und ihn bei der Durchführung seiner Politik zu unterstützen. 39
37 Réflexions rédigées à l'occasion d'un Mémoire remis par de Vergennes au Roi sur la manière dont la France et l'Espagne doivent envisager les suites de la querelle entre la Grande-Bretagne et ses colonies, 4. April 1776, in: ebd., 384 ff. Zwei Schllisselzitate: „Mais au moins faut-il avouer qu'on doit l'eviter (se. la guerre) comme le plus grand des malheurs, puisqu'elle rendrait impossible pour bien longtemps, et peut-être pour toujours, une réforme absolument nécessaire à la prospéerité de l'Etat et au soulagement des peuples" (406). - „La supposition de la séparation absolue des colonies et de la métropole me paraît infiniment probable. Il en résultera, lorsque l'indépendance des colonies sera entière et reconnue par les Anglais mêmes, une révolution totale dans les rapports de politique et de commerce entre l'Europe et l'Amérique, et je crois fermement que toutes les métropoles seront forcées d'abandonner tout empire sur leurs colonies, de leur laisser une entière liberté de commerce avec toutes les nations, de se contenter de partager avec les autres cette liberté, et de conserver avec leurs colonies les liens de l'amitié et de la fraternité" (416). 38 Mémoire sur les municipalités, 1775 in: ebd., 574 ff. 39 Ebd., 578: „Pour faire disparaître cet esprit de désunion qui décuple les travaux de vos serviteurs et de V.M. et qui diminue nécessairement et prodigieusement votre puissance, pour y substituer, au contraire, un esprit d'ordre et d'union qui fasse concourir les forces et les moyens de votre nation au bien commun, les rassemble dans votre main et les rende faciles à conduire, il faudrait imaginer un plan qui liât par une instruction à laquelle on ne pût se refuser, par un intérêt commun très évident, par la nessecité de connaître cet intérêt, d'en délibérer et de c'y conformer; qui liât, dis-je, les individus à leurs familles, les familles au village ou à la ville à qui elles tiennent, les villes et les villages à l'arrondissement dans lequel ils sont compris, les arrondissements aux provinces dont ils font partie, les provinces enfin à l'Etat."
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Die Turgotsche Politik ist hervorragend geeignet, die eigentümliche Position der Physiokraten zwischen Absolutismus und Revolution zu exemplifizieren. Turgot steht einerseits vorbehaltlos zur absoluten Monarchie. Das wird zunächst durch die Radikalität bewiesen, mit der er sich der Machtmittel des absolutistischen Staates zur Durchsetzung seines Konzepts bedient. Er macht wahrhaftig Ernst mit der Überzeugung der Physiokraten, daß allein die absolute Monarchie zur Realisierung der physiokratischen Wirtschaftsdoktrin imstande sei. Als die Parlamente, um das Edikt über die Befreiung des Getreidehandels zu Fall zu bringen, den Mehlkrieg organisieren, schlägt Turgot hart zu und kann damit die bedrohlich gewordene Lage bereinigen. Da Turgot sich Remonstrationen der Parlamente gegen die Edikte über die Einführung der Gewerbefreiheit und die Reform der königlichen Wegefron konfrontiert sieht, erzwingt er die Einregistrierung der Edikte durch lit de justice. Die absolutistische Tendenz der Turgotschen Politik erhellt zugleich aus den Inhalten der einzelnen Maßnahmen oder Pläne. Turgot setzt ungeachtet aller Neuerungen prinzipiell die Politik der großen Generalkontrolleure seit Colbert fort, will die absolute Monarchie konsequent fortentwickeln, vervollkommnen und damit krisenfest machen, betreibt absolutistisches Krisenmanagement. Auch das Munizipalitätenprojekt fällt keineswegs aus dem Zusammenhang absolutistischer Politik heraus. Es bleibt daran zu erinnern, daß die Munizipalitäten lediglich abgeleitete administrative Befugnisse haben, daß ihre Hauptfunktion in der Informierung und Unterstützung der Krone besteht. Die Nation, die Turgot durch dieses System über alle noch existierenden ständisch-partikularistischen Gegensätze hinweg zu bilden hofft, ist der bis zum Extrem nivellierte Untertanenverband der absoluten Monarchie. Turgot bricht andererseits durch dieselbe Politik aus dem Rahmen des absolutistischen Regiments aus. Die Radikalität, mit der er die Machtmittel des absolutistischen Staates zur Durchsetzung seines Konzepts handhabt, ist die Radikalität einer Revolution von oben. Die Inhalte der Turgotschen Reformpolitik nehmen überall eine Staats- und Gesellschaftsordnung vorweg, die tatsächlich erst nach 1789 möglich wird. Die beabsichtigte Vervollkommnung der absoluten Monarchie muß diese unweigerlich über sich hinaustreiben, zur Selbstaufgabe zwingen. Das absolutistische Krisenmanagement Turgots kann die Krise des Absolutismus letztlich nur um den Preis von dessen Aufhebung meistern. Der Punkt, an dem dieser Umschlag vom Absolutismus zur Revolution sozusagen handgreiflich wird, ist das Turgotsche Munizipalitätenprojekt. Dieses Projekt fällt sicher nicht aus dem Zusammenhang absolutistischer Politik heraus und kann und muß dennoch zugleich als Organisationsschema eines kommenden Nationalstaats verstanden werden. Die Übertragung bestimmter administrativer Befugnisse an die Munizipalitäten, mögen sie auch von der königlichen Souveränität abgeleitet sein, schafft die Voraussetzung zur Übertragung auch weiterer Befugnisse. Die Informierung und Unterstützung der Krone durch die Munizipalitäten sind faktisch eine Form munizipaler Mitregierung, müssen die Munizipalitäten jedenfalls in diese Richtung lenken. Es stimmt, dass die Turgotsche Nation, die sich vermittels des Munizipalitätensystems formie-
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ren soll, den bis zum Extrem nivellierten Untertanenverband der absoluten Monarchie verkörpert. Aber umgekehrt gilt auch, daß damit der Untertanenverband zur Nation wird: der Krone gewiß untergeordnet, aber nicht mehr im passiven Gehorsam verharrend, sondern aktiv mitgestaltend, von einem eigenen politischen Bewußtsein erfüllt, der eigentliche Träger des Staates und damit der potentielle Inhaber der Souveränität. Turgot selbst scheint diese Implikationen gesehen oder geahnt zu haben. Denn er hat später seine Zurückhaltung bei der Verfolgung dieses Projekts mit dem Argument gerechtfertigt, er habe den innerlich unvorbereiteten König nicht zur voreiligen Anordnung einer Maßnahme überreden wollen, die mit Sicherheit zur Änderung der gegenwärtigen monarchischen Verfassung habe führen müssen („qui altésera sûrement la constitution monarchique qui existe à présent"). 40 Dieses Argument faßt zugleich die ganze Substanz der Turgotschen Politik zusammen, die, gleichermaßen absolutistisch und revolutionär, für den Übergang von dem einen zu dem anderen System steht. Man wird im Doppelcharakter der Turgotschen Politik auch den Grund für ihren schließlichen Fehlschlag suchen müssen. Turgot scheitert vordergründig daran, daß er sich mit allen relevanten politisch-gesellschaftlichen Gruppen verfeindet und sich damit vollkommen isoliert. Er muß in Wahrheit deshalb zwangsläufig scheitern, weil seine Politik das herrschende Regime überfordert oder überanstrengt. Es ist verständlich, daß das absolutistische System den potentiellen Zerstörer des Absolutismus ausstößt. Es ist daher auch mißlich, aus der Entlassung Turgots und aus dem ferneren Verzicht der Krone auf Reformpolitik im Turgotschen Stil auf grundsätzliche Reformunfähigkeit der absoluten Monarchie in Frankreich zu schließen. Es handelt sich viel mehr darum, daß der französische Absolutismus im Laufe seiner historischen Entwicklung und damit nach Erfüllung seiner historischen Mission an eine Grenze gelangt ist, die er nicht transzendieren kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Die geschichtliche Bedeutung Turgots und der Physiokraten liegt darin, daß sie diesen historischen Moment manifest 40 Tagebuch des Abbé de Véri, 1777, in: ebd., 627; danach soll Turgot aus Anlaß des Neckerschen Plans zur Errichtung von Provinzialversammlungen im Rückblick auf sein eigenes Munizipalitätenprojekt geäußert haben: „une raison plus forte m'arrêtait. Quelques freins qu'on puisse mettre dans le début à ces assemblées, il n'est pas douteux qu'avec le temps elles acqueront, par leur établissement dans chaque province et par la possibilité de leur intelligence entre elles, un degré de force qui altérera sûrement la constitution monarchique qui existe à présent. Comme citoyen, j'en étais fort aise; mais agissant comme ministre de Roi, je me faisais scrupule de me servir de sa confiance pour faire tort à l'étendue de son autorité [ . . . ] Je ne voulais point porter le renom d'avoir abusé de sa jeunesse et de son inexpérience, en lui arrachant de pareils sacrifices". Born (wie Anm. 3), 191 f., wertet diese Äußerungen als Bekenntnis zur konstitutionellen Monarchie. Dagegen lautet die Interpretation Hensmanns, daß Turgot unter allen Umständen an der Staatsform der absoluten Monarchie festgehalten habe (Staat [wie Anm. 2], 262). Es kommt demgegenüber darauf an, diese schroffe Entgegensetzung durch die Einsicht zu überwinden, daß Turgots Position beide Momente enthält: die Beibehaltung des Absolutismus und die mögliche Wendung zur konstitutionellen Monarchie und daß diese beiden Momente in einem logischen Zusammenhang stehen.
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machen. Dadurch erhält auch das Scheitern der Turgotschen Politik einen unverlierbaren Sinn. Der Blick nach Deutschland zeigt, trotz unleugbarer Parallelen, im ganzen ein wesentlich anderes Bild. 4 1 Der Physiokratismus dringt seit dem Beginn der 70er Jahre im Reich vor und kann sich hier bis zur Französischen Revolution ausbreiten. Die deutsche Bewegung folgt der französischen also in einer gewissen Phasenverschiebung und erreicht ihren Zenit in einer Zeit, als die Physiokratie in Frankreich längst im Niedergang begriffen ist. Es tritt in diesen Jahren eine ganze Reihe physiokratischer oder sich physiokratisch nennender Autoren auf, die es in zahlreichen Schriften unternehmen, die Lehren der französischen Ökonomisten zu propagieren: allen voran Schlettwein, der „deutsche Hauptphysiokrat", und Mauvillon, vielleicht der bedeutendste Vertreter des deutschen Physiokratismus überhaupt. 42 Sie bewirken jedenfalls, daß in Deutschland alsbald eine lebhafte Diskussion über physiokratische Themen in Gang kommt, in der die verschiedensten Argumente dafür und dagegen ausgetauscht werden. Die Debatte gipfelt 1778/80 in der scharfen Kontroverse zwischen Dohm und Mauvillon, an der auf beiden Seiten auch andere Autoren teilnehmen. Der deutsche Physiokratismus bleibt weiterhin nicht auf die Theorie beschränkt, sondern greift auch auf die politische Praxis über. Es lassen sich zahlreiche Reformmaßnahmen deutscher Fürsten nennen, die von physiokratischen Ideen inspiriert oder motiviert sind. Die Feststellung, daß in dieser Zeit keine Steuerreform und keine Reform der ökonomischen Verhältnisse ohne die physiokratische Theorie zu denken sei, trifft gerade auch für Deutschland zu. 43 Ein spektakuläres Beispiel bietet die Politik des Markgrafen Karl Friedrich von Baden.44 Der Markgraf wird nach 1767 zu einem der eifrigsten Schüler der französischen Physiokraten, steht mit Mirabeau und Dupont de Nemours in Verbindung, arbeitet zeitweilig mit Schlettwein zusammen, verfaßt selbst 1773 einen Abriß der physio41 Zusammenfassende Darstellung des deutschen Physiokratismus von Kurt Braunreuther, Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein geschichtlich-politökonomischer Beitrag zur „Sturm- und Drang"-Zeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 5, 1955/56, Bd. 1. Vgl. auch Hensmann, Staat (wie Anm. 2), 283 ff. 42 Für Schlettwein muß immer noch auf die ältere Monographie von Alfred Krebs zurückgegriffen werden: J. A. Schlettwein. Der „deutsche Hauptphysiokrat". Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland, Leipzig 1909. Dagegen liegt über Mauvillon eine ganz neue Arbeit von Jochen Hoffmann vor: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (Historische Forschungen, Bd. 20), Berlin 1981. 43 Aretin in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband über den aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 2), 23. 44 Dazu Helen P Liebel, Enlightened Bureaucracy versus Enlightened Despotism in Baden, 1750-1792, in: Transactions of the American Philosophical Society, N.S., 55, T. 5, Philadelphia 1965. Vgl. auch Paul Lenel, Badens Rechts Verwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738-1803 (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts, Bd. 23), Karlsruhe 1913.
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kratischen Doktrin, der auch in Paris beachtet wird, und inauguriert 1770 in dem nordbadischen Dorf Dietlingen ein physiokratisches Reformprojekt, das kurz darauf auf zwei weitere Dörfer ausgedehnt wird und auf Dauer landesweit verwirklicht werden soll. Aber auch die Reformgesetzgebung Josephs II. läßt bestimmte physiokratische Einflüsse erkennen, ähnlich die preußische Politik nach 1786.45 Der fundamentale Unterschied des deutschen vom französischen Physiokratismus rührt von den andersgearteten politischen Verhältnissen im Reich her. Eine schematische Übertragung des französischen Modells auf Deutschland erscheint von vornherein unmöglich; vielmehr erfährt die Doktrin bei ihrer Applikation erhebliche Modifizierungen. Dabei geht es weniger um direkte Korrekturen als gewissermaßen um eine neue historische Dimensionierung, durch die die äußerlich weithin gleich gebliebene Theorie eine veränderte Bedeutung annimmt. Wenn irgend etwas, so ist davon vor allem die Einstellung zum Absolutismus betroffen. Die deutschen Physiokraten wiederholen verbal die französische Position, projizieren sie aber auf eine neue Realität und geben ihr damit einen neuen Sinn. Der französische Physiokratismus trifft auf einen sich vollendenden Absolutismus und forciert die Vollendung des Regimes bis zu dessen Selbstaufhebung, verweist auf die Transformation vom Absolutismus zum Nationalstaat. Dagegen trifft der deutsche Physiokratismus lediglich auf rudimentäre oder doch keineswegs schon voll entwickelte Formen absolutistischer Herrschaft. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die politische Gesamtorganisation der deutschen Staatenwelt, ist eine einzige Negation des absolutistischen Staatsgedankens. Die meisten deutschen Territorialstaaten sind vom Status eines modernen Fürstenstaates beträchtlich entfernt. Sie haben vielfach bestimmte Insignien oder Attribute des Absolutismus, sind aber durch ihre unsägliche äußere und innere Beschränktheit zu einer eigentlichen absolutistischen Staatsentwicklung einstweilen vollkommen außerstande. Die beiden einzigen deutschen Staaten, denen am Vorabend der Französischen Revolution die Qualität einer absoluten Monarchie zugebilligt werden kann, Österreich und Preußen, scheinen im Zuge der josephinischen und friderizianischen Politik letzte Möglichkeiten des Absolutismus zu verkörpern und damit selbst das französische Niveau zu übertreffen, bleiben aber tatsächlich, wie schon der ausgesprochen artifizielle Charakter dieser Politik beweist, deutlich hinter Frankreich zurück, stehen sozusagen noch auf einer früheren Stufe. 46 Das Absolu45
Es mögen hier Hinweise auf Aretin, Einleitung (wie Anm. 2), 23, und Hoffmann, Mauvillon (wie Anm. 42), 302 ff., und die von ihnen jeweils genannte Literatur genügen. 46 Die konträre Auffassung, die den österreichischen und den preußischen Absolutismus gewissermaßen über den französischen stellt, wird zuletzt von Weis, Durchbruch (wie Anm. 6), 22 ff., im Zusammenhang seiner Ausführungen über den aufgeklärten Absolutismus vertreten. Er hebt die josephinische und friderizianische Reformpolitik von der Reformunfähigkeit des französischen Königtums ab und führt dafür erneut die in Österreich und Preußen ausgebliebene Revolution als Beweis an. Aber gegenüber dieser Argumentation sind Zweifel angebracht. Die josephinische und friderizianische Reformpolitik entspringt gerade aus einem ungeheuren Nachholbedarf und ist überdies am Vorabend der Französischen Revolution fehlgeschlagen oder zum Stillstand gebracht. Dagegen bedeutet die angebliche Reformun-
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tismus-Verständnis des deutschen Physiokratismus ist von dieser spezifischen Situation des deutschen Absolutismus nicht zu trennen. Es zielt infolgedessen nicht auf die Vollendung oder gar die Transformation der absoluten Monarchie, sondern kann, ohne die durch die deutsche Realität vorgegebenen Grenzen zu überschreiten, allenfalls Ansätze eines absolutistischen Staatsbegriffs erreichen. Einige Bemerkungen zu Schlettwein und Mauvillon sollen diese These zunächst erläutern. Auszugehen ist von einer weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung mit den Theoretikern des französischen Physiokratismus. Beide übernehmen die zentralen Punkte des französischen Reformprogramms: Vorrang der Landwirtschaft, Liberalisierung aller wirtschaftlichen Verhältnisse, Erhebung einer einzigen auf dem Reinertrag beruhenden Steuer, Abschaffung der überkommenen feudalen Strukturen, Aufstieg des Dritten Standes, Einsatz des Staates für die Durchführung der Physiokratie, Bildungsreform. 47 Beide teilen die französische Auffassung, daß allein die absolute Monarchie zur Durchsetzung dieses Programms in der Lage sei. Schlettwein stattet den Regenten, den er in den Dienst der Physiokratie stellt, mit Majestätsrechten aus, die die gesetzgebende, vollstreckende und beschützende Gewalt umfassen, gesteht ihm also eine absolute Machtbefugnis zu. 48 Mauvillon pocht nach dem Vorgang von Dupont de Nemours auf die Interessenidentität zwischen dem absoluten Herrscher und den Untertanen. 49 Beide sind sich weiterhin durchaus darüber im klaren, daß das von ihnen übernommene Reformprogramm monarchischen Interessen entspricht, daß insbesondere die geforderte Abschaffung der bisherigen feudalen Strukturen ganz auf der Linie fürstlicher Bestrebungen liegt. Mauvillon etwa läßt ausdrücklich keinen Zweifel daran, daß sich sein politisches Konzept nicht gegen den Monarchen, sondern primär gegen den privilegierfähigkeit des französischen Königtums nichts anderes, als daß die Monarchie bis 1789 alle Reformen verwirklicht hat, die im Rahmen eines absolutistischen Systems überhaupt durchführbar sind. Der Verweis auf die Revolution demonstriert demgemäß das Gegenteil dessen, was er demonstrieren soll. Es kann in Österreich und Preußen deswegen keine Revolution nach französischem Muster stattfinden, weil der österreichische und der preußische Absolutismus noch längst nicht an das Ende seiner Möglichkeiten gelangt ist. Umgekehrt kann die Französische Revolution stattfinden, weil die absolute Monarchie in Frankreich ihre Entwicklung vollendet hat. Die Französische Revolution beweist also nicht die „Rückständigkeit", sondern ganz im Gegenteil die „Fortschrittlichkeit" des französischen Absolutismus gegenüber dem österreichischen und preußischen. 47 Schlettwein stellt diese Hauptpunkte des physiokratischen Reformprogramms systematisch dar in: Die wichtigste Angelegenheit für das ganze Publicum oder die natürliche Ordnung in der Politik überhaupt, 2 Bde., Karlsruhe 1772 (Neudruck Vaduz/Liechtenstein 1978); vgl. Braunreuther, Bedeutung (wie Anm. 41), 17 ff., und Krebs, Schlettwein (wie Anm. 42), 71 ff. Im Falle Mauvillons ist am ehesten hinzuweisen auf: Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren staatswirthschaftlichen Gesetze, die unter dem Namen des Physiokratischen Systems bekannt sind, Braunschweig 1780; dazu Braunreuther , Bedeutung (wie Anm. 41), 41 ff., und vor allem Hoffmann, Mauvillon (wie Anm. 42), 176 ff. 48 Krebs, Schlettwein (wie Anm. 42), 69. 49 Hoffmann, Mauvillon (wie Anm. 42), 190 u. 223.
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ten Adel richtet. 50 Beide verbinden schließlich, wiederum gleich den französischen Theoretikern, ihr Modell der absoluten Monarchie mit Vorstellungen der Limitierung und Kontrolle, die dasselbe faktisch zu relativieren geeignet sind. Schlettwein bindet in seiner Naturrechtslehre den Regenten an die Gesetze der natürlichen Ordnung und sieht im Falle eines Machtmißbrauchs sogar ein Widerstandsrecht vor, ohne daraus allerdings unmittelbare institutionelle Konsequenzen zu ziehen.51 Mauvillon will den Abbau der staatlichen Reglementierung über die Wirtschaft hinaus auf andere Bereiche ausweiten und fordert z. B. eine Privatisierung des Bildungswesens; er betreibt also eine Abwälzung staatlicher Kompetenzen auf die Gesellschaft. 52 Beide Male wird damit die Meinung der französischen Physiokraten noch übertrumpft. Diese weitgehende Übereinstimmung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schlettwein und Mauvillon in Wahrheit einen vom französischen Physiokratismus abweichenden Standpunkt vertreten. Was Schlettwein betrifft, so ist seine Befangenheit im kleinstaatlichen und damit präabsolutistischen Horizont offensichtlich. Die von ihm adaptierte Theorie der absoluten Monarchie erweist sich bei näherem Hinsehen als bloßer Überbau eines auf die konkreten Verwaltungsprobleme eines gewöhnlichen deutschen Fürstenstaates berechneten Reformkonzepts und entbehrt daher jeder großen politischen Linie. Schlettwein ist von der unmittelbaren Anschauung der ökonomischen Zustände in Mittel- und Südwestdeutschland geprägt, setzt an bestimmten dort wahrgenommenen Mängeln an und sucht ihnen im Rahmen des bestehenden politischen Systems beizukommen. Er interessiert sich im Grunde vordringlich für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität als Mittel zur dauerhaften Behebung akuter lokaler Notstände. Die physiokratische Wirtschaftsdoktrin soll ihm zur Rechtfertigung dieser Zielsetzung dienen, die physiokratische Theorie des Absolutismus zur Rechtfertigung der dazu notwendigen administrativen Maßnahmen.53 Dieser Deutung widerspricht nicht, daß Schlettwein andererseits Reichspatriot ist, eine Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt verlangt, auch wohl gar von Joseph II. und Leopold II. eine physiokratische Reichswirtschaftspolitik erhofft. 54 Denn das Reich ist auch für ihn ersichtlich kein mit den Kategorien des modernen Staates zu messendes politisches Gebilde, sondern Rechtsbewahranstalt: vor allem für das dritte Deutschland der so Ebd., 223. 51 Krebs, Schlettwein (wie Anm. 42), 70. 52 Hoffmann, Mauvillon (wie Anm. 42), 189 f. u. 222. 53 Braunreuther, Bedeutung (wie Anm. 41), 17, hebt zutreffend die für Schlettweins ganzes Leben charakteristische „Verbindung von Wissenschaft und praktischem Leben" hervor. Am Anfang von Schlettweins Laufbahn stehen landwirtschaftliche Vorlesungen (ebd.); er wird 1763 als Fachmann für Agrikultur nach Baden geholt (18); in Gießen hält er seit 1777 vor allem praktische politisch-ökonomische Kollegien und vergibt Seminararbeiten über das Problem der Allmende, über die Beseitigung der Gemengelage, über die Beseitigung der Erbteilung, über die Errichtung öffentlicher Getreidemagazine (25 f.). 54 Ebd., 27 f.
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kleinen Fürstenstaaten, aus dem er selbst stammt. Wie fremd oder verständnislos Schlettwein dem wirklichen Absolutismus gegenübersteht, zeigt zuletzt seine heftige Animosität gegen das friderizianische Preußen, die über alle Detailkritik hinweg das Regime als solches trifft. 55 Mauvillon weicht in anderer Weise vom französischen Physiokratismus ab. Zweifellos muß seiner Auffassung vom Absolutismus ein qualitativ größeres politisches Format attestiert werden als derjenigen Schlettweins. Die physiokratische Theorie der absoluten Monarchie ist bei ihm nicht einfach einem kleinstaatlichpräabsolutistischen Problembewußtsein übergestülpt, sondern hat eigenes Gewicht. Insbesondere seine Aversion gegen das Feudalsystem entspringt einem genuinen gesellschaftspolitischen Motiv. 56 Mauvillon hebt zwar im Angesicht der Französischen Revolution auf das Glück der kleinen Staaten Deutschlands ab und fällt damit wiederum in eine eingeschränkte Betrachtungsweise zurück. 57 Andererseits ist kennzeichnend, daß er letztlich alle Hoffnungen auf Preußen setzt.58 Wenn Schlettwein den friderizianischen Staat prinzipiell ablehnt, so hält Mauvillon in erster Linie diesen Staat für fähig, eine physiokratische Reform einzuleiten. Sogar die Vorstellung einer preußischen Beherrschung Deutschlands taucht bei ihm schon auf. Diese Haltung schließt vielfältige Kritik an einzelnen Mißständen der preußischen Monarchie nicht aus. Daß das gegenwärtige Preußen seinem Modell eines physiokratischen Staates keineswegs entspricht, ist ihm wohl bewußt. Aber diese Kritik setzt nicht nur die Existenz des preußischen Absolutismus voraus, sondern soll auch gerade dessen konsequente Fortbildung ermöglichen. Mauvillon gewinnt damit, im Gegensatz zu Schlettwein, Anschluß an die moderne Staatsentwicklung in Deutschland. Was ihn dennoch vom französischen Physiokratismus unterscheidet, ist die Tatsache, daß in seinem Denken die Wendung zur Transformation der absoluten Monarchie noch nicht absehbar ist. Seine Bemerkungen über die Limitierung und Kontrolle der monarchischen Gewalt lassen sich ernsthaft noch nicht in diesem Sinne interpretieren. Wie weit vielmehr Mauvillon noch diesseits der Trennungslinie zwischen absolutistischem und nachabsolutistischem Staat steht, tritt bei seiner Beurteilung der Französischen Revolution hervor. 59 Er begrüßt die Revolution als grandiosen Versuch zur Verwirklichung des Physiokratismus. Er verwirft aber zugleich die revolutionäre Gewaltsamkeit und weist demgegenüber die deutschen Staaten, vorab Preußen, auf den Weg der absolutistischen Reform von oben. Die Möglichkeit einer Transformation des Absolutismus erscheint ihm also selbst oder besser gerade im Hinblick auf das in Frankreich vollzogene Beispiel völlig undiskutabel. Mauvillon reflektiert damit den Umstand, daß es sich in Deutschland nicht um einen sich vollendenden, sondern um einen rudimentären oder aufsteigenden Absolutismus handelt. 55 56 57 58 59
Ebd., 27, und Krebs, Schlettwein (wie Anm. 42), 54. Hojfrnann, Mauvillon (wie Anm. 42), 192. Ebd., 232. Ebd., 224, 238 und 272 ff. Ebd., 231 ff.
Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland
Was für die physiokratische Theorie in Deutschland gilt, das gilt erst recht für die physiokratische Praxis: die Determinierung durch die Realität des deutschen Absolutismus. Die Reform des Markgrafen Karl Friedrich von Baden findet in einem typischen deutschen Kleinstaat statt, der eine absolutistische Fassade, aber keine absolutistische Substanz besitzt und sich von anderen Staaten dieses Zuschnitts lediglich durch den guten Willen des Fürsten und die Leistungskraft der Bürokratie abhebt. Das in Dietlingen inaugurierte Projekt, von Schlettwein konzipiert und zunächst auch unter dessen Leitung durchgeführt, verfolgt ursprünglich den erklärten Zweck, die in diesem Dorf seit langem herrschende Wirtschaftsmisere zu beenden und damit die drohende Auswanderung der Bevölkerung zu verhindern. Die Anwendung des physiokratischen Instrumentariums ist ganz auf diesen begrenzten Zweck abgestellt. Die beiden am meisten aufsehenerregenden Maßnahmen sind die Ersetzung aller bisherigen Abgaben durch eine Landsteuer auf der Basis des Reinertrags und die Verkündung uneingeschränkter Handels-, Gewerbe- und Verkehrsfreiheit. Im Vordergrund stehen freilich bestimmte agrartechnische Verbesserungen, wie die Vergrößerung des Viehbestandes, die Einführung der Stallfütterung, die Abschaffung der Brache und die Anlegung einer Holzplantage.60 Das Ganze ist Gutsverwaltung, keine Politik. Das badische Projekt muß auch im weiteren Verlauf bis zu seinem Scheitern in diesem Kontext gesehen werden. Zum Unterschied davon kommt dem Physiokratismus in der österreichischen oder preußischen Staatspraxis sicher politische Relevanz zu. Allerdings hat es in beiden Fällen niemals einen umfassenden physiokratischen Reformversuch gegeben. Man experimentiert gelegentlich mit einzelnen wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumenten, ohne sich dem ganzen System zu verschreiben, läßt sie auch wieder fallen, greift statt dessen auf das herkömmliche kameralistische Arsenal zurück, strebt nicht selten, Physiokratismus und Kameralismus zu koordinieren. Die Steuergesetzgebung Josephs II. gründet die Steuererhebung anfangs allein auf den Bodenertrag, bezieht aber später auch die Erträge der Industrie und des Handels ein. 61 Die preußische Regierung verfügt 1786 die Freigabe des Kornhandels, errichtet aber bereits 1787 erneut eine Kornbarriere gegen Polen. 62 Diese beständigen Kurswechsel bezeugen nicht nur den Wandel der jeweiligen konkreten Wirtschafts- und Finanzinteressen, sondern dokumentieren auch die Hektik, die dem gewaltsamen Anlauf Österreichs und Preußens zum Absolutismus eigentümlich ist. Eine Vergleichbarkeit mit der Turgotschen Reformpolitik ist also nirgends gegeben: ebensowenig wie eine Vergleichbarkeit des deutschen mit dem französischen Absolutismus.
60 Krebs, Schlettwein (wie Anm. 42), 116, und Liebel, Bureaucracy (wie Anm. 44), 51. 61 Aretin, Einleitung (wie Anm. 2), 23. 62 Hoffmann, Mauvillon (wie Anm. 42), 302.
Die humanistische Historiographie: Umfang, Bedeutung, Probleme Wenn ich das mir gestellte Thema recht verstehe, wird von mir eine Art Gesamtüberblick über die humanistische Geschichtsschreibung erwartet. Das ist, bei der Komplexität und Kompliziertheit des vielfach erforschten Gegenstandes, eine in beschränktem Rahmen nur schwer lösbare Aufgabe, bei der es ohne Weglassungen nicht abgeht. Meine Frage ist die elementarste, die sich stellen läßt. Sie lautet: Was ist humanistische Historiographie? Was ist das Humanistische an ihr? Oder anders gewendet: Was bedeutet der Humanismus für die Geschichtsschreibung? Stellt er ein eigenes historiographisches Programm auf? Gibt es in seinem Zeichen neue Inhalte, neue Methoden, neue Gattungen der Geschichtsschreibung? U m das Generalthema unseres Sammelbandes zu erreichen, ist dabei ein besonderes Interesse an Deutschland angebracht: an „Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus", um es mit dem Titel des für diesen ganzen Gegenstandsbereich immer noch einschlägigen Buches von Paul Joachimsen aus dem Jahre 1910 zu sagen.1 Ich füge ausdrücklich hinzu, daß damit Erstveröffentlichung in: Franz Brendle / Dieter Mertens / Anton Schindling / Walter Ziegler (Hrsg.), Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus (Contubernium, Bd. 56), Stuttgart 2001, 3-18. 1 Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 6), Leipzig 1910 (Neudruck Aalen 1968). - Weitere allgemeine Darstellungen: Ludwig Wachler, Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterarischen Cultur in Europa (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Fünfte Abteilung, II), Bd. 1/ 1, Göttingen 1812; Franz Xaver von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Bd. 20), München 1885; Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie (1911), 3. Aufl., München/Berlin 1936 (Neudruck Zürich/ Schwäbisch Hall 1985); Benedetto Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1915; Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1 (1950), 3. Aufl., Salzburg 1964; Eugenio Garin, Der Begriff der Geschichte in der Philosophie der Renaissance (1951), in: August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance (Wege der Forschung, Bd. 204), Darmstadt 1969, 245-262; August Buck, Das Geschichtsdenken der Renaissance (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln, Bd. 9), Krefeld 1957; Eric Cochrane, Historians and Historiography in the Italian Renaissance, Chicago / London 1981; Donald R. Kelley, Humanism and History, in: Albert Rabil Jr. (Hrsg.), Renaissance Humanism. Foundations Forms and Legacy, Bd. 3, Philadelphia 1988, 236-270; Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991.
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die Historiographie aus humanistischer Zeit, die nicht unter dem Einfluß des Humanismus steht, außer Betracht bleibt; freilich sind, gerade in Deutschland, die Grenzen nicht immer deutlich zu ziehen. Es scheint mir zweckmäßig, zunächst nochmals, natürlich in aller Kürze, in Erinnerung zu rufen, was gemeint ist, wenn wir von Humanismus sprechen: einige Tatsachen oder Merkmale, über die i m Grunde seit jeher, von Voltaire über Burckhardt bis zu Kristeller, Einverständnis herrscht. 2 Humanismus oder, wie man neuerdings häufig sagt, Renaissance-Humanismus: das ist jene intellektuelle Bewegung, die i m 14. Jahrhundert in Italien aufkommt, sich von dort über andere Länder verbreitet und i m 15. und beginnenden 16. Jahrhundert ihre Blüte- und Reifezeit erlebt. Sie entwickelt sich i m Gegensatz zur Scholastik und verficht ein Programm innerweltlicher, nichttheologischer Bildung, angefangen von den Schulen und Universitäten bis zur Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens überhaupt; ihr Gegensatz zur Scholastik ist allerdings nicht absolut, und ihr Bildungsbegriff schließt die Möglichkeit eines durch Bildung erneuerten Christentums ein. Sie geht aus von einem ästhetischen Bedürfnis: von dem Bedürfnis nach Wiederherstellung der nobilissima lingua, des Lateins als der schönen Sprache schlechthin, in der zugleich alles andere, unser Wissen, unsere Moral, unsere gesamte humanitas beschlossen liegt. 3 Sie erstrebt eine Er-
2 Es ist bemerkenswert, daß Voltaire in seinem „Essai sur les moeurs", und zwar wiederum weithin stellvertretend für die Auffassung der Aufklärungsliteratur überhaupt, ein Bild der Renaissance-Kultur in Italien vorführt, das in seinen wesentlichen Grundzügen bereits auf das Burckhardtsche Renaissance-Buch hindeutet (Ed. René Pomeau, Paris 1963, Bd. 1, 703 ff. u. 757 ff., Bd. 2. 68 ff., 133 ff. u. 163 ff.). Andererseits ist unstrittig, daß Burckhardts Buch bis heute eine nicht zu hintergehende Grundlage der Forschung geblieben ist. Zu Kristeller vgl. etwa den zusammenfassenden Aufsatz „Die humanistische Bewegung" von 1955 (in: Paul Oskar Kristeller, Humanismus und Renaissance. Hg. v. Eckhard Kessler, 2 Bde. [UniTaschenbücher, Bd. 914/915], München 1974-1975, hier Bd. 1, 11-29), ein Programm für neue Einzelforschungen, das Burckhardt ergänzen soll, aber an sich nicht in Frage stellt. Wie sehr sich in der Humanismus-Forschung bestimmte Grundlinien durchhalten, zeigen etwa auch die großen Gesamtdeutungen des deutschen Humanismus, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschienen sind: Gerhard Ritter, Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus, in: Historische Zeitschrift 127, 1923, 393-453; Paul Joachimsen, Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes (1930), in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hrsg. v. Notker Hammerstein, Aalen 1970, 325-386; Erich Meuthen, Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Heinz Angermeier /Reinhard Seyboth (Hrsg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 5), München/Wien 1983, 217-266. 3 Dazu ein charakteristisches Zitat aus Jakob Wimpfelings „Germania" (1501) über die „Utilitas latinae linguae": „Nonne satius esset, nonne honestius, nonne laudabilius, filios vestros bono ingenio praeditos adhuc imberbes et ephebos ad latinos libros applicari in quibus nobilissimam linguam perdiscerent ... libros inquam, in quibus sapientiam, iustitiam, religionem, prudentiam, felix reipublicae regimen, iustas leges, historias, gesta veterum, optimos mores, praeclaras virtutes, naturalium rerum causas, rigidarum legum moderamen et aequitatem, disciplinam militarem et strategemata sugerent" (in: Notker Hammerstein [Hrsg.],
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neuerung der Redekunst und durch sie eine Erneuerung der Welt. Das Feld, auf dem sie sich bewegt, ist daher die Literatur in allen ihren Verzweigungen; der Humanismus ist eine literarische Bewegung par excellence; die Humanisten sind die ersten Literaten der europäischen Geschichte, die nur dies sein wollen, auch dadurch den überkommenen Verhältnissen entgegengesetzt, daß sie aus allen Ständen stammen und sich an ein ständeübergreifendes Publikum wenden. Dieses literarische Interesse ist ebenso reproduktiv wie produktiv. Zum einen handelt es sich um eine planmäßige Neuaneignung der klassischen römischen Literatur, die den Humanisten das absolut gültige Muster lateinischer Rede bietet. Das geschieht durch Sammlung und Sichtung der Handschriften, durch neue Ausgaben, die den möglichst authentischen Wortlaut herstellen, und durch sprachliche und sachliche Erläuterungen, die den Sinn der Texte erschließen. Daraus erwächst ein Drang, alle irgend noch vorhandenen Überreste des griechischen und römischen Altertums, literarische und nichtliterarische, aufzuspüren, kritisch zu reinigen, zu kommentieren und zu veröffentlichen. Zum andern handelt es sich darum, nach dem antiken Vorbild eigene literarische Werke hervorzubringen, die Literatur der Alten nachzuahmen, wenn nicht zu übertreffen, sich jedenfalls von ihr zu gleichen oder analogen Leistungen inspirieren zu lassen. Der Humanismus läuft also auf eine doppelte Wiederbelebung des klassischen Altertums hinaus: auf eine philologischhistorische Restituierung und auf eine normative Applikation, die beide in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Er ist nicht zu denken ohne die beginnende Krise der mittelalterlichen res publica christiana. Sein innerweltlicher Bildungsbegriff entspricht veränderten politisch-sozialen Bedürfnissen: er verbindet sich in Italien mit dem Stadtstaat der Renaissance, in Deutschland mit den Bestrebungen zur Reform der Kirche und des Reiches4, in Frankreich mit dem Aufstieg der Königsmacht, überall mit Interessen, die aus dem alten universalen System Staatslehre der Frühen Neuzeit [Bibliothek der Geschichte und Politik, Bd. 16 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 130], Frankfurt 1995, 54 u. 56). 4 An dieser Stelle verdient eine vergleichende Bemerkung von Wachler über Italien und Deutschland am Ende des 15. Jahrhunderts der Vergessenheit entrissen zu werden, wo zunächst eine „auffallende politische Aehnlichkeit" hervorgehoben wird: „beide waren in kleine Staaten aufgelöst, welche daran arbeiteten, sich zu consolidiren; beide wurden durch erbitterter Parteyen Reibungen zerrüttet und an einen Separatismus patriotischer Nationalität gewöhnt, der für das Ganze nicht anders als verderblich werden konnte: der Adel strebte dem Interesse der Fürsten entgegen; die festere Begründung und fortschreitende Erweiterung der fürstlichen Macht war mit dem Ansehen des Kaisers und Reichsoberhauptes unvereinbar; der Wohlstand der Städte war von der Raubgier fehdelustiger Ritter bedroht. In beiden blüheten Handel und bürgerliche Betriebsamkeit, die Quelle städtischen Reichthums und Luxus, der das Gedeihen der litterärisehen und artistischen Cultur begünstigte. Sehr früh ging die enthusiastische Liebe für das classische Alterthum aus Italien nach Teutschland über und schuf einen allmächtig-fruchtbaren Zeitgeist, welcher unermeßlich folgenreiche Umwandlungen der sittlichen Denkart und der Richtung litterärischer Thätigkeit herbei führte, bedingt und gehoben durch Achtung für Reinheit der Sitten und durch Ehrfurcht für das Heilige, welche in einem großen Theile Italiens erloschen oder durch Egoismus des Genusses und durch theoretische Einseitigkeit gekünstelter Reflexion geschwächt war"; Wachler, Geschichte, Bd. 1/1 (wie Anm. 1), 181 f.
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herausführen. Es ist aber wesentlich, daß er in bloßen funktionalen Zuordnungen nicht aufgeht, sondern eine Potenz sui generis darstellt, die überall ein eigentümliches gesellschaftliches Prestige gewinnt; anders gesagt: er ist selbst ein Moment jener Krise und wirkt auf andere Momente zurück. Die humanistische Bewegung läuft aus im konfessionellen Zeitalter, als das von ihr verfochtene Bildungskonzept sich zwar, äußerlich gesehen, endgültig durchsetzt, aber dabei in strukturelle Abhängigkeitsverhältnisse gerät, die mit veränderten Vorzeichen auch in den Zeiten des Absolutismus und der Aufklärung fortdauern. Es gibt bis zum 18. Jahrhundert und selbst darüber hinaus humanistisch Gebildete im herkömmlichen Sinne, die die lateinische Sprache pflegen und das klassische Altertum verehren; aber sie stehen gewissermaßen nicht mehr für sich selbst, sondern unter der Priorität neuer Wertvorstellungen, die aus neuen Herausforderungen in veränderten Zeitumständen resultieren. Jedenfalls ist es fragwürdig, für die Zeit nach 1550 oder gar nach 1600, so wie bisher, noch von Humanismus zu reden, es sei denn, man ließe sich auf einen völlig unspezifischen Begriffsgebrauch ein. Wenn man das Ganze personalisieren will, so kann man sagen, daß Petrarca die humanistische Bewegung hervorruft, daß Erasmus sie auf ihren Höhepunkt führt und daß Lipsius schon den Zustand jener vollständigen Instrumentalisierung humanistischen Denkens repräsentiert, der sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einstellt. Was bedeutet dieser Humanismus, ein so verstandener Humanismus für die Geschichtsschreibung? Ganz allgemein gilt, daß die Historie, neben der Poesie, zu den bevorzugten Gegenständen des humanistischen Bildungsprogramms gehört und daß sie ein Großteil der humanistischen Produktion ausmacht; sie bietet den Humanisten Material für alle von ihnen kultivierten Interessen: innerweltliches Wissen, Beispiele für Redekunst, ethisch-praktische Belehrung. Diese Hochschätzung entspricht zugleich in besonderem Maße jenen politisch-sozialen Bedürfnissen, ohne die der Aufstieg des Humanismus nicht gedacht werden kann. Dem Stadtstaat der Renaissance, der sich gegenüber den universalen Mächten der mittelalterlichen Welt verselbständigt, ist es, nach der Zerreißung der bisherigen Bindungen, vordringlich um geschichtliche Legitimierung zu tun 5 ; Kaiser Maximilian betreibt eine richtige Geschichtspolitik, um seine Stellung im Reich und die Würde seines Hauses zu fundieren. 6 Die Humanisten wissen solchen Erwartungen zu genügen, nicht ohne sie bis zu einem gewissen Grad geweckt und ihnen insoweit vorgearbeitet, ja förmlich entgegengearbeitet zu haben. Von diesen Voraussetzungen her ergeben sich zunächst einmal zwei Spezifika humanistischer Geschichtsschreibung. Das erste ist inhaltlich-thematischer Art: der Aufstieg der profanen Geschichte zur Geschichte schlechthin.7 Die Humanisten, die der Scholastik ein Programm 5 Dazu Hans Baron, Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus des Quattrocento, in: Historische Zeitschrift 147, 1933, 5-20. 6 Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. - Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 5, München 1986, 362 ff.
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nichttheologischer Bildung entgegensetzen, lösen auch die profane Geschichte aus der bisherigen Unterordnung unter die Theologie heraus: unter die in der Bibel geoffenbarte heilige Geschichte, auf die bisher zuletzt alles ankam. Die profane Geschichte erhält nunmehr einen eigenen Wert, muß aus sich selbst heraus verstanden werden, beruht auf immanenten Kausalitäten; sie wird ein selbständiger Zweig des Wissens. Die humanistischen Autoren haben dabei mit der traditionellen Historie durchaus viele Materien gemeinsam; aber sie geben ihnen ein ganz anderes Profil und fassen sie mit ganz anderer Intensität auf. Leonardo Bruni, mit seinen „Historiae Florentini populi" der Verfasser der „ersten humanistischen Stadtgeschichte Italiens4'8, findet eine Reihe florentinischer Stadtgeschichten vor, von einer vor 1230 entstandenen anonymen „Chronica" bis zur nach 1300 entstandenen „Cronica" des Giovanni Villani. 9 Aber während es den früheren Autoren darum geht, ihren Gegenstand im Zusammenhang der christlich gedeuteten Weltgeschichte abzuhandeln, begreift Bruni Florenz als ein individuelles Gebilde aus originärer Wurzel, das einem auf Autonomie angelegten Entwicklungsgang folgt. Er zerschneidet alle Verbindungen mit der universalen Heilsgeschichte des römischen Reiches, kennt, anders als noch Villani, keine Gründung der Stadt durch Caesar 10, keine Wiederbegründung durch Karl d. Gr. 11 , verwirft auch die Wundertaten der Sancta Reparata in den Nöten der Völkerwanderungszeit 12; Florenz ist 7 Dazu Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 88 ff. Fueter, Geschichte (wie Anm. 1), 11 spricht von der „Säkularisation der Geschichte"; danach Croce, Zur Theorie (wie Anm. 1), 180. 8 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 21. Zu Bruni allgemein: Berthold Louis Ullman, Leonardo Bruni and Humanistic Historiography (1946), in: ders., Studies in the Italian Renaissance, Rom 1955, 321-344. 9 Dazu Eckhard Kessler, Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Humanistische Bibliothek, Bd. I, 25), München 1978, 32 ff. Vgl. auch Jörg W. Busch, Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 72), München 1997. 10 Leonardo Bruni Aretino, Historiarum Florentini populi libri X I I e Rerum suo tempore gestarum commentarius. Ed. Emilio Santini/Carmine di Pierro (Rerum Italicarum scriptores, Vol. 19,3), Cittä di Castello 1914-1926, 7 ff.; dazu Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 20 und Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 98 f. Caesar wird von Bruni erstmals als Zerstörer der römischen Freiheit genannt, der den Niedergang des römischen Reiches eingeleitet habe (14); der Niedergang des Reiches ist freilich die Voraussetzung dafür, daß Florenz seine Freiheit gewinnt oder wiedergewinnt (23): die traditionelle Gründungsgeschichte, die Florenz an den ersten Kaiser der vierten und letzten Weltmonarchie anschließen wollte, bekommt damit gewissermaßen einen ganz neuen Sinn. 11 Bruni, Historiarum (wie Anm. 10), 24; dazu Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 20 und Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 98 f. Es ist zugleich bezeichnend, daß Bruni das Kaisertum Karls d. Gr. von der herkömmlichen Lehre der „translatio imperii" löst: „Carolus imperator Romae creatus obliteratum nomen imperii dignitatemque resumpsit: imperium illud, quod in Carolo Magno ... fundatum ab initio fuit" (23 u. 25). 12 Bruni, Historiarum (wie Anm. 10), 17.
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für ihn schon vor Rom und noch nach Rom da und besteht aus eigener Kraft 13 , die wiederum durch ein bestimmtes politisches System im Innern gewährleistet wird. 14 Sofern humanistische Autoren Universalhistorie schreiben, suchen sie sich so weit wie irgend möglich von den christlich-theologischen Einteilungsformen loszumachen: Sabellicus organisiert seine „Enneades" als eine Summe individueller Geschichten, und auch in den „chronici commentarii" des Johannes Nauclerus, die sich äußerlich noch ganz in den herkömmlichen Strukturen halten, beherrscht das weltliche Geschehen das Bild. 1 5 Die humanistische Steigerung der profanen Geschichte zieht auf Dauer auch die früher der heiligen Geschichte vorbehaltenen Gegenstände in ihren Bann; die Kirche erscheint, mitsamt ihren Repräsentanten, immer mehr als eine menschliche Einrichtung, die der innerweltlichen Erklärung oder Ableitung bedarf. Es gibt aber auch historiographische Materien, die dem Humanismus ursprünglich angehören. Im Vordergrund steht dabei ein eigentümlicher Hang zur nationalen Geschichte. Die Nationalisierungsprozesse, auf die er reflektiert, haben, von anderen Motiven abgesehen, einen wesentlichen Grund darin, daß die jeweilige Ausbildung oder Aneignung des Humanismus selbst nationale Konkurrenz oder Rivalität auslöst. Jedenfalls wird es nicht nur üblich, daß die Humanisten ihren Bildungsstolz oder auch ihr Ressentiment jeweils mit ihrer Nation identifizieren; sie setzen auch alsbald ihren Ehrgeiz darein, die Geschichte ihrer Nation zu schreiben, die sie immer als Ruhmesgeschichte verstehen. Den Anfang macht die „Italia illustrata" des Flavio Biondo, eine geographisch-historische Landesbeschreibung zur Ehre Italiens 16 , und es sind zunächst wiederum Italiener, von denen Anstöße zu einer nationalen Geschichtsschreibung in anderen europäischen Ländern ausgehen. Die ersten humanistischen Geschichten Frankreichs und Englands stammen überhaupt von italienischen Autoren, von Paulus Aemilius aus Verona und Polydor Vergil aus Urbino. 17 In Deutschland wirkt Enea Silvio Piccolomini bahnbrechend, nicht ohne dabei zugleich Animosität oder Eifersucht gegen sich zu erregen. 18 An ihn knüpft, jedenfalls teilweise, Jakob Wimpfelings 13 Bruni, Historiarum (wie Anm. 10), 7: „Etenim priusquam Romani rerum potirentur, multas per Italiam civitates gentesque magnifice floruisse, easdem omnes stante romano imperio exinanitas constat. Rursus vero posteris temporibus, ut dominatio romana cessavit, confestim reliquae civitates efferre capita et florere coeperunt, adeo quod incrementum abstulerat, diminutio reddidit"; vgl. auch Anm. 10. 14
Muhlack. Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 219 ff. Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 80 ff.; Fueter, Geschichte (wie Anm. 1), 33 ff.; Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 104 ff. 16 Vgl. zuletzt Ottavio Clavuot, Biondos „Italia illustrata" - Summa oder Neuschöpfung? Über die Arbeitsmethoden eines Humanisten (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 609), Tübingen 1990; dazu H. Goldbrunner, Flavio Biondos „Italia illustrata" - Bericht über eine neue Veröffentlichung, in: August Buck (Hrsg.), Humanismus und Historiographie, Weinheim 1991, 145-152. Siehe auch Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 199 ff. 17 Fueter, Geschichte (wie Anm. 1), 139 ff. u. 163 ff. 15
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„Epithoma rerum Germanicarum" a n 1 9 ; von ihm leitet sich das Biondo nachempfundene Projekt der „Germania illustrata" her, das vornehmste oder ambitionierteste historiographische Projekt des deutschen Humanismus 2 0 , dem eine Reihe berühmter Namen, von Konrad Celtis 2 1 bis zu Beatus Rhenanus 22 , zuzurechnen ist, auch dadurch bemerkenswert, daß es den Rahmen für eine humanistische Landesgeschichtsschreibung oder vielmehr für die humanistische Transformierung der bisherigen Landesgeschichtsschreibung 23 absteckt: das Thema dieses Sammelbandes. Wenn es ein Werk gibt, in dem alle Facetten des Projektes aufscheinen, ist es die „Baierische Chronik" des Johannes Aventin 2 4 : bayerische Geschichte i m Zusammenhang der deutschen Geschichte, die zugleich auf ihre weltgeschichtlichen Voraussetzungen zurückgeführt wird. Dem Humanismus selbst gehört noch ein anderes historiographisches Thema an, das gewissermaßen alle übrigen durchdringt und von dem kulturellen Grundmotiv der humanistischen Bewegung herrührt: Geschichte der Literatur, Geschichte der Künste und Wissenschaften, Kulturgeschichte, die bis zum weitesten Sinn der Zivilisationsgeschichte, der Geschichte der Zustände und Verhältnisse geht. 2 5 Ge18 Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 202 ff. Zur nationalen Geschichtsschreibung der deutschen Humanisten im allgemeinen: Jacques Ridé, L'image du Germain dans la penseé et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIe siècle, 3 Bde., Lille/Paris 1977; Herfried Münkler/Hans Grünherger / Katrin Mayer, Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen, Bd. 8), Berlin 1998. 19 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 66 ff.; Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 47, 99 ff., 240 ff. und 255 f.; Dieter Mertens, Jakob Wimpfeling (1450-1528). Pädagogischer Humanismus, in: Paul Gerhard Schmidt (Hrsg.), Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, Sigmaringen 1993, 35-57, hier 42 f. 20 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 155 ff.; Jaqcques Ridé, Un grand projet patriotique. Germania illustrata, in: L'Humanisme allemand (1480-1540). XVIIIe colloque international de Tours (Humanistische Bibliothek, Bd. I, 38), München 1979, 99-111; Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 206 ff. 21 Lewis W. Spitz, Conrad Celtis the German Arch-Humanist, Cambridge, Mass. 1957. 22 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 125 ff.; Annuaire de la Société des Amis de la Bibliothèque Humaniste de Sélestat 35 (1985): Spécial 500e anniversaire de la naissance de Beatus Rhenanus; Ulrich Muhlack, Beatus Rhenanus (1485-1547). Vom Humanismus zur Philologie, in: Schmidt (Hrsg.), Humanismus (wie Anm. 19), 195-220; James S. Hirstein, Tacitus' Germania and Beatus Rhenanus (1485-1547). A study of the Editorial and exegetical Contribution of a Sixteenth Century Scholar (Studien zur klassischen Philologie, Bd. 91) Frankfurt 1995. 23 Vgl. zuletzt: Kurt Andermann (Hrsg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien, Bd. 7), Simaringen 1988; Uta Görlitz, Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das „Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis" des Hermannus Piscator OSB. (Frühe Neuzeit, Bd. 47), Tübingen 1999; Ulrich Andermann, Albert Krantz. Wissenschaft und Historiographie um 1500. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 38) Weimar 1999. 24 Gerald Strauss, Historian in an Age of Crisis. The Life and Work of Johannes Aventinus 1477-1534, Cambridge, Mass. 1963; Alois Schmid, Die historische Methode des Johannes Aventinus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113, 1977, 338-395.
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rade in den nationalen Geschichten, die der Humanismus hervorbringt, macht sich diese kulturgeschichtliche Dimension geltend; die „Italia illustrata" ist wie die Wimpfelingsche „Epithoma", wie die „Germania illustrata" auch als Geschichte kultureller Ruhmestaten aufgezogen. Das andere Spezifikum humanistischer Geschichtsschreibung bildet zu alledem die Entsprechung und ist formal-methodischer Art: die Entdeckung oder Wiederentdeckung der historiographischen Darstellung. 26 Der Humanismus, eine literarische Bewegung, die die Erneuerung der Redekunst erstrebt, will auch die historiographische Darstellungskunst erneuern. Er faßt damit das literarische Problem der Geschichtsschreibung auf eine Weise, für die in der christlich-theologischen Historiographie alle Voraussetzungen fehlen. Diese müht sich nicht um schöne Sprache, sondern um frommes Wissen, das sie nach theologischen Gesichtspunkten organisiert oder für eine solche Organisation aufbereitet; sofern sie Tatsachen beibringt, die sich diesen Gesichtspunkten nicht fügen, bleiben sie unverbunden; ein Bedürfnis nach ästhetischer Geschlossenheit im großen wie im kleinen kann hier nicht einmal ansatzweise aufkommen. Dagegen wird dieses Bedürfnis für die humanistische Geschichtsschreibung sozusagen konstitutiv; die ästhetisch vollkommene historiographische Darstellung ist ihr ein Gegenstand unablässiger Reflexion und Erprobung. Erst jetzt entsteht damit auch ein geschärftes Bewußtsein für die Verschiedenheit historiographischer Gattungen, während es sich andererseits in der Forschung zunehmend als unmöglich erwiesen hat, die Geschichtsschreibung des Mittelalters nach literarischen Genera zu ordnen. 27 Die historiographische Darstellungskunst der Humanisten erschöpft sich freilich keineswegs in bloßer Darstellungstechnik; sie hat vielmehr, gleich der humanistischen Redekunst insgesamt, einen universalen Horizont. Sie umfaßt, neben Kompositionsregeln und Redefiguren, auch das ganze sachliche Instrumentarium historischer Erkenntnis und historischen Wissens und läuft damit auf eine bis dahin beispiellose Theorie der Geschichte hinaus: auf eine ars histórica , aus der bekanntlich unser Begriff der Historik hervorgegangen ist. Andererseits bleibt es das Charakteristische, daß diese Theorie der Geschichte vom literarischen Problem der Darstellung her entworfen ist; alles, was hier zur Erörterung kommt, dreht sich um die angemessene ästhetische Form; die Geschichte findet allein in der Geschichtsschreibung statt.
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Dazu Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 239 ff. Vgl. zum folgenden Eckhard Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung (dtv, Bd. 4389), München 1982, 37-85. Fueter, Historiographie (wie Anm. 1), 9 stellt die „Wiedereinführung der antiken rhetorischen Form" obenan; siehe auch Croce, Zur Theorie (wie Anm. 1), 184 f. 27 Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt 1985, 107, gegen die „Gattungen der Geschichtsüberlieferung im Mittelalter" bei Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen Epochen - Eigenart (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 209/210), 2. Aufl. Göttingen 1965, 7 ff. 26
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Die Humanisten entnehmen diese Theorie in allen Hinsichten der antiken Geschichtsliteratur, von Livius bis zu Lukian, und arbeiten sie selbständig aus. Gleich der erste humanistische Geschichtsschreiber, Petrarca, hat sie schulbildend zur Darstellung gebracht, und zwar in seinem Werk „De viris illustribus"; ich beziehe mich auf die letzte Fassung, die von den großen Römern der Königszeit und der Republik handelt. Petrarca gibt in einer knappen Vorrede Auskunft über sein Thema, die von ihm befolgte Methode und seine allgemeine Zielsetzung: er beschreibt das Leben von Männern, die durch höchsten Ruhm ausgezeichnet sind; er faßt dazu die bisherige historiographische Überlieferung zusammen, übt dabei i m einzelnen Quellenkritik nach den Maßstäben der größeren Wahrscheinlichkeit und Autorität und beansprucht zugleich, die verstreuten Nachrichten, mit dem Ziel möglichster Kürze, in ein neues literarisches Ganzes zu bringen; er w i l l dadurch die Aufgabe der Geschichtsschreibung erfüllen, die Leser zu bessern und zu unterhalten. 2 8 Er verkündet also das Programm einer literarisch durchgeformten und gefälligen historia magistra vitae, und er führt es in der Folge exemplarisch aus, etwa in der Lebensbeschreibung des Scipio Africanus, die ihm i m Mittelpunkt steht. 2 9 Nach diesem Paradigma haben die Humanisten seit Petrarca Geschichte 28 F. Petrarca, De. viris illustribus. Ed. Guido Martellotti (Edizione Nazionale delle Opere di Francesco Petrarca, Vol. 2), Florenz 1964, 3 f.; ich setze den Text wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung hierher: „Illustres quosdam viros quos excellenti gloria floruisse doctissimorum hominum ingenia memorie tradiderunt, in diversis voluminibus tanquam sparsos ac disseminatos, ... locum in unum colligere et quasi quodammodo stipare arbitratus sum. Historiam narrare propositum est; quare scriptorum clarissimorum vestigiis insistere oportet, nec tarnen verba transcribere sed res ipsas. Non me fugit quantus labor in continenda sermonis dignitate suscipiendus sit; nam si nec eisdem verbis uti licet et clarioribus non datur, quid sit tertium patet. Ordinem quisque et dispersorum congeriem advertat. Namque ea que scripturus sum, quamvis apud alios auctores sint, non tarnen ita penes eos collocata reperiuntur: quedam enim que apud unum desunt ab altero mutuatus sum, quedam brevius, quedam clarius, quedam que brevitas obscura faciebat expressius, quedam que apud alios carptim dicta erant coniunxi et ex diversorum dictis unum feci. Qua in re temerariam et inutilem diligentiam eorum fugiendam putavi, qui omnium historicorum verba relegentes, nequid omnino pretermisisse videantur, dum unus alteri adversatur, omnem historie sue textum nubilosis ambagibus et inenodabilibus laqueis involverunt. Ego neque pacificator historicorum neque collector omnium, sed eorum imitator quibus vel verisimilitudo certior vel auctoritas maior est; quamobrem siqui futuri sunt, qui huiuscemodi lectione versati aut aliud quicquam aut aliter dictum reperierint quam vel audire consueverint vel legere, hos hortor ac moneo ne confestim pronuntient, quod est proprium pauca noscentium, cogitentque historicorum discordiam, que tanto rebus propinquiorem Titum Livium dubium tenuit. Brevitati et notitie consulere propositum est, multa resecando que plus confusionis, ut supra dixi, quam commoditatis essent allatura. Apud me nisi ea requiruntur, que ad virtutes vel virtutum contraria trahi possunt; hie enim, nisi fallor, fructuosus historicorum finis est, ilia prosequi que vel sectanda legentibus vel fugienda sunt; quisquis extra hos terminos evagari presumpserit, sciat se alienis finibus errare memineritque e vestigio redeundum, nisi forte oblectandi gratia diversoria legentibus interdum grata quesierit." Dazu Kessler, Petrarca (wie Anm. 9), 19 ff. und Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 44 f.; die neueste Gesamtdarstellung zu Petrarca, die auch einen Abschnitt über dessen historische Schriften enthält: Gerhard Hoffmeister, Petrarca, Stuttgart / Weimar 1997.
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geschrieben und auch immer wieder auf den Begriff gebracht, zuletzt sogar in förmlichen Traktaten „de scribenda historia" oder „de lectione historiarum", über die Verfertigung oder über die Lektüre von Geschichtswerken, beide Male also im Hinblick auf die historiographische Darstellung, die für sie der Inbegriff historischen Wissens bleibt. 30 Zu diesen beiden einander komplementären Spezifika humanistischer Geschichtsschreibung, dem inhaltlich-thematischen und dem formal-methodischen, kommt aber schließlich ein drittes, das ihnen vorausliegt oder über sie hinausreicht, das direkt aus den Grundannahmen der humanistischen Bewegung erwächst und womöglich die größte Fernwirkung hat: ein Ansatz historischen Denkens im strikten Sinne, ein Ansatz zur Historisierung, Dynamisierung, Individualisierung der Geschichte; man kann geradezu von einem humanistischen Historismus sprechen, der freilich nicht mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt oder verwechselt werden darf. 31 Er entwickelt sich aus dem humanistischen Verhältnis zur Antike, das zuletzt auf normative Applikation zielt, aber zunächst ein Bewußtsein des geschichtlichen Abstands erzeugt. 32 Der Drang zur Wiederbelebung des griechisch-römischen Altertums beginnt mit der Vorstellung, daß dieses nicht unmittelbar gegeben, sondern längst vergangen und fremd geworden, von der Gegenwart durch eine ihm ungünstige oder sogar feindselige Zwischenzeit getrennt sei und daß es jetzt gelte, es über diese Zwischenzeit hinweg wiederum in seiner ursprünglichen Gestalt zu erfassen. Die Antike erscheint also als eine von der Gegenwart verschiedene Epoche, die in ihrer Besonderheit zu begreifen sei; das macht die philologisch-historischen Bemühungen der Humanisten um die Hinterlassenschaft der alten Griechen und Römer notwendig. Der humanistische Rückblick auf die Antike löst damit ein historisches Urerlebnis aus, das in der bisherigen Geschichte des Denkens vom 29 Petrarca stellt Scipio geradezu als Inbegriff der Tugend hin: „Vix sine nomine Scipionis virtutis nomen invenias" (a. a. O., 292); er spricht ihm alle körperlichen und geistigen Vorzüge zu und hebt dabei neben der Vaterlandsliebe bezeichnenderweise die Liebe zur Dichtkunst hervor, nicht ohne die der Poesie abgeneigten Fürsten seiner Zeit zu kritisieren und damit seinen eigenen Wert herauszustellen (294 f.). Er strebt nach vollständiger Sammlung der gesamten antiken Überlieferung und verfügt darüber souverän: er kürzt, prüft, schafft inhaltlich wie sprachlich ein einheitliches Gebilde, das ganz von seinen Interessen, Motiven und Ansichten erfüllt ist, geht aber grundsätzlich nicht über den Rahmen der Überlieferung hinaus, sondern befolgt die Methode einer reflektierenden Aneignung der antiken Autoritäten. 30 Einen guten Überblick über diese Literatur vermittelt: Eckhard Kessler (Hrsg.), Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung. Nachdruck exemplarischer Texte aus dem 16. Jahrhundert (Humanistische Bibliothek, Bd. II, 4), München 1971. Dazu auch Rüdiger Landfester, Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts (Travaux d'humanisme et renaissance, Vol. 123), Genf 1972. 31 Ulrich Muhlack, Empirisch-rationaler Humanismus, in: Historische Zeitschrift 232, 1981,605-616, hier 615. 32 Joachimsen, Humanismus (wie Anm. 2), 331 führt diesen Begriff mit Bezug auf Petrarca ein; vgl. auch Buck, Geschichtsdenken (wie Anm. 1), 8.
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Menschen keine Parallele hat. Gewiß soll die Wiederbelebung der Antike zu einer Aneignung führen, durch die der historische Abstand zur Gegenwart wiederum aufgehoben erscheint. Aber sie hat das geschichtliche Verständnis zur Voraussetzung; noch die normative Applikation selbst gilt einer ganz bestimmten geschichtlichen Epoche, die freilich vor anderen Epochen hervorgehoben w i r d . 3 3 Es kann nicht ausbleiben, daß dieses Historizitätserlebnis auch für die humanistische Historiographie Folgen hat. Ein erster Zusammenhang wird dadurch hergestellt, daß die philologisch-historische Methode, die die Humanisten zur Restituierung der antiken Überreste einsetzen, auf die Erfassung und Behandlung der Quellen übertragen wird, aus denen die Historiker die für sie jeweils relevanten Tatsachen schöpfen. Petrarca ist Livius-Philologe, bevor er die quellenkritischen Studien zu „De viris illustribus" in Angriff n i m m t 3 4 ; viele seiner Nachfolger haben eine gleiche Schulung, alle ziehen aus der philologischen Gelehrsamkeit Nutzen. In Deutschland ist hier außer Konrad Peutinger 35 und Johannes A v e n t i n 3 6 besonders Beatus Rhenanus zu nennen, gleichermaßen Editor und Kommentator römischer Schriftsteller wie kritischer Erforscher der germanisch-deutschen Geschichte; er handhabt die philologisch-historische Methode in beiden Bereichen mit einer einstweilen unübertroffenen Virtuosität, j a Professionalität. 37 Aber der Ansatz zur 33
Hierzu und zum folgenden Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 351 ff. u.
397 ff. 34
Kessler, Petrarca (wie Anm. 9), 66 ff. Er sammelt außer historiographischen Quellen Inschriften, Münzen und Urkunden zur römisch-deutschen Kaisergeschichte, hat dabei eine klare Vorstellung vom unterschiedlichen Quellenwert der „Überreste" und der „Tradition"; aus allen diesen Materialien erwächst schließlich sein Lebenswerk, der „Liber augustalis". Literatur zu Peutinger: Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 116 ff. u. 205 ff.; Heinrich Lutz, Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie (Schriftenreihe des Stadtarchivs Augsburg, Bd. 9), Augsburg 1958, 125 ff.; Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 381 u. 386 ff. 36 Aventin berichtet in der Vorrede zur „Baierischen Chronik" anschaulich über seine Quellenforschung: „Demnach hab ich mir Weile dazu genommen, nichtsdestominder aber nach meinem ganzen Vermögen gearbeitet, Tag und Nacht keine Ruhe gehabt, viel Hitze und Kälte, Schweiß und Staub, Regen und Schnee in Winter und Sommer ertragen, das ganze Baierland durchritten, alle Stifter und Klöster durchfahren, Buchkammern und -Kästen fleißig durchsucht, allerlei Handschriften, alte Freiheits- und Übergabs-Briefe, Chroniken, Sprüche, Reime, Lieder, Abenteuer, Gesänge, Gebetbücher, Meßbücher, Salbücher, Kalender, Totenzettel, Register, der Heiligen Leben durchgelesen und abgeschrieben, Heiltümer, Monstranzen, Säulen, Bildnisse, Kreuze, alte Steine, alte Münzen, Gräber, Gemälde, Gewölbe, Estrich, Kirchen, Inschriften besucht und besichtigt, geistliches und weltliches Recht, lateinische, teutsche, griechische; windische, ungarische, welsche, französische, dänische und englische Geschichten überlesen und durchfragt, nichts, was zu solcher Sache tauglich ist, unterwegen und ununtersucht gelassen, allerlei alter Geschichten Zeugnis und Anzeigen durchstöbert, alle Winkel durchschloffen und durchsucht; wo gewisse Anzeigen, wie jetzt erwähnt, nit vorhanden gewesen sind, der Sage des gemeinen Mannes und gemeinem Gerücht nachgefolgt, doch davon geschieden dasjenige, was mehr unergründlicher Torheit, Dichtung und Märlein gemäß war als gegründeter Wahrheit" (.Johannes Aventinus, Baierische Chronik. Hrsg. v. Georg Leidinger, 1926 (Neudruck Düsseldorf / Köln 1975), 2 f.). 35
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Historisierung macht sich nicht nur i m methodischen Betrieb der Quellenforschung geltend, sondern ergreift von vornherein auch die materiale Auffassung, die die humanistische Historiographie von der Geschichte hegt. Er führt zu einer gewissen Relativierung geschichtlicher Phänomene, zu Vorstellungen von geschichtlicher Veränderung, zu einer Unterscheidung der Epochen, zu einer zeitlichen Tiefengliederung der Geschichte, die auf der jeweiligen Eigenart oder Singularität der Zeitalter beruht. Ja, man kann sagen, daß das Interesse, das die Humanisten an der Geschichte haben oder erwecken, erst von daher seine letzte Begründung und damit seine eigentliche Rechtfertigung erfährt. 38 Der erste Komplex geschichtlicher Phänomene, der Gegenstand dieser historisierenden Sicht wird, ist naturgemäß das klassische Altertum, das sie veranlaßt. Freilich schreibt die humanistische Historiographie kaum oder gar nicht Geschichte der Antike, und zwar aus dem einfachen Grund, weil man die griechische und die römische Geschichte bereits in den Werken der griechischen und römischen Geschichtsschreiber selbst musterhaft dargestellt findet. Petrarca, der das Leben großer Römer beschreibt, ist insoweit eine Ausnahme; sofern man in anderen thematischen Zusammenhängen, etwa in Stadtgeschichten, Weltgeschichten 37 Rhenanus wird sich dieser Ausnahmestellung in zunehmendem Maße bewußt; er erkennt zeitweise allenfalls Aventin als seinesgleichen an, rückt allerdings schließlich auch von ihm wie von allen anderen deutschen Gelehrten ab; dazu: Adalbert Horawitz/ Karl Hartfelder (Hrsg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Leipzig 1886 (Neudruck Hildesheim 1966), 371 und 564. 38 Croce, Theorie (wie Anm. 1), 182 läßt aus der „Rückkehr" zum griechisch-römischen Altertum geradezu den „humanistischen Typus der Geschichtschreibung, der dem mittelalterlichen gegenübergestellt wurde", entstehen. Vgl. auch Garin, Begriff (wie Anm. 1), 256 f.: „Sich des menschlichen Handelns bewußt zu werden, Bewußtsein von sich selbst zu gewinnen, gegen die mittelalterliche Barbarei zu polemisieren, die Antike zu definieren und sich selber gegenüber der Antike - das alles war ein Ganzes. Aber gerade dieses Gewissenhafte und manchmal selbst pedantische Bestimmen des Alten, dieser Wunsch, jedes antike Wort in seinem genauen Sinn zu verstehen, es von dem eigenen zu unterscheiden und es nicht damit zu vermischen oder gar nachzuahmen, sondern das Bewußtsein, daß es sich um etwas handelt, das vom eigenen verschieden war: eben das ist der Geschichtssinn, mit dem der Humanismus so reich und lebendig ausgestattet war ... So entstand die Geschichte als Philologie oder als kritisches Bewußtsein von sich selbst und den anderen." Ähnlich Buck , Geschichtsdenken (wie Anm. 1), 27 f.: „Indem die Renaissance ihre eigene Bedeutung, gleichviel, wie sie dieselbe einschätzt, mit Hilfe von Kriterien zu bestimmen sucht, die sie der Reflexion über das historische Geschehen entnommen hat, entwickelt sie eine Reihe von Ideen, an denen sich fortan das Geschichtsdenken orientiert. Da sich im Vergleich zum Mittelalter das geistige Interesse vom Allgemeinen auf das Besondere verschiebt, richtet sich der Blick des Historikers mehr als früher auf das Individuelle in der Geschichte ... Die Geschichtsauffassung des Mittelalters ist im wesentlichen statisch ... Im Gegensatz dazu darf man die Geschichtsauffassung der Renaissance dynamisch nennen." Ganz in diesem Sinne schreibt Kelley, Humanism (wie Anm. 1), 238 über Petrarca: „What Petrarch accomplished for history in general was to establish Latin antiquity as a cultural and political idea and to make it an object of historical study... On such grounds Petrarch created not only a scholarly tradition but also a legend - as the first (il primo, Leonardo Bruni called him) to open the way to a true understanding of history."
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oder Nationalgeschichten, auf antike Materien zu sprechen kommt, hält man sich, gleich Petrarca, so weit wie möglich an die klassischen Autoren, die grundsätzlich nicht zur Disposition stehen. Andererseits fühlen sich die Humanisten da zuständig, wo die antiken Historiker Lücken gelassen haben oder wo angesichts der mangelhaften Überlieferungslage Lücken bestehen. So verfaßt Pomponio Leto, der Gründer der römischen Akademie und ein Mann mit reinster klassizistischer Gesinnung, ein „Romanae historiae compendium", in dem er die Geschichte des römischen und oströmischen Kaiserreichs vom 3. bis zum 8. Jahrhundert behandelt. 39 Jedoch die Hauptsache ist, daß durch die fortgesetzte philologische Bearbeitung der antiken Überreste Zug um Zug ein historisch vielfältig differenziertes Gesamtbild des klassischen Altertums entsteht. Die Humanisten unterscheiden griechische und römische Literatur, ältere und jüngere römische Literatur, heben die klassische lateinische Literatur insgesamt von der neueren muttersprachlichen Literatur ab 40 ; sie schreiten von da zu einer allgemeinen Epochalisierung des klassischen Altertums fort, unterscheiden die republikanische und die kaiserzeitliche Geschichte Roms 41 , grenzen die Antike vom Mittelalter ab. Sie gehen auch schon frühzeitig dazu über, dieses ganze philologische Wissen in eigenen Werken zusammenzufassen und damit eine Art antiquarischer Geschichtsschreibung zu begründen, die bald fest etabliert erscheint. Biondo ist der erste, der in seiner „Roma triumphans" so verfährt, einer Verfassungs- und Sittengeschichte des römischen Reiches in dessen Zenit, die sämtliche für die Autorenlektüre nützlichen Informationen aus diesem Bereich übersichtlich zusammenstellt42; ihm folgt Leto mit einer Schrift „De Romanorum magistratibus, sacerdotiis, iurisperitis et legibus". 39 Abdruck in: Opera Pomponii Laeti, Straßburg 1510; in der einleitenden Dedikationsepistel, die auch einen Abriß der humanistischen Geschichtstheorie enthält, heißt es über die Absicht des Werkes: „multa dispersa in unum corpus collegimus". 40 Alle diese Unterscheidungen sind am Anfang des 16. Jahrhunderts Gemeingut, wie die „Apologia in M. Plauti, aliorumque Latinae linguae scriptorum calumniatores" des Francesco Florido Sabino (zusammen mit anderen Schriften desselben Autors Basel 1540) zeigt; vgl. bes. 6, 8 u. 119. 41 Schon Bruni, Historiarum (wie Anm. 10), 14 trifft diese Unterscheidung: „Declinationem autem romani imperii ab eo fere tempore ponendam reor quo, amissa libertate, imperatoribus servire Roma incepit." Sie tritt auch auf bei der bis auf Petrarca zurückgehenden Kontroverse um den Vorrang Scipios oder Caesars, die vor allem zwischen Poggio und Guarino entbrennt und noch Florido, Apologia (wie Anm. 40) ergreift: dazu R. Sabbadini, Storia del Ciceronianismo e di altre questioni letterarie nell'etä della rinascenza, Torino 1895, 111 ff.; Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924, 122 ff.; Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, Bd. 1, 2. Aufl. Princeton 1966, 66 ff. u. 407 ff. Zunehmend wird auch Tacitus, der Geschichtsschreiber der Kaiserzeit, Livius, dem Geschichtsschreiber der Republik, gegenübergestellt; ein Beispiel die Dedikationsepistel des Beatus Rhenanus an der Spitze seiner Tacitus-Ausgabe von 1533, in: Horawitz/Hartfelder (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 37), 413 f.; der „Tacitismus" um 1600 beruht wesentlich auf dieser Differenzierung: dazu Else-Lilly Eiter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), Basel / Stuttgart 1966. 42 Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 368.
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Durchschlagende Wirkung hat die historisierende Betrachtungsweise aber weiterhin bei der Befassung mit der nichtantiken Geschichte, der eigentlichen Domäne der humanistischen Historiographie, die hier jenes Werk zu leisten hat, das die griechischen und römischen Geschichtsschreiber für das klassische Altertum bereits vollbracht haben. Diese Wirkung kommt dadurch zustande daß die Phänomene der nichtantiken Geschichte, die man thematisiert, jeweils in eine Relation zur Antike gesetzt werden; der beständige Vergleich oder Bezug macht die Eigenart dieser Phänomene gegenüber der Antike deutlich, die dabei ihrerseits fortwährend relativiert wird. Ein überragendes Beispiel ist dabei zunächst die Geschichtsschreibung über das Mittelalter, die von dieser Relation lebt. Das Mittelalter hat sein Dasein und seine spezifische Physiognomie daher, daß es dem klassischen Altertum nachfolgt und der erstrebten Erneuerung der Antike in der Gegenwart vorausgeht; es konstituiert sich also innerhalb eines Geschichtsbildes, das von der Antike her konzipiert ist; sein Begriff selbst macht den differenzierenden Vergleich mit der Antike notwendig. Ganz in diesem Sinne sind Biondos „Historiae ab inclinatione Romanorum imperii" abgefaßt, die erste allgemeine Geschichte des Mittelalters. 43 Biondo begreift das Jahrtausend zwischen der Völkerwanderung und der eigenen Zeit als Verfall der antiken Kultur, der sich für ihn zunächst darin äußert, daß darüber bisher keine literarisch anspruchsvolle Geschichtsschreibung existiert; er will im nachhinein diesen Mangel beheben, verharrt allerdings nicht bei der negativen Sicht, sondern weiß auch von rühmenswerten Ereignissen zu berichten, durch die die Epoche ein positives Gepräge erhält. 44 Andere Autoren wandeln in diesen Bahnen fort. Der differenzierende Vergleich begegnet aber auch in anderer Form: nämlich da, wo man vor und neben der Antike andere Altertümer entdeckt, die man sogar 43 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 24: „die erste humanistische Geschichte des Mittelalters". 44 Blondi Flavii Foliviensis de Roma Triumphante libri decern ... Romae instauratae libri III. Italia illustrata. Historiarum ab inclinato Rom. imperio Decades III, Basel 1531, 3 f.: „Romanorum Imperii originem incrementaque cognoscere facillimum facit scriptorum copia, quam illius ad summum usque culmen evecti témpora maxima habuerunt. Videmus nanque felicitatis Romanae urbis cumulo accessisse, ut qui ipsa adolescente coeperunt, poetae, historici, oratores, et caeteri scriptores, simul cum ipsa crescente floruerint. Et quamprimum labefactari imperium, conminui potentia res affligi ac pessundari coepit, penitus esse desierint. Unde factum est, ut illius quidem magnitudinis et gloriae, cui par in orbe terrarum nulla unquam visa est, monumenta habeantur, multorum praeclarissimi ingenii virorum ornati: sed eiusdem detrimenta occasumque celebritatis, maxime involvat tegatque obscuritas. Visum est itaque, operaeprecium a me factum iri, si annorum mille et triginta, quot ab capta a Gothis urbe Roma in praesens tempus numerantur, ea involucra et omni posteritati admiranda facinora in lucem perduxero ... At nostra haec quibus in lucem adducendis manum apposuimus, nullos habent bonos scriptores, neque annales libros veteri instituto, unde sumeremus paratos. Quin potius in eo qui simul cum praepotentis populi gloriae ruina factus est bonarum artium interitu, varia ac multis in locis: inter se dissidentia, temere ac ineptissime scripta, sequi oportuit; labore máximo conquisita. Quorum digestio, ut unum habeant historiae corpus, maiorem est opinione omnium operam habitura"; dazu Muhlack , Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 166 f.
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gegen sie ausspielt. Es entbrennt ein förmlicher Wettstreit darüber, wessen Altertum am weitesten in die Tiefe der Zeiten zurückreicht und dabei zugleich am verehrungswürdigsten ist. Bruni läßt Florenz aus dem etruskischen Städtebund hervorgehen, der lange vor der Begründung des römischen Reiches bestanden habe und nicht nur durch politisch-militärische Macht, sondern auch durch eine hochentwikkelte Kultur vorherrschend gewesen sei 45 ; die Römer hätten die Etrusker in allem nachgeahmt46; Bruni deckt da gewissermaßen nichtklassische Voraussetzungen des klassischen Altertums auf. Sehr viel schneidender klingt es in der nationalen Historiographie außerhalb Italiens. Wimpfeling und die Autoren der „Germania illustrata" leiden an der Mißachtung Deutschlands durch die italienischen Humanisten, die das römische Altertum zur exklusiven Vorgeschichte ihrer Nation deklarieren, und sie schreiben auch insofern dagegen an, als sie dem römischen Altertum ein eigenes germanisch-deutsches entgegensetzen, das ihm ebenbürtig, wenn nicht überlegen sei. Dazu gehört, daß sie besonders die Siege der Germanen gegen die Römer herausstreichen. Sie entwickeln daraus zugleich einen eigentümlichen historiographischen Anspruch. Es wird ihnen zum hingebungsvoll gepflegten Topos, daß die römischen Schriftsteller die germanischen Heldentaten absichtlich kleingeredet oder einfach verschwiegen hätten und daß es jetzt deutsche Sache sei, das Versäumte nachzuholen; es handelt sich also darum, die römische Geschichtsschreibung über das römische Altertum durch eine deutsche Geschichtsschreibung über das germanisch-deutsche Altertum zu ergänzen. Auch der vielbeachtete und hochgeschätzte Kronzeuge Tacitus bleibt die Stimme des Gegners, des Feindes; darauf beruht seine Zuverlässigkeit, aber auch seine Unzulänglichkeit.47 Alle diese 45
Bruni, Historiarum (wie Anm. 10), 7: „Ante romanum quidem imperium longe maximas totius Italiae opes maximamque potentiam, ac prae caeteris vel bello vel pace inclitum nomen etruscorum fuisse inter omnes antiquissimos rerum scriptores haud ambigue constat." 46 Ebd., 9: „Nec imperii tantum insignia, caeterumque augustiorem habitum sumpserunt ab Etruscis, verum etiam literas disciplinamque. Auetores habere se Livius scribit ut postea Romanos pueros graecis, ita prius etruscis literis vulgo erudiri solitos." 47 Alle diese Motive sind programmatisch in Wimpfelings „Epithoma" vereinigt: er rühmt die ältesten Kriegstaten der Cimbern: „Haec commemorare libuit: uti nosceres: quanta nostrates gloria floruerint ante urbem Romam conditam" (Kap. 2); er sagt im Zusammenhang mit dem Rückzug des Drusus von der Elbe: „tarn arduum est nostrates vincere" (Kap. 4); ein ganzes Kapitel hat eigens das Thema: „Germani Romanos imperatores multos vicere" (Kap. 7); er beklagt die Haltung der „historici veteres" gegenüber den Germanen: „quod cum de Germanis scribunt, vitia narrare soleant (et ea quidem minima) virtutem vero quasi cum fastidio celebrant / vel non debita laude pronunciant: vel silentio praetereundo obticent" (Kap. 54); Tacitus ist ihm ein Kronzeuge, weil er als „homo romanus linguaque Romana" germanische Erfolge über die Römer eingestehe (Kap. 4), wird aber im ganzen von den übrigen „historici veteres" nicht unterschieden. Alle Zitate aus der Erstausgabe: Hie subnotata continentur. Vita M. Catonis ... Epithoma rerum Germanicarum usque ad nostra tempora, Straßburg 1505. Unter den Vorgängern von Wimpfeling ist noch zu nennen: Henricus Bebelius, Oratio ad Regem Maximilianum Caesarem, de ejus atque Germaniae laudibus (1501), in: Schardius redivivus sive rerum Germanicarum scriptores varii, Gießen 1673; zu Bebel: Klaus Graf, Heinrich Bebel (1472-1518). Wider ein barbarisches Latein, in: Schmidt (Hrsg.),
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Linien laufen i m „Arminius" des Ulrich von Hutten zusammen 4 8 ; er liefert die Inkarnation jenes germanisch-deutschen Altertums, das die deutschen Humanisten neben dem römischen ausfindig gemacht und zu ihrer nationalen Aufgabe erklärt haben 4 9 Neu ist an diesen Bemühungen um das eigene Altertum nicht die Rückkehr zu den Ursprüngen an sich, die vielmehr zu den ältesten Themen der Geschichtsschreibung überhaupt gehören; neu ist auch nicht, daß man aus den Ursprüngen die Werte oder Ideale ersieht, auf die man die Gegenwart verpflichten will. Neu ist, daß man das eigene Altertum, ausgehend von der Erfahrung der Antike und i m Vergleich mit ihr, als historische Epoche versteht, die von anderen Epochen und auch von der Gegenwart zu unterscheiden ist und zunächst einmal ein historisches Studium erfordert. Historisierung wird schließlich allenthalben gleichbedeutend mit der Einsicht in geschichtliche Wandlungsprozesse. Der Prototyp dieser Einsicht ist, daß man den geschichtlichen Abstand zwischen der Antike und der Gegenwart erfährt; das schließt die Überzeugung ein, daß eine unvermittelte Imitation der Antike in der Gegenwart unmöglich sei, daß es vielmehr lediglich um eine sinngemäße Anwendung gehen könne, die die Verschiedenheit der Zeiten wahrt. 5 0 Von daher strahlt Humanismus (wie Anm. 19), 179-194. Zur Bedeutung des Tacitus im deutschen Humanismus: Paul Joachimsen, Tacitus im deutschen Humanismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 275-295; Ulrich Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Herbert Jankuhn / Dieter Timpe (Hrsg.), Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Teil I: Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahre 1986 (Abhandlungen der Akadademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 175), Göttingen 1989, S. 128-154; H. Kloft, Die Idee einer deutschen Nation zu Beginn der frühen Neuzeit. Überlegungen zur Germania des Tacitus und zum Arminius Ulrich von Huttens, in: R. Wiegels/W. Woesler (Hrsg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte - Mythos - Literatur, 1995, 197-210; Donald R. Kelley, ,Tacitus Noster': The ,Germania' in the Renaissance and Reformation, in: Ders., The Writing of History and the Study of Law (Variorum Collected Studies, Bd. 576), Aldershot 1997, 152-200. 48 Dazu zuletzt: H. G. Roloff, Der Arminius des Ulrich von Hutten, in: Wiegels / Woesler, Arminius (wie Anm. 47), 211-238; der Artikel enthält eine neue lateinisch-deutsche Ausgabe des Textes. 49 Der Vereinigungspunkt ist für Hutten der Gedanke der deutschen Freiheit: die Germanen leben im Naturzustand der Freiheit, bevor sie auf die Römer treffen, und sind ihnen daher überlegen; Arminius erscheint als die Personifizierung dieser ursprünglichen Bestimmung zur Freiheit; Hutten macht es sich zur Aufgabe, die von den antiken Schriftstellern fast ganz unterdrückte Geschichte des Arminius vorzuführen, indem er das Lukiansche Totengespräch, an das er anknüpft, fortschreibt und damit den historischen Horizont der alten Welt erweitert; diese Erweiterung führt auch über Tacitus hinaus, so sehr Hutten auch die zuverlässigen Informationen dieses Feindes, den er auch als Italiener bezeichnet, schätzt. Nachweise: Roloff, Arminius (wie Anm. 48), passim, bes. 224 u. 234. 50 Am schlagendsten bleibt die Wendung des Erasmus gegen eine sklavische Nachahmung des Ciceronischen Stils im „Ciceronianus": „Quid? Videtur praesens saeculi status cum eorum temporum ratione congruere quibus vixit et dixit Cicero, cum sint in diversum mutata religio imperium magistratus respublica leges mores studia, ipsa hominum facies, denique quid non?", in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Werner Welzig,
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prozessuales Geschichtsdenken nicht nur auf die Binnenansicht des klassischen Altertums aus, das für die Humanisten ja alles andere als eine statische Größe darstellt, sondern auch auf das jeweilige Verständnis der nationalen Geschichte. Ein Hauptziel der „Italia illustrata" wie der „Germania illustrata" ist es, die Wandlungen des nationalen Lebens zwischen älteren und neueren Zeiten aufzuzeigen: die Veränderungen der Grenzen, der Wohnsitze, der Landschaften, der politischen und kulturellen Verhältnisse, der religiösen Vorstellungen der Benennungen.51 In Deutschland kulminiert dieses Interesse wiederum in Beatus Rhenanus, der in seinen „Res Germanicae" die Entwicklung vom alten zum neuen Deutschland direkt zum Thema macht. 52 Infolgedessen gibt es im Laufe der Zeit auch an der Glorifizierung jenes germanisch-deutschen Altertums gewisse relativierende Abstriche. 53 Die historisierende Sicht der Dinge kommt aus dem innersten Kern der humanistischen Bewegung, aber sie trägt auch vor allem anderen dazu bei, das humanistische Konzept in Frage zu stellen. Denn sie muß auf Dauer die normative Grundrichtung des Humanismus bedrohen. Die Forderung nach einer wie auch immer vermittelten Nachahmung des klassischen Altertums in der Gegenwart ist mit der zunehmenden Individualisierung oder Singularisierung der Antike wie aller anderen Epochen und damit auch der Gegenwart selbst letztlich nicht zu vereinbaren. Der Humanismus gerät hier sozusagen mit sich selbst in einen Widerspruch, den er mit seinen Mitteln nicht auflösen kann. Die humanistische Historiographie, die sich als antikisch normierte historia magistra vitae versteht und sich gleichzeitig jenen historisierenden Ansätzen öffnet, steht dabei durchaus an vorderster Stelle, auch insofern, als sie am ehesten Reaktionen herausfordert. Es gibt eine beginnende Abkehr vom humanistischen Modell, für die die Wendung zur Muttersprache signifikant wird. Die großen Geschichtswerke von Machiavelli und Guicciardini verarbeiten Zeiterfahrungen, die sich offenbar nicht mehr im humanistischen Horizont fassen lassen, sondern neue Deutungsmuster verlangen; der Gebrauch der italienischen Sprache signalisiert diesen Wandel. In Deutschland macht am ehesten Aventin Miene, diese Richtung einzuschlagen. Er verfaßt seine bayerische Chronik auf Lateinisch und übersetzt sie sodann ins Deutsche; er hat dabei ein klares Bd. 7, Darmstadt 1972, 134. Vgl. auch Croce, Zur Theorie (wie Anm. 1), 189 f. und Garin; Begriff (wie Anm. 1), 256. 51 Muhlack, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 199 ff. 52 Dedikationsepistel vom 1. März 1531: „discrimen inter veterem illam Germaniam et earn, quae posterius est occupata", in: Horawitz/Hartfelder (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 37), 385; Rhenanus geht es zunächst um die Verschiebung der Grenzen, aber im Zusammenhang damit auch um die Veränderung der germanisch-deutschen Lebensumstände im ganzen. 53 Rhenanus etwa verschweigt nicht das Zerstörungswerk, das die Franken in Gallien angerichtet hätten: „tota vastatio, populatori Attilae ascribitur nihilominus, eximia Romanorum in provinciis opera, quorum hodie ne tantillum quidem superest, quando omnia a fundamentis eversa sunt" (Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres, 2. Aufl., Basel 1551, 62 f.).
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Bewußtsein für die Verschiedenheit der Sprachen 54; es ist auch zu beachten, daß es sich bei dieser Übersetzung weithin um eine Überarbeitung handelt, die nicht zu trennen ist von der Stellung, die Aventin in den neuen Kämpfen der Reformationszeit einnimmt. Allerdings dauert es bekanntlich bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, bis sich in Deutschland eine muttersprachliche Geschichtsschreibung durchsetzt, die literarischen Ansprüchen genügt: bis zu jener Epoche, in der sich zugleich, ausgehend von Deutschland, der Durchbruch zum modernen Historismus vollzieht und damit jener humanistische Historismus gleichsam seine regulative Idee vollendet.55
54 Aventinus, Baierische Chronik (wie Anm. 36), 1: Denn eine jegliche Sprache hat ihre eigenen Gebräuche und ihre besondere Eigenschaft. 55 Dazu Ulrich Muhlack, Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Die Epoche der Historisierung (Geschichtsdiskurs, Bd. 3), Frankfurt 1997, 67-79.
Historie und Philologie Die deutsche Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts bietet kein einheitliches Bild. Sie erscheint sogar durch eine scharfe Zäsur zwei Perioden zugehörig, in denen sie jeweils ein ganz verschiedenes Aussehen hat. Diese Zäsur, die gegen Ende des Jahrhunderts eintritt, scheidet ein historistisches von einem vorhistoristischen Wissenschaftsverständnis. Beide Perioden weisen über das 18. Jahrhundert hinaus: die eine führt eine lange Tradition historischen Denkens weiter, die, ungeachtet aller seitdem vollzogenen Änderungen, bis in die Anfänge des Humanismus zurückreicht; die andere hat ihre Fortsetzung im 19. und 20. Jahrhundert. Wenn die deutsche Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts eine Eigenart hat, dann ist es gerade ihr vermittelnder oder transitorischer Charakter. Sie ermöglicht damit eine doppelte Einsicht. Sie führt zunächst eine letzte Steigerungsform des herkömmlichen Geschichtsdenkens vor, die gleichermaßen Vollendung und Krise bedeutet, gleichermaßen auf die Realisierung äußerster Möglichkeiten wie auf die Verschärfung von Problemen oder Aporien hinausläuft, die bereits den Einsatz des Historismus kennzeichnen. Sie repräsentiert sodann das früheste Stadium des neuen Geschichtsdenkens und gibt damit konkrete Auskunft über die Bedingungen, Voraussetzungen, Ursachen dieses „Paradigmawechsels". Versuche, die deutsche Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts einseitig als Vor- und Frühgeschichte des Historismus zu betrachten oder vom Historismus abzugrenzen, werden dieser Doppelseitigkeit nicht gerecht. Die Klassische Philologie spielt in diesen Zusammenhängen eine eigentümliche Rolle. Sie durchläuft nicht nur analoge Perioden, sondern wirkt jeweils auch in ganz spezifischer Weise auf die Geschichtswissenschaft ein. Sie befördert die Vollendung und Krise des traditionellen Geschichtsdenkens und trägt später entscheidend zur Entstehung des Historismus bei, stellt sich anfangs geradezu als Muster historistischer Geschichtswissenschaft dar, an dem sich zeitweilig alle anderen Richtungen derselben orientieren. Eine Untersuchung dieser Einwirkungen ist daher in besonderem Maße geeignet, Wege zum Verständnis der deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert zu eröffnen. Es ist hinzuzufügen, daß die Transformation, die beide Disziplinen in diesem Zeitraum vollführen, mit einer fundamentalen Wandlung ihres wissenschaftlichen Status zusammenfällt. Streng genommen, kann überhaupt erst danach von einer Erstveröffentlichung in: Hans Erich Bödeker/ Georg G. Iggers / Jonathan B. Knudsen/ Peter H. Reill (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, 49-81.
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„Geschichtswissenschaft" und einer „Klassischen Philologie" die Rede sein. Das braucht nicht so weit zu gehen, daß beiden Disziplinen bis dahin jeder Wissenschaftscharakter abgesprochen wird; sie nehmen vielmehr im zeitgenössischen Wissenschafts Verständnis einen festen Platz ein. Es steht aber außer Frage, daß sie erst durch die Entstehung des Historismus die Existenz selbständiger Wissenschaften gewinnen oder, besser gesagt, zu Abteilungen einer selbständigen universalen Geschichtswissenschaft werden, die neben ihnen auch andere Disziplinen umgreift. Die Einwirkungen der Klassischen Philologie auf die Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert lassen sich daher auch unter dieser Perspektive interpretieren. Die Philologie treibt, indem sie den Umschlag der Historie vom traditionellen zum historistischen Geschichtsdenken fördert, zugleich die zunehmende Verwissenschaftlichung der Historie voran. 1 Die Untersuchung hat von der Situation der Klassischen Philologie in Deutschland auszugehen, wie sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts besteht; dabei ist eine gewisse Ausführlichkeit zum besseren Verständnis aller weiteren Entwicklungen unumgänglich. Die deutsche Philologie setzt damals offenkundig die noch in ganz Europa vorherrschende humanistische Tradition fort. Der Humanismus hat die Philologie keineswegs geschaffen. Er findet nicht nur die Gelehrsamkeit der griechisch-römischen Grammatiker vor, sondern auch die exegetische Literatur des Mittelalters, die, zur Erklärung der Bibel abgefaßt, zugleich eine ausgearbeitete Methode zur Erklärung antiker Texte bereitstellt. Der Humanismus begründet aber die Philologie als historisch-kritische Disziplin, übertrifft jedenfalls qualitativ alle 1 Allgemeine Darstellungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und der Klassischen Philologie, auf denen der folgende Beitrag durchweg beruht, ohne daß dies immer umständlich im einzelnen nachgewiesen wird: Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München /Berlin 1911; Benedetto Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1915; Friedrich Meinecke , Die Entstehung des Historismus (Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 3), 3. Aufl. München 1959; Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, 3. Aufl. München/Salzburg 1964; Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Peter H. Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley 1975; Karl Hammer/Jürgen Voss (Hrsg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse, 12. Deutsch-Französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris (Pariser Historische Studien, Bd. 13), Bonn 1976; Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 8, 1981, 257 ff.; Geschichte der Klassischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 19), München/ Leipzig 1883; A. Gudeman, Grundriß der Geschichte der klassischen Philologie, 2. Aufl. Leipzig / Berlin 1909 (Nachdruck Darmstadt 1967); Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Geschichte der Philologie (Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1, H. 1), Leipzig/Berlin 1921; Max Wegner, Altertumskunde, Freiburg / München 1951; Arnaldo Momigliano, Contributo alla storia degli studi classici, Rom 1955; Ada Henschke / Ulrich Muhlack, Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1972; Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982. - Ich füge hinzu, daß ich mich in den weiteren Anmerkungen aus Platzgründen nur auf unbedingt notwendige Belege beschränke.
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historisch-kritischen Ansätze bisheriger philologischer Bemühungen. Die Ursache ist ein qualitativ neues Interesse: ein im Bewußtsein eines ungeheuren Zeilenabstandes genährtes Bedürfnis nach Wiederbelebung des Altertums. Dieses Bedürfnis hat zunächst eine normative und damit unhistorische Richtung. Wiederbelebung des Altertums meint die Erneuerung dauernd gültiger, vorab ästhetischethischer Muster menschlicher Bildung. Das Bedürfnis nach Wiederbelebung des Altertums hat andererseits eine historische Dimension. Die Vorstellung, daß das Altertum durch eine Kluft von der Gegenwart getrennt sei und über diese Kluft hinweg wiederum zum Leben erweckt werden solle, lehrt das Altertum als eine historische Epoche auffassen, die nur durch historische Betrachtung zugänglich wird. Die normative Erneuerung hat das historische Verständnis zur Voraussetzung. Die humanistische Philologie setzt an dieser historischen Dimension an, entwickelt daraus ihr methodisches Instrumentarium. Den griechisch-römischen Grammatikern wie den mittelalterlichen Exegeten fehlt ein derartiges Bedürfnis und fehlt damit eine derartige historische Einstellung durchaus: sie stehen jeweils in ungebrochener Kontinuität zu den Phänomenen, auf die sie reflektieren, haben kein Bewußtsein eines Zeilenabstandes, kein Bedürfnis nach Wiederbelebung einer längst vergangenen Epoche und daher kein vergleichbares historisches Motiv. Die Ausbildung der humanistischen Philologie als einer historisch-kritischen Disziplin geschieht in mehreren Schritten. Am Anfang steht die Notwendigkeit, die Dokumente antiken Lebens wiederzugewinnen, zu den Quellen zurückzukehren. Sie führt zu der weiteren Aufgabe, zunächst die Dokumente selbst zu restituieren, ihre unverfälschte Aneignung zu ermöglichen. Dabei wird alles Interesse zuerst der antiken Literatur zugewandt. Das Bestreben, sie angemessen zu rezipieren, löst zwei Erfordernisse aus. Das erste geht dahin, daß die Texte gesichtet, erschlossen, gesammelt und damit tatsächlich verfügbar gemacht werden. Das zweite zielt auf ein authentisches Verständnis der Texte ab. Darin stecken wiederum zwei Postulate: Wiederherstellung der originalen Überlieferung und zutreffende Wort- und Sachkommentierung. Aus ihnen resultiert einerseits die Konzipierung einer historischen Textkritik, die durch chronologische Klassifizierung der Handschriften jeweils zur ältesten Überlieferung vorzudringen sucht, andererseits die Konzipierung einer historischen Textinterpretation, die bei der Kommentierung jeweils auf den historischen Kontext abhebt. Die humanistische Philologie gründet sich ursprünglich auf dieses Programm einer historisch-kritischen Aufbereitung der antiken Literatur. In der philologischen Praxis gilt die hauptsächliche Anstrengung der textkritisch gereinigten und historisch kommentierten Ausgabe einzelner Autoren. Dazu kommen Hilfsmittel, die bestimmte sachliche und inhaltliche Informationen zum Verständnis aller oder mehrerer Autoren bieten: Lexika, Grammatiken die sogenannten Altertümer, voran Handbücher zur antiken Rechts- und Verfassungsgeschichte und geographisch-topographische Werke. Die humanistische Philologie beginnt mit der Bearbeitung der antiken Literatur, bleibt aber nicht darauf beschränkt. Dieselbe historisch-kritische Methode, nach der die literarischen Texte aufbereitet werden, wird bald sinngemäß auch auf Monumentalzeugnisse - In-
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Schriften, Münzen, Kunstwerke - übertragen. Die neue Philologie erweitert sich um Epigraphik, Numismatik, Archäologie zu einer alle Überreste des Altertums erfassenden Disziplin. Die Philologie, die an der historischen Dimension humanistischen Denkens ansetzt wird dennoch zugleich durch den humanistischen Klassizismus bestimmt. Sie handhabt eine historische Methode, aber mit dem Ziel, die Dokumente einer Epoche zu restituieren, die letztlich normative Geltung besitzt und damit eigentlicher Historisierung prinzipiell entzogen ist. Es herrscht also ein Dualismus zwischen Zweck und Mittel, zwischen Gegenstand und Methode. Die historisch-kritische Aufbereitung der antiken Dokumente weit entfernt, die Normativität der Antike in Frage zu stellen soll sie umgekehrt gerade bestätigen und findet daher zugleich an ihr eine unüberschreitbare Grenze. Die humanistischen Philologen leisten historische Textkritik und historische Textinterpretation, aber sie leisten keine historische Auswertung der Texte. Sie mühen sich um historisch-kritische Erforschung der Dokumente aber sie gewinnen kein historisches Verständnis des Altertums im ganzen oder einzelner von dessen Seiten. Die von ihnen beigebrachten historischen Daten dienen der punktuellen Erläuterung der Dokumente, führen aber zu keiner davon abgehobenen historischen Sicht und damit zu keiner selbständigen Geschichtsdarstellung. Die Gattung der Altertümer macht davon keine Ausnahme. Die verfaßten Handbücher zur antiken Rechts- und Verfassungsgeschichte sind primär darauf berechnet, in den Texten auftretende terminologische und sachliche Schwierigkeiten, die die Rechts- und Verfassungsverhältnisse betreffen aufzuklären, erheben jedoch keinen autonomen historiographischen Anspruch. Allerdings lassen sich in solchen Handbüchern am ehesten gewisse Annäherungen an neue historiographische Konzepte absehen; die notwendige Disposition des Stoffs folgt Sachgesichtspunkten, die schon auf eine mögliche historische Strukturierung hindeuten. Die neue Philologie fällt vollständig aus dem etablierten System der Wissenschaften heraus. Sie läßt sich mit keiner der bestehenden Wissenschaften identifizieren, läßt sich auch keiner von ihnen ausschließlich subsumieren. Sie kann andererseits gleichermaßen allen bestehenden Wissenschaften zugeordnet werden, indem sie Texte aus sämtlichen wissenschaftlichen Bereichen bearbeitet und den jeweiligen Einzeldisziplinen zur Verfügung stellt. Sie hat also eine universale propädeutische oder hilfswissenschaftliche Funktion. Daß die Philologie an den Universitäten gewöhnlich den Fächern des Trivium angeschlossen wird, ergibt sich aus dem vorwaltenden ästhetisch-ethischen Interesse an der Antike, das die Humanisten leitet. Sie spielt gleichwohl auch außerhalb des Trivialbereichs eine entscheidende Rolle, erringt zumal in der Theologie und Jurisprudenz ihre vielleicht größten Erfolge. Das humanistische Modell der Philologie behält bis zum 18. Jahrhundert seine Gültigkeit. Zwar weicht die humanistische Einstellung zur Antike vielfach an deren Attitüden. Die protestantischen und die jesuitisch-katholischen Bildungs10 Muhlack
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reformer des 16. Jahrhunderts, die Polyhistoriker des 17. Jahrhunderts, die Kontrahenten der Querelle des anciens et des modernes beim Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hegen ebenso viele neue Auffassungen vom Wert des Altertums. Sie haben aber alle Bedarf an einer historischkritischen Aufbereitung der antiken Dokumente, wie sie die humanistische Philologie inauguriert hat. Auch und gerade die Verächter des Altertums sind, um ihre Meinung zu untermauern, auf präzise philologische Kenntnisse angewiesen. Die nachhumanistische Philologie hat weiterhin mit der humanistischen gemeinsam die normative Beurteilung der Antike und damit den dualistischen Grundzug. Eine über die historisch-kritische Aufbereitung der Dokumente hinausgehende Historisierung des Altertums findet grundsätzlich nicht statt. Schließlich ändert sich auch nichts an der propädeutischen oder hilfswissenschaftlichen Funktion der Philologie. Die Philologie gibt also zwischen dem Humanismus und der Aufklärung keinerlei qualitativen Fortschritt zu erkennen. Sie macht in dieser Zeit allerdings beträchtliche quantitative Fortschritte, die, ohne das hergebrachte Modell zu sprengen, dennoch allmählich den Umschlag in eine neue Qualität anbahnen. Die Hauptsache ist eine durch die neuen Haltungen zur Antike veranlaßte fortgesetzte Intensivierung und Systematisierung der historisch-kritischen Methode. Einzelne Techniken und Themenbereiche der Kritik und Interpretation werden zu förmlichen Teildisziplinen ausgebaut. Dem entspricht, daß die Menge der Ausgaben, Sammlungen und Hilfsmittel ständig zunimmt. Diese Differenzierungs- und Akkumulierungsprozesse haben zur Folge, daß die der historisch-kritischen Methode ursprünglich gezogene Grenze faktisch immer weiter hinausgeschoben wird. Die Philologen erreichen nirgends eine eigentliche Historisierung des Altertums, aber scheinen sich ihr schließlich so weit anzunähern, daß nur noch ein letzter entscheidender Schritt getan werden muß. Sie gelangen grundsätzlich nicht über die historisch-kritische Aufbereitung der antiken Dokumente hinaus, liefern aber vielfach schon Umrisse einer sich davon ablösenden Geschichtsbetrachtung. Sie wahren also den traditionellen Dualismus, bereiten aber gleichzeitig seine Auflösung oder Überwindung vor. Alle diese Entwicklungen verschaffen der Philologie endlich ein ganz anderes wissenschaftliches Gewicht und damit ein ganz anderes wissenschaftliches Selbstbewußtsein. Der überkommene und beibehaltene hilfswissenschaftliche Status ist mit dieser neuen Rolle auf Dauer immer weniger vereinbar. Die Philologie schickt sich vielmehr an, zu einer selbständigen Disziplin aufzusteigen. Es macht die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der Klassischen Philologie in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aus, daß sie diese quantitativen Fortschritte zu einem absoluten Kulminationspunkt bringt und damit an extreme Schranken des humanistischen Modells stößt. Sie erlangt durch diese Leistung zugleich europäisches Ansehen. Man kann freilich nicht sagen, daß die deutsche Philologie bis dahin bedeutungslos gewesen wäre. Sie erlebt in der Endphase des Humanismus, am Anfang des 16 . Jahrhunderts, sogar eine ausgesprochene Blüte,
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kann sich da durchaus mit den Errungenschaften der zunächst führenden Italiener messen. Auch danach hält die deutsche Philologie wenigstens ein typisches Niveau. Am Anfang des 18. Jahrhunderts verdienen vor allem Johann Albert Fabricius und Johann Matthias Gesner Beachtung.2 Fabricius verlaßt eine vierzehn Bände umfassende Bibliotheca Graeca, ein biographisch-bibliographisches Handbuch zur griechischen Literaturgeschichte, das die Manier der humanistischen Altertümer auf einen neuen Gegenstand anwendet. Gesner ediert eine Reihe antiker Autoren, beschäftigt sich dabei weniger mit Textkritik als mit sprachlichen und sachlichen Erläuterungen, die den Gedankengang des jeweiligen Autors verständlich machen sollen, und führt damit die Tradition der historischen Textinterpretation fort. Andererseits ist kaum zweifelhaft, daß die nachhumanistische deutsche Philologie bis zu dieser Zeit im europäischen Maßstab eine eher untergeordnete Stellung einnimmt, hinter der französischen, niederländischen, englischen Philologie deutlich zurücksteht. Das ändert sich erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dieser Wandel ist mit zwei Namen verbunden: Johann Joachim Winckelmann und Christian Gottlob Heyne. Winckelmann und Heyne genießen in allen Geschichten der Klassischen Philologie die höchste Wertschätzung, vielleicht mit dem einzigen Unterschied, daß Winckelmann besser erforscht, besser bekannt ist als Heyne, über den eine erschöpfende Darstellung immer noch fehlt. Das ihnen gewöhnlich angeheftete Epitheton lautet, sie seien die Wegbereiter, Vorläufer, Protagonisten einer modernen Wissenschaftsauffassung. Dafür spricht auch, daß sie selbst sich erklärtermaßen von der bisherigen Bearbeitung des Altertums abkehren und einen völligen Neuanfang heraufzuführen beanspruchen. Viele ihrer Schüler, Bewunderer, Nachfolger bejahen diesen Anspruch. Jedoch diese Hinordnung Winckelmanns und Heynes auf die moderne Philologie stimmt nur unter Vorbehalt. Sofern sie die gewaltige Ausstrahlung beider auf die Erneuerung der Disziplin meint, ist sie sicherlich richtig. Sofern sie beide in einen prinzipiellen Gegensatz zur vorangehenden Philologie bringt, ist sie dagegen falsch. Man kommt im Gegenteil nicht um die Feststellung herum, daß Winckelmann und Heyne eher Vollender, Ausläufer, Exponenten der alten Wissenschaftsauffassung sind als Wegbereiter, Vorläufer, Protagonisten der modernen und daß sie eben dadurch entscheidend zur Fortbildung oder Transformation der Disziplin beitragen. Winckelmann und Heyne sind ganz gewiß Neuerer und ziehen mit Recht vor allem deswegen ein anhaltendes historisches Interesse auf sich. Aber sie verfolgen zunächst allein die Erneuerung des humanistischen Modells der Philologie und reichen an die Modernisierung der Disziplin nur insofern heran, als sie das humanistische Modell bis an die Grenze von dessen Selbstaufhebung realisieren. Winckelmann vollbringt durch seine Geschichte der Kunst des Altertums eine doppelte über den bisherigen Betrieb der Philologie hinausführende Leistung.3 Er 2
Dazu Werner Mettler, Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur. Ein Beitrag zum Problem der Historie, Zürich 1955, 27 ff., 85 ff. 10*
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leitet nicht nur eine förmliche Neukonstituierung der Archäologie ein, sondern macht die neukonstituierte Archäologie auch, in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht, zum Muster einer allgemeinen Umgestaltung der Philologie. Der Impuls zu dieser Leistung ist eine neue Kunstauffassung und damit eine neue Wertung der antiken Kunst.4 Winckelmann, der selbst die „Liebe zur Kunst" seine „größte Neigung" nennt5, versteht die antike, d. h. primär griechische Kunst als exemplarische Realisation eines Kunstbegriffs, der seine Grundlage in einer bestimmten Vorstellung von der Autonomie des Schönen hat. Dieses neue ästhetische Interesse setzt neue Anstrengungen zur authentischen Aneignung der antiken Kunst in Gang, die wiederum die Intensität historischer Kritik und historischer Interpretation enorm verstärken. Das betrifft zunächst die Aufbereitung der antiken Kunstwerke. Winckelmann dringt in ganz anderer Weise, als es bisher geschehen ist, auf komplette Erfassung aller irgend vorhandenen oder noch aufzufindenden Monumente. Er wendet weiterhin geschärfte Kriterien zur historischen Identifizierung, Einordnung, Deutung an, insistiert etwa auf Autopsie oder auf der Notwendigkeit, spätere Ergänzungen zu beachten, also die ganze Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte jedes einzelnen erhaltenen Kunstwerks zu erforschen. 6 Er hält sich systematisch auch an solche Kunstwerke, die lediglich durch literarische Erwähnung bekannt sind. Er hat bei alledem ein abstraktes Methodenbewußtsein, das auch Erwägungen über Hypothesenbildung, Wahrscheinlichkeit und Beweis einschließt. Ein programmatischer Vergleich mit der Methode der Naturwissenschaften zeigt, wie sehr es Winckelmann darum zu tun ist, die historisch-kritische Methode in den Rang eines wissenschaftlichen Verfahrens zu erheben.7 Winckelmann nimmt darüber hinaus einen ersten Anlauf, die historisch-kritische Betrachtungsweise auf die durch die Monumente bezeugte Realität auszudehnen. Er schreibt zum erstenmal antike Kunstgeschichte und bewegt sich dabei zugleich zum erstenmal auf eine historische Anschauung der antiken Kunst zu und, durch sie, auf eine historische Anschauung des Altertums im ganzen. Er beginnt die Kunst des Altertums als historisches Phänomen zu sehen, unterscheidet ägyptische, phönizische, persische, etrurische, griechische, römische Kunst, stellt jeweils einzelne Entwicklungsstufen heraus, führt die jeweiligen geographischen oder klimatischen, politischen, gesellschaftlichen, religiösen Voraussetzungen an. Die Geschichte der griechischen Kunst, auf die es ihm vor allem ankommt, erweitert sich zeitweise zur Kulturgeschichte im Rahmen der politischen Geschichte.
3 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1972. Literatur: Carl Justi, Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 2 Bde. (Bd. 2 in 2 Abt.), Leipzig 1866; Meinecke, Historismus (wie Anm. 1), 291 ff.; Pfeiffer, Philologie (wie Anm. 1), 207 ff. 4 Winckelmann, Kunst des Altertums (wie Anm. 3), 9 ff. 5 Ebd., 16. 6 Ebd., 14 ff. Ebd., .
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Gleichwohl muß darauf beharrt werden, daß alle diese Wandlungen oder Fortschritte keineswegs schon eine „wissenschaftliche Revolution" signalisieren. Das liegt daran, daß Winckelmann eine Grundposition humanistischer Philologie nicht nur beibehält, sondern sogar noch zuspitzt: die letztlich normative Sicht der Antike und den mit ihr gegebenen Dualismus. Seine auf die Griechen projizierte neue Kunstauffassung erreicht durch ihre unerhörte dogmatische Geschlossenheit ein Höchstmaß an Normativität und ist damit so unhistorisch wie nur irgend möglich. Alle Intensivierung der historisch-kritischen Aufbereitung kann diese axiomatische Barriere nicht durchbrechen. Winckelmann arbeitet geschärfte Kriterien zur historisch-kritischen Aufbereitung der antiken Kunstwerke aus; aber die Auswertung der Kunstwerke geschieht am Maßstab eines über- oder außergeschichtlichen Kunstverständnisses. Ganz analog bleibt der erste Anlauf zu einer historischen Anschauung der antiken Kunst, der über die historisch-kritische Aufbereitung der antiken Kunstwerke hinausgeht, gewissermaßen schon im Vorfeld stecken und bewirkt allenfalls eine graduelle Modifikation. Denn Winckelmanns Geschichte der Kunst ist bei genauerem Hinsehen nur zum geringsten Teil Geschichte. Die Komposition des Werkes macht das ganz offenbar. Es hat zwei Teile. Der erste Teil enthält eine „Untersuchung der Kunst nach dem Wesen derselben": Winckelmann behandelt darin die Stufenfolge der antiken Kunst, „den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben", also sozusagen die innere Geschichte der Kunst und beabsichtigt, damit „einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern". 8 Der zweite Teil bringt „die Geschichte der Kunst im engeren Verstände, das ist, in Absicht der äußeren Umstände"9, und zwar allein im Hinblick auf Griechenland: Winckelmann behandelt darin vor allem die politischen Umstände, in denen sich die Kunst entwickelt hat, also sozusagen die äußere Geschichte der Kunst. Diese Einteilung wird dadurch relativiert, daß Winckelmann im ersten Teil immer auch auf die äußere und im zweiten Teil immer auch auf die innere Kunstgeschichte rekurriert: er erörtert im ersten Teil die geographisch-klimatischen Ursachen der Verschiedenheit der Kunst und stellt zumal die ganze äußere Geschichte der nichtgriechischen Kunst vor; er trifft im zweiten Teil durchweg Feststellungen, die sich auf die Stufenfolge der griechischen Kunst beziehen. Jedoch diese Relativierung hebt die grundsätzliche Differenzierung zwischen innerer und äußerer Kunstgeschichte nicht auf. Dabei handelt es sich in Wahrheit um eine Differenzierung zwischen Nichtgeschichte und Geschichte. Die innere Kunstgeschichte untersucht das Wesen der Kunst, um ein Lehrgebäude aufzurichten: sie ist also keine eigentliche Geschichte, sondern philosophisch-systematische Kunsttheorie. Die von ihr analysierte Stufenfolge bezeichnet zunächst die logische Entfaltung eines allgemeinen Kunstbegriffs, ist jedenfalls daraus deduziert und höchstens sekundär oder subsidiär aus der historischen Anschauung gewonnen. Allein die äußere Kunstgeschichte darf im strengen Sinne als Geschichte gelten. Umgekehrt heißt das, daß die Geschichte deutlich auf eine untere Ebene herabgesetzt wird: sie hat s Ebd., 9. 9 Ebd.
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keinen Anteil am Wesen der Kunst, sondern hat es im Grunde nur mit äußerlichen Gegebenheiten zu tun. Dieses Verhältnis von innerer und äußerer Kunstgeschichte oder von Kunsttheorie und Kunstgeschichte reflektiert genau den wohlvertrauten Dualismus der humanistischen Philologie. Die innere Kunstgeschichte entspricht der normativen, die äußere Kunstgeschichte der historisch-kritischen Seite. Aber selbst die äußere Kunstgeschichte ist von einer veritablen Geschichte noch beträchtlich entfernt. Winckelmann begnügt sich auf weite Strecken hin mit einer chronologisch geordneten Aneinanderreihung von Namen und Werken und erhebt sich an solchen Stellen kaum über das Niveau der traditionellen Altertümerliteratur. Der Übergang von der bloßen Aufbereitung der Kunstwerke zur selbständigen historiographischen Behandlung der Kunst ist ihm also keineswegs folgerichtig gelungen. Andererseits ist unleugbar, daß Winckelmann durch seine Neuerungen einer künftigen Revolutionierung der Philologie gewaltig Vorschub leistet. Die von ihm vollzogene Intensivierung der historisch-kritischen Methode repräsentiert einen Erkenntnisstand, der schließlich mit der Fortdauer normativer und damit dualistischer Prämissen oder Strukturen in Konflikt geraten muß und daher den Weg zu einer uneingeschränkten Historisierung weist. Die historischen Bemühungen Winckelmanns treffen zwar allenthalben auf eine axiomatische Barriere. Aber sie häufen gleichsam genügend Munition auf, um Breschen in diese Barriere zu schlagen. Hinter der herkömmlichen und von Winckelmann übernommenen archäologischphilologischen Konzeption wird also eine prinzipiell veränderte Wissenschaftsauffassung sichtbar: die Konzeption einer nicht mehr dualistischen, sondern historistischen Philologie. Das Mindeste, was man sagen muß, ist, daß Winckelmann die herkömmliche Konzeption einer ziemlichen Belastungsprobe aussetzt. Heyne schlägt eine analoge Richtung wie Winckelmann ein, ist auch in vielem von ihm beeinflußt. 10 Er ist freilich alles andere als ein Schüler oder Nachfolger Winckelmanns, hat vielmehr eigene Interessen, die ihn deutlich über Winckelmann hinaus gelangen lassen. Eine Erweiterung gegenüber Winckelmann bedeutet nicht nur die Tatsache, daß Heyne seine Forschungen auf alle Felder der Philologie erstreckt. Der entscheidende Fortschritt besteht darin, daß Heyne die Philologie mit einem gesteigerten Methodenbewußtsein betreibt. Es ist sein ausgesprochenes Ziel, die Philologie in allen ihren Abteilungen zu verwissenschaftlichen, zum Sta10 Literatur zu Heyne: Friedrich Leo, Heyne, in: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens, Berlin 1901, 153 ff.; Friedrich Klingner, Christian Gottlob Heyne, in: ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich/ Stuttgart 1964, 701 ff.; Mettler, Schlegel (wie Anm. 2), 46 ff.; Clemens Menze, Wilhelm von Humboldt und Christian Gottlob Heyne, Ratingen 1966; Heinrich Bräuning-Oktavio, Christian Gottlob Heynes Vorlesungen über die Kunst der Antike und ihr Einfluß auf Johann Heinrich Merck, Herder und Goethe, Darmstadt 1971; Axel E. Horstmann, Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne, in: Archiv für Begriffsgeschichte 16, 1972, 60 ff.; Der Vörmann der Georgia Augusta, Christian Gottlob Heyne zum 250. Geburtstag, Sechs akademische Reden, Göttingen 1980.
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tus einer Wissenschaft zu erhöhen. Die studia antiquitatis sollen zur Altertumswissenschaft werden: anstelle der bisherigen Regellosigkeit sollen Begriff, Zweck, Plan, Methode herrschen. 11 Diese Zielsetzung kommt einem Verdikt über die herkömmliche Philologie gleich. Das Verdikt trifft ausdrücklich auch Winckelmann. Heyne erkennt zwar an, daß Winckelmann zur Verwissenschaftlichung der Philologie erste Ansätze geboten, „das antiquarische Studium in sein rechtes Gleis gebracht" habe.12 Aber er kritisiert andererseits die Unzulänglichkeit der Ausführung, weist Winckelmann immer wieder Dilettantismus, mangelnde wissenschaftliche Professionalität, mangelnde akademische Disziplin nach: „Nur mischte sich seine Begeisterung oft ins Spiel wo kalte Betrachtung, Erwägung und Prüfung erfordert ward". 13 Solche Kritik mutet oft wie die positivistische Mäkelei des pedantischen Gelehrten an dem großen Genie an. Sie ist auch nicht immer berechtigt. Dennoch steht fest, daß sich hier eine neue Form wissenschaftlicher Rationalität artikuliert, die dem Methodenbewußtsein Winckelmanns wenigstens graduell überlegen ist. Heynes philologische Arbeit ist ein einziger Versuch, diese neue Form dauerhaft zu etablieren. Der Wissenschaftsanspruch Heynes basiert auf einer Neubestimmung der Gegenwartsbedeutung der Philologie, die mit einer Restituierung des humanistischen Bildungsgedankens gleichgesetzt werden kann. Ausgangspunkt ist die Erfahrung eines vielerorts sinnentleerten, unverbindlich gewordenen philologischen Betriebes: Heyne wendet sich gegen eine Erforschung des Altertums um ihrer selbst willen, prangert eine bloße „philosophiae subtilitas", ein bloßes „dialectices grammaticesque acumen" an. 14 Er stellt demgegenüber der Philologie die Aufgabe, die ästhetische und ethische Bildung des Menschen zu leiten die „pulcherrima exempla" der Antike sollen den Sinn für „virtus" und „pulchritudo", „honestas" und „elegantia" schärfen. 15 Das alles sind fast wörtlich humanistische Argumente. Trotzdem handelt es sich nicht um eine einfache Reprise. Heyne hat andere Gegner, einen anderen Begriff von ästhetisch-ethischer Bildung, bezieht ihn auf andere Probleme. Er meint im Grunde, daß die Philologie sich auf die Gegenwart ausrichten müsse. Sie soll die antike Tradition in die Gegenwart einbringen und in ihr bewähren, die Gegenwart beständig mit den Lehren der Antike konfrontieren und damit über sich selbst aufklären. Die akademischen Vorträge Heynes liefern für diesen Umgang mit der Antike eine Fülle von Beispielen. Er ist da vor allem bestrebt, politische Parallelen oder Analogien herauszustellen. Ereignisse wie der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg, der Beginn der Französischen Revolution, der Revolutionskrieg veranlassen ihn, entsprechende Fälle aus der Antike her11 Chr. G. Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd. 1, Leipzig 1778, III ff. 12 Ebd., VII.
13 Ebd. 14 Christian Gottlob Heyne, Opuscula académica collecta et animadversionibus locupletata, Bd. 1, Göttingen 1785, 32, 189. 15 Ebd., 33.
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anzuziehen und in lehrhafter Absicht zu untersuchen.16 Das wissenschaftliche Interesse Heynes ist durch dieses Gegenwartsinteresse motiviert. Die Aktualisierung des humanistischen Bildungsgedankens zieht eine methodische Neubesinnung auf die notwendigen Leistungen der Philologie nach sich, die den Blick für bisherige Mängel öffnet und gesicherte Kriterien für ein Maximum an zuverlässiger Erkenntnis erstrebt. Die Verwissenschaftlichung der Philologie, wie sie Heyne postuliert und praktiziert, ist identisch mit einer Systematisierung und Rationalisierung der historischkritischen Methode. Wissenschaftlichkeit und konsequente Anwendung der historisch-kritischen Methode sind dasselbe. Verwissenschaftlichung heißt also weitere Historisierung. Ein definitorischer Satz aus der Einleitung zu den akademischen Vorträgen statuiert: „meliorem res antiquas tractandi rationem in eo ponero soleo, ut ante rem exploratam nihil ipse statuam, sed primo loco in auctoritatem et fidem auctorum, qui aliqua de re tradiderunt, inquiram, turn verba et sententias, ex istorum hominum sensu, et ex aetatis, populi, sectae, in qua illi, quorum acta vel sensa vel dicta memorantur, vixere, genio interpreter". 17 Die wissenschaftliche Methode der Altertumsstudien wird also im Primat einer umfassenden historisch-kritischen Bestandsaufnahme des Altertums gesehen. Demgemäß verfällt dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, wer diese Bestandsaufnahme unterläßt oder nur unvollständig durchführt. Auch der vielgescholtene Dilettantismus Winckelmanns rührt vom Mangel an „genaueren Geschichtskenntnissen und an historischer Kritik", „an historischer Richtigkeit" her: Winckelmann fehlen „Zuverläßigkeit und Festigkeit in Anführung der Nachrichten, Genauigkeit in Angabe der einzelnen Umstände, Vorsichtigkeit in Behauptungen, Mißtrauen bei allgemeynen Sätzen, die aus einzelnen Fällen gezogen sind, Bestimmtheit in den Zeiten, Personen und Localumständen", fehlt also die Fähigkeit, die historisch-kritische Methode konsequent durchzuhalten. Heyne realisiert die Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode zuvörderst bei der Erläuterung der antiken Dokumente. Er beginnt mit der antiken Literatur, fördert in Vorlesungen und Editionen die historische Kritik und zumal Interpretation einzelner Autoren. 18 Signifikant für seine Vörgehensweise ist seine beharrliche Bemühung um Homer, der es überall um historische Kommentierung zu tun ist. Heyne eröffnet seine Homer-Vorlesung mit Betrachtungen über Homers Lebenszeit, über die geographische Herkunft und den geographischen Gesichtskreis des Dichters, über dessen historische Kenntnisse, über Homers Sprache auf dem Hintergrund der griechischen Sprachentwicklung, über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Homerischen Gedichte von der Epoche der Rhapsoden über die erste schriftliche Fixierung in der Zeit von 16 Heyne , Opuseula (wie Anm. 14), Bd. 3, Göttingen 1788, 144 ff., 161 ff. u. Bd. 4, Göttingen 1796, 17 Ebd., Bd. 1, XIV. 18
Heyne , Aufsätze (wie Anm. 11), VII u. 165.
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Lykurgos, Solon und Peisistratos bis zur Redigierung und Annotierung durch die hellenistischen Grammatiker, bespricht danach die Chorographie von Troja und leitet dann zur Einzelerklärung über, die historische Aufklärung über sprachliche und sachliche Probleme beabsichtigt.19 Er stellt damit ein Muster dessen auf, was die historisch-kritische Aufbereitung eines antiken Schriftstellers erreichen kann. Heyne handhabt dasselbe Verfahren aber ebenso folgerichtig bei der Bearbeitung anderer Dokumente, von Kunstwerken und Münzen. Er macht die Bearbeitung der Kunstwerke, mit und gegen Winckelmann, geradezu zu einem weiten Schwerpunkt seiner Arbeit, weil er in diesem Bereich einen ungeheuren Nachholbedarf feststellen zu müssen glaubt. Ein Beispiel für seine methodische Einstellung ist seine Abhandlung über „Irrtümer in Erklärung alter Kunstwerke aus einer fehlerhaften Ergänzung", die der Archäologie vor aller weiteren Ausdeutung eines Kunstwerks die Aufgabe der Echtheitskritik, in Analogie zur Textkritik, auferlegt: „man will wissen, ob der alte Künstler wirklich das gesagt hat, was er gesagt haben soll." 20 Ein elementares Bedürfnis historisch-kritischer Philologie erscheint hier aufs strengste reflektiert und ausformuliert. Ein weiterer Vorgang, der bei der Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode in Betracht kommt, ist die partielle Ausgestaltung der Altertümerliteratur zu historischen Einzeldisziplinen. Die Altertümer sind Hilfsmittel zur historischen Kommentierung der antiken Dokumente, keine selbständigen historischen Darstellungen. Heyne trägt dazu bei, die von den Altertümern erfaßten Gegenstandsbereiche aus dieser Unterordnung herauszulösen und zu eigenen historischen Forschungsgebieten zu machen. Er spricht den antiquarischen Studien, ohne ihre ursprüngliche Funktion zu verneinen, zunehmend die primäre Funktion autonomer Geschichtserkenntnis zu. Mit der Verselbständigung der Altertümer geht eine Mediatisierung der antiken Dokumente einher: die Dokumente werden aus dem Zweck zum Mittel der antiquarischen Studien, aus einem Objekt historischer Kommentierung zu historischen Quellen. Heyne erweitert durch diese Fortentwicklung der Altertümerliteratur den historischen Horizont der Philologie beträchtlich. Die neugebildeten historischen Einzeldisziplinen verschaffen ihm die Möglichkeit, jenseits der Bereitstellung historischer Informationen für die Erklärung der antiken Dokumente historische Ausblicke auf einzelne Sachkomplexe des Altertums zu tun und damit dessen historischer Anschauung überhaupt nahezukommen. Ein weitreichender Realisierungsversuch ist mit Heynes Forschungen zur Mythologie gegeben. Was vor Heyne unter dem Namen der Mythologie existiert, sind lexikalische Handbücher, in denen mythologische Kenntnisse zum Nutzen der Beschäftigung mit antiken Texten und Kunstwerken zusammengestellt werden: 19 Vorlesungsnachschrift Wilhelm von Humboldts von 1789, in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII/1, Berlin 1907, 550 ff. 20 Heyne, Aufsätze (wie Anm. 11), Bd. 2, Leipzig 1779, 174.
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eine typische Ausgabe der Altertümerliteratur. Auch Heynes Interesse an der Mythologie erwächst aus der Arbeit an den Dokumenten. Der Interpret antiker Schriftsteller und Kunstdenkmäler stößt fortwährend auf mythische Dinge, die zu ihrer Erläuterung einer umfassenden mythologischen Belehrung bedürfen. Gerade die Homerische Dichtung, auf die Heyne ein Großteil seiner philologischen Anstrengungen richtet, ist ganz von mythischen Inhalten erfüllt und verlangt daher zu seinem Verständnis genaue mythologische Informationen. Heyne hat diesen Nutzen der Mythologie für die Kommentierung der antiken Dokumente immer wieder betont und darin bis zum Schluß ein Motiv für seine mythologischen Forschungen gesehen.21 Jedoch dieses Motiv wird schon bald eingeholt und überstrahlt durch eine genuine Aufmerksamkeit auf die Geschichte des mythischen Denkens der Antike selbst. Die Mythologie erhebt sich damit aus ihrer bisherigen dienenden Rolle zu einem eigenständigen historischen Fach. Die Schriftsteller und Kunstdenkmäler, für deren Kommentierung sie bis dahin Material beigebracht hat, liefern fortan ihrerseits Material für die Realisierung des ihr angesonnenen neuen historischen Erkenntnisziels. Die anhaltende Bemühung Heynes um Homer gilt mehr und mehr auch dem Zeugen altgriechischen mythischen Denkens. Heyne wird im Verfolg dieser wissenschaftlichen Konzeption zum Historiker der „aetas mythica". 22 Er sucht vor allem das mythische Denken der Griechen zu ergründen, stellt es dabei in den Zusammenhang der gesamten altgriechischen Verhältnisse, macht also eine ganze Epoche der griechischen Geschichte zum Gegenstand historischer Betrachtung. 23 Die Reichweite dieser Historisierung erhellt aus dem wiederholten „differenzierenden Vergleich" mit der Gegenwart: Heyne schärft ein, die „homines rüdes" oder „homines barbari", unter denen die Mythen entstanden seien, von den „homines nostri" abzugrenzen und demgemäß keinerlei moderne Vorstellungen in das Verständnis der Mythen hineinzutragen 24; er pointiert den Abstand zwischen jenen frühesten Zeiten und der Gegenwart: „nos spatii, quod nobis adhuc emetiendum superest, memores" 25; er warnt davor, die frühgriechischen Zustände nach den „mores", „instituta", „necessitates" gegenwärtigen Lebens zu beurteilen. 26 Wenn Heyne überhaupt Analogien zur griechischen Frühzeit anerkennt, dann scheinen sie ihm in der Lebensweise der neu entdeckten amerikanischen, afrikanischen und asiatischen Völker gegeben: eine Analogiebildung, die über die historische Auffassung der griechischen Frühzeit hinaus eine historische Sicht der Universalgeschichte impliziert. 27 Die Differenzierung zwischen der mythischen Zeit und der Gegenwart hat noch eine andere historische Komponente: die Unterstellung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit und damit Gleichberechtigung beider 21 Heyne , Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 1, 189 u. 209 f. 22
Dazu Horstmann , Mythologie (wie Anm. 10), 76. Heyne , Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 1, 207 ff. 24 Ebd., 195 ff. 2 5 Ebd., 212 f. 2 6 Ebd., 215. 27 Ebd., 200 f. u. 210 f. 23
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Epochen. Heyne verwahrt sich dagegen, der Gegenwart das Monopol der „sapientia" zuzuerkennen und die ältesten Griechen als „stupidi", „stolidi", „imperiti" anzusehen: „nec enim nos soli sapimus, nec noster modo, sed totius generis parens est is, quem adoramus, deus, omni temporum, omnisque aeternitatis deus parensque." 28 Das ist eine erste Version der Rankeschen These, daß alle Epochen unmittelbar zu Gott seien. Heyne unterscheidet schließlich nicht nur zwischen der mythischen Zeit und der Gegenwart, sondern hebt die mythische Zeit auch von anderen Epochen der griechischen Geschichte ab, bemerkt zugleich auch die Spuren mythischen Denkens in der nachmythischen Zeit, konstatiert so etwas wie eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: „stultissima quaeque cum sapientissimis permixta." 2 9 Die Erforschung der griechischen Frühzeit leitet also zu Anfängen einer historischen Gesamtdeutung des griechischen Altertums über. Der Mythologie steht eine zweite von Heyne ausgebaute historische Einzeldisziplin kaum nach: die Kunstgeschichte. Heyne meint damit jene Form der Kunstgeschichte, die Winckelmann „die Geschichte der Kunst im engeren Verstände, das ist, in Absicht der äußeren Umstände" nennt. Er knüpft dabei direkt an die Vorarbeit Winckelmanns an, konzentriert aber seine Kritik an Winckelmann gerade auch auf diesen Abschnitt der „Geschichte der Kunst des Altertums", äußert mehrfach, daß zumal „der ganze historische Theil so gut als unbrauchbar" sei. 30 Heyne vollführt mit Winckelmann die Wendung von der historischen Kommentierung einzelner Kunstwerke zur Kunstgeschichte, für die die Kunstwerke zu historischen Quellen werden. Man kann sagen, daß fast alle archäologischen Studien Heynes in diesem Sinne Kunstgeschichte sind oder der Kunstgeschichte dienen. Heyne setzt sich aber dadurch von Winckelmann ab, daß er das faktische Fundament einer Kunstgeschichte sehr viel stärker zu sichern verlangt. Dabei nimmt ihm die erste Stelle eine sorgfältige historische Sichtung und Einordnung der Quellen ein: „Vor allem müßte eine Prüfung der Quellen, und eine so genau als möglich bestimmte Zeitordnung der Künstler, von deren Werken noch Nachrichten oder vermeinte Ueberbleibsel vorhanden sind, vorausgehen." 31 Die Aufstellung einer solchen Zeitordnung hat Heyne dauernd interessiert. Er äußert sich primär zur Periodisierung der griechischen Kunst: er legt quellenkritische Untersuchungen über die Kunstepochen in Plinius „Historia naturalis" vor, die zugleich den kompilatorischen Charakter des ganzen Werkes enthüllen32, und entwirft eine eigene Einteilung, die sieben Epochen von der „aetas mythica" bis zur Zeit des Augustus festsetzt. 33 Er kümmert sich aber auch um die Kunstepochen in Italien, stellt etwa eine „tabula chronographica et historica" auf, in der alle nachweisbaren Kunstwerke in chrono28 Ebd., 216. 29 Ebd., 205. 30 Heyne, Aufsätze (wie Anm. 11), Bd. 1, VII u. 166. 31 Ebd., 166 f. 32 Ebd., 76 ff. 33 Heyne, Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 5, Göttingen 1802, 338 ff.
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logischer Folge verzeichnet sind. 34 Heyne begreift alle diese Arbeiten als Vorstudien: er stabilisiert ein Fundament, auf dem ein Bau errichtet werden soll. Er selbst kommt nicht dazu, diesen Bau aufzuführen, eine Geschichte der Kunst des Altertums zu schreiben, erklärt sich wohl auch gelegentlich als außerstande. Aber dieses Ganze, „wovon mir zuweilen ein dunkles Bild vor dem Auge schwebt4', stellt gleichwohl die regulative Idee dar, die seine Arbeiten bestimmt.35 Daß Heyne wie Winckelmann die Philologie verändert und daß er sogar Winckelmann hinter sich läßt, ist evident. Heyne setzt mit der von ihm geleisteten Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode ein neues wissenschaftsgeschichtliches Datum. Aber wie bei Winckelmann darf von einer Revision des humanistischen Philologie-Modells noch nicht gesprochen werden. Denn auch Heyne bleibt Klassizist und damit Dualist. Seine Restituierung oder Aktualisierung des humanistischen Bildungsgedankens soll gerade die Normativität der Antike bekräftigen. Die Gegenwartsbedeutung der Philologie ergibt sich aus der Vorbildlichkeit des Altertums für die Gegenwart. Heyne tastet diese Prämisse durch seine Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode nicht an. Daß Heyne die historische Erläuterung einzelner antiker Schriftsteller und Kunstwerke fördert, geschieht unter der Voraussetzung des ihnen vindizierten normativen Wertes. Der historisch kommentierte Homer behauptet seinen Rang als vorbildlicher Dichter. Auch die Fortentwicklung der Altertümerliteratur zu historischen Einzeldisziplinen hält sich in den Grenzen einer letztlich normativen Betrachtung des Altertums. Die historischen Ausblicke, die sie eröffnet, haben nirgends die Konsequenz einer totalen Historisierung, sondern betreffen immer nur Teilbereiche und werden auch da vielfältig restringiert. Der Historiker der „aetas mythica" ist zugleich mit einer bestimmten historischen Epoche die unveränderlichen Grundstrukturen menschlichen Denkens aufhellen 36, schränkt den beobachteten Abstand zwischen der griechischen Frühzeit und der Gegenwart durch den Hinweis auf die Fortdauer gewisser von jenen „homines immortales" geschaffener Einrichtungen ein 37 , relativiert die Gleichberechtigung beider Epochen durch Werturteile, die aus dem Arsenal der „Querelle des anciens et des modernes" stammen 38 , gibt bei der epochalen Differenzierung der griechischen Geschichte niemals die normative Einheit des griechischen Altertums preis. Genauso verhält es sich mit dem Historiker der antiken Kunst. Heyne billigt zunächst die Winckelmannsche Einteilung in eine innere und eine äußere Kunstgeschichte, also in eine unhistorische und eine historische Kunstbetrachtung. Indem er Kunstgeschichte von vornherein als äußere Kunstgeschichte auffaßt, klammert er das Wesen der Kunst aus der Geschichte aus und stellt er es einer ungeschichtlichen Erörterung anheim. 34 Ebd., 392 ff. 35
Heyne, Aufsätze (wie Anm. 11), Bd. 1, IX. 6 Heyne, Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 1, 189 u. 208 f. 37 Ebd., 212. 38 Ebd., 216. 3
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So sehr er Winckelmanns äußere Kunstgeschichte kritisiert, so wenig hat er überdies Veranlassung zur Kritik an Winckelmanns innerer Kunstgeschichte, so sehr ist er hier vielmehr zur Zustimmung geneigt: „Der historische Theil des Werkes ist schlecht, allein das übrige wirklich sehr vortrefflich." 39 Er pflichtet also gerade dem unhistorischen Winckelmann bei. Was endlich die kunstgeschichtlichen Forschungen Heynes anbelangt, so ist ihre faktische Berührung mit der Altertümerliteratur noch handgreiflicher als im Falle von Winckelmanns äußerer Kunstgeschichte. Das zur regulativen Idee erhobene Programm einer antiken Kunstgeschichte kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Heyne tatsächlich eben doch nur Material dazu zusammenstellt. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist unübersehbar: ein neuer Dualismus, der freilich auf den alten Dualismus zurückgeht. Heynes Altertumswissenschaft avanciert also noch nicht zur historischen Altertumswissenschaft. Auf Heyne trifft aber grundsätzlich das Gleiche zu wie auf Winckelmann: er strebt mit seinen Interessen, Projekten, Forschungen einem Punkt zu, an dem der Rahmen der humanistischen Philologie zerbrechen muß und die Ausarbeitung eines neuen Wissenschaftsmodells zwingend wird. Die Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode involvieren Probleme, Widersprüche, Antagonismen, die, einmal zum Bewußtsein gebracht, eine Perpetuierung des bisherigen Modells verbieten. Daß Heyne die historische Kommentierung Homers oder die historische Erforschung der „aetas mythica" wiederum durch normative Urteile relativiert, erscheint nur noch mit äußerster Mühe nachvollziehbar, erscheint fast schon als Inkonsequenz. Wenn Heyne auch noch nicht zur historischen Altertumswissenschaft vorstößt, so ist doch soviel gewiß, daß das Konzept einer historischen Altertumswissenschaft in der immanenten Logik aller seiner Bemühungen liegt, sozusagen den idealen Ziel- oder Fluchtpunkt für sie abgibt. Dieser Wissenschaftsauffassung korrespondiert die Meinung, die Heyne vom Rang der Philologie innerhalb des Systems der Wissenschaften hat. Daß er das Prestige einer Universität überhaupt von der Pflege der Altertumsstudien abhängig macht, mutet vielleicht wie eine rhetorische Übertreibung an, die einfach die Wichtigkeit der eigenen Disziplin in Erinnerung rufen soll. 40 Aber es muß ernstgenommen werden, wenn er die bisherige nachgeordnete Stellung der Philologie beklagt und sich demgemäß dafür ausspricht, die Philologie aus dieser Subordination zu befreien und als ein selbständiges Fach einzurichten. Die Philologie, bis dahin gewöhnlich dem Fächerkanon der artistischen Fakultät inkorporiert, ist für einen abgesonderten „ordo" vorgesehen.41 Heyne sagt sich allerdings nicht völlig 39 Christian Gottlob Heyne, Akademische Vorlesungen über die Archäologie der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen und Römer, Ein Leitfaden für Leser der alten Klassiker, Freunde der Antike, Künstler und diejenigen, welche Antikensammlungen mit Nutzen betrachten wollen, Braunschweig 1822, 31. 40
Heyne, Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 1, 44. 1 Ebd., .
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von der bisherigen propädeutischen oder hilfswissenschaftlichen Funktion der Philologie los, versteht dieselbe vielmehr durchaus als allgemeine Grundlagenwissenschaft: „disciplinarum exordia et incrementa"; er führt dies sogar als Argument für die Verselbständigung der Philologie ins Feld. 42 Die Philologie hält insoweit ihren angestammten Platz. Es ist aber unverkennbar, daß sich ihr Stellenwert zu heben beginnt. Das entstehende ambivalente Bild stimmt genau mit der ambivalenten Struktur von Heynes Altertumswissenschaft überein. Das von Heyne in Göttingen geleitete Seminarium Philologicum dient derartigen wissenschaftssystematischen und wissenschaftsorganisatorischen Ideen als institutioneller Anhalt. 43 Das 1737 unter Gesner gegründete Seminar soll sich nach den Statuten der Lehrerbildung widmen auf der Basis eines Studienplans, der in nicht geringem Ausmaß philologische Lehrveranstaltungen einbezieht: lateinische und griechische Grammatik, Rhetorik, Poetik, Lektüre römischer und griechischer Autoren, Altertümer. Es wird damit ein erster Versuch gemacht, die bis dahin über verschiedene Fächer zerstreuten philologischen Studien in einem Institut zusammenzufassen. Die Philologie erlangt dadurch dennoch keine im strikten Sinne autonome Existenz. Sie befindet sich vielmehr in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis. Das Seminar untersteht einmal dem Professor Eloquentiae und knüpft damit an die bisherige Gepflogenheit an, die Philologie vor allem an die Trivialfächer der artistischen Fakultät anzubinden. Das Seminar folgt zum anderen einem primär theologisch ausgerichteten Konzept der Lehrerbildung: die Mitglieder sind Theologen, die durch ihre philologischen Studien zunächst zum angemessenen Verständnis des Neuen Testaments angehalten werden sollen. Gesner läßt freilich keinen Zweifel daran, daß er diese theologische Ausrichtung nur notgedrungen hinnimmt und den wahren Schwerpunkt der Ausbildung auf die philologischen Studien zu legen gedenkt. Als Heyne 1763 mit der Nachfolge Gesners in Göttingen auch die Leitung des Philologischen Seminars übernimmt, setzt er diese Tendenz fort. Das Seminar wandelt sich unter ihm faktisch zu einem altertumswissenschaftlichen Institut, nimmt die Gestalt jenes eigenen „ordo" der Philologie an. Das bedeutet immer noch kein neues System, da die ursprünglichen Statuten in Kraft bleiben. Wohl aber wird durch diese Entwicklung eine neue institutionelle Lösung absehbar. Die Einwirkung der Philologie auf die Geschichtswissenschaft ist seit der Epoche des Humanismus eine doppelte. Die erste ergibt sich unmittelbar aus der propädeutischen oder hilfswissenschaftlichen Funktion, die die Philologie gegenüber der Historie wie gegenüber allen anderen Disziplinen versieht: die Philologen versorgen die Historie mit historisch-kritischen Ausgaben antiker Geschichtswerke, 42 Ebd. 43 Dazu Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Bd. 2, 3. Aufl. Berlin /Leipzig 1921 (Nachdruck Berlin 1960), 16 ff. u. 36 ff.; Wegner, Altertumskunde (wie Anm. 1), 90 ff.
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die den modernen Historikern Muster zur Abfassung eigener Geschichtswerke sind. Auf diese unumgängliche Vorarbeit wissen sich vor allem die humanistischen Geschichtsschreiber angewiesen. Das hohe Prestige der antiken Historiographie wird freilich auch in nachhumanistischer Zeit kaum angezweifelt. Die zweite und auf Dauer ausschlaggebende Einwirkung der Philologie auf die Geschichtswissenschaft ist methodologischer Art. Die seit dem Humanismus konzipierte Methodologie der Historie bildet sich in engem Anschluß an die philologische Methodologie, kommt wesentlich durch die Übertragung der neuen philologischen Methode auf die Methode der historischen Erkenntnis zustande. Ursache oder Bedingung ist eine bestimmte Disposition der Geschichtswissenschaft. Sie resultiert aus der immanenten Wendung, die die Historie seit dem Humanismus nimmt. Entgegen der traditionellen christlich-theologischen Geschichtsauffassung, die im Zeitalter der Glaubenskämpfe noch einmal aufersteht, strebt die vom Humanismus herkommende Geschichtswissenschaft allenthalben zu einer Betrachtungsweise, die einen Abbau religiöser Transzendierung in der Geschichte intendiert: durch pragmatischdidaktische Zwecksetzung der Historie; durch Verabsolutierung und differenzierende Sicht der Profangeschichte; durch die Zurückführung vergangenen Geschehens auf in der historischen Realität selbst liegende Faktoren. Diese zur Immanenz strebende Historie kann und muß die philologische Methode als ein adäquates Instrument historischer Erkenntnis akzeptieren. Es herrscht eine Konkordanz oder Kongruenz zwischen dem historiographischen Interesse an einer Geschichtserfahrung, die in die Dinge selbst eindringt, und dem philologischen Interesse an historisch-kritischer Forschung. Sie macht die Aneignung der philologischen Methode durch die Historie plausibel. Durch die Übertragung erfährt die philologische Methode eine Verschiebung oder Modifizierung ihrer Zielsetzung. Die Philologie wendet die historisch-kritische Methode auf die Wiederherstellung von Dokumenten an. Dagegen wendet die Geschichtswissenschaft die historisch-kritische Methode auf die Wiederherstellung historischer Tatsachen an. Sie benötigt ebenfalls Dokumente, aber als Quellen zur Tatsachenermittlung. Die historisch-kritische Methode soll also über die Auswertung historischer Quellen zur historischen Wahrheit führen. Aus der philologischen Restituierung der Dokumente wird historische Quellenforschung. Die Geschichtswissenschaft vollzieht diese Adaptierung in dreifacher Hinsicht. Sie übernimmt von der Philologie einmal das Grundgebot einer möglichst vollständigen Sammlung aller irgend verfügbaren Dokumente. Sie zieht infolgedessen künftig nicht nur gleichmäßig christliche und nicht christliche Überlieferung heran, sondern erweitert auch den bis dahin gewöhnlich auf die historiographische Tradition beschränkten Quellenbestand um die monumentalen Zeugnisse: andere literarische Quellen, Urkunden, Inschriften, Münzen, Kunstwerke. Sie gewinnt damit überhaupt zum erstenmal eine systematische Vorstellung vom Begriff und vom Umfang historischer Quellen und von der Bedeutung einer quellenmäßigen Darstellung. Die Geschichtswissenschaft läßt sich weiterhin von der Philologie über die Notwendigkeit belehren, ein korrektes, d. h. authentisches Verständnis der
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Dokumente zu gewährleisten. Die historisch-kritische Aufbereitung der Dokumente durch die Philologie wird zum Vorbild für die historisch-kritische Bestandsaufnahme der Quellen. Die dritte Lehre, die die Geschichtswissenschaft von der Philologie empfängt, betrifft die Auswertung der Quellen: die Prüfung des jeweiligen Erkenntniswertes des gesammelten und gesichteten Materials. Die Historie folgt auch hier dem philologischen Postulat der Authentizität, indem sie die Nähe einer Quelle zu dem von ihr berichteten Sachverhalt zum entscheidenden Maßstab macht. Sie verkündet das Prinzip, daß die einem Sachverhalt nächste Quelle am ehesten Glaubwürdigkeit verdiene. Danach haben monumentale Quellen den höchsten Erkenntniswert, da sie bestimmte historische Tatsachen unvermittelt und unverhüllt wiedergeben. Die historiographischen Quellen nehmen, ihrerseits zeitlich angeordnet, den zweiten Rang ein. Das Postulat der Authentizität wird ergänzt oder relativiert durch andere Kriterien, die, ohne unmittelbar aus der Philologie zu stammen, ihm gleichwohl untergeordnet bleiben: Sachkenntnis, Bildung, Aufgeklärtheit eines Quellenschriftstellers und sachkritische Erwägung der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des von den Quellen Berichteten durch den Historiker. Aus der beständigen wissenschaftspraktischen Übung aller dieser Grundsätze entwickelt sich schließlich eine hilfswissenschaftlich spezifizierte historisch-kritische Quellenkunde. Zugleich mit der philologischen Methode adaptiert die Geschichtswissenschaft aber auch den dualistischen Grundzug der Philologie. Das liegt daran, daß die Historie trotz ihrer immanenten Wendung in neue Transzendierungen verstrickt wird und damit eine dualistische Disposition behält. Die pragmatisch-didaktische Zwecksetzung liefert die Geschichtswissenschaft neuerlich einer Normierung durch außerhalb ihrer Disziplin gegründete Prinzipien aus, bestimmt sie zur Hilfswissenschaft der Ethik, Politik, Rhetorik, Jurisprudenz. Folgerichtig werden innerhalb der Profangeschichte neue scharfe Gegensätze aufgerissen: zwischen positiver und negativer Geschichte, zwischen Vernunft und Wirklichkeit, zwischen Allgemeinem und Besonderem. Ebenso zeigt sich, daß die immanenten Faktoren doch wiederum vom Geschehen selbst separiert werden: durch eine beharrliche Trennung von Ursache und Ereignis, durch die Ableitung alles Geschehens aus statischen Primärursachen, die schließlich die Qualität eines allgemeingültigen Naturgesetzes bekommen. Es erscheint daher zwangsläufig, daß die transzendierend und damit dualistisch gebliebene Geschichtswissenschaft auch den philologischen Dualismus rezipiert. Die Philologie setzt die historisch-kritische Methode zur Restituierung der Antike als eines normativen Modells ein und produziert damit einen Dualismus von Zweck und Mittel, Gegenstand und Methode. Die Geschichtswissenschaft setzt die historisch-kritische Methode zur Rekonstruktion historischer Tatsachen ein, die gleichfalls einen normativen Bezug haben, und produziert damit einen analogen Dualismus. Offenbare Konsequenz dieses Dualismus ist eine eigentümliche wissenschaftspraktische Trennung zwischen philologisch-antiquarischer und eigentlicher oder höherer Geschichtsschreibung. Die philologisch-antiquarische Geschichtsschrei-
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bung betreibt in erster Linie Quellenforschung. Die dieser Gattung zugehörigen Werke bieten hauptsächlich eine Diskussion der für ein bestimmtes Thema maßgeblichen Quellen, bleiben gewöhnlich bei der quellenkritischen Tatsachenermittlung stehen, erheben sich kaum jemals auf die Ebene einer im engeren Sinne historiographischen Darstellung. Die formale Verwandtschaft mit der philologischen Altertümerliteratur springt ins Auge. Dagegen zeichnet sich die eigentliche oder höhere Geschichtsschreibung dadurch aus, daß sie sich von der Quellenforschung selbst dispensiert, vielmehr gewissermaßen die Früchte der philologisch-antiquarischen Autoren genießt. Sie geht nur dann auf einzelne Teile oder Aspekte der historisch-kritischen Methode zurück, wenn sich ein spektakulärer Zusammenhang mit den von ihr vertretenen systematischen Interessen herstellen läßt. Diese Zweiteilung reflektiert die dualistische Spannung zwischen der historisch-kritischen Methode und dem unhistorischen Zweck und Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Die methodologische Einwirkung der Philologie auf die Geschichtswissenschaft, wie sie im Humanismus beginnt, setzt sich ohne grundsätzliche Änderung bis zum 18. Jahrhundert fort. Jedoch lösen die quantitativen Fortschritte der Philologie entsprechende Fortschritte der historiographischen Methodologie aus, durch die das historisch-kritische Potential der Geschichtswissenschaft immer weiter verstärkt wird, und wenn es die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der deutschen Philologie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ausmacht, daß sie die Differenzierungs- und Akkumulierungsprozesse innerhalb des humanistischen Modells der Philologie zu einem absoluten Kulminationspunkt bringt, so zieht die deutsche Geschichtswissenschaft dieses Zeitraums daraus die möglichen Folgerungen. Zur Verdeutlichung ist vor allem an die sogenannte Göttinger Schule der Gatterer, Schlözer, Spittler und Heeren zu denken. Wie fragwürdig es auch immer sein mag, diese Autoren im Begriff einer Schule zusammenzufassen, so haben sie zumindest eines gemeinsam: eine nachhaltige Imprägnierung durch die zeitgenössische deutsche Philologie. Sie alle erhalten eine intensive philologische Ausbildung, machen sie für ihre historischen Studien fruchtbar, beherrschen sämtliche bis dahin erarbeiteten Techniken der historisch-kritischen Quellenforschung, gründen darauf ihre Geschichtswerke. Die von ihnen bewirkte Steigerung der historisch-kritischen Verfahrensweisen in der Geschichtswissenschaft reicht nicht aus, diese von der überkommenen dualistischen Struktur zu emanzipieren; sie bejahen vielmehr ausdrücklich die bisherige normative Bindung und die damit gegebene hilfswissenschaftliche Stellung der Historie. Aber sie werten die historisch-kritische Komponente der Historie ungeheuer auf und beginnen damit eine faktische Historisierung und Verselbständigung der Geschichtswissenschaft herbeizuführen. Dazu stimmt, daß sie die wissenschaftspraktische Zweiteilung der Geschichtsschreibung aufzuheben trachten durch Einbeziehung der philologisch-antiquarischen in die eigentliche oder höhere Historiographie. Als Johann Christoph Gatterer 1766 die Leitung des Königlichen historischen Instituts zu Göttingen übernimmt, hält Heyne eine Inaugurationsrede, in der er 11 Muhlack
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Gatterers Auffassung von Geschichtswissenschaft in Wendungen charakterisiert, die an seine eigene Auffassung von Philologie erinnern. 44 Er malt zunächst den Verfall der Historie seit dem Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit aus: die völlige Unterordnung unter andere Disziplinen, den völligen Mangel an einer wissenschaftlichen Form: „nulla recte cognoscendae, diudicandae et conscribendae historiae praecepta". Gatterer wird demgegenüber zugeschrieben, daß er diesem Mangel abgeholfen, daß er die „historiae recte cognoscendae, tradendae ac condendae ars et ratio" geschaffen habe. Heyne unterstellt Gatterer also einen Wissenschaftsanspruch, wie er ihn selbst für die Philologie vertritt. Er führt gleichzeitig denselben Maßstab der Wissenschaftlichkeit ein, an dem er sich in der Philologie orientiert: die Anwendung der historisch-kritischen Methode. Er rühmt an Gatterer vor allem die Pflege der für die „fides" und „veritas" der Historie notwendigen Hilfswissenschaften, die er als „disciplinae historicae" und „fundamenta historici studii et firmamenta" bezeichnet: der Handschriften und Urkundenlehre, Geographie, Numismatik, Heraldik. Diese Leistung repräsentiert ihm jene Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode, um die es ihm auch in der Philologie geht. Diese Analogisierung von Philologie und Historie illustriert treffend die philologische Fundierung von Gatterers Verständnis der Geschichtswissenschaft. Sofern es Gatterer in seinem ganzen Werk auf eine innere und äußere Ausgestaltung der historisch-kritischen Methode ankommt, verfährt er nach dem Prototyp der Philologie. Das von ihm aufgestellte oder weitergeführte hilfswissenschaftliche Programm, das Heyne rühmend heraushebt, hat eine philologischeWurzel, fällt teilweise sogar mit philologischen Einzeldisziplinen zusammen. Wenn Gatterer über antike Geographie arbeitet, etwa eine „Abhandlung von Thracien nach Herodot und Thucydides" verfaßt 45, wird der Historiker unmittelbar zum Philologen. Das auf den Hilfswissenschaften aufgebaute historiographische Konzept, das zumal in den verschiedenen Versuchen zur Weltgeschichte zutage tritt, kann demnach als historiographische Umsetzung der philologischen Methode begriffen werden. Gatterer stellt dieses Konzept folgendermaßen vor: „Begebenheiten sind der eigentliche Gegenstand der Geschichte: man liest aus der unübersehlichen Menge derselben nur die merkwürdigsten aus, beweist ihre Wirklichkeit aus den Quellen, und erzählt sie auf eine gute Art und im Zusammenhang."46 Er fordert also die Vereini44 Heyne , Opuseula (wie Anm. 14), Bd. 1, 280 ff. - Literatur zu Gatterer: H. Wesendonck, Die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung durch Gatterer und Schlözer nebst Einleitung über Gang und Stand derselben vor diesen, Leipzig 1876; Hammerstein, Jus und Historie (wie Anm. 1), 357 ff.; Peter H. Reill, Johann Christoph Gatterer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.) Deutsche Historiker, Bd. 6, Göttingen 1980, 7 ff. 45 Johann Christoph Gatterer, Abhandlung von Thracien nach Herodot und Thucydides, aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer Übersicht und dem nöthigen Register begleitet v. H. Schlichthorst, Göttingen 1800. 46 Johann Christoph Gatterer, Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen, Göttingen 1771, 1.
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gung von Geschichtsschreibung und historisch-kritischer Quellenforschung und damit von eigentlicher oder höherer und philologisch-antiquarischer Historiographie. Es liegt in der Konsequenz von Gatterers Wissenschaftsverständnis, daß der Sinn dieser Vereinigung eine Gewichtsverschiebung zugunsten der historisch-kritischen Quellenforschung und damit der philologisch-antiquarischen Historiographie sein soll. Die historisch-kritische Methode avanciert dadurch zum tragenden Prinzip aller Geschichtsschreibung. Das Ergebnis ist eine beträchtliche Historisierung der historiographischen Gegenstände. Daß dieses Konzept Implikationen der philologischen Methode zur Entfaltung bringt, läßt sich kaum übersehen. Bei alledem fällt es Gatterer ebensowenig wie der zeitgenössischen deutschen Philologie ein, den tradierten Dualismus auszuräumen. Heyne stellt in der Inaugurationsrede von 1766 der Geschichtswissenschaft, ganz im Sinne Gatterers, die alten Aufgaben: sie hat „ad vitae magisterium" zu dienen und nützt anderen Disziplinen wie der Jurisprudenz und Philosophie.47 Einer Historisierung und Verselbständigung der Historie sind damit ebensolche Grenzen gesetzt wie einer Historisierung und Verselbständigung der Philologie. Das hilfswissenschaftliche Programm Gatterers kommt einer Geschichtswissenschaft zugute, die immer noch ein normatives, unhistorisches Ziel hat. Das historiographische Konzept Gatterers, das die Vereinigung von Geschichtsschreibung und historisch-kritischer Quellenforschung anstrebt, beläßt es letztlich bei der bloßen Addition, die den früheren Dualismus nur auf einer anderen Ebene erneuert. Daß dabei die historisch-kritische Quellenforschung überwiegt, ist keine grundsätzliche Lösung. Auch die Historisierung der historiographischen Gegenstände erweist sich daher nur als partiell. Was aber Gatterer ebenso wie die zeitgenössische deutsche Philologie aus dem traditionellen Kontext heraustreten läßt, das ist die vermehrte historisch-kritische Anstrengung, durch die das Festhalten an dem alten Modell zunehmend fragwürdig wird. Ein Blick auf Arnold Herrmann Ludwig Heeren soll dieses Bild abrunden. 48 Heeren steht für die Einwirkung der deutschen Philologie auf die deutsche Geschichtswissenschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so exemplarisch wie nur einer. Er ist Schüler Heynes, beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn mit philologischen Studien im Geiste Heynes, bleibt der Heyneschen Philologie immer auf 47 Heyne , Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 1, 285. 48
Der Historiker Heeren ist bisher nur ansatzweise erforscht; vgl. zuletzt Helmut Seier, Heeren und England, in: Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, in: Lothar Kettenacker/Manfred Schlenke / Helmut Seier (Hrsg.), Festschrift für Paul Kluke, München 1981, 48 ff.; Helmut Seier, Arnold Hermann Ludwig Heeren, in: HansUlrich Wehler (Hrsg.), Bd. 9, Göttingen 1982, 61 ff.; Horst Walter Blanke, Verfassungen, die nicht rechtlich, aber wirklich sind. A. H. L. Heeren und das Ende der Aufklärungshistorie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6, 1983, 143 ff. Eine umfassende Würdigung in der Frankfurter Dissertation von: Christoph Becker-Schaum, Arnold Hermann Ludwig Heeren. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen Aufklärung und Historismus (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 551), Frankfurt u. a. 1993. - Ich möchte betonen, daß die vielen intensiven Gespräche, die ich mit Herrn Becker-Schaum über seine Arbeit geführt habe, der Abfassung dieses Aufsatzes sehr zugute gekommen sind. Ii*
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das engste verbunden. Seine Wendung zur Geschichtswissenschaft ist ohne diese Voraussetzung nicht verständlich. Heeren bringt in die Historie das ganze bei Heyne erworbene und durch eigene philologische Arbeiten erweiterte historischkritische Wissen ein: die historisch-kritische Methode, vielfältige geschichtliche Sachkenntnisse, Ansätze historischer Denkweise. Er wird dadurch in ganz anderer Weise als noch Gatterer zu einer historischen Sicht der Geschichte befähigt, unbeschadet dessen, daß auch er die normativen Rahmenbedingungen der Historie grundsätzlich anerkennt. Das von Gatterer erhobene Postulat, Geschichtsschreibung und historisch-kritische Quellenforschung zusammenzufassen, erscheint in den historiographischen Werken Heerens ziemlich weitgehend verwirklicht. Es ist kein Zufall, daß das erste Geschichtswerk Heerens sich thematisch mit dem Bereich der philologischen Studien berührt. Die erstmals 1793-1796 erschienenen »Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt« stehen im Zusammenhang mit dem Unterfangen Heynes, die herkömmliche Altertümerliteratur zu eigenen historischen Forschungsgebieten fortzubilden. Was Heyne in seinen Arbeiten zur Mythologie oder zur antiken Kunstgeschichte anlegt, wird hier für einen anderen Sachkomplex als ein historiographisches Projekt ausgeführt. Die Altertümerliteratur wandelt sich damit endgültig zur Geschichtsschreibung über das Altertum. Das historiographische Interesse Heerens geht also unmittelbar aus einem philologischen Interesse hervor. Die „Ideen" sind darum ein geeignetes Objekt, um zu ermessen, was der Historiker Heeren der Heyneschen Philologie verdankt. Heeren glaubt einerseits mit Heyne an die normative Geltung des Altertums oder an den pragmatisch-didaktischen Nutzen historiographischer Behandlung des Altertums. Er deklariert die alte Geschichte, wie er sie darzustellen sich vornimmt, „zur praktischen Lehrerin der Politik", 49 räumt zumal den Griechen den Rang „der einzigen Nation" ein. „Indeß bleibt die Thatsache bey diesen, uns so mangelhaft scheinenden, Verfassungen, reifte das Edelste und Herrlichste, was die gebildete Menschheit hervorgebracht hat." 50 Heeren befleißigt sich andererseits mit Heyne einer durchaus historischen Arbeitsweise. Er macht „gelehrte Forschungen", d. h. historisch-kritische Quellenforschung zur Grundlage seines Werkes: „Dazu bedurfte es aber einer strengen Auswahl, und kritischen Gebrauchs der Quellen, aus denen ich schöpfte. Ich machte es mir daher zum ersten Gesetz, nicht blos glaubwürdige, sondern so viel möglich auch gleichzeitige, Schriftsteller als Zeugen aufzuführen; und spätere nur in so weit zu gebrauchen, als es sich erweisen ließ, daß sich ihre Nachrichten schon auf die Zeiten bezogen, von denen ich redete." 51 Er will zugleich ein „anziehendes" Werk schreiben, also die gelehrten Forschungen in veritable Geschichtsschrei49 Arnold Hermann Ludwig Heeren , Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt, Erster Theil: Asiatische Volker, Erste Abtheilung: Einleitung, Perser (Historische Werke, Bd. 10), 4. Aufl., Göttingen 1824, 2. 50 Heeren , Ideen, Dritter Theil: Europäische Völker, Erste Abtheilung: Griechen (Historische Werke, Bd. 15), 4. Aufl., Göttingen 1826, IX. 51 Ebd., VII f.
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bung integrieren. Dabei handelt es sich für ihn nicht um „jene Verzierungen und jenen Prunk der Rede", die die Geschichte bis dahin entstellt hätten, sondern um „die größte Klarheit und Deutlichkeit der Darstellung", d. h. um eine den Forschungsergebnissen angemessene Darstellungsweise. 52 Heeren wird durch diese Vorsätze in großem Ausmaß der Geschichtlichkeit der von ihm erforschten Sachverhalte ansichtig. Er glaubt an die Normativität des Altertums, befaßt sich tatsächlich aber fast nur mit historischen Phänomenen, wendet sich sogar nachdrücklich dagegen, „daß man zu vieles von unsern jetzigen Ideen über Staaten und Staatenverfassungen schon auf jene Zeiten überträgt, für welche dasselbe doch unmöglich passen kann". 53 Er deklariert die alte Geschichte „zur praktischen Lehrerin der Politik", setzt aber hinzu: „Eine eigentliche Theorie der Politik gehört nicht für ein Werk, in dem die Untersuchung durchaus den historischen Gang gehen soll." 54 Heeren vermag freilich ebensowenig wie Heyne dem Dualismus zu entrinnen, ist vielmehr durch seine Haltung in ihn bis zum offenen Widerspruch verstrickt. Aber gerade dieser Widerspruch signalisiert die akute Krise, in der sich die durch Heeren repräsentierte Geschichtswissenschaft wie die durch Heyne repräsentierte Philologie befindet. Das Verhältnis zwischen Philologie und Geschichtswissenschaft in Deutschland ändert sich grundlegend durch die Entstehung des Historismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist das Erlebnis der Französischen Revolution, das diese Revolutionierung des geschichtlichen Denkens hervorruft. Eine völlig neue lebensweltliche Erfahrung von Geschichte läßt alle Formen dualistischer Geschichtsauffassung brüchig werden und beginnt einen Sinn für historische Immanenz zu wekken. Dieser Prozeß erfaßt wie die anderen heute so genannten Geistes- und Sozialwissenschaften auch die Philologie und die Geschichtswissenschaft. Beide Disziplinen gewinnen nunmehr die Möglichkeit, die bisherigen Dualismen abzutragen und, über die historisch-kritische Methode hinaus, zur vollständigen Historisierung zu gelangen. Beide treten durch diese Historisierung zugleich aus ihrem bisherigen hilfswissenschaftlichen Dasein heraus und erheben sich zu eigenen Wissenschaften mit einem autonomen Erkenntnisanspruch. Dabei kann gezeigt werden, daß die Philologie diese Transformation am frühesten vollführt und damit zum Modell für die sich entwickelnde neue Geschichtswissenschaft werden kann. Die Fortbildung der Philologie steht im Zeichen des Neuhumanismus, der der erklärten Gegnerschaft zum abstrakten Rationalismus der Aufklärung und der Revolution entstammt. Der Neuhumanismus stimmt mit dem älteren Humanismus in der Absicht überein, menschliche Bildung auf der Grundlage der Antike zu erneuern. Er verficht aber ein verschiedenes Bildungsideal und hat damit eine verschiedene Einstellung zur Antike. Im Gegensatz zum Humanismus, der die unmittelbare Nachahmung der Antike erstrebt, zielt der Neuhumanismus darauf ab, vermittels 52 Ebd., VIII f. 53 Ebd., 3. 54 E b d . , 18.
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des Studiums der Antike gerade die produktiven Energien des Menschen freizusetzen, die Selbstbildung, Selbstbestimmung, Individualität des Menschen zu fördern. Die Antike, voran das griechische Altertum, wird dazu deshalb als geeignet erachtet, weil sie Beispiele vollendeter individueller Bildung biete: die Anschauung individueller Bildung in der Antike soll die Realisierung individueller Bildung in der Gegenwart motivieren. Es ist offenkundig, daß diese Konzeption, verglichen mit der humanistischen, zugleich ein neues Geschichtsverständnis bedingt. Das humanistische Bildungsideal hat eine normative und eine historische Dimension: die historische Wiederbelebung des Altertums soll der normativen Wiederbelebung dienen. Dagegen erheischt das neuhumanistische Bildungsideal eine ganz und gar geschichtliche Betrachtung des Altertums: die Vorstellung, daß die Anschauung individueller Bildung in der Antike die Realisierung individueller Bildung in der Gegenwart motivieren solle, verweist auf die Notwendigkeit einer historischen Auffassung der Antike. Der Neuhumanismus übertrumpft den Humanismus also dadurch, daß er die Historisierung der Antike totalisiert oder verabsolutiert. Daß er gleichwohl tatsächlich noch bestimmten normativen Annahmen über die Antike verhaftet bleibt, ist kein prinzipieller Einwand. Eine letzte normative Position ist durch die Stilisierung der Antike zum Fall vollendeter individueller Bildung und damit exemplarischer Geschichtlichkeit gegeben. Aber diese Paradoxie hat die Keime zu ihrer Auflösung in ihren eigenen Prämissen, ganz abgesehen davon, daß sie gerade gegen die bisherige normative Sicht der Antike gerichtet ist. Die neue Philologie setzt an der neuhumanistischen Historisierung der Antike an, wie die traditionelle Philologie am humanistischen Dualismus ansetzt. Während diese bei der historisch-kritischen Aufbereitung der Dokumente stehenbleibt, ohne die normative Geltung der Antike anzurühren, heißt die Aufgabe nunmehr, über die historisch-kritische Aufbereitung der Dokumente eine historische Anschauung des Altertums zu erreichen. Die historische Methode wird also jetzt auf ein historisches Ziel eingestellt, der bisherige Dualismus von Zweck und Mittel, Gegenstand und Methode eliminiert. Es kann nicht ausbleiben, daß damit auch die historisch-kritische Methode selbst neue Intensität und Konsequenz erlangt. Eine erste programmatische Formulierung liegt in einer Schrift Wilhelm von Humboldts vom Jahre 1793 vor. 55 Ausgangspunkt ist eine durch das Revolutionserlebnis ausgelöste Reflexion über die notwendige Einheit von Vernunft und Wirk55 Wilhelm von Humboldt, Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere, in: Wilhelm von Humboldt, Werke. Hrsg. v. Andreas Flitner/ Klaus Giel, Bd. 2, Darmstadt 1971, 1 ff.; vgl. dazu Kommentar und Anmerkungen in Bd. 5 dieser Werke Ausgabe, Darmstadt 1981, 372 ff. - Literatur zu Humboldt: Ernst Howald, Wilhelm von Humboldt, Erlenbach/Zürich 1944, 45 ff. u. 61 ff.; Peter B. Stadtler, Wilhelm von Humboldts Bild der Antike, Zürich/ Stuttgart 1959; Menze, Humboldt und Heyne (wie Anm. 10); Eberhard. Kessel, Wilhelm von Humboldt, Idee und Wirklichkeit, Stuttgart 1967, 67 ff.; Ulrich Muhlack, Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Helmut Flashar/Karl Gründer/Axel Horstmann (Hrsg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, 225 ff., hier 230 ff.
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lichkeit, Vernunft und Bildung. Sie führt Humboldt zur Ausarbeitung einer Theorie der Bildung, die auf die Individualität als Inbegriff dieser Einheit zentriert ist. Die nächste Folgerung, die Humboldt daraus herleitet, ist politisch: die Bildung der Individualität wird zum obersten Zweck des Staates erklärt. Die weitere Folgerung ist historisch: die Bildung der Individualität wird zum obersten Zweck der Geschichte erklärt. Der Historiker muß demgemäß die Individualitäten zum Gegenstand seiner Erkenntnis machen. Diese Individualisierung der Geschichte soll, indem sie die Gegenwart für den Wert individuellen Lebens sensibilisieren soll, auch und gerade dem Staatsmann nützen. Humboldt entfaltet oder entwickelt diese Geschichtsauffassung zum erstenmal am Beispiel der Antike. Die Schrift „Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere" stellt dazu ein wissenschaftliches Programm auf, das einer Neubegründung der Philologie gleichkommt. Humboldt setzt darin die Aufgabe der Altertumsstudien in „die Kenntniss der Alten selbst, oder der Menschheit im Alterthum", wie sie ihm in den verschiedenen Nationalindividualitäten begegnet, die spezielle Aufgabe griechischer Studien demnach in die Erforschung der griechischen Nationalindividualität, der er einen hervorragenden Bildungswert attestiert. 56 Die Altertumsstudien bekommen also eine historische Aufgabe, die durch die unterstellte Normativität der griechischen Geschichtlichkeit nicht beeinträchtigt wird. Humboldt läßt keinen Zweifel daran, daß er damit von dem humanistischen Modell der Philologie abrückt. Er schränkt gegenüber dem historischen Nutzen der Altertumsstudien deren materialen und ästhetischen Nutzen ein, distanziert sich also von der bisherigen hilfswissenschaftlichen Funktion der Philologie und von der bisherigen Ausrichtung auf ästhetische Normen. 57 Er betont dementsprechend, daß der Altertumsforscher nicht vorzüglich „die Gattung der Schriftsteller" betrachten solle, sondern die „Sachen, die sie behandeln", und die Zeit, in der sie lebten und von der sie handelten, ordnet also wiederum den ästhetischen Aspekt dem historischen unter. 58 Er sieht endlich, daß die neue Aufgabenstellung der Philologie den Einsatz der historisch-kritischen Methode verändert. Er nennt zwei „Hülfsmittel zu diesem Studium": „1., unmittelbare Bearbeitung der Quellen selbst durch Kritik und Interpretation"; „2., Schilderung des Zustandes der Griechen, Griechische Antiquitäten im weitesten Sinne des Worts, welchem der hier aufgestellte Endzweck die höchste Ausdehnung giebt." 59 Die historisch-kritische Methode soll sich also nicht, wie bisher, mit der historischen Aufbereitung der Dokumente begnügen, sondern soll auf diesem Wege zur historischen Erkenntnis des Altertums selbst führen. Die Entfernung der „Antiquitäten im weitesten Sinne des Worts" von der bisherigen Altertümerliteratur , die nur ansatzweise oder teilweise das Aussehen selbständiger Geschichtsforschung angenommen hat, manifestiert sinnfällig den eingetretenen Wandel.
56 57 58 59
Humboldt, Studium (wie Anm. 55), 1 u. 9 ff. Ebd., 1. Ebd., 22. Ebd.
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Friedrich August Wolf macht aus dem Humboldtschen Programm eine eigentliche Wissenschaftslehre. Die 1807 veröffentlichte „Darstellung der AlterthumsWissenschaft" ist eine professionelle Fortsetzung von Humboldts Schrift „Über das Studium des Alterthums" 60 . Wolf nimmt sich darin vor, die Philologie zur „Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben", als Altertumswissenschaft zu konstituieren. 61 Diese Zielsetzung kommt zunächst mit derjenigen Heynes überein, reicht aber in ihren Folgerungen prinzipiell über sie hinaus. Die Verwissenschaftlichung der Philologie bei Heyne beinhaltet die Systematisierung und Rationalisierung der historisch-kritischen Methode im Rahmen des hergebrachten dualistischen Modells. Dagegen ist bei Wolf der Begriff der Altertumswissenschaft schlechthin mit historischer Altertumswissenschaft identisch. Er negiert oder relativiert die bisherigen Auffassungen vom „Zweck und Werth" der Altertumsstudien. 62 Er kritisiert den humanistischen Klassizismus, wonach „man die Werke des Alterthums nicht nur als einzige Muster in jeder Darstellung und Kunst, sondern auch als Magazine der reichhaltigsten Gedanken und Grundsätze ansah".63 Er weist ebenfalls die traditionelle Ansicht zurück, daß die Altertumsstudien Hilfsdienste für sogenannte Hauptwissenschaften zu leisten hätten.64 Er verwirft die utilitarische Ansicht, „in so weit alte Sprachen noch itzt als Werkzeuge heutiger Gelehrsamkeit gelten". 65 Er klammert die Frage der Vorbildlichkeit der antiken Literatur aus: „Allein der Gesichtspunkt von Seiten der Classizität einzelner Schriftsteller und Werke ihrer Gattung darf bei dem eigentlichen Alterthumskenner viel weniger vorwalten als der rein historische." 66 Wolf bejaht gegenüber allen diesen Zwecksetzungen lediglich einen historischen „Zweck und Werth" der Altertumsstudien: „Es ist aber dieses Ziel kein anderes als die Kenntniß der alterthümlichen Menschheit selbst, welche Kenntniß aus der durch das Studium der alten Ueberreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht." 67 Die Altertums60 Friedrich August Wolf, Darstellung der Alterthumswissenschaft, o. 0., o. J. (Berlin 1807). - Literatur zu Wolf: Manfred Fuhrmann, Friedrich August Wolf, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33, 1959, 187 ff.; Axel Horstmann, Die Forschung in der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts, in: Alwin Diemer (Hrsg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Referate und Diskussionen des 10. wissenschaftstheoretischen Kolloquiums 1975, Meisenheim am Glan 1978, 27 ff., hier 32 ff; Helmut Flashar, Die methodisch-hermeneutischen Ansätze von Friedrich August Wolf und Friedrich Ast - Traditionelle und neue Begründungen, in: Flashar/ Gründer/Horstmann (Hrsg.), Philologie (wie Anm. 55), 21 ff.; Muhlack, Klassische Philologie und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 55), 233 f.; Anthony Grafton, Prolegomena to Friedrich August Wolf, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 44 1981, 10 ff. 61 Wolf, Alterthumswissenschaft (wie Anm. 60), 5. 62 Ebd., 83 ff. 63 Ebd., 83. 64 Ebd., 85 ff. 65 Ebd., 90. 66 Ebd., 109. Ebd., f.
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Wissenschaft erhält also das einzige Ziel historischer Erkenntnis des Altertums. Sie offenbart dadurch zugleich ihren spezifischen Bildungswert für die Gegenwart: insofern „unser Blick anhaltend auf eine große Nation und auf deren Bildungsgang in den wichtigsten Verhältnissen und Beziehungen gerichtet seyn" müsse.68 Die Präferenz für die Antike und zumal für die Griechen steht unter dieser historischen Perspektive. Wolfs besonderes Anliegen geht dahin, die „Enzyklopädie und Methodologie" der neuen Altertumswissenschaft darzustellen. 69 Er beschreibt die Wege, die von der historisch-kritischen Bearbeitung der Quellen zur historischen Betrachtung des Altertums überleiten, nennt die dazu notwendigen Teildisziplinen: solche, die das sprachliche Verständnis der schriftlichen Quellen als der wichtigsten Dokumente ermöglichen, „ein Organon für die gesammte Wissenschaft" 70, und solche, „welche zu der Contemplation des Alterthums führen" und „das Historische und Reale der Wissenschaft und die nähere Anschauung der alten Welt" gewähren. 71 Die Absicht dieser „Enzyklopädie und Methodologie" ist also die durchgängige Beziehung der historisch-kritischen Methode auf das neue historische Erkenntnisziel der Philologie. Was Wolf 1807 in der „Darstellung der Alterthums- Wissenschaft" wissenschaftstheoretisch fixiert, hat er bereits 1795 in den „Prolegomena ad Homerum" wissenschaftspraktisch vorgeführt. 72 Wenn die werdende historische Altertumswissenschaft in Deutschland eine paradigmatische Leistung aufzuweisen hat, dann ist es dieses Werk. Die Schrift, zur Einführung in die gleichzeitig erscheinende Homer-Ausgabe Wolfs bestimmt, bespricht zunächst die Prinzipien der Textkritik und wendet sich alsbald der Überlieferungsgeschichte der Homerischen Gedichte zu: „Ut vero clarius appareat, quibus potissimum praeceptis regatur Homerica emendatio, maximo studio in tralaticii textus mutationes inquiri oportet, recensendis fontibus et rivulis earum, qui vel olim manaverunt, vel etiam hodie patent." 73 Wolfs These lautet, daß die Homerischen Gedichte nicht das Werk eines einzigen Dichters seien, sondern das Werk verschiedener Sänger, das erstmals in der Zeit des Peisistratos zusammengefaßt worden sei und nochmals weitere Änderungen erfahren habe.74 Daran ist nicht neu, daß Wolf überhaupt in diesem Sinne Kritik an der antiken Überlieferung übt: derartige Fragestellungen sind vielmehr seit der Entstehung der humanistischen Philologie geläufig. Auch die Homerische Frage bewegt die Philologen seit langem. Selbst die Wolfsche These hat Vorläufer, etwa zuletzt bei Heyne, der darauf in einer Rezension auch sofort aufmerksam macht.75 68 Ebd., 127 ff. 69 Ebd., 31 ff. vo Ebd., 35. 71 Ebd., 49. 72 Friedrich August Wolf, Prolegomena ad Homerum sive De Operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, Bd. 1, Halle 1795. 73 Ebd., XXII. 74 Zusammenfassung ebd., XXII f.
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Neu ist jedoch, daß die Wolfsche Überlieferungskritik darauf abzielt, die historische Physiognomie der Homerischen Dichtung zu erfassen. Die bisherige Kritik setzt immer den normativen Rang der antiken Texte voraus, behandelt also die Homerische Dichtung als einen Fall normativer Ästhetik. Alle historische Rekonstruktion hält sich in diesem Kontext. Dagegen behandelt die Wolfsche Homerkritik die Homerische Dichtung ausschließlich als historischen Gegenstand: „servataque severissima lege historiae". 76 Wolf liefert eine reine historische Untersuchung, die für irgendwelche Annahmen normativer Übertragbarkeit keinerlei Platz läßt. Sofern er gelegentlich vom „princeps scriptorum Homerus" spricht, ist dies nicht mehr als eine konventionelle Formel, die der eigentlichen Darstellung vollkommen äußerlich bleibt. 77 Der kritische Ansatz steht also bei Wolf in einem ganz anderen Zusammenhang und hat damit ganz andere Konsequenzen. Daß die historische Altertumswissenschaft des Humboldtschen und Wolfschen Typs Modellcharakter für die entstehende historistische Geschichtswissenschaft hat, dafür kann gleich der gefeierte Begründer der modernen Geschichtswissenschaft zum Exempel dienen: Barthold Georg Niebuhr. 78 Was Wolfs „Prolegomena ad Homerum" für die Philologie sind, ist Niebuhrs „Römische Geschichte" für die Geschichtswissenschaft: eine paradigmatische Leistung, die auf die ganze folgende wissenschaftliche Epoche ausstrahlt. Niebuhr ragt dadurch hervor, daß er zum erstenmal in einem Werk der Geschichtsschreibung die überkommene historisch-kritische Methode mit einem historistischen Geschichtsverständnis verbindet und damit die moderne Einheit von Quellenforschung und Geschichtsschreibung schafft. Er beseitigt also als erster Historiker den traditionellen Dualismus von Zweck und Mittel, Gegenstand und Methode und erledigt damit endgültig die traditionelle Trennung zwischen philologisch-antiquarischer und eigentlicher oder höherer Geschichtsschreibung. Es wäre durchaus verfehlt, die „Römische Geschichte" direkt aus philologischen Interessen ableiten zu wollen. Die Motive, die Niebuhr zur Abfassung dieses Werkes bewegen, haben vielmehr gar nichts mit Philologie zu tun, 75
Die Rezension in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, Jahrgang 1795, 186. Stück, 1857 ff. 7 6 Wolf, Prolegomena (wie Anm. 72), XLI. 77
Ebd. Die Niebuhr-Forschung wird auf eine völlig neue Grundlage gestellt durch die Arbeiten von Alfred Heuss, an die sich die folgenden kurzen Bemerkungen halten: Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge, Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire), Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 114); Näheres zu Niebuhr. Zur 150. Wiederkehr seines Todestages am 2. Januar 1981, in: Antike und Abendland 27, 1981, 1 ff. Von der früheren Literatur seien erwähnt: Seppo Rytkönen, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker, Zeitgeschehen und Zeitgeist in den geschichtlichen Beurteilungen von B. G. Niebuhr, Helsinki 1968 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B, Tom. 156); Barthold C. Witte , Der preußische Tacitus. Aufstieg, Ruhm und Ende des Historikers Barthold Georg Niebuhr 1776-1831, Düsseldorf 1979; Karl Christ, Barthold Georg Niebuhr, in: Wehler (Hrsg.), Historiker (wie Anm. 44), 23 ff. 78
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sondern haben eine ganz andere Herkunft. Es handelt sich da um einen höchst komplizierten Prozeß der Umsetzung einer durch englische Einflüsse geprägten und durch die Konfrontation mit der Revolution erhärteten politischen Weltanschauung in einen neuen historischen Wirklichkeitssinn und schließlich in ein neues historiographisches Vorhaben. Auslösendes Moment ist eine vom revolutionären Frankreich ausgehende publizistische Diskussion um das römische Ackergesetz: Niebuhr fühlt sich politisch herausgefordert, tritt falschen Aktualisierungen mit einer historischen Analyse entgegen, legt später diese Studien der „Römischen Geschichte" zugrunde. Freilich verrät das Thema, daß sich die Realisierung der Niebuhrschen Motive ohne Philologie nicht denken läßt. Niebuhr steht zunächst in durchgängiger Beziehung zur älteren philologischen Tradition. Er beherrscht seit frühester Jugend die antike Literatur, kennt das ganze seit dem Humanismus ausgebildete Instrumentarium der Textkritik und Textinterpretation, ist in den Altertümern bewandert, schätzt gerade die humanistischen Philologen hoch, stellt sich gelegentlich mit ihnen in eine Reihe. 79 Sofern die „Römische Geschichte" die Durchschlagskraft der historisch-kritischen Methode demonstriert, demonstriert sie nur, was die hergebrachte philologische Methode in der Historie zu leisten vermag. Wieweit Niebuhr überdies auf die sachliche Vorarbeit der älteren Philologen bauen kann, belegt z. B. Heynes 1793 gehaltene akademische Rede „Leges agrariae pestiferae et execrabiles", die unmittelbar den konkreten Ansatz von Niebuhrs Geschichtsschreibung tangiert. 80 Daß die „Römische Geschichte" aber auch in den Zusammenhang der neuen historischen Altertumswissenschaft gehört, ist so offensichtlich, daß Niebuhr selbst am wenigsten Veranlassung hat, darüber hinwegzugehen. In der Vorrede zur zweiten Auflage des ersten Bandes wertet er nach einem kurzen Rückblick auf die humanistischen Philologen den Aufstieg der neuen deutschen Philologie als notwendige Bedingung seines Werkes. Er konstatiert den Einschnitt, den die Französische Revolution in der Entwicklung des historischen Denkens herbeigeführt hat, und fährt fort: „Zu der Zeit war die Philologie in Deutschland schon zu der Blüthe gediehen, deren unser Volk sich nun rühmen kann. Sie erkannte ihren Beruf, als Vermittlerin der Ewigkeit, den Genuß durch Jahrtausende fortdauernder Identität mit den edelsten und vortrefflichsten Völkern des Alterthums zu gewähren, indem sie uns durch Grammatik und Historie mit ihren Geisteswerken und ihrer Geschichte so vertraut macht, als ob keine Kluft von ihnen trennte. - So war, wenn auch lange der griechischen Literatur fast ausschließende Gunst zugewandt blieb, die kritische Behandlung der römischen Geschichte, die Entdeckung der verkannten Formen, eine Frucht der vorbereitenden Zeit: und eine Fülle günstiger Umstände vereinigten sich sie zu fördern." 81 Er kennzeichnet also die neue deutsche Philologie als erste Manifestation des durch die Französische Revolution hervorgerufenen Geschichtsdenkens und seine „Rö79 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Bd. 1, Berlin 1810, 7. 80 Heyne, Opuscula (wie Anm. 14), Bd. 4, 350 ff.; dazu Heuss, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge (wie Anm. 78), 322 ff. 8 1 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin 1827, X.
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mische Geschichte" als durch die neue deutsche Philologie konditioniert: „eine Frucht der vorbereitenden Zeit". Treffender kann nicht gesagt werden, inwiefern Niebuhr und durch ihn die sich auf seine Leistung gründende deutsche Geschichtswissenschaft von der historischen Altertumswissenschaft abhängen.
Geschichte und Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen Unter den „Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen" hat Voltaire eine herausgehobene Stellung durch die grundsätzliche oder paradigmatische Bedeutung, die der Beziehung zwischen den beiden Männern zukommt. Der preußische König und der französische Philosoph bringen die beiden Hauptmächte ihrer Epoche, Absolutismus und Aufklärung, zur Personifizierung; ihr Verhältnis vermag daher, vor anderen Phänomenen, eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Spannweite zwischen diesen Mächten herrscht, was sie verbindet, was sie trennt. Wenn man auf Friedrich blickt, rückt dabei die Problematik des sogenannten aufgeklärten Absolutismus ins Zentrum, als dessen Protagonist der König gewöhnlich angesehen wird. Ob Friedrich eine schlüssige Vermittlung von Absolutismus und Aufklärung gelingt, ob seine Position widersprüchlich bleibt, ob es überhaupt angängig ist, ihn dem aufgeklärten Absolutismus zuzuordnen, inwieweit damit dieser Begriff selbst hinreichende Tragfähigkeit besitzt: daß sich aus der Beziehungsgeschichte zwischen Friedrich und Voltaire Einsichten gewinnen lassen, die jedenfalls zur Klärung aller dieser Fragen beitragen, ist offenkundig. Der absolute Monarch muß unfehlbar gerade bei dem Umgang mit dem Aufklärer den Anteil der Aufklärung an seinem eigenen Denken und Handeln zu erkennen geben. Unter solchen Vorzeichen wird das Verhältnis zwischen Friedrich und Voltaire zugleich besonderer Aufmerksamkeit würdig, wenn es um eine allgemeine Strukturanalyse des Relationsgefüges zwischen dem König und den ihn umgebenden Personen geht: vorab mit dem Ziel, die Möglichkeiten jeweiliger Selbstbestimmung oder Selbstbehauptung gegenüber dem König auszumessen.1 Die Geschichte dieser exemplarischen Begegnung ist immer wieder geschrieben worden. Zu den einschlägigen Kapiteln in allen Friedrich- und Voltaire-Biographien, von Reinhold Koser 2 und Georg Brandes3 über George Peabody Gooch4 Erstveröffentlichung in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen, Köln/Wien 1988, 29-57. 1 Abkürzungen für in der Folge häufig zitierten Werke: Œuvres = Œuvres de Frédéric le Grand. Hrsg. v. J. D. E. Preuß, 30 Bde., Berlin 1846-56. Werke = Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher Übersetzung hrsg. v. Gustav Berthold Völz, 10 Bde., Berlin 1912-14. Œuvres historiques = Voltaire, Œuvres historiques. Ed. René Pomeau, Paris 1957. Briefwechsel = Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire. Hrsg. v. Reinhold Koser/Hans Droysen, 3 Bde. (Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 81 - 8 2 u. 86), Leipzig 1908-11.
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und Jean Orieux 5 bis zu Theodor Schieder6 und Theodore Besterman7, kommt eine ganze Reihe von monographischen Abhandlungen, die bis heute in der umfassenden Studie von Walter Mönch über das „Drama einer denkwürdigen Freundschaft" einen Höhepunkt hat8. Ich möchte mich hier einem Themenbereich zuwenden, der bisher eher unbeachtet geblieben ist, aber gleichwohl wichtige Aufschlüsse verspricht: dem Verhältnis zwischen Friedrich und Voltaire als Historikern. Wenn die Beziehung zwischen dem König und dem Philosophen zunächst einmal auf gleichen literarischen Interessen beruht, dann kann nicht davon abgesehen werden, daß in ihrer literarischen Produktion historiographische Werke bei weitem überwiegen. Eine Zusammenschau Friderizianischer und Voltairescher Geschichtsschreibung führt daher in die Mitte dieser Beziehungsgeschichte und muß damit eine weitere Präzisierung ihrer Analyse fördern. Die Aufgabe ist, Zusammenhänge oder Bezüge klarzulegen, die auf diesem gemeinsamen Arbeitsgebiet bestehen mögen: Auseinandersetzungen, Kontroversen, Einwirkungen, Abgrenzungen, Übereinstimmungen, Unterschiede. Naturgemäß stellt sich dabei vordringlich die Frage nach der Haltung Friedrichs gegenüber Voltaire, der ihm, wie in anderen Bereichen gemeinsamer literarischer Betätigung, so auch mit seiner Geschichtsschreibung in allen wesentlichen Stücken vorausgeht. Es ist evident, daß es bei alledem gar nicht auf eine Kritik oder Zensur der inhaltlichen Ergebnisse dieser Geschichtsliteratur, womöglich im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes, ankommt, sondern auf ein Verständnis bestimmter theoretischer Prinzipien, von denen sich Friedrich und Voltaire in ihrer Geschichtsschreibung leiten lassen: gewissermaßen auf ein Verständnis der Friderizianischen und Voltaireschen Historik. 2
Reinhold Koser, Friedrich der Große als Kronprinz, Stuttgart 1886 u. König Friedrich der Große, 2 Bde., Stuttgart 1893-1903 (spätere Zusammenfassung: Geschichte Friedrichs des Großen, 4 Bde., 7. Aufl. Stuttgart/Berlin 1921-25). 3
Georg Brandes, Voltaire, 2. Bde., Kopenhagen 1916-17; deutsch: Voltaire und sein Jahrhundert, 2 Bde., Berlin o. J. (1923). 4 George Peabody Gooch, Frederick the Great. The ruler, the writer, the man, London 1947; deutsch: Friedrich der Große. Herrscher, Schriftsteller, Mensch, Göttingen 1951 (zitiert nach der Ausgabe Fischer-Bücherei, Bd. 637/638, Frankfurt a. M./Hamburg 1964). 5 Jean Orieux, Voltaire ou la royauté de l'esprit, Paris 1966; deutsch: Das Leben des Voltaire, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1968 (benutzt in der Neuausgabe Frankfurt a. M. 1978). 6 Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983. 7 Theodor Besterman, Voltaire, London 1969; deutsch: Voltaire, München 1971. 8 Walter Mönch, Voltaire und Friedrich der Große. Das Drama einer denkwürdigen Freundschaft. Eine Studie zur Literatur, Politik und Philosophie des XVIII. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin 1943. - Weitere einschlägige Arbeiten: Georg Brandes, Voltaire in seinem Verhältnis zu Friedrich dem Großen und Jean Jacques Rousseau, Berlin 1909; Martha Wertheimer, Über den Einfluß Friedrichs des Großen auf Voltaire (nach dem staatstheoretischen Inhalt ihres Briefwechsels), Diss. Frankfurt a. M. 1917; Werner Langer, Friedrich der Große und die geistige Welt Frankreichs, Hamburg 1932; A. R. Todd, The intellectual relationship between Voltaire und Frédéric le Grand, Ann Arbor 1972; Christiane Mervaud, Voltaire et Frédéric II: une dramaturgie des lumières 1736-1778, Oxford 1985.
Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen Soweit es dazu Vorarbeiten gibt, liegen sie fast ganz außerhalb der Untersuchungen, die das Verhältnis Friedrichs und Voltaires thematisieren. 83 A m besten steht es um die Erforschung der Geschichtsschreibung Voltaires; ich nenne aus älterer Zeit Paul Sakmann 9 und Alfred von M a r t i n 1 0 sowie aus jüngerer Zeit Furio D i a z 1 1 und J. H. B r u m f i t t 1 2 und verweise i m übrigen auf die großen Darstellungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft von Franz X . von Wegele 1 3 , Eduard Fueter 1 4 , Moriz Ritter 1 5 und Heinrich Ritter von Srbik 1 6 . Dagegen ist der Historiker Friedrich weit weniger bekannt. Lange Zeit hat man sich lediglich für die Textgeschichte und Textkritik der Friderizianischen Geschichtswerke interessiert; die dazu grundlegenden Arbeiten von Max Posner und H. Disselnkötter stammen noch vom Ende des 19. Jahrhunderts. 17 Von einer alten Straßburger Dissertation abge-
8a Die Ausnahmen sind Wertheimer (wie Anm. 8), S. 95 ff. u. Langer (wie Anm. 8), S. 56 ff. 9 Paul Sakmann, Die Probleme der historischen Methodik und der Geschichtsphilosophie bei Voltaire, in: Historische Zeitschrift 97, 1906, S. 327 ff. 10 Alfred v. Martin, Motive und Tendenzen in Voltaires Geschichtsschreibung, in: Historische Zeitschrift 118, 1917, 1 ff. 11 Furio Diaz , Voltaire storico, 1958. 12 J. H. Brumfitt, Voltaire Historian, 2. Aufl. Oxford 1970. 13 Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 20), München/Leipzig 1885, 745 ff. passim. 14 Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, Nachdruck der 3. Aufl. München/Berlin 1936 (Nachdruck Zürich/Schwäbisch Hall 1985), 349 ff. 15 Moritz Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft. An den führenden Werken betrachtet, München / Berlin 1919,232 ff. 16 Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, 3. Aufl. Salzburg 1964, 111 ff. 17 Max Posner, Zur literarischen Tätigkeit Friedrichs des Großen. Erörterungen und Aktenstücke, in: Miscellaneen zur Geschichte König Friedrichs des Großen, Berlin 1878, 205 ff.; H. Disselnkötter, Beiträge zur Kritik der Histoire de mon temps Friedrichs des Großen (Historische Studien, Bd. 14), Leipzig 1885. - Vgl. auch Leopold von Ranke, Die erste Bearbeitung der Geschichte der schlesischen Kriege von König Friedrich II., in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 24, Leipzig 1872, 115 ff.; ich verweise bei dieser Gelegenheit zugleich auf Rankes Beurteilung der Friderizianischen Geschichtsschreibung in der „Preußischen Geschichte": Zwölf Bücher Preußischer Geschichte. Hrsg. v. Georg Küntzel (Ranke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Paul Joachimsen, 1. Reihe, 9. Werk), Bd. 3, München 1930, 313 ff. - Ein Höhepunkt der textkritischen Interessen der Jahrhundertwende ist schließlich eine langjährige Debatte in der „Historischen Zeitschrift" über die Quellen der „Histoire de mon temps": Reinhold Koser, Zur Textkritik der „Histoire de mon temps" Friedrichs des Großen, in Historische Zeitschrift 52, 1884, 385 ff.; Max Lehmann, Die ursprüngliche Fassung der Histoire de mon temps Friedrichs des Großen, in: ebd. 62, 1885, 193 ff.; Theodor Wiedemann, Zur Histoire de mon temps König Friedrichs II. von Preußen, in: ebd. 67, 1891, 290 ff.; Friedrich Meusel, Zur Histoire de mon Temps Friedrichs d. Gr., in: ebd. 96, 1906, 434 ff.; Alfred Dove, Leider nochmals die Histoire de mon Temps! Eine Entgegnung, in: ebd. 97, 1906, 304 ff.; Friedrich Meusel, Die drei Redaktionen von Friedrichs d. Gr. Histoire de mon Temps. Eine Verteidigung, in: ebd. 98, 1907, 560 ff. (mit Erwiderung Alfred Doves S. 569 f.); gleichzeitige Fortsetzung
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Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
sehen18, hat man sich mit der Geschichtstheorie Friedrichs erst später befaßt, ohne daß man dabei über allererste Ansätze hinausgekommen wäre; ich erwähne vorab Artikel von Georg Küntzel 19 , Arnold Berney 20 , Leonhard von Muralt 21 und aus jüngerer Zeit eine Broschüre von Wilfried Herderhorst 22. Die Gesamtdarstellungen zur Historiographiegeschichte nehmen Friedrich allenfalls beiläufig zur Kenntnis. 23 Sofern einzelne Friedrich-Biographen auf die Friderizianische Geschichtsschreibung eingehen, geschieht dies mit Bemerkungen, die eher einer vorläufigen Orientierung dienen: Gooch begnügt sich mit einer Inhaltsangabe der einzelnen Werke 24 ; Schieder führt immerhin wichtige Gesichtspunkte zur geschichtstheoretischen Interpretation ein, die auch das Verhältnis zur Voltaireschen Historiographie einschließen.25 Alles in allem genommen, bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun, und ich setze gleich hinzu, daß auch ich kaum mehr als einen weiteren Ansatz bieten kann, der in künftigen Studien noch gründlich ausgeführt werden müßte. Ich beginne mit einem knappen Überblick über das jeweilige historiographische Œuvre, der mir zur ersten, noch ganz äußeren Information wie zur genaueren Bestimmung meines Themas notwendig scheint. Die Geschichtsschreibung beider Autoren hat gemeinsam, daß sie sich jeweils bei aller Fülle und Vielfalt der einzelnen Schriften durch ein hohes Maß an thematischer Geschlossenheit auszeichnet. Als das große Thema Voltaires erweist sich zunehmend der Plan einer Geschichte der Menschheit, einer neuen Universalgeschichte. Den Auftakt bildet die Arbeit an „Le siècle de Louis XIV", die bis ins Jahr 1732 zurückreicht. Seit 1739 rückt diese Arbeit in den Zusammenhang eines größeren universalhistorischen Projekts. Als „Le siècle de Louis XIV" 1751 erstmals vollständig in Druck geht, handelt es sich der Kontroverse in der „Historischen Vierteljahrsschrift": Friedrich Meusel, Das der drei Redaktionen von Friedrichs d. Gr. Histoire de mon Temps, in: Historische jahrsschrift 10, 1907, 57 ff. 18 Wilhelm Wiegand, Die Vorreden Friedrichs des Großen zur Histoire de (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Bd. 5), Straßburg 1874.
Verhältnis Viertelmon temps Volker,
19
Georg Küntzel, Der junge Friedrich und die Anfänge seiner Geschichtsschreibung, in: Festgabe für Friedrich von Bezold, Bonn/Leipzig 1921, 234 ff. 20 Arnold Berney, Über das geschichtliche Denken Friedrichs des Großen, in: Historische Zeitschrift 150, 1934, 86 ff. 21 Leonhard von Muralt, Friedrich der Große als Historiker. Eine methodologische Studie, in: ders., Der Historiker und die Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Zürich 1960, 19 ff. 22 Wilfried Herderhorst, Zur Geschichtsschreibung Friedrichs des Großen (HistorischPolitische Hefte der Ranke-Gesellschaft 10), Göttingen o. J. 1962. 23 Wegele, Geschichte (wie Anm. 13), 943 und 955 ff.; Fueter, Geschichte (wie Anm. 14), 380 ff.; Srbik, Geist (wie Anm. 16), 157 ff. 24 Gooch, Frederick (wie Anm. 4), 357 ff. 25 Schieder, Friedrich (wie Anm. 6), 365 ff. - Vgl. auch Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: ders., Studien zur Geschichte des deutschen Geistes (Gesammelte Schriften, Bd. 3), Leipzig / Berlin 1927, 81 ff., hier 105 f. u. 176 ff. sowie Gerhard Ritter, Friedrich der Große. Ein historisches Profil, 2. Aufl. Leipzig 1942, 85 ff.
Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
nach dem Willen Voltaires um den ersten Teil einer allgemeinen Geschichte.26 Ein weiterer Teil kommt, nach Vorarbeiten und Teilveröffentlichungen, 1754 heraus: ein „Essai sur l'histoire universelle", der die Zeit von Karl dem Großen bis zu Karl V. umspannt. Daraus erwächst, unter Einbeziehung der Geschichte vom 16. bis zum 17. Jahrhundert und damit bis zum Beginn des Werkes über das Zeitalter Ludwigs XIV., der „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations", der im wesentlichen mit der Ausgabe von 1769 abgeschlossen ist. Zugleich stellt Voltaire dieser Ausgabe als „Discours préliminaire" eine Schrift voran, die er 1765 schon gesondert veröffentlicht hat: eine „Philosophie de l'histoire", die die Geschichte des Altertums behandelt 27 Wenn er damit über die Zeit Karls des Großen hinaus bis zu den Anfängen der Menschheit zurückgeht, so schreitet er in umgekehrter Richtung über die Zeit Ludwigs XIV. bis zur Gegenwart vor. Als 1768 der „Précis du siècle de Louis XV", ein Abriß der Weltgeschichte des 18. Jahrhunderts, erscheint 28, kann Voltaire beanspruchen, die Geschichte der Menschheit in ihrem ganzen zeitlichen Verlauf dargestellt zu haben. Die kleineren historiographischen Arbeiten Voltaires über partikulare Themen, voran die „Histoire de Charles XII" von 1731 29 und die ergänzend dazu abgefasste „Histoire de l'empire de Russie sous Pierre le Grand" von 176330, lassen sich ohne weiteres in diesen universalhistorischen Rahmen einordnen. Demgegenüber ist das Leitthema der Friderizianischen Historiographie die Geschichte der eigenen Zeit: die „Histoire de mon temps". Dieser Titel steht freilich nur über Friedrichs letzter Redaktion der Geschichte des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges, die ins Jahr 1775 fällt. 31 Ihr liegt eine Fassung von 1746/47 zugrunde 32, in die für die Darstellung des Ersten Schlesischen Krieges wiederum eine 1742/43 entstandene Niederschrift eingearbeitet ist. 33 Als Friedrich mit dieser Niederschrift beginnt, nennt er sie „Mémoires". 34 Es ist aber augenscheinlich, 26
Œuvres historiques (wie Anm. 1), S. 603 ff. Voltaire, Essai sur les mœurs et l'esprit des nations et sur les principaux faits de l'histoire depuis Charlemagne jusq'u'à Louis XIII. Ed. René Pomeau, 2 Bde., Paris 1963. 28 Œuvres historiques (wie Anm. 1), S. 1297 ff. 29 Ebd., 51 ff. 30 Ebd., 337 ff. 27
31 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2 u. 3; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2. 32 Frédéric II, Histoire de mon temps (Rédaction von 1746). Hrsg. v. Max Posner, in: Publicationen aus dem K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 4, Leipzig 1879, 143 ff.; Vorwort Werke, Bd. 2, 271 ff. 33
Mitteilungen der erhaltenen Textfragmente: Fritz Arnheim, Sind die „Petits fragments des Mémoires du Roi de Prusse, écrits de sa main" ein Bruchstück der ersten Redaktion der „Histoire de mon temps" Friedrichs des Großen? Eine kritische Studie, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 9, 1896, 159 ff.; Hans Droysen, Beiträge zu einer Bibliographie der prosaischen Schriften Friedrichs des Großen (Fortsetzung und Schluß), Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Königsstädtischen Gymnasiums zu Berlin, Ostern 1905 (Programm Nr. 64), 27 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 1 ff. 3 4 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 159. 12 Muhlack
178
Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
daß er diese „Mémoires" von vornherein als veritables Geschichtswerk aufgefaßt wissen will: nicht, wie er während der Überarbeitung Anfang 1747 formuliert, als Memoiren im üblichen Sinne oder als Kommentare nach dem Muster Caesars.35 Jedenfalls bezeichnet er das Manuskript von 1746/47 als Geschichte: als „seconde et troisième partie de l'histoire de Brandebourg". Als „première partie" sieht Friedrich seit 1746 eine Geschichte Brandenburgs bis 1740 vor: eine Darstellung der Vorgeschichte seiner eigenen Zeit, die innerhalb des Gesamtwerkes die Funktion einer Einleitung haben soll. Diese „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg" sind 1748 fertig, werden teilweise in der Berliner Akademie der Wissenschaften verlesen und in ihren Berichten veröffentlicht und, nach gründlicher Durchsicht, 1751 in ganzem Umfang gedruckt 36; sie bleiben das einzige zu Lebzeiten des Verfassers publizierte Geschichtswerk Friedrichs: nach dem Willen des Königs selbst, der aus politischen Gründen alle anderen Schriften unter Verschluß hält. 37 Der Name „Mémoires" hat hier auch nicht mehr das mindeste mit dem gewöhnlichen Verständnis von Memoiren zu tun und steht hier einfach für wissenwürdige Tatsachen aus der früheren Geschichte Brandenburgs: „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg", wie die deutsche Übersetzung in der Werke-Ausgabe von Gustav Berthold Volz richtig lautet. Der „Histoire de mon temps" vom Jahre 1775 gehen Geschichtsdarstellungen voraus, die die ganze dazwischenliegende Regierungszeit des Königs zum Gegenstand haben: die 1763/64 entstandene „Histoire de la guerre de sept ans" mit einleitendem Resümee der Geschichte von 1745 bis 175 6 3 8 und die 1775 abgefaßten „Mémoires depuis la paix de Hubertsbourg jusqu'à la fin du partage de Pologne", die auf Vorstudien aus dem Jahre 1773 fußen. Friedrich redigiert diese „Mémoires" 1779 und fügt ihnen gleichzeitig „Mémoires de la guerre de 1778" mitsamt einer Geschichte von 1774 bis 1778 hinzu. 39 Ein fragmentarischer Text vom Jahre 1784, der den Titel „De la politique" trägt, skizziert die Geschichte seit dem Frieden von Teschen und soll offensichtlich die Grundlage für eine spätere historiographische Ausarbeitung bilden. 40 Bis 1786 liegt damit ein Œuvre vor, das, mit Einschluß der Vorgeschichte, die Regierungszeit des Königs nahezu vollständig umfaßt. 35 Ebd., 228. 36 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1. 37 Friedrich legt von Anfang an Wert auf die Feststellung, daß er seine zeitgeschichtlichen Arbeiten an die Nachwelt adressiere und daher bei der Niederschrift keinerlei Rücksichten auf die Zeitgenossen zu nehmen brauche, was zugleich soviel heißt, daß er eine Veröffentlichung in der Gegenwart für politisch schädlich halten muß. Vgl. dazu die Vorreden zu den drei Fassungen der Geschichte des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges: Droysen, Beiträge (wie Anm. 33), 28 u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 2 (1742/43); Rédaction von 1746, 154 f. u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 272 (1746/47); Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, XXIV f. u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 13 (1775). 38 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 4 u. 5; Werke (wie Anm. 1), Bd. 3 u. 4. 39 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 6; Werke (wie Anm. 1), Bd. 5. 40 Abdruck: Max Lehmann, Zwei politische Testamente und die Anfänge eines geschichtlichen Werkes von Friedrich dem Großen, in: Historische Zeitschrift 60, 1888, 254 ff., hier 266 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 5, 153 ff.
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Es gibt, abgesehen von pragmatischen Erwägungen, auch in der Sache selbst liegende Gründe, warum ich mich in der Folge auf die vergleichende Betrachtung zweier Werke konzentriere: des „Siècle de Louis XIV" und der „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg". Der erste Grund ist der Rang beider Schriften innerhalb des jeweiligen historiographischen Œuvre. „Le siècle de Louis XIV" bleibt immer der Prototyp der Voltaireschen Menschheits- oder Universalgeschichte. Andererseits ist gewiß richtig, daß die „Mémoires" durch ihr Thema eher am Rande der Friderizianischen Geschichtsschreibung stehen; gleichwohl erscheinen sie in formaler Hinsicht als das am besten komponierte und proportionierte Werk: zugleich, wie gesagt, das einzige, das schon zu Lebzeiten des Königs gedruckt worden ist und damit zuerst die öffentliche Meinung über den Historiker Friedrich festgelegt hat. Jedoch der Hauptgrund ist, daß diese beiden Werke sich am ehesten miteinander verknüpfen lassen und damit am ehesten ein Urteil über die Zusammenhänge oder Bezüge Voltairescher und Friderizianischer Geschichtsschreibung insgesamt gestatten. Beide sind in demselben Jahr an demselben Ort erschienen: 1751 in Berlin, während Voltaires Aufenthalt am Hofe Friedrichs, im entscheidenden Stadium ihrer Beziehung. Dieses Zusammentreffen ist keineswegs zufällig; vielmehr geht der Drucklegung ein intensiver Gedankenaustausch über die Völlendung oder Überarbeitung beider Werke voraus, der gleich mit der Ankunft Voltaires in Potsdam einsetzt.41 Voltaire erbittet die „protection" des Königs für die Veröffentlichung des „Siècle". 42 Auf Friedrichs Wunsch notiert er andererseits auf Korrekturbögen der „Mémoires" eine Fülle von Anmerkungen, die einer letzten Revision dienen sollen.43 Dieser Gedankenaustausch führt freilich nur eine langjährige Diskussion fort. Von „Le siècle de Louis XIV" ist schon in den Anfängen des beiderseitigen Briefwechsels die Rede 44 ; die „Mémoires" tauchen erstmals 1747 darin auf 4 5 Man kann überhaupt sagen, daß sich Friedrich und Voltaire über kein anderes ihrer jeweiligen historiographischen Vorhaben wechselseitig so gründlich ausgesprochen haben. Bei Voltaire kommt hinzu, daß er von allen Friderizianischen Geschichtsdarstellungen mit Sicherheit nur die „Mémoires" ganz gelesen hat und von den anderen zu seinen Lebzeiten entstandenen Schriften höchstens Fragmente kennt. 46 Zugleich gilt, daß zwischen „Le siècle de Louis XIV" 41 Dazu Mönch, Voltaire (wie Anm. 8), S. 144, und Martin Fontius, Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G. C. Walther veröffentlichten Werke Voltaires, Berlin 1966, 91 ff.; vgl. auch Henri Duranton, La genèse de l'essai sur les mœurs: Voltaire, Frédéric et quelques autres, in: Peter Brockmeier/ Roland Desné/Jürgen Voss (Hrsg.), Voltaire und Deutschland, Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung. Internationales Kolloquium der Universität Mannheim zum 200. Todestag Voltaires, Stuttgart 1979, 257 ff., hier 258 f. 42 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 354. 43
Mitteilung bei Posner, Tätigkeit (wie Anm. 17), 263 ff. Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 1,48. 4 5 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 234 f. 4 6 Voltaire kennt jedenfalls Fragmente der Niederschrift von 1742/43; wie der Zufall will, beruht unsere Kenntnis des Textes ganz wesentlich auf diesen im Nachlaß Voltaires vorge44
12*
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und den „Mémoires" ein evidenter Wirkungszusammenhang herrscht: nach Lage der Dinge eine Einwirkung des Voltaireschen auf das Friderizianische Werk. Die „Mémoires" sind in engster Anlehnung an das Konzept des „Siècle" angelegt; beide Werke bieten daher durchgängig Vergleichsmöglichkeiten. Nirgends ist der Einfluß der Völtaireschen auf die Friderizianische Geschichtsschreibung handgreiflicher, nirgends geht er weiter; aber nirgends tritt damit auch die Grenze zwischen beiden Historikern schärfer hervor. Allerdings ergibt sich aus der Einheit des jeweiligen historiographischen Œuvre, daß eine angemessene Interpretation des „Siècle" und der „Mémoires" immer wieder auch Ausblicke oder Seitenblicke auf andere Texte erfordert. Ich zitiere zunächst aus dem Briefwechsel einige Urteile Friedrichs und Voltaires über den „Siècle" und die „Mémoires", die durch ihren enthusiastischen Ton jeweils uneingeschränkte Zustimmung und Übereinstimmung zu signalisieren scheinen. Friedrich drängt Voltaire gleich 1737 mehrfach, ihm die fertigen Teile des „Siècle" zu übersenden.47 Als das gewünschte Paket im Frühjahr 1738 eingetroffen ist, macht er sich sofort an die Lektüre und ist danach begeistert: er stellt Voltaire über alle bisherigen Historiker, hat niemals zuvor einen schöneren historiographischen Stil gelesen, liest jedes Kapitel zwei- bis dreimal, findet alles treffend, alles von glänzenden Reflexionen durchsättigt, nichts falsch gedacht, nichts abgeschmackt und dabei eine vollkommene Unparteilichkeit. 48 In der Folgezeit beschwört er Voltaire, das Werk zu vollenden, nicht ohne um fortlaufende Lieferung der jeweils neuen Kapitel zu bitten: Europa habe bisher kein gleichermaßen vollkommenes Werk gesehen49; er, Friedrich, brenne vor Ungeduld, den Schluß des unvergleichlichen Werkes in Händen zu halten 50 ; bleibe das Werk unvollendet, so sei das ein Bankrott für die „république des lettres" 51 ; dieses Werk diene dem Ruhm des gegenwärtigen Zeitalters und erhebe es über das Altertum 52 ; der Ruhm Voltaires hänge davon ab 53 ; er, Friedrich, empfehle Voltaire die Interessen des Siècle divin an, der ihm mehr wert sei als eine gewonnene Schlacht54; er lese oder, vielmehr, verschlinge das Werk, flehe bei Voltaires Liebe um die Übersendung fundenen Bruchstücken, die uns durch die in Anm. 33 genannte Mitteilung von Droysen vorliegen. Friedrich selbst avisierte Voltaire wiederholt die Übersendung von Teilen dieser „Mémoires", nicht ohne zu betonen, daß er das meiste aus politischen Gründen zurückhalten müsse: Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 159, 166, 169 u. 184. Genau aus der letzteren Erwägung heraus dürfte er Voltaire wohl auch spätere Schriften zur Zeitgeschichte allenfalls ganz partiell und wahrscheinlich nur indirekt zur Kenntnis gebracht haben. 47 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 1, 48, 60 u. 121. 48 Ebd., 168 f. 49 Ebd., 185. 50 E b d . ,
248.
51 Ebd., 321. 52 E b d . , 334. 53 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 97. Ebd.,
0.
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aller weiteren Teile, diese Aussicht sei sein einziger Trost, seine Erholung und Erquickung. 55 Durch die anhaltende Beschäftigung mit dem „Siècle" wird seine Aufmerksamkeit seit dem Beginn der 40er Jahre zunehmend auch auf den damals begonnenen „Essai sur l'histoire universelle" gelenkt, dem er sogleich in ähnlichen Wendungen huldigt: die bloße Erwähnung des Projekts durch Voltaire weckt in ihm eine Sehnsucht wie nach dem gelobten Land 56 ; er ruft Voltaire zur Fortsetzung dieses bewundernswerten Werkes auf 57 ; er bittet auch hier um Übermittlung der bereits ausgearbeiteten Kapitel. 58 Als der „Siècle" endlich gedruckt vorliegt, nennt Friedrich das Werk „un très-beau morceau", das seinem Verfasser Ehre bringe. 59 Genauso klingt es aber auch von der anderen Seite. Noch bevor Voltaire die „Mémoires" zu Gesicht bekommen hat, erklärt er Friedrich für in Europa allein fähig, ein solches Werk abzufassen. 60 Als er 1751 die Schrift ganz kennengelernt hat, scheint sie ihm einzig in ihrer Art, stimmig, elegant, treffend, philosophisch, dazu geeignet, dem Autor „une très-grande réputation" zu verschaffen. 61 Was in diesem Brief steht, wird durch seine von Friedrich erbetenen Anmerkungen vor der Drucklegung bestätigt. Die Ränder seines Exemplars sind mit Lobessprüchen geradezu übersät: „très bien"; „admirable"; „beau"; „bravo"; „benissimo"; „excellent"; „délicieux"; „parfait"; „bene"; „digne de Fédéric le Grand"; in seinen Verbesserungsvorschlägen geht es lediglich um einzelne sprachliche Fragen und sachliche Details. 62 Friedrich und Voltaire lassen in ihren Briefen keinen Zweifel daran, worauf dieses einhellige Urteil über den „Siècle" und die „Mémoires" zielt: neben der jeweiligen literarischen Qualität auf ein gleiches Modell der Geschichtsschreibung, das sie jeweils in beiden Werken verwirklicht sehen. Es ist das Modell der Zivilisationsgeschichte: einer Geschichte, die nicht bei den politisch-militärischen Ereignissen stehenbleibt, sondern vor allem auch Zustände, Institutionen, Gewohnheiten erfaßt. Als Friedrich seine erste Stellungnahme zum „Siècle" abgibt, rühmt er, daß die „mœurs" im Jahrhundert Ludwigs XIV. Gegenstand des Werkes seien: die Sitten, die Gebräuche, die Verhältnisse.63 Voltaire bestätigt ihm umgehend diese Auszeichnung durch die präzisierende Feststellung, es sei sein einziges Ziel, „les mœurs des hommes" auszumalen, „l'histoire de l'esprit humain" zu schreiben: besonders die Geschichte der Künste.64 Kurz darauf meint er ganz analog, es gehe 55 56 57 58 59 60
Ebd., 117. Ebd., 129. Ebd., 159. Ebd., 169. Ebd., 371. Ebd., 318.
61 62 63 64
Ebd., 340. Posner, Tätigkeit (wie Anm. 17), 263 ff. Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 1, 168. Ebd., 181.
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ihm im „Siècle" über die politische und militärische Geschichte hinaus um die Geschichte der Künste, des Handels, der Verfassung: „en un mot, de l'esprit humain". 65 Friedrich wiederum hat bald Veranlassung, die gleichen Vorzüge am „Essai sur l'histoire universelle" hervorzuheben: die Darstellung sei frei von „tous les détails inutiles", d. h. frei von bloßer Ereignisgeschichte.66 Genau das gleiche bescheinigt schließlich Voltaire auch den Friderizianischen „Mémoires": „L'histoire des mœurs, du gouvernement et de la religion est un chef d'œuvre"; er verweist dabei vornehmlich auf den Artikel über die Religion. 67 Der Briefwechsel lässt weiterhin keinen Zweifel daran, daß es sich bei diesem gemeinsamen Bekenntnis zum Modell der Zivilisationsgeschichte um die Friderizianische Übernahme einer Voltaireschen Konzeption handelt und daß insoweit die „Mémoires" in der Nachfolge des „Siècle" stehen. Friedrich bezeugt mit seinem Lob für den „Siècle" und, in Verbindung damit, für den „Essai sur l'histoire universelle" die Haltung eines Schülers, der sich belehren lassen will. Voltaire antwortet ihm mit seinen präzisierenden Bemerkungen über die Zielsetzung seines Projekts wie ein Lehrer, der darauf aus ist, die Begriffe seines Zöglings zu klären. Daß Friedrichs erster historiographischer Versuch, die Niederschrift über den Ersten Schlesischen Krieg aus den Jahren 1742/43, von der Lektüre der ersten Kapitel des „Essai sur l'histoire universelle" stimuliert gewesen sei, sagt der König selbst.68 Da der Plan zu den „Mémoires pour servir â l'histoire de Brandebourg" aus der immanenten Logik der damals begonnenen historiographischen Produktion erwächst, gilt auch für ihn dieses Abhängigkeitsverhältnis, das im letzten immer auf den „Siècle de Louis XIV" als das Muster Völtairescher Zivilisationsgeschichte zurückverweist. Jedenfalls schwingt im Lob Voltaires für die „Mémoires" unverkennbar eine Empfindung der Genugtuung über die Fortschritte eines gelehrigen Zöglings mit. Es wird Zeit, vom Briefwechsel zu den Werken selbst überzugehen. Wenn man sie gegeneinander hält, findet man zunächst einmal den bisher gewonnenen Eindruck vollauf bekräftigt: den Eindruck einer strukturellen Kongruenz oder Homogenität, die einer Abhängigkeit der „Mémoires" vom „Siècle" gleichkommt. Jenes gleiche Modell der Zivilisationsgeschichte und damit jene Priorität Voltaires gegenüber Friedrich können durch die jeweiligen historiographische Praxis gleichermaßen verifiziert wie konkretisiert und damit verdeutlicht werden. Voltaire stellt seine Konzeption der Zivilisationsgeschichte in der „Introduction" zum „Siècle" vor. 69 Er hebt sofort in den ersten Sätzen sein Vorhaben einer Geschichte des „esprit humain" von einer Geschichte der Kriegstaten und Staatsumwälzungen ab. Ihm scheint, daß allein die Geschichte des menschlichen Geistes 65 Ebd., 235. 66 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 152. 340. 68 Ebd., 159. 69 Œuvres historiques (wie Anm. 1), 616 ff. 67 E b d . ,
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ein würdiger Gegenstand der Historiographie sei. Diese „Geistesgeschichte" ist ihm Fortschrittsgeschichte: Geschichte des Strebens des menschlichen Geistes nach immer mehr Aufklärung. Voltaire will das Zeitalter Ludwigs XIV. darstellen, weil es ihm, nach dem griechisch-römischen Altertum und nach der Renaissance, als die aufgeklärteste Epoche gilt, die es in der ganzen bisherigen Weltgeschichte gegeben hat. Es kommt nun alles auf die Kriterien an, an denen Voltaire die von ihm konstatierte Fonschrittsgeschichte des menschlichen Geistes mißt. Oberstes Kriterium ist ihm die Vervollkommnung der Künste und Wissenschaften; in ihnen erblickt er die reinsten Betätigungsformen des menschlichen Geists. Gleichwohl liegt ihm nichts ferner als eine verabsolutierte oder isolierte Kunst- und Wissenschaftsgeschichte. Denn die Vervollkommnung der Künste und Wissenschaften ist ihm untrennbar verbunden mit der Entwicklung bestimmter ökonomischer, sozialer und politischer Verhältnisse; wo es an solchen Verhältnissen fehlt, scheint ihm ein dauerhafter Aufschwung künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens unmöglich. Voltaire hält für unabdingbar einen hohen Stand von Handwerk, Gewerbe und Technik, eine Förderung des Handels, insbesondere des Seehandels, die Gründung und den Ausbau von Städten, ein ausgedehntes Verkehrswesen, öffentliche Ordnung, hohe staatliche Einkünfte, eine Stärkung der Staatsgewalt. Die Fortschrittsgeschichte des menschlichen Geistes vollzieht sich also in Konstellationen, in denen alle diese Momente in einem Verursachungs- und Wirkungszusammenhang stehen: sie ist, in diesem Sinne, Zivilisationsgeschichte. Die großen Zeitalter der Weltgeschichte, von der Antike bis zum Zeitalter Ludwigs XIV., sind für Voltaire Zeitalter dieser Zivilisationsgeschichte. Wer sie zutreffend beschreiben will, muß mit und vor der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte Geschichte der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechts, des Staates treiben. Augenscheinlich wird damit auch die politisch-militärische Ereignisgeschichte wieder wichtig: nämlich insofern, als in ihr die notwendigen Antriebskräfte für die jeweilige Entwicklung des Staates liegen, ohne die zugleich die Entwicklung aller anderen Sektoren nicht gedacht werden kann. Voltaire bemerkt am Schluß der „Introduction", im Einklang mit seinen ersten Worten, daß er nicht über die unendlichen Details der Kriegs- und Diplomatiegeschichte berichten wolle, kündigt aber eine Erzählung der „grands événements politiques et militaires" an, die ihm zur Begründung und Konsolidierung der absoluten Monarchie in Frankreich und damit zur Beförderung der Aufklärung im Zeitalter Ludwigs XIV. geführt haben. Der „Siècle" ist genau nach diesen in der „Introduction" exponierten Kriterien aufgebaut. Voltaire behandelt im ersten, äußerlich umfangreichsten Teil die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen in der Zeit Ludwigs XIV.: er beginnt mit einem Überblick über die Staaten Europas vor Ludwig XIV., die er als Glieder einer „grande république" sieht 70 , verfolgt sodann die Ereignisgeschichte, voran die Kriegs- und Diplomatiegeschichte nach 1642, wesentlich vom Standpunkt Frankreichs aus, und lenkt am Schluß wiederum auf die Situation Europas zurück. 70 Ebd., 620.
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Voltaire flicht dabei allenthalben Bemerkungen über die Zustände oder Verhältnisse ein, die sich im Zuge dieser Geschehnisse entwickelt haben.71 Sie bereiten den zweiten Teil vor, der ganz der Zustandsbeschreibung gewidmet ist: sozusagen einer Strukturgeschichte der Zivilisation im Zeitalter Ludwigs XIV. Nachdem Voltaire in mehreren Kapiteln Anekdoten vom Leben Ludwigs XIV. und vom königlichen Hof erzählt hat, um an ihnen „la splendeur de son gouvernement" und damit den Geist des französischen Absolutismus zu exemplifizieren 72, wendet er sich nacheinander der systematischen Charakterisierung jener Sektoren zu, in denen sich ihm die Geschichte des menschlichen Geistes auszulegen scheint. Er beschreibt zunächst die innerstaatlichen Verhältnisse in Frankreich: Regierungsweise, Justiz, Entwicklung des Handels, innere Ordnung, Gesetzgebung, Reform des Heeres und der Marine, Finanzen, Gewerbe und Landwirtschaft. Es folgt, nunmehr im europäischen Maßstab, ein Kapitel über die Fortschritte der Wissenschaften, in erster Linie der Naturwissenschaften. Danach geht es um den Aufschwung der schönen Künste: zuerst in Frankreich, dann im übrigen Europa. Voltaire befaßt sich zuletzt mit den kirchlichen Angelegenheiten in Frankreich, die teilweise auf die innerstaatlichen Verhältnisse zurückzielen. Der dritte Teil enthält, anhangsweise, Personen Verzeichnisse: Listen der Mitglieder der Familie Ludwigs XIV., der anderen zeitgenössischen Fürsten, der obersten militärischen und zivilen Amtsträger in Frankreich, in der Zeit Ludwigs XIV., der Schriftsteller und bildenden Künstler Frankreichs im 17. Jahrhundert: ein durch jeweils kurze Notizen aufbereitetes prosopographisches Material, das für alle Abteilungen Voltairescher Zivilisationsgeschichte einschlägig ist. Blickt man vom „Siècle de Louis XIV" auf die Friderizianischen „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg", so springen die Parallelen oder Analogien ins Auge. Ganz im Sinne Voltaires versichert Friedrich in der Einführung, daß er keine Prozesse, Verhandlungen, Verträge und Friedenstraktate abgeschrieben habe, wie man sie sonst wohl in dickleibigen Büchern vorfinde: er sei und bleibe der Meinung, daß eine Sache nur so weit die Niederschrift lohne, wie sie wert sei, behalten zu werden. 73 Seine Darstellung beweist, daß sich der Kreis der in seiner Sicht behaltenswerten Sachen auf alle Bereiche erstreckt, die Voltaire einer „histoire de l'esprit humain" zurechnet; die Rede von den „progrès de l'esprit humain" selbst als würdigem Gegenstand der Geschichtsschreibung kommt in ihr vor. 74 Die Gliederung der „Mémoires" entspricht in allem Wesentlichen derjenigen des „Siècle". Friedrich stellt ebenfalls die politisch-militärische Ereignisgeschichte an den Anfang: die brandenburgische Diplomatie- und Kriegsgeschichte, von der 71 Vgl. ebd., 671 (wirtschaftliche Verhältnisse Englands und Frankreichs zur Zeit Cromwells und Mazarins), 705 (Erhebung der französischen See- und Kolonialmacht in den Anfängen Ludwigs XIV.) oder 713 (militärische Zustände in Frankreich um 1670); dazu auch Brumfitt, Voltaire (wie Anm. 12), 50. 72 Œuvres historiques (wie Anm. 1), 890. 73 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, LUI f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 9. 74 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 213; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 202.
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Einsetzung der Hohenzollern in Brandenburg bis zum Tod König Friedrich Wilhelms I., im Zusammenhang der allgemeinen Geschichte; er geht dabei in der Reihenfolge der einzelnen Kurfürsten und Könige vor. Vorgeschaltet ist ein Abriß der Geschichte des Hauses Hohenzollern und der politischen Entwicklung Brandenburgs vor 1415. Daß dieser ganze Teil insgesamt weitaus am ausführlichsten ausgefallen ist, steht zunächst in keinem grundsätzlichen Widerspruch zu den Proportionen des „Siècle". Mit Voltaire verbindet Friedrich auch, daß er schon hier gelegentlich auf jeweilige Zustände oder Verhältnisse hindeutet: er reflektiert etwa den in den früheren Zeiten herrschenden Grundsatz der Teilbarkeit fürstlicher Territorien 75 oder nimmt die Turnierleidenschaft des Kurfürsten Albrecht Achilles zum Anlaß, um über die Sitte dieser Kampfspiele zu informieren 76; unter dem Kurfürsten Joachim II. trifft er erste Feststellungen über die Ursprünge und Fortschritte der Reformation. 77 Es sind solche Stellen, die Voltaire in seinen Anmerkungen besonderes Lob abnötigen.78 An die Ereignisgeschichte schließt sich, wie im „Siècle", eine breit gefächerte Strukturgeschichte, jeweils in einem Durchgang von den Anfängen bis zum Jahre 1740, der die zwischen Altertum und neuester Zeit eingetretenen Veränderungen erkennbar machen soll. Friedrich gibt zunächst eine politische Zustandsbeschreibung: eine Beschreibung der inneren Verfassung, angelegt auf den schließlichen Sieg des Fürsten über die Stände, den Friedrich bereits in die Zeiten des Premierministers Schwartzenberg datiert 79 ; eine Beschreibung der allmählichen Gebietserweiterung Brandenburgs, die die Ergebnisse des ereignisgeschichtlichen Teils systematisch rekapituliert und ergänzt, wie der Entwicklung des Finanzwesens, die Friedrich an der fortgesetzten Steigerung der fürstlichen Einkünfte orientiert; eine Beschreibung des Heerwesens, die primär das numerische Wachstum des stehenden Heeres seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts nachzeichnet. Das folgende Kapitel handelt von den religiösen Verhältnissen in Brandenburg: vom Heidentum über die Annahme des Christentums und die Befestigung der katholischen Religion bis zur Einführung der Reformation und endlich bis zum Beginn der Aufklärung. Im letzten Kapitel führt Friedrich die Wandlungen der Sitten, Gebräuche und Industrie vor: der Lebensweise, Siedlungsformen, wirtschaftlichen Verhältnisse, Künste und Wissenschaften. So schildert er die innere Kolonisierung der brandenburgischen Territorien, die Errichtung von Manufakturbetrieben, die Änderung der allgemeinen Lebensgewohnheiten unter dem Großen Kurfürsten 80 sowie andererseits die luxuriöse Hofhaltung, die Blüte der bildenden Künste, die Förderung der Wissenschaften, die Poesie und Schauspielkunst unter König Friedrich I. 8 1 Er hebt dieses Kapitel einleitend ausdrücklich von den vor75
76 77 78 79 so
Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 7; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 17. Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 11 f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 21 f. Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 16 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 25 ff. Posner, Tätigkeit (wie Anm. 17), 267 ff. Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 243; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 165. Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 225 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 211 ff.
si Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 229 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 214 ff.
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angehenden Kapiteln ab, die er im nachhinein vorwiegend der Geschichte von Krieg und Politik zuordnet: mit der Begründung, daß die in ihm verhandelten Gegenstände nicht minder bedeutsam seien.82 Wie Voltaire seine Konzeption der Zivilisationsgeschichte auch in seinen anderen Werken, vor allem im „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations" durchfühlt, so läßt sich die von daher bestimmte Manier der „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg" auch in anderen Friderizianischen Geschichtswerken ausmachen. Die „Histoire de mon temps" von 1775 wird ebenso wie ihre Vorlage, das Manuskript der „seconde et troisième partie de l'histoire de Brandebourg" von 1746/47, von einer allgemeinen Zustandsbeschreibung Europas im Jahre 1740 eröffnet. Friedrich legt darin, ausgehend von Preußen und wiederum zu Preußen zurückführend, die Situation der wichtigsten europäischen Staaten dar: außenpolitisches Interesse, Verfassung, Finanzkraft, Militärpotential, Rang innerhalb des europäischen Staatensystems; Bayern etwa gilt ihm als Deutschlands fruchtbarstes und unwissendstes Land: das irdische Paradies, von Tieren bewohnt.83 In diese „statistische" Übersicht ist ein Exkurs eingefügt über die damaligen Fortschritte des menschlichen Geistes: über die Fortschritte der Philosophie, der Volkswirtschaft, der Kriegskunst, des Geschmacks und der Sitten. Man meint, Voltaire selbst zu hören, wenn Friedrich die Beschäftigung mit diesen Gegenständen höher stellt als die Betrachtung der jeweiligen Tagespolitik: das seien sicherlich der Beschäftigung aller denkenden Geister würdige Gegenstände.84 Ich erwähne noch, daß die „Histoire de sept ans" mit einem Kapitel über die inneren Einrichtungen Preußens und Österreichs zwischen 1745 und 1756 - Rechtswesen, Finanzen, Wirtschaft, Heerwesen beginnt und daß die „Mémoires depuis la paix de Hubertsbourg jusqu'à la fin du partage de Pologne" gleichfalls Kapitel zum preußischen Finanz- und Heerwesen bieten. Dennoch vermag alle nachgewiesene Übereinstimmung oder Abhängigkeit nicht darüber hinwegzutäuschen, daß zwischen den „Mémoires pour servir a l'histoire de Brandebourg" und „Siècle" wie zwischen Friderizianischer und Voltairescher Geschichtsschreibung überhaupt eine Trennungslinie verläuft, die mitten durch das gemeinsame Programm der Zivilisationsgeschichte hindurchgeht. Es zeigt sich, daß das gleiche Modell auf beiden Seiten wegen ganz verschiedener Prämissen zu scharf entgegengesetzten Konsequenzen führt, durch die die Historiker Friedrich und Voltaire insgesamt in eine kaum überbrückbare Distanz geraten. Ich setze dabei nochmals beim Briefwechsel an. Am Ende der sämtlichen enthusiastischen Äußerungen Friedrichs über den „Siècle" und Voltaires über die „Mémoires" steht ein einziges negatives Wort, das freilich mindestens ebensoviel Gewicht hat. Als Friedrich sich im Februar 1752 für die Übersendung der ersten 82 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 216; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 204. 83 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, 27; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 38. 84 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, 34; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 43 f.
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gedruckten Exemplare des „Siècle" bedankt, kann er ungeachtet seiner auch jetzt ausgesprochenen Bewunderung für das „très-beau morceau" nicht umhin, in einem Punkt Kritik zu üben.85 Er verhehlt nämlich nicht, daß er den zweiten Band der Ausgabe, der die Beschreibung der Zustände mitsamt den prosopographischen Anhängen enthält, über den ersten Band mit der Ereignisgeschichte stellt. Der zweite Band gefällt ihm besser wegen des Stils und wegen der Kühnheit zur Wahrheit, vor allem aber „par la nature des choses", wegen der Art der dargestellten Gegenstände, über die der Verfasser aus genauer Sachkenntnis verfügt. Damit ist zugleich gesagt, was er am ersten Band vermißt: neben gleicher Stilisierung und gleicher Wahrheitsgesinnung vor allem gleiche Sachkenntnis und damit gleiche Fähigkeit, der „nature des choses" gerecht zu werden. Mit anderen Worten: Voltaire scheint ihm für eine angemessene Darstellung der Haupt- und Staatsaktionen, vorab also der Kriegs- und Diplomatiegeschichte keine hinreichende Kompetenz zu besitzen. Wenn man dazunimmt, daß Friedrichs relatives Lob für den zweiten Band sicher hauptsächlich den Kapiteln über Wirtschaft, Wissenschaften, Künste und kirchliche Angelegenheiten gilt, so scheint es nicht verkehrt, ihm eine ziemlich geringe Meinung von Voltaires Eignung zur politischen Geschichtsschreibung schlechthin zu unterstellen. Ich gehe zur Erläuterung auf eine Kontroverse zurück, die Friedrich und Voltaire im Februar 1747, im Zuge ihrer fortlaufenden Diskussion über ihre jeweiligen historiographischen Pläne, über das Problem der Kriegsgeschichte ausgetragen haben. Ausgangspunkt ist Voltaires Projekt, in seiner Eigenschaft als französischer Hofhistoriograph ein Werk über den Österreichischen Erbfolgekrieg abzufassen; diese „Histoire de la guerre de 1741" ist tatsächlich, wenn auch nur bruchstückhaft, 1755 erschienen.86 Voltaire schreibt Friedrich von seinem völligen Desinteresse an den schrecklichen und langweiligen Einzelheiten der täglichen Kriegsberichterstattung. Er will vielmehr die „folie humaine" darstellen, als die er diesen Krieg wie alle Kriege ansieht: die finanzielle Ausblutung der kriegführenden Mächte, die gegenseitige Zerstörung des Handels, die Ziellosigkeit des Geschehens, das Chaos der verschiedenen Interessen, das über die arme Menschheit hereingebrochene Unheil: mit einem „prince philosophe" in der Mitte, der gleichermaßen Krieg, Frieden, Verse, Musik zu machen verstehe. 87 Friedrich überhört in seiner Antwort diese Anspielung und kommt gleich zur Sache. Er billigt Voltaires Abneigung gegen militärische Details, sofern es sich dabei um lange Berichte und Aufzählungen von hundert kleinen und unnützen Dingen handle. Er hält es aber für erforderlich, zwischen der Materie selbst und der „inhabileté" ihrer üblichen Bearbeiter zu unterscheiden. Eine langweilige Beschreibung von Paris mache Paris nicht zu einer langweiligen Stadt. Eine konzise und wahre Beschreibung der „grands faits de guerre", die besonders die Beweggründe der Armeechefs und die Hauptzüge ihrer 85 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 371. 86 Œuvres historiques (wie Anm. 1), 1573 ff. 87 Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. 2, 226 f.
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Operationen darlege, müsse für alle, die sich dem Waffenberuf widmeten, lehrreich sein. Und er schließt: alle Künste hätten Beispiele und Regeln: warum solle der Krieg, der das Vaterland schütze und die Völker vor dem sicheren Untergang bewahre, keine haben?88 Friedrich verbirgt nicht, daß dieses Plädoyer für „habileté" als notwendige Voraussetzung einer instruktiven Kriegsgeschichtsschreibung gegen Voltaire gerichtet ist. Die Spitze dieser ganzen Argumentation geht offenbar dahin, Voltaire zu bedeuten, daß er eine solche Befähigung nicht besitze und daher zu einem adäquaten Verständnis der Kriegsgeschichte außerstande sei. Besonders klar kommt das am Schluß heraus, wo Friedrich in formuliertem Widerspruch zu Voltaires Klagen über „cette folie humaine" den Krieg positiv bewertet. Das soll zunächst einmal heißen: Voltaire redet vom Krieg als einer „folie humaine", weil er vom Krieg schlicht keine Ahnung hat. Es verwundert daher nicht, daß Friedrich Voltaire wiederholt davon abrät, sich weiter mit der „histoire de la guerre de 1741" zu befassen: er prognostiziert ihr ein Fiasko, erklärt das ganze Projekt aus einer „impulsion étrangère", die den wahren Interessen des Autors konträr sei. 89 Es ist die gleiche Haltung, die ihn 1759 in einer Abhandlung über Karl XII. ein höchst absprechendes Urteil über die „Histoire de Charles XII" fällen läßt: Voltaire habe seine militärischen Kenntnisse nur aus Homer und Vergil geschöpft. 90 Überflüssig zu sagen, daß Friedrich die gleiche politisch-militärische Kompetenz, die er Voltaire aberkennt, für sich selbst beansprucht. Als er im Februar 1747 mit Voltaire über Kriegsgeschichte debattiert, schließt er gerade die „seconde et troisième partie de l'histoire de Brandebourg" ab, befaßt sich also weithin mit dem gleichen Themenbereich, um den es auch in dem umstrittenen Voltaireschen Projekt geht. Das Selbstbewußtsein, daß er zu einem solchen Geschichtswerk der rechte Mann sei, daß kein anderer es besser könne, läßt er Voltaire fühlen. Friedrich beansprucht diese Kompetenz mit dem Recht des Akteurs, der die Dinge, von denen er berichtet, aus eigenster Erfahrung kennt. Schon im Vorwort zu den „Mémoires" von 1742/43 hebt er auf den besonderen Beruf zur Geschichtsschreibung ab, der ihm aus seiner Täterschaft oder Mittäterschaft erwachse: „In der Überzeugung, daß es nicht irgendeinem Pedanten, der im Jahre 1840 zur Welt kommen wird, noch einem Benediktiner der Kongregation von St. Maur zusteht, über Verhandlungen zu reden, die in den Kabinetten der Fürsten stattgefunden, noch die gewaltigen Szenen darzustellen, die sich auf dem europäischen Theater abgespielt haben, will ich selbst die Umwälzungen beschreiben, deren Augenzeuge ich war und an denen ich den regsten Anteil hatte." 91 Friedrichs ganzes historiographisches Œuvre gründet sich auf diese Überzeugung einer aus dem eigenen Handeln kommenden historiographischen Bestimmung. Die „Mémoires pour servir a l'histoire 88 Ebd., 228 f. 89 Ebd., 225 u. 228. 90 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 7, 85; Werke (wie Anm. 1), Bd. 6, 378. 91 Droysen (wie Anm. 33), 27; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 1.
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de Brandebourg", die die Geschichte Brandenburgs vor 1740 zum Inhalt haben, machen davon gleichwohl grundsätzlich keine Ausnahme; denn es liegt in der Logik des Friderizianischen Anspruchs, daß es auch zur Darstellung früherer Vorgänge eines Sachverstandes bedarf, der sich aus der Teilnahme am Geschehen der Gegenwart nährt. Friedrich ist es bei alledem nicht nur um die Beschreibung einer persönlichen Position zu tun, sondern er zieht daraus Folgerungen für die Quellenkritik historiographischer Schriftsteller, die zugleich Maximen für jegliche Geschichtsschreibung enthalten. So heißt es im Vorwort zur „Histoire de mon temps" von 1775: „Aber man muß sich lediglich an die kleine Zahl der Schriftsteller halten, die hohe Staatsämter bekleideten, die bei den Ereignissen mitwirkten, zum Hofe gehörten oder denen von den Fürsten erlaubt ward, in den Archiven zu forschen" 92; dabei macht Friedrich gewiß die Voraussetzung, daß auch diese Forscher in seinem Sinne sachkundig gewesen sind. Der König selbst hat freilich bei seiner eigenen Geschichtsschreibung solche Schriftsteller nicht zur Verfügung. Als er bei der Vorbereitung der „Mémoires pour servir a l'histoire de Brandebourg" die frühere Historiographie über Brandenburg sichtet, da findet er nur eine leere, wüste Stätte: selbst Pufendorfs Geschichte des Großen Kurfürsten kann ihm nicht genügen.93 Friedrich hält sich demgegenüber primär an sein eigenes Archiv: sei es zur Dokumentierung der brandenburgischen Geschichte vor 1740, sei es zur Abstützung seiner persönlichen Erfahrungen oder Erinnerungen, immer im Bewußtsein seiner originären Zuständigkeit.94 Allerdings klingt Voltaires Meinung zur Quellenkritik in manchem durchaus ähnlich. Historische Ereignisse, schreibt er am Schluß des „Essai sur les mœurs", seien nur dann glaubhaft, wenn sie bezeugt würden durch öffentliche Register und durch zeitgenössische Autoren, die in einer Hauptstadt lebten, untereinander Informationen austauschten und unter den Augen der führenden Männer der Nation schrieben. 95 Sicher steht da nicht ausdrücklich, daß die führenden Männer selbst Geschichte geschrieben haben müßten; aber jedenfalls plaziert Voltaire seine Autoren in der Nähe der Handelnden, doch wohl, weil er seriöse Geschichtsschreibung wenigstens mittelbar von Geschäftserfahrung abhängig glaubt. Unzweifelhaft hat sich Voltaire in seiner Geschichtsschreibung bemüht, sein Material nach diesen quellenkritischen Grundsätzen zusammenzutragen und zu benutzen: gerade auch im „Siècle de Louis XIV", der auf reicher Dokumentierung durch Archivmaterial und Zeitzeugen beruht. 96 Unzweifelhaft hält sich Voltaire vor allem selbst für 92 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, XXIII; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 12. 93 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, L I f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 8 f. 94 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, LH f. u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 9; Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, XXV u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 13. - Über Friedrichs archivalische Studien bei der Abfassung der „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg" vgl. Posner, Tätigkeit (wie Anm. 17), 222 ff. u. 325 ff. 95 Voltaire, Essai sur les mœurs (wie Anm. 27), Bd. 2, 802. 96 Brumfitt (wie Anm. 12), 130 ff.
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einen jener hauptstädtischen, informierten, mit den Mächtigen Umgang pflegenden Autoren. Seine größtmögliche Sachkompetenz zur Geschichtsschreibung über die Gegenwart wie über die Vergangenheit ist ihm selbstverständlich. Es ist nur schwer vorstellbar, daß ihn Friedrichs Kritik beeindruckt haben könnte; eher dürfte es so gewesen sein, daß er sich selbst höher eingeschätzt hat als den königlichen Historiker. Es ist hier nicht der Ort, diesen Kompetenzstreit zu entscheiden. Worauf es hier vielmehr ankommt, ist, zur Evidenz zu bringen, daß hinter den konkurrierenden Kompetenzansprüchen eine gegensätzliche Sicht der politischen Geschichte steht, die wiederum von einer unterschiedlichen historiographischen Zielsetzung herrührt. Die Völtairesche Konzeption der Zivilisationsgeschichte, wie sie im „Siècle de Louis XIV" zuerst hervortritt, weist der politischen Geschichte eine untergeordnete Rolle zu. Sie gilt ihm als fundamental insofern, als sie es mit notwendigen Bedingungen oder Voraussetzungen für die Fortschritte des menschlichen Geistes zu tun hat. Keine Aufklärung ohne starken Staat: demgemäß kein bisheriger Höchststand der Aufklärung im Zeitalter Ludwigs XIV. ohne die Errichtung der absoluten Monarchie. Es kommt daher, daß der „Siècle" zunächst politische Geschichte enthält: anfangs die politisch-militärische Ereignisgeschichte, danach die Beschreibung der politischen Zustände. Auch der „Essai sur les mœurs" folgt in seiner Gliederung den Daten oder Zäsuren der politischen Geschichte. Aber es bleibt immer gegenwärtig, daß es sich dabei um Bedingungen oder Voraussetzungen, nicht um die Essenz der Sache selbst handelt. Inbegriff des Fortschritts des menschlichen Geistes ist der jeweilige Stand der Künste und Wissenschaften. Die politische Geschichte interessiert nur insoweit, als sie dazu beiträgt: sie ist also nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, hat eine lediglich funktionale Bedeutung. Obendrein nimmt sie im Ensemble der Mittel und Funktionen für die Steigerung der Kultur die unterste Ebene ein. Voltaire macht klar, daß die ökonomisch-sozialen Verhältnisse in sehr viel engerer Beziehung zur Kultur stünden als die staatlichpolitischen. Genau genommen, läuft sein Modell der Zivilisationsgeschichte darauf hinaus, daß die Entwicklung der Künste und Wissenschaften bestimmter ökonomisch-sozialer Verhältnisse bedürfe und diese wiederum bestimmte staatlich-politische Verhältnisse benötigten: daß also die politische Geschichte zum bloßen Mittel des Mittels, zur bloßen Funktion der Funktion wird. Der Aufbau des „Siècle" gibt dieser doppelten Instrumentalisierung oder Funktionalisierung der politischen Geschichte Ausdruck: sie steht auch deshalb am Anfang, weil sie den niedrigsten Rang besetzt hält. Im „Essai sur les mœurs" steht es um ihre Gewichtung prinzipiell nicht anders. Zu alledem kommt die Differenzierung innerhalb der politischen Geschichte selbst. Wenn Voltaire die Möglichkeit von Aufklärung an die Existenz eines starken Staates bindet, dann meint er primär die Etablierung eines bestimmten politischen Systems, dann zielt er also unter historiographischer Perspektive auf die Zu-
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standsbeschreibung. Die politisch-militärische Ereignisgeschichte tritt dahinter deutlich zurück: sie ist unerläßlich, um den äußeren Rahmen verständlich zu machen, innerhalb dessen sich ein politischer Zustand entwickelt; aber sie erschöpft sich zugleich darin, hat keinen darüber hinausgehenden Wert, ist damit also nochmals instrumentalisiert oder funktionalisiert. Die Erzählung der Haupt- und Staatsaktionen Ludwigs XIV hat im „Siècle" keine andere Aufgabe, als zur nachfolgenden Verfassungsbeschreibung des französischen Absolutismus hinzulenken: ungeachtet dessen, daß sie diese an Ausführlichkeit bei weitem übertrifft; die äußeren Proportionen dürfen im „Siècle" ohnehin nicht zu falschen Schlüssen verleiten. Auch hier gilt im „Essai sur les mœurs" genau Entsprechendes. Schließlich macht Voltaire keinerlei Hehl daraus, daß er zumal die Kriegsgeschichte im Gesamtzusammenhang der Zivilisationsgeschichte zwar als notwendige Voraussetzung, aber dabei gewissermaßen doch nur als notwendiges Übel ansieht. Der Krieg erscheint in allen Voltaireschen Geschichtswerken als jene „folie humaine", als die er im Februar 1747 gegenüber Friedrich den Krieg von 1741 brandmarkt: eigentlich unvereinbar mit der Möglichkeit menschlicher Aufklärung, eher zur Behinderung als zur Förderung der Fortschritte des menschlichen Geistes geeignet, allenfalls gleichsam eine List der Vernunft, vor allem dadurch, weil er durch seine unsinnigen Exzesse auf Dauer Gegenkräfte auf den Plan rufen muß. Als er im „Siècle" nach der Schilderung des Friedens von Utrecht noch einmal den Spanischen Erbfolgekrieg und damit letztlich die ganze Kriegsepoche seit den Anfängen Ludwigs XIV. überblickt, fällt ihm zur Kennzeichnung nur ein: „vanité de la politique." 97 Und ganz am Ende des „Essai sur les mœurs", nachdem er die relativen Fortschritte rekapituliert hat, die der menschliche Geist zwischen der Zeit Karls des Großen und der Gegenwart durchlaufen habe, kann er die Bemerkung nicht unterdrücken: „In welchem blühenden Zustand müßte sich Europa befinden ohne die fortdauernden Kriege, die den Kontinent aus billigen Interessen und häufig aus kleinlichen Launen in Verwirrung stürzen!" Lediglich die begonnene Zivilisierung des Krieges, die die Bevölkerung immer mehr von den militärischen Operationen trennt, stimmt ihn hoffnungsvoll. 98 In der Friderizianischen Geschichtsschreibung verhält sich das alles offenbar genau umgekehrt. Friedrich stellt mit Voltaire politische Geschichte als eine Unterabteilung der Zivilisationsgeschichte dar. Aber sie ist ihm dabei keineswegs Mittel zum Zweck, keineswegs bloße Funktion, sondern Selbstzweck, Zweck an sich und rückt damit aus der inferioren Position, die sie bei Voltaire einnimmt, an die Spitze der Themenskala. Die doppelte Instrumentalisierung oder Funktionalisierung der politischen Geschichte, wie sie für Voltaire besteht, weicht bei Friedrich folgerichtig einer doppelten Überordnung. Friedrich bezieht die politische Geschichte nicht auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie auf Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, sondern schreibt Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie Kunst- und Wissen97 98
Œuvres historiques (wie Anm. 1), 886. Voltaire, Essai sur les mœurs (wie Anm. 27), Bd. 2, 811 f.
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schaftsgeschichte, um den Horizont zu kennzeichnen, innerhalb dessen sich die politische Geschichte bewegt. Er blickt über den Bereich des Staates hinaus, nicht weil ihm die wahre Geschichte jenseits des Staates zu beginnen scheint, sondern weil ihm auch die außerstaatlichen Verhältnisse in einer bestimmten Relation zum Staat stehen. Wie er wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen vom Bedürfnis des Staates her definiert, so bezieht er auch die Entwicklungen der Künste und Wissenschaften in eine Betrachtungsweise ein, die von der jeweiligen Lage der staatlichen Interessen ausgeht. Vom Gegensatz zu Voltaire ist schließlich auch Friedrichs Verständnis der politischen Geschichte selbst bestimmt. Für Friedrich steht nicht die Zustandsbeschreibung, sondern die Diplomatie- und Kriegsgeschichte als Inbegriff der Ereignisgeschichte obenan. Statt, wie Voltaire, die politischen Ereignisse auf die politischen Zustände auszurichten, überprüft er die Zustände auf ein Potential hin, das sich in Ereignisse umsetzen läßt. Es herrscht insoweit ein Primat der äußeren vor der inneren Politik und damit der außenpolitischen vor der innenpolitischen Geschichte. Friedrichs Werke zur Zeitgeschichte liefern dazu natürlich in allen Hinsichten die augenfälligsten Belege. Sie stehen sämtlich im Banne der Kriegsgeschichte und der diplomatischen Vorgänge, die den militärischen Operationen voraufliegen, sie begleiten und ihnen nachfolgen. Die politischen, ökonomischen und erst recht kulturellen Zustände, weit entfernt, das Ziel der Darstellung zu bilden, kommen schon äußerlich nur ganz an der Peripherie vor. Im Vorwort der „Histoire de la guerre de sept ans" trifft Friedrich die signifikante Feststellung, allein der 1756 ausgebrochene Krieg habe ihn zur Geschichtsschreibung zurückgebracht: „Ein paar Einzelheiten aus der inneren Staatsverwaltung aber liefern noch keinen genügenden Stoff zur Geschichtsschreibung."99 Es ist aber unleugbar, daß Friedrich in den „Mémoires pour servir a l'histoire de la maison de Brandebourg", die in ihrer Anlage dem Konzept der Zivilisationsgeschichte am meisten entsprechen, im Grunde genauso verfährt. Er vollzieht hier, wie früher gezeigt, im wesentlichen die Gliederung des „Siècle de Louis XIV" nach, aber in einem konträren Sinn. Wenn Voltaire die Beschreibung der ökonomischen und kulturellen Verhältnisse, vor den kirchlichen Angelegenheiten, an den Schluß seiner Darstellung rückt, so deshalb, um damit gewissermaßen die Summe des ganzen Zeitalters zu ziehen. Abgesehen davon, daß Friedrich am Eingang seines analogen Schlußkapitels über Sitten, Gebräuche und Industrie seine erklärte Hochschätzung dieses Gegenstandsbereichs im selben Satz mit der Bemerkung relativiert, Krieg und Politik, mit denen er sich bis dahin befaßt hat, seien die hauptsächlichsten Gegenstände der geschichtlichen Darstellung 100 : die Bedeutung, die er Sitten, Gebräuchen und Industrie zuerkennt, ist primär ihre Bedeutung für den Staat, ihr Nutzen für den Staatsmann. Diese Sittengeschichte hat ein durch und durch politisches Gepräge: sie bezweckt, wie Friedrich sagt, das Bild des Staats99 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 4, XIII; Werke (wie Anm. 1), Bd. 3, 3. 100 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 213; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 202.
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wesens zu vervollständigen. 101 Was dabei herauskommen soll, ist eine Vorstellung davon, inwieweit die Sitten der Menschen fürstliches Handeln präformieren, inwieweit aber auch fürstliches Handeln die Sitten der Menschen umschaffen kann: eine Vorstellung von der Resistenz des Volkscharakters wie von den Handlungsspielräumen der Regierenden. Der Große Kurfürst scheint Friedrich das Musterbeispiel eines Neuerers unter gegebenen Rahmenbedingungen, im Gegensatz etwa zu Peter dem Großen. 102 Letztlich geht es in diesem Koordinatensystem von Konstanten und Variablen um die Maximierung fürstlicher Macht. Nach einem Ausblick auf die künftigen Fortschritte des Geistes lauten die letzten Sätze des Kapitels: „Glücklich die Fürsten, die unter so günstigen Verhältnissen zur Welt kommen! Tugenden, Talent und Genie tragen sie gemeinsam empor zu großen und erhabenen Taten." 103 Das ist es, was Friedrich interessiert: die Aufbietung aller materiellen wie kulturellen Energien zum Ruhme des Staates, und das ist es, warum er Sittengeschichte schreibt. Es ist eine Sittengeschichte vom Standpunkt der politischen Geschichte. Ich brauche danach über die politische Geschichte selbst nur noch wenig zu sagen. Sie steht, nach dem Vorgang des „Siècle", am Anfang der „Mémoires", führt, wie im „Siècle", von den Ereignissen zu den Zuständen: aber um den Vorrang der politischen Geschichte und, innerhalb ihrer, den Vorrang der Diplomatie- und Kriegsgeschichte zum Ausdruck zu bringen. Die Beschreibung der politischen Zustände, von der inneren Verfassung über das Finanzwesen und das Heerwesen bis zu den religiösen Verhältnissen, handelt von den Mitteln für die Zwecke der Diplomatie und Kriegführung, auf die wiederum der Ablauf dieser Staatsgeschichte insgesamt bezogen wird. Ich führe schließlich noch an, daß der Krieg im Kontext aller dieser Anschauungen einer ganz anderen Beurteilung unterliegt als bei Voltaire. Die Friderizianische Historiographie bewertet den Krieg nicht als „folie humaine", sondern als mögliches Instrument einer Politik, die ihre Interessen nach der jeweiligen Lage der Dinge rational zu kalkulieren weiß. Vom Großen Kurfürsten sagt er in den „Mémoires pour servir a l'histoire de Brandebourg": „da seine Lage es erforderte, betrachtete er die Kriegführung als seinen Beruf." 104 Auch wo er auf die Sinnlosigkeit von Kriegen reflektiert, bleibt solche rationale Kalkulation der jeweiligen Interessen sein einziger Maßstab, im Gegensatz zu Voltaire, der auch dann, wenn er in der gleichen Weise zu argumentieren scheint, von einer grundsätzlichen Aversion gegen Kriege an sich erfüllt ist. Als sinnlos gilt Friedrich etwa in den „Mémoires" die Beteiligung Preußens am Pfälzischen und am Spanischen Erbfolgekrieg, weil sie Preußen außer der nur langfristig nützlichen Königskrone nichts eingebracht habe. 105 Dazu gehört aber auch, wenn Friedrich in der „Histoire de 101 Œuvres 102 Œuvres 211 ff. 103 Œuvres 104 Œuvres 105 Œuvres 13 Muhlack
(wie Anm. 1), Bd. 1, 213; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 202. (wie Anm. 1), Bd. 1, 214 ff. u. 225 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 203 f. u. (wie Anm. 1), Bd. 1, 240; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 222. (wie Anm. 1), Bd. 1, 93; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 92. (wie Anm. 1), Bd. 1, 98 u. 106; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 97 u. 103 f.
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mon temps" gelegentlich ein höchst negatives Bild von den Gewinnchancen der Kriegführung in der Gegenwart malt: „Die Ehrgeizigen sollten doch vor allem bedenken, daß die Waffen und die Kriegskunst in Europa überall so ziemlich gleich sind und daß die Bündnisse gewöhnlich eine Gleichheit der Kräfte zwischen den kriegführenden Parteien herstellen, so daß die Fürsten zu unserer Zeit von ihren größten Erfolgen nicht mehr erwarten können, als durch wiederholte Siege eine kleine Grenzstadt oder einen Landstrich zu erobern, der die Zinsen der Kriegskosten nicht einbringt und dessen ganze Bevölkerung nicht die Zahl der Bürger erreicht, die in den Feldzügen gefallen sind." 1 0 6 Friedrich arbeitet da mit Kriterien einer Kosten-Nutzen-Rechnung, von denen her sich grundsätzlich immer auch die Notwendigkeit eines Krieges ableiten ließe. Ich frage, um dieser ganzen Differenz auf den Grund zu kommen, zuletzt nach den Zielen Voltairescher und Friderizianischer Geschichtsschreibung. Ich muß damit beginnen, daß beide, Voltaire und Friedrich, die gleiche Auffassung vom Nutzen oder Wert der Geschichte im allgemeinen haben. Beide huldigen der didaktisch-pragmatischen Geschichtsauffassung, der „historia magistra vitae". Die Geschichte hat danach die Aufgabe, die Normen praktischen Verhaltens vorzuführen, Handlungswissen zu vermitteln, zum Handeln anzuweisen: Burckhardtisch gesprochen: klug zu machen für ein andermal. Es ist dabei nicht ihre Sache, diese Normen selbst aufzustellen; sie stehen vielmehr schon im vorhinein fest, gehen ihr voraus, fallen, wissenschaftssystematisch gesehen, in die Zuständigkeit nicht der Historie, sondern der praktischen Disziplinen Ethik, Politik, Jurisprudenz. Was die Geschichte zu leisten hat, das ist lediglich eine nachträgliche Exemplifizierung oder Illustrierung. Die Historie wird zur magistra vitae, indem sie konkrete Beispiele bietet, die die Befolgung jener ihr vor- oder übergeordneten Normen einschärfen sollen: positive und negative Beispiele, solche, die anspornend, und solche, die abschreckend wirken. Demgemäß will Voltaire im „Essai sur les mœurs", um die Nachwelt zu belehren, ein treues Gemälde alles Guten und Bösen malen, was der Erinnerung wert sei 1 0 7 , und Friedrich in den „Mémoires pour servir à l'histoire de Brandebourg" „Lob und Ehre aller, die ihrem Lande treu gedient haben", aufzeichnen, aber „ebenso den Fluch, der auf dem Namen derer lastet, die das Vertrauen ihrer Mitbürger getäuscht haben, und damit zu einer Erfahrung verhelfen, wie sie sonst das Leben erst später zur Reife bringt." 108 Beide teilen zugleich die Prämissen dieser Doktrin: daß die Natur des Menschen unveränderlich ist; daß andererseits unter dem Einfluß äußerer Umstände die Erscheinungsformen des Menschen wechseln; daß es wiederum für diese Wandlungen bestimmte Gesetze gibt. Voltaire postuliert im „Essai sur les mœurs" die „unité", die der Natur des Menschen eigen ist, den „hasard", der die Gewohnheiten der Menschen verändert, und die „lois éternelles et immuables", 106 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 2, XXX f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 16. 107
Voltaire, Essai sur les mœurs (wie Anm. 27), Bd. 2, 817. los Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, L; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 7.
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die alle Beziehungen regeln 109 , Friedrich ganz analog in den „Mémoires" eine „égalité entre le destin des nations", eine „variété infinie des objets und les lois immuables de la nature", die alle Umwälzungen unter den Menschen regeln. 110 Beiden bleibt freilich, wie anderen Autoren, bewußt, daß über diese Zusammenhänge einstweilen nur annähernd verbindliche oder wahrscheinliche Aussagen möglich sind und damit eine direkte Applizierung von den historischen Beispielen auf die Gegenwart ausscheiden muß. Friedrich spricht diese gemeinsame Überzeugung in der „Histoire de la guerre de sept ans" am bündigsten aus: „Jedenfalls muß man sklavische Nachahmung vermeiden ... Ereignisse der Vergangenheit sollen lediglich der Einbildungskraft Nahrung liefern und unser Gedächtnis mit Kenntnissen ausstatten. Sie liefern nur eine Sammlung von Ideen und liefern uns den Rohstoff, den die Urteilskraft erst in ihrem Schmelztiegel läutern muß." 111 „Historia magistra vitae": das soll also nicht auf bloße Übernahme, sondern auf sinngemäße Anwendung hinauslaufen, die eine selbständige Erwägung aller Umstände in Vergangenheit und Gegenwart zur Voraussetzung hat. Die didaktisch-pragmatische Geschichtsauffassung stellt freilich nur eine formale Zielbestimmung der Geschichte dar. Entscheidend sind die Inhalte, die sie ergreift, sind die konkreten Erkenntnisinteressen, die sie erfüllen. Es ist offenkundig, daß an dieser Stelle Voltairesche und Friderizianische Geschichtsschreibung auseinandertreten, und nach allem bisher Gesagten unstrittig, worin die Verschiedenheit besteht. Voltaire schreibt Geschichte mit dem Erkenntnisinteresse des aufgeklärten Philosophen, der darauf ausgeht, eine Öffentlichkeit für die Verwirklichung aufklärerischer Forderungen zu gewinnen. „Historia magistra vitae": das heißt für ihn die historiographische Vermittlung eines Handlungswissens, das zur Durchsetzung der Aufklärung in der Gegenwart befähigt. Die Beispiele, die die didaktisch-pragmatische Geschichtsauffassung fordert: das sind für ihn Beispiele gelungener oder mißlungener Aufklärung, Beispiele, die der Gegenwart als Vorbild dienen, oder Beispiele, die vor den Hindernissen warnen, die sich einer Realisierung der Aufklärung entgegenstellen. Es ist dieses Erkenntnisinteresse, aus dem heraus Voltaire sein Konzept der Zivilisationsgeschichte entwickelt. Das Zivilisationsmodell, das Voltaire in der Einführung zum „Siècle de Louis XIV" aufstellt, gibt sich, mit seiner pyramidenförmigen Anordnung aller Lebensbereiche von der Basis der politischen Ereignisse und Zustände bis zur Spitze der Künste und Wissenschaften, leicht als Projektion des eigenen aufklärerischen Zivilisationsprogramms zu erkennen. Es ist damit der Inbegriff des Handlungswissens, das die Voltairesche Geschichtsschreibung vermitteln soll, und der kategoriale Bezugsrahmen der Exemplifizierung, die sie dazu zu leisten hat. Die Voltairesche Zivilisationsgeschichte füllt diesen Rahmen aus. Sie liefert Beispiele gelungener Aufklärung: der „Siècle de Louis XIV" nennt, ungeachtet aller Einschränkungen oder 109
Voltaire, Essai sur les mœurs (wie Anm. 27), Bd. 2, 810 u. 915. no Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 215 u. 239; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 202 u. 222. m Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 4, X V I f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 3,4. 13*
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Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
Abstriche, ein erstes solches Beispiel; in der Einführung zum „Siècle" führt Voltaire mit dem griechisch-römischen Altertum und der Renaissance weitere Paradigmen an; im „Essai sur les mœurs" treten vor allem außereuropäische Kulturen hinzu. Die Voltairesche Zivilisationsgeschichte liefert aber auch Beispiele mißlungener Aufklärung: die ganze mittelalterliche Geschichte Europas, wie sie im „Essai sur les mœurs" dargestellt wird, bietet, ganz wenige bescheidenste Ansätze ausgenommen, sozusagen ein einziges Exempel für Barbarei und Fanatismus. Dagegen sieht Friedrich auch in seiner Historiographie nicht von seinem Herrscheramt ab. Er schreibt Geschichte mit dem Erkenntnisinteresse des absolutistisch regierenden Königs von Preußen, der danach strebt, vor sich selbst wie für die Nachfolger und die Nachwelt Klarheit über die Grundlagen und Ziele seiner Politik zu schaffen. „Historia magistra vitae": das heißt für ihn die historiographische Vermittlung eines Handlungswissens, das die dauernden Prinzipien preußisch-absolutistischer Politik feststellt. Die Beispiele, die die didaktisch-pragmatische Geschichtsauffassung fordert: das sind für ihn Beispiele erfolgreicher oder gescheiterter Politik, Beispiele, an die sich die künftige Politik halten, oder Beispiele, die sie vor Fehlern bewahren soll. Es ist dieses Erkenntnisinteresse, aus dem heraus Friedrich Voltaires Konzept der Zivilisationsgeschichte zur Vorstellung einer Priorität der politischen und darin wiederum der außenpolitischen Geschichte abwandelt. Er gewinnt die Maßstäbe dieser Geschichtsauffassung aus seinem Verständnis preußisch-absolutistischer Politik: aus einem Verständnis, das alle Lebensbereiche auf das Bedürfnis fürstlicher Machterhaltung und Machterweiterung zentriert und das dabei zugleich der Behauptung nach außen obersten Rang zuerkennt. Der Primat der Diplomatie- und Kriegsgeschichte, die ihr zugeordnete Geschichte der politischen Zustände, die Ausstrahlung der politischen Geschichte auf die Geschichte der Sitten, Gebräuche und Industrie: das alles ist die historiographische Projektion eines politischen Programms. Die Friderizianischen Geschichtswerke produzieren damit ein Handlungswissen, das auf dieses Programm berechnet ist: durch eine Exemplifizierungsleistung, die aus ihm ihre normativen Vorgaben hat. Sie liefern positive und negative Beispiele naturgemäß vor allem auf den Feldern der Außenpolitik und Kriegführung. In den „Mémoires pour servir a l'histoire de Brandebourg" etwa steht Kurfürst Georg Wilhelm für einen Fürsten, der durch innere Mißwirtschaft und äußere Orientierungslosigkeit zum bloßen Objekt der Politik der anderen Mächte wird 1 1 2 , der Große Kurfürst für einen, der nach der Schaffung der notwendigen inneren und äußeren Voraussetzungen zum selbständigen Akteur innerhalb des europäischen Staatensystems aufsteigt. 113 In den zeitgeschichtlichen Werken dominiert zeitweilig die pragmatisch-didaktische Diskussion militärischer Situationen: Friedrich will aus seinen Kriegen lernen, zumal aus seinen eigenen Fehlern und den Fehlern seiner Feinde. Die „Histoire de la guerre de sept ans" erklärt das geradezu zu einem ihrer beiden Hauptzwecke, neben der Rechtfertigung 112 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1,48 f.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 52 f. 113 Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 51 ff. u. 90 ff.; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 55 ff. u. 89 ff.
Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
von Friedrichs Haltung beim Beginn und bei der Beendigung des Krieges: der Autor wollte „alle militärischen Operationen so klar und genau schildern, als ich irgend vermochte. Hinterlassen wollte ich eine authentische Zusammenstellung der vorteilhaften und nachteiligen Stellungen in den Provinzen und Staaten, die den Schauplatz eines Krieges zwischen den Häusern Brandenburg und Österreich bilden können." 114 Übrigens sucht die Friderizianische Geschichtsschreibung auch den österreichisch-preußischen Konflikt selbst seit der Zeit des Großen Kurfürsten wieder und wieder als ein solches Grundgesetz oder Grundverhältnis preußischabsolutistischer Politik zu erweisen. 115 Ich kann mir am Schluß versagen, die Konsequenzen zu explizieren, die sich aus meinem Referat über die Geschichtsschreibung Voltaires und Friedrichs für die Beziehungsgeschichte zwischen dem aufgeklärten Philosophen und dem absoluten Monarchen insgesamt und damit für die Rolle Voltaires im Relationsgefüge der Friderizianischen „Entourage" ergeben. Genug, daß die Zusammenschau Voltairescher und Friderizianischer Historiographie nach der subjektiven wie nach der objektiven Seite auf ein wechselseitig instrumentelles Verhältnis schließen läßt: zwischen Voltaire und Friedrich und, analog dazu, zwischen ihrer jeweiligen Auffassung von Aufklärung und Absolutismus. Ich möchte aber noch einige Sätze zur historiographiegeschichtlichen Einordnung anfügen. Gegenüber Voltaire als Vertreter der Aufklärungshistorie scheint mir Friedrich in eine Tradition historischen Denkens zu gehören, die über Pufendorf, Coming, Bodin bis zu Machiavelli zurückreicht: die Tradition einer politischen Geschichtsschreibung, der es, im Zeichen des sich formierenden frühmodernen Staates, um die historische Fundierung der neuen staatlichen Erfordernisse geht. 116 Ich hebe die völlige Übereinstimmung mit Machiavelli auch deshalb hervor, weil der Verfasser des „Antimachiavell" das Werk des florentinischen Autors in besonderem Maße rezipiert hat. Es ist bei Friedrich wie bei Machiavelli der gleiche Ausgang von Politik als einem Problem der Macht, das gleiche rational-utilitarische Kalkül der jeweiligen Machtinteressen, die gleiche realistisch-empirische Attitüde, der gleiche Rückgang auf historische Fälle; ich erwähne nur in Parenthese, daß auch der „Antimachiavell" selbst aus dem Geist Machiavellis heraus geschrieben ist: nämlich insofern, als das vornehmste Bestreben des Verfassers dahin geht, Machiavelli mit der Argumentationsweise Machiavellis zu konfrontieren. 117 Was Friedrich mit Voltaire gemeinsam Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 4, XIV; Werke (wie Anm. 1), Bd. 3, 3. 115 Vgl. schon Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 1, 60 f. u. 130; Werke (wie Anm. 1), Bd. 1, 64 u. 124. 116 Dazu Dilthey, Friedrich (wie Anm. 25), 176 ff. 117 Die Forschung widmet seit geraumer Zeit den Machiavellischen Zügen des „Antimachiavell" zunehmende Aufmerksamkeit; vgl. zuletzt Schieder, Friedrich (wie Anm. 6), 102 ff. Mir scheint aller Anlaß zu bestehen, hier noch ein entscheidendes Stück weiterzugehen und die Vorstellung einer qualitativen Differenz des Friderizianischen Textes zur politischen Doktrin des Florentiners überhaupt zu erledigen. Der „Antimachivell" stellt keinen aufklärerischhumanitären Protest gegen Machiavelli dar, sondern läuft auf eine zeitgemäße Adaption
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Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
hat, das ist zunächst einmal gemeinsames antikisch-humanistisches Erbe: die didaktisch-pragmatische Geschichtsauffassung, Gemeingut aller Richtungen der neueren Geschichtsschreibung bis zum Anbruch des Historismus. Weiterhin handelt es sich darum, daß Friedrich das Voltairesche Konzept der Zivilisationsgeschichte seinem eigenen Konzept politischer Geschichte anpaßt, gleich wie Voltaire seinerseits aus dem Arsenal der traditionellen politischen Geschichtsschreibung schöpft, zu dem auch gewisse Ansätze einer Beschreibung der politischen Zustände gehören. Ich merke aber an, daß Friedrich sich innerhalb der Aufklärungshistorie vielleicht mehr noch als an Voltaire an einen Autor wie Montesquieu hält, der ihm mit seiner Thematik eher entgegenkommt und auch der Position Machiavellis oder Bodins näher steht. 118 Von später her gesehen, erscheinen die Friderizianische und die Voltairesche Geschichtsschreibung wie Vorformen der beiden Typen der politischen Geschichte und der Kulturgeschichte, die die geschichtswissenschaftliche Diskussion namentlich in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmen119: auch dadurch, daß die eine jeweils Elemente der anderen in sich enthält. Die Stellung Friedrichs in der Historiographiegeschichte verdient noch eine letzte Bemerkung. Ich habe von dem Selbstbewußtsein gesprochen, mit dem Friedrich kraft der Kompetenz des Akteurs auf seinen besonderen Beruf zur Geschichtsschreibung Anspruch macht. Die Forderung, daß die Historiographie vorab geschäftskundigen Zeitgenossen obliegen müsse, ist an sich sehr alt; sie geht ebenfalls über Renaissance und Humanismus bis zur Antike zurück. Auch Voltaire ist, wie gesagt, von dieser Auffassung kaum entfernt. Es hat auch seit Thukydides niemals an geschichtsschreibenden Akteuren gefehlt. Machiavelli und Montesquieu, zwei Gewährsmänner Friedrichs, haben zwar nicht zusammenhängend Zeitgeschichte dargestellt, aber ihre Geschichtswerke von dem Sachwissen her abgefaßt, das ihnen im Verlauf ihrer jeweiligen amtlichen Tätigkeit oder Erfahrung entstanden ist, ganz zu schweigen von ihrer Kommentierung der Gegenwartsgeschichte in ihren politischen Schriften, die durchweg von solcher Sachkenntnis zeugt. Immerhin mag man bei den meisten Historikern dieser Art, auch etwa bei Machiavellis hinaus. Friedrich kritisiert Machiavellis eingeschränkte Hinsicht auf die Staatenwelt der italienischen Renaissance, aber er billigt Machiavellis Prämissen, wenn er demgegenüber eine Einstellung auf die veränderte Konstellation des europäischen Staatensystems im 18. Jahrhundert verlangt. Dazu paßt, daß er sich in manchen Punkten mit Machiavelli einverstanden erklärt: nicht nur, was die in der Forschung viel erörterte Bündnisproblematik betrifft, sondern etwa auch, wenn es darum geht, mit Machiavelli die militärischen Pflichten eines Herrschers über alle anderen zu erheben (Kap. 12). Natürlich fehlt es im „Antimachiavell" nicht an aufklärerisch-humanitären Phrasen; aber sie wirken wie aufgesetzt, wie eine literarische Stilübung für den Sprachmeister Voltaire: auch das ein Hinweis auf die komplexe Natur dieser Beziehungsgeschichte. Der Text des „Antimachiavell": Œuvres (wie Anm. 1), Bd. 8 u. Werke (wie Anm. 1), Bd. 7. us Dazu Küntzel, Friedrich (wie Anm. 19), 241 ff. ü 9 Vgl. dazu unübertroffen Georg von Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte, Leipzig 1916.
Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen
Machiavelli oder Montesquieu, zweifeln, ob sie nicht schließlich doch eher theoretisch als praktisch interessiert gewesen sind und ob sie ohne ihre theoretischen Interessen noch einer historischen Würdigung wert wären. Jedenfalls steht soviel fest, daß Friedrich vielleicht bis dahin der erste ganz große Akteur gewesen ist, der die Geschichte und Vorgeschichte seiner Zeit dargestellt hat. Aber diese einzigartige Koinzidenz von politischem Handeln und historischer Erkenntnis trägt zugleich alle Anzeichen eines Anachronismus an sich. Denn sie fällt in eine Zeit, in der, gerade an den deutschen Universitäten, jene Professionalisierung der Geschichtswissenschaft beginnt, mit der wir es bis heute zu tun haben: eine Professionalisierung des methodischen Betriebs, in dem Geschäftserfahrung, von Spezialdisziplinen der Geschichte abgesehen, keine konstitutive Rolle mehr spielt. Einer der Meister der professionell gewordenen Geschichtswissenschaft, Leopold von Ranke, hat über die Geschichtsschreibung Friedrichs des Großen in Worten geschrieben, die gleichermaßen die Gewißheit des seither vollzogenen methodischen Fortschritts wie ein Bedauern über den damit erkauften Verlust an unmittelbarer Realitätserfahrung eher anklingen lassen als offen aussprechen, in abgewogenen, eben Rankischen Worten. Ich setze dieses Zitat ans Ende: „Wir sind weit entfernt, darüber mit dem großen Könige zu rechten; er schreibt immer als der König. In seinem Verhalten und seiner Anschauung spricht sich sein eigener Standpunkt aus, welcher der Standpunkt des Jahrhunderts war [ . . . ] Der Natur seines Geistes entsprach es, seinen Staat eben nur in seiner besonderen, auf sich selbst beruhenden Stellung zu fassen." 120
120 Ranke, Preußische Geschichte (wie Anm. 17), Bd. 3, 314 f.
Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus Friedrich Schiller als Historiker kann in verschiedenen Hinsichten betrachtet werden. Am nächsten mag es liegen, ihn in die intellektuelle Biographie des „Klassikers" einzuordnen. In diesem Beitrag soll es um seine Stellung in der zeitgenössischen deutschen Geschichtswissenschaft gehen. Viel spricht dafür, daß damit auch Schillers eigener Anspruch am ehesten deutlich wird. Seit Troeltsch 1 und Meinecke2 ist uns die Vorstellung geläufig, daß sich in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Wendung von der Aufklärungshistorie zum Historismus zu vollziehen beginnt. Auch wenn „Begriff und Problem" des Historismus heute gelegentlich in ganz anderem Zusammenhang diskutiert werden 3, tun wir gut daran, an dieser Vorstellung festzuhalten, die sich als hinreichend geeignet erwiesen hat, die von niemandem bestrittene Wandlung der deutschen Geschichtswissenschaft um 1800 auf Begriffe zu bringen. Es gibt freilich seit einiger Zeit eine Kontroverse um die Beurteilung dieses „Paradigmawechsels", ausgelöst durch eine von manchen Autoren unternommene Neubewertung der Aufklärungshistorie. Sie zielt darauf ab, das bis dahin unangefochtene Monopol des Historismus auf die Begründung der modernen Geschichtswissenschaft zu brechen: sei es, daß man bestimmte heute wieder aktuelle oder für aktuell gehaltene Ansätze der Aufklärungshistorie herausstellt, die der Historismus angeblich verschüttet, wenn nicht absichtlich unterdrückt hat, oder auch bestimmte bisher erst dem Historismus zugesprochene Errungenschaften schon für die Aufklärungshistorie beansprucht.4 Erstveröffentlichung in: Otto Dann/Norbert Oellers / Ernst Osterkamp (Hrsg.), Schiller als Historiker, Stuttgart/Weimar 1995, 5-28. 1 Ernst Troeltsch , Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau, Jg. 33, 1922, 572 ff., hier 573 u. 575; ders., Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, 2. Neudr. Aalen 1977, 9 f. - Schillers und Humboldts Werke werden in folgenden Abkürzungen zitiert: NA = Schillers Werke. Nationalausgabe. 43 Bde., Weimar 1943 ff.; SW, Bd. 4 = Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke / Herbert G. Göpfert/Herbert Stubenrauch, Bd. 4: Historische Schriften, 7. Aufl., München 1988; W = Wilhelm von Humboldt, Werke. Hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, 5 Bde., Darmstadt 1960-81. 2
Friedrich 1959, 4.
Meinecke , Die Entstehung des Historismus. Hrsg. v. Carl Hinrichs. München
3 Otto Gerhard Oexle , „Historismus". Überlegungen der Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft, Jahrbuch 1986, Göttingen 1986, 119 ff.; Annette Wittkau , Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992. 4 Neuere Sammelwerke und Gesamtdarstellungen: Peter Hanns Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley/Los Angeles / London 1975; Horst
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In dieser Lage muß der Historiker Schiller unser besonderes Interesse auf sich ziehen. Er gehört der Zeit an, in der die „Revolutionierung" der deutschen Geschichtswissenschaft gerade einsetzt; es kann nicht ausbleiben, daß er dabei Position bezieht; er scheint daher wie kaum ein anderer Autor gleichsam dazu ausersehen, diesen Vorgang weiter aufzuhellen. Soweit die Forschung sich bisher damit überhaupt befaßt hat, pflegt sie Schiller bis zu einem gewissen Grade beiden Richtungen oder Schulen zuzuordnen, sozusagen zwischen Aufklärungshistorie und Historismus zu platzieren.5 Diese Ansicht läßt sich im allgemeinen gewiß kaum bestreiten; um so mehr soll es in diesem Beitrag auf möglichste Präzisierung im einzelnen ankommen. Wir verzichten dabei auf vorgängige abstrakte Erörterungen über Aufklärungshistorie und Historismus, sondern konzentrieren uns von vornherein auf Autoren und Texte: auf die konkreten Probleme, die die deutschen Historiker an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bewegen. Dieser Problemstellung entspricht, daß wir uns hier allein an den Historiker Schiller in dem strikten Sinne halten, in dem er in einem genau abzugrenzenden Zeitraum, von 1786 bis 1792, als Geschichtsschreiber und Geschichtsprofessor hervortritt. Das Geschichtsdenken des Dichters wie des Philosophen Schiller bleibt außer Betracht, der Weg Meineckes, der Schiller, wie vorher schon Goethe, mit allen Teilen des Œuvre auf die „Entstehungsgeschichte des Historismus" bezieht6, unbeschritten. Natürlich ist die Einheit des Schillerschen Werkes ein legitimes Thema; der Feststellung Humboldts, daß „Schiller's philosophische und historiWalter Blanke / Jörn Rüsen (Hrsg.), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Paderborn u. a. 1984; Hans Erich Bödeker/ Georg G. Iggers/ Jonathan B. Knudsen/Peter H. Reill (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986; Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart /Bad Cannstatt 1991; Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992; Hans Schleier, Epochen der deutschen Geschichtsschreibung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, 133 ff. 5 Vgl. z. B. Richard Dietrich, Friedrich Schiller als Historiker und Geschichtsdenker, in: Die Welt als Geschichte, Bd. 19 (1959), 226 ff., hier 243. Weitere Arbeiten, die hier einschlägig sind: Theodor Schieder, Schiller als Historiker, in: Historische Zeitschrift 190, 1960, 31 ff.; Ernst Engelberg, Schiller als Historiker, in: Joachim Streisand (Hrsg.), Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin 1963; Deric Regin, Freedom and Dignity. The Historical and Philosophical Thought of Schiller. Den Haag 1965; Hinrich C. Seeba, Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild, in: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.), Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, Tübingen 1982, 229 ff.; Karl-Heinz Hahn, Schiller als Historiker, in: Bödeker/Iggers/Knudsen/Reill (Hrsg.), Aufklärung (wie Anm. 4), 388 ff. 6 Friedrich Meinecke, Schiller und der Individualitätsgedanke, in: ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte. Hrsg. v. Eberhard Kessel, 2. Aufl. Stuttgart 1965, 285 ff., das Zitat S. 319; zu Goethe: Ders ., Die Entstehung des Historismus (wie Anm. 2), 445 ff.
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sehe Bestrebungen nicht bloss als eine vielseitige Geistesbildung, noch weniger aber als ein unsichres Umhersuchen nach seinem wahren Beruf, sondern beide nur als mit der poetischen aus einer und ebenderselben reichen, tiefen und mächtigen Urquelle in ihm hervorbrechend erscheinen"7, dürfte grundsätzlich immer noch zuzustimmen sein. Auch eine Untersuchung von Schillers Geschichtsdenken über Fach- oder Gattungsgrenzen hinweg ist daher durchaus sinnvoll. Aber gerade Humboldt sieht Schiller die aus der einen „Urquelle" hervorbrechenden „Bestrebungen" wiederum „auf den verschiedensten Wegen" verfolgen 8; die Zusammenschau des Ganzen hat offenbar eine strenge Differenzierung der Teile zur Voraussetzung. Schiller selbst hebt jedenfalls die historiographische, die poetische und die philosophische Behandlung der Geschichte genau voneinander ab. Er unterscheidet zwischen dem „historischen Zweck" und dem „poetischen Zweck" und damit „historische Wahrheit" und „poetische Wahrheit": die Historie hat „von geschehenen Dingen und von der Art dieses Geschehens zu unterrichten", muß sich daher „streng an historische Richtigkeit halten"; die Poesie will „rühren" und damit „ergötzen", ist daher „in der Nachahmung frey", besitzt „Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unter zu ordnen und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten". 9 Seine historischen Dichtungen stehen unter diesem Vorbehalt; die „Elegie (Der Spaziergang)" etwa darf nicht einfach als Deutung der Menschheitsgeschichte gelesen werden. Sofern Schiller in seinen philosophischen Schriften auf die Geschichte zurückkommt, dient sie ihm erklärtermaßen zunächst einmal als didaktisches Mittel, um die Natur des Menschen, die er spekulativ zu bestimmen unternimmt, zu veranschaulichen10: also ebenfalls ohne „historischen Zweck" und damit ohne Anspruch auf „historische Wahrheit". Wir sind im Einklang mit Schillers Selbstverständnis, wenn wir uns in diesem Beitrag über die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung Schillers auf die Historie beschränken. Ganz anders steht es dagegen um mögliche Einwirkungen des Dichters und des Philosophen auf den Historiker: um Anschlußstellen, Übereinstimmungen, Analogien, ohne die uns der Historiker nur unvollkommen verständlich wäre. Es lassen sich mehrere Ansätze denken, um unser Thema durchzuführen. Ein Ansatz ergibt sich beispielsweise aus dem historiographischen Programm, das Schiller in der Vorrede zur „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung" verkündet und das für seine Geschichtswerke insgesamt gilt: „Meine Absicht bei diesem Versuche ist mehr als erreicht, wenn er einen Teil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und wenn er einem andern das Geständnis abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen not7 W, Bd. 2, 384. 8 Ebd., 357. 9 NA, Bd. 20, 166 f.; S. auch ebd. 218 f. 10 Ebd., 388 u. 438.
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wendig zum Roman zu werden. " n Schiller erstrebt also eine Verbindung von historisch-kritischer Quellenforschung und literarisch anspruchsvoller Geschichtsschreibung; er setzt dabei eine „Verwandtschaft" von Poesie und Historie voraus. Man hat sich in bisherigen Analysen, zumal in jüngster Zeit, vor allem auf diese „Poetik der Geschichtsschreibung" bezogen12, die sinnfällig für die Einwirkung des Dichters auf den Historiker Schiller steht. Aber man muß hinzunehmen, daß Schiller zugleich eine Logik der Geschichtsforschung fordert und auch, „so weit es ihm vergönnt war, genau und sorgfältig" praktiziert. 13 Er trägt mit diesem Programm zu einer Entwicklung bei, die in der Aufklärungshistorie, bei Hume und Robertson und dann bei den Autoren der Göttinger historischen Schule, beginnt und in den großen historistischen Geschichtsdarstellungen des 19. Jahrhunderts, von Niebuhr und Ranke bis zu Droysen und Treitschke, gipfelt. Er selbst sieht sich dabei ganz vorn stehen, kann sich durchaus vorstellen, „der erste Geschichtschreiber in Deutschland" zu werden 14, ermißt den ganzen Abstand, der ihn schon von der Aufklärungshistorie trennt. 15 Wir begnügen uns mit diesem kurzen Hinweis, um bei einem anderen Ansatz zu verweilen. Schillers Konzept der Universalgeschichte, das uns in der Folge beschäftigen soll, gehört zu einer Generaldebatte, die uns in die Mitte unseres Problems führt. Die Rezeption der britischen „Universal History" und der universalgeschichtlichen Schriften Voltaires, wie vor allem des „Essai sur les mœurs", begünstigt auch in Deutschland analoge Bemühungen, die Betrachtung der Universalgeschichte zu modernisieren; sie finden an den Universitäten, aber auch in einer weiteren Öffentlichkeit statt; die Autoren, die sich daran beteiligen, sind Historiker, Philologen, Philosophen, Theologen und Literaten; die Reihe der Namen reicht von Iselin, Herder, Gatterer, Schlözer bis zu Kant, Fichte, Humboldt, Hegel. Die Debatte beginnt in den Blütezeiten der Aufklärungshistorie und läuft aus, als sich die Geschichtswissenschaft des Historismus konstituiert hat; sie schließt den Übergang von der einen zur anderen ein; sie wird mit besonderer Intensität und Resonanz in der Übergangszeit selbst geführt. Der Wandel von der Aufklärungshistorie zum Historismus vollzieht sich offenbar auch und zeitweise primär im Zuge dieser Debatte, und Schiller kann uns offenbar gerade deswegen als Kronzeuge des Wandels dienen, weil er an ihr in einer Zeit teilnimmt, in der sie gewissermaßen mit einer Hauptepoche des „Paradigmawechsels" zusammenfällt. Unsere Fragen sind, welche Position Schiller vertritt, mit welchen Autoren oder Schulen er sich auseinandersetzt, welche Reaktionen er auslöst. Wir suchen Schillers Position dort zu erfassen, wo sie programmatisch dargestellt ist: in den erhalten gebliebenen universalhistorischen Vorlesungen und in den „Universalhistorischen Übern SW, Bd. 4, 31. 12 Seeba, Hisonographischer Idealismus? (wie Anm. 5), 229. 13 W, Bd. 2, 382. 14 NA, Bd. 26, 58. 15 NA, Bd. 25. 2.
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sichten" aus der „Allgemeinen Sammlung Historischer Memoires", die in ihrem Umkreis entstanden sind. 16 Dieser in sich geschlossene Textbestand besitzt auch dadurch eigene Prägung und Bedeutung, daß Schiller hier als Vertreter eines Universitätsfachs spricht: der Extraordinarius an der philosophischen Fakultät der Universität Jena ist zwar nicht im formellen Sinne „Professor der Geschichte", hat aber die vorrangige Aufgabe, „sich in der Geschichte fest zu setzen und in diesem Fache der Akademie nützlich zu seyn" 17 ; das traditionelle Lehrgebiet des Faches ist die Universalgeschichte, im Unterschied zu den historischen Spezialfächern im Dienst der Theologie, Jurisprudenz und Politik; Schiller liest über Universalgeschichte in diesem ihm institutionell vorgegebenen Rahmen; er bekommt damit Anschluß an die damals an den Universitäten geführte Diskussion. Freilich finden wir das gleiche Konzept, direkt oder indirekt, auch in den anderen historischen Texten Schillers wieder; die beiden großen Geschichtswerke sind geradezu Teilabschnitte oder Teilausführungen der Schillerschen Universalgeschichte. Für die vergleichende Betrachtung wählen wir Schlözer, Kant und Humboldt aus. Alle drei sind nicht nur Hauptbeteiligte an der universalhistorischen Debatte in jener Übergangszeit, sondern auch speziell zum Verständnis Schillers wichtig: Schiller zitiert schon in der zweiten medizinischen Dissertation Schlözers „Vorstellung seiner Universal-Historie", durch die er in „die Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts" eingeführt wird 1 8 , zieht ihn auch bei der Vorbereitung seiner Vorlesungen heran 19; er bekundet wiederholt, was er Kants geschichtsphilosophischen Artikeln in der „Berlinischen Monatsschrift" verdankt 20; Humboldt wird wesentlich durch Schiller zur Universalgeschichte hingelenkt. 16
Die Texte: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: SW, Bd. 4, 749 ff.; Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, in: ebd., 767 ff.; Die Sendung Moses, in: ebd., 783 ff.; Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, in: ebd., 805 ff.; Universalhistorische Übersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen, ihrer Staatsverfassung, Religionsbegriffe, Sitten, Beschäftigungen, Meinungen und Gebräuche, in: ebd., 843 ff.; Universalhistorische Übersicht der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten zu den Zeiten Kaiser Friedrichs I., in: ebd., 866 ff. - Textgeschichtliche Übersicht bei Richard Fester, Vorstudien zur Säkularausgabe der historischen Schriften Schillers (Werke XIII-XV), in: Euphorion 12, 1905, 78 ff., hier 128; verwiesen wird auch auf das chronologische Verzeichnis von Schillers historischen Schriften und Vorlesungen SW, Bd. 4, 1001 f. 17 Promemoria Goethes vom 9. Dezember 1788, in: Friedrich Schneider/Friedrich Stier, Friedrich Schiller und die Universität Jena, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der FriedrichSchiller-Universität Jena, Jg. 5, 1955/56. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, H. 1,21 ff., hier 22; ebd., 25 ff. die Dokumente zum Streit um die Fachbezeichnung Schillers, der sich nach der Veröffentlichung von Schillers Antrittsvorlesung unter dem Verfassernamen „Friedrich Schiller, Professor der Geschichte in Jena" entzündete und damit endete, daß Schiller seinen „Irrthum" bekannte und sich künftig „Prof. der Philosophie" zu nennen verpflichtete; dazu auch Seeba, Historiographischer Idealismus? (wie Anm. 5), 229 ff., der freilich nicht sieht, daß sich „Philosophie" hier nicht auf das Fach, sondern auf die Fakultät bezieht. 18 NA, Bd. 20, 53 ff. 19 NA, Bd. 25, 387. 20 NA. Bd. 24., 143 u. SW, Bd. 4., 1054.
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Wir kommen aber zunächst noch einmal auf die universalhistorische Debatte im ganzen zurück. Sie ist von Epoche zu Epoche vielstimmig, zeigt am Schluß ein völlig anderes Bild als am Anfang, verläuft dabei aber immer in gemeinsamen Bahnen; es gibt bestimmte Universalien, durch die sie, über alle Differenzen hinweg, als Einheit erscheint. Das Erste ist, daß sie durch ihren Ursprung bestimmt bleibt: das ist das Bestreben, an der Stelle der unzeitgemäß gewordenen christlichtheologischen Universalgeschichte einen Neubau zu errichten, der den Anforderungen eines durch die Aufklärung hindurchgegangenen Vernunftgeschmacks genügt; selbst als sich in der Debatte antiaufklärerische Motive geltend machen, wird dieses Grundmotiv nicht in Frage gestellt. Das Zweite ist, daß die Debatte, von ihrem Ursprung her, nicht nur um die gleichen Probleme kreist, sondern zugleich auch durchgängig gleiche Problemlösungen bietet. Es handelt sich um drei Probleme: um den Zweck, den Stoff und die Form der Universalgeschichte. Man stimmt darin überein, daß die Universalgeschichte der Bildung zum Menschen zu dienen habe: sie soll sich - jenseits geographischer, politischer, gesellschaftlicher, religiöser Zurechnungen - an den Menschen als Gattungswesen richten und ihn damit seine vornehmste Bestimmung erkennen lassen. Einigkeit besteht daher weiterhin darüber, daß der Stoff der Universalgeschichte die Geschichte der Menschheit als Gattung sei: die über alle Räume und Zeiten sich erstreckende Zivilisationsgeschichte der Menschheit, in der sich die Gattung fortgesetzt ausprägt; das dazu erforderliche riesige Material soll durch historisch-kritische Quellenforschung erhoben werden. Das Formproblem, auf das die ganze Debatte zuläuft, hat eine subjektive und eine objektive Seite, die einander entsprechen: es handelt sich um die Formierungsleistung des Universalhistorikers und um die Form, in der sich danach die Gattungsgeschichte der Menschheit darbietet. Es herrscht Konsens, daß der Universalhistoriker eine doppelte Leistung vollbringen müsse: er soll einerseits nach einem konstruktiven Plan und damit philosophisch, andererseits nach den Quellen und damit empirisch verfahren. Das Ergebnis ist überall eine Fortschrittsgeschichte der menschlichen Zivilisation: eine Gattungsgeschichte, die der Erfüllung des Gattungszwecks zustrebt. Oft erhebliche Differenzen entstehen im Ablauf der Debatte erst dann, wenn es um die jeweilige Konkretisierung oder Präzisierung dieser Problemlösungen geht. Es scheint zweckmäßig, daß wir die Betrachtung Schillers sowie Schlözers, Kants, Humboldts auf diese Universalien beziehen. Der eine wie die anderen richten sich nach ihnen, gestalten sie in ihren universalhistorischen Konzepten so oder so aus, können an ihnen gemessen und verglichen werden. Schiller erfüllt alle Positionen mit einem Freiheitsgedanken, der auf Selbsttätigkeit, eigenes Handeln, Autonomie zielt: der Mensch bringt sein ganzes Dasein aus sich selbst hervor; er wird in allem, was ihn betrifft, sein eigener Gesetzgeber; er bestimmt sich selbst; er erweist damit seine Moralität, seine Vernunft, seine Humanität. Es ist bezeichnend, daß Schiller die fiktive Urgeschichte „nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" dazu benutzt, diesen Gedanken zu begründen: im Gegensatz zur christlich-theologischen Universalgeschichte. Der „Sündenfall" er-
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scheint jetzt als „die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte4'21: der „Übergang des Menschen zur Freiheit und Humanität" 22 ; der Aufbruch des Menschen „zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit, wo er dem moralischen Gesetze in seiner Brust ebenso unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte" 23 ; „erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins" 24 ; der beginnende Aufstieg „zur Selbstherrschaft". 25 Schiller verharrt dabei freilich keineswegs in der bloßen Antithese, sondern läßt „den Fall des ersten Menschen" gelten: „denn der Mensch wurde aus einem unschuldigen Geschöpf ein schuldiges".26 Seine Pointe ist gerade, dass erst der Fall den Aufstieg, erst die Schuld die Moralität, erst die Auflehnung die Freiheit des Menschen ermöglicht. Der Mensch bleibt auch in der Folgezeit in „einen langen lasterreichen, noch jetzt nicht geendigten Kampf verwickelt: „aber in diesem Kampfe allein konnte er seine Vernunft und Sittlichkeit ausbilden". 27 Schiller beendet seine fiktive Urgeschichte mit einem weiteren Beispiel für diese Dialektik: mit der „Entstehung des ersten Königs" aus einem Akt gewaltsamer Usurpation 28, der „Ordnung" aus der „Unordnung". 29 Schillers Lösung der einschlägigen universalhistorischen Probleme ist von diesen Prämissen her bestimmt. Er setzt den Zweck der Universalgeschichte in die Beförderung einer Menschenbildung, die mit Bildung zur Freiheit oder Bildung als Freiheit gleichbedeutend ist: sie leitet die Menschen dazu an, „sich als Menschen auszubilden"30 und damit sich selbst zu bestimmen; sie „führt so das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber". 31 Dieser Bildungsbegriff schließt aus, daß die Universalgeschichte ein unmittelbar anwendbares Handlungswissen liefert; eine solche „historia magistra vitae" ist mit Selbstbildung und Freiheit unvereinbar. Die Universalgeschichte soll vielmehr auf eine formale Bildung der Kräfte gerichtet sein, die zu einer eigenen Entscheidungs- und Handlungsmacht befähigt: „Licht wird sie in Ihrem Verstände und eine wohltätige Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Ebd., 769. Ebd., 767. Ebd., 768. Ebd., 769. Ebd. Ebd. Ebd., 770. Ebd., 783. Ebd., 780. Ebd., 750.
31 Ebd., 765.
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des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern." Sie klärt zugleich die geschichtlichen Grundlagen der heutigen Weltverfassung, der neuesten Weltlage32 und damit den Standort, der unser Handeln in der Gegenwart bedingt; ein Handeln ohne diese Erklärung wäre orientierungslos, blind, unfrei. Der Stoff der Universalgeschichte umfaßt für Schiller demgemäß „die ganze moralische Welt" 33 , das reiche „Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit" 34 . Auch ihm kommt es auf „alle Zustände, die der Mensch erlebte" 35 , an: auf die Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Er begreift darunter, von „den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens" an 36 , sämtliche Erscheinungsformen der Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur, alle Kontinente, alle Epochen von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart; eine kritische Quellenforschung hat diesen „Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstände" zur Verfügung zu stellen. 37 Aber die „Zustände" interessieren Schiller nicht um ihrer selbst willen, sondern allein als Gelegenheit, Material, Resultat menschlicher Selbstbestimmung: „Wie viele Schöpfungen der Kunst, wie viele Wunder des Fleißes, welches Licht in allen Feldern des Wissens, seitdem der Mensch ... das kostbare Vorrecht errungen hat, über seine Fähigkeit frei zu gebieten" 38 ; „alle diese Wunder der Kunst, diese Riesenwerke des Fleißes sind aus ihm herausgerufen worden" 39 . Die Geschichte der Zivilisation besteht in Akten oder Szenen dieser Schöpferkraft, in der Selbsthervorbringung der Menschheit; sie ist innere Geschichte der Freiheit. Schillers Lösung des Formproblems ist alledem genau entsprechend. Es entspricht zunächst Schillers Bildungsbegriff, daß er der konstruktiven Leistung des Universalhistorikers größtes Gewicht beimißt, daß er geradezu die Wissenschaftlichkeit der Universalgeschichte von dessen Vermögen abhängig macht, über ein bloßes „Aggregat von Bruchstücken" 40 hinauszugelangen: zur Bildung durch die Universalgeschichte gehört, daß der Universalhistoriker diesem „Aggregat von Bruchstücken" eine Form verleiht und damit seine eigene Form ausprägt. Der „philosophische Verstand" ermächtigt ihn dazu, „das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen zu erheben". 41 Schiller denkt zunächst an die kausale Erklärung historischer Ereignisse gemäß der „Methode, nach der Analogie zu schließen"42; dieses analogisierende Verfahren ergibt sich ihm aus 32 Ebd., 762. 33 Ebd., 749. 34 E b d . , 767. 35 Ebd., 749. 36 Ebd., 760. 37 Ebd., 762. 38 Ebd., 756. 39 Ebd., 758. 40 Ebd., 763. 41 Ebd. 42 Ebd., 764.
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„der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts" 43 . Er läßt aber die kausale Erklärung schließlich in einem finalen Erklärungsmuster aufgehen, das er auf das Verlangen des „philosophischen Geistes" zurückführt, „alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren: Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte".44 Dieses Prinzip kann, „unter dem geliehenen Lichte des Verstandes" 45, kein anderes sein als das Prinzip der Freiheit, auf das „seine eigene vernünftige Natur" als ihren Zweck gerichtet ist: der „philosophische Geist" überträgt die Bestimmung zur Freiheit, die er in sich selbst vorfindet, auf die Weltgeschichte. Diese transzendentale Grundlegung der Universalgeschichte soll allerdings die Geltung empirischer Erkenntnis nicht außer Kraft setzen. Schiller widerrät eine „vorschnelle Anwendung dieses großen Maßes", warnt davor, „den Begebenheiten Gewalt anzutun", erklärt, „daß eine Weltgeschichte nach letzterm Plane in den spätesten Zeiten erst zur erwarten steht". 46 Er versteht diesen „Plan" also eher als einen hypothetischen Entwurf für fortgesetzte empirische Arbeit; die kritische Quellenforschung bietet dazu die materiale Grundlage. Die historische Erkenntnis erscheint damit insgesamt als ausgesprochen dynamisch: sie wird Tätigkeit, Forschung, ein dauernder Prozeß, dadurch selbst in allen ihren Momenten ein Akt der Bildung und der Freiheit. Folgerichtig hat die Schillersche Universalgeschichte nach der objektiven Seite die Form einer Fortschrittsgeschichte der Freiheit. Der Fortschritt durchläuft „die mannigfaltigsten Stufen der Bildung", erreicht von Epoche zu Epoche „eine höhere Stufe der Bildung" 47 , strebt schrittweise „zur Vollkommenheit"48, kulminiert einstweilen in der Gegenwart, in der ein „menschliches Jahrhundert" heraufgezogen ist. 49 Sein Sinn ist die unaufhörliche Steigerung des Bewußtseins, das die Menschen von ihrer Bestimmung zur Freiheit haben; seine Stufen oder Epochen kennzeichnen den Weg des Menschen „von einem Triebe, den er selbst noch nicht kannte", bis „zur moralischen Freiheit", eine „Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird". 5 0 Dabei liegt es in der Konsequenz von Schillers Freiheitsgedanken, daß dieser Fortschritt niemals an ein äußeres Ziel kommen kann, daß vielmehr immer eine Zukunft bleibt, der die Menschen zustreben: als Inbegriff unseres auf immer neue Erfüllung oder Vervoll43 44 45 46
Ebd., 763. Ebd., 764. Ebd. Ebd., S. 765, 47 E b d . , 754 f. 48 E b d . , 769. 49 Ebd., 766. 50 Ebd., 768 f.
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kommnung drängenden Freiheitswillens, der sich niemals auf bestimmte „Zustände" fixieren läßt. Der Fortschritt der Freiheit ist daher ein Selbstzweck, die Wirklichkeit der Freiheit selbst: „dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung" 51. Eine weitere Konsequenz ist, daß diese Fortschrittsgeschichte nicht in einer geradlinigen Kontinuität verläuft, sondern durch Gegensätze, Kämpfe, Katastrophen hindurchgeht. Nach dem „Sündenfall" gibt es nur einen „gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit" 52 : die Freiheit muß sich von Epoche zu Epoche gegen Widerstände durchkämpfen oder durchsetzen; der beständige Kampf ist sozusagen die notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit. Schillers primäres Interesse gilt geradezu diesem Kampf selbst, in dem sich ihm die Freiheit in ihrer höchsten Potenz offenbart. Er sieht jedes Zeitalter und alle Zeitalter in ihrer Abfolge vor allem durch Widersprüche oder Antagonismen beherrscht: die „barbarische" Vorzeit bietet die „Kindheit" der Menschengattung53; Griechenland und Rom erreichen eine „Höhe des politischen Wohlstands" und damit der Kultur 54 , ohne sich „zu vortrefflichen Menschen" zu erheben 55; im Mittelalter herrscht eine „gesetzlose stürmische Freiheit" 56 ; die Hinwendung der Renaissance zu „griechischen und römischen Mustern" entspringt einer „übertriebenen Bewunderung des Altertums" 57 ; die Gesetzgebungswerke der Antike führen aus der Gesetzlosigkeit der Vorzeit heraus 58, die „gesetzlose stürmische Freiheit des Mittelalters" aus der „Einförmigkeit" des römischen Kaisertums 59 , die Renaissance, wie auch die Reformation, aus der „Torheit und Raserei" des Mittelalters. 60 Das alles sind Kämpfe, die die Freiheit gegen ihre Gegner ausficht: Kämpfe, ohne die sie nicht gedacht werden kann, gegen Gegner, aus denen sie damit ihre Rechtfertigung gewinnt. Man erkennt unschwer, daß Schiller auch seine beiden großen Geschichtswerke nach dieser Dialektik ausführt. „Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung" soll „die Gründung der niederländischen Freiheit" darstellen. 61 Die Einleitung in das ursprünglich auf mehrere Bände berechnete Werk legt den ganzen Nachdruck auf die außerordentliche Schwere des Freiheitskampfes: „Hartnäckig und ungewiß ringt mit dem Despotismus die Frei51 Ebd., 815. 52 Ebd., 769. 53 Ebd., 754 u. 757. 54 E b d . , 760. 55 E b d . , 845. 56 Ebd.; dazu exemplarisch die Geschichte der normannischen Eroberung Siziliens und Unteritaliens, die Schiller in der „Universalhistorischen Übersicht der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten zu den Zeiten Kaiser Friedrichs I." gibt (ebd., 874 ff.). 57 Ebd., 760 u. 766. 58 Ebd., 818. 59 Ebd., 757 u. 845. 60 Ebd., 759 u. 844. 61 Ebd., 33. 14 Muhlack
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heit" 6 2 ; die „lange Dauer" des Krieges wird ausgemalt.63 Ein Hauptmoment ist dabei, daß die Niederländer keineswegs von vornherein ein klares Programm für ihre Befreiung besitzen, sondern sich erst im Laufe des sich fort und fort steigernden Kampfes selbst, durch ganz andere „Leidenschaften" hindurch, dazu durchringen. 64 Die niederländische Freiheit wird durch den Kampf oder als dieser Kampf: das ist das Generalthema des Werks. Es ist durchaus verständlich, daß es Schiller schließlich bei der Abfassung eines einzigen Bandes beläßt: diese „Einleitung zu der eigentlichen Revolution" 65 führt vor, welcher Herausforderungen und Antriebskräfte es bedarf, damit „ein friedfertiges Fischer- und Hirtenvolk" 66 den Weg zum Freiheitskampf beschreitet; Schillers Thema ist hier gewissermaßen exemplarisch abgehandelt.67 Ein gleiches Muster begegnet in der „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs". Sie soll die Entstehung eines europäischen Systems freier Staaten und damit einer dauerhaften europäischen Friedensordnung gerade aus den entsetzlichen Greueln dieses Krieges evident machen: „Aber Europa ging ununterdrückt und frei aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum erstenmal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte; und diese Teilnehmung der Staaten an einander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen" 68. Auch hier ist der Durchgang durch die Katastrophe, der Durchbruch einer neuen Ordnung in Exzessen der Unordnung das Entscheidende. Das ist ein Grund, warum sich Schiller vorzugsweise in der ersten Hälfte des Krieges aufhält, die zweite Hälfte nur knapp resümiert und den Westfälischen Frieden, das Ziel des Ganzen, dieses „interessanteste und charaktervolleste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft" 69, lediglich im allerletzten Absatz gerade einmal erwähnt; die turbulente Folge spektakulärer Ereignisse vom Beginn des böhmischen Aufstands bis zur Ermordung Wallensteins steht ihm für die historische Bedeutung, die er dem Krieg überhaupt zuspricht. Ausschlaggebend für sein danach einsetzendes Desinteresse ist freilich die Tatsache, daß „Gustav Adolph und Wallenstein, die Helden dieses kriegerischen Dramas, von der Bühne verschwunden" sind und damit „die Einheit der Handlung" verlorengegangen ist 7 0 : die Verwandlung seines historiographischen in ein poetisches Thema, der die „Einheit" dieser Geschichtsdarstellung zum Opfer fällt. 62 Ebd., 37. 41. 64 Ebd., 44 f. 65 Ebd., 29. 66 Ebd., 35. 67 Schieden Schiller als Historiker (wie Anm. 5), dem die Schillersche Dialektik verborgen bleibt, sieht fälschlich im Verlauf der Darstellung „das Licht dieser Vernunft von dem Sturm der Ereignisse, der Leidenschaften und Triebe immer mehr ausgelöscht" (37): „So wird die Geschichte von ihrem Kurs abgedrängt, das Ziel der Freiheit bleibt unerreicht" (42). 68 SW, Bd. 4, 366. 69 Ebd., 745. 70 Ebd., 1050. 63 E b d . ,
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Schillers Fortschrittsgeschichte der Freiheit hat einen dualistischen Grundzug. Es gibt zwei Zwecke und damit zwei Träger dieser Geschichte, zwischen denen jeweils ein Verhältnis der Über- und Unterordnung herrscht. Der „Zweck der Menschheit"71 ist der Zweck der Weltgeschichte insgesamt: die Freiheit des Menschen; „die stille Hand der Natur" 72 , „die Vorsehung" 73, „die große Hand der Vorsicht" 74 kennt ihn und führt ihn aus. Als „eignen Zweck" 75 bezeichnet Schiller demgegenüber den besonderen Zweck jeder Epoche, jeder Nation, jedes Individuums, jeder historischen Erscheinung: die Leidenschaften, Absichten, Handlungen der ganz in bestimmten geschichtlichen Situationen befangenen Menschen. Der „Zweck der Menschheit" kommt vor dem „eignen Zweck": er liefert den „allgemeinen Maßstab"76, an dem die besonderen Zwecke gemessen werden; er bezeichnet das Ziel, auf das sie sich beziehen lassen müssen. Diese Teleologisierung wird noch verschärft durch eine Zweck-Mittel-Relation: „der Zweck der Menschheit" verwirklicht sich kraft der besonderen Zwecke; die „Vorsehung" bedient sich der Menschen, um sie an ein Ziel zu führen, das ihr allein bekannt ist; das ist Schillers „List der Vernunft". Daraus resultiert eine doppelte Mediatisierung der historischen Zeitalter: sie werden zuletzt nicht an ihrem eigenen Maßstab, sondern an einem ihnen transzendenten Maßstab gemessen; sie arbeiten zuletzt nicht für sich selbst, sondern für die „Folgewelt". 77 Sofern der Fortschritt der Freiheit einstweilen in der Gegenwart kulminiert, ist sie das Ziel, von dem her diese Mediatisierung geschieht: „Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen, haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt". 78 Andererseits treffen wir bei Schiller wiederum auf bemerkenswerte Ansätze zur Relativierung, wenn nicht gar Aufhebung dieses Dualismus. Zunächst gilt, daß der „Zweck der Menschheit" und der „eigene Zweck" im Zeichen des Schillerschen Freiheitsgedankens zusammenrücken: die Freiheit des Menschen, die der „Zweck der Menschheit ist", steckt als ein seit Anbeginn der Weltgeschichte immanent wirkendes Prinzip untrennbar in den jeweiligen Leidenschaften, Absichten, Handlungen, die der jeweils „eigene Zweck" sind. Dem entspricht, daß die „Vorsehung", die den „Zweck der Menschheit" ausführt, weniger eine über- oder außermenschliche Macht ist, als vielmehr eine Metapher für jene in allen „eignen Zwekken" sich durchhaltende Grundbestimmung des Menschen. Die teleologische Abstufung der beiden Zwecke wird damit ebenso fragwürdig wie die Mediatisierung der historischen Zeitalter, die sich aus ihr ergibt. Der „allgemeine Maßstab" liegt 71 72 73 74 75 76 77 78 14*
Ebd., 814 f. Ebd., 766. Ebd., 768. Ebd., 787. Ebd., 814. Ebd., 815. Ebd., 767. Ebd., 766.
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den besonderen Zwecken immer schon voraus; das Ziel, das er bezeichnet, ist eine in ihnen selbst angelegte dynamische Richtung, die sich jeder Festlegung auf einen statischen Endzustand entzieht. Die „Vorsehung" bedient sich der Menschen dadurch, daß diese, gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung zur Freiheit, alles durch sich selbst schaffen. Die historischen Zeitalter erhalten daher ein hohes Maß an Eigentümlichkeit oder Einzigartigkeit: die Universalgeschichte wird „eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten, die mit gleich heiterm Blick alles übersieht". 79 Der Fortschritt der Freiheit summiert sich aus Epochen, die jeweils weithin singulären Charakter besitzen und dabei untereinander in konkreten Wirkungs- oder Sukzessionszusammenhängen stehen, also gleichermaßen Zweck und Mittel sind: „Die großen Epochen in der Geschichte verknüpfen sich zu genau miteinander, als daß die eine ohne die andre erklärt werden könnte" 80 . Schiller kann der Universalgeschichte das Recht zugestehen, die Vergangenheit am Maßstab der Gegenwart zu messen; aber er kann auch die Neigung tadeln, eine Epoche, wie die der Kreuzzüge, mit einem „Auge, das die Gegenwart begrenzt", zu betrachten: „Betrachten wir aber diese Begebenheit im Zusammenhang mit den Jahrhunderten, die ihr vorhergingen, und mit denen, die darauf folgten, so erscheint sie uns in ihrer Entstehung zu natürlich, um unsere Verwunderung zu erregen, und zu wohltätig in ihren Folgen, um unser Mißfallen nicht in ein ganz andres Gefühl aufzulösen". 81 Wenn man von Schiller auf Schlözers „Vorstellung seiner Universal-Historie" 82 zurückblickt, glaubt man sich in eine andere Welt versetzt. Die Universalien sind die gleichen, aber die Unterschiede bei ihrer Ausgestaltung so diametral, daß Schiller mit seinem Konzept der Universalgeschichte kein anderes Ziel zu verfolgen scheint, als das Schlözersche zu erledigen. Schlözers Konzept gibt ein pragmatisch-utilitarisches Bild des Menschen zu erkennen: eine Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit oder Zufriedenheit, die sich in bestimmten äußeren Verhältnissen vollendet. Sofern darin die Freiheit des Menschen vorgesehen ist, handelt es sich um ein Vermögen, das seine Anstöße von außen empfängt und wiederum nach außen gerichtet ist: „Tausend Kräfte schlummern in ihm, und werden ewig schlummern, wenn nicht Anlässe sie vom blossen Können zum Wirken rufen" 83 . Die „Anlässe" oder „Triebfedern" und damit Zwecke, die sich ein Volk setzt, sind auf ein Ideal aufgeklärter Zivilisation hingeordnet: sie „liegen theils in der Beschaffenheit seines Landes, und der Menge 79 Ebd., 765. so Ebd., 851. 81 Ebd., 844. 82 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/73). Hrsg. v. Horst Walter Blanke, Hagen 1990; dazu Ursula A.J. Becher, August Ludwig v. Schlözer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 7, Göttingen 1980, 7 ff.; dies., August Ludwig von Schlözer - Analyse eines historischen Diskurses, in: Bödeker / Iggers / Knudsen / Reill (Hrsg.), Aufklärung (wie Anm. 4), 344 ff. 83 Schlözer, Vorstellung (wie Anm. 83), 6.
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seiner Bürger, theils in seiner Staatsverfassung, in seiner Gesetzgebung nach allen Zweigen der Politik, in seiner Cultur, in Sitten, Religion, und Wissenschaften, und in seiner Industrie im Landbau, Handel, und Manufacturen". 84 Schiller setzt eine solche Betrachtungsweise „der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge" gleich, von der er seine Hörer „entwöhnen" will 8 5 : „Gerade der ärgste und drückendste Despotismus"86. Der Schlözersche Pragmatismus geht problemlos mit einer eher moderaten Einstellung gegenüber den Grundbegriffen der christlichtheologischen Universalgeschichte zusammen. Der Mensch ist für Schlözer „dieser mächtige Untergott" 87 , hat also noch Gott über sich; selbst an dieser Stelle, die der Karlsschüler zustimmend zitiert 88 , wird eine prinzipielle Differenz erkennbar. Dazu paßt, daß Schlözer da, wo Schiller eine fiktive Urgeschichte „nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" schreibt, bestimmte Daten aus dem alttestamentarischen Bericht über den „langen Zeitraum" von „der Schöpfung bis zur Sündfluth" in einem faktisch-empirischen Sinne als „bekannt und brauchbar" ansieht.89 Diese pragmatisch-utilitarische Haltung schlägt auf alle Problembereiche der Universalgeschichte durch. Schlözer adressiert die Universalgeschichte an den „Weltbürger, den Menschen überhaupt" 90: sie soll ihm einen Vorrat an nutzbaren Kenntnissen übermitteln; der „lehrreichste" Teil ist die „Geschichte der Erfindungen, des Feuers, des Brodtes, des Brannteweins etc." 91 ; dieser Zwecksetzung ist die historische Standortbestimmung der Gegenwart zugeordnet 92. Die didaktischpragmatische Geschichtsauffassung der historia magistra vitae bleibt damit herrschend; mit ihr verbindet sich die Absicht, die Menschen „zur Anbetung desjenigen Wesens" hin zu führen, „das unsichtbar die Schicksale der Menschen in langen Ketten hält". 9 3 Der Stoff der Universalgeschichte ist durchaus eine äußere Zivilisationsgeschichte: die Zustände, Institutionen, Errungenschaften, die „Cultur des menschlichen Geschlechtes"94, die Zivilisierung der menschlichen Verhältnisse. Auch der Schlözersche Universalhistoriker steht vor der Aufgabe, „das Aggregat zum System" umzuschaffen 95, und weiß sich dabei von der „philosophischen Neugier" angetrieben 96; aber er soll doch von „Hypothesen und Visionen" abse84 Ebd., 21. 85 SW, Bd. 4, 765. 86 W, Bd. 1,40. 87
Schlözer, Vorstellung (wie Anm. 83), 10. NA, Bd. 20, 55. 89 Schlözer, Vorstellung (wie Anm. 83), 88. 90 Ebd., 30 f. 88
91 92 93 94
Ebd. Ebd., 3. Ebd., 26 u. 38. Ebd., 33.
95 Ebd., 19. 96 Ebd., 2.
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hen 97 und die „blossen Facta" bieten, die „von kritischem Schweise" herrühren. 98 Schlözer richtet sein „System" nach dieser empiristisch-positivistischen Grundeinstellung ein; seine Einteilungsformen folgen eher technisch-praktischen Bedürfnissen, etwa dem Bedürfnis, Epochen mit möglichst gleichen Jahreszahlen zu bilden und damit unserem chronologischen Gedächtnis zu Hilfe zu kommen. 99 Das Ergebnis ist ein ziemlich äußerliches oder lockeres Arrangement von historischen Tatsachen. Die Hauptlinie bildet die sukzessive „Veredlung" der Verhältnisse 100, aber Schlözer kennt auch die Möglichkeiten der Stagnation und der „Verschlimmerung" 1 0 1 : „Woher der Fortgang des einen, der Stillstand des andern, der Rückfall des dritten Volkes?" 102 ; die mögliche Verknüpfung dieser Phänomene bleibt außer Betracht. Gott und „Untergott" stehen sich als festumrissene Potenzen gegenüber; zu „den wunderbaren Wegen der Vorsehung" gehört, daß sie „freie Geschöpfe wie Maschinen zu Werkzeugen" benutzt, um ihre „Absichten" zu verwirklichen. 103 Ansätze zur Überwindung oder Milderung dieses Dualismus gibt es nicht. Demgegenüber spricht es Schiller selbst aus, daß sein Konzept in allen wesentlichen Hinsichten auf der Geschichtsphilosophie Kants beruht. 104 Er meldet Körner im August 1787, daß „mich die Idee über eine allgemeine Geschichte ausserordentlich befriedigt hat" 1 0 5 , und als er 1790 seine Vorlesung „über die erste Menschengesellschaft" an die Öffentlichkeit gibt, nennt er ausdrücklich den Kantischen Aufsatz „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" als „Veranlassung" zu seinen „Ideen". 1 0 6 Auch bei Kant steht der Gedanke der Freiheit oder Selbstbestimmung des Menschen oben an: „daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat" 1 0 7 . Auch ihm scheint es passend, diesen Gedanken durch eine fiktive „Darstellung der ersten Menschen97 Ebd., 42. 98 Ebd., 25. 99 Vgl. ebd., 59 f. 100 Ebd., 1. 101 Ebd., 2. 102 Ebd., 7. 103 Ebd., 37 f. 104 Immanuel Kant , Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht u. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: ders., Politische Schriften. Hrsg. v. Otto Heinrich von der Gablentz. Köln/Opladen 1965, 9 ff. u. 48 ff.; dazu Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1984, 86 ff. u. 93 ff. 105 NA, Bd. 24, 143. 106 sw, Bd. 4, 1054. 107 Kant, Idee (wie Anm. 105), 12.
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geschichte" gemäß der „heiligen Urkunde" auszuführen 108 und damit ostentativ von der christlich-theologischen Universalgeschichte abzurücken: der Ausgang aus dem Paradies läßt den Menschen „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit" treten, auch in dem Sinne, daß „die Geschichte der Freiheit vom Bösen" anfängt. 109 Die Universalgeschichte dient „der inneren Bildung der Denkungsart" 110: sie soll die Menschen dazu ermutigen, daß „ein jeder an seinem Teile, so viel in seinen Kräften steht" 111 , dazu beiträgt, die Bestimmung des Menschen zur Freiheit zu verwirklichen. Ihr Gegenstand ist die „Zivilisierung", aber im Hinblick auf „die Idee der Moralität". 112 Der Uni Versalhistoriker hat „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen" 113; als „ein philosophischer K o p f muß er dazu „einen Leitfaden apriori" entwerfen 114: eine Strukturierung der Weltgeschichte, die seinen Vernunftanspruch erfüllt. Kants Lösung ist, daß er den Zweck des Menschen, Freiheit, zum Zweck der Menschheitsgeschichte erklärt. Allerdings soll dieser „Leitfaden" die empirische Forschung keineswegs erübrigen, sondern im Gegenteil ermöglichen, sich auch selbst an den empirischen Befunden messen lassen, sogar von vornherein bis zu einem gewissen Grade empirisch fundiert sein: „es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte". 115 Das Kantische „System" ist mit einem „Fortschritte" gleichbedeutend, der „vom Schlechteren zum Besseren" führt 116 : mit einem „Fortschreiten zur Vollkommenheit" 1 1 7 , das in der Gegenwart eine „höhere Stufe der Verbesserung" erreicht hat. 118 Das äußere Ziel ist die „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden Gesellschaft" im Innern und nach außen 119 , aber nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur uneingeschränkten Verwirklichung der Freiheit, die niemals als abgeschlossen gedacht werden kann. Der Weg zu diesem Ziel führt durch fortgesetzte „Mühseligkeiten" 120 , die jeweils im Zeichen eines „Antagonism" stehen; Kant faßt ihn als „die ungesellige Geselligkeit der Menschen" 121 , als Herausforderung des Freiheitswillens durch die Widerstände, die die Menschen bei ihresgleichen finden. los Ebd., 49 u. 54. 109 Ebd., 54 f. HO
Ebd., 19.
in Ebd., 63. 112 Ebd., 19. 113 E b d . , 22. 114 Ebd., 23 f. 115 Ebd., 24. 116 Ebd., 63. i n Ebd., 54. Iis Ebd., 23. 119 Ebd., 14. 120 Ebd., 12 u. 62. 121 Ebd., 13.
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Es gibt einen Dualismus zwischen der „Naturabsicht" oder „Vorsehung" 122 und der „eigenen Absicht" der Menschen 123 ; die Völker gehen, „indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen, unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fort" 1 2 4 ; Kant findet es dabei befremdlich, „daß die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben" 125 . Aber alle diese Entgegensetzungen scheinen wiederum durch immanente Ansätze abgemildert: „die Naturabsicht" ist die innere Bestimmung der Menschen selbst; ihre Realisierung ist ganz in den Handlungen der Menschen beschlossen; die Mediatisierung der „älteren Generationen" hat insofern eine Grenze, als im Gesamtverlauf der Weltgeschichte jede Generation ihr eigenes, unverwechselbares, singuläres Werk vollbringt. Allerdings wird Schiller trotz dieser Übereinstimmungen kein Kantianer im schulmäßigen Sinne. Der Hauptunterschied resultiert daraus, daß Kant sich mit einer abstrakten Kategorienlehre für eine mögliche Universalgeschichte zufrieden gibt, während es sich für Schiller um den Versuch einer historiographischen Konkretisierung handelt. Kant überläßt es der „Natur", einen Mann hervorzubringen, der imstande ist, sein Konzept auszuführen: einen Kepler oder Newton der Geschichtsschreibung. 126 Dagegen stellt Schiller sein Konzept für und durch seine eigene historiographische Praxis auf; er prätendiert sozusagen, ein solcher Kepler oder Newton zu sein. Er demonstriert damit die Möglichkeit, die Kantischen Kategorien in ein konkretes historiographisches Vorhaben umzusetzen. Andererseits sieht er sich im Zuge dieses Vorhabens genötigt, der konkreten Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Welt in einem Ausmaß gerecht zu werden, das die Kantischen Kategorien gewissermaßen zur Disposition stellt, ohne den transzendentalen Grundansatz selbst zu berühren; auch Kant hält freilich eine solche Revision grundsätzlich durchaus für denkbar. Wir blicken zuletzt auf Humboldt 127 , um an ihm die Wirkungsgeschichte des Schillerschen Konzepts zu exemplifizieren, und erkennen gleichermaßen Übereinstimmungen wie Gegensätze: eine Entwicklung über Schiller und Kant hinaus, die gleichwohl von ihnen ausgeht. Ein deutlicher Abstand zu Kant und Schiller tut sich in den späteren Schriften zur Universalgeschichte und Geschichtstheorie auf, wie etwa in der Abhandlung 122 Ebd., 10 u. 23. 123 Ebd., 10. 124 Ebd. 125 Ebd., 12. 126 Ebd., 10. 127 Dazu Ulrich Muhlack, Fortschritt und Geschichte, in: Neue Hefte für Philosophie 20, 1981, 124 ff.; ders., Zum „Verstehen" im frühen Historismus. Ein Diskussionsbeitrag, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Methode (Theorie der Geschichte, Bd. 5), München 1988, S. 227-232.
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„Über die Aufgabe des Geschichtschreibers" 128; Humboldt äußert darin stellenweise auch direkte Kritik an der Geschichtsphilosophie Kants oder in Kantischer Manier. Seine zentrale Kategorie ist die der Individualität, unter die Individuen, Nationen, Sprachen, kulturelle und rechtliche Zustände, überhaupt individuelle, partikulare, besondere Phänomene befaßt sind. Sie alle bestimmen sich selbst, sind unablässig bestrebt, „ihrer inneren eigenthümlichen Natur äusseres Daseyn zu verschaffen" 129 ; sie sind Inbegriff der menschlichen Freiheit und damit Inbegriff des Menschen überhaupt: im Gegensatz zu Kant und Schiller, die derartige Phänomene allgemeinen Begriffen von menschlicher Freiheit und Menschheit nachordnen. Humboldt bezieht damit zugleich eine äußerste Gegenposition gegenüber dem „Begriff einer die Weltbegebenheiten lenkenden Vorsehung" in der christlich-theologischen Tradition. 130 Zweck der Universalgeschichte ist danach die individuelle Bildung: die Universalgeschichte dient dazu, „die Fruchtbarkeit zu neuen, lebendigen geistigen Erzeugungen immer zu erhalten" 131 ; sie lehrt die „Schöpfungskraft des menschlichen Charakters" 132 ; sie belehrt „mehr durch die Form, die an den Begebenheiten hängt, als durch sie selbst" 133 . Ihr Stoff ist „die Summe des Daseyns" 134 : die „Entwicklung eines Reichthums großer individueller Formen" 135 , „was auch ihr Gegenstand seyn möge" 1 3 6 ; „Cultur und Civilisation" 137 , aber als Ausdruck vielfältigen individuellen Lebens. Die Form der Universalgeschichte ergibt sich durch „eine vorhergängige, ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object" und durch eine daraus resultierende „Assimilation der forschenden Kraft und des zu erforschenden Gegenstandes"138: durch ein Zusammenwirken von „Spéculation, Erfahrung und Dichtung", wobei „Spéculation" und „Dichtung" der „Erfahrung" untergeordnet sind 1 3 9 ; der Historiker setzt seine Individualität in „Wechselwirkung" mit dem individuellen Gepräge der Weltgeschichte, statt, wie „die sogenannte philosophische Geschichte, angedichtete Absichten" in Ansatz zu bringen, „man mag sie auch aus dem Wesen des Menschen und der Natur selbst ableiten wollen". 1 4 0 Humboldt verwirft daher die „teleologische Ge128
In: W, Bd. 1. 585 ff.; die beiden anderen hier herangezogenen Schriften: Betrachtungen über die Weltgeschichte u. Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte, in: ebd., 567 ff. u. 578 ff. 129 W, Bd. 1,603. 130 Ebd., 579. 131 Ebd., 571. 132 Ebd., 582. 133 Ebd., 590. 134 Ebd., 587. 135 E b d . , 576. 136 Ebd., 590. 137 Ebd., 575. 138 Ebd., 588 u. 596 f. 139 Ebd., 687. 140 Ebd., 575, 595 f. u. 597.
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schichte", die er zuerst bei Kant „systematisch und abstract" dargelegt findet: „dies Suchen nach Endursachen", das den Begebenheiten ein Ziel fortschreitender „Vervollkommnung" vorschreibt. 141 Er faßt dagegen die Form der Universalgeschichte zunächst einmal nicht extensiv, sondern intensiv: als die Form der Individualität selbst, die er in einer Typologie „der schaffenden Kräfte" ausarbeitet. 142 Sie ist Fortschritt, insofern diese Kräfte auf ihre jeweilige Selbstentfaltung, Selbstbildung, Selbstbestimmung gerichtet sind: Fortschritt einer Individualität zu sich selbst. Humboldt kennt allerdings auch einen extensiven Fortschritt in der Weltgeschichte; aber er konstruiert ihn nicht vom Ende, sondern von der inneren Dynamik der Individualitäten her. Eine Individualität braucht, um sich auszubilden, die Berührung oder Auseinandersetzung mit anderen Individualitäten, steht daher mit der Vergangenheit und der Zukunft in einem Bedingungs- oder Verursachungszusammenhang, fügt sich damit in einen immer nach vorne gerichteten Prozeß ein: „wie in der Individualität das Geheimniss alles Daseyns liegt, so beruht auf dem Grade der Freiheit, und der Eigenthümlichkeit ihrer Wechselwirkung alles weltgeschichtliche Fortschreiten der Menschheit". 143 Sofern es überhaupt ein äußeres Ziel der Weltgeschichte gibt, kann es nur „die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellenden Idee" der Individualität „seyn, nach allen Seiten hin, und in allen Gestalten, in welchen sich die endliche Form mit der Idee zu verbinden vermag". 1 4 4 Aus diesem Konzept sind alle Dualismen verbannt: der allgemeine Zweck der Weltgeschichte ist der eigene Zweck aller Individualitäten; die „Weltregierung", von der Humboldt gelegentlich spricht 145 , ist die Bestimmung des Menschen zur Individualität; jede Individualität trägt ihren Wert in sich selbst, hat ihre eigene Vollkommenheit, „weil das Individuum seinen Gipfelpunkt immer innerhalb der Spanne seines flüchtigen Daseyns finden muss" 146 : im Gegensatz zur „teleologischen Geschichte", die alles „dem Begriff eines idealen Ganzen" subsumiert. 147 Die durchgängige Entgegensetzung gegen Kant und Schiller kann freilich nicht verdecken, daß Humboldt auf einer Grundlage steht, die er mit ihnen gemeinsam hat. Die Humboldtsche Individualisierung ist offenkundig eine Fortentwicklung oder Radikalisierung des Kantisch-Schillerschen Freiheitsgedankens, das Humboldtsche Konzept der Universalgeschichte daher ohne das Kantisch-Schillersche nicht zu denken. Genauso wie das Prinzip der Selbstbestimmung sich darin erfüllt, daß alles Individuelle sich selbst bestimmt und damit Freiheit und Individualität identisch werden, erfüllt sich eine im Zeichen dieses Prinzips entworfene Univer141 Ebd., 567, 575 u. 596. 142 Ebd., 696 ff. 143 Ebd., 602. 144 Ebd., 605. 145 Ebd., 600 u. 604. 146 Ebd., 148. 147 Ebd., 596.
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salgeschichte in einem Konzept, in dem alles auf individuelle Bildung, individuelle Phänomene, individuelle Strukturen ankommt. Diese Entwicklung ist so zwingend, dass Kant und Schiller selbst, aus der inneren Logik ihrer Prämissen heraus, erste entscheidende Schritte dahin unternehmen. Vor allem Schiller, der ein konkretes historiographisches Vorhaben verfolgt, bahnt der Humboldtschen Wendung weithin den Weg. In demselben Maße, in dem er, über Kant hinaus, der konkreten Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Welt gerecht wird, nähert er sich einer individualisierenden Betrachtungsweise, fast ganz dort, wo er die Dualismen der „teleologischen Geschichte" relativiert, ja, im Grunde beseitigt. Die, freilich immer noch beträchtliche, Differenz zwischen Schiller und Humboldt läuft also auf verschiedene Grade der Konkretisierung und damit Individualisierung der Kantischen Kategorien hinaus. Es ist denkwürdig, daß Humboldt selbst diese Übereinstimmung mit Schiller noch in späten Jahren eigens hervorhebt. Seine 1830 erschienene Abhandlung „Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung" bietet auch eine Charakteristik des Historikers Schillers die dem eigenen historiographischen Programm Humboldts grundsätzlich entspricht. Er nennt im Blick auf Schiller das „Talent des Geschichtschreibers" mit dem „poetischen und philosophischen nahe verwandt: Schiller pflegte zu behaupten, dass der Geschichtsschreiber, wenn er alles Factische durch genaues und gründliches Studium der Quellen in sich aufgenommen habe, nun dennoch den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus zur Geschichte construiren müsse, und hatte darin gewiss vollkommen Recht, obgleich allerdings dieser Ausspruch auch gewaltig misverstanden werden könnte". 148 Er bezeichnet mit dieser Zusammenfassung der Schillerschen Erkenntnislehre jene Relation „zwischen dem Subject und Object", aus der sich ihm das Hauptstück seines Konzepts, die Form der Universalgeschichte, ergibt, und wenn er schließlich auch Kritik äußert, so deswegen, weil er zunächst zustimmt. Als Humboldt im März 1822 seine Rede „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers" Goethe übersendet, erklärt er die Abfassung dieses Textes geradezu „großenteils" aus seinem Nachsinnen über die Schillersche Position, die ihm früher „paradox" erschienen sei: dieses „Wort Schillers ist mir immer gegenwärtig geblieben und hat mir bei dieser Arbeit oft vorgeschwebt". 149 Allerdings läßt sich zeigen, daß Humboldt sich in diesem Sinne schon 1791 mit dem Historiker Schiller auseinandersetzt: in den „Ideen über Staatsverfassung" und in dem Fragment „Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte" 1 5 0 , in denen er zum erstenmal Probleme der Universalgeschichte und der Ge148 W, Bd. 2, 381 f. 1 49 Ludwig Geiger (Hrsg.), Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt, Berlin 1909, 255; dazu W, Bd. 5, 362 f. u. 422. 150 Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst. Aus einem Briefe an einen Freund vom August 1791 und Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. Bruchstück, in: W, Bd. 1, 33 ff. u. 43 ff.
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schichte überhaupt behandelt. Auch wenn hier gar nicht von Schiller die Rede ist, so wird doch eine Diskussion mit ihm erkennbar, die die Ausbildung des Humboldtschen Geschichtsdenkens entscheidend fördert, auch dadurch, daß Humboldt über Schiller einen Zugang zu der zeitgenössischen universalhistorischen Debatte erhält. Zunächst sind daraus die Auffassungen zu ersehen, die Humboldt mit Schiller teilt: der Freiheits- und Bildungsgedanke: „dass die Resultate an sich nichts sind, alles nur die Kräfte, die sie hervorbringen, und die aus ihnen entspringen" 151 ; „die Entwikklung der menschlichen Kräfte auf Erden" als Gegenstand der Universalgeschichte152; die konstruktive Leistung des Universalhistorikers gemäß „der eigenthümlichen Natur des menschlichen Geistes, der unaufhörlich das Allgemeine sucht, und das Einzelne in ein Ganzes zusammenzufassen strebt" 153 ; „die Summierung alles Einzelnen zu Einer grossen, unzertrennbaren Einheit" 154 , die der „Fortschritt der Kräfte" ist 1 5 5 ; die Dialektik, die jeweils „aus dem Uebel auch wieder das Heilmittel" entspringen läßt. 156 Andererseits stellt Humboldt schon hier seinen Individualitätsgedanken in den Vordergrund, nicht ohne die gegenüber dem Schillerschen Konzept gewissermaßen subversiven Konsequenzen zu ermessen oder anzudeuten. Er sieht es als unaufhebbaren Mangel unserer „Kenntniss der wirklichen Welt" an, daß sie bestrebt sei, „Individualitäten der Wirklichkeit in Allgemeinheiten der Ideen zu verwandeln" 157 , will aber wiederum diesen Mangel möglichst korrigieren. Er lehnt es ab, „Hypothesen an die Stelle der Wahrheit zu setzen, sich reiner Vernunftsäze und Schlüsse" zu bedienen, und führt demgegenüber „die Erfahrung" als „Lehrmeisterin" ein: „in einem Gebiete des Wissens, in dem nur die Kenntniss des Individuums der Wahrheit nähert, und jede allgemeine Idee immer gerade im Verhältniss der Menge der Individuen, von denen sie abgezogen ist, von derselben entfernt". 158 Beides, der Anschluß an Schiller wie die beginnende Abkehr, ergibt nicht einfach einen unvermittelten Kontrast, sondern eine in sich stimmige Position. Die Humboldtsche Individualisierung der Universalgeschichte vollzieht sich aus dem Kantisch-Schillerschen Konzept heraus. Fassen wir diese vergleichende Betrachtung in wenigen Stichworten zusammen: Schiller, Schlözer, Kant und Humboldt stehen in dem gemeinsamen Rahmen einer Debatte, in der sich bestimmte Universalien durchhalten. Es gibt, unter dieser Voraussetzung, eine grundsätzliche Differenz zwischen Schiller und Schlözer, eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Schiller und Kant und einen folgerichtigen Fortgang von Schiller-Kant zu Humboldt. 151 Ebd., 42. 152 Ebd., 51. 153 E b d . , 44. 154 Ebd. 155 Ebd., 54. 156 Ebd., 40. 157 Ebd., 54. 158 Ebd., 46.
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Was resultiert daraus für die Stellung Schillers zwischen Aufklärungshistorie und Historismus? Wir treffen zunächst eine Feststellung, die in der anhaltenden Kontroverse um die Bedeutung und die Abgrenzung dieser beiden „Paradigmen" unstrittig sein dürfte: daß nämlich Schlözer ein typischer Universalhistoriker der Aufklärung oder Spätaufklärung ist, während Humboldt, und zwar schon der junge, dem werdenden Historismus angehört. Beide führen dadurch, daß sie an einer einheitlich geregelten Debatte teilnehmen, einen Zusammenhang zwischen Aufklärungshistorie und Historismus vor. Schiller, der sich mit ihnen an dieser Debatte beteiligt, bezeugt also denselben Zusammenhang. Andererseits kann aus seinem Verhältnis zu Schlözer und Humboldt geschlossen werden, daß er sich von dem einen „Paradigma" entfernt, ohne schon das andere ganz zu erreichen: daß er also in der Tat beiden zuzuordnen oder zwischen beiden zu plazieren ist, daß er gewissermaßen den „Paradigmawechsel" selbst vollführt. Die Pointe ist freilich, daß er dabei Humboldt und damit dem Historismus näher steht als Schlözer und damit der Aufklärungshistorie. Der Kantische Einfluß bestätigt schließlich, daß aller Anlaß besteht, die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus schon in ihren Anfangen als Schule oder Vorschule des Historismus zu betrachten. Für die Beurteilung des „Paradigmawechsels" insgesamt ergibt sich aus dem Schillerschen Beispiel, daß wir jedenfalls unverändert auf einer scharfen Unterscheidung von Aufklärungshistorie und Historismus insistieren müssen und daß offenbar nichts dafür spricht, der ersteren im Verhältnis zum letzteren ein größeres oder auch nur gleiches Modernisierungspotential zuzubilligen. Eine Schlußbemerkung soll dieses Ergebnis von einer bisher eher indirekt oder partiell erwähnten Seite her bekräftigen. Sie betrifft die wissenschaftstheoretischen Grundbegriffe, aus denen Schiller in der akademischen Antrittsvorlesung sein Konzept der Universalgeschichte deduziert. Am Anfang steht die berühmte Unterscheidung oder Trennung zwischen dem „Brotgelehrten" und dem „philosophischen Kopf". 1 5 9 Diese „Kriegserklärung gegen den ganzen akademischen Betrieb" 1 6 0 , die gegenüber den bloßen „Brotstudien" das Vorrecht der Wissenschaften, „die den Geist nur als Geist vergnügen", geltend macht 161 , scheint zunächst lediglich den traditionellen propädeutischen Anspruch der artistisch-philosophischen Fakultät gegenüber den drei höheren, „berufsbezogenen" Fakultäten wiederherzustellen. Tatsächlich geht es Schiller um ein völlig neues Wissenschaftsverständnis, das, angefangen mit den artistisch-philosophischen Disziplinen, sich auf alle an der Universität gelehrten Fächer erstrecken soll: um Wissenschaft als Selbstzweck und damit als Bildung statt ihrer bisherigen Instrumentalisierung oder Funktionalisierung für äußere Zwecke; um Wissenschaft als Forschung statt, wie bisher, Tradition; um formale oder methodische Einheit der Wissenschaften statt 159 SW, Bd. 4, 750. 160
Richard Fester in: Schillers Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe. Bd. 13. Historische Schriften. Hrsg. v. Richard Fester, Erster Teil. Stuttgart / Berlin o. J., 298. 161 SW, Bd. 4., 750.
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der bisherigen materialen oder inhaltlichen Aggregierung. 162 Schiller gewinnt damit einen Ansatz, um seinen „Begriff der Universalgeschichte" 163 zu bestimmen. Das Vorrecht der Wissenschaften, „die den Geist nur als Geist vergnügen", gegenüber den bloßen „Brotstudien" bedeutet im Bereich der historischen Disziplinen das Vorrecht der Universalgeschichte gegenüber solchen Fächern, mit denen sich „alle noch so verschiedene Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen". 164 Schiller reflektiert damit zunächst die damals an den deutschen Universitäten übliche Aufteilung der Historie in Universalgeschichte einerseits, die zum Kernbestand der propädeutischen Ausbildung in der artistisch-philosophischen Fakultät gehört, und in theologische, juristische, politische Geschichte andererseits, die auch dann, wenn sie an dieser Fakultät betrieben wird, dem berufsvorbereitenden Unterricht dient. Aber er erfüllt seinen „Begriff der Universalgeschichte" zugleich mit seinem neuen Wissenschaftsverständnis und steigert ihn damit zum Inbegriff der Geschichte schlechthin, der auch jene Spezialhistorien einschließt. Die Geschichte wird in allen ihren Teilen eine selbständige Disziplin, die auf Forschung und Forschungsmethodik gegründet ist. Diese Verselbständigung der Historie, ein Grundzug der werdenden modernen Geschichtswissenschaft, hat bei einem Autor wie Schlözer kaum auch nur begonnen. Im Zeichen der „historia magistra vitae" bleibt die Universalgeschichte, wie die Historie überhaupt, Hilfswissenschaft mit der Aufgabe, ein nach fixen normativen Kriterien klassifizierbares Handlungswissen bereitzustellen: „eine Wissenschaft, die von ausgebreitetem Nutzen und sichtbarem Einfluß in die Psychologie, Politik, Naturkunde und andere Wissenschaften ist, denen sie zur Grundlage dienet" 1 6 5 . Ganz anders am entgegengesetzten Ende unserer Autorenreihe: Humboldt, der das Prinzip aufstellt, „Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen" 166 , und in diesem Geist die Gründung der Universität in Berlin ins Werk setzt, sieht auch die Geschichte als „eine freie, in sich vollendete Kunst" an 1 6 7 . Die Übereinstimmung mit Schiller ist deutlich, der Kantische Einfluß auch hier wirksam. Die Autonomie der Geschichtswissenschaft ist nicht zu trennen von dem „Paradigmawechsel" zwischen Aufklärungshistorie und Historismus.
162 Ebd., 750 ff. 163 Ebd., 754. 164 Ebd., 750. 165 Schlözer, Vorstellung (wie Anm. 83), 31. 166 w, Bd. 4, 257.
167 W, Bd. 1,588.
Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin Wer sich heute mit der Gründung der ehemaligen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin beschäftigt, darf angesichts einer kontinuierlichen und bis in die Gegenwart hinein gültigen Forschungstradition kaum noch auf neue Erkenntnisse hoffen. 1 Gerade die spezielle Thematik des nachfolgenden Beitrags, die Gründung der Universität Berlin aus der Sicht der Gründer, erscheint am wenigsten geeignet, der Forschung neue Wege zu weisen: das Problem ist wohlvertraut; die einschlägigen Quellen sind bekannt; alle relevanten Ergebnisse liegen vor. Was bleibt, ist allenfalls der Versuch eines kritischen Resümees, das vielleicht bestimmte Aspekte schärfer verfolgt und so möglicherweise zu einer gewissen Umstilisierung oder Umstrukturierung des Gesamtbildes gelangt. Für einen solchen Versuch gibt es andererseits durchaus Anhaltspunkte. Die Universität Berlin wird in der Literatur überwiegend gewertet als spezifische Schöpfung des neuhumanistisch-idealistischen Geistes, der in Wilhelm von Humboldt seinen genialen Vollstrecker gefunden habe. 2 In diesem Sinne werden Berliner Universität und Humboldtsche Uni-
Erstveröffentlichung in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 4), Nendeln 1978, 299-340. 1 Hier ist vor allem die anläßlich der jeweiligen Jubiläumsdaten erschienene Literatur zu nennen, von der alle weiteren Forschungen abhängen. Die wichtigsten Titel: Rudolf Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860; Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1 u. 4, Halle 1910; Rudolf Smend, Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (Göttinger Universitätsreden, Bd. 31), Göttingen 1961. Aus der übrigen reichhaltigen Literatur seien angeführt: René König, Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935 (Neudruck Darmstadt 1970); Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen (rowohlts deutsche enzyklopädie, Bd. 171/172), Reinbek 1963. Schließlich ist das Thema immer wieder eingehend auch in der Forschung über Wilhelm von Humboldt behandelt worden. Vgl. dazu neuerdings zusammenfassend Clemens Menze. Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens, Bd. 13, Hannover 1975; zwei ältere Titel: Otto Vossler, Humboldts Idee der Universität, in: Historische Zeitschrift 178, 1954, 251 ff. (und in: ders., Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Gesammelte Aufsätze, München 1964, 149 ff., danach im folgenden zitiert); Eberhard Kessel, Wilhelm von Humboldt und die deutsche Universität, in: Studium Generale 8, 1955, 409 ff. 2
Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 61: „Mit Humboldts Berufung war ein Wendepunkt erreicht ... Es gab keinen Charakter, in dem die seltene Vereinigung verschiedener Tugenden in höherem Maße vorhanden, mehr zu einem glücklichen Ganzen geworden wäre ... Für diesen Mann war diese Aufgabe ... Humboldt war Staatsmann und zugleich Mann der
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versität geradezu zu austauschbaren Begriffen; die übliche Fixierung des Gründungsdatums auf das Jahr 1810 liefert dafür den sinnfälligsten Beweis. Humboldt selbst leistet dieser Auffassung Vorschub, wenn er kurz nach seinem Ausscheiden aus der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts an Schweighäuser schreibt: „Etwas, was mir noch eigentümlicher als alles andere persönlich angehört, ist die Errichtung einer neuen Universität hier in Berlin". 3 Nun soll es sich i m folgenden keinesfalls darum handeln, den Anteil neuhumanistisch-idealistischen Denkens und insbesondere den Anteil Humboldts an der Gründung der Berliner Universität irgendwie zu schmälern. Daß zumal der Rolle Humboldts schlechthin kapitale Bedeutung zukommt, ließe sich nur um den Preis der völligen Verständnislosigkeit bestreiten. Gleichwohl scheint es geboten, den Blick stärker als früher auf die Tatsache zu lenken, daß der Humboldtsche Beitrag lediglich ein Moment in einem langwierigen Gründungsprozeß bildet, der vor Humboldt begonnen hat und auch nach Humboldt weitergeht. 4 Nur so ist es möglich, nicht nur die Humboldtsche Leistung selbst genauer zu bestimmen, sondern zugleich auch gewisse offensichtliche Widersprüche in der späteren Berliner Entwicklung zu verstehen.
Wissenschaft ... Unter der Einwirkung der deutschen Literatur und neuen Philosophie herangebildet, ward er selbst ein Führer der geistigen Bewegung". Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 220 bezeichnet die Berliner Universität als Humboldts „Schöpfung". Smend, Friedrich-Wilhelms-Universität (wie Anm. 1), 9 u. 12: „Wie in einem Brennpunkt sammelten sich hier die geistigen Kräfte von Idealismus, Klassik, Romantik und von neuen wissenschaftlichen Grundlegungen, um in das Gefäß der neuen Universität einzuströmen ... Humboldts Name ist zum Symbol des Wesens der deutschen Universität geworden, seine Gestalt zu der mythischen Figur im akademischen Raum ... Er hatte das Recht, die Universität sein persönliches Werk zu nennen". König, Wesen (wie Anm. 1), 151: Humboldt, „der spätere Begründer der Universität Berlin", repräsentiert jene „geistigen Strömungen . . . , aus denen das neue deutsche Universitätsideal entsprungen war". Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 46: „das Wollen des Kreises von Männern . . . , deren Wissenschafts- und Bildungsidee durch das ministerielle Wirken Wilhelm von Humboldts zum Zuge kommt". Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 154: „Humboldt ist nur wenig über ein Jahr Unterrichtsminister gewesen. In dieser kurzen Zeit hat er das ganze preussische Schulwesen, von der Völksschule bis zur Universität, die er gründete, in einem neuen Geiste gründlich und einheitlich reformiert". 3 Humboldt an Schweighäuser, 16. Juli 1810, in: Albert Leitzmann (Hrsg.), Wilhelm von Humboldts Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser (Jenaer Germanistische Forschungen, Bd. 25), Jena 1934, 48. 4 Ansätze zu dieser Betrachtungsweise finden sich schon bei Menze, der Humboldts Hochschulpolitik wie dessen Bildungspolitik überhaupt als bloße Episode bewertet (Bildungsreform [wie Anm. 1], 307 ff., 405 ff.). Wenn freilich Peter Berglar, in einer Rezension von Menzes Buch, „die Wilhelm-von-Humboldt-Tragödie" auf Humboldts Absage „an jeglichen Bezug, der auch nur von ferne die Existenz eines personalen Gottes, eines Du, eines Vaters unterstellen könnte", zurückführt und insoweit Humboldts Bildungsreform einen „Akt preußischer Donquichotterie" nennt, so ist nur schwer zu sehen, was dies zu einem angemessenen historischen Verständnis Humboldts und der preußisch-deutschen Bildungspolitik im 19. und 20. Jahrhundert beitragen soll, abgesehen davon, daß Berglar damit das kirchliche Vorurteil mancher preußischer Regierungskreise gegen Humboldt gewissermaßen wiederaufgreift (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. September 1976).
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Die Anfänge der Diskussion um eine Universitätsgründung in Berlin reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. 1784 druckt die Berlinische Monatsschrift, das Zentralorgan der Berliner Aufklärung, die „Briefe eines Fremden über Berlin" ab, in denen, soweit ersichtlich, dieses Thema zum erstenmal angeschlagen wird: „Eine eigentliche Universität ist hier nicht, wie sonst in großen Residenzstädten als Wien, Paris u. a. zu sein pflegt und auch leicht sein kann. Sollte sie nicht auch in Berlin einst entstehen? Man ist zum Teil hier selbst der Meinung, daß zwei Universitäten mitten im Lande des Königs zu viel sind und daß Halle und Frankfurt sehr wohl zu einer, dann sicher sehr vollkommenen, könnten zusammengeschlossen werden. Vielleicht geschieht es einst; dann fänd ich aber nichts natürlicher, als daß man eine neue in der Hauptstadt eröffnete". 5 Hier klingen Motive an, die in den späteren Planungen für Berlin wiederauftauchen werden: die besondere Eignung der Hauptstadt; die Möglichkeit einer Flurbereinigung im preußischen Hochschulwesen. Vorerst freilich finden derartige Überlegungen in der offiziellen preußischen Hochschulpolitik keinerlei Widerhall. Im Gegenteil: die preußische Regierung beginnt gerade damals einen ausgesprochen universitätsfeindlichen Kurs zu steuern, und sie hat dabei den Rückhalt großer Teile der aufgeklärten öffentlichen Meinung.6 Der friderizianische oder nachfriderizianische Staat stößt sich am korporativen Sonderstatus der Universitäten wie an der Ineffizienz des Universitätsbetriebes, der, wieder einmal, einer sterilen Gelehrsamkeit verfallen zu sein scheint. Er benötigt demgegenüber Hochschulen, die seiner ausschließlichen administrativen Gewalt unterstehen und zugleich seinen dringenden Bedarf an qualifizierten Fachleuten in allen Bereichen des von ihm gestalteten oder kontrollierten politisch-gesellschaftlichen Lebens befriedigen. Daß die Schaffung einer solchen Hochschule neuen Typs die Beseitigung oder Zerschlagung der alten Universitäten voraussetzt, wird immer deutlicher gesehen und immer unverhohlener einkalkuliert. Dahinter steht der Wille zu einer grundsätzlichen Revision der preußischen Bildungspolitik, wie er in dem Satz des Allgemeinen Landrechts zum Ausdruck kommt, daß Schulen Veranstaltungen des Staates seien.7 Allerdings bleibt die Wirklichkeit noch geraume Zeit hinter dem Anspruch zurück. Erst seit 1797, unter dem Minister Julius von Massow, setzen systematische Reform versuche ein. Etwaige Hoffnungen auf eine Universitätsgründung in Berlin scheinen nunmehr endgültig hinfällig angesichts der Tatsache, daß selbst die bereits existierenden Universitäten fortan ernsthaft in ihrem Bestand bedroht sind. Andererseits nimmt gerade Berlin in den hochschulpolitischen Plänen des Ministers eine zentrale Stellung ein; denn von 5
Berlinische Monatsschrift, Bd. 4, 1784, 461 ff., zitiert bei König, Wesen (wie Anm. 1), 206 f. 6 Vgl. hierzu vor allem ebd., 17 ff.; Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 20 ff.; Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 280 ff. 7 Der spezifische historische Stellenwert dieser Maxime bereits treffend gewürdigt bei Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, 3. Aufl. Tübingen 1965, 7, 13, 72. 15 Muhlack
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Berlin soll die vorgesehene Hochschulreform ausgehen. So kommt eigentlich erst jetzt die preußische Hauptstadt als möglicher Hochschulort richtig ins Gespräch.8 Massow ist einer der vier Justizminister und zuständig für das lutherisch-geistliche Departement, dem zugleich sämtliche Schul- und Hochschulangelegenheiten angeschlossen sind. Er tut zunächst alles, um die staatliche Schulaufsicht zu verstärken; sein spezielles Interesse am Hochschulwesen erhellt daraus, daß er 1801 das Oberkuratorium über die Universitäten, das seinem Ministerium bis dahin nur mittelbar unterstellt war, selbst übernimmt. Er konzipiert zugleich einen Generalschulplan, der jeden Unterricht, den niedrigsten wie den höchsten, allein auf das Prinzip des politisch-gesellschaftlichen Nutzens gründet. In diesem Konzept ist für Universitäten alten Stils kein Raun mehr; an ihre Stelle sollen vielmehr gewissermaßen Fachhochschulen für Ärzte, Juristen, Geistliche, Lehrer usw. treten. Freilich sind der organisatorischen wie damit der inhaltlichen Reform auch jetzt noch enge Grenzen gesetzt. Massow selbst rechnet insbesondere mit beträchtlichen Hindernissen bei der Realisierung seiner Hochschulpläne: „Aber die Ausführung dieser in thesi sehr richtigen Idee erfordert so viele Vorbereitungen zu einer solchen wichtigen Reform und möchte für jetzt so manche Schwierigkeiten in einem Staat, wo einmal Universitäten sind, finden, daß in den ersten fünfzig Jahren wir noch wohl die anomalen Universitäten werden dulden müssen."9 Immerhin ist Massow bereits jetzt beharrlich im Sinne seiner hoch schulpolitischen Vorstellungen tätig. Er kann dabei an den Umstand anknüpfen, daß in Preußen schon mehrere höhere Fachschulen existieren, die meisten davon in Berlin: so die Bergakademie, die Tierarzneischule, die zur Ausbildung der Militärärzte bestimmte Pepiniere, die Akademie der Künste, die Bauakademie und vor allem das 1724 gegründete Collegium Medico-Chirurgicum, ursprünglich ebenfalls zur Ausbildung der Militärärzte bestimmt, aber mittlerweile zu einer allgemeinen medizinischen Fachschule ausgeweitet. Es liegt daher insbesondere nahe, diese letztere Anstalt zur maßgeblichen medizinischen Fachhochschule in Preußen weiterzuentwickeln und damit dem System der Fachhochschulen im ganzen zum entscheidenden Durchbruch zu verhelfen. Eine Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Projekts bietet sich 1802, bei Bleibeverhandlungen mit dem angesehenen Hallenser Mediziner Reil, der Rufe an auswärtige Universitäten erhalten hat. In diesen Verhandlungen präsentiert Massow ein mögliches Modell für die zukünftige medizinische Ausbildung in Preußen, das ganz auf das Collegium Medico-Chirurgicum zugeschnitten ist. Er schlägt zunächst vor, die medizinischen Fakultäten in Duisburg und Frankfurt zu beseitigen und dafür die medizinischen Fakultäten in Halle und Königsberg besser auszustat8 Zum folgenden Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 36 ff. u. König, Wesen (wie Anm. 1), 49 ff. 9 Julius von Massow, Ideen zur Verbesserung des öffentlichen, Schul- und Erziehungswesens mit besonderer Rücksicht auf die Provinz Pommern, in: Annalen des preußischen Schul- und Kirchenwesens 1, 1805, 126 f., zitiert bei Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 43.
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ten. Außerdem regt er an, diese beiden noch verbleibenden Fakultäten auf den theoretischen Unterricht zu beschränken, während der praktische Unterricht fortan im Collegium Medico-Chirurgicum konzentriert sein soll. Es versteht sich im Hinblick auf sein utilitarisches Bildungsprogramm von selbst, daß er den praktischen Unterricht als den höheren ansieht. Er plädiert also für eine Lösung, bei der die medizinischen Fakultäten in Halle und Königsberg zu bloßen Vorschulen des Collegium Medico-Chirurgicum, d. h. der eigentlichen medizinischen Fachhochschle in Berlin werden. Es besteht durchaus Grund zu der Annahme, daß Massow die anderen Fakultäten auf Dauer ebenso behandelt wissen wollte wie die medizinische. Auch hier darf die Intention vermutet werden, jeweils zentrale Fachhochschulen in Berlin zu errichten und ihnen die Fakultäten in Halle und Königsberg, nach analogem Wegfall von Duisburg und Frankfurt, als Vorbereitungsanstalten vorzuschalten. Ob die Trennung von theoretischem und praktischem Unterricht für immer gelten sollte oder ob beabsichtigt war, schließlich auch den theoretischen Unterricht an die Fachhochschulen zu ziehen, mag offen bleiben. Aber auch so läuft das Massowsche Konzept auf eine vollständige Transformation des herkömmlichen Hochschulsystems hinaus, durch die zugleich Berlin in die führende Position unter den preußischen Hochschulorten einzurücken prädestiniert ist. Jedoch diese Transformation und damit der Aufstieg Berlins zum führenden preußischen Hochschulort finden nicht statt. Sogar die Teilregelung für den Bereich der Medizin scheitert. Das Fiasko bestätigt, wie gering der Spielraum für die Durchführung von Massows Reformversuchen ist. Dazu kommt die angespannte finanzielle Situation, die weitreichende hochschulpolitische Experimente nicht zuläßt, hauptsächlich aber die sich verschärfende außenpolitische Krise, die schließlich alle Energien beansprucht. Massow selbst wird nach der Katastrophe von 1806/07 entlassen, weil er sich durch Kollaboration mit Napoleon kompromittiert hat. Umgekehrt gibt diese Katastrophe dem Plan einer Hochschulgründung in Berlin wiederum stärkste Anstöße. Nach dem Frieden von Tilsit herrscht im preußischen Hochschulwesen akuter Notstand. Halle, die bis dahin erste Universität der Monarchie, ist verloren. Für diesen Verlust muß irgendwie Ersatz geschaffen werden. Frankfurt und Königsberg können die entstandene Lücke selbst bei größtmöglicher Förderung nicht schließen: Frankfurt, weil nur begrenzt ausbaufähig, Königsberg, weil geographisch ungünstig gelegen. In dieser Zwangslage, richten sich die Blicke immer mehr auf die Hauptstadt selbst. Abgesehen von der optimalen geographischen Lage gibt es hier bereits eine ganze Anzahl von wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich zur Grundlegung einer neuen Hochschule anstelle Halles eignen: neben den bereits erwähnten höheren Fachschulen, die 1806 noch um das Ackerbauinstitut erweitert worden sind, vor allem die Akademie der Wissenschaften und die ihr angeschlossenen Institute. Eine Hochschulgründung in Berlin scheint somit den raschesten Ausweg aus der eingetretenen Misere zu eröffnen. 15*
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Der erste konkrete lnstitutionalisierungsvorschlag geht von Halle selbst aus.10 Unter den dortigen Professoren entsteht der Wunsch, die Fridericiana als Ganzes in die Hauptstadt zu verlegen. Halle soll also gewissermaßen in Berlin wiedererstehen. Zu diesem Wunsch trägt auch bei, daß die Universität seit der französischen Besetzung suspendiert und ihre Wiedereröffnung höchst ungewiß ist. Für das Gros der Hallenser Professoren wird damit die Hoffnung auf Berlin geradezu zur Existenzfrage. Bereits im Sommer 1807 geht eine Deputation an den königlichen Hof ab, um dort den formellen Antrag zu stellen, „die Universität über die Elbe zu nehmen, wo kein Ort dafür schicklicher scheine als Berlin". 11 In der alsbald anberaumten Audienz findet der König darauf die kräftigen Worte: „Das ist recht, das ist brav! Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat". 12 Dieser Ausspruch scheint das allgemeine Motto für die nunmehr anlaufende preußische Reform anzugeben.13 Im Kontext bedeutet er zunächst einmal nichts anderes, als daß der König dem Vorschlag einer Hochschulgründung in Berlin prinzipiell zustimmt und sich damit allerdings durchaus im Einklang mit den allgemeinen Reformtendenzen befindet, die sich von vornherein auch auf den Bildungsbereich erstrecken. Sodann offenbart der königliche Ausspruch ein entschiedenes Festhalten an den bisherigen utilitarisehen Maximen der preußischen Hochschulpolitik und damit die Abneigung gegen die Errichtung einer Universität alten Stils: die geistigen Kräfte, das sind unzweifelhaft die vom Staat gerade jetzt benötigten Fachleute, wie sie die traditionelle Universität nicht liefern kann. Der König fügt daher unmißverständlich hinzu: „Die Universität Halle über die Elbe nehmen, könne unangenehme Verwicklungen mit der westfälischen Regierung bringen, es solle also vielmehr eine ganz neue Universität in Berlin gestiftet werden". 14 Dementsprechend verfügt die Kabinettsordre vom September 1807, eine allgemeine Lehranstalt in Berlin zu errichten; der Verzieht auf den Namen der Universität, verrät den Willen zur Neuerung. Die Errichtung dieser allgemeinen Lehranstalt soll in angemessener Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften geschehen. Zur Finanzierung sollen die ehemals für Halle verwendeten Mittel aus den General- und Provinzkassen dienen, soweit sie dem Staat noch zur Verfügung stehen. Zugleich ergeht die Aufforderung, sich derjenigen Professoren aus Halle und anderen Orten zu versichern, von denen der größte Nutzen für die neue Lehranstalt zu erwarten sei. 15
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Dazu Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 36 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 75 ff. 11 Theodor Anton Heinrich Schmalz, Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturinischen Chronik für das Jahr 1808, Berlin 1815,4, zitiert bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 37. 12 Ebd. 13 So z. B. Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 155. 14
Schmalz, 4, zitiert bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 37. Die Kabinettsordre vom 4. September 1807 abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 163. 15
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Diese Kabinettsordre ist adressiert an den Kabinettsrat Karl Friedrich Beyme: ihm wird die Einrichtung der Berliner Hochschule übertragen als demjenigen, der die Intention des Königs vollkommen kenne. In der Tat darf Beyme in der Umgebung des Königs als die treibende Kraft des Berliner Projekts angesehen werden; er ist es, der den König für den Empfang der Hallenser Deputation präpariert oder instruiert und schließlich die Kabinettsordre vom 4. September 1807 erwirkt. Beyme hegt den Plan einer Hochschulgründung in Berlin schon seit geraumer Zeit. Bereits im März 1802 läßt er, vielleicht durch die Aktivitäten des Ministers von Massow angespornt, den Aufklärungsliteraten Johann Jakob Engel eine Denkschrift hierzu ausarbeiten, in die wahrscheinlich auch seine eigenen Vorstellungen eingehen.16 Später verfolgt er das Projekt weiter. Wie Massow denkt Beyme von vornherein nicht an eine eigentliche Universität, sondern an ein Institut, das den in den Provinzen weiterexistierenden Universitäten übergeordnet sein soll. Aber sein Konzept für dieses Institut ist dem Massows in gewisser Weise genau entgegengesetzt. Massow will die Universitäten auf den theoretischen Unterricht und die Berliner Anstalt auf den praktischen Unterricht beschränken, der den Hochschulunterricht insgesamt krönen soll. Dagegen will Beyme die Universitäten den „Brotstudien", d. h. gerade dem praktischen Unterricht, vorbehalten, während er für Berlin eine „allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt" fordert, die unter Absehung von unmittelbaren praktischen Zwecken sich allein der Pflege der Wissenschaften im ganzen Umfang ihrer modernen Entwicklung widmet und lediglich den besten Universitätsabsolventen zum Abschluß ihrer Studien offen steht. Über den berufsbezogenen Universitäten soll sich sozusagen eine zur Lehranstalt fortentwickelte Akademie der Wissenschaften erheben. Daher der durchgängige Gedanke, das neue Institut mit der bestehenden Akademie der Wissenschaften zu verbinden.17 Diese unleugbare Diskrepanz zwischen den Plänen Massows und Beymes kann andererseits nicht über die Gemeinsamkeit der Grundeinstellung hinwegtäuschen. Auch Beyme tritt dafür ein, die neue Hochschule vom „Zunftzwang" der alten Universitäten zu befreien: er wünscht den Wegfall der universitären Gerichtsbarkeit; 18 er verlangt ein allmächtiges Kuratorium, das freilich, etwa in Berufungs16
Die Denkschrift datiert vom 13. März 1802 und ist abgedruckt ebd., 147 ff.; Auszüge in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, 3 ff. 17
So notiert Beyme an den Rand einer Denkschrift Wolfs vom 19. September 1807: „Die Göttingsche Einrichtung oder vielmehr der Geist derselben, ohne die eingeschlichenen Missbräuche, hat mir schon vor Jahren, als ich den ersten Gedanken an eine von allem Zunftzwang befreite allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt in der Residenz fasste, vorgeschwebt. Ich meinte aber und meine noch, daß eben deshalb die bisherigen Universitäten in den Provinzen für die sogenannten Brotstudien ihre abgesonderte Einrichtung würden behalten müssen". Die Denkschrift Wolfs mitsamt den Marginalnoten Beymes abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 166 ff.; die zitierte Stelle findet sich ebd., 169. Vgl. dazu auch Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 65 ff.; Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 51 ff.
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angelegenheiten, den Rat der Mitglieder der Lehranstalt einholen sollte 19 ; er erwägt sogar die Abschaffung der Fakultäten und der akademischen Würden. 20 Auch Beyme hält weiterhin unbeirrt am utilitarischen Prinzip fest. Zwar ist das Berliner Institut als „allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt" konzipiert. Aber die allgemeine wissenschaftliche Bildung verbleibt bei Beyme durchaus im Umkreis des politisch-gesellschaftlichen Nutzens; denn sie soll vorrangig bestimmte Qualifikationen vermitteln, die zumal der Beamte im Dienste des aufgeklärt-absolutistischen Staates benötigt: ausgebreitetes Sachwissen, Weltoffenheit, Liberalität, Eleganz. Die allgemeine wissenschaftliche Bildung ist also nur eine allgemeine Form der praktischen Bildung. Engel verweist daher auch, sicher im Sinne Beymes, auf „die Vorteile, welche der Staat unmittelbar gewinnt, wenn er kenntnisreichere, aufgeklärtere, gewandtere Diener in allen Fächern ansetzen kann". 21 Er bemerkt zugleich, daß Berlin der fabrikenreichste Ort des Landes sei und sich schon deswegen für die Errichtung der geplanten Lehranstalt eigne; 22 dazu kommt die Hoffnung auf vermehrte europäische Geltung des preußischen Staates.23 An solchen Stellen wird die militärische Zielsetzung handgreiflich. Erhellend ist schließlich, daß Beyme selbst ausdrücklich Göttingen als Vorbild für Berlin nennt, also diejenige Universität, die unter den damaligen deutschen Universitäten noch am ehesten den neuen politisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen 18 Dazu heißt es in der Engeischen Denkschrift: „Die eigene Gerichtsbarkeit, die auf Universitäten viel Unheil gestiftet hat, fiele hinweg; alle Mitglieder der Anstalt, Lehrer und Schüler, ständen unter dem Königlichen Kammer-, und davon abhängendem Hausvogteigerichte" (Köpke, Gründung [wie Anm. 1], 152). Beyme selbst meint in einer Randnote zu Wolfs Denkschrift vom 19. September 1807: „Eine eigentliche Gerichtsbarkeit ist den Universitäten nicht beizulegen, vielmehr alle Spezial-Gerichtsbarkeit abzuschaffen" (ebd., 172). 19 Laut Engel soll „die Aufsicht über das Ganze einem Kurator" übertragen werden, der dreierlei zu verbinden habe: eigene Gelehrsamkeit, humanes Betragen und allgemeinen wissenschaftlichen Blick; doch sollen ihn Mitglieder der Lehranstalt „bei Wiederbesetzung erledigter Stellen" beraten (ebd., 152 f.). 20 Vgl. Engel: „Akademische Würden möchte derjenige, der Lust dazu hätte, auf den sogenannten Universitäten suchen. Sie verlieren täglich mehr von ihrem vormaligen Ansehen und sind in mehrern Fakultäten bei uns schon ganz herunter Einen Rektor mit seiner eingebildeten hohen Würde und den akademischen vergoldeten Szeptern könnte man füglich entbehren" (ebd., 152); damit entfällt auch der hauptsächliche Rechtfertigungsgrund für die herkömmliche Fakultätsstruktur. Generell bemerkt Beyme zu Wolfs Denkschrift vom 19. September 1807, die für die neue Lehranstalt am Namen der Universität festhalten will: „Daß nur mit der alten Benennung nicht auch der alte Zunftmissbrauch wieder aufkomme" (ebd., 168). Dazu auch Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 67; Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 52. 21
Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 149. Ebd., 148. 23 Engel erwartet, „daß bald in die fremden umgebenden Staaten sich eine Menge ihm ergebener, mit dankbarer Liebe an ihn zurückdenkender Einwohner verbreitet", und meint damit nicht nur die angrenzenden deutschen Staaten, sondern ausdrücklich auch die „andern Nationen Europas" (ebd., 150). 22
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entspricht 24; auch Engel ruft nach einem zweiten Münchhausen.25 Die universitäre Organisation Göttingens selbst wird folgerichtig abgelehnt, auch gelegentlich auf die dort eingeschlichenen Mißbräuche abgehoben; was aber in Berlin Wiederaufleben soll, das ist der Geist der Göttinger Universität und damit der Geist der Universität der Aufklärung überhaupt. 26 Immerhin sind die Differenzen zwischen den Plänen Massows und Beymes so erheblich, daß die Vorstellungen Beymes während der Ministerschaft Massows nicht durchdringen und rein privat bleiben.27 Andererseits avanciert Beyme schon frühzeitig zum persönlichen Berater des Königs in Hochschulangelegenheiten. Er beeinflußt Massows Berufungspolitik, holt z. B. Schleiermacher nach Halle, und er zieht vor allem viele namhafte Gelehrte nach Berlin, die die allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt gleichsam vorwegnehmen, unter ihnen Fichte. Die auffällige Förderung Schleiermachers und Fichtes, die über ein aufklärerisch-utilitarisches Bildungsverständnis im Sinne Beymes längst hinaus sind, läßt die außerordentliche wissenschaftliche Toleranzbreite der Beymeschen Hochschulkonzeption erkennen; hier kann jedes Talent, sofern es nur dem Gang der Wissenschaften voranzutreiben verspricht, auf wärmstes Interesse rechnen. Jedoch erst nach dem Abgang Massows bekommt Beyme seine eigentliche Chance. Die Kabinettsordre vom 4. September 1807 gibt ihm alle Vollmachten, sein Projekt zu verwirklichen. Triumphierend schreibt er anderntags an Fichte: „Weder Gebrauch noch Mißbrauch, womit man auf alten Anstalten zu kämpfen hat, legen uns Fesseln an." 28 Auch ihn erfüllt jene enthusiastische Bereitschaft zu neuen Initiativen, die für den Anbruch der preußischen Reformperiode so überaus charakteristisch ist. Beymes erste Sorge geht dahin, entsprechend der Kabinettsordre die besten Gelehrten aus Halle und anderen Orten für das Berliner Projekt zu gewinnen. Noch 24 Siehe Beymes Verweis auf „die Göttingsche Einrichtung" bei der Durchsicht der Wolfschen Denkschrift vom 19. September 1807 (wie Anm. 17). 25
Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 152. Die obigen Ausführungen bedeuten eine gewisse Korrektur an der bisherigen Beurteilung Beymes. Seit Köpke gilt Beyme als ein Mann, der, von den Ideen der Aufklärung herkommend, gleichwohl bereits „durch die spätere philosophische Bildung und die neue deutsche Literatur" geprägt sei und insoweit Humboldt unmittelbar den Weg bereitet habe (ebd., 19 f.). Demgemäß kommt es Lenz vor allem auf den Nachweis an, daß Beymes Ideen „mit den Massowschen Plänen kaum etwas gemein haben" (Bd. 1, 69); Schelsky schließt sich dieser Meinung an (50 ff.). Dabei wird die spezifische Liberalität von Beymes Position, auf die weiter unten noch einzugehen ist, richtig gesehen, aber die prinzipiell unverrückbare aufklärerisch-utilitarische Grundhaltung Beymes verkannt oder unterschätzt. Verglichen mit Humboldt steht Beyme zusammen mit Massow durchaus in einer Front. Bereits daß Beyme seinen Berliner Hochschulplan von dem notorischen Aufklärer Engel konzipieren läßt, zeigt, wohin er eigentlich gehört. 27 Hierzu und zum folgenden vor allem Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 34, 63 f., 69 f. 28 Beyme an Fichte, 5. September 1807. Abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 164 f.; die zitierte Stelle S. 165. 26
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im September 1807 sendet er die Anfragen oder Einladungen an die Kandidaten seiner Wahl ab. 29 Seine Auswahl beschränkt sich neben Hallensischen Professoren aus finanziellen Gründen zunächst auf Berliner Gelehrte. Dabei handelt es sich um Gelehrte aus allen vier Fakultäten. Die bekanntesten sind der Jurist Schmalz aus Halle, die Mediziner Reil aus Halle und Hufeland aus Berlin, Direktor des Collegium Medico-Chirurgicum, die Theologen Niemeyer und Schleiermacher aus Halle, schließlich aus der philosophischen Fakultät Wolf aus Halle und Fichte aus Berlin. Diese Männer, durchweg ausgesprochene Koryphäen ihrer Fächer, repräsentieren maßgebliche wissenschaftliche Richtungen, vor allem solche, denen in Preußen und Deutschland die Zukunft gehört, wie Schleiermacher, der mit der Wiederentdeckung der Autonomie des religiösen Gefühls eine neue Epoche der Theologie eröffnet, Wolf, der aus dem Geiste des Neuhumanismus die Wissenschaft vom Klassischen Altertum neu begründet, und Fichte, der Wortführer der idealistischen Philosophie. Hier tritt erneut die spezifische Liberalität von Beymes Wissenschafts- und Hochschulkonzeption zutage, die sein Berliner Projekt von Anfang an kennzeichnet. Die Antworten der Ausgewählten fallen denn auch grundsätzlich allesamt positiv aus.30 Allein schon die Tatsache, daß Beyme die Angelegenheit betreibt, weckt allenthalben größtes Vertrauen. Mit diesem ersten Schritt verbindet Beyme sogleich einen zweiten, indem er fast alle der angeschriebenen Gelehrten auch dazu auffordert, Vorschläge zur Organisation der neuen Hochschule und zur Berufung weiterer Gelehrter zu unterbreiten. Freilich will er nur beraten werden, also die eigentliche Entscheidung durchaus selbst in der Hand behalten und handelt damit so, wie er es vom idealen Kurator verlangt. Die Anregung Wolfs, eine förmliche Gelehrtenkommission einzusetzen, findet daher keine Berücksichtigung. 31 Andererseits zeigt sich nach Eingang 29 Dazu Lenz. Bd. 1, 81 ff. Die Briefe Beymes an Schmalz, Fichte und Wolf abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 164 f. 30 Lenz, Bd. 1, 85 ff., 101 ff. Wolfs Antwort bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 16 ff. sowie Reils und Hufelands Antwort bei Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, 50 ff., 75 ff. abgedruckt, die letztere auszugsweise auch bei Weischedel (Hrsg.), Idee (wie Anm. 16), 16 ff.; Fichtes „Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt" ist an mehreren Stellen zugänglich, u. a. ebd. 30 ff. und in: Emst Anrieh (Hrsg.), Die Idee der deutschen Universität. Die Fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1956, 125 ff. 31 Wolf schlägt in der Denkschrift vom 19. September 1807 vor, „noch ein paar recht kundigen und wohlmeinenden Personen entweder einzelne Pläne zu entwerfen aufzutragen oder, was weit vorzüglicher wäre, dazu solche mit mir zu vereinigen", und nennt auch schon einige Namen (Köpke, Gründung [wie Anm. 1], 167, 169). Beyme meint zu diesen Namen: „Alle ganz gut" und scheint damit das Wolfsche Projekt insgesamt zu billigen (ebd., 169). Aber als er von seinem Mitarbeiter Nolte nähere Informationen über Wolfs Pläne erhält, stellt er klar: „Zwar müssen wir so viel Stimmen, als sich uns zu vernehmen geben wollen, hören, aber das Ganze muss von uns allein durchdacht und bearbeitet werden, weil sonst wohl ein Gemischtes, aber nicht ein Ganzes und Eines herauskommen möchte" (Beyme an Nolte, 18. Oktober 1807, zitiert bei Lenz, Geschichte [wie Anm. 1], Bd. 1, 91). Dazu auch ebd., 87; Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 154.
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der erbetenen Denkschriften, daß die Verfasser weithin prinzipiell mit Beymes Vorstellungen übereinstimmen und Unterschiede fast nur bei der Beurteilung von organisatorischen Detailproblemen, wie etwa hinsichtlich der gewünschten Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften, bestehen.32 So heißt Wolf gleich einleitend Beymes Konzeption ausdrücklich gut 33 und bewegt sich auch in der Folge ganz in Beymeschen Bahnen: er stellt die universitäre Gerichtsbarkeit gleichfalls in Frage 34, will die Fakultäten durch acht Sektionen, gewissermaßen Fachbereiche, ersetzen, nämlich Philosophie, Mathematik, Philologie, Geschichte, Theologie, Jurisprudenz, Naturwissenschaften, Medizin 35 , fordert eine durchgreifende Reform des Promotionswesens36 und möchte für die neue Hochschule am liebsten den Namen der Universität vermeiden, den er dann aber doch beibehält, da kein anderes Wort die Sache ausdrücke und kein anderes die fremden Studierenden herlocken werde 37 ; unter seinen Berufungsvorschlägen taucht erstmals auch Savigny auf. 38 Aus dem Rahmen fällt lediglich Fichtes „Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden Höhern Lehranstalt". Fichte teilt Beymes Abneigung gegen die alten Universitäten, geht aber in seinem Bestreben, die neue Hochschule rein aus dem idealistischen Wissenschaftsbegriff, d. h. aus der Fichteschen Philosophie selbst abzuleiten, wiederum qualitativ über Beyme hinaus. Die Vorbereitungen zur Gründung einer neuen Hochschule in Berlin sind also seit September 1807 in vollem Gange. Bald treten jedoch Schwierigkeiten auf, die das Beymesche Projekt bereits im nächsten Jahr fehlschlagen lassen.39 Dabei wirken äußere und innere Ursachen zusammen. Zunächst, noch im Dezember 1807, wird wider Erwarten die Universität Halle neu eröffnet: die meisten der nach Berlin berufenen Hallenser Professoren entschließen sich daraufhin, an ihrer alten Wirkungsstätte zu bleiben; nur Schmalz, Schleiermacher und Wolf halten an ihrer Zusage fest, der letztere allerdings erst nach einigem Zögern. Dazu kommen innerpreußische Gründe. Die neue Hochschule soll nach der Rückkehr des Hofes und der Regierung in die Hauptstadt eröffnet werden; aber die Fortdauer der französischen Besetzung Berlins und dann die prekäre außenpolitische Lage führen immer wieder zur Verschiebung des Rückkehrtermins und damit schließlich auch zu einer 32 Hufeland tritt z. B. für eine enge Verbindung oder Verschmelzung von Universität und Akademie ein {Lenz, Geschichte [wie Anm. 1], Bd. 4, 83 ff.), während Wolf auf dem grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden beharrt (Köpke, Gründung [wie Anm. 1], 168, 175). Vgl. Lenz, Geschichte, Bd; 1; Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 12, Berlin 1900. 565 ff. 33 Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 166: „Daß im ganzen meine Vorschläge mit Ew. Hochwohlgebornen eigenem Plane und einem von Engel zusammentreffen, war mir und wird andern eine gute Vorbedeutung sein." 34 Ebd., 172. 3 5 Ebd., 175. 3 6 Ebd., 176. 37 Ebd., 168. 38 39
Ebd., 170. Zum folgenden Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1,130 ff.
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Gefährdung des ganzen Hochschulprojekts. Ferner gibt es wachsende Spannungen zwischen Beyme und dem leitenden Minister Stein. Stein toleriert zwar durchaus den Berliner Plan, wenn er auch von der hauptstädtischen Atmosphäre verderbliche Auswirkungen auf das sittliche Verhalten der Studenten befürchtet: „Bedenken Sie, wieviel Bastarde das hier jährlich geben würde." 40 Aber er bekämpft in Beyme einen der Hauptvertreter des berüchtigten Kabinettssystems, das er für die Katastrophe von 1806 / 07 mitverantwortlich macht. Im Mai 1808 muß Beyme gehen: er verläßt das Kabinett und verliert zugleich seinen Berliner Auftrag, ohne daß ein Nachfolger bereitstünde. Das Projekt wird daraufhin zwar nicht förmlich widerrufen, faktisch jedoch suspendiert oder fallengelassen. Beymes Scheitern läßt sich freilich zumindest teilweise auch aus dem Widerstand erklären, der sich innerhalb des Wissenschafts- und Hochschulbetriebes selbst gegen die Berliner Pläne zu regen beginnt. Beymes entschiedener Erneuerungswille, der von den Formen der Vergangenheit weitgehend absehen zu können glaubt, stößt einmal auf das überkommene universitäre Zunftinteresse, etwa unter der Frankfurter Professorenschaft, die noch dazu die Berliner Konkurrenz fürchtet. 41 Er ruft aber auch anderswo Bedenken hervor. Schleiermacher gehört zu den wenigen nach Berlin berufenen Gelehrten, von denen sich Beyme seinerzeit keinen Organisationsplan erbeten hat. Er verfaßt aber Anfang 1808 auf eigene Hand „Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinne" und legt hier eine mögliche Alternative zu Beymes Konzept vor: ein durchaus Fichtesches Wissenschaftsverständnis, verbunden mit größtmöglicher Rücksicht auf die hergebrachte Universitätsstruktur. 42 Nach Beymes Rücktritt werden allerdings auch derartige Überlegungen gegenstandslos. Mit Beyme geht vielmehr vorerst der Plan einer Hochschulgründung in Berlin überhaupt unter. In dieser scheinbar völlig verfahrenen Situation setzt die Wirksamkeit Wilhelm von Humboldts ein. 43 Die Folge ist ein fast dramatischer Umschwung. Humboldt gelingt, was Massow und Beyme trotz aller Bemühungen versagt geblieben ist: der Übergang von der bloßen Planung zur Realisierung, die tatsächliche Grundlegung einer neuen Hochschule in Berlin. Mit Recht kann er am Ende seiner Amtszeit 40 Diese Äußerung Steins fällt in einer Unterredung mit Wolf im September 1807 in Berlin; ihre Überlieferung ebd., 130. Von Wolf selbst stammt eine Niederschrift über diese Unterredung, die vom 10. März 1808 datiert und bei Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, 94 ff., abgedruckt ist; darin heißt es: „ . . . ich habe im Oktober [sie] mit Stein hier über die Idee der Universität gesprochen. Nämlich er ließ mir durch Carsten sagen, daß er gern mit mir darüber spräche - gebärdete sich dann anfangs sehr hart dagegen, am Ende aber gab er nach, und nach Memel ist er, höre ich, ohne so grosse Abneigung gegen die Sache gekommen" (ebd., 96). 41 Vgl. Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 52 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 145 ff. 42 Abgedruckt in: Anrieh (Hrsg.), Idee (wie Anm. 30), 219 ff. sowie bei Weischedel (Hrsg.), Idee (wie Anm. 16), 106 ff. 43 Vgl. zum pragmatischen Ablauf von Humboldts Universitätspolitik vor allem Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 61 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 148 ff.
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behaupten, daß „die Gründung ohne meinen wiederholten Antrag vielleicht unterblieben wäre". 44 Humboldt erzielt diesen Durchbruch, weil er eine gänzlich andere Konzeption als seine Vorgänger vertritt und weil er, nicht zuletzt durch den offenkundigen Fehlschlag aller bisherigen Projekte begünstigt, für diese Konzeption wenigstens zeitweilig die volle Unterstützung von Hof und Regierung gewinnt. Humboldts Berliner Maßnahmen lassen sich zutreffend nur beurteilen auf dem Hintergrund seiner allgemeinen Bildungspolitik. Humboldt leitet seit Februar 1809 die Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im Innenministerium, eine im Zuge der Steinschen Verwaltungsreform vom November und Dezember 1808 neu geschaffene Behörde, die, neben anderen Funktionen, die oberste Kompetenz in allen Schulangelegenheiten besitzt.45 Sein hauptsächlicher amtlicher Auftrag geht dahin, eine durchgreifende Erneuerung des Bildungswesens vorzunehmen und damit jene pädagogischen Postulate einzulösen, die von vornherein in der Konsequenz der preußischen Reformbestrebungen liegen. Vorrangiges Ziel ist eine organisatorische und inhaltliche Unterrichtsreform: durch Aufrichtung einer einheitlichen staatlichen Bildungs Verwaltung und durch effektive Durchführung eines allgemeinen Schulplans.46 Diese Absichten entsprechen zunächst durchaus denjenigen, die seinerzeit bereits Massow verfolgt hat. Jedoch anders als Massow verfügt Humboldt an der Spitze der neuen Behörde über das zu ihrer Verwirklichung erforderliche Instrumentarium. Neu ist weiterhin vor allem Humboldts spezifischer inhaltlicher Ansatz. Der Massowsche Generalschulplan ist allein gegründet auf das Prinzip des politisch-gesellschaftlichen Nutzens, das auch die Hochschulpläne Beymes noch voraussetzen. Dagegen stellt Humboldt alles auf das Prinzip der allgemeinen Bildung ab: die Sektion „berechnet ihren allgemeinen Schulplan auf die ganze Masse der Nation und sucht diejenige Entwicklung der menschlichen Kräfte zu befördern, welche allen Ständen gleich notwendig ist und an welche die zu jedem einzelnen Beruf nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse leicht angeknüpft werden können" 47 Allgemeine Bildung heißt also Erziehung jedes Menschen zum Menschen, heißt Entfaltung der Kräfte, die jedem einzelnen innewohnen, und heißt damit Erziehung zur Selbstbestimmung. Das Prinzip des politisch-gesellschaftlichen Nutzens wird dabei keineswegs schlechthin bestritten, im Gegenteil: die Fä44
Humbold an Hardenberg, 12. August 1810, in: Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften (im folgenden zitiert als G. S.), Bd. 10, Berlin 1903, 287. 4 5 Dazu Spranger, Humboldt (wie Anm. 7), 69 ff.; Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 74 ff. Vgl. auch Ernst Müsebeck, Das Preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, Stuttgart/Berlin 1918, 31 ff. 46 Siehe den Generalverwaltungsbericht der Sektion vom 19. Mai 1809, wo Humboldt „die vollkommene Konstituierung der Sektion" und „die Entwerfung eines allgemeinen Schulplans als die beiden ersten Aufgaben seines Amts bezeichnet (G. S. [wie Anm. 44], Bd. 13, Berlin 1920, 218). Dazu Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 117 ff., 121 ff.; vgl. auch schon Siegfried A. Kaehler, Wilhelm Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, 2. Aufl. Göttingen 1963, 227 f. 47 Bericht der Sektion vom 1. Dezember 1809, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 205.
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higkeit zum nützlichen Handeln in Staat und Gesellschaft kann für Humboldt nur aus allgemeiner Bildung hervorgehen, während nach seiner Überzeugung eine lediglich utilitarische Bildung selbst ihren eingeschränkten Zweck verfehlt. Der Staat ist daher aus eigenstem Interesse verpflichtet, die Realisierung dieses Bildungsprogramms zu gewährleisten, und kann dazu alle administrativen Vollmachten beanspruchen, die freilich umgekehrt allein durch die Wahrnehmung dieser Aufgabe gerechtfertigt erscheinen. Die Übereinstimmung dieses Konzepts mit den pädagogischen Maximen von Neuhumanismus und Idealismus ist evident. Trotzdem handelt es sich hier um eine originäre Leistung Humboldts, die auf der folgerichtigen Objektivierung eines ganz persönlichen Bildungserlebnisses und Bildungsverständnisses beruht. 48 Den Gipfel des Humboldtschen Bildungssystems stellt die Universität dar. Die allgemeine Bildung, bis dahin lediglich Anleitung zum selbständigen Gebrauch der Kräfte, nimmt nunmehr die Form der Selbstbildung an und mündet damit in eigentliche Selbstbestimmung ein. 49 Gegenstand dieser Selbstbildung ist „die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes". 50 Die so verstandene Wissenschaft basiert auf dem Prinzip, „die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten", d. h. Wissenschaft immer wieder neu als schöpferischen Akt zu vollziehen.51 Dieses Prinzip gilt für alle Fakultäten und Fächer und begründet damit die Einheit der Wissenschaften und zugleich die Einheit der Universität. 52 Nur solche Wissenschaft kann zur Selbst48
Folgerichtig stellen Spranger, Humboldt (wie Anm. 7) und Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1) ihrer Analyse der Humboldtschen Bildungsreform eine Charakteristik von Humboldts Weltanschauung und Bildungstheorie auf dem Hintergrund seiner persönlichen Entwicklung voran. Vgl. auch Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 152 ff. 49 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1810, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 251: das Wesen der Universität besteht darin, „innerlich die objektive Wissenschaft mit der subjektiven Bildung, äußerlich den vollendeten Schulunterricht mit dem beginnenden Studium unter eigener Leitung zu verknüpfen oder vielmehr den Übergang von dem einen zum anderen zu bewirken". Dazu auch Königsberger und Litauischer Schulplan, 27. September 1809, in: ebd., Bd. 13, 261 f., 279 f., 50 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: ebd., Bd. 10,251. 51 Ebd., 253. 52 Vgl. ebd., 254: „Wird aber endlich in höheren wissenschaftlichen Anstalten das Prinzip herrschend: Wissenschaft als solche zu suchen, so braucht nicht mehr für irgend etwas anderes einzeln gesorgt zu werden. Es fehlt alsdann weder an Einheit noch Vollständigkeit". In analogem Sinne heißt es im Königsberger und Litauischen Schulplan: „Denn der Universitätsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissenschaft zu begreifen und hervorzubringen und nimmt daher die schaffenden Kräfte in Anspruch" (ebd., Bd. 13, 261). Einheit der Wissenschaften meint also für Humboldt nicht den äußeren Zusammenhang aller Disziplinen, sondern das ihnen allen gemeinsame Prinzip, „Wissenschaft als solche zu suchen", das sie alle auf „die schaffenden Kräfte" verweist. Auf dieses Prinzip ist zugleich Humboldts Begriff der Philosophie zu beziehen. Philosophie fällt für ihn nicht mit der Fach- oder Schulphilosophie irgendeiner Provenienz zusammen, und wenn er gelegentlich den Vorrang der Philosophie betont, handelt es sich demnach nicht um den Vorrang dieser
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bildung beitragen: „Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um". 5 3 Wo dagegen Wissenschaft lediglich als extensive Sammlung von nutzbaren Kenntnissen begriffen wird, „ist alles unwiederbringlich und auf ewig verloren". 54 Vielmehr hängt umgekehrt auch der Erwerb von nutzbaren Kenntnissen wie überhaupt der sachliche Fortschritt der Wissenschaften selbst von der aus dem Innern stammenden und ins Innere gepflanzten Wissenschaft ab. Demgemäß soll auch der Staat von den Universitäten „nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Überzeugung hegen, daß, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höhern Gesichtspunkte aus erfüllen". 55 Andererseits muß er gerade deswegen sicherstellen, daß die Universität den ihr eigenen Bildungsauftrag ausführen kann. Er hat alle notwendigen äußeren Formen und Mittel für eine angemessene Bearbeitung der Wissenschaften herbeizuschaffen; er hat insbesondere „zu sorgen für Reichtum (Stärke und Mannigfaltigkeit) an geistiger Kraft durch die Wahl der zu versammelnden Männer und für Freiheit in ihrer Wirksamkeit", also eine möglichst ausgewogene Berufungspolitik zu betreiben und den Wissenschaftsbetrieb vor äußerer und innerer Reglementierung zu bewahren. 56 Auch für diese Überlegungen gibt es durchweg Parallelen in zeitgenössischen Texten neuhumanistischer oder idealistischer Provenienz, etwa in den erwähnten Denkschriften Fichtes und Schleiermachers; aber auch hier bleibt die originäre Leistung Humboldts unverkennbar. 57 Humboldts Idee der Universität liefert eine neue Rechtfertigung für die überkommene Universitätsverfassung, bedeutet aber gleichzeitig eine grundsätzliche Abkehr „von allen veralteten Missbräuchen". 58 Wenn Humboldt dazu auffordert, Fach- oder Schulphilosophie vor den übrigen Wissenschaften oder auch der philosophischen Fakultät vor den anderen Fakultäten. Philosophie heißt für Humboldt vielmehr Wissenschaftlichkeit schlechthin und ist daher mit dem wahren Wesen jeder einzelnen Wissenschaft identisch. Dementsprechend schreibt Humboldt in der Denkschrift über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin: „Philosophie und Kunst sind es, in welchen sich ein solches Streben am meisten und abgesondertsten ausspricht. Allein nicht bloß daß sie selbst leicht entarten, so ist auch von ihnen nur wenig zu hoffen, wenn ihr Geist nicht gehörig oder nur auf logisch oder mathematisch formale Art in die anderen Zweige der Erkenntnis und Gattungen der Forschung übergeht" (ebd., Bd. 10, 254). Zu dieser Problematik hat es in der Forschung lange Zeit hindurch erhebliche Mißverständnisse gegeben: noch Schlesky, Einsamkeit (wie Anm. 1), unterstellt Humboldt einen Zug zur wissenschaftlichen Totalerklärung der Welt (86) unter der Anleitung der Philosophie, die sich freilich erst später zu einer Fachwissenschaft entwickelt habe (83). Vgl. aber demgegenüber Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 161 f.; Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 317. 53 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 253. 54 Ebd. 55 Ebd., 255. 56 Ebd., 254. 57 Dazu richtig Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 313 f.
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„die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten", wenn er weiterhin dem Staat geradezu ein Berufungsmonopol auferlegt, um ein solches Wissenschaftsverständnis wachzuhalten, dann spricht er auch ein Verdikt aus über die weithin statische Wissensvermittlung und die häufige doktrinäre Abkapselung des bisherigen Universitätsbetriebes. Vor allem die letztere läßt ihn immer wieder nach dem Staat rufen: „Die Ernennung der Universitätslehrer muß dem Staat ausschließlich vorbehalten bleiben, und es ist gewiß keine gute Einrichtung, den Fakultäten darauf mehr Einfluß zu verstatten, als ein verständiges und billiges Kuratorium von selbst tun wird". 5 9 Überhaupt möchte Humboldt die traditionelle universitäre Selbstverwaltung, wenn auch keineswegs gänzlich abschaffen, so doch möglichst beschneiden. Er nennt die Gelehrten „die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse - mit ihren sich ewig durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten, wo jeder meint, daß nur sein Fach Unterstützung und Beförderung verdiene". 60 „Gelehrte dirigieren ist nicht viel besser, als eine Komödiantentruppe unter sich zu haben".61 Alle Aussagen dieser Art kommen einer scharfen Kritik an Mißständen der alten Universität gleich. 62 Die Humboldtsche Kritik am hergebrachten Universitätsbetrieb stimmt in manchen Punkten mit den Ansichten Massows und Beymes und ihrer aufgeklärten Gesinnungsgenossen überein. Andererseits negiert Humboldts Idee der Universität auch und primär jene utilitarische Bildungs- und Wissenschaftsauffassung, wie sie Massow und Beyme in ihre Hochschulplänen vertreten. Humboldts Argumentation ist gewissermaßen eine einzige Polemik gegen diese Position, insbesondere seine Ablehnung einer auf nutzbare Kenntnisse fixierten Wissenschaft sowie seine Forde58 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, 24. Juli 1809, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 151. Im Entwurf vom 12./14. Mai 1809 schreibt Humboldt: „Alles sonst Veraltete und Nachteilige fällt natürlich hinweg" (ebd., 141). 59 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, ebd., 259. 60
Humboldt an Caroline, 22. Mai 1810, in: Anna von Sydow (Hrsg.), Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 3, Berlin 1909, 399. 61 Humboldt an Caroline, 16. November 1808, in: ebd., 19. 62 Zu einem entgegengesetzten Urteil, das zugleich die lange vorherrschende communis opinio zusammenfaßt, gelangt Smend, Friedrich-Wilhelms-Universität (wie Anm. 1); er kennzeichnet Humboldt geradezu als einen Befürworter der akademischen Selbstverwaltung, die bei ihm freilich eine neue Bedeutung angenommen habe: „Konstitutiv war daran die Eröffnung eines Raumes zur Selbstentfaltung des wissenschaftlichen Geistes, getragen von den dazu berufenen wissenschaftlichen Persönlichkeiten" (16). Daran ist soviel richtig, daß Humboldt, wie noch weiter unten zu zeigen sein wird, die herkömmliche akademische Selbstverwaltung möglichst respektiert hat. Aber Smend berücksichtigt nicht, daß Humboldts primäre Intention auf die Abstellung ihrer Mißbräuche und damit umgekehrt auf die Stärkung der staatlichen Position geht; die Beibehaltung bestimmter Formen der akademischen Selbstverwaltung hat demgegenüber nur taktische Bedeutung. Vgl. aber Schelsky, der die Humboldtsche Politik zutreffend als „Universitätsreform gegen die Universitätsselbstverwaltung" wertet (Einsamkeit [wie Anm. 1], 153 ff.).
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rung an den Staat, von den Universitäten nichts zu fordern, „was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht". Die Anknüpfung an den alten Namen und die alte Verfassung einer Universität selbst soll die utilitarische Konzeption der Hochschule, die zur Auflösung oder Mediatisierung der Universitäten tendiert, abweisen. Im Zuge dieses bildungspolitischen und speziell hochschulpolitischen Programms greift Humboldt das Projekt einer Hochschulgründung in Berlin wieder auf. Wenn die Hochschulen den Gipfel des Humboldtschen Bildungssystems darstellen, dann muß eine neue Hochschule in der Hauptstadt die beabsichtigte Bildungsreform nicht nur krönen, sondern auch wiederum paradigmatisch auf sie zurückwirken. Zugleich steht damit fest, daß es sich bei dieser Neugründung nicht um eine Fachhochschule im Sinne Massows, auch nicht um eine allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt im Sinne Beymes, sondern allein um eine Universität, allerdings um eine reformierte Universität, handeln kann. Denn ein solches oberstes Bildungsinstitut „könnte, von richtigen Ansichten allgemeiner Bildung ausgehend, weder Fächer ausschließen noch von einem höhern Standpunkt, da die Universitäten schon den höchsten umfassen, beginnen und endlich sich bloß auf praktische Übungen beschränken". 63 Humboldt grenzt an dieser Stelle, entsprechend der unterschiedlichen oder gegensätzlichen hochschulpolitischen Orientierung, sein Projekt ganz klar von den Projekten seiner Vorgänger ab. Allerdings teilt er, wenn auch mit anderer Begründung, die Ansicht Massows und Beymes, daß die neue Anstalt einen höheren Rang als die bestehenden Universitäten haben müsse. Die Berliner Hochschule soll „durchaus etwas anderes als eine bloße Landesuniversität" werden 64: sie soll vorzugsweise für die höhere und letzte Ausbildung bestimmt sein und gerade durch diese Bestimmung die ihr zugedachte paradigmatische Funktion erfüllen. 65 Zu diesen allgemeinen Beweggründen kommen noch weitere, sozusagen konkrete Motive, die Humboldt dazu veranlassen, die Gründung einer Universität in Berlin zumal in der gegebenen Situation zu betreiben. Auch Humboldt führt zunächst das pragmatische Argument an, daß es in Berlin bereits eine ganze Anzahl von wissenschaftlichen Einrichtungen gibt, „daß endlich, um zu diesen Bruchstükken dasjenige hinzuzusetzen, was zu einer allgemeinen Anstalt gehört, nur um einen einzigen Schritt weiter zu gehen nötig war". 66 Dieses Argument erhält bei ihm jedoch sogleich eine grundsätzliche Wendung durch den Hinweis, daß alle diese Einrichtungen „nur erst dann recht nützlich werden, wenn vollständiger wissenschaftlicher Unterricht mit ihnen verbunden wird" 6 7 , daß insbesondere die 63
Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 151. 64 Generalbericht an den König, 23. Mai 1810, ebd., 277. 65 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 151. Im Brief an Hardenberg vom 12. August 1810 meint Humboldt von der Universität Frankfurt: „Als Vorbereitungsort der Studierenden für Berlin wäre es sehr gut zu gebrauchen" (ebd., 288). 66 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 150. 6 Ebd.
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abgesonderte Existenz des Collegium Medico-Chirurgicum als höherer Fachschule „der echt wissenschaftlichen Bildung verderblich ist". 6 8 Zusätzlich motiviert wird Humboldt durch die politische Lage. Im Innern kann nach seiner Meinung die Errichtung einer Universität in der Hauptstadt einen stärkeren Zusammenhalt der Monarchie bewirken. 69 Nach außen gibt Humboldt die Maxime zu bedenken, „daß ein Staat wie ein Privatmann immer gut und politisch zugleich handelt, wenn er in einem Augenblick, wo ungünstige Ereignisse ihn betroffen haben, seine Kräfte anstrengt, irgend etwas bedeutend Wohltätiges dauernd für die Zukunft zu stiften und es an seinen Namen anzuknüpfen". 70 Die neue Berliner Hochschule soll also mithelfen, Preußen die durch die Katastrophe von 1806/07 verlorengegangene außenpolitische Reputation zurückzugewinnen. Schon aus diesem Grund besteht Humboldt, hier übrigens ganz ähnlich wie seinerzeit Wolf, auf dem Namen der Universität: nur dann könne das neue Institut die Aufmerksamkeit des Auslands erregen, nur dann auswärtige Studenten anziehen und nur dann damit auch das allgemeine Prestige des preußischen Staates erhöhen. 71 Schon aus diesem Grund darf die Berliner Universität aber auch keine bloße Landesuniversität sein. 72 Beide politischen Argumente sind ganz auf das Konzept der Reformer berechnet. Vor allem aber geht es Humboldt, wiederum in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den allgemeinen Reformtendenzen, um die Wirkung der neuen Berliner Universität auf Deutschland.73 Deutschland ist für Humboldt der Inbegriff „der gesamten deutschen Sprache und Literatur" 74 , der Inbegriff „der ganzen, dieselbe 68
Ebd.; vgl. auch den Entwurf zum Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd.,
141. 69 Ebd., 142 widerrät Humboldt für den Fall einer Universitätsgründung in Berlin eine Verlegung der Universität Frankfurt nach Breslau: „Jeder der drei Hauptteile der Monarchie hätte alsdann seine eigene Universität; die Einwohner eines jeden würden sich vorzugsweise zur ihrigen halten; was in Wissenschaft und Bildung das ganze Land vereinigen soll, trennte sich nach Provinzen, und es entstände eine gewiss nachteilige Einseitigkeit." Hier wird deutlich, daß Humboldt in seiner Hochschulpolitik immer auch den Gedanken der Staatseinheit im Auge behält, und es kann danach kein Zweifel daran bestehen, daß dies auch und gerade für seine Berliner Pläne zutrifft. 70 Generalbericht an den König, ebd., 277. 71 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 151. 72 Im Entwurf zum Generalbericht an den König schreibt Humboldt, es sei dann, wenn die Berliner Universität „durchaus etwas anderes als eine bloße Landesuniversität werde", „mit Grund vorauszusetzen, daß sie mit der Zeit und für die medizinische Fakultät in sehr kurzer Zeit der Sammelplatz aller derer werden wird, die auf ihre wissenschaftliche Bildung irgend mehr Mittel anwenden können. Russen, Franzosen und, wenn die Kommunikation wiederhergestellt ist, vorzüglich Engländer, die sonst sämtlich Göttingen zu besuchen pflegten, werden jetzt unstreitig Berlin den Vorzug geben" (ebd., 277). 73
Dazu insbesondere Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 157; Smend, Friedrich-Wilhelms-Universität (wie Anm. 1), 7. 74 Generalbericht an den König, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 277.
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Sprache redenden Nation". 75 Dieses Deutschland sieht er gegenwärtig in äußerster Gefahr: ein großer Teil wird „in fremder Sprache von fremden Gebietern beherrscht" 76, und damit droht der ganzen Nation „unausbleibliches Verderben". 77 Er befürchtet also die Vernichtung der deutschen Kultur durch die französische im Gefolge des napoleonischen Expansionismus und Imperialismus. Gegen diese Gefahr soll nach dem Willen Humboldts die neue Universität in Berlin ein Bollwerk bilden. Universitäten gelten ihm überhaupt als die vornehmsten Institutionen einer nationalen Kultur, denn in ihnen kommt alles zusammen, „was unmittelbar für die moralische Kultur der Nation geschieht".78 Unter allen schulischen Einrichtungen können umgekehrt sie allein auf die Bildung einer ganzen Nation einwirken. 79 Die spektakuläre Gründung einer neuen Universität in der preußischen Hauptstadt muß daher zu einer Konsolidierung der deutschen Kultur im Angesicht der französischen Herausforderung beitragen. Durch sie steht zu hoffen, daß „alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessiert", neuen Aufschwung erhält. 80 Eine solche Initiative ist um so dringlicher, als die von Humboldt diagnostizierte französische Gefahr inzwischen gerade im Hochschulbereich selbst eingesetzt hat. 81 Im napoleonischen Frankreich hat das Fachhochschulsystem, wie es Massow auch in Preußen propagiert hat, längst die alte Universität verdrängt und beginnt nun auch im napoleonischen Deutschland, etwa im Königreich Westfalen, Fuß zu fassen. Die westfälische Regierung hat zwar im Dezember 1807 die Universität Halle wiederhergestellt; aber Humboldt ist gleichwohl überzeugt, daß sie „niemals den wahren deutschen Begriff einer Universität hinlänglich auffassen wird, um diesen Instituten Genüge zu leisten", d. h. daß auch hier die allmähliche Einführung des französischen Hochschulsystems bevorsteht. 82 Humboldt fordert auch deswe75
Entwurf zum Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 140. Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 149. 77 Generalbericht an den König, ebd., 277. 78 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, ebd., 251. 79 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 149: „Nur solche höhere Institute können ihren Einfluß auch über die Grenzen des Staates hinaus erstrecken." 76
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Entwurf zum Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 140. Vgl. dazu König, Wesen (wie Anm. 1), 37 ff.; Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 158 f.; Smend, Friedrich-Wilhelms-Universität (wie Anm. 1), 7 f.; Kaehler, Humboldt (wie Anm. 46), 516; siehe auch Ulrich Muhlack, Das zeitgenössische Frankreich in der Politik Humboldts (Historische Studien, Bd. 400), Lübeck / Hamburg 1967, 101 f., 122 f. 82 Denkschrift an Dohna zur Widerlegung der Einwände gegen die Dotation, 9. Mai 1810, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 269. An solchen Stellen vollzieht Humboldt eine unmittelbare Nationalisierung seiner Universitätskonzeption wie seiner Bildungskonzeption überhaupt: Bildung und Wissenschaft in seinem Sinne werden gewissermaßen gleichbedeutend mit dem eigentlichen Wesen der deutschen Nation selbst. Auch Fichte setzt sein Universitätskonzept in Beziehung zu seinem Projekt einer deutschen Nationalerziehung (Anrieh [Hrsg.], Idee [wie Anm. 30], 143, 217), und auch Schleiermacher äußert „Gelegentliche Gedanken über 81
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gen die Errichtung einer Universität in Berlin, um der hier sich anbahnenden Entwicklung zu begegnen. Dieses preußische Vorgehen ist unabdingbar, weil nach Humboldts Einschätzung sich keiner der anderen deutschen Staaten zu entsprechenden Maßnahmen aufraffen wird. 83 Wenn aber alles auf Preußen ankommt, dann hat Preußen zugleich eine einmalige Chance. Preußen kann in Berlin „der deutschen Wissenschaft eine vielleicht kaum jetzt noch gehoffte Freistatt eröffnen" und wird so in die Lage versetzt, „von dieser Seite den ersten Rang in Deutschland zu behaupten und auf seine intellektuelle und moralische Richtung den entschiedensten Einfluß auszuüben", d. h. an die Spitze der deutschen Kultur und damit der deutschen Nation zu treten. 84 Humboldt wird nicht müde, die politischen Vorteile auszumalen, die sich aus einer solchen Einstellung für Preußen ergeben. Wenn er überhaupt von der Berliner Universitätsgründung eine Steigerung der politischen Reputation Preußens erwartet, dann erst recht unter dieser nationalen Perspektive. Er prognostiziert „einen neuen Eifer und neue Wärme für das Wiederaufblühen" des preußischen Staates in ganz Deutschland, wenn nicht den Aufstieg Preußens zur deutschen Führungsmacht.85 Derartige politische Prognosen gibt Humboldt angesichts der labilen politischen Gesamtsituation freilich immer nur unter stärkstem Vorbehalt ab. Er verhehlt nicht, daß es auch ganz anders kommen kann: daß Preußen möglicherweise schon in der nächsten Krise seine Selbständigkeit verliert und dem napoleonischen Empire angeschlossen wird. Seine ganze Tätigkeit an der Spitze der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts steht unter diesem Vorbehalt. 86 In solcher Unsicherheit liegt jedoch nur ein weiteres Motiv für Humboldt, die Bildungsreform und zumal das Berliner Universitätsprojekt zu forcieren. Wenn schon der preußische Staat untergehen soll, dann sollen jedenfalls die neuen Bildungseinrichtungen so fest gegründet sein, daß auch ein napoleonisches Regime sie respektieren muß. Im Universitäten in deutschem Sinne" (ebd., 219). Freilich darf das nicht zu dem Mißverständnis führen, als entstamme das Humboldtsche Konzept geradezu der Auseinandersetzung mit dem abschreckenden französischen System, die vielmehr lediglich eine schon vorhandene Tendenz verstärkt hat; dazu richtig Spranger, Humboldt (wie Anm. 7), 15 ff. 83 Generalbericht an den König, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 275 f.: „Denn fast alle Universitäten haben mehr oder weniger gelitten. Im Königreich Westfalen ist die grösstenteils französische Regierung zu wenig mit dem Geist dieser echt deutschen Anstalten vertraut, als daß sie unter ihr gedeihen könnten; in Bayern haben unglückliche Religions- und NationalStreitigkeiten das angefangne Gute wieder unterdrückt, und in Sachsen ist man nicht tätig genug, um etwas Bedeutendes zu wirken", Ähnlich die Denkschrift an Dohna zur Widerlegung der Einwände gegen die Dotation, ebd., 269. 84 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., 149. 85 Ebd. 86 Humboldt an Nicolovius, 25. März 1809, ebd., Bd. 16, Berlin/Leipzig 1935, 98: „Das Gefühl der Dauer und Sicherheit ( . . . ) muß wohl jedem mangeln, der ernsthaft denkt und sich nicht chimärischen Täuschungen hingibt". Vgl. Vossler, Humboldts Idee (wie Anm. 1), 156.
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Falle des Berliner Projekts zwingt die gebotene Rücksicht auf das nationale Interesse zu besonderer Beschleunigung. Humboldt braucht die neue Universität, um die deutsche Kultur gegen eine mögliche französische Fremdherrschaft zu wappnen: der preußische Staat mag aufhören zu bestehen; das geistige Deutschland, zentriert auf Berlin, soll weiterleben. Dahinter steht die Überzeugung, daß Preußen „vielleicht in welthistorischer Rücksicht durch etwas andres ersetzt werden kann", daß aber Deutschland unersetzlich ist. 8 7 Humboldt zieht aus diesen Erwägungen handfeste institutionelle, vor allem finanzielle Konsequenzen: So verkündet er am Anfang seiner Amtszeit die folgende Maxime für die Finanzierung des gesamten Bildungswesens: „Erziehung ist Sache der Nation, und bereiten wir (was aber nur mit großer Behutsamkeit geschehen muß) vor, daß wir der Kräfte des Staats mehr entraten können und die Nation mehr in unser Interesse ziehen, so können wir, was uns anvertraut ist, auch unter manchen Stürmen erhalten und brauchen es, selbst i m Fall des äußersten Unglücks, nur anderen Händen zu übergeben". 88 Humboldt plädiert also für die finanzielle Unabhängigkeit des Bildungswesens vom Staat, weil er dem bestehenden Staat ersichtlich nur geringe politische Überlebenschancen einräumt. Auch die neue Universität in Berlin soll sich „durch eignes Vermögen und durch die Beiträge der Nation" erhalten; denn: „Auch ein unbilliger Feind schont leichter das Eigentum öffentlicher Anstalten". 8 9
87 Humboldt an Schweighäuser, 29. August 1807, 38: „Wenn man aber übrigens, nicht einmal gerade des Herabsinkens Preußens, das vielleicht in welthistorischer Rücksicht durch etwas andres ersetzt werden kann, aber des Schicksals Deutschlands gedenkt, so kann ein Deutscher und noch dazu ein Preusse diese Zeit nicht anders als wie eine unendlich traurige ansehen." Die Bemerkung zeigt zugleich, daß Humboldt selbst auch in dieser scheinbar aussichtslosen Lage dem preußischen Staat verpflichtet bleibt: die „welthistorische Rücksicht" hebt die persönliche Loyalität nicht auf. Demgemäß bedeutet auch das seine Bildungspolitik mitbestimmende Kalkül eines möglichen Untergangs Preußens nicht etwa eine persönliche Abwendung vom Staat, sondern lediglich eine realistische Einschätzung der Zukunftchancen preußischer Politik, die seine eigene Stellung vollkommen unberührt läßt. So kann Humboldt in dem Brief an Nicolovius vom 25. März 1809 hinzufügen: „Denn daß wir persönlich uns unter keiner Bedingung vom Staate trennen würden, versteht sich von selbst" (G. S. [wie Anm. 44], Bd. 16, 98). Das alte Urteil Hayms, das auch Kaehler wiederaufgreift, trifft also nicht zu: „Er würde deutsches Wesen geliebt haben, und er würde in dieser Liebe sich befriedigt gefunden haben, auch wenn die deutsche Nation als solche aufgehört hätte zu existieren, auch wenn Deutschland nur noch als Provinz einer französischen Universal-Monarchie genannt worden wäre" (Rudolf Haym, Wilhelm von Humboldt, Lebensbild und Charakteristik, Berlin 1856, 250); vgl. Kaehler,, Humboldt (wie Anm. 46), 224 f., 229. Immerhin erhellt aus der Humboldtschen Position, daß er dem Bereich von Bildung und Kultur einen grundsätzlichen Vorrang einräumt vor dem politischen Bereich im engeren Sinne. Allerdings handelt es sich auch hier keineswegs um eine dualistische Option; denn, langfristig gesehen, hängt nach Humboldt gerade der dauerhafte politische Erfolg von einem spezifischen Niveau der Bildung und Kultur ab. Zum ganzen Muhlack, Frankreich (wie Anm. 81), 117 ff. 88
Humboldt an Nicolovius, 25. März 1809, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 16, 98. Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, ebd., Bd. 10, 152. Mit Recht meint daher Vossler, daß Humboldt „auf Kosten des Staates so etwas wie eine vom Staat unabhängige 89
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Alle diese Überlegungen lassen Humboldt am 24. Juli 1809 den förmlichen Antrag auf Errichtung einer Universität in Berlin stellen.90 Er bezieht sich dabei auf die Kabinettsordre vom 4. September 1807, zu deren Ausführung nunmehr „ein zweiter entscheidender Schritt" erforderlich sei. 91 Der König soll die Errichtung einer Universität in Berlin in Verbindung mit den dort bereits befindlichen wissenschaftlichen Instituten genehmigen. Er soll weiterhin allen diesen Anstalten so viele Domänen verleihen, als nötig sind, um ein sicheres und reichliches jährliches Einkommen zu bilden, und für angemessene räumliche Ausstattung sorgen. Die verliehenen Güter und Gebäude sollen Eigentum dieser Anstalten und, im Falle von deren Auflösung, ein für die Unterhaltung und Verbesserung des Schulwesens bestimmtes Eigentum der Nation bleiben. Die Einkünfte der Güter sollen vom Tage der Verleihungsurkunde an laufen, jedoch bis zu ihrer wirklichen Verwendung als ein dem Staat gemachtes Darlehen behandelt werden. Gleichwohl sollen jetzt schon bestimmte Mittel für bereits laufende Ausgaben disponibel gemacht werden. 92 Am 16. August 1809 ergeht eine Kabinettsordre, die diesen Antrag in allen Punkten bewilligt. 93 Humboldt macht sich unverzüglich daran, den gefaßten Beschluß in die Tat umzusetzen. Er folgt dabei durchaus dem Vorbild Beymes. Zunächst handelt es sich auch für ihn darum, „einiger vorzüglicher Männer in jedem Fach gewiß zu sein" und damit von vornherein „für Reichtum (Stärke und Mannigfaltigkeit) an geistiger Kraft durch die Wahl der zu versammelnden Männer" zu sorgen. 94 Sein erstes Privatuniversität" habe gründen wollen (Humboldts Idee [wie Anm. 1], 157); dieses Urteil wird von Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 147, fälschlich zurückgewiesen. Freilich nennt Humboldt für die von ihm geforderte „Nationalisierung" des Bildungswesens noch einen weiteren Grund, der von dem speziellen Kalkül eines möglichen Untergangs Preußens gänzlich absieht: „Die Nation endlich nimmt mehr Anteil an dem Schulwesen, wenn es auch in pekuniärer Hinsicht ihr Werk und ihr Eigentum ist, und wird selbst aufgeklärter und gesitteter, wenn sie zur Begründung der Aufklärung und Sittlichkeit in der heranwachsenden Generation tätig mitwirkt" (Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, G. S. [wie Anm. 44], Bd. 10, 152); siehe auch den Generalverwaltungsbericht der Sektion vom 19. Mai 1809, ebd., Bd. 13, 219. Diese Begründung widerspricht der andererseits betriebenen Verstaatlichung des Bildungswesens nicht; worauf es Humboldt umgekehrt gerade ankommt, ist vielmehr die Heranführung der Nation an den Staat, die Durchdringung von Staat und Nation und damit eine Steigerung staatlicher Macht, ganz abgesehen davon, daß die Sektion bei Humboldt immer die oberste Aufsicht über das gesamte Bildungswesen behalten soll. Humboldt befindet sich hier in genauer Übereinstimmung mit dem Selbstverwaltungskonzept des Freiherrn vom Stein. Hierzu Kaehler, Humboldt (wie Anm. 46), 227 ff. 90 G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 148 ff. 91 Ebd., 149. 92 Ebd., 153 f. 93
Die Kabinettsordre vom 16. August 1809 abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 194 f. 94 Vgl. hierzu auch Humboldt an Arnim, 24. Dezember 1809: „Aber die Gründung einer Universität kann aus vielen Gründen so schnell nicht gehen und muss es nicht. Man muss
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Interesse gilt dem bereits von Beyme ausgewählten Personenkreis. Schmalz, Wolf, Schleiermacher, Fichte, überhaupt die Berliner Gelehrten werden endgültig gewonnen. Humboldt tritt weiterhin erneut an Reil heran, der trotz grundsätzlicher Zusage an Beyme nach Wiedereröffnung der Fridericiana dann doch in Halle geblieben ist. Er will auf ihn um so weniger verzichten, als er den Ausbau der medizinischen Fakultät angesichts der in Berlin bereits bestehenden günstigen Bedingungen für vordringlich hält. Er erreicht tatsächlich, daß Reil kommt. Er bemüht sich aber auch um Gelehrte außerhalb des Beymeschen Kandidatenkreises, zumal außerhalb Preußens; denn die erhoffte nationale Geltung Berlins hängt vorzüglich von solchen auswärtigen Berufungen ab. Humboldt holt Savigny, auf den schon Wolf hingewiesen hat. Er steht in aussichtsreichen Verhandlungen mit den Mathematikern Gauß und Oltmanns. Humboldt verdankt alle diese Erfolge der Attraktivität seiner Konzeption und dem verbreiteten Zutrauen in sein persönliches Format. 95 Die nächste Absicht ist, wie bei Beyme, darauf gerichtet, von einzelnen schon berufenen Gelehrten Pläne zur Organisation der Universität und weitere Berufungsvorschläge ausarbeiten zu lassen. Im Vordergrund steht einstweilen das Organisationsproblem. Die aus Beymes Amtszeit stammenden Denkschriften sind wegen der veränderten Gesamtzielsetzung oder, wie im Falle Fichtes, wegen ihres utopischen Zuschnitts für Humboldt kaum oder überhaupt nicht brauchbar. Allenfalls Schleiermachers „Gelegentliche Gedanken" können als Diskussionsgrundlage dienen. Schleiermacher wird daher auch mit der Vorlage eines Plans zur Einrichtung der theologischen Fakultät beauftragt. 96 Ebenso wie Beyme behält Humboldt jedoch die letzte Entscheidung in allen diesen Fragen sich selbst vor, wie es seinem Verständnis von der Rolle des Staates gegenüber den Universitäten entspricht. 97 Er legt zugleich den allgemeinen strukturellen Rahmen fest und klärt insbesondere das komplizierte Verhältnis der Universität zu den anderen wissenschaftlichen Institutionen, zur Akademie der Wissenschaften und den ihr angeschlossenen Instituten sowie zu den höheren Fachschulen. Danach soll die Akademie der Wissenschaften unabhängig bleiben. Humboldt weist allerdings ihren bisherigen exklusiven wissenschaftlichen Anspruch als mit seinem Hochschulkonzept unvereinbar zurück und gründet ihre selbständige Existenz künftig allein auf die beschränkte Aufgabe, die Einzelforschung, vor allem die empirische Forschung im naturwisreiflich überlegte Organisationspläne und sorgfältig gewählte Männer haben. Mein ernstes Streben ist, einiger vorzüglicher Männer in jedem Fach gewiss zu sein. Um und durch diese gestaltet sich das übrige leichter" (in: Rudolf Haym [Hrsg.], Briefe von Wilhelm von Humboldts an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, Berlin 1894, 128). Dazu Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 75; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 195; Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 154 f. 95 Die Anträge für Reil, Savigny, Gauß und Oltmanns, G. S. (wie Anm. 44) , Bd. 10, 224 ff. 9 6 Schleiermachers Denkschrift, die vom 25. Mai 1810 datiert, abgedruckt bei Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 211 ff. 97
Dazu vor allem Schelsky, Einsamkeit (wie Anm. 1), 145 f.
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senschaftlichen Bereich zu fördern und damit die Universität zu entlasten. Es gibt in seiner Sicht also lediglich einen quantitativen oder technischen Unterschied zwischen Universität und Akademie. Humboldt sieht daher auch eine begrenzte Doppelmitgliedschaft in beiden Anstalten und überhaupt die engste Zusammenarbeit zwischen ihnen vor. Was die bisher der Akademie angeschlossenen Institute betrifft, so sollen sie unter die unmittelbare Aufsicht der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts treten und später sowohl der Universität wie der Akademie zur Verfügung stehen.98 Unter den Berliner höheren Fachschulen besitzt für Humboldts Planungen die größte Wichtigkeit das Collegium Medico-Chirurgicum. Humboldt tritt dafür ein, diese Schule geradezu zur medizinischen Fakultät der Universität zu erklären. Andere Anstalten, wie z. B. die Pepiniere, sollen gewisse Institute gemeinsam mit der Universität benutzen.99 Alle diese Angelegenheiten, die personellen wie die organisatorischen, machen also gute Fortschritte. Dafür gibt es erhebliche Schwierigkeiten bei der Regelung der Finanzierung. 100 Die Kabinettsordre vom 16. August 1809 macht die bewilligte Verleihung von Domänen abhängig von einer entsprechenden Entschädigung des Staates durch säkularisierte katholisch-geistliche Güter; Humboldt selbst hat in seinem Antrag eine solche Entschädigung vorgeschlagen. Eine spätere Durchführungsbestimmung präzisiert dieses Junktim dahingehend, daß die Entschädigung der Verleihung vorausgehen müsse. Das erforderliche Säkularisationsverfahren zögert sich jedoch hinaus. Außerdem wird schon bald deutlich, daß die verfügbaren geistlichen Güter nicht ausreichen, um den Wert der für die Universität und die mit ihr verbundenen Anstalten benötigten Domänen zu kompensieren. Schließlich regen sich in der Regierung sogar staatsrechtliche Bedenken gegen die Verleihung selbst: die Bewilligung sei eine Verletzung des Hausgesetzes, nach dem Domänen nur im Fall der Not und zur Schuldentilgung veräußert werden sollten; eine etwaige Änderung des Gesetzes bedürfe der Zustimmung der Stände. Humboldt erhebt Gegenvorstellungen, verlangt die sofortige Übertragung der Domänen, dringt aber nicht durch. Statt dessen beschließt das Ministerium, daß der Universität und den anderen Anstalten Domänen bis zu dem festgesetzten Jahresertrag zur freien Benutzung in der Art übergeben werden sollten, daß solche nach wie vor Domänen blieben, vorbehaltlich einer möglichen Regelung im ursprünglichen Sinne. Jedoch gerade diesen Beschluß kann Humboldt nicht hinnehmen, da durch ihn sein ganzer ausgeklügelter Plan, die Universität von der Staatskasse unabhängig zu machen, hinfällig wird. So bleibt die finanzielle Frage vorläufig in der Schwebe, 98 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 256 ff.; vgl. auch Generalbericht an den König, ebd., 273 ff. Dazu Harnack, Geschichte (wie Anm. 32), 579 ff. u. vor allem Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 328 ff. 99 Zu Humboldts Vorstellungen über eine Neuorganisation des höheren medizinischen Unterrichts in Berlin vgl. G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 122 ff. 100 Dazu ebd., 263 ff.. Siehe auch Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 69 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 191 ff.
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und Humboldt muß, um auch nur die nötigsten Ausgaben bestreiten zu können, immer wieder Einzelanträge an den König richten. Trotzdem hält es Humboldt nach dem Stand der Vorbereitungen nunmehr für geboten, einen weiteren entscheidenden Schritt zu tun. In einem Generalbericht an den König vom 23. Mai 1810 legt er Rechenschaft über seine bisherigen Aktivitäten ab und beantragt die Eröffnung der Universität zum Michaelistag desselben Jahres, d. h. zum 29. September 1810. 101 Gedacht ist nicht an die feierliche Inauguration: sie hätte die Verkündung der Statuten zur Voraussetzung, die bis dahin noch nicht vorliegen können. Gedacht ist vielmehr lediglich an den Beginn der Vorlesungen in allen vier Fakultäten, allenfalls noch an die Möglichkeit zur Abhaltung von Promotionen. 102 Der König genehmigt den Antrag in der Kabinettsordre vom 30. Mai 1810. Der festgesetzte Termin nötigt dazu, die bereits laufenden personellen und organisatorischen Vorbereitungen zu intensivieren. Daher setzt Humboldt am 2. Juni innerhalb der Sektion eine Einrichtungskommission ein, der er die „sorgfältige und schnelle Betreibung dieser Angelegenheit" aufträgt. Mitglieder sind Humboldts Mitarbeiter Süvern und Uhden sowie Schleiermacher; Humboldt selbst übernimmt den Vorsitz. Nach Bedarf sollen auch „andere sachkundige Männer" zur Beratung herangezogen werden, wie es späterhin etwa mit Savigny und Schmalz geschieht. 103 Am schnellsten gelingt der vorläufige Abschluß der Berufungen. 104 Alle Bemühungen zielen auch jetzt unverändert darauf ab, möglichst viele gute Gelehrte für möglichst viele Fachgebiete in allen Fakultäten möglichst aus ganz Deutschland nach Berlin zu bekommen. Dieses Ziel wird im wesentlichen auch erreicht. Die zeitweilige Priorität der philosophischen Fakultät resultiert allein daraus, dass hier gegenüber den anderen, bereits besser versorgten Fakultäten ein gewisser Nachholbedarf besteht. Dafür glücken dann freilich gerade in dieser Fakultät so vielversprechende Verpflichtungen wie die Böckhs für die Klassische Philologie und Niebuhrs für die Alte Geschichte; auch die erstmalige Einrichtung einer Professur für das Deutsche Altertum verdient Erwähnung. Die letzten Ernennungsanträge werden am 22. September gestellt und am 28. September bewilligt. Der Michaelistermin ist also genau eingehalten. Gleichzeitig beginnt die Kommission mit der Ausarbeitung eines Organisationsplanes. 105 Das vorläufige Reglement, das schließlich am 24. November verkündet wird, lehnt sich durchweg aufs engste an die bisherige Universitätsverfassung an. 1 0 6 Die neue Anstalt soll alle wesentlichen Rechte deutscher Universitäten er101 G. S. (wie Anm. 44), Bd. 10, 273 ff. 102 Ebd., 276. 103 Der Text der Verfügung ebd., 282. 104 Dazu Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 77 ff.; erschöpfend Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1,220 ff. 105 Vgl. Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 82 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 276 ff.
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halten. Die Grundsäulen bleiben die Fakultäten. Der Lehrkörper besteht aus Ordinarien, Extraordinarien und Privatdozenten. Die Professoren werden vom Staat berufen und haben die Pflicht, Vorlesungen zu halten; die Privatdozenten nehmen mit Genehmigung und unter Autorität der Universität an der Lehre teil. Die ordentlichen Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sind zur Abhaltung von Vorlesungen berechtigt. Ein Professor wird jeweils für ein bestimmtes Hauptfach berufen, kann aber über alle Wissenschaften seiner Fakultät lesen, in einer anderen Fakultät dann, wenn er deren Grad besitzt. Die Ordinarien haben die Zensurfreiheit für ihre wissenschaftlichen Publikationen. Sie nehmen an den Beratungen der Fakultät teil; an der Spitze steht der von ihnen gewählte Dekan. An der Spitze der Universität steht der von den Ordinarien gewählte Rektor. Die Ordinarien als Ganzes bilden den Senat. Er beschließt unter dem Vorsitz des Rektors über alles, was die Universität im ganzen angeht. Die Studierenden sollen sich durch ein Zeugnis der Anstalt ausweisen, auf der sie unterrichtet worden sind. Für die Teilnahme an der Vorlesung wird ein Honorar erhoben, das ein vom Staat ernannter Quästor einzieht. Jährlich sollen zwei Kurse abgehalten werden, von Mitte Oktober bis Anfang März und von Ende März bis Mitte August. Für alle diese Bestimmungen lassen sich mühelos Entsprechungen in früheren Universitätsstatuten finden. Sie gelten allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die alten Mißstände, wie sie Humboldt wiederholt gegeißelt hat, nicht wiederkehren, d. h. aber: daß der Staat kraft seines Berufungsmonopols und seines Aufsichtsrechts die Vollmacht besitzt, ihre Wiederkehr tatsächlich zu verhindern. Der Satz, daß die Professoren vom Staat berufen würden, ist daher der Schlüsselsatz des vorläufigen Reglements. Erst recht steht der legitime Machtanspruch des Staates auf dem Spiel in der Frage der akademischen Gerichtsbarkeit, die unmittelbar in seine eigene Sphäre eingreift. 107 Ursprünglich soll das vorläufige Reglement auch diese Frage klären. Grundsätzliche Erwägungen führen dann aber zu dem Entschluß, von einer gesonderten Regelung für Berlin überhaupt abzusehen und statt dessen eine neue akademische Gerichtsverfassung für den gesamten Staat zu erarbeiten. Diese Verfassung liegt am 28. Dezember vor. Danach wird die universitäre Gerichtsbarkeit beibehalten, ihr möglicher Ausbau durch Installierung eines studentischen Ehrengerichts der akademischen Obrigkeit überlassen. Sie beschränkt sich andererseits künftig auf die Studierenden und ist allein persönliche Gerichtsbarkeit, d. h. eigentlich nur eine erweiterte Disziplinargerichtsbarkeit. Damit ist das Prinzip eines eigenen Gerichtsstandes der Universität faktisch aufgehoben. Die Verkündüngstermine für das vorläufige Reglement und die akademische Gerichtsverfassung liegen bereits einige Zeit nach dem Michaelistermin. Trotzdem ermöglichen gewisse organisatorische Vorgaben oder Vorgriffe die pünktliche 106 Die folgende Darstellung des vorläufigen Reglements nach Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 83 f.; siehe auch Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 277. »07 Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 84 ff., 100 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 280 ff.
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Eröffnung des Universitätsbetriebes. Am 28. September ernennt der König auf Vorschlag der Sektion den Rektor und die Dekane. Am 1. Oktober beginnt das Immatrikulationsverfahren. Am 10. Oktober wird der Senat konstituiert. Der offizielle Vorlesungsbeginn wird auf den 29. Oktober festgesetzt. Die Berliner Universität nimmt ihren Lauf. Der Gründungsvorgang selbst ist durch alle diese Maßnahmen freilich keineswegs schon abgeschlossen. Es bleiben vor allem noch zwei Aufgaben zu erledigen: die Ausarbeitung eines detaillierten Statutenwerkes anstelle des vorläufigen Reglements und die definitive Lösung des Finanzierungsproblems. Inzwischen ist aber ein Ereignis eingetreten, das einen scharfen Kurswechsel in der preußischen Bildungspolitik und damit zugleich in der weiteren Behandlung der Berliner Angelegenheit zur Folge hat: das Ausscheiden Humboldts aus der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts. Bereits im April und Mai 1810 hat Humboldt, aus Protest gegen die Suspendierung von Steins Staatsratsprojekt, die auf eine Minderung seiner Position als Sektionschef hinausläuft, um seine Entlassung nachgesucht.108 Im Juni wird er von seinem Posten entbunden und gleichzeitig zum Gesandten in Wien ernannt. 109 Die erste Reaktion in Kreisen, die dem Berliner Universitätsprojekt nahestehen, ist eine gelinde Panik. Wolf meint gegenüber Savigny: „Humboldt geht als Gesandter nach Wien, und mit der Universität ist's aus' 4 . 110 Er selbst sucht sich von Berlin loszumachen. Weitere, bis dahin aussichtsreiche Berufungsverhandlungen geraten ins Stocken oder scheitern. Etwaige Befürchtungen irgend welcher Art erweisen sich jedoch vorerst als abwegig. Die interimistische Leitung der Sektion übernimmt Humboldts Mitarbeiter Nicolovius, der die bisherige bildungspolitische Linie weiterverfolgt. Humboldt selbst bleibt bis zu seiner Abreise nach Wien im August 1810 Mitglied der Einrichtungskommission; danach hat Schleiermacher, ebenfalls ein Mann von Humboldts Vertrauen, die Federführung. Es ist also gewährleistet, daß auch in der Folge einstweilen alles planmäßig weiterläuft und zunächst einmal die Eröffnung der Universität termingerecht stattfinden kann. 111 108
Das erste Entlassungsgesuch, das vom 29. April 1810 datiert, abgedruckt in G. S. (wie Anm. 44),, Bd. 10, 244. 109 Vgl. zu dieser Problematik Spranger, Humboldt (wie Anm. 7), 88 ff., Kaehler, Humboldt (wie Anm. 46), 238 ff.; zuletzt Menze, Bildungsreform (wie Anm. 1), 337 ff. ho Savigny an Creuzer, 12. Juli 1810, Weischedel (Hrsg.), Idee (wie Anm. 16), 220. Siehe auch Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 267. in Zur Situation unmittelbar nach dem Ausscheiden Humboldts Savigny an Bang, 1. Oktober 1810, Weischedel (Hrsg.), Idee (wie Anm. 16), 221: „Hier gefällt mir's bis jetzt recht sehr gut, und mit der Universität, die in einigen Wochen eröffnet wird, lässt sich's gut an. In liberalerem Sinn und Geist ist wohl kaum je eine gestiftet worden. Oben ein Rektor mit grosser Ehre und Würde, eigene Jurisdiktion, hoffentlich sogar eine Jury von Studenten. Das Ganze von oben geleitet durch die Sektion des öffentlichen Unterrichts. Diese ist seit Humboldts Abgang ohne Chef und besteht aus den Staatsräten Nicolovius (dem Eutiner), Uhden, Schmedding (Prof. in Münster gewesen) und Ancillon, endlich dem Professor Schleiermacher. Unter diesen ist keiner, der nicht die beste Gesinnung hätte".
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Die entscheidende Wende beginnt sich erst abzuzeichnen, als im November 1810 Friedrich von Schuckmann zum neuen Chef der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts ernannt wird. 1 1 2 Er soll die angefangene Bildungsreform fortsetzen, aber nicht im Sinne Humboldts, sondern nach jenen Prinzipien, die die preußische Bildungspolitik bis zum Amtsantritt Humboldts beherrscht haben. Die Kabinettsordre, durch die er in sein Amt eingewiesen wird, trägt ihm auf, „daß eine gründliche Erlernung der Wissenschaften und Erlangung der nötigen Kenntnisse für alle Stände stattfinde und daß gesunde und klare Begriffe und solche Gesinnungen verbreitet werden, wodurch Nutzen für das praktische Leben, wahre, sich in Handlungen äussernde Moralität, Patriotismus, Anhänglichkeit an die Verfassung und Vertrauen und Folgsamkeit gegen die Regierung bewirkt und erhalten werden". 113 Hier ist keine Rede mehr vom Prinzip der allgemeinen Bildung; hier dominiert vielmehr wiederum das seit Massow wohl vertraute Prinzip des politisch-gesellschaftlichen Nutzens, der zugleich die richtige politische Gesinnung einschließt. Die befohlene Umorientierung ergibt sich folgerichtig aus dem aufgeklärt-absolutistischen Programm des neuen Staatskanzlers Hardenberg, das auch sonst innerhalb der preußischen Reformen einen tiefen Einschnitt bedeutet. Die Konsequenzen für den Fortgang der Berliner Universitätsgründung können nicht ausbleiben. Schuckmann setzt gewissermaßen da an, wo Massow und Beyme aufgehört haben. Daß er der Universität seine Ernennung zum Sektionschef anzeigt und dabei die erwähnte Kabinettsordre auszugsweise mitteilt, kündigt bereits den bevorstehenden Wandel an. Auch ihm geht es darum, „daß so hier unter den Augen des Regenten dessen und Deutschlands Erwartungen, mit so vielem Rechte auf die Verdienste der berufenen Herrn Mitglieder gegründet, durch den schönsten Erfolg werden erfüllt werden". 114 Aber Schuckmann hegt gänzlich andere Erwartungen als Humboldt. Er setzt vor allem ein anderes Verhältnis von Staat und Universität voraus. Wenn der Staat nach Humboldt von den Universitäten nichts fordern darf, „was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht", dann hält Schuckmann gerade eine solche Forderung für unabdingbar. Auch für den Unterricht an der Universität soll die Maxime gültig sein, „daß man dem gegenwärtigen Regenten und Mitbürgern zunächst verpflichtet sei". 115 Auch und zumal an der Universität kommt es darauf an, falsche politische Gesinnungen zu bekämpfen: „Aber der Geist der Zeit schwärmt in Theorien und gefällt sich in Spiel und Wechsel mit denselben".116 Der Staat hat streng darauf zu achten, daß die Verpflichtun112 Zum folgenden Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 93 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 305 ff. 113 Diese Auszüge aus der Kabinettsordre vom 20. November 1810 teilt Schuckmann am 23. November 1810 in einem Schreiben an die Universität mit, in dem er diese über seine Ernennung zum Chef der Sektion informiert (Köpke, Gründung [wie Anm. 1], 223). Ebd. 115 Schuckmann an Hardenberg, 3. März 1811, ebd., 226. 116 Ebd.
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gen gegenüber dem Regenten und den Mitbürgern eingehalten und die wechselnden Zeitgeister, soweit für das herrschende System gefährlich, unschädlich gemacht werden. Auch Humboldt verlangt einen starken Staat. Aber der Humboldtsche Staat hat die Aufgabe, Reichtum, Stärke, Mannigfaltigkeit und Freiheit des Wissenschaftsbetriebes zu sichern, und ist allein durch diese Aufgabe legitimiert. Dagegen dient der starke Staat bei Schuckmann der utilitarisch-politischen Überwachung oder Reglementierung des Wissenschaftsbetriebes. Die gleiche Apparatur wird hier also auf ein entgegengesetztes Ziel ausgerichtet. Schuckmanns Berliner Politik ist ein einziger Versuch, solche Stärke des Staates zu demonstrieren. Zunächst bringt er endgültig das Humboldtsche Domänenprojekt zu Fall. 1 1 7 Er macht dagegen nicht nur ökonomische und verwaltungstechnische, sondern hauptsächlich grundsätzliche Bedenken geltend, die die Argumentation Humboldts ins Zentrum treffen. Humboldt will mit seiner Regelung das Überleben der Universität auch im Falle einer staatlichen Katastrophe garantieren. Aber Schuckmann stellt die Frage: „Warum soll der König etwas tun, wodurch nach der Meinung derer, die in oberster Potenz den Geist der Nation wecken und leiten sollen, ihr Sein und Wirken von seinem, seiner Nachkommen und dieser Verfassung Bestehen unabhängig wird? Ist die Sorge dafür nicht die erste unter allen, die einem Regenten und seinen Dienern obliegen?" 118 Die bloße Vorstellung, daß die Existenz der Universität abgetrennt wird von der Existenz des Staates, muß ihm unerträglich scheinen. Außerdem befürchtet er als Folge des Humboldtschen Modells ein ungehindertes und unkontrollierbares Anwachsen staatsfeindlicher Gesinnungen an der Universität. 119 Er glaubt, diese, Gefahr allein bannen zu können, wenn die Universität von der Staatskasse abhängig bleibt: „Wie aber auch die Köpfe exaltiert sein mögen, so behalten doch die Mägen immer ihre Rechte gegen sie, die einzigen, die in diesem Zustand geschont werden. Wem die Herrschaft über letztere bleibt, der wird immer auch mit ersteren fertigt, und wer die Befriedigung der letzteren an seine Wahl bindet, hat die beste Sicherheit, daß die ersteren dafür arbeiten". 120 Der Staatskanzler findet die Gründe Schuckmanns „überwiegend" 121 , und seit März 1811 ist das Domänenprojekt erledigt, die Universität Berlin fortan an die Staatskasse verwiesen.
ii7 Ebd., 103 f.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, 314 ff.; m Schuckmann an Hardenberg, 3. März 1811, Köpke, Gründung (wie Anm. 1), 227; ebd., S. 226, präzisiert Schuckmann, „ob es nötig und ratsam sei, die höchsten wissenschaftlichen Zentral-Institute des Staates nicht etwa bloß in ihrem freien wissenschaftlichen Streben und Wirken, sondern auch mit ihrer Subsistenz und Dauer vom Oberhaupte des Staates unabhängig zu machen und sie von dieser Seite gegen das Bestehen der jetzigen Verfassung, des Königs und seiner Dynastie in den Zustand der Gleichgültigkeit zu versetzen". 119 Ebd., 227: „Umgekehrt könnte durch diese Großmut selbst der künftige gewaltsame Untergang solcher Institute vorbereitet werden, wenn in der Folge der Wahn der Unabhängigkeit ihres Bestehens ihnen eine widerstrebende Richtung gäbe." 120 Ebd.
121 Hardenberg an Schuckmann, 15. März 1811, ebd.
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In analoger Weise sucht Schuckmann die Abfassung der Statuten zu betreiben. 122 Das von ihm befolgte Verfahren selbst soll die Priorität des staatlichen Interesses in seinem Sinne zum Ausdruck bringen. Ursprünglich war daran gedacht, einen ersten Entwurf von der Humboldtschen Einrichtungskommission erstellen zu lassen. Aber schon kurz nach seinem Amtsantritt löst Schuckmann die Kommission auf, die er als überflüssige Zwischenbehörde ansieht, und betraut Uhden mit dieser Aufgabe. Der Uhdensche Entwurf ist im März 1812 fertig. Schuckmann weigert sich, vom Senat der Universität eine Stellungnahme zu erbitten und setzt statt dessen eine Viererkommission ein, die aus Professoren seiner Wahl besteht. Diese Kommission reicht im Juni 1812 einen Gegenentwurf ein. Schuckmann läßt ihn in seinem Departement prüfen und nimmt selbst Änderungen vor. Im Januar 1813 ist diese Revision abgeschlossen. Daß sich gleichwohl die Verkündung der Statuten noch bis zum April 1817 hinzieht, liegt gewiß auch am zeitweiligen Primat der Außenpolitik, ferner an der Überlastung Schuckmanns, der seit 1814 zusätzlich das Innenministerium selbst verwaltet, schließlich an der Tatsache, daß Schuckmann sich dann doch genötigt sieht, auch Rektor und Senat der Universität zu befragen. Aber der Hauptgrund für diese Verzögerung ist unzweifelhaft in der Absicht des Ministers zu suchen, die Universität und gerade diese unter ganz anderen Auspizien eröffnete Universität ihre totale Abhängigkeit vom Staat so deutlich wie nur irgend möglich fühlen zu lassen. Dafür spricht auch, daß die Statuten der erst 1811 neugegründeten Universität Breslau, die wortwörtlich von den späteren Berliner Statuten abgeschrieben sind, bereits 1816 verkündet werden. Aber auch im Inhalt der Statuten ist der Einfluß Schuckmanns erkennbar. 123 Die Universität soll „zum Eintritt in die verschiedenen Zweige des höheren Staats- und Kirchendienstes" befähigen. 124 Die Zensurfreiheit für die wissenschaftlichen Publikationen der Ordinarien wird allein unter der Voraussetzung gewährt, „daß in ihren Schriften nichts erscheine, was den Gesetzen entgegen ist". 1 2 5 Auf diesem Hintergrund gewinnt auch das bis ins einzelne spezifizierte Ernennungs- und Aufsichtsrecht des Staates eine gegenüber Humboldt veränderte Bedeutung.126 Am Schluß wird mit allem Nachdruck darauf abgehoben, daß die Statuten vom König festgesetzt seien. Zugleich ergeht an das Innenministerium der Befehl, „auf die Befolgung derselben überall zu achten und die in Verfolg und zur Vollstreckung dieser Statuten für die einzelnen Fakultäten, Institute und Gegenstände erforderlichen Instruktionen und speziellen Reglements und Bestimmungen zu erlassen". 127 Mit allen diesen Maßnahmen rückt Schuckmann von der Humboldtschen Universität ab. Keiner empfindet den eingetretenen Wandel stärker als Humboldt 122 123 124 125 126 127
Ebd., 126 ff.; Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1,431 ff., 632 ff. Der Text der Statuten abgedruckt bei Lenz, Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, 223 ff. Ebd., 224. Ebd., 226. Ebd., passim. Ebd., 263.
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selbst. So meint er im Februar 1811, Schuckmann könne „nur niedrige, nur Nützlichkeits- und nur Aufklärungs-Projekte aus der alten Berliner Periode geben". Die Universität sieche dahin: „Ein Institut, für das noch so viel geschehen mußte und das doch nur auch so, mit dem allmählichen Heben der ganzen Staatsmaschine und der Nation selbst getragen werden konnte, kann wohl jetzt nicht gedeihen." 128 Im Juni 1816 gilt ihm als ausgemacht, „daß die Berlinische Universität mehr noch als untergeht". Der Geist sei aus allem gewichen; man sinke in eine ungeheure Alltäglichkeit zurück. 129 Diese Einschätzung bleibt keineswegs auf Humboldt beschränkt. Wenn Hegel 1815 einen Ruf nach Berlin ablehnt, wenn der Jurist Eichhorn 1816 von Berlin nach Göttingen geht, dann sind das unüberhörbare Signale. 130 Andererseits ist es offensichtlich, daß die Humboldtsche Universität unter Schuckmann nicht etwa, wie von Humboldt befürchtet, untergeht, sondern fortexistiert. Schuckmann mag versuchen, wiederum auf Massow und Beyme zurückzugreifen; aber er kann die inzwischen vollzogene Entwicklung nicht mehr zunichte machen. Durch Humboldts Berufungspolitik ist ein kontinuierlicher wissenschaftlicher Ausbau gewährleistet, der sich gegenüber möglicher staatlicher Gängelung als weitgehend immun erweist. Auch die nachfolgenden Berufungen halten sich durchaus in diesem einmal abgesteckten Rahmen. Selbst die Statuten stimmen in allen wichtigen Punkten mit den Humboldtschen Verordnungen, so insbesondere mit dem vorläufigen Reglement, überein; Schleiermacher z. B. behält bei ihrer Ausarbeitung einen maßgeblichen Einfluß. Trotzdem bildet die Politik Schuckmanns mit ihrer gegenläufigen Tendenz eine ständige Herausforderung. Das Wesentliche ist gerade, daß die Universität in dieser letzten Gründungsphase einen doppelten Charakter annimmt: daß sie sich einmal in den von Humboldt vorgezeichneten Bahnen weiterentwickelt, daß sie aber andererseits nunmehr mit einem staatlichen Interesse konfrontiert wird, das den Humboldtschen Intentionen heterogen ist. Die Inaugurationsfeier vom 29. April 1817 bringt die Gründung der Universität Berlin zum Abschluß. Die nunmehr konstituierte Hochschule ist keine Schöpfung aus einem Guß, sondern von den widersprüchlichen Motiven einer langen Entstehungsgeschichte geprägt, die auch ihre weitere Geschichte bestimmen.
•28 Humboldt an Nicolovius, 26. Februar 1811, G. S., Bd. 16, 311, 313. 129 Humboldt an Nicolovius, 18. Juni 1816, G. S., Bd. 17, Berlin/Leipzig 1936, 134. 1 30 Vgl. hierzu Smend, Friedrich-Wilhelms-Universität (wie Anm. 1), 19.
Universalgeschichte und Nationalgeschichte Deutsche Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts und die „Scientific Community" Das Thema meines Vortrags ist so weit gefaßt, daß ich damit beginnen muß, es einzugrenzen: auf die Gefahr hin, manche Erwartung zu enttäuschen, die der Titel geweckt haben mag. Was mich interessiert, ist die Stellung, die die deutsche Geschichtswissenschaft des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts in der internationalen Gelehrtenrepublik der Historiker einnimmt. Es geht mir dabei nicht um eine vergleichende Leistungsbilanz, auch nicht um die vielfältigen „transfers" zwischen deutscher und außerdeutscher Historie, sondern gewissermaßen um die subjektive Seite: um das Bewußtsein, das die deutschen Historiker von ihrem Standort in der „scientific Community" ihrer Disziplin haben. Es versteht sich, daß mir eine lexikalische Vollständigkeit von Richtungen und Namen durchaus fernliegt. Meine Konzentration auf das ausgehende 18. und das 19. Jahrhundert ergibt sich natürlich zunächst aus den Periodisierungsdaten dieser Konferenz. Sie ist aber auch darin begründet, daß wir es erst in dieser Zeit mit einem veritablen Problem zu tun bekommen. Lassen Sie mich das einleitend erläutern und damit den Ansatzpunkt meines Vortrags präzisieren. Die Möglichkeit einer „scientific Community" der Historiker beruht darauf, daß die Historie einen universalen Wahrheitsanspruch erhebt. Wer sich ihm verpflichtet fühlt, gehört ihr an, ganz gleich, woher er stammt; sie ist der Ort, der die Gleichgesinnten vereinigt, das Publikum, an das sie sich wenden, die Instanz, der sie sich stellen. Eine solche „Community" entsteht mit der Grundlegung der modernen Geschichtswissenschaft im 15. und 16. Jahrhundert und ist bis zum 18. Jahrhundert fest etabliert: ein Teil der von den Humanisten geschaffenen res publica litteraria, wesentlich auf der Tradition der großen Geschichtsschreiber des klassischen Altertums beruhend, sich lange Zeit des Lateins als allgemeiner Gelehrtensprache bedienend. Seit den Anfängen der modernen Geschichtswissenschaft bilden sich andererseits spezifisch nationale Traditionen aus, wie der wachsende historiographische Gebrauch der jeweiligen Landessprache anzeigt. Aber sie halten sich in dem vorgegebenen Rahmen: die Nationalität bleibt der Universalität, das Vaterland der Gelehrtenrepublik untergeordnet. Das ändert sich entscheidend in unserem Ungedruckt. Veröffentlichung in englischer Übersetzung („Universal History and National History: Eighteenth- and Nineteenth-Century German Historians and the Scholarly Community") in: Benedikt Stuchtey / Peter Wende (Hrsg.), British and German Historiography 1750-1950. Traditions, Perceptions, and Transfers, Oxford 2000, 25-48.
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Zeitraum, und zwar auf Grund von zwei Entwicklungen, die in genau entgegengesetzte Richtungen gehen. Einmal handelt es sich darum, daß die Historie seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, im Zeichen des aufkommenden Historismus, einen bis dahin beispiellosen Verwissenschaftlichungsschub erfährt und damit ihren universalen Anspruch ungeheuer steigert: sie wird überall zu einer professionell organisierten selbständigen Disziplin; am Ende des 19. Jahrhunderts findet der erste internationale Historikerkongreß statt. Zum andern handelt es sich darum, daß die Historie damals allenthalben in den Dienst des modernen Nationalgedankens tritt, der, Zug um Zug sämtliche Lebensbereiche durchdringend, die früheren Formen nationalen Denkens qualitativ übertrifft. Die Folge ist eine scharfe Polarisierung: Universalität und Nationalität, Gelehrtenrepublik und Vaterland rücken auseinander. Die Historie bekommt, wie Leopold von Ranke 1859 in seinem „Entwurf zu einer Geschichte der Wissenschaft in Deutschland" schreibt, „einen zugleich allgemein gültigen und nationalen Charakter". 1 Wie die deutschen Historiker mit diesem Dualismus fertig geworden sind: das ist das Problem, dem ich in der Folge nachgehen möchte. Zunächst sieht es so aus, als könnten sie sich dem drohenden Dilemma durch eine ingeniöse Idee entziehen: indem sie wissenschaftliche Universalität und deutsche Nationalität kurzerhand gleichsetzen. Um diese Idee zu ermöglichen, müssen drei Momente zusammenkommen: der ersichtliche deutsche Vorsprung bei der Erneuerung der historischen Wissenschaft, ein daraus erwachsender Nationalstolz und seine Verbindung mit einem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts existenten Begriff von deutscher Kulturnation. Es ist hier nicht der Ort, nochmals die Entstehung des deutschen Historismus und die Geschichte seines weltweiten Siegeszuges zu erzählen. Genug, daß das Erlebnis der Französischen Revolution in Deutschland zu einer Revolutionierung des historischen Denkens führt, daß diese Umwälzung nach und nach in allen heute so genannten Geistes-, Sozial- oder Kulturwissenschaften stattfindet, daß schließlich auch die Historie im engeren Sinne von ihr ergriffen wird, daß mit diesen Entwicklungen die Errichtung neuer Formen von historischer Lehre und Forschung an den Universitäten einhergeht. Genug auch, daß damals nicht nur deutsche, sondern auch außerdeutsche Stimmen die zeitweilige Führungsrolle der deutschen Geschichtswissenschaft bezeugen; es sei nur auf die berühmte Abhandlung von Lord Acton über „German Schools of History" an der Spitze der „English Historical Review" verwiesen, die 1886 nach dem Muster der „Historischen Zeitschrift" zu erscheinen beginnt.2 Um das Hochgefühl der deutschen Gelehrten zu ermessen, ist ein Rückblick auf die früheren Zeiten vonnöten. Lord Acton, der die deutsche „supremacy" im 1 Leopold von Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte. Hrsg. v. Alfred Dove, (Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 53/54), Leipzig 1890, 685. 2 Wiederabgedruckt in: J.E.E. Lord Acton, Historical Essays and Studies, London 1907, 344-392.
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19. Jahrhundert anerkennt, stellt lapidar fest: „Before this Century the Germans had scarcely reached the common level even in the storage of érudition." 3 Dieses Urteil stimmt mit der Meinung zeitgenössischer deutscher Autoren überein, die Franz von Wegele 1885 in seiner „Geschichte der Deutschen Historiographie" zusammenfaßt 4, und es entspricht dem Minderwertigkeitsgefühl, das deutsche Historiker der frühen Neuzeit gegenüber ausländischen Hervorbringungen empfinden. Vom Humanismus bis zur Aufklärung schallt aus deutschen Texten die Klage über die inferiore Position, in der man die einheimische Geschichtsschreibung erblickt, und sei es, daß man sich immer wieder gegen angeblich unberechtigte Vorwürfe ausländischer Autoren glaubt zur Wehr setzen zu müssen.5 Alles Bemühen ist daher darauf gerichtet, den großen ausländischen Geschichtsschreibern nachzueifern: zuerst den Italienern, dann den Franzosen, zuletzt den Briten. Es ist bemerkenswert, daß dieser Eifer noch im 19. Jahrhundert, in der Blütezeit des deutschen Historismus, hervortritt. Das Höchste, was Rudolf Köpke 1867 über seinen Lehrer Ranke, der damals auf dem Gipfelpunkt seines Ruhmes steht, sagen kann, ist, daß wir ihn „den gepriesenen Koryphäen anderer Nationen unbedingt an die Seite stellen dürfen". 6 Der fortdauernde Vergleich mit der britischen oder französischen Historiographie selbst hält das jahrhundertealte Trauma geistiger Unterlegenheit gegenwärtig. 7 Ich füge hinzu, daß das Motiv, Rückstände aufzuholen, ein eigentümliches Erbteil der deutschen Geschichtswissenschaft geblieben ist. 3 Ebd., 344 f. 4
Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 20), München/Leipzig 1885: er spricht gleich im Vorwort von der „Dürftigkeit", in der sich die Historiographie in jener „Epoche unserer Geschichte" präsentiert habe (S. V). Lord Acton bezieht sich an der zitierten Stelle auf Wegele, nicht ohne von daher die Anlage dieser Historiographiegeschichte zu bemängeln: „Ninetenths of his volume are devoted to the brave men who lived before Agamemnon, and the chapter on the rise of historical science, the only one which is meant for mankind, begins at page 975, and is the last" (Historical Studies [wie Anm. 2], 344). 5 Vgl. noch Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen (1767), in: Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (Fundamenta Histórica, Bd. 1 - 2), Bd. 2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1990, 621 -662, hier 621 f. u. 630: Gatterer räumt ein, „daß die Muse, die der Geschichte vorsteht, unsern teutschen Genies noch nicht sonderlich günstig gewesen sei", will aber andererseits von „unserer Nation ... den Vorwurf der Ausländer" abwenden, „als wenn die historische Classe ihrer Schriftsteller nur aus Uebersetzern und Compendienschreibern bestünde 6 Rudolf Köpke, Ranke-Fest (1867), in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte, Politik und Literatur. Hrsg. v. F. G. Kiessling, Berlin 1872, 780-791, 781. Ganz analog Wilhelm Giesebrecht, Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft. Habilitationsrede gehalten zu Königsberg am 19. April 1858, in: Historische Zeitschrift 1, 1859, 1 - 1 7 , hier 2: „Man hört nicht selten die Behauptung, daß wir Deutsche erst neuerdings eine historische Literatur gewonnen haben, welche sich der der Engländer und Franzosen ebenbürtig an die Seite stellen könne." 7 Diese Erfahrung oder Erinnerung schlägt sich schließlich auch darin nieder, daß es in der neuen Gattung der Historiographiegeschichte üblich wird, die Geschichte der Geschichtswis-
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Doch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weicht das Ressentiment einem Selbstgefühl, das sich geradezu zu einem nationalen Sendungsbewußtsein auswächst. Mehr noch: das eine schlägt in das andere um. Ausgangspunkt ist eine Diskussion über den Standort der deutschen Literatur, die in Johann Gottfried Herders „Briefen zu Beförderung der Humanität" (1793-1797) zusammenläuft. Herder stellt in der siebenten und achten Sammlung der „Briefe" eine „Vergleichung der Poesie verschiedener Völker alter und neuer Zeit" 8 an, in der er aus dem bisherigen Rückstand auf einen künftigen Vorsprung der deutschen Dichtung schließt. Er geht dabei gegen einen doppelten Tadel an, den er in ein doppeltes Lob ummünzt: daß die Deutschen „zu spät" gekommen seien und sich daher auf die bloße „Nachahmung" fremder „Originalformen" verlegt hätten9. Verspätung bedeutet ihm Verjüngung: „Wir haben noch viel zu tun, indes andre ruhn, weil sie das Ihrige geleistet haben".10 Nachahmung steht ihm für die damit gegebene Chance, über dieses von anderen Geleistete zu verfügen: „indem wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten".11 Die Deutschen scheinen ihm dazu durch ihre Sprache, „eine Sprache der Vernunft, der Kraft und Wahrheit" 12 , befähigt: sie ist „zur Nachbildung fremder Idiome in jeder Wendung, in jedem Übergang geschickt, hat eine unglaubliche Gelenkigkeit, sich dem Ausdrucke, den Wendungen, dem Geist, selbst den Sylbenmaßen fremder Nationen, sogar Griechen und Römern anzuschließen und zu fügen: Unter der Bearbeitung jedes eigentümlichen Geistes wird sie gleichsam eine neue, ihm eigne Sprache". 13 Friedrich Schiller bildet solche Vorstellungen in dem Fragment „Deutsche Größe", das in die Zeit der Friedensschlüsse von Luneville und Amiens gehört, zu einem förmlichen eschatologischen Kulturprogramm fort. 14 Die Historie kommt bei Herder und Schiller nicht eigens senschaft als Wettstreit der europäischen Nationen zu inszenieren, in dem bald die eine, bald die andere und zuletzt die deutsche Nation obsiegt. Ein frühes und ein spätes Beispiel: Ludwig Wachler, Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterarischen Cultur in Europa (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Fünfte Abteilung, II), Bd. 2, Göttingen 1812, VII: er verfolgt den „Gang der historischen Forschung und Kunst" seit der Renaissance „bey einzelnen Nationen"; Wegele, Geschichte (wie Anm. 4), 339: ihm komme es durchgängig darauf an, die „deutsche Geschichtsschreibung zur verwandten gleichzeitigen Literatur der übrigen Kulturvölker des Abendlandes" in Beziehung zu setzten. Zu Wachler Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik (Fundamenta Histórica, Bd. 3), Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, 201. 8 Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher (Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. 7 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 63), Frankfurt a. M. 1991, Nr. 107, 572. 9 Ebd., Nr. 100, 549. 10 Ebd., Nr. 101,550. 11 Ebd., 551. 12 Ebd., Nr. 57, 337. 13 Ebd., Nr. 101,552. 14 Friedrich Schiller, Sämtliche Gedichte, Bd. 2. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert (Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 2 = dtv, Bd. 72), München 1965, 226 ff. Einige Zitate: „das
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vor, aber sie ist deutlich genug das Ziel, dem das Ganze zustrebt. Die Verspätung, die retrospektive Position, die Fähigkeit, „von allen Völkern ihr Bestes" sich anzueignen, die „unglaubliche Gelenkigkeit" der deutschen Sprache: das alles besagt schließlich nichts anderes, als daß den Deutschen ein exklusiver Beruf zur historischen Deutung der Welt, zum historischen Denken, zum Historismus zugesprochen wird. Nationales Bewußtsein und universales Geschichtsbewußtsein, nationale Bestimmung und universaler Wissenschaftsanspruch, deutsche Nation und „scientific Community" fallen zusammen. Einer der ersten Autoren, die diese historistische Mission der Deutschen explizieren, ist Wilhelm von Humboldt. Er bemängelt 1796/97, während eines Aufenthalts in Paris, das Unvermögen der Franzosen, bei der Beurteilung historischer Phänomene „nur auf einen Augenblick aus dem Standpunkte ihrer Zeit und ihrer Nation ... herauszutreten: Wir hingegen gewöhnen uns jetzt die Eigentümlichkeiten jeder Zeit und jeder Nation zu studiren, so viel wie möglich in dieselben einzugehen, und diese Kenntniss zum Mittelpunkt unsrer Beurtheilung zu machen". Er folgert daraus mit Blick auf die internationale Kommunikation der Gelehrten: die Franzosen halten „die andern Nationen in knechtischer Unterdrückung" und erschweren „die Gemeinschaft mit ihnen"; dagegen müssen die Deutschen „ n o t wendig zugleich alle Kräfte wecken und die erwachten in Berührung bringen". 15 Humboldt versteht sich demgemäß in Paris als Botschafter der deutschen Wissenschaft, veranstaltet etwa mit französischen Bekannten eine Konferenz über zeitgenössische deutsche Philosophie, sieht sich dabei freilich mit ihnen „immer in zwei verschiednen Welten". 16 Seitdem reißt die Reihe der Autoren nicht ab, die das neue historische Denken zur Weltsendung der deutschen Nation erklären. Johann Gottlieb Fichte identifiziert 1808 in den „Reden an die Deutsche Nation" die „Deutschheit eines Volkes" mit seinem philosophisch-historischen Denken 17 , Johann Gustav Droysen erwartet 1857 eingangs seiner „Historik", unter Berufung langsamste Volk wird alle die schnellen flüchtigen einholen" (ebd., 227); die deutsche Sprache drückt „alles" aus: „das Tiefste und das Flüchtigste, den Geist, die Seele, das jugendlich Griechische und das modern Ideelle" (ebd., 227 f.); die Deutschen sind aufgerufen, „die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen, die Schätze von Jahrhunderten" aufzubewahren (ebd., 229 f.). 15 Wilhelm von Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: ders., Werke. Hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, 376-505, hier 456 f. Wilhelm von Humboldt, Tagebücher. Hrsg. v. Albert Leitzmann (Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 14), Bd. 1, Neudruck Berlin 1922, 483 ff., das Zitat 486. 17 Johann Gottlieb Fichte, Reden an Deutsche Nation. Hrsg. v. Fritz Medicus (Philosophische Bibliothek, Bd. 204), Hamburg 1955, 121 f., bes. 122: „was an Geistigkeit, und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlecht, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun. Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt, oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo auch es geboren sei, und welche Sprache es rede, ist undeutsch, und fremd für uns, und es ist zu wünschen, daß es je eher je lieber sich gänzlich von uns abtrenne".
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auf Humboldt, von „uns Deutschen" die Erfüllung der „Aufgabe, eine Historik, eine Wissenschaftslehre der Geschichte, durchzubilden" 18, und noch der Klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff stellt zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit ungetrübtem Selbstgefühl fest: „Wir Deutschen werden die Verantwortung nicht leicht nehmen, die auf uns liegt, weil wir die Führung in der Wissenschaft haben; das wissen auch die anderen, mögen sie es gleich nicht sagen"19; die „anderen" vermögen damals in diesem Anspruch allerdings lediglich ein pangermanistisches Diktat zu erkennen. 20 Die Entstehung dieses Wissenschaftsnationalismus verweist auf das bekannte Faktum, daß sich die moderne deutsche Nation nicht als politische Nation, sondern, endgültig im Zeitalter der Aufklärung, als Kulturnation konstituiert hat. Die Intellektuellen, die diese Nation ausmachen, führen ein unpolitisches Dasein auch in dem Sinne, daß sie zu den staatlichen Zuständen in Deutschland wie zum Staat überhaupt in einem ausgesprochen distanzierten Verhältnis stehen und darin schließlich sogar einen Vorzug vor allen anderen Nationen erkennen; dazu gehört, daß ihnen politische Probleme sofort zu Kulturproblemen werden. Alles das erscheint nach 1789 ungeheuer radikalisiert. Die deutschen Intellektuellen reagieren auf die Französische Revolution mit neuen ästhetischen, philosophischen, wissenschaftlichen Konzepten; sie proklamieren eine Kulturrevolution, die sie der politischen Revolution der Franzosen entgegensetzen. Dadurch wird die Absage an alles Staatlich-Politische noch verschärft und gleichzeitig das Bewußtsein einer besonderen Auszeichnung vor allen anderen Nationen weiter genährt: die deutsche Kulturrevolution ist der Französischen Revolution auch dadurch entgegengesetzt, daß sie dieser den kosmopolitischen Anspruch streitig macht. Die Entstehung des Historismus ist das Kernstück dieser Kulturrevolution und dieses kosmopolitischen Programms und rückt damit ins Zentrum des kulturnationalen Selbstbewußtseins. Es mag genügen, nochmals auf Schillers Fragment von 1801 / 02 zu verweisen, um diesen Kontext zu dokumentieren. 21 Freilich ist unverkennbar, daß Schiller doch auch an der fortgesetzten Demütigung Deutschlands in den Revolutionskriegen leidet und daher für sein Bekenntnis zur historistischen Weltmission der deutschen Kulturnation ein starkes kompensatorisches Motiv hat: das deutet schon auf die 18
Johann Gustav Droysen, Historik. Hrsg. v. Peter Leyh, Bd. 1, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, 53. 19 Zit. in: Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge, 158), Göttingen 1987, 98 f. 20 Ebd., 99. 21 Schiller, Sämtliche Gedichte (wie Anm. 14), Bd. 2, 226 ff.: der Dichter geht aus vom verlorenen Revolutionskrieg, sieht den Zusammensturz des Reiches bevor, gründet aber die „deutsche Größe" auf die Kulturnation, die von solchen Schicksalen unabhängig sei, leitet daraus eine deutsche Weltgeltung ab, die sich in seinem eschatologischen Kulturprogramm, dieser Aufforderung zur historischen Weltbetrachtung, vollendet; die Formierung der Kulturnation mündet in die Formierung des Historismus ein. 17*
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alsbald einsetzende Politisierung des deutschen Nationalgedankens hin. Andererseits ist wesentlich, daß die ursprünglichen kulturellen Antriebe fortdauern, als sich dieser Politisierungsprozeß vollzieht; die politische Nation bleibt Kulturnation und damit Wissenschaftsnation: jedenfalls im Verständnis der deutschen Intellektuellen, die sich nunmehr der Politik zuzuwenden beginnen. Allerdings darf diese Kontinuität nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Entstehung eines politischen Nationalbewußtseins für die deutschen Historiker eine völlig neue Lage schafft. Der politische Nationalismus mag den wissenschaftlichen in sich aufnehmen, aber er stößt in eine Dimension vor, die von ganz anderen Wertvorstellungen besetzt ist. Die Weltmission der deutschen Kulturnation wird relativiert durch die Idee des nationalen Staates; die deutsche Nation, bis dahin sozusagen Inbegriff der Menschheit, bezieht sich fortan zunächst einmal auf sich selbst, auf ihr partikulares Dasein. Die deutschen Historiker vollziehen diesen Prozeß mit. Das Interesse, „die Eigenthümlichkeiten jeder Zeit und jeder Nation zu studiren", tritt zurück hinter das Interesse an einer Geschichtsschreibung „aus dem Standpunkte ihrer Zeit und ihrer Nation". Freilich bildet sich diese „nationale Geschichtsschreibung" keineswegs mit einem Schlage aus, sondern sie entwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, von den Freiheitskriegen bis zur Wilhelminischen Epoche. Sie etabliert sich dabei nicht als monolithische Schule, sondern ist eher ein Rahmen, in dem es eine Fülle von Ansätzen gibt: gemäß den unterschiedlichen regionalen, konfessionellen, parteipolitischen Positionen, die einzelne Autoren einnehmen. Sie ist schließlich durchaus nicht unumstritten, sondern bedarf immer wieder der Rechtfertigung. Als der Königsberger Historiker Hans Prutz 1883 eine Art vorläufiger Bilanz zieht, kann er geradezu fragen: „Denn haben wir eine nationale Geschichtschreibung? Konnten wir eine solche haben? Und wenn nicht - wie kam das? Und wie kann das anders werden?" 22 Unsere Antwort kann nur lauten, daß die „nationale Geschichtsschreibung" während des 19. Jahrhunderts jedenfalls zu einem Generalproblem der deutschen Geschichtswissenschaft wird, das kaum einen Autor, ganz gleich, wo er steht, unberührt läßt. Prutz präzisiert zugleich dieses Problem, indem er „Begriff und Wesen nationaler Geschichtschreibung" überhaupt zu bestimmen sucht. Ich zitiere einen der Kernsätze: „Nationale Geschichtschreibung, so wenig sie der gelehrten Grundlage entbehren kann, ist daher weder ausschließlich noch vorzugsweise gelehrt, vielmehr verfolgt sie eine allgemeine, praktisch-politische oder national erziehende Tendenz".23 Es ist augenscheinlich, daß damit eine Relativierung des historiographischen Wahrheitsanspruchs gegeben ist: die „nationale Geschichtsschreibung" entsteht aus nationalpolitischen Bedürfnissen; sie setzt bei der Nation an, ergreift für sie 22 Hans Prutz, Über nationale Geschichtschreibung. Rede zur Feier vom Kaisergeburtstag (am 17. März 1883), gehalten in der Aula der Albertus-Universität zu Königsberg, in: Die Grenzboten 42, 1883, 667-681, hier 669. 2 3 Ebd.
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Partei, ist an sie adressiert. Autoren wie Heinrich von Sybel steigern das zu der Auffassung, daß die Geschichtsschreibung schlechthin auf ein „bestimmtes Verhältniß zu den großen weltbewegenden Fragen der Religion, der Politik, der Nationalität" festgelegt sei. 24 Das Ausmaß dieser Reduzierung läßt sich an der veränderten Bewertung der Sprache ablesen. Herder rühmt die „unglaubliche Gelenkigkeit" der deutschen Sprache: sie ist ihm das Organ und Symbol des weltumfassenden historischen Sinns, der den Deutschen eigentümlich sei. Auch Wortführer der „nationalen Geschichtsschreibung" verschmähen es keineswegs, sich in diesem Glanz zu sonnen, so etwa 1857 der Tübinger Historiker Hermann Bischof, der der deutschen Sprache sogar die Fähigkeit zuspricht, „die einseitigen Strebungen der nationalen Gesinnung einem natürlichen Ebenmaß unterzuordnen". 25 Aber im Vordergrund steht doch umgekehrt das Motiv, sie mit diesen „Strebungen" zu identifizieren, und gerade Bischof ist von ihm erfüllt. 26 Über die lange Vorherrschaft des Lateinischen in der deutschen Historiographie heißt es: „Diese Methode entfremdet die Geschichte den nationalen Interessen und macht deren Benutzung zu einem Monopol der gelehrten Kaste." 27 Im Zeichen der „nationalen Geschichtsschreibung" wird die deutsche Sprache also zu einem Organ und Symbol der nationalen Eigenart oder Andersartigkeit. Es ist weiterhin augenscheinlich, daß die deutschen Historiker sich mit dieser restriktiven Wendung von der „scientific Community" entfernen. Der Ort, der die Gleichgesinnten vereinigt, das Publikum, an das sie sich wenden, die Instanz, der sie sich stellen: das ist jetzt primär die politische Nation. Die Abkehr kann bis zur Skepsis über die Möglichkeit einer internationalen Geschichtswissenschaft überhaupt und selbst bis zur offenen Absage gehen. Als Heinrich von Treitschke 1872 Rankes neuestes Werk gelesen hat, bricht es in einem Brief an Droysen förmlich aus ihm heraus: „Diese Leisetreterei, die über das Wichtigste gar nichts sagt, ist doch schrecklich. Ranke sollte in England und Italien bleiben, da kann man seine Größe ohne Vorbehalt bewundern" 28; ich komme auf Ranke am Schluß noch zu24 Heinrich von Sybel, Ueber den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung (Marburg 1856), in: ders., Kleine Historische Schriften, Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1880, 349-364, hier 355. 25 Hermann Bischof, Die Regeln der Geschichtschreibung und Deutschlands Historiker im 19. Jahrhundert, in: Deutsches Museum 7, 1857, 713-723, 754-766, 796-806 u. 827-839, hier 805. 26 Er sieht die „Sprache eines Volks als mit dessen geistiger Individualität in unzertrennlichem Zusammenhange" stehend an: „Jedes Volk spricht anders als das andere, weil es anders denkt" (ebd., S. 802). 27 Ebd., S. 801; Johann Wilhelm Loebell, Ueber die Epochen der Geschichtschreibung und ihr Verhältniß zur Poesie. Eine Skizze, in: Historisches Taschenbuch. Neue Folge, Bd. 2 (1841), 277-372, hier 349: „Darum mußte diese Historiographie auch der großen Befugniß entsagen, sich aus dem Volksleben zu erfrischen und wiederum dieses zu beleben und heben. Wirken konnte sie nur auf den Kreis der Eingeweihten, ihre Wurzeln nur schlagen im Boden einer gelehrten Schulbildung, welche an Frische und mächtiger Schöpfungskraft die nationelle Entwickelung niemals erreicht."
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rück. 1903 suchen Berliner Historiker die geplante Abhaltung eines internationalen Historikerkongresses in der Reichshauptstadt zu verhindern, darunter Otto Hintze, Max Lenz, Eduard Meyer, Theodor Mommsen und Dietrich Schäfer. Sie erklären die „Idee eines internationalen Kongresses der historischen Wissenschaften für verfehlt, da die Historie - abgesehen vom Altertum - , auch wenn man sie im universalen Sinne auffaßt, doch von den politischen und nationalen Gegensätzen zu stark beeinflußt wird, als daß ein gemeinsamer Boden für die internationale Verständigung dabei vorausgesetzt werden könnte". 29 Aber auch Adolf von Harnack, der für den Kongreß plädiert, bemerkt einschränkend über den „Block" der internationalen Geschichtswissenschaft: „Er umfaßt freilich nicht die tiefsten Erkenntnisse, und er läßt die Werturteile frei, aber er stellt doch einen Besitz von höchstem Werte dar - die Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen".30 Als Prutz 1883 vom „Begriff und Wesen" nationaler Geschichtschreibung überhaupt handelt, bezieht er „in gleicher Weise Inhalt, Form und Tendenz" der Historiographie ein. 31 Ich begnüge mich mit einer Bemerkung zum „Inhalt", um die neue Lage zu illustrieren. Sie betrifft die wachsende Hinwendung der „nationalen Geschichtsschreibung" zur eigenen Nationalgeschichte: zur Geschichte der deutschen Nation selbst. Als Herder, Schiller und Humboldt um 1800 die historistische Weltmission der deutschen Kulturnation verkünden, haben sie an der deutschen Geschichte kein sonderliches Interesse. Es entspricht vielmehr ihrer universalistisch-kosmopolitischen Haltung, daß ihr Blick ins Weite und Allgemeine schweift. Sie fordern die Erforschung fremder Nationen und Kulturen, eine Bilanz der Menschheitsentwicklung insgesamt, eine neue Deutung der Universalgeschichte. Die deutsche Nation soll dabei gewissermaßen in ihrer Befähigung aufgehen, diese globale Erkenntnisleistung zu vollbringen; als Gegenstand historischer Betrachtung spielt sie allenfalls eine untergeordnete Rolle. Ich brauche hier nicht im einzelnen zu belegen, daß die wissenschaftliche Produktion des frühen Historismus weithin mit diesem Konzept übereinstimmt. Es sei nur daran erinnert, daß der neue Typ historischer Wissenschaft außer in der Geschichtsphilosophie vor allem in der Altertumswissenschaft, dieser universalhistorischen Disziplin par excellence, ans Licht tritt. Friedrich August Wolf geht es beim Studium der Griechen um die „Geschichte der 28 Treitschke an Droysen, 24. Dezember 1872, in: Johann Gustav Droysen, Briefwechsel. Hrsg. v. Rudolf Hübner (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 26), Neudruck Osnabrück 1967, 905. 29
Zit. in: Erdmann, Ökumene (wie Anm. 19), 66. Zit. ebd., 65. - Kaum anders äußert sich übrigens Hermann Heimpel nach dem Pariser Kongreß von 1950: „bei allem Willen zur Internationalität: die Geschichtswissenschaft verfügt nun einmal nicht, wie etwa Naturwissenschaft und Medizin, über eine gemeinsame Sprache der Symbole" (Hermann Heimpel, Internationaler Historikertag in Paris [1950], in: ders., Aspekte. Alte und neue Texte. Hrsg. v. Sabine Krüger, Göttingen 1995, 272-276, hier 272. 31 Prutz, Über nationale Geschichtsschreibung (wie Anm. 22), 669. 30
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Menschheit"32, Barthold Georg Niebuhr in der „Römischen Geschichte" um eine „große Weltrevolution" im „Gang der Weltgeschichte".33 Wilhelm Giesebrecht zieht 1858/59 ein Resümee: „Ja, es ist unser unbestrittener Ruhm: die deutsche Forschung hat die Geschichte aller Völker Europas bereichert und aufgeklärt, der deutschen Gründlichkeit, Unparteilichkeit und Wahrheitsliebe sind alle Nationen zu Dank verpflichtet". 34 Aber er weist zugleich in die neue Richtung: „Indem die deutsche Geschichtswissenschaft von dem nationalen Gedanken mit unwiderstehlicher Macht erfaßt wurde, war wohl nichts natürlicher, als daß der Mangel einer Geschichte der eigenen Nation vor Allem fühlbar wurden: ein Gedanke, den die kosmopolitische Tendenz der philosophischen Geschichtschreibung über Gebühr zurückgedrängt hatte". 35 Es kann allerdings keine Rede davon sein, daß die „nationale Geschichtsschreibung" schlechthin von der Universalgeschichte abgerückt wäre. Die Berliner Historiker betonen 1903, wie zitiert, den Einfluß von „politischen und nationalen Gegensätzen" auf die Historie auch dann, „wenn man sie im universalen Sinne auffaßt". Einer von ihnen, Dietrich Schäfer, veröffentlicht 1907 eine „Weltgeschichte der Neuzeit", typisches Beispiel einer „mehr oder weniger auf machtpolitische Gesichtspunkte beschränkten" Universalgeschichte 36, wie sie dem imperialistischneurankeanischen Zeitgeschmack gefällt. Wenn die Berliner Historiker in der gleichen Erklärung andererseits die Altertumsstudien von der nationalen Perspektive ausnehmen, können sie leicht widerlegt werden. Man mag bezweifeln, ob Giesebrecht die Sache trifft, wenn er bereits Niebuhr einen „nationalen Standpunkt" attestiert. 37 Aber daß Theodor Mommsen, einer der Unterzeichner der Berliner Erklärung von 1903, mit seiner „Römischen Geschichte" ein förmliches Muster demokratisch-nationaler Betrachtungsweise aufstellt, ist offenkundig 38; unverkennbar ist der nationale Einschlag auch in der „Geschichte Alexanders des Großen", mit der Droysen 1833 debütiert. Gleichwohl liegt die Hinwendung zur deutschen Geschichte in der Logik der „nationalen Geschichtsschreibung". Die „allgemeine, praktisch-politische oder 32 Friedrich August Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert (1807). Hrsg. v. Johannes Irmscher, Berlin 1985, 134. 33 B.G. Niebuhr, Römische Geschichte, Bd. 1, Berlin 1811, 5; dazu Gerrit Walther, Niebuhrs Forschung (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 35), Stuttgart 1993, 311 u. 434 ff. 34 Giesebrecht, Entwicklung (wie Anm. 6), 14. 3 5 Ebd., 8 f. 36
Ernst Schulin, Universalgeschichtsschreibung im zwanzigsten Jahrhundert (1974), in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, 163-202, hier 183. 37 Giesebrecht, Entwicklung (wie Anm. 6), 10. 38 Dazu Alfred Heuß, Theodor Mommsen als Geschichtsschreiber, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, 37-95, bes. 59 ff. u. 73 ff.
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national erziehende Tendenz", die diese Historiographie verfolgt, muß ihre höchste Wirksamkeit dort erzielen, wo die Nation auf ihre eigene Vergangenheit hingelenkt wird. Hier erscheint daher die Relativierung des historiographischen Wahrheitsanspruchs wie damit die Entfernung von der „scientific Community" am weitesten fortgeschritten: im schärfsten Gegensatz zu den weltgeschichtlichen Interessen jener weltbürgerlich gestimmten Autoren des frühen Historismus. Das neue Programm einer deutschen Nationalgeschichte ist nicht gänzlich voraussetzungslos, sondern hat frühneuzeitliche Vorläufer: von humanistischen Darstellungen zur deutschen Geschichte bis zur juristischen Reichshistorie des 18. Jahrhunderts. Es ist gewiß kein Zufall, daß im 19. Jahrhundert, in der Tradition der Reichshistorie, zunächst einmal die deutsche Rechtsgeschichte gepflegt wird. Jedoch der eigentliche Durchbruch vollzieht sich im Bereich der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte, also dort, wo es sich um die primären oder originären Inhalte des neuen deutschen Nationalbewußtseins handelt. Ganz zuletzt kommen die Historiker im engeren Sinne; im Grunde setzt erst nach der Revolution von 1848/49 eine kontinuierliche Gattungsgeschichte ein. Im September 1846 halten Vertreter der drei Gruppen, der „Forscher des Rechts, der Geschichte und Sprache" der deutschen Nation, in Frankfurt am Main eine Art Heerschau ab, die ihnen zu einer vorläufigen wissenschaftlichen Standortbestimmung verhilft. Ich hebe die uns interessierenden Gesichtspunkte heraus und zitiere dabei aus den programmatischen Ansprachen von Jacob Grimm, dem Vorsitzenden der Versammlung. Grimm faßt alle diese Disziplinen unter dem Begriff der „ungenauen Wissenschaften", die er von Fächern wie Mathematik, Chemie und Physik, aber bis zu einem gewissen Grade auch etwa von der Klassischen Philologie mit ihren festen Regeln der Textkritik unterscheidet.39 Ihr Wert besteht ihm darin, daß sie sich mit Gegenständen befaßten, die uns vor allen anderen angingen: „Wir stehn viel fester auf dem Boden des Vaterlandes und schließen uns inniger an alle heimischen Gefühle; wir meinen, daß jede Entdeckung in der vaterländischen Geschichte dem Vaterland unmittelbar zu statten kommen werde". 40 Über die „genauen Wissenschaften" meint er demgegenüber: sie „reichen über die ganze Erde und kommen auch den auswärtigen Gelehrten zu gute, sie ergreifen aber nicht die Herzen". 41 Grimm bestimmt danach den speziellen Wert jeder der drei Disziplinen. An vorderster Stelle plaziert er die deutsche Sprachforschung: sie ergründet das „mächtige Sprachgefühl, das den Menschen von jeher ihre erste Weihe gegeben und sie zu je der Eigenthümlichkeit ausgerüstet" habe42, und kann daher 39 Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25.. und 26. September 1846, Frankfurt a.M. 1847, 59, 62 u. 104. 40 Ebd., 60. 41
Ebd.; vgl. auch ebd., 62: „Hierin liegt zugleich der einfache Schlüssel, warum, ohne den Erfolgen der tonangebenden Versammlungen deutscher Naturforscher und classischer Philologen im Geringsten nahe zu treten, unsern Zusammenkünften, freilich fast bloß in Gegenwart eines deutschen Publicums, vorbehalten und verliehen sein dürfte, anhaltendere Theilnahme und Befriedigung hervorzurufen."
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nur in „der heimathlichen Sprache" selbst betrieben werden. 43 Die deutsche Rechtsforschung bekommt die Hauptaufgabe, die vom römischen Recht verschütteten Wurzeln des einheimischen Rechts freizulegen; Grimm verstärkt dabei die schon der traditionellen Reichshistorie vertraute Frontstellung gegen die „römischen Rechtsgelehrten oder sogenannten Civilisten: Diese wohnen in einem prächtigen, wenn auch im stil des Auslands aufgemauerten Gebäude".44 Was die deutsche Geschichtsforschung betrifft, so obliegt ihr, „aus der Geschichte die Politik aufzuerbauen": „Unsere Historie hat es freilich auch mit der allgemeinen Geschichte zu thun und kann nicht in die Grenze des jetzigen Deutschlands zurückgewiesen werden. Aber dieses liegt uns doch zu vorderst an." 45 Genug der Zitate sie bringen alles auf den Begriff, was hier gezeigt werden soll: die Loslösung der deutschen Geschichte von der traditionellen Universalgeschichte und damit die Loslösung der „nationalen Geschichtsschreibung" von der historistischen Weltmission der Deutschen, der Nationalität von der wissenschaftlichen Universalität, des Vaterlandes von der Gelehrtenrepublik. Man kann sagen, daß Grimm damit nicht nur die seitherige Entwicklung der „germanistischen" Geschichtswissenschaft rekapituliert, sondern auch die Bahnen auszieht, in denen die weitere Entwicklung verläuft, und wenn er Anlaß hat, den relativen Rückstand der Geschichtsforschung gegenüber der Sprach- und Rechtsforschung zu bemängeln, so erlebt er alsbald den Anfang eines Aufschwungs, durch den sie seinen Maßstäben vollauf gerecht wird. Treitschke, der Ranke nach England und Italien verwünscht, setzt sich 1879 in seiner „Deutschen Geschichte" nur noch ein Ziel: unter den Deutschen „die Freude am Vaterlande" zu erwecken. 46 Dennoch: so sehr die „nationale Geschichtsschreibung" sich von der wissenschaftlichen Universalität und damit von der „scientific Community" abkehrt, so wenig läßt sich bezweifeln, daß ihre Autoren sich wiederum beiden verpflichtet und zugehörig fühlen. Sie dienen der politischen Nation, sind aber zugleich von dem Wissenschaftsnationalismus erfüllt, den sie aus der Frühzeit des Historismus geerbt haben: Droysen beginnt 1855 mit der Veröffentlichung der „Geschichte der preußischen Politik" und hält seit 1857 Vorlesungen zur Geschichtstheorie: gemäß 42 Ebd., 11. 43 Ebd., 60. 44 Ebd., 16. 45 Ebd., 51 f. 46 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1 (1879), Leipzig 1927, IX. - Wer die deutsche Geschichte von angeblichen Entstellungen ausländischer Historiker säubert, erfährt besonderes Lob. Droysen findet es 1846 unerträglich, daß deutsche Quellen zur Erforschung der neuesten deutschen Geschichte noch nicht zur Verfügung stünden: „Aus Berichten der Fremden müssen wir sie zusammenlesen, gleich als sollte unsere Erinnerung unter der Fremdherrschaft bleiben" (Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Bd. 1, Kiel 1846, Vorwort): um so mehr wird Häussers Forschung aus deutschen Archiven, die zur „Vernichtung" der französischen „Anschauungsund Behandlungsweise" geführt habe, als „eine nationale Tat" gepriesen (Wegele, Geschichte [wie Anm. 4], 1073).
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der „uns Deutschen" gestellten „Aufgabe". Sie schreiben Geschichte unter nationaler Perspektive, aber im vollen Bewußtsein der wissenschaftlichen Standards, die sie dabei einzuhalten haben, ja, sie gründen darauf ihren nationalpolitischen Anspruch: das gilt auch noch für Treitschke, der „Freude am Vaterlande" mit den Mitteln einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung erwecken will. Sie haben Vorbehalte gegen die „scientific Community", aber treten keineswegs aus ihr aus: der umstrittene Berliner Kongreß findet 1908 statt.47 Wegele läßt in seiner „Geschichte der Deutschen Historiographie", einer Ruhmesgeschichte des deutschen Historismus, alles in einer „harmonischen Einheit" aus „wissenschaftlichen, universellen und nationalen Motiven" zusammenklingen: „die Wissenschaft, die Menschheit, die deutsche Nationalität". 48 Freilich müssen sich gegen diese Harmonisierung Bedenken regen. Zunächst einmal haben wir es hier offenbar mit einer Dichotomie, wenn nicht überhaupt mit einem Gegensatz oder Widerspruch zu tun. Auf der einen Seite stehen der politische Nationalismus, der sich selbst genügt, die nationale Relativierung der Geschichtsschreibung, die Beschränkung der Historie auf den vaterländischen Horizont, auf der anderen der kosmopolitische Wissenschaftsnationalismus, die Berufung auf allgemeine wissenschaftliche Standards, die Anerkennung der Gelehrtenrepublik, die mit dem Geltungsbereich dieser Standards zusammenfällt. Wie paßt das zusammen? Einige Antworten auf diese Frage habe ich an früheren Stellen, sozusagen im Vorübergehen, schon zitiert. Sie lassen allesamt die Auffassung erkennen, daß zwischen deutscher Nationalität und wissenschaftlicher Universalität ein komplementäres Verhältnis herrsche: daß sie zwei genau voneinander abzugrenzenden Bereichen zugeordnet werden könnten, zwischen denen eine Art friedlicher Koexistenz möglich sei. Prutz unterscheidet zwischen der „national erziehenden Tendenz" und „der gelehrten Grundlage der nationalen Geschichtsschreibung", Bischof zwischen „den nationalen Interessen und der gelehrten Kaste", Harnack zwischen den „Werturteilen" und der „Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen": sie unterscheiden also zwischen Quellenstudium und Interpretation, zwischen der Erhebung und der Bewertung der historischen Tatsachen; das erstere ist das Reich der wissenschaftlichen Universalität, das letztere das der deutschen Nationalität: der Historiker gehört das eine Mal der Gelehrtenrepublik, das andere Mal seinem Vaterland an. Man mag zur Ergänzung noch Sybel anführen, der die „Stellung des Autors zum Staate" von „dem Kreise des wissenschaftlichen und gelehrten Apparates" abhebt.49 Im Grunde zielen alle diese Äußerungen darauf ab, die Grenze zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung zu ziehen. Das hat zu47
„ . . . die Gerechtigkeit gebietet, festzustellen, daß die Skeptiker sich nicht nur in das Unvermeidliche fügten, nicht gute Miene zum bösen Spiel machten, sondern alles daran setzten, das Beste daraus zu machen" (Erdmann, Ökumene [wie Anm. 19], 68). 4 « Wegele, Geschichte (wie Anm. 4), 976 u. 1081. 49 Sybel, Ueber den Stand (wie Anm. 24), 363 f.
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gleich Auswirkungen auf die sprachliche Seite. Die Geschichtsforschung rückt bis zu einem gewissen Grad an die „genauen Wissenschaften" heran, und wenn ihr auch eine internationale Wissenschaftssprache verwehrt bleibt, scheint sie sich doch am ehesten über die individuelle Gebundenheit der Muttersprache erheben zu können. Demgegenüber wird es zur genuinen Aufgabe der Geschichtsschreibung, die Eigenart oder Andersartigkeit der Muttersprache auszuprägen. Sehr klar findet sich diese Differenzierung ausgedrückt in einem „offenen Brief des Göttinger Philosophen Heinrich Ritter an Ranke vom Jahre 1867; der Anlaß wird uns noch beschäftigen. Er nennt die Geschichtsforschung „Geschichtskunde", die er mit der „Geschichtswissenschaft" schlechthin identifiziert: sie „folgt nur allgemeingültigen Gesetzen; bei allen Menschen, bei allen Völkern strebt sie nach derselben Form". Anders die Geschichtsschreibung, die den „schönen Künsten" zugerechnet wird: die Historiographie eines Autors „wird demungeachtet eine eigenthümliche bleiben und eine nationale Färbung an sich tragen; sie wird abhängig bleiben von den Bedingungen seiner Nationalsprache, von dem Geschmacke seines Volkes". 50 Allerdings ist unübersehbar, daß dieses komplementäre Verhältnis die Dichotomie von Universalität und Nationalität nicht beseitigt, sondern ganz im Gegenteil bestätigt. Jedoch ist ebenso sinnfällig, daß die deutschen Historiker dabei keinesfalls stehenbleiben. Der zuletzt zitierte Ritter beschließt seinen „offenen Brief 4 damit, daß er die Geschichtsschreibung in den Dienst der Geschichtsforschung stellt: „Darin aber mögen die Völker miteinander wetteifern, welches von ihnen am Besten sich selbst und andern Nebenbuhlern die Wissenschaft und den Sinn der Geschichte in Worten auszulegen versteht" 51; die Geschichtsschreibung soll also, statt die Nationen zu trennen, wissenschaftliche Kommunikation zwischen ihnen stiften. Ritter erkauft freilich diese Lösung wiederum dadurch, daß er das nationale Element, von dem er die Geschichtsschreibung durchdrungen sieht, möglichst von politischen Tendenzen freihalten möchte.52 Es läßt sich aber zeigen, daß die „nationale Geschichtsschreibung" mit ihrer politischen Tendenz mitnichten von dem universalen Wissenschaftsanspruch des Historismus wegführt, daß sie ihn vielmehr 50
Heinrich Ritter, An Leopold von Ranke über deutsche Geschichtschreibung. Ein offener Brief, Leipzig 1887, 14 f.; die Folgerung lautet: „In der strengen Wissenschaft muß ich vergessen, daß ich Deutscher bin, als Künstler am Werke meines Lebens oder auch an irgend einem besondern Kunstwerke darf ich meine Persönlichkeit und meine Nationalität in die Wagschale meiner Wahl zu legen nicht aufgeben" (ebd., 76). 51 Ebd., 76. 52 „Unsern nationalen Staat, sagt man sollen wir bedenken; den zu gründen und zu festigen, das soll alles unser Sinnen und Trachten sein; auch die Geschichte soll diesem Zweck ihren allgemeinen wissenschaftlichen Charakter opfern. Es scheint, dass man unsern Patriotismus für so schwach hält, dass unsere Liebe zu den Wissenschaften ihm ungebührlichen Schaden thun könnte" (ebd., 63). Vgl. auch ebd., 75, wo Ritter sich generell dagegen ausspricht, „dass die deutschen Geschichtschreiber eine praktische Wirkung auf die Politik der Gegenwart zu gewinnen streben sollten: weil ich für wissenschaftlich begründete und künstlerisch ausgeführte Werke, jede Tendenz der Zeit verwerfen muß".
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bis zur äußersten Konsequenz verwirklicht, daß jene Dichotomie selbst darin aufgehoben ist. Es kommt hier alles auf den Begriff der Individualität an, die seit Herder zentrale Kategorie der historistischen Wissenschaftslehre. Von Anfang an stehen dabei die Nationen im Vordergrund; die Geschichte bietet sich wesentlich als Kosmos nationaler Individualitäten dar. Die Autoren des frühen Historismus blicken auf diesen Kosmos als eine Objektwelt, die ihnen unmittelbar zugänglich ist; die eigene nationale Individualität ist ihnen nur ein anderes Wort für das objektive Anschauungsvermögen, das sie sich zusprechen. Die Autoren der „nationalen Geschichtsschreibung" gehen darüber hinaus, indem sie die nationale Individualisierung von der Objekt weit auf ihre subjektive Perspektive übertragen. Nationale Individualität bedeutet für sie, daß sie Geschichte von einem spezifisch deutschen Standort aus schreiben. Sie gewinnen daraus zugleich eine allgemeine Maxime, die alle bisherigen Annahmen über die Perspektivität historischer Erkenntnis übertrifft. Ich erinnere an Sybels Forderung nach einem „bestimmten Verhältniß" des Historikers „zu den großen weltbewegenden Fragen der Religion, der Politik, der Nationalität"; man kann sagen, daß Droysens „Historik" ein einziger Versuch ist, diesen Gedanken systematisch zu entfalten. 53 Es ist evident, daß die Entwicklung des historistischen Individualitätsbegriffs damit zu einem logischen Abschluß kommt. Mit anderen Worten: es führt ein gerader Weg von der historistischen Wissenschaftslehre zum Konzept der „nationalen Geschichtsschreibung"; ja, dieses Konzept ist selbst ein paradigmatisches Stück Wissenschaftslehre. Man mag freilich bezweifeln, ob ein universaler Wissenschaftsanspruch mit einer solchen Individualisierung und Nationalisierung vereinbar ist. Dieser Zweifel wäre berechtigt, wenn es dabei lediglich um eine Fragmentierung der Geschichte in lauter individuelle Phänomene ginge. Aber in der historistischen Individualitätskategorie steckt eine ganz andere Idee: die Idee von der Immanenz des Allgemeinen im Individuellen und damit der universalen in der konkreten Erkenntnis. Die Individualität steht im Zentrum, weil nur von ihr universale Erkenntnis möglich sei. Als die „nationale Geschichtsschreibung" die Individualisierung bis zu einer beispiellosen Perspektivierung der historischen Erkenntnis forttreibt, bleibt diese universale Dimension erhalten. Wenn man jetzt die Historie auf den nationalen Standort des Historikers fixiert, so heißt das nicht, daß man die universale Wahrheit einer nationalen Wahrheit aufopferte. Was man aufopfert, ist die Illusion einer universalen Wahrheit, die wir unmittelbar erlangen könnten: der „Gedanke, daß der Geschichtschreiber keiner Nation angehöre, von allen Banden der Nationalität" frei sei. 54 Dagegen steht die Einsicht, daß kein Historiker sich dieser „Bande" ent53
Droysen, Historik (wie Anm. 18), 238: „indem ich von dem Standpunkt, von dem Gedanken meines Staates, meines Volkes, meiner Religion aus die Geschicke der Welt betrachte". 54 Wilhelm Wachsmuth, Entwurf einer Theorie der Geschichte (1820). Hrsg. v. Hans Schleier/Dirk Fleischer (Wissen und Kritik, Bd. 1), Waltrop 1992, 126; dazu Droysen, Historik (wie Anm. 18), 236.
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ledigen könne, daß wir universale Wahrheit nur erlangen könnten im Lichte der konkreten Probleme, die sich uns im nationalen Leben der Gegenwart stellen. An die Stelle der Illusion soll also die Möglichkeit und damit Wirklichkeit universaler Wahrheit treten. Ich füge noch an, daß der historistische Immanenzgedanke sich auch auf das Verhältnis von Universalgeschichte und Nationalgeschichte erstreckt. Die Immanenz des Allgemeinen im Individuellen hat zur Folge, daß jede individuelle Geschichte immer auch Universalgeschichte ist oder umgekehrt die Universalgeschichte in den individuellen Geschichten enthalten ist. Eine Unterscheidung läßt sich allenfalls in einem äußerlichen Sinne treffen. Es versteht sich, daß in dieser Beleuchtung auch die Grenzziehung zwischen nationaler Geschichtsschreibung und universaler Geschichtsforschung gegenstandslos wird, die uns früher begegnet ist: zwischen der „Stellung des Autors zum Staate und dem Kreise des wissenschaftlichen und gelehrten Apparates", zwischen der „national erziehenden Tendenz" und „der gelehrten Grundlage", zwischen den „Werturteilen" und der „Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen". Die nationale Perspektivierung der historischen Erkenntnis bringt es mit sich, daß beides zusammenhängt, und zwar so, daß das erstere das letztere bestimmt: daß die „Stellung des Autors zum Staate" den Einsatz „des wissenschaftlichen und gelehrten Apparates" bedingt, daß die „national erziehende Tendenz" die „gelehrte Grundlage" präfiguriert, daß die „Werturteile" den Rahmen für die „Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen" abstecken, daß also die Geschichtsschreibung die Geschichtsforschung strukturiert. Entscheidend ist, daß damit der universale Charakter der Geschichtsforschung nicht etwa preisgegeben wird, sondern überhaupt erst zur Darstellung kommen soll. Die universale Geschichtsforschung konkretisiert, verwirklicht sich im Horizont der nationalen Geschichtsschreibung. Im Grunde sind beide identisch; keine kann ohne die andere gedacht werden. Was wird bei alledem aus der „scientific Community"? Sie erhält im Zuge der historistischen Individualisierung und Nationalisierung gewissermaßen eine neue Verfassung, und es ist nur scheinbar paradox, daß ausgerechnet die „nationale Geschichtsschreibung" beanspruchen kann, zu ihrer förmlichen Neubegründung beigetragen zu haben. Die Autoren des frühen Historismus erstreben internationale Kommunikation im Bewußtsein einer ihnen gleichsam angeborenen Überlegenheit. Die „scientific Community": das sind sie selbst; fremde Gelehrte mögen sich anschließen, wenn sie das deutsche Niveau erreichen. Auch in den Zeiten der „nationalen Geschichtsschreibung" ist diese Attitüde unter den deutschen Historikern verbreitet. Aber daneben entsteht ein anderes Modell: das Modell einer nationalen Konkurrenz um die universale Wahrheit. Die nationale Perspektivierung der historischen Erkenntnis läßt nicht zu, daß es eine über die Vaterländer erhobene Gelehrtenrepublik gibt; die Grundeinheit der Geschichtswissenschaft ist in die Grenzen der Nation eingeschlossen. Andererseits heißt das nicht, daß die „scientific Community" in nationale Disziplinen auseinanderfiele, im Gegenteil: sie erscheint erst jetzt wahrhaft konstituiert. Jede Nation soll ihren eigenen Weg gehen, aber zu ei-
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nem Ziel, das sie mit allen anderen Nationen gemeinsam hat: nämlich Erkenntnis zu gewinnen, die vor den Kriterien wissenschaftlicher Universalität Bestand hat. Sie tritt mit ihnen in einen Wettstreit darüber ein, welche am besten in der Lage sei, dieses Ziel zu erreichen. Sie ist daher ständig genötigt, sich mit ihnen zu vergleichen und sich der Vergleichung durch sie zu stellen. Dazu gehören auch Rezeptionsprozesse zwischen den Nationen. Es kann sich nicht darum handeln, daß eine Nation die andere einfach nachahmt. Das mag im „Kreise des wissenschaftlichen und gelehrten Apparates, bei der Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen" bis zu einem gewissen Grade möglich sein, scheidet aber für die jeweilige nationale Perspektive selbst aus, von der zuletzt doch auch jener „Apparat" und jene „Tatsachen" abhängen. Was vielmehr zum Muster werden kann, das ist gerade die Fähigkeit einer Nation, aus ihrer besonderen Situation heraus die Möglichkeit universaler Wahrheit zu verwirklichen. Es ist diese allen Nationen gestellte Aufgabe, auf der die Einheit der „scientific community" beruht. Ich wüßte keinen besseren Zeugen für diese Konstellation als Karl Lamprecht, der dem Historismus eher fern steht und auf eine Universalgeschichte im Stile der Aufklärung und des Positivismus hinarbeitet: „Während auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Methode durch die Völker hin und hin durch alle Welt ein und dieselbe ist und sich Abweichungen der nationalen Eigenarten nur in verschwindendem Maße geltend machen, ist dies auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften und speziell der Geschichte noch keineswegs in gleichem Maße der Fall. Die amerikanische Methode zum Beispiel ist von der deutschen beträchtlich verschieden Nun ist es aber wünschenswert, daß bei universalgeschichtlichen Untersuchungen die Vorteile aller Methoden zur Geltung gelangen."55 Freilich taucht dahinter schon eine neue regulative Idee für geschichtswissenschaftliche Universalität und „scientific community" auf. Es gibt einen schlagenden Beweis dafür, daß es die Autoren der „nationalen Geschichtsschreibung" mit ihrer Konzeption der „scientific community" ernst meinen: das ist die Tatsache, daß sie bei der Ausarbeitung und Realisierung ihres ureigenen Programms bei ausländischen Historikern in die Schule gehen. Es ist unter ihnen ein Gemeinplatz, daß „die deutsche Geschichtschreibung von der nationalen Historiographie der Franzosen sowohl wie der Engländer lernen solle" 56 ; der traditionelle Eifer, den bewunderten auswärtigen Großmeistern ebenbürtig zu werden, findet hier ein neues Ziel. 5 7 Die deutschen Autoren sparen freilich nicht mit Kritik: 55 Karl Lamprecht, Alternative zu Ranke. Schriften zur Geschichtstheorie. Hrsg. v. Hans Schleier (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1256), Leipzig 1988, 406. 56 Prutz, Über nationale Geschichtschreibung (wie Anm. 22), 678. 57 Vgl. Giesebrecht, Entwicklung (wie Anm. 6), 2: „Man hört nicht selten die Behauptung, daß wir Deutsche erst neuerdings eine historische Literatur gewonnen haben, welche sich der der Engländer und Franzosen ebenbürtig an die Seite stellen könne. Und es ist auch nicht wohl zu leugnen, daß wir nicht so lange Geschichtschreiber besitzen, welche in glänzender Kunst der Darstellung mit den Franzosen wetteifern, daß wir noch kaum historische Werke aufzuweisen haben, welche, gleich denen der Engländer, von dem frischen Hauche eines nationalen Staatslebens durchweht, eine männliche Gesinnung kräftigen und heben."
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sie bemängeln die politische Einseitigkeit und die mit ihr verbundene Neigung zum romanhaften Effekt: eine „im Übeln Sinne des Wortes nationale Geschichtschreibung" 58; an solchen Stellen klingt denn auch regelmäßig der ererbte Stolz auf den „sehr hohen Grad unbefangener Wahrheitsliebe" auf, der die deutsche Geschichtswissenschaft auszeichne.59 Aber im Mittelpunkt steht doch die Anerkennung, daß Engländer und Franzosen das Muster einer „engagierten Geschichtsschreibung" hervorgebracht hätten.60 Kennzeichnend ist die hohe Wertschätzung, die Thomas Babington Macaulay mit seiner „History of England" in Deutschland genießt. Gewiß geht es auch hier nicht ohne Kritik ab: Droysen spricht von der „Macaulayschen Schönschreiberei" 61; Treitschke meint abschätzig, daß Macaulay die ganze Weltgeschichte als Whig betrachte. 62 Aber das tritt hinter anderen Urteilen zurück: Sybel hebt die „gesunde, zugleich behagliche und stolze" Staatsgesinnung hervor, die sich „durch Macaulay's Werke ergießt", fühlt sich ihm auch politisch verwandt 63; Droysen weiß, bei aller Animosität, „das Heimatgefühl" zu würdigen, das Macaulay treffe 64 , und erkennt „in der lebhaften Teilnahme, mit der bei uns Macaulay aufgenommen", das „tiefe praktisch-politische Bedürfnis in unserer Nation" 65 ; auch Treitschke sieht es im Grunde als unabdingbar an, daß sich ein Historiker zu seiner „Parteistellung" bekenne.66 Zeitweilig scheinen die Autoren der „nationalen Geschichtsschreibung" überhaupt nur das Ziel zu verfolgen, ein Werk zu schaffen, das dem Macaulayschen vergleichbar wäre: „Es regte sich der Wunsch nach einem deutschen Macaulay."67 Jedenfalls steht außer Frage, daß sie sich in besonderem Maße der internationalen Geschichtswissenschaft verpflichtet fühlen, über die sich die Autoren des frühen Historismus erhoben haben. Lassen Sie mich zum Schluß einen Blick auf Ranke werfen. Er kommt nicht deswegen ans Ende zu stehen, weil er gegenüber dem Problem, von dem dieser Vortrag handelt, eine aparte Position eingenommen hätte, wie es Treitschkes Angriff auf die „Rankesche Leisetreterei" suggeriert. Das Gegenteil ist der Fall: ich schließe mit Ranke, weil er die verschiedenen Momente, von denen hier die Rede ist, in seinem Werk nahezu idealtypisch zusammenführt und weil von ihm eine 58
Prutz, Über nationale Geschichtschreibung (wie Anm. 22), 678. Treitschke an den Vater, 19. November 1864, in: Heinrich von Treitschkes Briefe. Hrsg. v. Max Cornicelius, Bd. 2, Leipzig 1913, 351. 60 Heuß, Theodor Mommsen (wie Anm. 38), 40. Droysen an Wilhelm Arendt, 8.-9. Juni 1859, in: Briefwechsel (wie Anm. 28), Bd. 2, 605; dazu Heuß, Theodor Mommsen (wie Anm. 38), 39 f. 62 Treitschke an den Vater, 19. November 1864, in: Briefe (wie Anm. 59), Bd. 2, 352. 63 Sybel, Ueber den Stand (wie Anm. 24), 359 f. u. 362. 64 Droysen an Sybel, 5. August 1853, in: Briefwechsel (wie Anm. 28), Bd. 2, 169; dazu Heuß, Theodor Mommsen (wie Anm. 38), 40. 65 Droysen an Arendt, 8. Mai 1857, in: Briefwechsel (wie Anm. 28), Bd. 2, 450; dazu Heuß, Theodor Mommsen (wie Anm. 38), 40. 66 Treitschke an den Vater, 19. November 1864, in: Briefe (wie Anm. 59), Bd. 2, 351. 67 Heuß, Theodor Mommsen (wie Anm. 38), 39. 59
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Standortbestimmung der deutschen Geschichtswissenschaft stammt, die sich vortrefflich für ein Resümee eignet. Ranke wächst mit der historistischen Weltmission der deutschen Kulturnation auf und bleibt ihr zeit seines Lebens verhaftet, auch dadurch, daß er durchgängig, von seinem Erstlingswerk bis zu seinem Alterswerk, Universalgeschichte schreibt: die Vorgeschichte und Geschichte des europäischen Staatensystems. Aber er öffnet sich in diesem Kontext auch der „nationalen Geschichtsschreibung": seit der Julirevolution verfolgt er in seinen historiographischen Schriften Erkenntnisinteressen, die sich ihm aus den Entwicklungen der preußisch-deutschen Politik ergeben; seine Universalgeschichte erhält eine von Mal zu Mal kräftigere nationale Farbe. 68 Ranke befaßt sich auch in zunehmendem Maße mit deutscher Geschichte. Zwar kommt die lange geplante Gesamtdarstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart nicht zustande.69 Aber einige Stücke sind ausgeführt: voran die „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839-1847), die auf andere Autoren sehr stimulierend wirkt. Es ist auch wiederum bemerkenswert, daß Rankes Interesse an der deutschen Geschichte seit der Reichsgründungsepoche sprunghaft wächst. Er ist mit allen diesen Bestrebungen geradezu die Personifizierung der „scientific Community"; Treitschkes Verwünschung spielt auf Rankes wiederholte Reisen nach Italien und England wie nach Frankreich an. Natürlich genießt er in Paris oder London die Anerkennung, die er stellvertretend für die neue deutsche Geschichtswissenschaft beansprucht; aber er sucht auch zu lernen und studiert vor allem die Beispiele „engagierter Geschichtsschreibung". Es liegt nahe, daß ich aus einem Brief vom März 1857 zitiere, in dem Ranke über ein Gespräch mit Macaulay berichtet: „Ich sagte ihm, daß ich die Form seiner Schriften bewundere und besonders die Art, wie er die Gegenwart durch die Vergangenheit erläutert, ohne in jedem Punkt mit ihm übereinzustimmen". 70 Die „Form seiner Schriften": die „Form" ist der Inbegriff dessen, was im Zeichen der „nationalen Geschichtsschreibung" von Nation zu Nation ausstrahlt. Am 20. Februar 1867 begeht Ranke in Berlin den 50. Jahrestag seiner Promotion zum Doktor der Philosophie. Seine Gattin Clarissa, Tochter des Rechtsgelehrten („barrister") Graves aus Dublin, gibt ihren Angehörigen zu Hause einen detaillierten Bericht über das an diesem Tag veranstaltete Spektakel: vom Schülerchor am 68 Vgl. zuletzt Rankes Dictat vom November 1885, in: Zur eigenen Lebensgeschichte (wie Anm. 1), 56-76, hier 76: „Es folgten dann die beiden großen Kriege, welche das Geschick der Welt verändert haben, der österreichisch-preußische und der preußisch-französische, deren vornehmstes Resultat darin liegt, daß die politischen Verhältnisse sich auf einem einheitlich ebenen Boden entwickelt haben. Die universale Aussicht für Deutschland und die Welt hat mich dann veranlaßt, meine letzten Kräfte einem Werk über die Weltgeschichte zu widmen, in dem ich noch begriffen bin." 69 Dazu Ernst Schulin, Universalgeschichte und Nationalgeschichte bei Leopold von Ranke, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, 37-71, hier 39 u. 59 ff. 70 Ranke an Clara Ranke, 26. März 1857, in: Leopold von Ranke, Das Briefwerk. Hrsg. v. Walther Peter Fuchs, Hamburg 1949, 415.
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Morgen bis zum Festmahl am Abend. Sie erwähnt noch besonders die zahllosen Briefe „from all parts of Europe", nicht ohne zu bemerken: „He got no letter of congratulation from England - but it is not English fashion to regard such jubilees." 71 Ranke, von dieser fast einhelligen internationalen Anerkennung beflügelt, krönt den Tag mit einer Tischrede, die er sein „historisches Testament" nennt; es ist diese Rede, durch die sich Ritter, als sie im Druck vorliegt, zu seinem „offenen Brief an Ranke gedrängt fühlt. Rankes Thema ist ein Vergleich der heutigen deutschen Historiographie „mit der fremden". Er beginnt damit, daß er dieser „nicht unerhebliche Vorzüge" zuerkennt. Die Italiener, die Engländer, die Franzosen gingen in allem von der Gegenwart, vom „Moment" aus: „man kann von ihnen und den anderen sagen, sie seien ganz national. Darin liegen ihre Vorzüge vor uns". Andererseits gebe es „eine andere Seite, worin wir sie übertreffen: Wir sind jenen überlegen in der universalhistorischen Betrachtung des Ganzen; unsere nationale Auffassung ist die universalere, zu der jene erst kommen müssen". Ranke fährt fort: „Was uns fehlt, ist die Kraft, die Fülle des Moments zu erfassen, aber wir werden auch das erreichen, wie es in Verbindung mit jener allgemeinen Richtung mir stets vorgeschwebt hat. Wenn ich nun sehe, mit welcher Kraft und Fleiß gerade jüngere Generationen diesen Weg betreten haben und wie sie den Moment zu erfassen suchen, so möchte ich sagen: ich blicke wie Moses in das gelobte Land einer zukünftigen deutschen Historiographie, wenn ich es auch nicht sehen sollte, in der sich das vollenden wird, wonach ich zeitlebens gestrebt, und was ich auf Andere zu übertragen gesucht habe. " 7 2 Was Ritter an dieser Rede stört, sind die nationalen Töne; er beharrt demgegenüber auf der Internationalität der Geschichtswissenschaft, spielt das Nationale gegen das Universale aus, bewegt sich freilich auf eine Vermittlung zwischen beiden zu. Andererseits ist offenkundig, daß es Ranke selbst, im Blick auf sein eigenes Werk und auf den Gang der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt, genau auf eine solche Vermittlung ankommt. Ich brauche nicht umständlich darzulegen, daß wir hier in konzentriertester Form alle Probleme und Aspekte, alle Ansätze und Entwicklungslinien jener Bewußtseinsgeschichte versammelt finden, um die es in diesem Vortrag geht: eine Zusammenschau der Wege, auf denen deutsche Historiker des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts ihren Standort in der „scientific Community" zu bestimmen suchen.
71 Extract from Madame von Ranke's letter giving an account of the Jubilee a Berlin on the 20 February 1867, in: Syracuse Scholar 9, Nr. 9: Leopold von Ranke (1988), 68 f. 72 Leopold von Ranke, Abhandlungen und Versuche. Neue Sammlung. Hrsg. v. Alfred Dove/Theodor Wiedemann (Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, 51/52), Leipzig 1888, 590 f.
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Die „Germania" im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert Die Wiederentdeckung der Werke des Tacitus durch den Humanismus hat, insgesamt gesehen, vor allem in der Geschichte des modernen politischen Denkens Epoche gemacht. Besonders der „Tacitus in der Romania", von dem Jürgen von Stackelberg grundlegend gehandelt hat, wird seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, vorab durch die „Annalen", der Hauptautor oder Hauptzeuge der neuen Lehre von der Staatsraison und den Staatsinteressen, die dort, sei es in legitimierender oder in kritischer Absicht, das Aufkommen der absoluten Monarchie begleitet.1 Die ganz andere Wirkung, die die Bekanntmachung der „Germania" in Deutschland auslöst, ist freilich nicht weniger einschneidend und womöglich durch ihre Dramatik und Intensität noch spektakulärer. Sie führt zugleich dazu, daß die „Germania" auf lange Zeit hin gleichsam in den exklusiven Besitz der Deutschen übergeht, jedenfalls der deutschen Geistesgeschichte eigentümlich inkorporiert wird. Gewiß stößt das Büchlein auch außerhalb Deutschlands immer wieder auf Interesse, wie etwa ein neuerlicher Blick auf die frühneuzeitliche „Romania" zeigt: von den italienischen Humanisten, die die „Germania" gleich den anderen Taciteischen Schriften noch vor den Deutschen ans Licht ziehen2, über Hotman und Montesquieu, die daraus ein Bild der ursprünglichen Verfassung Frankreichs gewinnen3, bis zu Vico Erstveröffentlichung in: Herbert Jankuhn / Dieter Timpe (Hrsg.), Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Teil I: Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahre 1986 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 175), Göttingen 1989, 128-154. 1 Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, Tübingen 1960; zusammenfassende Charakterisierung der einschlägigen Kommentarliteratur 216 f. - Neuere Darstellung dieser Seite der TacitusRezeption: Else-Lilly Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts (Basier Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), Basel / Stuttgart 1966. 2
Dazu Ludwig Pralle, Die Wiederentdeckung des Tacitus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Fuldas und zur Biographie des jungen Cusanus, (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und der Diözese Fulda, Bd. 17), Fulda 1952; Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte (wie Anm. 1), 26 ff.; Jacques Ride, L'image du Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du X V I e m e siècle (Contribution à l'étude de la génèse d'un mythe), Bd. 1, Lille/Paris 1977, 129 ff. 3 Franz Hotman, Franco Gallia, deutsche Übersetzung in: Jürgen Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen (Klassiker der Politik, N.F., Bd. 8), Köln/ Opladen 1968, 203 ff., hier 232 (Wahl der Könige), 251 (keine unumschränkte Gewalt der Könige) u. 287 (Könige und Adel). - Montesquieu eröffnet seine „Théorie des lois féodales
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und Voltaire, denen sie ein Muster menschlicher Frühzivilisation oder Barbarei bietet.4 Aber nirgends dringt die Aneignung der „Germania" so tief ins Selbstbewußtsein der Rezipienten, nirgends ist sie so sehr eigenste Angelegenheit wie in Deutschland. Was Alexander von Humboldt von der Wiederauffindung der ersten sechs Bücher der „Annalen" gesagt hat, daß sie ihm stets eine der Entdeckung Amerikas gleich wunderbare Erscheinung gewesen sei5, kann auch auf die Situation übertragen werden, als die deutschen Humanisten der „Germania" begegnen: sie lernen da wirklich eine neue Welt kennen, die ihr Weltbild von Grund auf verändert. Seit Paul Joachimsen, dem die Forschung über den deutschen Humanismus das meiste verdankt, steht die Beurteilung dieses Rezeptionsvorgangs weithin fest. Joachimsen führt auf Tacitus und zuerst auf die „Germania" neben der „Wendung zur kulturgeschichtlichen Betrachtung" „die historische Unterbauung des deutschen Patriotismus" zurück. 6 Er sieht den deutschen Humanismus unter der Anleitung des römischen Autors „in die Periode der nationalen Romantik" eintreten: „Sie ist für die Geschichte des deutschen Geistes, wenigstens was die Vermehrung der Inhalte betrifft, vielleicht noch wichtiger geworden als die zweite Romantik, von der Ich Name und Wesensbestimmung hierher übertrage". Joachimsen nennt vier Kennzeichen dieser nationalen Romantik, die ihm alle in dem „Begriff des deutschen Volkstums" zusammenlaufen: „die Anknüpfung der deutschen Geschichte überhaupt an die des Germanentums"; „die Erfüllung des Begriffs der deutschen Nation mit einer ethischen Vorstellung"; „die Herausarbeitung eines Idealtypus des deutschen Menschen"; die Begründung des deutschen Kaisertums darauf, daß „die Germanen die Besitzer und Erben des römischen Reiches geworden sind". „Was wir hier haben, ist also eine nationale Romantik mit ganz fest umschriebenen Zügen".7 Die zweite Romantik hat demgemäß „den vom Humanismus geschaffenen Begriff des Volkstums" lediglich aufgenommen und weiterentwickelt, was wiederum „das Fortleben der aus dem Humanismus geborenen Vorstellungen von der Größe der deutschen Vergangenheit" in der ganzen dazwischenliegenden Zeit zur Voraussetzung hat.8 Mit diesen Annahmen ist gegeben, daß Joachimsen der Rezepchez les Francs" im 30. Buch von „De l'esprit des lois" mit der Bemerkung, daß er sich bei der Rekonstruktion der ältesten fränkischen Verfassung neben Caesar auf Tacitus' „Germania" stütze, und zitiert in der Folge beide Autoren ausgiebig: De l'esprit des lois. Hrsg. v. Gonzague Truc, Bd. 2, Paris 1961, 297 ff. 4 Dazu von Stackelberg, Tacitus (wie Anm. 1), 156 f. u. 225. Voltaire geht es zugleich darum, die satirische Tendenz der „Germania" herauszustellen: Tacitus lobt die barbarischen Sitten der Germanen, um die Römer seiner Zeit zu kritisieren (Voltaire, Essai sur les moeurs et l'esprit des nations. Ed. Rene Pomeau, Bd. 1, Paris 1963, 200 f.). 5 Nachweis bei Pralle, Wiederentdeckung (wie Anm. 2), 9. 6 Paul Joachimsen, Tacitus im deutschen Humanismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation; zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hrsg. v. Notker Hammerstein Aalen 1970, 275 ff., hier 281. 7 Paul Joachimsen, Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes, in: ebd., 325 ff., hier 349 f. u.351. 1*
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tionsgeschichte der „Germania" in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert hinein eine relative Konstanz oder Kontinuität humanistischer Motive und Deutungen unterstellt. Es ist schwer, sich der Schlüssigkeit dieser Thesen zu entziehen, und ich sage gleich, daß mir in der Folge nichts ferner liegt, als mich mit aller nur möglichen Anstrengung um den Aufbau einer künstlichen Gegenposition zu bemühen. Andererseits lassen sich auf Dauer gewisse Einwände nicht unterdrücken, die mir, wenn schon keine eigentliche Korrektur, so doch immerhin eine Modifizierung von Joachimsens Darstellung zu erfordern scheinen. Widerspruch provoziert vor allem die behauptete Kontinuität zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert: die Linie von der nationalen Romantik des Humanismus bis zur zweiten Romantik, das durchgängige Streben nach „historischer Unterbauung des deutschen Patriotismus" im Gefolge der humanistischen Rezeption der „Germania". Wer auf genaue Verwendung historischer Begriffe dringt, hat zunächst einmal mit der Existenz eines deutschen Nationalbewußtseins und mit der Möglichkeit historischen Denkens im Humanismus und überhaupt vor dem 19. Jahrhundert Schwierigkeiten. Wenn man Nation im Einklang mit der klassischen Definition von Ernest Renan als politische Willensgemeinschaft, als tägliches Plebiszit der sich zu ihr bekennenden Individuen, als Ausprägung politischer Selbstbestimmung versteht9, dann gibt es sie in Europa und Deutschland erst seit der Französischen Revolution. Es hat ebenfalls mit der Französischen Revolution zu tun, daß auch historisches Denken, in der strikten Bedeutung einer radikalen Individualisierung und damit Historisierung aller menschlichen Verhältnisse, erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzt. Man mag eine „historische Unterbauung des deutschen Patriotismus" mit Joachimsen nationale Romantik nennen. Aber solche nationale Romantik ist vor der Romantik oder genauer: vor dem Nationalismus und Historismus des 19. Jahrhunderts nicht denkmöglich. Joachimsens Kontinuität zwischen der humanistischen und der zweiten Romantik gibt sich insoweit als romantisches Mißverständnis des Humanismus zu erkennen. Der Schluß ist zwingend, daß damit auch die Aneignung der „Germania" vor dem 19. Jahrhundert anders gedeutet werden muß. Karl Müllenhoff hat recht, wenn er die im strengen Wortsinne historische Betrachtung der „Germania" erst mit Jacob Grimm beginnen läßt 10 , mit jenem Gelehrten, der zugleich zu den beredtesten Wortführern des neuen nationalen Gedankens ge8 Paul Joachimsen, Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens, in: ebd., 549 ff., hier 582; Paul Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins. Bearbeitet und bis in die Gegenwart fortgesetzt v. Joachim Leuschner (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 24/25), 3. Aufl. Göttingen 1956, 32. 9 Vgl. dazu die Entwicklung des Nationsbegriffs bei Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, München / Berlin 1937, 7 ff. - Dokumentierung des neueren Standes der Nationalismus-Forschung: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 100), Königstein/Ts. 1978. 10 Karl Müllenhoff, Die Germania des Tacitus (Deutsche Altertumskunde, Bd. 4). Neuer, vermehrter Abdruck v. Max Roediger, Berlin 1920, 97.
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hört und aus ihm die entscheidenden Antriebe zu seinen geschichtlichen Forschungen gewinnt: wahrhaftig einer „historischen Unterbauung des deutschen Patriotismus" verpflichtet. Am Anfang eines Vortrages über die „Germania" im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert könnten diese Bemerkungen irritierend wirken. Jedoch mag die Formulierung des Themas nach einer notwendigen Präzisierung durchaus angehen. Diese Präzisierung lautet, daß es zwar nach strenger Terminologie eine deutsche Nation und damit ein deutsches Nationalbewußtsein erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gibt, daß ihnen aber bestimmte Frühformen oder Vorformen vorausgehen, die bis in die Zeit des Humanismus hinaufreichen. Wenn man sich über die hier herrschende qualitative Differenz im klaren bleibt, ist es nicht unzulässig, der Einfachheit halber auch für die Zeit vor 1800 von einem deutschen Nationalbewußtsein zu sprechen. Ich füge hinzu, daß Analoges auch vom historischen Denken gilt und daß insoweit auch wiederum von einer „historischen Unterbauung des deutschen Patriotismus" seit der humanistischen Rezeption der „Germania" die Rede sein kann. Wenn ich gleichwohl vor einer Übertragung des Historismus-Begriffs und seiner Konnotationen auf die Zeit vor 1800 zurückscheue, so deswegen, weil sich daraus fast zwangsläufig gravierende Mißverständnisse ergeben müssen, die durch die mögliche terminologische Vereinfachung nicht aufgewogen werden. Bevor man der Zeit vor 1800 Ansätze historischen Denkens zugesteht, ist die Einsicht unabweisbar, daß in ihr Denkformen vorherrschen, die einer Historisierung nicht nur heterogen sind, sondern ihr direkt zuwiderlaufen. Die angemessene Würdigung jener Ansätze historischen Denkens selbst kann nur im Kontext dieser anderen Denkformen geschehen. Die Rezeptionsgeschichte der „Germania" vom Humanismus bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bietet dafür ein einziges Lehrstück. Damit ist der weitere Gang meines Vortrages vorgezeichnet. Ich rekapituliere zunächst ganz kurz einige Hauptdaten zur Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins vor dem 19. Jahrhundert. Ich suche sodann den Beitrag der „Germania" zur Einleitung und Fortführung dieses Prozesses zu verdeutlichen. Ich werfe am Schluß, zur Abgrenzung, nochmals einen Blick auf den Übergang von der vorhistoristischen zur historistischen Behandlung der „Germania". Grundlage des deutschen Nationalbewußtseins, wie es sich nach der Französischen Revolution zu formieren beginnt, ist ein deutsches kulturelles Selbstbewußtsein, das sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts konstituiert hat. 11 Man kann mit einiger Berechtigung sagen, daß in Deutschland die politische Nation aus der Kul11
Zur allgemeinen Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins vgl. vor allem Joachimsen, Deutsches Volk (wie Anm. 8), und Werner Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte (Die deutsche Frage in der Welt, Bd. 1), 2. Aufl. Göttingen 1965. - Zur Entstehung der deutschen Kulturnation im 18. Jahrhundert und der deutschen Nationalbewegung im Gefolge der Französischen Revolution immer noch nützlich Adolf Rapp, Der deutsche Gedanke. Seine Entwicklung im politischen und geistigen Leben seit dem 18. Jahrhundert (Bücherei der Kultur und Geschichte, Bd. 8), Bonn/Leipzig 1920.
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turnation entsteht, und zwar aus den innersten Impulsen der Kulturnation heraus. Neben der positiven Erfahrung des revolutionären Nationalstaats in Frankreich und der negativen Erfahrung der französischen Fremdherrschaft ist es besonders der vom französischen Kulturimperialismus bestrittene oder angefochtene kosmopolitische Anspruch der deutschen Kulturnation, der eine bis dahin verabscheute Hinwendung zur Politik herbeiführt. Vor 1789 und selbst bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts hinein ist es geradezu die herrschende Auffassung, daß erst die Überhebung über die Niederungen des politischen Treibens die Weltgeltung der deutschen Kultur begründe. Sie reflektiert die Tatsache, daß die deutsche Kulturnation, ungeachtet aller staatlichen Förderung, außerhalb des Staates, unabhängig vom Staat, ja, gegen den Staat entstanden ist, sich sozusagen durch eine autonome geistige Schöpfung entwickelt hat. Aufklärung, Sturm und Drang, Neuhumanismus, Klassik, Idealismus, Frühromantik sind die Momente dieses Schöpfungsaktes; sie bewirken, daß deutsche Nation zum Inbegriff deutscher Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft, schließlich zum Inbegriff deutscher Sprache überhaupt wird. Diese Herkunft und diese Vorstellung von deutscher Nation bestimmen oder bedingen zugleich das soziale Erscheinungsbild, das sie darbietet. Die deutsche Nation: das sind hier die deutschen Autoren und ihr Lesepublikum, das sind die deutschen Intelligenz- und Bildungsschichten, das ist das werdende deutsche Bildungsbürgertum. Diese Nation überschreitet die Grenzen der Ständegesellschaft: ihr kultureller Anspruch entzieht sich der herkömmlichen ständischen Differenzierung; das Bildungsbürgertum, in dem sie sich darstellt, ist ein allgemeines Bürgertum, das die engen Schranken des traditionellen Bürgertums durchbricht. Wenn andererseits von hierher eine neue Grenze zwischen den Gebildeten und der ungebildeten Masse des Volkes aufgerichtet wird, so ist es dennoch erklärtes Ziel, das ganze Volk zur Kultur und damit zur Nation zu erheben. Vor allem die Idee einer deutschen Sprachgemeinschaft muß solchen demokratisierenden oder egalisierenden Bestrebungen Vorschub leisten. Es sind diese sozialen Implikationen, die am ehesten auf die Konstituierung der politischen Nation als Willensgemeinschaft vorausdeuten. Die notwendige Voraussetzung dieser ganzen Entwicklung ist, daß es im Zeichen der Aufklärung gelingt, den konfessionellen Gegensatz in Deutschland abzumildern, zu entschärfen, zu relativieren, der bis dahin die Möglichkeit einer kulturellen Verständigung behindert oder blockiert hat. Damit wird zugleich der Blick zurückgelenkt auf die Ansätze zur Bildung einer deutschen Kulturnation, die dem Zeitalter der Glaubensspaltung vorausliegen. Diese Ansätze sind auch in der Zwischenzeit niemals gänzlich abgestorben, wie etwa die sprachreinigenden Gesellschaften des 17. Jahrhunderts zeigen, die das Deutsche vor der drohenden Überfremdung durch das Französische und ganz allgemein alles Ausländische bewahren wollen. Wenn man den Ursprüngen derartiger Interessen nachforscht, gelangt man zunächst in die Frühzeit der Reformation. Im Verlauf der ersten Jahre nach 1520 wird die neue evangelische Lehre, vermittelt durch die Luthersche Bibelübersetzung, zum Inhalt eines volkstümlichen deutschen Kulturbewußtseins, das sich
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dem welschen Katholizismus entgegenstellt. Die reformatorische Bewegung vollführt damit die Popularisierung eines kulturellen deutschen Nationalgedankens, den die deutschen Humanisten im Umkreis der klassischen Bildung geschaffen haben.12 Der Humanismus ist an sich eine europäische Erscheinung, in allen Ländern dem gleichen Ziel einer Erneuerung der Antike hingegeben, in durchgängiger internationaler Gemeinschaft stehend. Er befördert andererseits in ganz Europa nationales Denken, indem allenthalben ein Wettstreit darüber entbrennt, welches Land am ehesten imstande sei, das gemeinsame Ziel zu erreichen. Die Kehrseite des humanistischen Weltbürgertums ist also ein nationales Konkurrenzverhältnis, das bis zur nationalen Rivalität und Animosität gehen kann. Den Anfang machen naturgemäß die italienischen Humanisten, die sich der unmittelbaren Abkunft Italiens vom römischen Imperium und damit ihrer spezifischen Kongenialität mit dem Geist der Antike rühmen. Wenn dadurch wiederum die Humanisten in den übrigen europäischen Ländern zur nationalen Reaktion herausgefordert werden, dann ist diese Reaktion besonders heftig in Deutschland, das die italienische Anmaßung besonders zu spüren bekommt. Es wird zu einer vorrangigen Intention der deutschen Humanisten, den italienischen Humanisten ebenbürtig, wenn nicht überlegen zu sein. Diese Konfrontation ist der Ausgangspunkt für die Entstehung eines kulturellen Selbstbewußtseins, dessen Träger die Humanisten sind. Die deutschen Humanisten schaffen damit „einen völlig neuartigen Patriotismus" 13: eine deutsche Kulturnation, für die es in der mittelalterlichen Geschichte allenfalls gewisse Bedingungen gibt. Das kulturelle Nationalbewußtsein, wie es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hervortritt, hat in diesem humanistischen Kulturpatriotismus seine historische Prämisse. Jedenfalls setzt hier eine Entwicklung ein, die, über alle Brüche hinweg, mit einer gewissen Folgerichtigkeit zu jener vorrevolutionären Konstituierung eines neuen kulturellen Selbstbewußtseins in Deutschland führt. Die Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins vor dem 19. Jahrhundert weist noch eine andere Richtung auf, die freilich für die Hervorbringung des nachrevolutionären Nationalgedankens weit weniger Bedeutung hat: den Reichspatriotismus.14 Wiederum sind es die deutschen Humanisten, bei denen die Betrachtung anheben muß, unbeschadet mancher vereinzelten Vorbereitung durch spätmittelalterliches Denken. Den Anstoß gibt die Krise des Reiches im 15. Jahrhundert, in der mehrere negative Entwicklungen zusammenkommen: der französisch-burgun12 Beste Darstellung aller dieser Epochen unverändert Joachimsen, Deutsches Volk (wie Anm. 8), 21 ff. Dazu bleiben wichtig Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Revolution (Historische Studien, Bd. 298), Berlin 1936 und Wilhelm Frenzen, Germanienbild und Patriotismus im Zeitalter des deutschen Barock, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 15, 1937, S. 203 ff. 13 Joachimsen, Deutsches Volk (wie Anm. 8), S. 21. 14 Dazu jetzt Peter Moraw u. a., Art. Reich, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 423 ff.
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dische Druck auf die Westgrenze, die Türkengefahr, der Fehlschlag der Kirchenreform, der innere Unfriede. Die Humanisten entfachen für die allenthalben geforderte Reichsreform eine publizistische Agitation, die auf eine nationale Legitimierung des Reichsgedankens hinausläuft. Das Reich wird ihnen mit der deutschen Nation identisch, wirklich ein „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation": immer noch christliche Weltmonarchie, aber von den Deutschen besessen kraft eigenen Verdienstes und zum eigenen Ruhm, ein deutsches Universalreich, Ausdruck der Superiorität der Deutschen gegenüber allen anderen Nationen. Vornehmster Adressat solcher Gefühle ist der Kaiser Maximilian I., der das auch durch Mißerfolge ungetrübte Prestige eines Wiederherstellers des Reiches besitzt.15 Der Zusammenhang oder die Wechselwirkung mit dem kulturellen Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten ist augenscheinlich. Die Rivalität mit den italienischen Humanisten und die gravamina gegen die Kurie gehören zusammen, steigern sich gegenseitig, gelten oft denselben Personen, und wenn Maximilian die neuen reichspatriotischen Hoffnungen auf sich zieht, so schätzen ihn die Humanisten ebensosehr als unermüdlichen Förderer ihrer kulturnationalen Bestrebungen. Solange die reformatorische Bewegung auf Karl V. als Reformer der Kirche und des Reiches setzt, scheint diese Einheit des kulturellen Nationalbewußtseins und des Reichspatriotismus ungebrochen. Aber im Fortgang der Reformation droht mit der Kulturnation das Reich zu zerbrechen, als die evangelischen Reichsstände in Fragen der Religion ein Widerstandsrecht geltend machen. Gleichwohl überdauert das Reich das Zeitalter der Glaubensspaltung und kann damit auch ein Reichspatriotismus überdauern. Die unverminderten Gefahren von außen, das unveränderte Interesse an der Wahrung oder Restituierung des inneren Friedens, die traditionelle Solidarität der Reichsglieder ermöglichen einen konfessionellen Ausgleich, der sich über auch schwerste Anfechtungen hinweg behauptet und wiederum den Zusammenhalt des Reiches stärkt. Der fortlebende Reichspatriotismus nährt sich aus diesen Erfahrungen. Nach dem Scheitern des religiösen Universalismus, wie ihn noch die Humanisten postuliert haben, gründet er das Reich auf einen neuen Universalismus und damit auf eine neue Bestimmung der deutschen Nation: auf den Gedanken des Rechts. Das Reich, das sich 1648 auf den Status einer Rechtsgemeinschaft im Innern und nach außen festgelegt sieht, wird zur Rechtsbewahranstalt schlechthin, zur Darstellung der Idee des Rechts erhoben, und den Deutschen soll es vor allen anderen Nationen zukommen, dieser erhabenen Funktion zu genügen. Voran die Reichsjuristen an den deutschen Universitäten huldigen dieser Auffassung als sozusagen professionellem Selbstverständnis.16 Die reale 15 Joachimsen, Humanismus und Entwicklung (wie Anm. 7), 351 ff. u. zuletzt Hermann Wiesflecker, Der Kaiser und seine Umwelt. Hof, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur (Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 5), München 1986, 306 ff. 16 Über die Reichsjurisprudenz vgl. generell die einschlägigen Bücher von Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972 u. Aufklärung und
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Entwicklung nach dem Westfälischen Frieden ist weit entfernt, den neuen Reichsenthusiasmus zu dämpfen. Die Schwäche des Reiches gegenüber der Expansionspolitik Ludwigs XIV. veranlaßt nicht nur neue Anstrengungen zur Konsolidierung der Reichsverteidigung, sondern wird auch durch den Aufstieg der Kaisermacht Österreich in den Türkenkriegen seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wettgemacht. Der österreichisch-preußische Dualismus nach 1740 scheint die Integrität des Reiches so lange nicht zu gefährden, wie beide Mächte es aus eigenem Interesse für nötig befinden, im Rahmen der Reichsverfassung zu agieren. Es ist bemerkenswert, daß die Reichsjurisprudenz in der Mitte des 18. Jahrhunderts an den deutschen Universitäten im höchsten Ansehen steht. Sogar noch in den Anfängen der Revolutionskriege kann die Überzeugung von einer besonderen Friedensmission des auf das Prinzip des Rechts gegründeten Reiches laut werden. 17 Mag die Rechtsgemeinschaft des Reiches schließlich auch aller Attribute des modernen Machtstaates ermangeln: den Reichsjuristen steht unverrückbar fest, daß gerade in dieser Verabsolutierung des Rechtsgedankens gegenüber der bloßen Machtpolitik die Auszeichnung des Reiches und damit der deutschen Nation liegt. Die neue deutsche Kulturnation, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildet, kommt nicht von diesem Reichspatriotismus her, wird durch ihn nicht entscheidend vorangetrieben, tritt zu ihm in keine dauerhafte Verbindung. Vielmehr ist unleugbar, daß die fortgesetzte Anschauung der immer mehr verfallenden Reichswirklichkeit das Verlangen nach Distanzierung von allem Staatlichen eher noch verstärkt, ja, schließlich überhaupt erst auf die Spitze getrieben hat. „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge": das bekannte Diktum Schillers vom Beginn des 19. Jahrhunderts faßt die autonome Existenz der deutschen Kulturnation geradezu als Antithese zur Agonie des Reiches, die wiederum auf die allgemeine Verderbtheit der in ihren materiellen Interessen befangenen staatlichen Welt verweist. 18 Aber es gibt unzweifelhaft auch gewisse Analogien zwischen kulturnationaler und reichspatriotischer Gesinnung, die auf ein gemeinsames geistiges Klima hindeuten: eine gleiche Negierung des konfessionellen Gegensatzes, einen gleichen universalen Geltungsanspruch, eine gleiche Abhebung von reiner Politik. Insoweit mag man eine indirekte Einwirkung reichspatriotischer Motive auf das vorrevolutionäre deutsche kulturelle Selbstbewußtsein und, über diese Vermittlung, auch auf das nachrevolutionäre Nationalbewußtsein konstatieren, das der Reichspatriotismus jedenfalls kaum auf einem eigenen Weg zu erreichen vermag. katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, Bd. 12), Berlin 1977. 17 Wieland nennt 1793 in den „Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlande" das Deutsche Reich „in seiner Art einzig", weil darin die Unabhängigkeit aller Reichsstände rechtlich garantiert sei: Vorbild einer friedlichen Neuordnung Europas; zitiert bei Moraw, Reich (wie Anm. 14), 485. 18 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, in: ders., Sämtliche Gedichte. Zweiter Teil (ders., dtv-Gesamtausgabe, Bd. 2), München 1965, 226 ff.
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Es ist offenkundig, daß die „Germania" an der Entfaltung aller dieser kulturnationalen wie reichspatriotischen Bestrebungen zwischen Humanismus und Revolution Anteil hat. Sowie sich die Kenntnis des Textes in Deutschland verbreitet, was spätestens mit der ersten hier publizierten Ausgabe, einem Nürnberger Sonderdruck von 1473, beginnt, wird er der Bildungsgeschichte des deutschen Nationalbewußtseins untrennbar verbunden. Noch in humanistischer Zeit treten zur „Germania", die Wirkung der Schrift zu steigern, weitere antike Texte. An der Spitze stehen dabei die anderen Werke des Tacitus, zumal die ersten Bücher der „Annalen" mit ihren Nachrichten über Arminius, die der Öffentlichkeit durch die Gesamtausgabe des Filippo Beroaldo von 1515 zugänglich werden. Es wird üblich, die „Germania" mitsamt allen übrigen einschlägigen Informationen des Tacitus als Einheit aufzufassen. An Tacitus schließt sich eine ganze Anzahl von Schriftstellern an: immer schon bekannte Autoren, die man jetzt neu zu lesen lernt, wie Caesar und Florus, und neue Autoren wie Vellerns Paterculus, den Beatus Rhenanus 1520 herausbringt. Sie bleiben aber allesamt auf Tacitus und zuerst auf die „Germania" zentriert, die als Inbegriff des ganzen Corpus gelten muß. Die „Germaniae exegesis" des Franciscus Irenicus von 1518 beginnt, nach einer Übersicht über die Geschichtsschreiber fremder Völker, mit einem Kapitel „De Germaniae scriptoribus", das diese Wertschätzung beispielhaft dokumentiert. Nachdem der Verfasser eine ganze Reihe antiker Schriftsteller durchmustert hat, kommt er auf Tacitus, den er weit über alle anderen erhebt: dergestalt, daß er nicht ansteht, ihn einen „alterum Germaniae conditorem" zu nennen.19 Die „Germania"-Rezeption setzt im Humanismus ein, und sie steht damit zunächst ganz im Zeichen des Klassizismus, der die Einstellung der Humanisten zur antiken Literatur und zum griechisch-römischen Altertum insgesamt prägt. Inwieweit dieser Klassizismus mit historischer Betrachtungsweise vereinbar ist, davon wird noch zu sprechen sein. Aber zunächst einmal muß mit aller gebotenen Strenge hervorgehoben werden, daß der humanistische Klassizismus nichts mit Geschichte zu tun hat, vielmehr einer extremen Form ungeschichtlichen Denkens gleichkommt. Joachimsen hat darüber allgemeine Bestimmungen von großer Prägnanz getroffen, die mir zur Anknüpfung des Folgenden geeignet scheinen. Sie lauten zusammengefaßt: Humanismus ist „Drang nach Wiederbelebung des klassischen Altertums"; das Altertum bietet ihm „die Prinzipien der Formung und der Normierung für die eigene Kultur", gibt ihr damit „eine neue, die endgültige Rechtfertigung"; Voraussetzung ist, daß „in dem eigenen Leben ein Mangel gesehen wird, für den eben die wiederbelebte Antike Erfüllung bieten soll". 20 Das Erste, was in diesen Thesen mit seitdem unerreichter Präzision deutlich wird, ist die subsidiäre oder katalysatorische Funktion, die dem klassischen Altertum im humanistischen Denken zukommt. Die Humanisten benötigen die Antike zur kategorialen Erfassung 19 20
Franciscus Irenicus, Germaniae exegeseos volumina duodecim, Hagenau 1518, Fo. 2r. Joachimsen, Humanismus und Entwicklung (wie Anm. 7), 325 f. u. 334.
Die „Germania" im deutschen Nationalbewußtsein
und Durchbildung neuer Erfahrungen, Bedürfnisse, Absichten, die ihnen im Erleben der Gegenwart entstanden sind: zur Formung, Normierung, Legitimierung von kulturellen Inhalten, die der Rückwendung zur Antike selbst vorausliegen. Sofern sich diese Inhalte überhaupt verallgemeinern lassen, geben sie einen durchgängigen Zug zur Immanenz, zu einem eher mundanen oder säkularen Weltverständnis zu erkennen, der zumindest ansatzweise über den traditionellen Rahmen dogmatischer Transzendenz hinausführt. Es entspricht der Bewußtseinslage der Zeit, daß die Humanisten diese neue Richtung ihres Denkens auf antike Begriffe fixieren. Denn das traditionelle Denken wird ihnen zuerst dadurch fragwürdig, daß ihnen die Verfremdung oder Verfälschung der Antike im Medium der scholastischen Bildung aufgeht, und ihr eigener Denkansatz muß daher zuerst auf die Forderung hinauslaufen, die Antike aus diesem heterogenen Kontext herauszulösen und in ihrer authentischen Gestalt zu restituieren. Das Zweite, was hier festgehalten werden muß, ist, daß die Antike durch diese subsidiäre oder katalysatorische Funktion in die Rolle eines über die Zeiten hinweg gültigen Vorbilds einrückt, das die unmittelbare Nachahmung in der Gegenwart möglich zu machen scheint. Die Antike soll formen, normieren, legitimieren: sie ist also Muster oder Paradigma und damit der Applizierung auf gegenwärtiges Denken fähig. Die Humanisten wollen die Antike restituieren, um sie in diese paradigmatische Geltung einzusetzen. Ich bemerke noch, daß die Erscheinungsformen dieses unhistorischen oder überhistorischen Klassizismus keineswegs statisch festliegen. Verschieden sind nicht nur, bei aller Übereinstimmung der Grundrichtung, die konkreten Gegenwartsinteressen der Humanisten von Land zu Land und manchmal selbst innerhalb eines Landes; verschieden sind damit auch die Epochen der Antike, auf die sie sich jeweils beziehen, oder die Aspekte, unter denen sie dieselben Autoren auswerten. Als die deutschen Humanisten der Möglichkeit inne werden, ihre kulturnationalen und reichspatriotischen Interessen auf die „Germania" mitsamt den ihr verwandten Texten zu gründen, da beginnt freilich eine Rezeptionsgeschichte, die im ganzen Humanismus so einzig dasteht, daß sie sogar aus dem herrschenden Klassizismus herauszufallen scheint. Denn die „Germania" hat die Hauptwirkung, daß sie die deutschen Humanisten von der Antike abbringt und ihnen mit dem alten Germanien eine Welt vor die Augen stellt, die sie mit einiger Plausibilität als eigenes deutsches Altertum identifizieren können. Sie hat diese Wirkung, weil das werdende deutsche Nationalbewußtsein gewissermaßen dazu disponiert ist. Geleitet von dem Bestreben, ihre nationale Eigenart zu erweisen, müssen die deutschen Humanisten auf Dauer Unbehagen an der Vorstellung empfinden, daß sie durch ihren Eifer gegen das griechisch-römische Altertum als bloße Adepten einer fremden Kultur erscheinen könnten, die sie noch dazu von den Italienern als den wahren Erben der Antike empfangen hätten. Ein Ausweg aus dieser doppelten Anfechtung oder Depression ist nur möglich, wenn es gelingt, sich eigener kultureller Grundlagen zu versichern, die der Antike wenigstens prinzipiell gleichwertig sind und es damit zugleich gestatten, aus der Abhängigkeit der Italiener herauszutreten. In dieser Situation muß aber geradezu zwangsläufig die Suche nach einem Text
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losgehen, der dieses dringende Bedürfnis befriedigt. Wenn es die „Germania" nicht gegeben hätte, hätte man sie gleichsam erfinden müssen. Daß selbst der Glücksfall der „Germania" solche Erfindungen nicht verhindert hat, das zeigt die „Hunibald"-Fälschung des Johannes Trithemius, die für die Zeit um 500 v. Chr., unabhängig von Rom, die Existenz eines fränkisch-germanischen Reiches behauptet21, und das zeigt vor allem die nur von wenigen verweigerte Übernahme der „Berosus"-Fälschung des Annius von Viterbo, die einem Sohn Noahs sozusagen die Gründung einer germanischen Hochkultur zwischen Don und Rhein zuschreibt und damit die kulturelle Priorität der alten Griechen und Römer in Frage stellt. 22 Allerdings hat der große Erfolg des „Berosus" in Deutschland wiederum mit dem kanonischen Ansehen der „Germania" zu tun. Denn der angeblich wiederaufgefundene Text des verschiedentlich von Josephus erwähnten babylonischen Geschichtsschreibers findet auch deshalb Glauben, weil er in vielem die Angaben des Tacitus bestätigt und weil zugleich der Kommentar des Annius häufig zur Erläuterung oder Ergänzung auf die „Germania" verweist (kein Wunder, da der Fälscher die Taciteische Schrift als eine der Hauptquellen für sein Machwerk benutzt und damit freilich auf seine Weise die Autorität des römischen Autors anerkennt). 23 Andererseits ist wesentlich, daß diese Entdeckung eines eigenen deutschen Altertums im Gefolge der „Germania" keinesfalls mit Relativierung oder gar Historisierung gleichzusetzen ist, sondern noch ganz im Banne des humanistischen Klassizismus verharrt. Zunächst ist kaum zu übersehen, daß die deutschen Humanisten einheitlich einer normativen Beurteilung des Taciteischen Germanien huldigen, wie sie prinzipiell mit der üblichen humanistischen Einstellung gegenüber der Antike übereinkommt. Wenn es sich hier um eine Relativierung handelt, dann um 21 Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 6), Leipzig 1910 (Neudruck Aalen 1968), 55 ff. u. Klaus Arnold, Johannes Trithemius (1462-1516), (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 23), Würzburg 1971, 167 ff. 22 Annius von Viterbo, Antiquitatum variarum volumina XVII, Paris 1512. Buch 15 bietet den „Berosus"-Text samt Kommentar des Annius; Buch 1 enthält eine genaue Inhaltsangabe der folgenden Bücher. Von dem Noah-Sohn Tuyscon, auf den „Berosus" die Germanen zurückführt, heißt es in der Inhaltsangabe zum fünften „Berosus"-Buch: „Tuyscon Germanos format litteris, carminibus et legibus". Annius bemerkt in diesem Zusammenhang in seinem Kommentar: „Initium ergo Philosophiae a Barbaris non a Graecis fuerit". 23 Die wichtigste Übereinstimmung zwischen dem „Berosus"-Text und der „Germania" kommt dadurch zustande, daß Annius aus letzterer die Genealogie der germanischen Könige herausspinnt, die er im „Berosus" vorführt. Zitate aus der „Germania" durchgängig im Kommentar zum fünften „Berosus"-Buch. - Zur Bedeutung der „Berosus"-Fälschung für die „Germania"-Rezeption im deutschen Humanismus: Friedrich Gotthelf, Das deutsche Altertum in den Anschauungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 13), Berlin 1900, 6 ff.; Hans Tiedemann, Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, Berlin 1913, VIII f.; Paul, Studien (wie Anm. 12), 123 ff.; Ludwig Krapf, Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen „Germania" (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 59), Tübingen 1979, 61 ff.
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die Konkurrenz zweier Wertsysteme, die jeweils auf exklusive Anwendung in der Gegenwart angelegt sind: sozusagen um den Antagonismus zweier Klassizismen. Aber sogar mit diesem Antagonismus ist es, bei Licht besehen, nicht sehr weit her. Zunächst einmal behält der antikische Klassizismus allein schon dadurch seine Dominanz, daß er es ist, der, durch die deutsche Aversion gegen die Italiener, den germanisch-deutschen Klassizismus herausfordert und ihm insoweit eingeprägt ist. Wie das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten nicht ohne den Gegensatz zu Italien, so ist auch das deutsche Altertum, das sie ihm mit Tacitus zugrundelegen, nicht ohne den Gegensatz zur Antike zu denken, auf die sich der humanistische Nationalismus in Italien stützt. Jedoch die Hauptsache ist, daß dieser Gegensatz selbst nur in einem formellen Sinne besteht. Die deutschen Humanisten stellen der Antike ein eigenes deutsches Altertum entgegen, um gegenüber der Antike und ihren italienischen Vermittlern autonom zu werden. Aber wie der Inhalt ihres kulturellen Selbstbewußtseins die Erneuerung der Antike ist, so muß es letztlich gerade ihr Stolz sein, ein deutsches Altertum zu besitzen, das sich in antiken Begriffen fassen läßt und damit wiederum in der Gegenwart zur authentischen Reproduktion der Antike ermächtigt. Sie haben gewissermaßen ein veritables nationales Interesse an einer „interpretatio Romana" des alten Germanien. Es ist daher folgerichtig, daß das deutsche Altertum, das sie aus der „Germania" herausholen, sich ziemlich genau antiken Kategorien fügt. Was sie als eigene deutsche Kultur hinstellen, ist aus Merkmalen der antiken Kultur zusammengesetzt oder nach antiken Vorstellungen geformt. Dazu kommt schließlich, was nach alledem den Ausschlag gibt: nämlich das Faktum, daß die deutschen Humanisten ihre neue Kenntnis des deutschen Altertums einem römischen Text verdanken. Erst durch diese Provenienz haben die neuen Informationen ihren wahren Wert, kommt ihnen Autorität zu, sind sie beglaubigte Kunde. Die „Germania" mag den deutschen Humanisten ein eigenes deutsches Altertum neben und entgegen der Antike vorweisen: es ist die Vermittlung des römischen Autors, durch die diese Demonstration geschieht und Evidenz gewinnt. Das deutsche Altertum der „Germania" kann das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten formen, normieren, legitimieren, weil seine Wirklichkeit auf der Formung, Normierung, Legitimierung durch einen Schriftsteller des klassischen Altertums beruht. Wenn Irenicus den Verfasser der „Germania" einen „alterum Germaniae conditorem" nennt, dann schwingt auch diese Bedeutung mit: daß das alte Deutschland für uns nur durch das Zeugnis des römischen Autors existiert. Ich merke nur an, daß Irenicus vorab den „elegantissimus stylus" rühmt, mit dem Tacitus „Germaniam aggressus est". Er hält damit bewußt, daß die Legitimierung durch die Antike, um die es dem Humanismus geht, neben der ethisch-praktischen immer auch eine ästhetisch-künstlerische Richtung hat, die beide untrennbar zusammengehören. Joachimsens Differenzierung der „Prinzipien der Formung und der Normierung" soll dieses Verhältnis ausdrücken: „Als Problem der Formung ist der Humanismus primär ästhetisch, aber so, daß in den ästhetischen Werten die ethischen als beschlossen gedacht werden." 24
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Es kennzeichnet die eigentümliche reaktive Haltung der deutschen „Germania"-Rezipienten, daß es zwei italienische Humanisten sind, die nicht nur die „Germania" in Deutschland publik machen helfen und hier als Zeugnis deutscher Vorzeit zu lesen lehren, sondern auch das Koordinatensystem abstecken, das fortan die Bewertung des Textes durch die deutschen Humanisten bestimmt. Der Kardinal Enea Silvio Piccolomini sucht 1458 in einem Brief an den Mainzer Kanzler Martin Mayer die gravamina der deutschen Nation, die dieser ihm neuerdings vorgetragen hat, dadurch zu widerlegen, daß er ihm die Verdienste der Kurie um die Deutschen schildert. Wenn Mayer sich darüber beklagt hat, daß die deutsche Nation, die einstige Herrin der Welt, durch die zunehmenden finanziellen Forderungen der Kurie verarmt und völlig heruntergekommen sei, geht die Beweisführung von Enea Silvio gerade in die entgegengesetzte Richtung: daß die Deutschen in alten Zeiten ein armes, barbarisches Volk gewesen seien, daß es in der Gegenwart kein reicheres und mehr kultiviertes Volk als die Deutschen gebe und daß die Deutschen diesen grandiosen Aufstieg ausschließlich der Christianisierung und der Zuwendung des römischen Reiches durch den Heiligen Stuhl zu danken hätten. Die Taciteische „Germania" kommt ins Spiel, als der Verfasser sich anschickt, die Barbarei der alten Deutschen zu dokumentieren. Nach Zitaten aus Caesar und Strabo liefert sie ihm die kräftigsten Züge seines Gemäldes. Sein Exzerpt über die tierische, primitive, gesetz- und kulturlose, dem Götzendienst hingegebene, räuberische Lebensweise der in ein enges Land von wilder Natur eingezwängten Germanen gipfelt in den Worten: „omnia feda, omnia tetra, aspera, barbara et, ut propriis utamur vocabulis, ferina ac brutalia". Von diesem dunklen Hintergrund soll sich in der Folge die „Germania nova" abheben, die in allem das genaue Gegenstück zur „Germania vetus" darstellt. Tacitus hat hier also für eine negative Anschauung des deutschen Altertums herzuhalten. Er führt eine überwundene Epoche vor; er macht deutlich, daß die Deutschen seitdem eine positive Entwicklung genommen haben, die in der Gegenwart ihren Höhepunkt hat. Die Formung, Normierung, Legitimierung der Gegenwart findet durch ein abschreckendes Beispiel statt.25 Der päpstliche Legat Giovanantonio Campano kommt 1471 in einer vorbereiteten Rede für den Reichstag zu Regensburg aus einem anderen praktischen Interesse heraus zu einer konträren Einschätzung. Sein Auftrag lautet, die Reichsstände von der Notwendigkeit eines neuen Türkenkrieges zu überzeugen, und er hält es für passend, diesen Effekt durch einen Appell an die angeborenen kriegerischen Tugenden der Deutschen zu erreichen. Nachdem er ausgemalt hat, wie die Deutschen des frühen und hohen Mittelalter sich durch ihre hervorragende militärische Tüchtigkeit ein riesiges Reich erworben hätten, geht er am Leitfaden der „Germania" in 24
Joachimsen, Humanismus (wie Anm. 7), 326. Aeneas Silvius, Germania, u. Jakob Wimpfeling, Responsa et replicae ad Eneam Silvium. Hrsg. v. Adolf Schmidt, Köln/Graz 1962. Der Brief Martin Mayers, auf den sich Enea Silvio bezieht, 9 f.; Eneas Entlehnungen aus der Taciteischen „Germania" 47 f. - Literatur: Joachimsen, Tacitus (wie Anm. 6), 282; Paul, Studien (wie Anm. 12), 38; Ridé, L'image du Germain (wie Anm. 2), Bd. 1, 178 ff.; Krapf, Germanenmythus (wie Anm. 23), 49 ff. 25
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die früheste Zeit zurück, in der sich ihm diese Tüchtigkeit sozusagen im Naturzustand präsentiert. Die naturwüchsige Tapferkeit der ältesten Deutschen, die ihm zumal in der ausgezeichneten Kampfmoral der germanischen Frauen und Kinder sinnfällig wird, soll den heutigen Deutschen klar machen, daß es ihrer wahren Natur entspreche, in den Krieg gegen die Türken zu ziehen. Er führt eine Epoche vor, die der Gegenwart als Vorbild dienen soll: die ursprüngliche Manifestation eines ewigen deutschen Nationalcharakters, vor dem es Entwicklung oder Veränderung nur in einem negativen Sinne geben kann. Die Formung, Normierung, Legitimierung der Gegenwart findet durch diese paradigmatische Ausprägung des deutschen Wesens statt. 26 Die deutsche „Germania"-Rezeption gleicht einer fortgesetzten Variation dieser beiden Interpretationsrichtungen, und zwar dergestalt, daß von vornherein auf ihre mögliche Vermittlung gesehen wird. So sehr sich die deutschen Humanisten über die abfällige Schilderung des deutschen Altertums bei Enea Silvio empören, so wenig steht ihnen der Sinn danach, die Tendenz dieses Autors gänzlich zu bestreiten. Im Gegenteil: sowohl unter kulturnationaler wie unter reichspatriotischer Perspektive muß ihnen durchaus daran gelegen sein, daß sich zwischen dem deutschen Altertum und der deutschen Gegenwart ein Fortschritt vollzogen hat. Unter kulturnationaler Perspektive ist ihnen unstrittig, daß die alten Deutschen, wie Tacitus sie bezeichnet, sich in ziemlich rohen Verhältnissen befunden haben und seither eine gewaltige Wandlung eingetreten ist. Keiner verschweigt den Taciteischen Satz, der das Analphabetentum der Germanen zu bezeugen scheint: „litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant". 27 Demgegenüber schmeichelt es ihrem Selbstgefühl, sich durch ihre eigenen Großtaten auf einem bisher nicht erreichten Kulminationspunkt deutscher Kulturentwicklung zu wissen. Unter reichspatriotischer Perspektive ist es ihnen ein Ruhmestitel, daß die Deutschen im Laufe der Zeit die Grenzen des Taciteischen Germanien überschritten, ihre Wohnsitze nach allen Himmelsrichtungen hin ausgedehnt und schließlich das römische Reich selbst an sich gebracht haben, durch das sie zu Herren der Welt geworden sind. Auf der anderen Seite ist es den deutschen Humanisten um die Pointe zu tun, daß alle diese Fortschritte wiederum aus der schöpferischen Substanz eines ewigen deutschen Nationalcharakters resultieren, wie ihn Campano exemplarisch in der Germania aufgezeigt hat. Wenn Tacitus „tumulos quosdam Graecis litteris inscriptos in confrnio Germaniae Raetiaeque" erwähnt 28, dann scheint sich ihnen daraus zu ergeben, daß griechische Kultur jedenfalls ohne römische Vermittlung bis an die Grenzen des alten Deutschland vorgedrungen ist, und dann scheint ihnen das für eine Kulturfähigkeit der deutschen Nation überhaupt zu sprechen, ohne die die gegenwärtige Blüte deutscher Kultur gar nicht denkbar wäre. Was weiterhin die kriegerischen 26
Auszüge aus der Rede ebd., 53 ff. Vgl. ferner Joachimsen, Tacitus (wie Anm. 6), 283 u. Ridé , L'image du Germain (wie Anm. 2), Bd. 1, 183 ff. 27 Tacitus, Germania, c. 19 (benutzte Ausgabe: P. Cornelius Tacitus, Libri qui supersunt. Ed. Erich Koestermann, Bd. 2,2: Germania. Agricola. Dialogus de oratoribus, Leipzig 1962). 28 Ebd., c.3.
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Ruhmestaten der Deutschen durch die Jahrhunderte hindurch betrifft, so brauchen die deutschen Humanisten nur Campanos Bemerkungen über die naturwüchsige Tapferkeit der Deutschen zu übernehmen, um wiederum den Wandel der Situation aus der Konstanz des deutschen Nationalcharakters zu erklären. Dem Tacitus- Text fällt es damit primär zu, die Attribute dieses Nationalcharakters zu übermitteln und der Gegenwart zur Nachahmung oder Nachfolge vorzuhalten. Am Ende steht ein ganzes Ensemble vorzüglicher Nationaleigenschaften: „fides, integritas, magnanimitas, constantia, veracitas, fortitudo, nobilitas, liberalitas, libertas". 29 Der antirömische Affekt der deutschen Humanisten führt dazu, daß ihnen die libertas zur wichtigsten der deutschen Tugenden wird, die alle anderen in sich begreift. So kann es dazu kommen, daß Arminius die Funktion erhält, den deutschen Nationalcharakter zu personifizieren. Der „liberator Germaniae", als welchen ihn Tacitus in den „Annalen" vorstellt, erscheint gleichermaßen als Führer wie als Repräsentant der deutschen Nation, als die Inkarnation ihres Wesens. Übrigens zeigt seine Behandlung durch Ulrich von Hutten, wie selbst größtmögliche Entgegensetzung des deutschen Altertums gegen die antike Welt die allgemeine Geltung antiker Kategorien vollkommen unberührt läßt. Hutten feiert den Sieger über die Römer als „liberrimum, invictissimum et Germanissimum" und weiß ihn endlich doch nicht anders zu klassifizieren denn als „Brutus Germanicus", dem in der Unterwelt ein Platz „cum Brutis" gebühre. 30 Der Grund, dem alle diese Attribute entstammen, ist, daß die Deutschen autochthon sind. Der Ausspruch des Tacitus „ipsos Germanos indigenas crediderim" 31 gilt den deutschen Humanisten nicht nur als Beleg dafür, daß die deutsche Nation eingeboren und unvermischt sei, sondern damit immer auch als Zeugnis für die ungebrochene Dauer des ursprünglichen deutschen Nationalcharakters. Hauptsächlich unter diesem Aspekt wird der Taciteische Indigenat zugleich mit der Abstammungsgeschichte des falschen „Berosus" vereinbar. Die Abkunft der Germanen von einem Sohne Noahs, wie sie hier behauptet wird, widerstreitet der Vorstellung eines in allen Zeiten unveränderlichen germanisch-deutschen Nationalcharakters keineswegs, sondern verleiht ihr durch den Anschluß der germanischen Urgeschichte an das Alte Testament sogar eine zusätzliche Begründung. Ganz abgesehen davon, rückt „Berosus" die Einwanderung der Germanen nach Deutschland in so ferne Zeiten hinauf, daß auch die These von der Bodenständigkeit der Germanen in einem relativen Sinne durchaus ihre Gültigkeit behält.
29 Zusammenstellung dieser Attribute bei Jakob Wimpfeling, Epitome Germanorum, in: Witichindi Saxonis rerum ab Henrico et Ottone I impp. gestarum libri III u. a., Basel 1532, 315 ff., hier 315, 330, 368 u. 377 ff. 30 Ulrich von Hutten, Arminius, Hagenau 1529, Fa. C 11. Vom „Brutus Germanicus" spricht Hutten 1515 im Panegyricus an Albrecht von Mainz; zitiert bei Richard Kuehnemund, Arminius or the Rise of a National Symbol in Literature (From Hutten to Grabbe), Chapel Hill, N. C. 1953, 15. 31 Tacitus, Germania (wie Anm. 27), c. 2.
Die „Germania" im deutschen Nationalbewußtsein
Wenn es einen Autor gibt, der beispielhaft alle Aspekte dieser „Germania"-Deutung vereint, dann ist es Konrad Celtis mit seinem Plan einer „Germania illustrata". 3 2 Dieser Plan, auf der Idee eines Vergleichs zwischen dem alten, Taciteischen Germanien und dem heutigen Deutschland aufgebaut, adaptiert die Methode des Enea Silvio Piccolomini, aber so, daß die eingestandenen Veränderungen sich unter jenen Begriff deutscher Nation subsumieren lassen, den die „Germania" darzubieten scheint. Unter den zahlreichen Versuchen, den Plan zu realisieren, ragt das Gedicht „Germania generalis" hervor, das Celtis im Jahre 1500 zusammen mit einer neuen Ausgabe der Taciteischen „Germania" herausbringt. 33 Die bloße Gegenüberstellung der beiden Texte weist auf den Kern des ganzen Projektes und weist damit darauf, was die „Germania" für die Konzipierung und Fundierung humanistischen Nationalbewußtseins in Deutschland bedeutet. Die „Germania generalis", die den Zustand des gegenwärtigen Deutschland umreißen soll, betont einerseits die Kontinuität zwischen Altertum und Gegenwart, indem sie die germanischen Tugenden des Tacitus ohne weiteres den heutigen Deutschen anheftet. Eine Serie von Eigenschaften, die die neuen Deutschen auszeichnen sollen, ist einfach eine Reproduktion der Taciteischen Attribute: „gens invicta, indigena, fera proelia, pro patria et caris, fides, religio, cultor honesti, veri iustique tenax". 34 Andererseits rühmt das Gedicht, daß das einstmals in den Wäldern schweifende wilde Volk zu einem „mitior populus" geworden sei, das sich der alten „ruditas fera" entledigt habe.35 Wesentlich ist, daß Celtis diese Wandlung bereits in jenen urtümlichen Attributen angelegt findet. Als er die Tugenden anführt, die den heutigen Deutschen aus dem Taciteischen Altertum überkommen sind, zählt er ohne jeden Übergang Gewohnheiten auf, die sich erst nach der Taciteischen Zeit herausgebildet haben und damit auf die gegenwärtige Gesittung hindeuten: die Fähigkeit, „varias per artes" den Lebensunterhalt zu bestreiten, den „doctiloquae praecepta Minervae" zu folgen, zu See zu fahren, Handel zu treiben. 36 Es soll damit augenfällig werden, daß das veränderte Deutschland aus dem alten Deutschland der Taciteischen Zeit erwächst. Man macht sich keiner unzulässigen Vereinfachung schuldig, wenn man feststellt, daß die weitere deutsche „Germania"-Rezeption bis ans Ende des 18. Jahrhunderts in diesen Bahnen verlaufen ist. Zwar tritt der humanistische Klassizismus seit der Reformation im ganzen zunehmend zurück: die Forderung nach Formung, Normierung, Legitimierung der Gegenwart durch die Antike weicht, unter dem Eindruck anderer Gegenwartserfahrungen, der Statuierung anderer Autoritäten. 32 Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 21). 155 ff. u. ders., Tacitus (wie Anm. 6), 284 f.; Ridé, L'image du Germain (wie Anm. 2), Bd. 1, 256 ff.; Krapf, Germanenmythus (wie Anm. 23), 68 ff. 33 Konrad Celtis, Germania generalis, in: Conradus Celtis, Opuscula. Hrsg. v. Kurt Adel, Leipzig 1966, 55 ff. 34 Ebd., 57 f. 3 5 Ebd., 64. 3 6 Ebd., 57.
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Jedoch behauptet die antike Tradition immer noch eine starke Stellung: nicht mehr kraft eigenen Anspruchs, sondern allein kraft ihrer wenigstens partiellen Übereinstimmung mit Prinzipien, die ihr vor- oder übergeordnet sind, aber dabei ein Prestige ausstrahlend, das sich von ihrer bisherigen Wertschätzung vielfach faktisch kaum unterscheidet. Über das fortdauernde Ansehen der „Germania" in Deutschland sind jedenfalls keine Zweifel erlaubt. Alle Wandlungen des deutschen Nationalbewußtseins und alle neuen Begründungen oder Rechtfertigungen, die sie erfordern, lassen die normative Vorstellung eines deutschen Altertums unberührt, das wesentlich mit der Taciteischen Beschreibung assoziiert wird. Wie im Humanismus geht das Hauptinteresse dahin, der „Germania" einen allgemeinen Begriff von deutscher Nation abzugewinnen, auf den die jeweilige Gegenwart verpflichtet werden soll, ohne daß dies die Anerkennung notwendiger Entwicklungen zwischen Altertum und Gegenwart ausschließt. Daß dabei veränderte Prämissen die jeweilige inhaltliche Auffassung dieses Nationalbegriffs wieder und wieder modifizieren, versteht sich von selbst; um so mehr springt ins Auge, daß sich gleichwohl gewisse humanistische Interpretationen geradezu topisch durchhalten. Für einen bestimmten Grundbestand deutscher Tugenden scheint Tacitus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gut. Zur Illustrierung des Ganzen mögen wenige Beispiele genügen. Melanchthon, Wortführer der evangelischen Nation, ediert die „Germania" zweimal, 1538 und 1557, um in der deutschen Jugend durch die „veteris Germaniae imago" die Liebe zum Vaterland zu erwecken. Er verweist auf die „honesta exempla majorum", rühmt die Eigenschaften der alten Deutschen: neben der kriegerischen Tüchtigkeit die „mores castissimi" die Liebe zur Wahrheit, die Religiosität, „simplicitas, probitas, humanitas, ingenuitas, libertas", durchweg angeborene Tugenden, Merkmale einer nationalen Veranlagung, die den Deutschen schlechthin eigentümlich ist. Es ist das ein schon typischer Katalog deutscher Nationalattribute, nunmehr bezogen auf eine deutsche Nation, der die Wiederherstellung des wahren Glaubens zur vornehmsten Bestimmung geworden ist. 37 - Hans Michael Moscherosch, Vorkämpfer für die Reinhaltung der deutschen Sprache in der Epoche des Barock, führt 1640 im zweiten Teil seiner „Wunderlichen und wahrhaftigen Geschichte Philanders von Sittewald" Tacitus als Gewährsmann für unverfälschtes deutsches Wesen ein. Philander, „ein Geborner Teutscher", muß da vor dem Gericht der großen „Teutschen Helden" erscheinen; das Ergebnis ihres Verhörs ist, daß sie seine deutsche Herkunft bestreiten; Beweis sind ihnen sein welscher Name, seine welsche Gestalt, seine welsche Tracht, seine welschen Haare, sein welscher Bart, seine welsche Haltung, seine welschen Eßgewohnheiten, seine welsche Sprache, denen sie jeweils das echte „Teutsch Gemüth und Hertz" entgegensetzen. Tacitus ist hier nicht nur dadurch gegenwärtig, daß auch der „Hertzog Herman" unter den „Teutschen Helden" sitzt; er gibt dem Verfasser fortlaufend die wichtigsten Stichworte für jenes „Teutsch Gemüth und Hertz", das Philander und seinesgleichen wieder37
Auszüge bei Ridé, L'image du Germain (wie Anm. 2), Bd. 2, Lille/Paris 1977, 720 ff.
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erringen müssen, wenn sie wahre Deutsche sein wollen. 38 - Herder, Künder eines deutschen Kulturbewußtseins jenseits der Aufklärung, schildert 1774 in seiner „Philosophie der Geschichte" die Überschwemmung des römischen Reiches durch die germanischen Völker in Wendungen, die, im übertragenen Sinne, eine normative Analogie zur Gegenwart nahelegen sollen: „Nicht bloß Menschenkräfte, auch welche Gesetze und Einrichtungen brachten sie damit auf den Schauplatz der Bildung der Welt! Freilich verachteten sie Künste und Wissenschaften, Üppigkeit und Feinheit - die die Menschheit verheeret hatten; aber wenn sie statt der Künste Natur: statt der Wissenschaften gesunden nordischen Verstand, statt der feinen starke und gute, obgleich wilde Sitten brachten, und das alles nun zusammen gärte - welch ein Eräugnis! Ihre Gesetze, wie atmen sie männlichen Mut, Gefühl der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung!" Er läßt nicht im unklaren, woher diese Menschen kommen: es ist das Land, „was Tacitus beschreibt". 39 Signifikant ist schließlich die Behandlung der „Germania" durch die Reichsjuristen des 17. und 18. Jahrhunderts. 40 Sie suchen mit ihrer Auslegung des Reichsstaatsrechts den einzigartigen Rechtscharakter des Reiches herauszustellen, der ihnen eine nationale Mission der Deutschen vor allen anderen Völkern begründet. Es ist unausweichlich, daß sich ihnen aus dieser Auffassung besondere Legitimierungsbedürfnisse ergeben, und es ist folgerichtig, daß sie dabei bis zu den Ursprüngen deutscher Rechtsentwicklung zurückgehen. Das Reichsstaatsrecht der Gegenwart scheint ihnen auf Prinzipien zu beruhen, die immer schon gültig gewesen sind. Die Reichsjuristen brauchen also die paradigmatischen Rechtszustände eines deutschen Altertums, und sie sehen sich auf die Möglichkeit verwiesen, diese ursprüngliche deutsche Verfassung mit Hilfe der „Germania" zu rekonstruieren. Konkreter Ansatz für diese Rückwendung ist ihre Auseinandersetzung mit dem römischen Recht, die die Konkurrenz zwischen deutschem Altertum und Antike im deutschen Humanismus aufnimmt und verschärft. Wenn das Reichsstaatsrecht lange Zeit als bloße Unterabteilung des römischen Rechts gelehrt worden ist, so muß jetzt das Bemühen obenan stehen, die Herkunft des Reichsstaatsrechts aus dem römischen Recht zu bestreiten und es vielmehr auf eine deutsch-rechtliche Grundlage zu stellen. Tacitus soll über diese deutsch-rechtliche Provenienz Auskunft geben. Er tritt allerdings, wie im Humanismus, mit einer literarischen Autorität auf, die diese deutsch-römische Konkurrenz wiederum mindert. Übrigens stößt man, wenn man die Tacitus-Interpretationen der Reichsjuristen durchmustert, auf manches humanistische Motiv. Eklatant ist vor allem der ständig wiederkeh38
Teilabdruck in: Paul Joachimsen (Hrsg.), Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Entwicklung, (Deutscher Staatsgedanke, Bd. 11), München 1921 (Neudruck Darmstadt 1967), 225 ff. - Dazu Gotthelf, Altertum (wie Anm. 23), 45 und Frenzen, Germanienbild (wie Anm. 12). 39 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt am Main 1967, 50 ff. 40 Dazu wiederum allgemein Hammerstein, Jus (wie Anm. 16). 19*
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rende Aufweis einer originären deutschen Freiheitsgesinnung. Die Humanisten gewinnen daraus eine Waffe gegen Rom, gegen die Arroganz der italienischen Humanisten ebenso wie gegen die Ausplünderung durch die Kurie; die Reichsjuristen erkennen in der Freiheit der deutschen Vorzeit die Grundlage der „teutschen Libertät", als welche sie den Sinn der Reichsverfassung und damit den Vorzug der deutschen Nation begreifen. Ich kann hier darauf verzichten, umständlich einzelne Namen und einzelne Schriften auszubreiten: alle Reichjuristen dieser Zeit haben, im gleichen Geist, aus der „Germania" geschöpft, manche haben sie ediert und kommentiert. Ich nenne zur Exemplifizierung nur einen der Pioniere der ganzen Richtung, bei dem die reichsjuristische Behandlungsweise sozusagen programmatisch wird: Hermann Conring. Er präzisiert 1635 das neue Konzept des Reichsstaatsrechts in der Vorrede zu einer Ausgabe der „Germania" und macht damit offenbar, welche ausschlaggebende Funktion dem Tacitus- Text im Rahmen dieses Konzeptes zugedacht ist. Er polemisiert scharf gegen solche Reichsjuristen, die die Reichssatzungen und das Reichsrecht nur auf Grundlage der Gesetze Justinians erörterten und damit aus fremden und trüben Quellen herleiteten. Er führt dabei drei Argumente ins Feld. Er leugnet zunächst, daß das ganze römische Recht oder auch nur das römische Staatsrecht dem Naturrecht gleichzusetzen sei: die römischen Gesetze scheinen ihm vielmehr nur die Kraft einer Spezialsatzung zu haben. Er verwirft weiterhin die Vorstellung, das ganze römische Recht oder auch nur das römische Staatsrecht sei von Deutschen als staatliche Norm rezipiert worden: er sieht keinerlei Beweise einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung. Er weist schließlich die These zurück, die Römer als die Herren der Welt hätten ihr Recht nach Deutschland gebracht: er konstatiert demgegenüber, daß die Deutschen jenseits von Rhein und Donau den Römern nur ganz kurze Zeit gehorcht hätten und daß im übrigen die ganze römische Macht durch die deutschen Stämme zerstört worden sei. Der Leser soll hier vorab an den Freiheitskämpfer Arminius denken und wird damit zugleich auf die „Germania" hingelenkt, in der das Urbild der wahren deutschen Verfassung aufgehoben ist. 41 Ich stelle noch einmal heraus, was diese sämtlichen Rezeptionsweisen, wie sie bisher beleuchtet worden sind, gemeinsam kennzeichnet: eine prinzipiell ungeschichtliche Hinsicht auf den Tacitus-Text. Alle Rezipienten begegnen da einer bestimmten Vergangenheit, aber einer Vergangenheit, die durch ihre normative Stilisierung ideale Gegenwart wird. Es ist, mit den Humanisten beginnend und sich über Reformation und Barock bis zu den Autoren des späten 18. Jahrhunderts fortsetzend, ein doppelter Vorgang: eine, wie auch immer begründete, Kanonisierung des römischen Schriftstellers wie der von ihm bezeugten altdeutschen Epoche. Was dieser Schriftsteller über diese Epoche überliefert, das ist keine bloße historische Nachricht über ein entschwundenes Zeitalter, sondern das ist ein Vorbild für alle Zeiten: der Grund einer fortwährenden Geltung, eine Anweisung zum Verhal41
Deutsche Teilübersetzung in: Joachimsen (Hrsg.), Staatsgedanke (wie Anm. 38), 234 ff.
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ten und Handeln. Wenn im folgenden dennoch von gewissen historisierenden Tendenzen der „Germania"-Rezeption die Rede sein muß, dann steht das von vornherein unter dem Vorbehalt dieser Stilisierung, Idealisierung, Kanonisierung: dieser prinzipiell ungeschichtlichen Einstellung. Es ist nicht nur so, daß die ungeschichtliche die geschichtliche Betrachtungsweise überwiegt; sie bestimmt ihr vielmehr auch den Einsatz und damit die Grenzen. Zur Herleitung dieser Historisierung ist wiederum auf den Humanismus zurückzugehen. Wenn es richtig ist, daß die Restituierung der Antike, die die Humanisten entgegen der scholastischen Verunstaltung antiker Bildung fordern, zu einer normativen Restituierung führen soll, so ist doch ebenso richtig, daß dieser normativen eine historische Restituierung vorausgehen muß. Denn die scholastische Verunstaltung bewirkt, daß die Antike zunächst nicht mehr unmittelbar gegeben ist; sie macht einen Abstand zwischen Gegenwart und Altertum bewußt; sie verlangt eine Anstrengung, um diesen Abstand zu überbrücken und damit des unverfälschten Altertums ansichtig zu werden; sie richtet alle Aufmerksamkeit auf die wahre Gestalt der Antike; sie lenkt also auf die Eigentümlichkeit der Antike und insoweit auf die Notwendigkeit eines historischen Verständnisses. Vorab muß es als geboten erscheinen, sich der Dokumente und primär der literarischen Dokumente zu versichern: durch planmäßige Sammlung, durch historische Quellenkritik, durch historische Kommentierung. Über die Dokumente wiederum kommen einzelne Sachbereiche historischer Forschung in den Blick: die sogenannten Antiquitäten der Geographie, des Rechts, der Verfassung, der Religion, der Künste und Wissenschaften. Es bleibt aber entscheidend, daß diese historischen Interessen niemals Selbstzweck sind, sondern immer Mittel zum Zweck: Mittel zum Zweck der normativen Applikation. Die historische Erforschung der Antike zielt auf eine Epoche, die sich durch ihren überzeitlichen Modellcharakter einer eigentlichen Historisierung entzieht. Die Einsetzung der Antike in ihre unverfälschte Gestalt soll eine unverfälschte Aneignung ermöglichen. Es ist in diesem Sinn, daß der deutsche Humanismus auch eine historische Bearbeitung der „Germania" kennt: eine philologische Aufbereitung des Textes und, daraus entwickelt, eine geschichtliche Anschauung des deutschen Altertums, aber immer in der Absicht, damit zu einer normativen Beurteilung des Textes und zu einer normativen Sicht des deutschen Altertums hinzuführen. Ich brauche mich zur Erläuterung nur auf einen Autor zu beschränken, der für sehr lange Zeit die methodischen Prinzipien der „Germania"-Philologie wie damit der Erforschung der germanisch-deutschen Frühgeschichte festgelegt hat: Beatus Rhenanus.42
42 Literatur: Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 21), 126 ff. u. ders., Tacitus (wie Anm. 6), 287 ff.; Ulrich Muhlack, Beatus Rhenanus, in: Ada Hentschke/ders., Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1972, 14 ff. u. ders., Beatus Rhenanus, Jakob Wimpfeling und die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland, in: Annuaire de Selestat 35, 1985, 193 f f ; Peter Schäffer, Beatus Rhenanus als Tacitus-Rezipient, in: ebd., 149 ff.
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Der Gelehrte aus Schlettstadt im Elsaß, wie er insgesamt die Zielvorstellungen des deutschen Humanismus teilt, ist ein deutscher Patriot wie nur einer seiner mitstrebenden Zeitgenossen. Er ist Kulturpatriot, wenn er das friedliche Konkurrenzverhältnis der europäischen Humanisten untereinander preist und dabei die Fortschritte der Deutschen herausstreicht. 43 Er ist Reichspatriot, wenn er die Siege Maximilians feiert und mit Wimpfeling auf der Zugehörigkeit des Elsaß zu Deutschland beharrt. 44 Seine Hinwendung zur „Germania" ist wesentlich von solchen Überzeugungen oder Stimmungen motiviert: er weist dem Text die gleiche legitimierende Funktion zu, die ihm die anderen deutschen Humanisten zuerkennen. Es fehlt in seinen „Germania"-Kommentaren von 1519, 1533 und 1544 nicht an Urteilen, die diese Haltung bezeugen: so lobt er, mit deutlichem Blick auf die Gegenwart, die „pristina libertas", die „prisca simplicitas", die „sanctitas" der alten Germanen, ohne ihre „ferocia" zu verschweigen 4 5 Aber gerade diese präskriptive Auffassung der „Germania" ruft zugleich ein anhaltendes Bedürfnis an philologisch-historischer Durchleuchtung des Textes hervor. Der römische Autor muß recht verstanden sein, wenn er die gegenwärtigen Deutschen recht belehren soll. Rhenanus kümmert sich einmal um die Textkritik, bei der er sich auf Vergleiche zwischen verschiedenen ihm vorliegenden Drucken und gelegentliche Konjekturen angewiesen sieht. Er sucht aber zugleich vor allem das inhaltliche Verständnis des Textes zu fördern. Dabei interessiert ihn zunächst am meisten die genaue Bedeutung der von Tacitus gebrauchten Völkernamen. Eine angemessene Erklärung scheint ihm die Einsicht berücksichtigen zu müssen, daß die Taciteischen Namen nicht einfach auf das gegenwärtige Deutschland übertragen oder bezogen werden dürften, es vielmehr seit dem Altertum eine ungeheure Veränderung der Völkersitze und Völkernamen gegeben habe. Im Bemühen um eine authentische Interpretation des Textes wird er hier also einer historischen Differenz zwischen Altertum und Gegenwart gewahr. Er zieht daraus die allgemeine Konsequenz, daß bei der Lektüre älterer wie jüngerer Geschichtswerke genau zu beachten sei, wann sie entstanden seien, von wem sie stammten, wovon sie handelten, und daß danach die älteren mit den jüngeren Werken verglichen werden müßten und umgekehrt: eine Konsequenz, durch die die „Germania" zu einem Text wird, der zu seiner adäquaten Auswertung der historischen Einordnung bedarf. Dieses Konzept, erstmals in der Einleitung zum Kommentar von 1519 ausgesprochen46, wird für die Vorgehensweise des Rhenanus wegweisend. Gleich am 43
Beatus Rhenanus an Jacobus Favre, 1. März 1512, in: Adalbert Horawitzl Karl Hartfelder (Hrsg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Leipzig 1886 (Neudruck Hildesheim 1966), 41 f.; dazu Otto Herding, Beatus Rhenanus an Jakob Wimpfeling (ein bislang nicht edierter Brief), in: Annuaire de Sélestat 35, 1985, 223 ff., hier 226. 44 Muhlack, Beatus Rhenanus (wie Anm. 42), 25 u. ders., Rhenanus und Wimpfeling (wie Anm. 42), 201. 45 Beatus Rhenanus, In libellum de Germania castigationes, in: P. Cornelius Tacitus, Annalium ab excessu Augusti sicut ipse vocat, sive Historiae Augustae, qui vulgo receptus titulus est, libri sedecim u. a.. Ed. Beatus Rhenanus, Basel 1533, 421 ff., hier 423 u. 425 f.
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Anfang dieses Kommentars hebt er das neue Deutschland, das sich dank der militärisch-politischen Erfolge der Franken auch über linksrheinisches Gebiet erstrekke, vom Taciteischen Germanien ab, dem noch der Rhein die Westgrenze gewesen sei. 47 Gewiß spricht da auch der Reichspatriot, der, wie seit Campano üblich, die Erweiterung der deutschen Grenzen für die Ruhmesgeschichte der deutschen Nation beansprucht. Aber seine erste Intention ist es, durch solche Unterscheidung von altem und neuem Deutschland zu einer richtigen Vorstellung über den „Germania-Begriff des Tacitus zu verhelfen. Diese philologisch-historische Klarstellung geht der normativen Beanspruchung voraus, soll sie überhaupt erst ermöglichen. Ich kann mir weitere Beispiele ersparen: genug, daß Rhenanus seine historische Methode der Namenerklärung im ganzen wie im einzelnen mit strenger Systematik durchführt. Ich habe aber noch zu erwähnen, daß Rhenanus aus seiner „Germania"-Kommentierung Gesichtspunkte für eine Darstellung der germanisch-deutschen Frühgeschichte entwickelt hat. Diese Rerum „Germanicarum libri tres", 1531 erschienen, haben zum historiographischen Gegenstand, was Rhenanus bei der philologisch-historischen Bearbeitung des Tacitus- Textes aufgegangen ist und hier den methodischen Ansatz seiner Interpretation gebildet hat: die Entwicklung von der „Germania vetus" zur „Germania recentior", vom alten zum neuen Deutschland. Die beiden Eckdaten der Darstellung sind die römische Zeit und die Zeit der Ottonen. Die „Germania" des Tacitus steht für das erste Eckdatum; die nach ihr gegebene Beschreibung stellt die Kriterien auf, an denen der ganze weitere Fortgang der Dinge gemessen wird. Es entspricht den nationalen Prämissen des Rhenanus, daß damit auch bestimmte - wohl vertraute - normative Kriterien in die Darstellung einfließen. Am Anfang der Beschreibung des Taciteischen Deutschland heißt es, daß die germanischen Völker in „summa libertate" gelebt hätten48, am Anfang der Beschreibung des Ottonischen Deutschland, daß die Fürsten und Städte die „libertas" erlangt hätten.49 Die Entwicklung vom alten zum neuen Deutschland wird damit gleichbedeutend mit einer Entfaltung germanisch-deutscher Freiheit, die, von vornherein im Wesen der Nation angelegt, sich, nach einer Periode der Unterdrückung, schließlich wiederum erhebt. Dazu kommt, daß Rhenanus dieser Wiederbegründung der Freiheit in Deutschland einen Aufschwung der „civilitas" und der „literae" folgen läßt. 50 Der Wandel der Deutschen von Barbarei zu Kultur vollzieht sich also aus der unzerstörbaren Freiheitsgesinnung heraus, die den Deutschen immer schon innewohnt. Auch wenn Rhenanus alle diese Feststellungen ohne explizite Wertung trifft, so ist 46 P Cornelius Tacitus, De moribus et populis Germaniae libellus. Cum commentariolo vetera Germaniae populorum vocabula paucis explicante, Basel 1519, 45 f. 47 Ebd., 46 ff. 48 Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres, Basel 1551, 3. 49 Ebd., 101. so Ebd.
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doch die Wertung impliziert: eine Wertung, die aus einer Taciteischen Kategorie eine Definition des deutschen Nationalcharakters ableitet, wie uns das immer wieder begegnet ist. Jedoch im Vordergrund der Darstellung steht die minuziöse Rekonstruktion konkreter historischer WandlungsVorgänge: insbesondere jener Veränderungen der Völkersitze und Völkernamen, um die es Rhenanus zuerst in der „Germania-"Kommentierung gegangen ist. 51 Das Hauptthema der „Rerum Germanicarum libri tres" sind die Wanderungen germanischer Völker, ist die genaue Lokalisierung dieser Völker zu jedem Zeitpunkt: die „emigrationes" der ältesten Germanen, die „demigrationes" germanischer Stämme innerhalb Germaniens, die „immigrationes" germanischer Stämme ins römische Reich im Zuge der Völkerwanderung, die Konsolidierung der Völkersitze seit der Errichtung des Frankenreiches. Als Fundierung der normativen Sicht germanisch-deutscher Frühzeit erscheint damit eine Sicht, die diese Zeit als historischen Komplex faßt, als Epochenfolge, in der sich bestimmte historische Veränderungen ereignet haben. Das Material zur geschichtlichen Rekonstruktion liefern Quellenschriftsteller, die ihrerseits, gemäß dem 1519 verkündeten Programm, historisch datiert werden müssen. Auch Tacitus ist unter dieser Perspektive nur ein Quellenschriftsteller: allein deshalb wichtig, weil er unschätzbare historische Informationen vermittelt. An einer philologisch-historischen Erforschung der „Germania" herrscht auch nach dem Humanismus Bedarf. Denn mit der nationalen Autorität des Tacitus-Textes gilt das Postulat weiter, diese Autorität auf einen historisch gereinigten und verstandenen Text zu stützen. Ich nenne eher willkürlich einige Namen, um das zu demonstrieren: Andreas Althamer, einen protestantischen Autor, der in seinen „Germania"-Kommentaren von 1529 und 1536, auf den Spuren des Beatus Rhenanus, vor allem der weiteren Klärung der Völkernamen nachgeht52; den Straßburger Historiker Matthias Bernegger, der, dem unverändert kräftigen elsässischen Reichspatriotismus anhängend, in Vorlesungen zwischen 1614 und 1624 die „Germania" verstärkt nach den Verfassungsformen, Sitten und Gebräuchen der alten Deutschen befragt 53; Coming, der erstmals systematisch die Zuverlässigkeit der Taciteischen Nachrichten zur Debatte stellt 54 ; Georg Christian Gebauer, Vertreter 51
Dazu zusammenfassend die Dedikationsepistel an König Ferdinand vom 1. März 1531, ebd., Fo. D V f.; Abdruck auch im Briefwechsel des Beatus Rhenanus, 384 ff. 52 PI Cornelius Tacitus, De situ, moribus et populis Germaniae libellus, mit Scholien v. Andreas Althamer, Nürnberg 1529, bes. Fo. 1 ff. u. Andreas Althamer, Commentaria Germaniae in P. Cornelii Taciti Equitis Rom. libellum de situ, moribus, et populis Germanorum, Nürnberg 1536, bes. 1 ff.; in beiden Fällen beruft sich Althamer, jeweils im Epilog an den Leser, ausdrücklich auf das Vorbild des Beatus Rhenanus. - Literatur: Joachimsen, Geschichtsauffassung (wie Anm. 21), 146 ff.; ders., Tacitus (wie Anm. 6), 291 f.; Ridé, L'image du Germain (wie Anm. 2), Bd. 2, 796 ff. 53 Anton Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621, (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 77), Wiesbaden 1977, 281 ff.
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der Göttinger Reichjurisprudenz des 18. Jahrhunderts, der in seinen „Germania"-Kommentaren die Kenntnis der altdeutschen Rechtsinstitute zu fördern sucht 55 ; Christian Gottfried Körner, nachmaligen Freund Schillers, der 1775 neuerdings die „fides" der „Germania" erörterte. 56 Die Summe dieser ununterbrochen fortgeführten philologisch-historischen Untersuchungen ergibt eine stupende Akkumulierung antiquarischen Wissens, aber ohne daß dabei jemals die im Humanismus festgelegten normativen Rahmenbedingungen verrückt worden wären. Althamer klärt die Völkernamen der „Germania" aus seinem „erga Germaniam amor", der sich ebenso auf die Tapferkeit wie auf die Sittenreinheit der alten Deutschen bezieht. Bernegger schließt aus den Verfassungsformen, Sitten und Gebräuchen, von denen Tacitus berichtet, auf die Lösung des Problems, welches die bestmögliche Staatsverfassung sei. Coming zweifelt an der Zuverlässigkeit der „Germania", um im Ergebnis ihr Ansehen zu kräftigen. Gebauer handelt vornehmlich von solchen altdeutschen Rechtsinstituten, die ihm jedenfalls generell bis in die Gegenwart fortzuwirken scheinen. Auch Körner schließt mit einem Lob des Tacitus. Alle diese Autoren haben weitreichende historische Einsichten, aber jeder setzt die paradigmatische Gültigkeit des Tacitus-Textes voraus, keiner treibt die Historisierung über diese Schranke hinweg. Was diese Begrenzung bedeutet, tritt vielleicht am klarsten in Erscheinung, wenn man auf Jacob Grimm vorausschaut, der sie im Zeichen des beginnenden Historismus überwindet. 57 Er verbindet mit einem neuen Nationalgedanken eine neue Bewertung des germanisch-deutschen Altertums, durch die die „Germania" in einen neuen Zusammenhang einrückt. Der Mann der Göttinger Sieben, der Vorsitzende der Germanistenversammlungen im Vormärz, der Abgeordnete der Paulskirche ist ein Mitstreiter der aus der Kulturnation kommenden politischen Nationalbewegung: er hat die Überzeugung, ein Volk sei „der inbegriff von menschen, welche dieselbe spräche reden: das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste erklärung"; ihm ist „durch feindliche Unterjochung in den wehevollen anfängen dieses jahrhunderts" bewußt geworden, daß das „kleinod unsrer spräche" ohne die Fortbildung der deutschen Sprachgemeinschaft zum deutschen Nationalstaat nicht festgehalten werden könne; seitdem gilt ihm als natürliches Gesetz, „dasz nicht flüsse, nicht berge völkerscheide bilden, sondern dasz einem volk, 54
Edwin Rosner, Hermann Conring als Arzt und als Gegner Hohenheims, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk (Historische Forschungen, Bd. 23), Berlin 1983, 87 ff., hier 99. 55 Hammerstein, Jus (wie Anm. 16), 339. 56 Theobald Bieder, Geschichte der Germanenforschung, Bd. 1: 1500 bis 1806 (Deutsches Ahnenerbe, R. A, Bd. 2), 2. Aufl. Leipzig 1939, 231. 57 Zu Jacob Grimm insgesamt zuletzt: Dieter Henning/Bernhard Lauer (Hrsg.), 200 Jahre Brüder Grimm: Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und Wirkens, Kassel 1985. Die immer noch beste Darstellung über Grimms Stellung im Historismus: Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift 128, 1923,415 ff.
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das über berge und ströme gedrungen ist, seine eigene spräche allein die grenze setzen kann". 58 Grimms lebenslange Beschäftigung mit dem germanisch-deutschen Altertum steht ganz im Dienst dieser nationalpolitischen Interessen: im Einklang mit jenen „neuen historikern, welche aus der geschichte die politik aufzubauen für höchste noth halten". 59 Aber der Sinn dieser Auffassung ist, daß die Geschichte die Politik dadurch auferbauen soll, daß sie nichts anderes ist als Geschichte: durch Aufklärung über die historischen Wurzeln, Voraussetzungen, Bedingungen der Gegenwart. Das germanisch-deutsche Altertum ist für Grimm also nur noch eine historische Epoche: für die Gegenwart bedeutungsvoll, weil sie eine historische Entwicklung eröffnet, aus der die Gegenwart resultiert und aus der sie sich daher begreifen muß. Die Ursprünge, auf die er rekurriert, die Konstanten und Veränderungen, die er ermittelt, sind nur noch Momente eines historischen Prozesses. Die „Germania" nimmt in diesen Forschungen eine überragende Stellung ein. Ich zitiere nur nochmals den vielzitierten Satz aus der Vorrede der „Deutschen Mythologie": „durch eines römers unsterbliche schrift war ein morgenroth in die geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere Völker zu beneiden haben". 60 Die „Germani" bildet für Grimm überall den Ausgangspunkt seiner historischen Untersuchungen. Müllenhoff nennt Grimms große Werke geradezu „für viele puncte einen sachkommentar der Germania" 61; die erst kürzlich durch Else Ebel bekannt gewordene „Germania"-Vorlesung Grimms macht womöglich noch deutlicher, wie sehr seine sämtlichen Forschungsrichtungen in dem Tacitus-Text konvergieren. 62 Aber es ergibt sich aus Grimms historischer Auffassung des germanisch-deutschen Altertums, daß Tacitus diese Wertschätzung nur noch als historischer Quellenschriftsteller genießt: durch Nachrichten, die für die historische Erkenntnis einer bestimmten Epoche der Vergangenheit benötigt werden. Grimm steht damit in einem doppelten Verhältnis zur bisherigen Bearbeitung der „Germania". Einerseits knüpft er an die historischen Studien an, die im Humanismus begonnen und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine immense Menge von Kenntnissen über die germanisch-deutsche Frühzeit erbracht haben. Was er ihnen verdankt, lehrt am eindrücklichsten die Lektüre seiner „Germania"-Vor58 Jacob Grimm, Über die wechselseitigen Beziehungen und die Verbindung der drei in der Versammlung vertretenen Wissenschaften. Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. Sept. 1846. Frankfurt a.M. 1847, 11 - 18, in: ders., Recensionen und vermischte Aufsätze (Kleinere Schriften, Bd. 7), Berlin 1884, 556 ff., hier 557.; Jacob Grimm /Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854 (Neudruck München 1984), VI. 59 Grimm, Beziehungen (wie Anm. 58), 561. 60 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. 1, (Ullstein-Buch Nr. 35107), Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, V.
61 Müllenhoff, 62
Altertumskunde (wie Anm. 10), Bd. 4, 97.
Jacob Grimms Deutsche Altertumskunde. Hrsg. v. Else Ebel (Arbeiten aus der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Bd. 12), Göttingen 1974.
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lesung. Man trifft da durchweg auf Bemerkungen, die schon in älteren Kommentaren vorkommen: die geographisch-historische Beschreibung etwa, der erste Hauptteil der Vorlesung, ist von der historischen Geographie des Beatus Rhenanus qualitativ kaum verschieden. Aber diese Übereinstimmung ist nur das eine und das wenigste. Worauf es letztlich ankommt, ist das andere: daß Grimm die historische Betrachtungsweise aus ihrer bisherigen instrumentellen Rolle gegenüber ungeschichtlichen Zielsetzungen befreit und zu einer Methode erhebt, die sich selbst Zweck ist. Die traditionelle philologisch-historische „Germania"-Kommentierung macht halt vor der normativen Geltung des römischen Autors und des deutschen Altertums, das man aus dem Text herausliest. Dagegen sind bei Grimm, der es nur noch mit einem historischen Quellenschriftsteller und nur noch mit einer historischen Epoche zu tun hat, alle Ansprüche normativer Geltung ausgetilgt. Was bleibt, ist, daß gerade und nur diese durch und durch historische Einstellung auch eine Gegenwartsdeutung beansprucht: nicht durch applizierbares Wissen des Verhaltens und Handelns, sondern durch Erhellung der Vergangenheit als Vorbereitung neuen Verhaltens und Handelns in der Gegenwart. Erst jetzt ist damit der Bann des Klassizismus gebrochen und die Wende zur Geschichte vollzogen: zur „historischen Unterbauung des deutschen Patriotismus", zur nationalen Romantik.
Historie und Politik im Vormärz Wer heute nach Historie und Politik fragt, braucht sich um Aktualität nicht zu sorgen und hat es zugleich mit einem uralten Thema zu tun. Seit der Antike gibt es eine Geschichtsschreibung, die aus der politischen Situation ihrer Zeit entsteht und auf sie zurückzuwirken sucht; unter den Autoren sind alle großen Namen der Historiographiegeschichte. Allerdings erhält dieses Verhältnis seine schärfste Ausprägung erst seit dem Beginn der Moderne an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, im Gefolge der Französischen Revolution, als es zu einer bis dahin beispiellosen wechselseitigen Durchdringung kommt: zu einer Politisierung der Historie und zu einer Historisierung der Politik. Mein Referat soll die Anfänge dieser Prozesse verfolgen, und zwar dort, wo das im Rahmen unserer Sektion naheliegt und wo sich, aus einem bestimmten Grund, die neue Richtung mit besonderer Intensität entwickelt: im vormärzlichen Deutschland. Es ist unumstritten, wann der Vormärz endet: mit der Märzrevolution von 1848. Dagegen herrscht Uneinigkeit darüber, wann er beginnt: 1815, mit dem Wiener Kongreß, 1830, mit der Julirevolution, 1840, mit dem Thronwechsel in Preußen, oder sogar erst mit dem Anfang des Jahres 1848 selbst. Wenn es um das Verhältnis von Historie und Politik geht, dann ist es gar keine Frage, daß der Einschnitt im Jahre 1830 liegt, daß alles auf die Einwirkung der Julirevolution ankommt. Sie treibt einerseits die Politisierung der Historie voran, indem sie die allgemeine Politisierung des Lebens steigert. Sie treibt andererseits die Historisierung der Politik voran, indem sie die allgemeine Historisierung des Denkens steigert. Sie ist damit der gemeinsame Ausgangspunkt zweier Entwicklungsreihen, die beide aufeinander zulaufen. Es ist augenscheinlich, daß die Julirevolution beide Male die Wirkungsgeschichte der Revolution von 1789 fortsetzt. Es ist aber ebenso augenscheinlich, daß diese Fortsetzung in vielem einem qualitativen Sprung gleichkommt, daß die von 1789 ausgehenden Anstöße jedenfalls erst seit 1830 ihre entscheidende Durchschlagskraft gewinnen. Die Julirevolution veranlaßt in Deutschland zunächst einmal einen ungeheuren Politisierungsschub: den Durchbruch zu einer politischen Gesellschaft. Gewiß gibt es dazu vorher seit 1789 mancherlei Ansätze: die weitere Entwicklung der politischen Publizistik und das Aufkommen politischer Strömungen im Gefolge der Französischen Revolution, die ebenso anziehende wie abstoßende Erfahrung der Erstveröffentlichung in: Frank Fürbeth / Pierre Krügel/Ernst E. Metzner/Olaf Müller (Hrsg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanisten Versammlung in Frankfurt am Main (1846-1996), Tübingen 1999, 135-145.
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Revolutionskriege und der Fremdherrschaft, die Anfänge sozialer Emanzipation und staatsbürgerlicher Mitbestimmung in der Reformära von 1806 bis 1820, die nationale Bewegung 1809 und 1813, die politische Mobilisierung und Radikalisierung der Studenten zwischen 1815 und 1819, die allgemeine philhellenische Begeisterung der zwanziger Jahre. Aber dagegen stehen Potenzen, die sich, aufs Ganze gesehen, als überlegen erweisen: der Machtanspruch der etablierten Gewalten und ihres bürokratischen Apparats; die fortdauernde unpolitische oder überpolitische Mentalität der deutschen Intellektuellen, die der Französischen Revolution eine Kulturrevolution entgegensetzen und in kulturnationalen Weltherrschaftsideen schwelgen; schließlich, alles zusammenfassend oder überwölbend, ein Zeitgeist, der die Katastrophe Napoleons als triumphalen Sieg der Restauration über die Revolution erlebt. Das wird seit 1830 geradezu dramatisch anders. Die Julirevolution führt vor, daß der revolutionäre Prozeß weitergeht, und bringt daher auch die deutschen Dinge wieder in Bewegung. Ich muß und kann es mir versagen, die einzelnen Seiten oder Momente dieses politischen Aufbruchs zu schildern: die Verfassungskämpfe, die nationale Agitation, die parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktivitäten, die Bildung von Parteien, den gewaltigen Aufschwung der Presse. Hier kommt es allein auf den „Strukturwandel der Öffentlichkeit" an, der sich bei alledem vollzieht: die Entstehung einer Dauerkontroverse über die großen politischen Fragen, die ganz Deutschland, alle Stände oder Schichten, alle Lebensbereiche, auch und primär die Intellektuellen erfaßt und gegen die die Repression des Metternichschen Systems letztlich machtlos ist. Es ist folgerichtig, daß diese Politisierung vor der Historie nicht haltmacht. Natürlich bringt auch das davor liegende Zeitalter eine Geschichtsschreibung hervor, die von modernen politischen Motiven und Problemen erfüllt ist: die ,Römische Geschichte' Niebuhrs, die Historiographie über das deutsche Mittelalter von Luden bis Stenzel, die ihr verwandten germanistischen Studien Jacob Grimms. Aber es entspricht dem in Deutschland nach 1789 verbreiteten intellektuellen Klima, daß die universalen Interessen des Neuhumanismus und Idealismus vorherrschen: sie treten in der Klassischen Philologie und in der Geschichtsphilosophie hervor und strahlen von dort auf weitere Bereiche der historischen Studien aus. Daneben bestehen traditionelle historiographische Richtungen fort, wie die im Kern kaum veränderten juristischen Disziplinen der Reichshistorie und der europäischen Staatengeschichte. Es ist kennzeichnend, daß noch der junge Ranke, der mit einem Werk über die Anfange des europäischen Staatensystems debütiert, nicht von der Politik herkommt, sondern von der Philologie, der Theologie, der Philosophie und der Poesie. Auch hier führt das Jahr 1830 die Wende herbei. Die Politik dringt seitdem in immer zunehmendem Maße in die Historie ein, ergreift nach und nach Historiker der verschiedensten Fachrichtungen, läßt kaum einen unberührt. Jüngere Autoren wie Droysen und Gervinus haben unter solchen Vorzeichen ihr historiographisches Initiationserlebnis. Aber etwa auch Ranke gerät in diesen Sog: er wird unter dem Eindruck der Julirevolution und der ihr folgenden Konflikte zum politischen Histo-
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riker und versucht sich zeitweilig sogar als historisch-politischer Publizist, und wenn er damit auch scheitert, so bleibt es doch dabei, daß er fortan Geschichte von einem politischen Erkenntnisinteresse her betreibt. Die Palette der Themen oder Gegenstandsbereiche, in denen sich die neuen politischen Gesichtspunkte geltend machen, reicht von der Zeitgeschichte bis zum griechisch-römischen Altertum, von der Universalgeschichte bis zur deutschen Geschichte, von der politischen Geschichte bis zur Kulturgeschichte. Droysen stellt sich der Öffentlichkeit mit einem Buch über Alexander d. Gr. vor, Gervinus mit einer Geschichte der deutschen Literatur: beide mit politischen Aspirationen; vor allem das letztere Werk, das die Fortbildung der deutschen Kulturnation zum deutschen Nationalstaat proklamiert, ist ein politisches Ereignis ersten Ranges. Schließlich: die Politisierung der Historie bedeutet auch, daß Historiker jeglicher Couleur auf den Plan treten, von ganz rechts bis ganz links, aus allen Lagern oder Parteien. Das Spektrum umfaßt Konservative wie Leo und Ranke, Liberale wie Dahlmann, Droysen und Gervinus, Demokraten wie Zimmermann, den Verfasser der „Geschichte des großen Bauernkriegs". Als Heinrich von Sybel 1856 den „Stand der neuern deutschen Geschichtschreibung" rekapituliert, erklärt er im Rückblick diese Vielstimmigkeit zur wichtigsten Errungenschaft der neuen Historie: „Mit der erhabenen weltbürgerlichen Ruhe ... war es vorbei auf immer. Jeder Historiker, der in unserer Literatur etwas bedeutete, hatte seitdem seine Farbe; es gab religiöse und atheistische, protestantische und katholische, liberale und conservative, es gab Geschichtschreiber von allen Parteien, aber es gab keine objektiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker mehr. Ein höchst erheblicher Fortschritt." 1 Ich komme auf das Problem von Parteilichkeit und Objektivität später noch zurück. Mit der Politisierung trifft die Historisierung zusammen: eine allgemeine Historisierung des Denkens und damit eine Historisierung der Politik, die gleichfalls auf 1789 zurückgehen, aber gleichfalls ohne 1830 nicht zu denken sind. Bevor ich damit fortfahre, scheint es mir zweckmäßig, meinen Begriffsgebrauch zu präzisieren. Historisierung des Denkens meint hier das, was seit Ernst Troeltsch Historismus heißt: daß die Welt des Menschen nur als Geschichte, als historisch geworden und daher veränderlich, aus der Dynamik der historischen Zeit begriffen wird - im Gegensatz zu einer Auffassung, die, bei aller Anerkennung der geschichtlichen Welt, an eine übergeschichtliche, von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehende, statische Weltordnung glaubt, ganz gleich, in welchen Formen sie gedacht wird. Statt der bisherigen Relativierung handelt es sich um eine Verabsolutierung der Geschichte, durch die die Historie zugleich zum Inbegriff der Erkenntnis vom Menschen überhaupt wird. Entsprechend bedeutet Historisierung der Politik, daß Politik allein von ihren geschichtlichen Grundlagen her verstanden wird, nachdem göttliches Recht, Naturrecht, Vernunftrecht, alle abstrakt-universalen Staatsgrundsätze vergangen sind. Der Historie wächst damit ein exklusiver politischer An1
Heinrich von Sybel, Ueber den Stand der neuern deutschen Geschichtschreibung, in: ders., Kleine Historische Schriften, Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1880, 349-364, hier 355.
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spruch zu: sie macht sich anheischig, die Gegenwart aus der Vergangenheit abzuleiten und damit die Zukunft vorzubereiten. Die Historisierung des Denkens kann nicht in Gang kommen ohne eine neue Realitätserfahrung: das Bewußtsein eines Lebens, das aus den Fugen geraten ist, dem die bis dahin unverrückbaren Grundstrukturen brüchig geworden sind. Es bleibt unstrittig, daß diese Erfahrung nicht zu trennen ist vom Erlebnis der Französischen Revolution. Der plötzliche Zusammensturz einer scheinbar seit Jahrhunderten festgefügten politisch-sozialen Ordnung wird zum Urbild einer von allen Bindungen oder Sicherheiten losgerissenen Wirklichkeit. Der Historismus bildet sich nach diesem Paradigma aus: zuerst in Deutschland, wo er zum Hauptstück jener Kulturrevolution wird, die man der politischen Revolution in Frankreich entgegensetzt. Eines der frühesten Zeugnisse sind Humboldts „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst" vom Jahre 17912: das sind eigentlich Ideen über Historisierung aus dem dynamischen Geist der Französischen Revolution. Es ist aber wesentlich, daß das Revolutionserlebnis alsbald einer anderen Erfahrung weicht: das ist die Erfahrung der Restauration, die nicht nur die politische Modernisierung, sondern auch die Modernisierung des historischen Denkens in Deutschland überschattet. Schon der junge Humboldt prophezeit die Niederlage der Revolution: sie werde an „der ganzen, individuellen Beschaffenheit der Gegenwart" scheitern.3 Er spielt also das Bestehende gegen die Veränderung aus, und auch wenn er dann doch wiederum die Notwendigkeit der Revolution beweist und von ihr heilsame Folgen ausgehen sieht4, bleibt dieses Grundverhältnis gewahrt. Das Bestehende rückt damit zugleich ins Zentrum der neuen Geschichtsauffassung, die Humboldt aus der Anschauung der Revolution gewinnt. Noch in dem Moment, in dem die Historisierung des Denkens einsetzt, wird sie auf Konstanz und Kontinuität fixiert. Das ist gewiß kein Rückfall in das ältere statische Geschichtsdenken, bedeutet aber doch eine Verlangsamung oder Verstetigung der historischen Dynamik, die leicht in eine neue statische Sicht der Wirklichkeit umschlagen kann. Eben diese Entwicklung wird gefördert, als das Zeitalter der Restauration beginnt. Die prophezeite Niederlage der Revolution ist jetzt tatsächlich eingetreten. Man muß sich in den Horizont der Zeitgenossen zurückversetzen, um die ganze Tragweite dieser Erfahrung zu ermessen: der Erbe der Revolution geschlagen, der revolutionäre Gedanke erledigt, die angestammte Dynastie nach Frankreich zurückgekehrt, das ganze alte Europa in seinen wesentlichen Umrissen wiedererstanden; 2 Wilhelm von Humboldt, Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst, in: Wilhelm von Humboldt. Werke. Hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, 33-42. 3 Ebd., 35. 4 Ebd., 40: „Die Menschheit hatte an einem Extrem gelitten, in einem Extrem musste sie ihre Rettung suchen. Ob diese Staatsverfassung Fortgang haben wird? Der Analogie der Geschichte nach, Nein! Aber sie wird die Ideen aufs neue aufklären, aufs neue jede thätige Tugend anfachen, und so ihren Segen weit über Frankreichs Gränzen verbreiten."
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selbst die beträchtlichen Veränderungen, die die Revolutionszeit überdauern, erscheinen als Mittel, die alte Ordnung zu stabilisieren. Das ist ein Sieg des Bestehenden von überwältigenden Ausmaßen. Er bestimmt einstweilen den Fortgang des historischen Denkens in Deutschland. Er bewirkt, daß der Sinn für historische Dynamik fast ganz zum Stillstand kommt, daß sich das Interesse vielmehr fast ganz auf das Uranfähige, Bleibende, Gegebene richtet. In Kategorien wie der Figur des Volksgeistes, der die Entwicklung von Recht, Sprache, Dichtung, Kultur seit Anbeginn dirigiert und sich in allen von Zeit zu Zeit konstatierbaren Modifizierungen durchhält, prägt sich diese Richtung aus. Um sie herum formieren sich die verschiedenen historischen Schulen, angefangen mit der historischen Schule der Rechtswissenschaft, die für alle anderen wegweisend wird. Savigny triumphiert über Thibaut, weil er den Geist der Zeit ausspricht. Aber auch ein Gegner Savignys wie Hegel steht im Banne der Zeitverhältnisse. Ranke hat der Restauration rückschauend geradezu die Begründung der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland zugeschrieben: „Von dem größten Einfluß war es aber auf Gesinnung, Leben und selbst die Studien, daß die Restauration eine Reihe von Jahren die Oberhand behielt. Die historischen Studien haben sich eigentlich in dem Widerspruch gegen die Alleinherrschaft der napoleonischen Ideen entwickelt": „Das besondere Leben im Gegensatz gegen eine allgemeine Herrschaft." 5 Es gehört zu den Wirkungen der Julirevolution, daß sie das deutsche historische Denken aus der bisherigen Stagnation befreit: durch einen erweiterten Begriff von geschichtlicher Wirklichkeit, der mit dem Gedanken der historischen Dynamik sozusagen endlich Ernst macht. Die politische Botschaft des Juli 1830 lautet: die Revolution geht weiter. Seine historische Botschaft lautet: die Wirklichkeit bleibt wandelbar. Indem die Julirevolution das System der Restauration in Frankreich überwindet, vermittelt sie die Erkenntnis, dass Geschichte sich nicht auf Dauer stillstellen läßt, sondern in unablässiger Bewegung begriffen ist, daß alle einzelnen Zustände nichts als Momente dieser Bewegung sind. Sie lehrt, daß das Bestehende keine auch nur annähernd absolute Größe ist, sondern einen Koeffizienten erhalten muß, in dem die Möglichkeit zur Veränderung beschlossen ist: daß beides, das Bestehende und die Veränderung, sich gegenseitig bedingen, ineinander übergehen. Ins Zentrum des historischen Denkens rückt damit die Kategorie des Werdens, die diesen dialektischen Ausgleich leistet; in Droysens Worten: „daß in dem Gewordenen selbst und in dem Wege, wie es geworden, dem forschenden Auge sich die ewige Vernunft jenes Werdens offenbart". 6 Man kann sagen, daß damit die Historisierung des Denkens ans Ziel gelangt ist: eine Frucht des Revolutionserlebnisses von 1830, das, nach einer Zeit lediglich begrenzten Wachstums, die Aussaat von 1789 zur Reife bringt. 5 Leopold von Ranke , Dictat vom December 1875, in: ders., Zur eigenen Lebensgeschichte. Hrsg. v. Alfred Dove (Sämmtliche Werke, Bd. 53/54), Leipzig 1890, 45-55, hier 47. 6 Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Bd. 1, Kiel 1846, 17.
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Es gibt ein sinnfälliges Beispiel, an dem sich diese Zäsur demonstrieren läßt: das ist die Sicht der Französischen Revolution in der Historiographie. Vor 1830 überwiegt eine Betrachtungsweise, der die Revolution gewissermaßen als ein außergeschichtliches Ereignis erscheint: als eine Kampfansage an das Bestehende und damit an die historische Realität überhaupt. Noch Niebuhrs Vorlesungen zur „Geschichte des Zeitalters der Revolution" vom Jahre 1829 bieten eine Fundamentalkritik 7 ; sie verrät eine ungebrochene existentielle Betroffenheit, die sich gegen ein historisches Verständnis sperrt. Anders nach 1830: die Revolution wird jetzt historisch eingeordnet, mit dem Bestehenden vermittelt, selbst ein Bestehendes, das andere Entwicklungen auslöst, ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit. Droysen hält 1842/43 „Vorlesungen über die Freiheitskriege", in denen er die Französische Revolution in den Zusammenhang einer Epoche „von Völkerkämpfen um die Freiheit" stellt, vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zu den deutschen Freiheitskriegen 8; er ersieht aus dieser Epoche eine Bewegungsrichtung, die bis in die Gegenwart reicht. 9 Ranke setzt in der „Historisch-politischen Zeitschrift" Revolution und Restauration in eine sich fort und fort relativierende Beziehung, bis sie in einem historischen Kontinuum neuer Art aufgehen. 10 Die Historisierung der Politik vollzieht sich nach dem gleichen Rhythmus wie die Historisierung des Denkens im allgemeinen: je nach den Realitätserfahrungen von 1789 bis 1830. Keine dieser Erfahrungen mitsamt den daraus abgeleiteten Geschichtsauffassungen läßt sich direkt einer bestimmten politischen Position zuschlagen; sie liegen vielmehr allen politischen Optionen voraus. Grundsätzlich entspricht es der inneren Logik des Historismus, daß er weder die eine noch die andere Politik propagiert, sondern die geschichtlichen Grundlagen erforscht, auf denen jegliche Politik beruht; er erkennt damit die Autonomie des politischen Handelns an. Wohl aber ändert sich von der Französischen Revolution bis zum Vormärz der politische Horizont, innerhalb dessen diese Grundlagenforschung stattfin7 Barthold Georg Niebuhr, Geschichte des Zeitalters der Revolution. Vorlesungen an der Universität zu Bonn im Sommer 1829, 2 Bde., Hamburg 1845. 8 Droysen Vorlesungen (wie Anm. 6), Bd. 1, 4. 9 Ebd., 3: „die großen Impulse, die uns zum Siege geführt, sie sind nicht verkommen, sie leben und wachsen fort in stiller Mächtigkeit, nach allen Richtungen hin, unwiderstehlich; die Summe unserer Hoffnungen ist an sie und ihren Sieg geknüpft". Vgl. auch 5: „Unser Glaube giebt uns den Trost, daß eine Gotteshand uns trägt, daß sie die Geschicke leitet, große wie kleine. Und die Wissenschaft der Geschichte hat keine höhere Aufgabe, als diesen Glauben zu rechtfertigen; darum ist sie Wissenschaft. Sie sieht und findet in jenem wüsten Wellengang eine Richtung, ein Ziel, einen Plan, sie lehrt uns Gottes Wege begreifen und bewundern; sie lehrt uns in deren Verständniß erlauschen, was uns des Weiteren zu erhoffen und zu erstreben obliegt." 10 Vgl. bes. Leopold von Ranke, Ueber die Restauration in Frankreich (1832), und ders ., Frankreich und Deutschland (1832), in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 49/50. Hrsg. v. Alfred Dove, Leipzig 1887, S. 8 - 6 0 , 61-74; einige zusammenfassende Sätze: „In der Mitte der Bewegungen der Revolution steht das Ereigniß der Restauration. Die Erfolge der vorhergegangenen Jahre strömen zu demselben zusammen; die Entwickelungen der nachfolgenden bereiten sich in ihm vor" (9).
20 Muhlack
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det. Als die Historie im Zeichen der Restauration und damit des Bestehenden betrieben wird, kann gewiß keine Rede davon sein, daß sie einfach konservative Positionen einnimmt. Es ist aber sicher richtig, daß sie vorzugsweise konservativen Orientierungsbedürfnissen genügt. Wer politisch restaurative Interessen vertritt oder ihnen nahesteht, muß in einer Geschichtsschreibung Anhaltspunkte finden, die sich vor allem auf die dauerhaften Strukturen historischer Verläufe einstellt. Als der Demagogenverfolger Kamptz 1824/25 Rankes Berufung nach Berlin fördert, so deswegen, weil er sich von ihm einen mäßigenden Einfluß auf die Studenten erhofft. 11 Wer dagegen in Opposition zu dem herrschenden System steht, wird von dieser Art Geschichtsschreibung eher abgestoßen. Wo die Französische Revolution als ein außergeschichtliches Ereignis erscheint, kann jemand, der sich den politischen Zielen der Revolution verpflichtet fühlt, keine historische Belehrung finden, außer derjenigen, daß die Geschichte ihm nichts zu sagen hat. Gewiß sind diese Zusammenhänge nicht zwangsläufig; die Kategorie des Volksgeistes hat auch demokratische Implikationen, die freilich im festen Gehäuse der Tradition stecken und nur in ihm zu entfalten sind. Und die Historiker selbst? Sofern sie überhaupt einen politischen Standpunkt zu erkennen geben, sind sie zwar keineswegs durchgängig reaktionär gesinnt, aber doch am ehesten dem Spektrum restaurativen Denkens zuzuordnen. Savigny lehnt ein deutsches Zivilgesetzbuch nach dem Muster des Code Napoleon ab; Hegel macht Front gegen den Liberalismus 12; Niebuhr rückt im Laufe der Jahre zusehends nach rechts. 13 Natürlich heißt das wiederum nicht, daß diese Autoren in einem unmittelbaren Sinne konservative 11
Dazu Ernst Schulin , Rankes Erstlingswerk oder der Beginn der kritischen Geschichtsschreibung über die Neuzeit, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, 44-64, hier 47 f. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. v. Georg Lasson, Bd. 4 (Philosophische Bibliothek, Bd. 171d), 2. Aufl. Hamburg 1923 (Nachdruck Hamburg 1968), 925: „Die Richtung, die an der Abstraktion festhält, ist der Liberalismus, über den das Konkrete immer siegt, und gegen das er überall bankrott macht." 13 Dazu Seppo Rytkönen, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker. Zeitgeschehen und Zeitgeist in den geschichtlichen Beurteilungen von B. G. Niebuhr (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B, Bd. 156), Helsinki 1968, 340 f.: „Seine politische Weltanschauung spiegelt sich unmittelbar in den Auffassungen wider, die er von der Vergangenheit dargelegt hat. Sie ist in den dänischen Jahren im wesentlichen bestimmt durch die Bewunderung für die Agrargesellschaft, durch Hass gegen den Adel und durch eine mehr oder weniger demokratische Mentalität. In der preussischen Reformzeit hingegen ist sie geprägt durch den Übergang zum Ständestaatsdenken und ,Antirevolutionismus' sowie durch ein erwachendes preussisches Nationalgefühl. In der Zeit der Restauration bereichert sich Niebuhrs Ideenwelt um aristokratische und autokratische Ideale." Ergänzend und präzisierend Gerrit Walther, Niebuhrs Forschung (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 35), Stuttgart 1993: er zitiert ein Urteil Niebuhrs über die Liberalen vom Jahr 1823, das dem Hegeischen an Schroffheit in nichts nachsteht (496), sieht ihn aber zugleich bis zum Schluß von jenen „Themen" beherrscht, „denen seit 1797 N.s politisches Hauptinteresse galt" (538): der Forderung nach „Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes" (540), „gegen die Ansprüche des Adels" (542).
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Geschichte geschrieben hätten. Aber wer wollte die Analogien und selbst Berührungspunkte zwischen ihrer politischen Haltung und ihrer Geschichtsauffassung leugnen? Nach 1830, im Zeichen der Julirevolution und damit des Werdens, tritt die Historie in einen ganz anderen Horizont ein. Die Entdeckung oder Wiederentdeckung der historischen Dynamik führt dazu, daß die Geschichtsschreibung allen politischen Positionen zur Orientierung dienen kann, daß sie zur universalen politischen Grundlagenwissenschaft aufsteigt. Auch im Vormärz gibt es ein konservatives Interesse an der Geschichte und Historiker, die sich von ihm leiten lassen. Ranke wendet sich zur Geschichte der großen europäischen Mächte, um Klarheit über die allgemeinen Voraussetzungen gegenwärtiger preußisch-deutscher Politik zu erhalten, die er vom Standpunkt der herrschenden Gewalten aus ansieht. Aber zum Signum der Epoche wird es, daß jetzt auch Parteimänner der Bewegung, des Fortschritts, ja selbst der Revolution historische Fragen stellen. Dahlmann publiziert 1843 die „Geschichte der englischen Revolution", 1845 die „Geschichte der französischen Revolution": Treitschke hat die beiden Schriften, in denen der liberale Autor seinen Erneuerungswillen historisch begründet 14, „die Sturmvögel der deutschen Revolution" genannt15; auch Droysens „Vorlesungen über die Freiheitskriege" sind diesem Kontext zuzurechnen. Allenthalben handelt es sich, wie Jacob Grimm 1846 resümiert, darum, „aus der Geschichte die Politik aufzuerbauen". 16 Mancher Titel trägt diese Programm vor sich her und appelliert damit an ein grundsätzliches Einverständnis, das quer durch die politischen Lager geht, das die deutschen Historiker verbindet, ganz gleich, wo sie stehen: Rankes „Historisch-politische Zeitschrift" 17 oder Dahlmanns „Politik, auf den Grund und das Maß der gege14 Am Anfang des zweiten Werks verweist Dahlmann auf die gemeinsame Zielsetzung: „Sollte einer diese Schrift als eine Ergänzung meines Buches über die englische Revolution betrachten wollen, so finde ich wenig dagegen einzuwenden. Es ist dasselbe Thema, nur unserer Gegenwart näher geführt und von einer weit unmittelbarer europäischen Bedeutung." (Friedrich Christoph Dahlmann, Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik, 3. Aufl. Berlin 1864, III). Zu dem Buch über die Französische Revolution heißt es speziell: „Unsere Jugend hat ganz Recht, wenn sie von ihren Alten verlangt, sie sollen ihr diese schwierige Zeit auslegen helfen, den Weg ihr zeigen, welchen sie selbst in den Jahren der Kraft, manchmal abirrend, aber mit Ehre gingen. Sie will zu jenen Standpuncten hinauf gefördert seyn, wo die düster verworrenen Trümmerhaufen zurücktreten vor den ernsten Grundzügen eines Neubaues der Geschichte, welchen eine unbegreiflich hohe Waltung unter Wehgeschrei zur Welt bringt. Wer auf diesem Pfade sich irgendwie entzieht, nach Art der Buhlerinnen halb zeigt und halb verbirgt, da aufhört wo er anfangen sollte, Ereignisse häuft wo es sich darum handelt die herbe Frucht der Selbsterkenntniß zu pflükken, der mag bequem sich im Vaterlande betten und überall wo es hoch hergeht noch willkommen seyn, allein ein ächter Jünger der Geschichte, ein Mann der Wahrheit, ein Freund Deutschlands ist er nicht" (3 f.): „die französische Revolution als weit wirkendes Weltereigniß" (390). 15 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 5, Leipzig 1927, 401. 16 Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846, Frankfurt am Main 1847, 16. 20*
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benen Zustände zurückgeführt". 18 Die politische Vielstimmigkeit der Historie hat in dem Anspruch, der sich darin ausdrückt, ihre gemeinsame Grundlage. Oder anders gewendet: die Politisierung der Historie hat die Erwartung zur Voraussetzung, daß die Historie diesen Anspruch erfüllt, in dem sich die Historisierung der Politik vollendet. Zwei eher rekapitulierende Bemerkungen sollen noch präzisieren, worin die Leistung oder der Nutzen dieser Historie für die Politik besteht. Zunächst: sie bietet keine Lehren aus der Geschichte, keine Handlungsanweisungen. Die „historia magistra vitae" ist seit 1789, seit der Dynamisierung des historischen Denkens tot, und mag man auch das eher statische Geschichtsdenken der Restaurationszeit als eine Form der Wiederannäherung an die traditionelle Doktrin deuten, so ist es damit nach 1830 endgültig aus und vorbei; ich sehe allerdings davon ab, daß sie bis heute für viele verlockend geblieben ist. Statt um normatives Handlungswissen, das von der Vergangenheit auf die Gegenwart appliziert wird, geht es dem werdenden Historismus um die historischen Bedingungen der Gegenwart, um die historische Einordnung der Gegenwart, um die Vergegenwärtigung der Historizität unseres Lebens überhaupt: um die Ausgangslage des Handelns, ohne das Handeln selbst zu antizipieren, das unsere Freiheit ist. Sodann: Parteilichkeit und Objektivität. Wenn man an Sybels Hymnus über religiöse und atheistische, protestantische und katholische, liberale und konservative, über Geschichtsschreiber von allen Parteien und an sein Verdammungsurteil über die objektiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker zurückdenkt, mag der Verdacht der Tendenzhistorie aufkommen. Er ist der Epoche selbst nicht fremd. Aus Ranke bricht es einmal förmlich heraus, als er dieselben „Meinungsverschiedenheiten, welche die Staaten in Parteiungen auseinanderreißen," auch „in die Erzählung und Erforschung der Begebenheiten" eindringen sieht: „So weit entfernt ist die Historie davon, daß sie die Politik verbesserte, daß sie gewöhnlich von ihr verderbt wird." 1 9 Sicher fehlt es nicht an Beispielen, die das belegen, und seien es 17 Die Einleitung führt den „historisch-politischen" Anspruch aus: „So wäre unsere Absicht, nach und nach das Wichtigste zu umfassen, was ein denkender Zeitgenosse zu erfahren wünschen kann, um seine Zeit nicht nach irgend einem Begriff, sondern in ihrer Realität zu verstehen und völlig mitzuleben. Dies in dem Geiste eingehender Erforschung zu versuchen, in dem Geiste reiner und unparteiischer Wahrheitsliebe, das ist unser Vorsatz." (Sämmtliche Werke, Bd. 49/50, [wie Anm. 10], 7). - Es ist kennzeichnend, daß zur gleichen Zeit auch Droysen ein „Journal historisch-politischen Inhalts" plant: Droysen an Wilhelm Arendt, 31. 7. 1831, in: Johann Gustav Droysen, Briefwechsel. Hrsg. v. Rudolf Hübner, Bd. 1 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 25). Berlin / Leipzig 1929 (Neudruck Osnabrück 1967), 37. 18 Das bedeutet eine Absage an „eine Darstellung des Staates, welche sich der historischen Grundlagen entäußert": „Die Politik muß, um lehrreich zu sein, ihre Aufgaben nicht wählen, sondern empfangen, wie sie im Drange von Raum und Zeit hervorgehen" (Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik. Hrsg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1968, § 12, 40 f.). 19 Leopold von Ranke , Ueber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik. Eine Rede zum Antritt der ordentlichen Professur an der Universität zu Berlin im Jahre 1836, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 24., Leipzig 1872, 280-293, hier 282 f.
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einzelne Sätze in einzelnen Geschichtswerken, wie übrigens auch bei Ranke selbst, und man kann nicht sagen, daß die Versuchung zur Parteihistorie seitdem nachgelassen hätte. Gleichwohl ist damit keineswegs das letzte Wort über die vormärzliche Geschichtsschreibung gesprochen. Sie geht zwar, im Zuge der überall eingreifenden Politisierung, von Parteistandpunkten aus, aber sie sucht daraus, im Zuge der fortschreitenden Historisierung, Fragestellungen zu entwickeln, die auf zuverlässige, wahrheitsfähige, objektive Erkenntnis abzielen, und ihr steht ein erprobtes methodisches Instrumentarium zur Verfügung, um dieses Ziel zu erreichen. Wo es auf Orientierung über die historischen Bedingungen der Gegenwart ankommt, ist es dringend geboten, aus der Borniertheit bloßer Vorurteile auszubrechen, sich auf die Eigentümlichkeiten der zu erforschenden Phänomene einzulassen, historisch-kritische Quellenstudien zu betreiben. Das ist nicht Tendenzhistorie, sondern parteiliches Interesse an Objektivität. Historie und Politik im Vormärz: das hängt zuletzt an dieser Objektivitätsforderung, an der sich alle Autoren, egal, welcher politischen Provenienz, messen lassen. Am Schluß mag vorgeführt werden, daß auch ein Autor, der unter den deutschen Historikern des 19. Jahrhunderts in vielem eher exzeptionell oder exzentrisch wirkt und in einer neueren Darstellung geradezu als „Außenseiter des Historismus" figuriert 20, das hier skizzierte Grundmuster bestätigt, und zwar auf eine so eindrucksvolle, ja, frappierende Weise, daß ich kaum ein erheilenderes Beispiel wüßte, um meine These zu verdeutlichen. Gemeint ist der Heidelberger Historiker Friedrich Christoph Schlosser: ein in seiner Zeit hochberühmter und vielgelesener, aber seitdem zwar keineswegs vergessener, aber nur wenig erforschter Geschichtsschreiber. Bereits die Zeitgenossen sprechen „von Schlosserscher Schule" 21 oder „Heidelberger Schule" 22 und sehen sie dadurch gekennzeichnet, daß sie „dem kräftigen Fortschritt mit vollem Herzen hingegeben" sei 23 , daß „die Geschichtschreibung fast durchweg eine Richtung nahm, die über die Grenzen der Wissenschaft hinaus eine praktische Richtung verfolgte und zugleich der Sache der Freiheit, der Nationalität u. dgl. dienen wollte" 24 , schreiben ihr also die Politisierung der Historie gewissermaßen auf den Leib. Einer ihrer bekanntesten Adepten ist Gervinus, der die Hauptpunkte dieses Programms in seinem Nekrolog auf Schlosser zusammenfaßt, freilich nicht ohne zu betonen, daß Schlosser selbst der „Eifer des Schulstiftens" fremd gewesen sei. 25 Und in der Tat: man braucht nur das Werk dieses Schülers 20
Friedrich 1992, 114 f.
Jaeger/Jörn
Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München
21 Georg Waitz, Deutsche Historiker der Gegenwart, in: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 5, 1846, 520-535, hier 523. 22 Franz Xaver von Wegele, Geschichte der deutschen Historidgraphie seit dem Auftreten des Humanismus (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 20), München/Leipzig 1885, 1061, 1075. 23 Waitz, Historiker (wie Anm. 21), 524. 24 Wegele, Geschichte (wie Anm. 22), 1075. 25
G. G. Gervinius, Friedrich Christoph Schlosser. Ein Necrolog, Leipzig 1861, 67.
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zum Vergleich heranzuziehen, um die aparte Position des Lehrers zu ermessen. Der elementarste Unterschied besteht darin, daß beide in ihrer Geschichtsschreibung eine je eigene „praktische Richtung" verfolgen, die von ihrer jeweiligen Zeitsituation nicht zu trennen ist. Der 1805 geborene Gervinus, der seine historiographische Laufbahn im Vormärz beginnt, hat unmittelbare politische Interessen, ist ein Liberaler im Parteisinn des Wortes, der Geschichte von diesem bestimmten Parteistandpunkt aus schreibt: ein politischer Historiker par excellence. Dagegen wurzelt der 1776 geborene Schlosser ganz in den universalistischen Anschauungen, die die deutschen Intellektuellen seiner Jugendzeit beherrschen. Es entspricht „seiner kosmopolitischen Natur" 26 , daß ihn theologische Probleme zur Historiographie führen, daß seine ersten Geschichtswerke der Scholastik, der Reformation und den bilderstürmenden Kaisern gewidmet sind, und wenn er im Laufe der Zeit „eine praktische Richtung" einschlägt, dann geht es ihm nicht um Parteipolitik, sondern um eine grundsätzliche ethisch-politische Haltung. Als im Vormärz Historiker wie Gervinus auf den Plan treten, schreibt Schlosser, er wolle keine „Rücksicht auf Parthei und System" nehmen, sondern „ruhig, einfach und einfaltig, ernst und treu, nur seinem gesunden Verstände und Urtheile" folgen. 27 Gervinus nennt ihn, in diesem Sinne, einen „deutschen Stubengelehrten der früheren Jahrzehnte". 28 Andererseits ist offensichtlich, daß Schlossers ethisch-politische Haltung nicht mit einer abstrakten Weltanschauung verwechselt werden darf, sondern ziemlich konkrete Vorstellungen einschließt: eine „demokratische Gesinnung"29, die auf das Postulat einer politischen Partizipation der „Gesammtheit des Volkes" 30 im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie hinausläuft. Es ist bemerkenswert, daß Schlosser sich bereits während der Restaurationszeit dazu entschließt, nach solchen politischen Gesichtspunkten Geschichte zu schreiben: doppelt bemerkenswert, weil es Gesichtspunkte sind, die ihn in offene Opposition gegen das „tückische System der Gentz und Metternich" 31 bringen. Die Frucht seiner Bemühungen ist seine 1823 erschienene „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts", in der er die von ihm verfolgten politischen Ziele in der ganzen neueren Geschichte Europas angelegt findet. Als die Julirevolution sich ereignet hat, wird ihm das zum Motiv, die Verbindung von Geschichtsschreibung und Politik noch zu intensivieren, und mag er sich damals auch gegen „Parthei und System" in der Historie erklären, so fordert er doch gleichzeitig vom „historischen Schriftsteller", daß er „nur eine gewisse Seite seines Gegenstandes auffaßt". 32 26
Wegele, Geschichte (wie Anm. 22), 1068. Friedrich Christoph Schlosser, Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, Bd. 1, Heidelberg 1836, IX. 28 Gervinus, Schlosser (wie Anm. 25), 8. 29 Ebd., 39. 30 Ebd., 38. 27
31 Ebd., 62.
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Die Steigerung seines politischen Erkenntnisinteresses veranlaßt ihn dazu, auf die eine Zeitlang geplante Überarbeitung des Werkes von 1823 zu verzichten und eine völlig neue „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs" abzufassen, die von 1836 bis 1848 herauskommt. Die Politisierung der Historie geht auch bei Schlosser mit einer Historisierung der Politik zusammen. Allerdings kann sein Geschichtsdenken nicht umstandslos mit historisierendem Denken gleichgesetzt werden: seine notorische Neigung zur moralisierenden Bewertung der von ihm behandelten Phänomene gibt vielmehr zuletzt eine Betrachtungsweise zu erkennen, die sich einer folgerichtigen Historisierung verweigert. Andererseits hält sich Schlosser einen weiten Spielraum offen, um der jeweiligen Eigenart der Phänomene in einem höchstmöglichen Ausmaß gerecht zu werden; seine moralischen Maßstäbe selbst gewinnen bis zu einem gewissen Grad ein jeweils zeittypisches Aussehen. Die beiden Werke zur Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts haben in ihrer politischen Ausrichtung nichts Dogmatisches; ihre teleologische Struktur ist weithin mit der immanenten Logik eines von Epoche zu Epoche fortschreitenden Wandlungsprozesses vermittelt. Damit ist gegeben, daß auch Schlosser die traditionelle „historia magistra vitae" verabschiedet, daß auch er, bei aller Polemik gegen „das Streben nach absoluter Wahrheit" 33 , jedenfalls einen Anspruch auf relative Wahrheit erhebt. Der Vergleich beider Geschichtswerke demonstriert schließlich vielleicht am schlagendsten den Anteil, der der Julirevolution am Fortgang der Historisierung zukommt. Hier wie auch vielfach sonst bildet die Sicht der Französischen Revolution den Prüfstein. Schlosser bezieht dieses Ereignis beide Male in den Ablauf der neueren europäischen Geschichte ein, der ihm vom aristokratisch-hierarchischen System des Mittelalters über die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts zum gegenwärtig und künftig zu verwirklichenden monarchisch-demokratischen Staat führt, und er läßt beide Male keinerlei Zweifel daran, daß die Revolution zur notwendigen Zersetzungsgeschichte des am Ende anachronistisch gewordenen Absolutismus gehört. Aber er versieht die gleiche Bewertung jeweils mit durchaus verschiedenen Akzenten. Die „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts" kann nicht verleugnen, daß sie in der Zeit der Restauration, im Banne des Bestehenden abgefaßt ist: sie gelangt immer mehr dahin, die Revolution als Irrweg oder als Sackgasse anzusehen, als abschreckendes und damit aber auch entmutigendes Beispiel hinzustellen. Schlossers Satz über die „Unternehmungen am 18. Fructidor", die das Werk beschließen, läßt sich zugleich als Resümee seiner Revolutionsgeschichte insgesamt lesen: „daß nichts durch diese Revolution gewonnen, viel verloren war". 34 Ein Hauptargument, mit dem Schlosser sein negatives Urteil 32 Schlosser, Geschichte (wie Anm. 27), Bd. 5, Heidelberg 1844, XII. 33 Schlosser, Geschichte (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 9. 34 Friedrich Christoph Schlosser. Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts in gedrängter Übersicht mit steter Beziehung auf die völlige Veränderung der Denk- und Regierungsweise am Ende desselben, Bd. 2, Heidelberg 1823, 369.
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begründet, ist der Mangel der Revolutionäre an historischem Bewußtsein: „reine Speculation" über die „Urrechte der Menschen und Bürger", ohne an „die Ausführung" zu denken35, untauglich „für alle Staaten", „die eine Geschichte haben".36 Die Revolution fällt also doch wiederum aus der Geschichte heraus: ein Urteil aus der Perspektive der Restauration, der sich selbst dieser Gegner des „tückischen Systems" nicht entziehen kann. Anders die Neuausgabe. Im Zeichen der Julirevolution, im Banne des Werdens holt Schlosser das Ereignis von 1789 in die Geschichte zurück. Die Französische Revolution erscheint jetzt als Höhepunkt der bisherigen Entwicklung, als historisch gerechtfertigt, als Zeichen der Hoffnung. Schlosser spricht auch diesmal von negativen Erscheinungen, aber er sieht sie nunmehr in einem höheren Sinnzusammenhang aufgehoben: die „Hauptvortheile, welche das neue Frankreich der constituirenden Versammlung verdankte", seien „den spätem Generationen [ . . . ] nicht zu theuer erkauft", „trotz aller Unvollkommenheiten der neuen Verfassung und trotz der zehnjährigen Leiden und Trübsale". 37 Es ist signifikant, daß die neue Darstellung bis 1815, bis zum Beginn der Restauration gefühlt wird: bis zum Beginn jener Epoche, die die Julirevolution und mit ihr der Geist von 1789 überwunden hat.
35 Ebd., 59. 36 Schlosser, Geschichte (wie Anm. 34), Bd. 1, Heidelberg 1823, 340. 37 Schlosser, Geschichte (wie Anm. 27), Bd. 5, S. 134.
Das europäische Staatensystem in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts* Zu den Ansichten, Stereotypen und Mythen, die man sich im 19. Jahrhundert in Deutschland von der Neuzeit oder von der Moderne gebildet hat, gehört auch die Figur des europäischen Staatensystems. Sie hat der deutschen Geschichtsschreibung als eine der wichtigsten Anschauungsformen gedient, die neuere oder moderne Geschichte Europas zu erfassen. Es ist ebenso sinnfällig wie exemplarisch, daß jeweils am Anfang und am Ende des Jahrhunderts ein großes historiographisches Werk über den damit umrissenen Gegenstandsbereich steht. 1809 erscheint in erster, 1830 in fünfter Auflage Arnold Herrmann Ludwig Heerens „Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonieen". Zwischen 1905 und 1928 kommt, im Rahmen des von Georg von Below und Friedrich Meinecke edierten „Handbuchs der mittelalterlichen und neueren Geschichte, die Geschichte des europäischen Staatensystems" von Eduard Fueter, Walter Platzhoff, Max Immich und Adalbert Wahl heraus. Beide Werke entsprechen einem Konzept, das während des ganzen Jahrhunderts anerkannt ist. Jedenfalls gilt, daß die Figur damals zu keinem Zeitpunkt im Arsenal deutscher Geschichtsschreibung gefehlt hat. Es ist das Ziel meines Referats, einige Betrachtungen über ihren historiographischen Einsatz anzustellen: über die Zusammenhänge, in denen man sich ihrer bedient, und über die Bedeutung, die ihr darin zugemessen wird. Dabei geht es zugleich um die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem Anfang und dem Ende des 19. Jahrhunderts: gewissermaßen zwischen Heeren und den Autoren bei Below-Meinecke. Mir scheint eine Konzentration auf zwei historiographische Hauptrichtungen zweckmäßig: auf die Geschichtsschreibung Leopold von Rankes und auf die Geschichtsschreibung der sogenannten borussischen Schule, für die wiederum Johann Gustav Droysen, einer ihrer Begründer, und Heinrich von Treitschke, ihr letzter großer Vertreter, zeugen sollen. Das Verhältnis zwischen beiden ist bis heute ein Hauptthema für jeden, der sich mit der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert beschäftigt. Sie tragen paradigmatische Konflikte aus Erstveröffentlichung in: Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento 16, 1990, 43-92. * Dieser Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines Vortrags dar, der während der Studienwoche „Die Neuzeit im Spiegel des 19. Jahrhunderts. Ansichten, Stereotypen und Mythen in Italien und Deutschland vom 12. bis zum 16. September" 1988 in Trient gehalten wurde.
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um Objektivität und Parteilichkeit, um Universalgeschichte und Nationalgeschichte, um die Relation von äußerer und innerer Politik: Konflikte, die gleichermaßen durch Gegensätze wie durch Vermittlungen geprägt sind und damit Vielheit wie Einheit des werdenden deutschen Historismus demonstrieren. Es wird sich zeigen, daß in diesem Koordinatensystem auch für unser Thema maßgebliche Erkenntnisse zu gewinnen sind.1 Bevor ich aber zur Sache selbst komme, ist ein Exkurs über ihre Voraussetzungen notwendig. Denn die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat die Figur des europäischen Staatensystems keineswegs erfunden, auch wenn die Bezeichnung selbst durch sie endgültig zum terminus technicus geworden ist. Sie knüpft damit vielmehr an Historiker des 18. Jahrhunderts an, die ihrerseits in einer weit zurückreichenden Tradition stehen. Man muß im Grunde tautologisch sagen, daß eine Vorstellung vom europäischen Staatensystem existiert, seit es ein europäisches Staatensystem gibt, oder vielmehr: daß diese Vorstellung in dem Moment aufkommt, als man die Erfahrung einer politischen Realität macht, die offenbar, um angemessen analysiert werden zu können, auf einen solchen Begriff gebracht werden muß. Auch nach jüngsten Forschungen über „Bündnissysteme" und „Außenpolitik" im späteren Mittelalter 2 ist unstrittig, daß die Anfänge eines Staatensystems dort liegen, wo sich erstmals, im Gegensatz zum Universalismus der mittelalterlichen res publica christiana, ein souveräner Staat konstituiert: in der italienischen Renaissance. Die Interaktion zwischen jenen Stadtrepubliken und Tyrannenstaaten „rein tatsächlicher Art" 3 , die auf das einzige Ziel der Herrschaftssicherung im Innern und nach außen ausgerichtet sind und ihr Dasein auf ein rational-utilitarisches Kalkül der Zwecke und Mittel gründen, bietet das Schauspiel eines regionalen Staatensystems dar, das wie ein Urbild der künftigen Staatenbeziehungen in ganz Europa aussieht. Es ist daher folgerichtig, daß Machiavelli, der Theoretiker des Renaissance-Staates, auch diese zwischenstaatlichen Verhältnisse zum Gegenstand seiner Reflexion macht. Er gibt im 11. Kapitel des „Principe" (1532) eine Beschreibung der politischen Lage Ita1 Grundlegende Literatur zu unserem Thema: Heinrich v. Caemmerer, Rankes „Große Mächte" und die Geschichtschreibung des 18. Jahrhunderts, in: Studien und Versuche zur neueren Geschichte. Max Lenz gewidmet von Freunden und Schülern, Berlin 1910, 263 ff.; Ernst Schulin, Universalgeschichte und Nationalgeschichte bei Leopold von Ranke, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, 27 ff.; Wolf gang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Historische Zeitschrift 231, 1980, 265 ff.; Ludwig Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert (Fischer Bücherei; Bd. 352), Frankfurt a. Main 1961, 33 ff.. Ich füge hinzu, daß ich mich in den weiteren Anmerkungen auf die notwendigsten Belege beschränken muß. 2 Peter Moraw (Hrsg.), „Bündnissysteme" und „Außenpolitik" im späteren Mittelalter (Zeitschrit für historische Forschung, Beiheft 5), Berlin 1988. 3 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (Kröners Taschenausgabe, Bd. 53), Stuttgart 1966, 4.
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liens vor der Invasion Karls VIII., die der Definition eines Staatensystems, „avant la lettre", gleichkommt.4 Er bemerkt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen einzelnen Staaten oder politischen Gebilden. Die Stellung, die jeder Staat darin einnimmt, scheint ihm auf dem jeweiligen Maß an Unabhängigkeit zu beruhen, das wiederum von dem jeweiligen Machtpotential abhängt. Er unterscheidet demgemäß große und kleine Staaten. Die fünf großen, den Kirchenstaat, Venedig, Neapel, Mailand, Florenz, sieht er im Besitz einer kollektiven Vorherrschaft, Italien also in der Form einer Pentarchie organisiert. Er konstatiert schließlich die Mechanismen, die die Aufrechterhaltung dieses Zustandes gewährleisten: Abschirmung Italiens gegen auswärtige Angriffe, Wahrung des Besitzstandes der fünf Mächte, Zusammenschluß aller anderen Mächte gegen eine mögliche Hegemonialmacht. Das italienische Staatensystem vor 1494 stellt sich ihm also als Gleichgewichtssystem dar; wenig später wird Guicciardini in seiner „Istoria d'Italia" (1561 -64) von der „bilancia" in den damaligen italienischen Staatenverhältnissen sprechen.5 Es ist noch hinzuzufügen, daß Machiavelli im letzten Teil seiner „Istorie fiorentine" (1532) diesen Rahmen ausfüllt: nicht ohne die erklärte Einsicht, daß eine Geschichte von Florenz nicht übergehen dürfe, „was sich in Italien Denkwürdiges zugetragen hat.6 Als sich im Zeichen des Gegensatzes zwischen Habsburg-Spanien und Frankreich seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert ein allgemeines Staatensystem zu formieren beginnt, wird diese Betrachtungsweise auf europäische Maßstäbe übertragen. Es mag genügen, auf Henri de Rohans Schrift „De lTnterest des Princes et Estats de la Chrestiente" (1638) zu verweisen.7 Der Autor versteht unter Christenheit nicht mehr die „res publica christiana" oder das „corpus christianum" im traditionellen Sinne, sondern die Gesamtheit der souveränen Staaten in Europa. Die Schrift soll die außenpolitischen Interessen der wichtigsten Staaten und einige inner- oder zwischenstaatliche Konflikte in jüngster Zeit, vom religiösen Bürgerkrieg in Frankreich bis zum Mantuanischen Erbfolgekrieg, analysieren. Worauf es Rohan durchgängig ankommt, ist die bipolare Einheit der europäischen Politik: „Man muß davon ausgehen, daß es zwei Mächte in der Christenheit gibt, die gleichsam die beiden Pole sind, von welchen die Kriegs- und Friedenseinflüsse auf die anderen Staaten hinabsteigen, nämlich die Häuser Frankreich und Spanien".8 Dieser Gegensatz verbindet sich ihm mit der Vorstellung, daß Spanien nach der Vormacht strebe, während Frankreich dagegen ein Gegengewicht zu bilden suche. 4
Niccolö Machiavelli, II Principe. Der Fürst. Italienisch / Deutsch hrsg. von Philipp Rippel (Universal-Bibliothek, Bd. 1219), Stuttgart 1986, 88 ff. 5 Konrad Repgen, Der Westfälische Friede und die Ursprünge des europäischen Gleichgewichts, in: M. Spieker (Hrsg.), Friedenssicherung, Bd. 1, Münster 1987, 67 ff., hier 72. 6 Niccolö Machiavelli, Geschichte von Florenz. Hrsg. von Hans Floerke, München 1925, 407. 7 Dazu Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. von Walther Hofer (Werke, Bd. 1), 2. Aufl., München 1960, 192 ff. 8 Zitiert ebd., 200.
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Auch Rohan hat also, nunmehr in den Dimensionen des europäischen Staatensystems, den Gedanken eines Gleichgewichts der Mächte. Endgültig ausgearbeitet wird die Doktrin vom europäischen Staatensystem nach dem Westfälischen Frieden und nach dem Frieden von Utrecht, die ein dauerhaftes Zusammenleben der europäischen Staaten zu regeln unternehmen und damit eine neue Qualität politischer Interdependenz bewußt machen. Bolingbroke bringt im 7. und 8. Brief seiner „Letters on the Study and Use of History" (1735) einen Abriß der europäischen Staatenbeziehungen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. 9 Geleitet von der Absicht, den von ihm selbst herbeigeführten Kurswechsel der englischen Politik am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges zu rechtfertigen, fixiert er, in der Nachfolge Rohans, alles auf die These, daß sich immer wieder entgegen den hegemonialen Bestrebungen einer Großmacht ein Zustand des Gleichgewichts herausgebildet habe. Voltaire eröffnet „Le siècle de Louis XIV" (1751) mit einer Charakteristik der Staaten Europas in der Mitte des 17. Jahrhunderts und stellt dabei an den Anfang eine Bemerkung über die Situation Europas im ganzen, mit der er uns sein Bild des europäischen Staatensystems vor Augen führt. 10 Der Aufklärungsphilosoph hat ein primäres Interesse, den Begriff dieses Systems, jenseits der reinen Machtpolitik, um die Vorstellung einer europäischen Kultur- und Völkerrechtsgemeinschaft zu erweitern und damit die von der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts herkommende Säkularisierung der „res publica christiana" zu vollenden.11 Er nennt das christliche Europa eine Art großer Republik, mit Staaten, die verschieden verfaßt sind, aber, ungeachtet aller konfessionellen Zersplitterung, dieselbe religiöse Grundlage haben, sich zu denselben völkerrechtlichen und politischen Grundsätzen bekennen, unter sich eine gewisse Rangordnung wahren, diplomatische Beziehungen unterhalten; auch die Erhaltung eines Gleichgewichts an Macht gilt ihm als formalisiertes Prinzip. In Deutschland haben die gleichen Erfahrungen zur Folge, daß an den artistischen Fakultäten der Universitäten eine neue Hilfsdisziplin der Jurisprudenz entsteht: die europäische Staatenkunde oder Staatengeschichte, propädeutisches Fach des „ius publicum Europaeum", in Analogie zur Reichshistorie als Einführung in das „ius publicum Romano-Germanicum." 12 Der Lehrbetrieb entwickelt zwei Unterrichtsformen oder Gattungen. Bei der ersten handelt es sich um eine un verbundene Beschreibung der einzelnen europäischen Staaten. Sie summiert, mit historischen Rückblicken, die gegenwärtigen Beschaffenheiten oder Attribute eines Staates: geographisch-territoriale Lage, Bevölkerungszahl, Völkscharakter, Verfassung, 9
Dazu Caemmerer, Rankes „Große Mächte" (wie Anm. 1), 270 ff. Voltaire, Le siècle de Louis XIV., in: Œuvres historiques. Ed. René Pomeau, Paris 1957, 603 ff., hier 620 f. 11 Abriß dieser Entwicklung bei Meinecke, Idee (wie Anm. 7), 283 f. 12 Dazu allgemein Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, 234 ff., 333 ff. u. 348 ff. 10
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ökonomisches Potential, Staatsfinanzen, militärische Stärke, außenpolitische Interessen, Verhältnis zu anderen Staaten. Das europäische Staatensystem wird damit nur unter der „statistischen" Perspektive des jeweiligen Staates erfaßt; eine Zusammenschau findet nicht statt. Prototypisches Werk dieser Gattung bleibt Samuel Pufendorfs „Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten von Europa" (1682-86). Dagegen ist es der zweiten Gattung gerade um eine zusammenhängende Behandlung der europäischen Staatenbeziehungen zu tun; sofern sie die „Statistik" einzelner Staaten einbezieht, geschieht das im kompositionellen Kontext dieser Zielsetzung. Sie blüht an der 1737 gegründeten Universität Göttingen; ihre ersten Autoren sind Johann Jakob Schmauß mit seiner „Historie der Balance von Europa von 1484 bis 1740" (1741) und Gottfried Achenwall mit seinem „Entwurf der allgemeinen Europäischen Staatshändel des 17. und 18. Jahrhunderts" (1756).13 Der Höhepunkt dieser Gattung wird durch das eingangs genannte Handbuch Heerens bezeichnet, das zugleich die ganze Entwicklung der Doktrin vom europäischen Staatensystem seit Machiavelli abschließt und zusammenfaßt. Das Heerensche Handbuch gehört insoweit noch dem 18. Jahrhundert und überhaupt dem Bereich der frühneuzeitlichen Literatur an. Wenn es andererseits auch die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angeht, dann dadurch, daß es ihr sozusagen den traditionellen Begriff des europäischen Staatensystems vererbt. Die wesentlichen Bestimmungen Heerens verdienen daher, hier rekapituliert zu werden. 14 Das europäische Staatensystem wird aufgefaßt als Inbegriff der wechselnden Verhältnisse der einzelnen europäischen Staaten „gegen einander: besonders der Hauptstaaten".15 Der allgemeine „Charakter dieses Staatensystems ist seine innere Freiheit, d.i. die Selbstständigkeit und wechselseitige Unabhängigkeit seiner Glieder; der Historiker muß zeigen, wie dieser gebildet, gefährdet, erhalten wurde. 16 Das Staatensystem ist „ein Ganzes"; in ihm „bildeten sich die Völker des christlichen Europas gleichsam moralisch zu Einer Nation, die nur politisch getrennt war: Folge der fortschreitenden Cultur, die zwischen benachbarten Staaten immer mehrere Berührungspunkte erzeugen wird". 1 7 Das System ist gleichermaßen durch „Einförmigkeit wie Mannigfaltigkeit" der in ihm herrschenden Staatsverfassungen gekennzeichnet.18 Die „Consistenz" des Systems hängt vom Zustand der Mitte Europas, vom „Centralstaat" Deutschland ab. 19 Das System hat zwei 13 Über beide Caemmerer, Rankes „Große Mächte" (wie Anm. 1), 275 ff.; zu Schmauß zu letzt Hammerstein, Jus und Historie (wie Anm. 12), 348 ff. 14 Das Werk wird hier, wenn nicht anders vermerkt, in der vierten Ausgabe benutzt: Arnold Hermann Ludwig Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien (Historische Werke, Bd. 8 - 9 ) , 2 Bde., 4. Aufl., Göttingen 1822. 15 Ebd., Bd. 1,6. 16 Ebd. 17 Ebd., 9. 18 Ebd., 10. 1 Ebd., 11.
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Hauptstützen: „als Frucht der fortschreitenden Cultur, ein Völkerrecht, das, nicht blos auf ausdrücklichen Verträgen, sondern auch auf stillschweigenden Conventionen beruhend, die Beobachtung gewisser Maximen, sowohl im Frieden, als auch besonders im Kriege, zur Pflicht machte, und, wenn auch oft verletzt, doch höchst wohlthätig wurde" 20 ; dazu den „Grundsatz der Erhaltung des sogenannten politischen Gleichgewichts, d.i. der wechselseitigen Erhaltung der Freiheit und Unabhängigkeit, durch Verhütung der Uebermacht eines Einzelnen".21 Heeren teilt die Geschichte des europäischen Staatensystems in drei Perioden ein: in die Perioden der „Entstehung" (1492-93), der „Befestigung" (1661-1786) und der „Auflösung" oder, von der dritten Auflage 1819 an, der „Auflösung und Wiederherstellung des politischen Gleichgewichts" (seit 17 86). 22 Er entdeckt in der Vergangenheit „auch zugleich die Aussicht zu einer größern und herrlichem Zukunft: er erblickt statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte, durch die Verbreitung Europäischer Cultur über ferne Welttheile und die aufblühenden Anpflanzungen der Europäer jenseit des Oceans, die Elemente zu einem freiem und großem, sich bereits mit Macht erhebenden, Weltstaatensystem: der Stoff für den Geschichtschreiber kommender Geschlechter!" 23 Alle diese Bestimmungen kehren in der Folgezeit in der deutschen Geschichtsschreibung wieder. Jedenfalls ließen sich aus den Schriften Rankes wie Droysens und Treitschkes ohne Mühe ganze Florilegien mit entsprechenden Sätzen zusammenstellen. Man braucht nur wenige Seiten in Rankes „Großen Mächten" oder in den einschlägigen Kapiteln von Droysens „Historik" und Treitschkes „Politik" durchzusehen, um die Heerenschen Positionen ziemlich vollständig wiederzufinden: sei es, daß Ranke die „rechtliche, ja juridische Natur" der europäischen Ordnung, den „Begriff des europäischen Gleichgewichtes, die Verbindung der Gesamtheit wie die allgemeine Freiheit und Sonderung", die Erhebung einzelner großer Mächte herausstellt 24, Droysen von „Souveränität, Macht, Völkerrecht, Staatensystem" handelt25 oder Treitschke von „Staatsräson, Interesse des Staates, Gleich20 Ebd. 21 Ebd., 13. 22 Ebd., 17; vgl. dazu die 2. Aufl., Göttingen 1811, 17, wo noch die „Auflösung des politischen Gleichgewichts" als letzte Periode der Geschichte des europäischen Staatensystems erscheint. 23 Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, X I f. 24 Benutzte Ausgabe der Schriften „Die großen Mächte" und „Politisches Gespräch"; Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Hrsg. v. Theodor Schieder (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 5), Göttingen 1955; die obigen Zitate 9 u. 11. 25 Johann Gustav Droysen, Historik. Hrsg. v. Peter Leyh, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, 359 f.; der ganze Abschnitt über den Staat ist ein Extrakt aus Droysens Politik-Vorlesung: Rudolf Hübner, Joh. Gust. Droysens Vorlesungen über Politik. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschiche und Begriffsbestimmung der wissenschaftlichen Politik, in: Zeitschrift für Politik 10, 1917, 325 ff.
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gewicht, Großmächten, Diplomatie, Völkerrecht, Mitteleuropa" sowie davon, daß „die außereuropäische Welt in den Gesichtskreis der europäischen Staaten" eintritt 26 . Hier handelt es sich wirklich um „Stereotypen" oder Gemeinplätze. Hinzu kommt, daß allen drei Autoren bewußt bleibt, was sie Heeren und, über ihn, früheren Darstellungen schuldig sind. Ranke lobt an Heerens Handbuch, daß es „immer wohl durchdacht, voll von Inhalt" sei. 27 Droysen und Treitschke wissen zumal die von Heeren und Ukert herausgegebene „Europäische Staatengeschichte", eine Geschichte der europäischen Staaten in Einzeldarstellungen, zu würdigen, die das Heerensche Modell des Staatensystems zur Grundlage hat: Droysen kann nur wohlgefällig zur Kenntnis nehmen, daß dieses Unternehmen „die Geschichte zusammenziehe und die Gewinnung künftiger Übersicht erleichtere" 28; Treitschke sieht durch die Herausgabe des Werkes „die neu erwachte historische Wißbegierde der Zeit" richtig geschätzt.29 Noch Immich, der 1905 den ersten Band der „Geschichte des europäischen Staatensystems" bei Below-Meinecke herausbringt, trifft in seinen „Allgemeinen Bemerkungen über Quellen und Literatur" zu Heerens Handbuch die signifikante Feststellung: „Das beste Werk dieser Art, das auch heute noch zum Gebrauch empfohlen werden kann." 30 Jedoch ist von entscheidender Bedeutung, daß die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die gleiche traditionelle oder topische Figur auf ganz verschiedene Interessen bezieht und damit beträchtlich abwandelt oder sogar transformiert. Vergleicht man Ranke und die borussischen Historiker, so tritt eine zugleich quantitative und qualitative Differenz hervor: quantitativ, weil die Thematik des europäischen Staatensystems bei beiden ein verschiedenes Ausmaß hat; qualitativ, weil damit eine verschiedene Bewertung einhergeht. Was Ranke betrifft, so ist das europäische Staatensystem, gleichgesetzt mit dem Sinn der neueren Geschichte Europas, das Generalthema seiner Geschichtsschreibung überhaupt; im Verhältnis zu Heeren ergeben sich dabei sowohl Übereinstimmungen wie Unterschiede. Dagegen ist der primäre Gegenstand der borussischen Historiker die preußisch-deutsche Nationalgeschichte. Die Geschichte des europäischen Staatensystems spielt in ihren Werken eine lediglich untergeordnete oder funktionale Rolle: zunächst eine negative, die mit einer Abkehr von Ranke, und später eine positive, die, auf einer anderen Ebene, mit einer Rückkehr zu Ranke gleichbedeutend 26
Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin. Hrsg. v. Max Cornicelius, Bd. 2, 5. Aufl., Leipzig 1922; 527, 529 f., 539 und 542 f. 27 Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen. Hrsg. v. Volker Dotterweich/Walther Peter Fuchs (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4), München/Wien 1975, 116. 28 Johann Gustav Droysen, Briefwechsel. Hrsg. v. Rudolf Hübner, Bd. 1: 1829-1851 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 25), Berlin 1929 (Neudruck Osnabrück 1967), 109. 29 Heinrich von Treitschke, Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4), Leipzig 1927, 461. 30 Max Immich, Geschichte des europäischen Staatensystems 1660-1789, München/Berlin 1905 (Neudruck Darmstadt 1967), 5.
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ist. Sie leiten mit dieser letzten Wendung eine Entwicklung ein, die zu den sogenannten Neurankeanern und damit zu den Autoren des Below-Meineckeschen Handbuchs führt. Freilich wird zu zeigen sein, daß es für die eigentümliche Bewegung der borussischen Historiker gegen Ranke und zu Ranke zurück oder über Ranke hinaus Ansätze im Werk Rankes selbst gibt. Ich gehe der Reihe nach vor und habe zunächst von Ranke zu sprechen: von der Problemstellung, die sein historisches Interesse von vornherein auf die Geschichte des europäischen Staatensystems lenkt, und von ihrer historiographischen Durchführung. Die Geschichtsschreibung Rankes kann nicht verstanden werden ohne den ursprünglichen Gegensatz, den der Autor gegenüber den universalen Geltungsansprüchen der Französischen Revolution und der ihr nachfolgenden Bewegungen empfindet: gegenüber der Anmaßung, allen politisch-sozialen Verhältnissen, nach statischen Prinzipien einer als voraussetzungslos gedachten Vernunft, ein einheitliches System aufzwingen zu wollen. Ranke stellt in einem autobiographischen Diktat vom Dezember 1875 diese Empfindung in den Zusammenhang einer nach 1815 insgesamt vorherrschenden Regung: die neuere deutsche Geschichtswissenschaft habe sich „eigentlich in dem Widerspruch gegen die Alleinherrschaft der napoleonischen Ideen" und damit „im Gegensatz gegen eine allgemeine Herrschaft" entwickelt; er selbst habe, „in der Mitte lebendiger Bewegung nach allen Seiten hin, die Studien der neuren Geschichte mit wissenschaftlichen Tendenzen, die ich in denselben noch vermißte", ergriffen. 31 Andererseits hebt er in demselben Text sein Bestreben hervor, „daß ich nicht etwa der entgegengesetzten Partei beifiel" 32 : der Partei einer doktrinären Restauration oder Reaktion, die er von einem gleich unbedingten Anspruch auf universale Geltung erfüllt sieht. Konfrontiert „mit den großen Gegensätzen der Restauration und der Revolution", bezieht er eine Position, die „weder Revolution noch Reaction" ist 3 3 , die die Vorstellung der einen wie der anderen „Alleinherrschaft" abweist. Diese doppelte Aversion erneuert und befestigt sich in Ranke unter dem Eindruck der Julirevolution, als „die europäischen Reiche hauptsächlich im Kampfe über innere Einrichtungen in zwei feindselige, einander unaufhörlich bedrohende Hälften zerfallen" scheinen34, und noch die Revolutionsepoche von 1848/49 ist geeignet, solche Stimmungen zu nähren oder wachzuhalten.35
31 Leopold von Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte. Hrsg. von Alfred Dove (Sämmtliche Werke, Bd. 53/54), Leipzig 1890, 47 f. 32 Ebd., 47. 33
Ebd., 49 f. Ranke, Politisches Gespräch (wie Anm. 24), 61. 35 Ders., Zur eigenen Lebensgeschichte (wie Anm. 31), 52: „Eine neue Epoche trat durch die Revolution von 1848 ein: die Impulse, die sich im Jahre 1830 erhoben hatten, bekamen jetzt die Oberhand ( . . . ) . " 34
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Gegen diese Universalismen, gegen diese ideologische Polarisierung der europäischen Staatenverhältnisse setzt Ranke die historisch gewachsene Vielfalt des europäischen Staatensystems. Den Ausgangspunkt bildet die jeweilige Besonderheit oder Individualität der einzelnen europäischen Staaten, vornehmlich der großen Mächte, in deren „Aufkommen" ihm „das große Ereignis der hundert Jahre, die dem Ausbruch der französischen Revolution vorhergingen", ja der Neuzeit überhaupt zu liegen scheint.36 Ranke hat die originäre Stellung dieser Staatsindividualitäten immer wieder in emphatischen Wendungen beschrieben: er nennt sie „geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, moralische Energien, originale Schöpfungen des Menschengeistes, Gedanken Gottes".37 Jede dieser Wendungen steht in scharfer Antithese gegen die Universalismen des Revolutionszeitalters. Ranke faßt die einzelnen Staaten in Europa als Realisation menschlicher Schöpferkraft und Selbstbestimmung, als Inbegriff menschlichen Lebens, als Wirklichkeit göttlicher Vernunft im Gegensatz zu einer Anschauung, die alles konkrete politische Dasein ihren starren Abstraktionen aufopfert. Es ist aber wesentlich, daß Ranke nicht bei der bloßen Besonderheit oder Individualität der einzelnen europäischen Staaten stehenbleibt, sondern von ihr aus zum Allgemeinen fortschreitet. Erst durch diesen Fortschritt wird es ihm möglich, über die Antithese hinaus zu einer eigentlichen Überwindung jener Universalismen zu gelangen: indem er ihnen die wahre Universalität entgegenstellt. Das ist der Sinn, wenn Ranke im „Politischen Gespräch" (1836) die methodische Maxime formuliert: „Aus dem Besonderen kannst du wohl bedachtsam und kühn zu dem Allgemeinen aufsteigen; aus der allgemeinen Theorie gibt es keinen Weg zur Anschauung des Besonderen." 38 Der revolutionäre oder reaktionäre Universalismus muß die Individualität der europäischen Staaten verfehlen und erweist sich damit als irreal oder gegenstandslos. Dagegen eröffnet die Beobachtung der Staatsindividualitäten zugleich auch den Blick auf die universale Dimension der europäischen Staatenverhältnisse. Ranke vollzieht eine doppelte Verallgemeinerung oder Universalisierung. Zuerst handelt es sich darum, daß jeder Staat, jede große Macht immer auch als Träger allgemeiner Ideen oder Prinzipien erscheint, dass demgemäß auch die Universalismen des Revolutionszeitalters mit den spezifischen Interessen bestimmter Staaten verbunden sind. Von den großen Mächten heißt es, „daß sie auf Prinzipien gegründet sind, die aus den verschiedenen großen Entwicklungen früherer Jahrhunderte hervorgegangen waren, daß sie sich diesen analog in ursprünglichen Verschiedenheiten und mit abweichenden Verfassungen ausbildeten, daß sie großen Forderungen entsprachen, die gemäß der Natur der Dinge an die lebenden Geschlechter 36 37 38
Ders., Die großen Mächte (wie Anm. 24), 28. Ders., Politisches Gespräch (wie Anm. 24), 41 u. 61. Ebd., 57.
21 Muhlack
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geschahen".39 Ranke läßt, in diesem Sinne, die großen Mächte, wie sie sich im 17. und 18. Jahrhundert formiert oder vollendet haben, „auf etwas verschiedenen Prinzipien beruhen: 1. Frankreich auf dem katholischen und monarchischen Prinzip, welches aber noch mit hierarchischen Tendenzen vereinigt ist, ein Prinzip, welches zugleich romanisch war; 2. England auf dem germanisch-maritimen und parlamentarischen Prinzip; 3. Rußland auf dem slawisch-griechischen Prinzip, verbunden mit der Tendenz, in materieller Beziehung sich die Kultur des Abendlandes anzueignen; 4. Österreich auf dem katholisch-monarchisch-deutschen Prinzip; 5. Preußen auf dem deutsch-protestantisch-militärisch-administrativen Prinzip". 40
Diese Prinzipien sind augenscheinlich auch dadurch „verschiedene", daß sie keineswegs gleiche Qualität und gleiche Reichweite haben. Die Begriffe „monarchisch, parlamentarisch, militärisch, administrativ" gehören einer anderen Kategorie an und haben einen anderen Umkreis als die Begriffe „katholisch" und „protestantisch" oder die Begriffe „romanisch, germanisch, slawisch" oder schließlich der Begriff „deutsch", die wiederum jeweils in beiden Hinsichten voneinander abgeteilt sind. Aber sie alle haben eines gemeinsam: sie existieren nicht außerhalb der Geschichte, sondern in ihr, haben keine absolute Geltung, sondern stehen für ganz bestimmte Komplexe historischer Realität; sie lassen sich daher nicht aus Annahmen reiner Vernunft deduzieren, sondern sind nur der historischen Erfahrung zugänglich. Das gilt auch dann, wenn Ranke „die Formen der Verfassung" in allen Staaten auf „eine gemeinschaftliche Notwendigkeit", auf „allgemeine Notwendigkeiten des menschlichen Daseins" zurückführt; denn auch solche Bedürfnisse, wie etwa „allgemeine Sicherheit", prägen sich allein in der geschichtlichen Wirklichkeit aus, sind allein durch sie gegeben.41 Alle diese Prinzipien liegen mithin in demselben Element beschlossen wie die Staaten, die auf ihnen beruhen: in der Konkretheit menschlichen Lebens. Ein Staat wird also nicht dadurch zum Träger einer allgemeinen Idee oder eines allgemeinen Prinzips, daß er in den Dienst einer höheren Macht tritt: durch Mediatisierung oder Transzendierung. Ranke erkennt vielmehr einen dynamischen Prozeß, in dem ein Staat sich aus den immanenten Antrieben seiner besonderen Entwicklung heraus zur Wirklichkeit einer solchen Idee oder eines solchen Prinzips durchkämpft oder durchbildet. Er gründet das vorrevolutionäre Frankreich auf das katholische, monarchische, romanische Prinzip, weil er die Realisierung dieser Prinzipien der individuellen Richtung der mittleren und neueren Geschichte Frankreichs entsprechend findet: der gallikanischen Tradition, der durchgängigen nationalen Mission der Königsmacht, der Herkunft und Bildung der Nation. Frankreich dient ihm zugleich als schlagendes Beispiel für die Möglichkeit oder Notwendigkeit, die universalen Geltungsansprüche der revolutionären wie der reaktionären Ideologie mit 39
Ranke, Die großen Mächte (wie Anm. 24), 28. L. v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Hrsg. v. Theodor Schieder/Helmut Berding (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 2), München/Wien 1971, 401. 41 Ranke, Politisches Gespräch (wie Anm. 24), 56, 61 u. 72. 40
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den konkreten Ansprüchen bestimmter Staatsindividualitäten zusammenzusehen. Wenn er die Ursachen ermißt, „durch die es zu der furchtbaren Entwicklung der französischen Revolution kam", und „jene gewaltige Explosion aller Kräfte" beobachtet, so kommt er nicht umhin, die in den revolutionären Ereignissen mächtig wirkenden „Tendenzen zur Herstellung der alten Macht" wahrzunehmen 42: ein traditionelles Machtinteresse, das aus der Verbindung mit einem menschheitlichen Programm neue Legitimation gewinnt. Die zweite Verallgemeinerung, die Ranke vollzieht, besteht in der These, daß die europäischen Staaten, von diesen Voraussetzungen her, eine Einheit bildeten und daß lediglich eine solche Einheit dauern könne. Jene „Individualitäten, eine der andern analog, - aber wesentlich unabhängig voneinander", sie alle bestimmt durch „ein lebendiges, individuelles, ihnen inwohnendes Prinzip" 43 , ergeben gerade dadurch einen wechselseitigen Zusammenhang, aus dem ihnen ein Bewußtsein der Einheit entsteht: „wo sich mannigfaltige Eigentümlichkeiten, in sich selber rein ausgebildet, in einem höheren Gemeinsamen begegnen, ja wo sie dies, indem sie einander lebendig berühren und ergänzen, in dem Momente hervorbringen". 44 Jeder Staat hat sich, um sich in seiner Besonderheit zu konstituieren und zu befestigen, mit anderen Staaten auseinanderzusetzen; jeder konkurriert mit den anderen um die Verwirklichung allgemeiner Ideen oder Prinzipien; jeder steht also mit den anderen in einer Verbindung, kann nur als durch diese Verbindung existent betrachtet werden. 45 Rankes Umkehrschluß lautet, daß nur eine derartige Verbindung Bestand habe: „Aus Sonderung und reiner Ausbildung wird die wahre Harmonie hervorgehen." 46 Die großen Mächte des 17. und 18. Jahrhunderts scheinen ihm insoweit „alle gleichsam auf dem Baume von Europa gewachsen" 4 7 Rankes Konzept des europäischen Staatensystems bietet eine Anweisung zum politischen Handeln: die Anweisung, zwischen den Parteien der Revolution und der Reaktion eine dritte Tendenz zu verfolgen, die sich von der Rücksicht auf die unterschiedlichen Interessen der europäischen Staaten leiten läßt. Es ist bekannt, daß Ranke selbst, mit mäßigem Erfolg, nach 1832 eine „Historisch-Politische Zeitschrift" herausgegeben hat, in der er, vom Standpunkt der preußischen Politik aus und im Einvernehmen mit der preußischen Regierung, für diese Tendenz warb, „welche an das Bestehende anknüpfte, das, auf dem Vorangegangenen beruhend, eine Zukunft eröffnete, in der man auch den neuen Ideen, insofern sie Wahrheit 42
Ders., Die großen Mächte (wie Anm. 24), 33 u. 35. Ders., Politisches Gespräch (wie Anm. 24), 61 u. 65. 44 Ders., Die großen Mächte (wie Anm. 24), 42. 45 Ebd., 41 f.: „Sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander; in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge . . . " . 4 6 Ebd., 43. 43
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2 *
Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (wie Anm. 40), 401.
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enthielten, gerecht werden konnte". 48 Dasselbe Konzept bietet aber zugleich auch die Anweisung zu einem historiographischen Vorhaben: die Anweisung, sich der historischen Grundlagen der europäischen Staatenverhältnisse zu vergewissern und damit die Handelnden über die Voraussetzungen ihres Handelns aufzuklären. Um sich in der historisch gewachsenen Vielfalt des europäischen Staatensystems zu orientieren, bedarf es hinlänglicher historischer Kenntnisse. Rankes historiographisches Werk ist ein kaum jemals durch andere Interessen unterbrochener Versuch, dieses Vorhaben auszuführen. Sein Hauptthema ist die Entstehung und Ausbildung des europäischen Staatensystems zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert. Ranke hat dieses Thema in zwei Schriften exponiert: in den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514" (1824) und in dem Essay „Die großen Mächte" (1833). Die „Geschichten" führen zunächst die Ausgangslage vor, von der das europäische Staatensystem herkommt: die mittelalterliche Einheit der romanischen und germanischen Völker. Die Gesamtheit dieser Völker, „die französische, spanische, italienische" und „die deutsche, englische, scandinavische" Nation umfassend 49, erscheint Ranke als „der Kern aller neueren Geschichte"50, als „unvergleichlicher Verein" 51 , an den sich andere Völker, wie die Türken und „slavische, lettische, magyarische Stämme"52, erst später angeschlossen hätten. Ihre Einheit oder Vereinigung während des Mittelalters wird realisiert durch bestimmte gemeinsame Unternehmungen, durch die Völkerwanderung, die Kreuzzüge, den Beginn der überseeischen Kolonisation, die bis zu einem gewissen Grade „ein einziges in seinem Gange zusammenhängendes Ereigniß" bilden, und, in diesem Rahmen, durch bestimmte gemeinsame Einrichtungen, durch das Kaisertum, das Papsttum, das Rittertum und das Städtewesen.53 Es ist die Meinung Rankes, daß die europäischen Staaten sich in langen inneren und äußeren Kämpfen von dieser Einheit losgerissen und sich zur neuen Einheit des Staatensystems ausdifferenziert hätten. Ranke stellt in den „Geschichten" weiterhin dar, wie dieser Prozeß durch die Kämpfe um Italien von 1494 bis 1514 in Gang gesetzt wird. Als die Schrift 1874 in zweiter Auflage in den ,,Sämmtliche[n] Werke[n]" herauskommt, begründet er die Aufnahme in die Sammlung mit dem Argument, die darin behandelte Epoche bilde gleichsam „den Vordergrund der neueren Geschichte" und das Buch enthalte daher „eine Art von Vorbereitung zu den meisten späteren Werken des Autors" 54 : es sei das politische Werk jener Generation, „daß sie ein europäisches Staaten48
Ders., Zur eigenen Lebensgeschichte (wie Anm. 31), 50. L. von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (Sämmtliche Werke, Bd. 33/34), 2. Aufl., Leipzig 1874, XV. 50 Ebd., V. 49
51 Ebd., XXX. 52 Ebd., V. 53 Ebd., X V I ff.; das Zitat XXX. 54 Ebd., X.
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system begründete; sie brachte die verschiedensten Elemente des Nordens und des Südens in eine Verbindung, in welcher die Einheit der romanisch-germanischen Völker mehr als je hervortrat' 4.55 Wer die erste Auflage des Buches kennt, weiß, daß dies kein anachronistisches Argument ist, sondern die ursprüngliche Intention Rankes genau trifft. Der Essay „Die großen Mächte" gibt, auf diesem Hintergrund und nach einem knappen Rückblick auf die europäischen Staatenbeziehungen vom 16. Jahrhundert bis zum Höhepunkt französischer Macht um 1680, einen Abriß der Geschichte des europäischen Staatensystems seit dieser Epoche. Der Verfasser beabsichtigt dabei, sich über „die Anschauung des einzelnen Momentes" hinwegzusetzen und „aus der Mannigfaltigkeit der einzelnen Wahrnehmungen... eine Ansicht ihrer Einheit" herauszuheben.56 Er konzentriert sich auf zwei Vorgänge: auf die Konsolidierung der europäischen Großmächte im 17. und 18. jahrhundert sowie auf den Zusammenbruch des Systems nach 1789 und dessen Wiederherstellung, die er einer „Verjüngung des nationalen Geistes in dem ganzen Umfange der europäischen Völker und Staaten zuschreibt". 57 Ranke bezeichnet oder präzisiert mit dieser Skizze Themenstichworte für ein künftiges historiographisches Programm: eine weitere „Vorbereitung zu den meisten späteren Werken des Autors". Die nunmehr in regelmäßiger Folge erscheinenden großen Werke Rankes sind allesamt auf der in diesen beiden Schriften niedergelegten Basis errichtet. Die Darstellung über „Die römischen Päpste" (1834-36) und die „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839-47) beschreiben die neuzeitlichen Wandlungen der beiden hauptsächlichen universalen Einrichtungen des Mittelalters: des Papsttums und des Kaisertums. Die Geschichte der Päpste wird schließlich bis zum Vatikanischen Konzil fortgeführt, durch das das Papsttum seine letzte Gestalt erhält. Die „Deutsche Geschichte" endet mit dem Augsburger Religionsfrieden, der die Ergebnisse der eigentlichen Transformationsphase der Reichsverfassung fixiert; späteren Abschnitten der Reichsgeschichte widmet Ranke gesonderte Schriften: der Krise der Reichsverfassung zwischen 1555 und 1619 den Band „Zur Deutschen Geschichte vom Religionsfrieden bis zum dreißigjährigen Krieg" (1868), dem gescheiterten Versuch einer Wiederbelebung kaiserlicher Macht im Dreißigjährigen Krieg die „Geschichte Wallensteins" (1869) und den Reichsreformbemühungen im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution das Buch „Die deutschen Mächte und der Fürstenbund" (1871). Diesen Werken fügt Ranke Darstellungen über einzelne der neuen europäischen Großmächte hinzu. Bereits 1827 ist eine Darstellung über das osmanische Reich und Spanien in derjenigen Epoche erschienen, in der diese beiden Mächte die europäischen Staaten Verhältnisse dominieren: das Buch „Die Osmanen und die Spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert", das Ranke 1877 in vierter, erweiterter Auf55 Ebd., 323. 56 Ranke, Die großen Mächte (wie Anm. 24), 3. 57 Ebd., 37.
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läge herausbringt. Fortan geht es, in der „Preußischen Geschichte" (1847-48), der „Französischen Geschichte" (1852-61) und der „Englischen Geschichte" (1859-68), um die Konstituierung dreier Hauptmächte in der nachfolgenden Epoche des europäischen Staatensystems. Ranke bezieht die beiden ersten Geschichten jeweils auf die Entstehung der absoluten Monarchie, die letztere auf die Entstehung des parlamentarischen Systems: ein Muster für jene ihm eigentümliche Verbindung oder Vermittlung bestimmter Staatsindividualitäten mit bestimmten allgemeinen Ideen oder Prinzipien. Er schließt seine Darstellung dann ab, wenn ihm der jeweilige Formierungsprozeß vollendet zu sein scheint. Die „Preußische Geschichte" geht bis zu den mittleren Zeiten Friedrichs des Großen, bis zur Etablierung des Friderizianischen Systems zwischen dem Aachener Frieden und dem Beginn des Siebenjährigen Krieges; sie wird später nach hinten wie nach vorn ergänzt: nach hinten, indem Ranke das Einleitungsbuch zu einer zusammenfassenden Darstellung der „Genesis des preußischen Staates" (1874) ausbaut, und nach vorn durch das Werk „Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793-1813" (1879-81), das die Katastrophe und die Wiederaufrichtung Preußens im Zeitalter der Französischen Revolution zum Gegenstand hat. Die „Französische Geschichte" reicht bis zur Zeit Ludwigs XIV., mit einem Ausblick bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, als schon der Umschlag des Absolutismus in die kommende Revolution absehbar wird, und die „Englische Geschichte" bis zum Ausgang Wilhelms III., mit einer Vorausschau auf die ersten sechs Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, in denen sich die durch die Glorreiche Revolution geschaffene Ordnung endgültig bewährt. Alle diese Werke, von der „Geschichte der Päpste" bis zur „Englischen Geschichte", sind jeweils Monographien über einzelne Glieder des europäischen Staatensystems, keine übergreifenden Darstellungen des Staatensystems im ganzen. Andererseits legt Ranke Wert darauf, den jeweiligen Gegenstand immer im europäischen Gesamtzusammenhang abzuhandeln: er schreibt Geschichte der Päpste, deutsche, osmanische, spanische, preußische, französische, englische Geschichte als europäische Geschichte, als exemplarische Geschichte des europäischen Staatensystems. Jedes Werk enthält damit zugleich fortwährend Anschlußstellen für die anderen Werke. Sie alle sind einem einheitlichen Konzept verpflichtet. Überdies gibt es, für bestimmte Knotenpunkte des Geschehens, durchaus auch Schriften, in denen Ranke das europäische Staatensystem insgesamt thematisiert: so das Buch „Der Ursprung des Siebenjährigen Krieges" (1871), das die letzte große Umwälzung in den europäischen Bündnisverhältnissen vor der Französischen Revolution behandelt, und das Buch „Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792" (1875), durch die Ranke die ganze seitdem vergangene Epoche bestimmt sieht. Ich setze noch hinzu, daß auch die „Weltgeschichte" (1881-88) dem Umkreis dieser Interessen entstammt. Sie entwickelt jene Ausgangslage, von der Ranke in den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker" die Entstehung des europäischen Staatensystems herleitet, und liefert insoweit dessen Vorgeschichte.58
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Beim Rückblick auf Heeren fallen zunächst wesentliche Übereinstimmungen ins Auge. Ranke hat mit ihm vor allem gemeinsam, daß er die Geschichte des europäischen Staatensystems als selbständiges Thema abhandelt und als Inbegriff der neuzeitlichen Geschichte Europas auffaßt. Heeren beginnt sein „Handbuch" mit der Bemerkung, daß unter den großen weltgeschichtlichen Erscheinungen „die des europäischen Staatensystems oder Staatenvereins in den letzten drei Jahrhunderten bisher die größte, und zugleich für uns die wichtigste sei". 59 Es ist offensichtlich, daß Rankes Geschichtsschreibung die gleiche Prämisse hat. Dem entspricht eine Analogie der Erkenntnisinteressen. Heeren faßt das „Handbuch" zu einem Zeitpunkt ab, als er das europäische Staatensystem „in seinen wesentlichen Theilen zusammenstürzen sieht" 60 : mit dem Vorsatz, wie es in der Nachschrift zur dritten Auflage 1819 heißt, „die Erhaltung des Andenkens an eine bessere Zeit, und der Grundsätze, auf denen in ihr die Politik von Europa ruhte", zu ermöglichen und damit zugleich für eine bessere Zukunft zu sorgen. 61 Wenn Ranke der „Alleinherrschaft der napoleonischen Ideen" die historisch gewachsene Vielfalt des europäischen Staatensystems entgegensetzt, verfolgt er eine verwandte Absicht. Eine weitere Übereinstimmung ist durch die Auffassungen gegeben, die beide Historiker von der Stellung Deutschlands im europäischen Staatensystem haben. Ranke teilt nicht nur die Heerensche Überzeugung von dem „Centralstaat" Deutschland: „Denn Deutschland war immer das Zentrum der Bestrebung aller Welt". 62 Er hat auch die gleiche Vorstellung darüber, wie dieser „Centralstaat" beschaffen sein solle, um die „Consistenz" des Systems zu gewährleisten. Beide bejahen, daß Österreich und Preußen seit dem 18. Jahrhundert zu den europäischen Großmächten gehören: beide sehen Österreich im Zuge der Türkenkriege und Preußen unter Friedrich dem Großen emporkommen, mit der Konsequenz, daß das europäische Gleichgewicht sich stabilisiert. 63 Aber beide haben zugleich die Meinung, daß Deutschland insgesamt kein in sich geschlossener Machtblock sein, sondern eher seine bisherige lockere Organisation behalten solle. Heeren nennt das alte Reich „höchst wohlthätig für das Ganze, Allen wichtig aber Niemanden gefährlich", konstatiert, daß „an seine Erhaltung die Erhaltung der bestehenden Ordnung der Dinge in Europa geknüpft sei": ungeachtet aller Mängel im Innern. 64 Ganz analog preist er die „hohe Bestimmung" des Deutschen Bundes, der „Friedensstaat von Europa zu seyn: die Vielen aber, welche, stets das vorhandene Gute 58 Zu Rankes historiographischem Problem auch Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, 11 ff., hier 28 ff. 59 Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, V. 60 Ebd., X.
61 Ebd., XIII. 62 Ranke, Vorlesungseinleitungen (wie Anm. 27), 473. 63 Vgl. dazu Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, 248 f.; Bd. 2, 9 sowie Ranke, Die großen Mächte (wie Anm. 24), 14 ff., 20 ff. 64 Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, 11.
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verkennend, nur von den Mängeln des Bundes sprechen, sollen wissen, daß gerade sie seine gefährlichsten Feinde sind; Was noch fehlt, läßt sich ergänzen". 65 Ranke weiß sich solchen Ansichten einstweilen durchaus nahe. Er spart in seinen Schriften wahrlich nicht mit Kritik an den Gebrechen des alten Reiches; gleichwohl steht ihm fest, daß das Reich, einer über den „Inhalt der Gewalt" erhabenen „Idee des Rechtes" verhaftet 66, „eine universale Bedeutung hat, indem auch die benachbarten nicht-deutschen Mächte durch den Besitz deutscher Länder, oder als Garanten der geschlossenen Friedensschlüsse in enger Verbindung mit ihm standen .. ," 6 7 . Er spricht sich weiterhin zunächst vehement gegen eine eigentliche Nationalstaatsbildung in Deutschland aus, hält vielmehr an der Bundesverfassung fest. So sehr er die Nationalisierung der Politik begrüßt, die die Französische Revolution überall in Deutschland ausgelöst hat, so sehr leiht er für Deutschland „nicht einer erdachten, chimärischen, sondern der wesentlichen, vorhandenen, in dem Staate ausgesprochenen Nationalität" das Wort 68 , und auch wenn er die Bundesakte keineswegs mit „den allgemeinen Wünschen, noch auch wohl dem unleugbaren Bedürfniß" in Einklang glaubt, so liegen dennoch nach seiner Einschätzung „in dem Bunde sehr wichtige Elemente, die allerdings zu einer wesentlichen Vereinigung unseres Vaterlandes dienen können". 69 Ich merke nur an, daß diese Heeren-Rankesche Position traditionelle Anschauungen der Reichshistoriker seit dem Westfälischen Frieden erneuert. 70 Die Unterschiede zwischen Heeren und Ranke resultieren aus Ansichten, durch die sich der erste als ein Autor der Aufklärungshistorie, der andere als ein Autor des Historismus zu erkennen gibt. Heeren deduziert seinen Begriff des europäischen Staatensystems aus bestimmten Universalien, die ihm vor der Anschauung des konkreten Geschehens gegeben 65 Ebd., Bd. 2, 418 f. 66 Ranke schreibt 1837 in einem zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Papier „Über einige noch unbenutzte Sammlungen deutscher Reichstagsakten": „Eben das ist der Unterschied des deutschen Reiches von allen anderen Staaten und Reichen. In allen anderen ist die Idee des Rechts an den Inhalt der Gewalt selbst geknüpft gewesen, wodurch sie, wie namentlich auch in England, nicht selten gewaltig ins Gedränge gekommen: in Deutschland gab es immer über all den einzelnen Staatsgewalten noch etwas, was nicht wieder Gewalt war, sondern den Einwirkungen derselben so viel als möglich entrückt, auf dem Boden der Reichsgesetze, der Vergangenheit und der Gelehrsamkeit ruhend, die Idee eines rechtlichen, juridisch gesicherten Zustandes an und für sich repräsentierte"; zitiert bei Paul Joachimsen, Einleitung zu Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation; zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hrsg. v. Notker Hammerstein, Aalen 1970, 621 ff., hier 648 f. Vgl. dazu auch Hammerstein, Jus und Historie (wie Anm. 12), 373 f. u. 380. 67 Leopold von Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte 1780 bis 1790 (Sämmtliche Werke, Bd. 31/32), 2. Aufl., Leipzig 1875, 25. 68 Ders., Die großen Mächte (wie Anm. 24), 42. 69 Ders., Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Alfred Dove (Sämmtliche Werke, Bd. 49/50), Leipzig 1887, 157. 70
Dazu Hammerstein, Jus und Historie (wie Anm. 12), passim.
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sind, bleibt insoweit durch ein abstraktes Denken in statisch-allgemeinen Kategorien geprägt. Er ordnet zum einen die Geschichte des Systems in die Weltgeschichte der aufgeklärten Zivilisation ein. Zwar polemisiert er gegen „unsere spekulativen Historiker", die „das Europäische Staatensystem nur als ein Glied in der Kette der Erscheinungen", der „Fortschritte der Menschheit" betrachten; er hält es demgegenüber „für seine erste Pflicht, auf historischem Grund und Boden zu bleiben". 71 Man begegnet dieser empiristischen Attitüde, die sich gegen die Geschichtsphilosophie französischer Provenienz richtet, auch bei anderen Vertretern der sogenannten Göttinger Schule. Aber auch Heeren weiß sich dabei mit den aufklärerischen Prämissen und Zielen der Geschichtsphilosophie einig, und die Differenz kann schließlich darauf reduziert werden, daß er und die anderen Göttinger Historiker größeren gelehrten Aufwand betreiben. Derselbe Autor, der sich von der geschichtsphilosophischen Fortschrittsgeschichte distanziert, spricht schon wenige Seiten darauf nahezu topisch von der Bildung des europäischen Staatensystems als „Folge der fortschreitenden Cultur oder als Frucht der fortschreitenden Cultur" 72 , und aus dem „Handbuch", wie aus den anderen Schriften Heerens, erhellt, daß sein Begriff der „Cultur" sich genau mit dem Voltaireschen Begriff der Zivilisation deckt: mit der Vorstellung einer Interdependenz politischer, ökonomischer, sozialer, religiöser, wissenschaftlicher, künstlerischer Verhältnisse der Menschen, die sich im Laufe der Weltgeschichte, nach Grundsätzen der Vernunft, immer mehr einem Zustand der Vollkommenheit annähern. Heeren bestimmt zum andern, im genauen Zusammenhang mit dieser Betrachtungsweise, sein Konzept des europäischen Staatensystems nach Kriterien des Naturrechts. Er sieht das System, in Analogie zur „bürgerlichen Gesellschaft", als „eine Gesellschaft unabhängiger Personen", als „Gesellschaft moralischer Personen", als „Verein" an, wo „notwendig gewisse allgemeine Ideen herrschen, aus denen im Ganzen die Maximen des Handelns hervorgehn". 73 Er versteht die „innere Freiheit, d.i. die Selbstständigkeit und wechselseitige Unabhängigkeit", worin er den „allgemeinen Charakter" des Systems begreift 74 , als ein Recht, das jedem Glied des Systems von Natur aus zusteht: so wie jeder Bürger eines Staates ein natürliches Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum hat. Das Völkerrecht und das Gleichgewicht, die Hauptstützen des Systems, sollen die Geltung dieses allen Gliedern gleichsam eingeborenen Rechtsanspruchs gewährleisten: beide darauf berechnet, „dem Schwachen seine Sicherheit und Selbstständigkeit vor dem Mächtigen" zu sichern. 75 Die Ausbildung des Systems ist gleichbedeutend damit, daß dieser Rechtscharakter immer deutlicher heraustritt oder bewußt wird. Sie erscheint dadurch als Teilprozeß jener Fortschrittsgeschichte der Zivilisation: Freiheit der 71 72 73 74 75
Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, X f. Ebd., 9 u. 11. Ebd., V I f. Ebd., 6. Ebd., 11.
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Staaten, Völkerrecht, Gleichgewicht sind nicht zu trennen von der allgemeinen Zivilisierung oder Kultivierung der Menschheit. Freilich warnt Heeren, wiederum aus seiner Aversion gegen spekulatives Geschichtsdenken heraus, davor, bei der Rechtsbeziehungen der Staaten untereinander „an irgend ein allgemein angenommenes Systems zu denken". Er macht sich vielmehr anheischig, die besonderen, „das jedesmalige Zeitalter leitenden, Ideen richtig aufzufassen": Ideen, die jeweils das Staatensystem im ganzen, wie diejenigen, die jeweils die einzelnen Staaten leiten. Aber der Leser kann sich leicht davon überzeugen, daß es sich bei diesen „Veränderungen" um sekundäre Abwandlungen derselben allgemeinen Rechtsprinzipien handelt.76 Es bedarf nach dem bisher Gesagten keiner umständlichen Erörterung, um nachzuweisen, wie fern Ranke solchen Gedankengängen steht. Er steht ihnen so fern wie den Universalismen des Revolutionszeitalters, gegen die er sein Bild des europäischen Staatensystems stellt. Er konstruiert das System, statt aus bestimmten Universalien, aus den Individualitäten der einzelnen zu ihm gehörigen Staaten, die ihm zugleich durch die ihnen inhärierenden allgemeinen Ideen oder Prinzipien und die aus ihnen hervorgehende Einheit eine vollständige Immanenz des Universalen im Besonderen und damit eine vollständige Historisierung des Universalen darbieten. Der aufklärerische Begriff der Zivilisationsgeschichte ist damit ebenso abgetan wie die naturrechtliche Bestimmung des Systems. Ranke leugnet einen vernunftgeleiteten Fortschritt der Menschheit zu einem Ziel größtmöglicher Vollkommenheit, der jeweils gleichmäßig in allen Bereichen menschlichen Lebens stattfindet. Er postuliert demgegenüber einen Fortschrittsgedanken, der den eigenen Wert und die einseitige Richtung jeder historischen Epoche in der Geschichte jedes Volkes zur Voraussetzung hat: den Gedanken eines Fortschritts, der die konkrete Abfolge der verschiedenen Epochen in verschiedenen Völkergeschichten und die dadurch bewirkte Vervielfältigung menschlicher Möglichkeiten meint. 77 Auch die Aktion und die Interaktion der Glieder des europäischen Staatensystems vollführen in diesem Sinne eine Fortschrittsbewegung. Ranke macht hier wirklich Ernst mit der „Pflicht" des Historikers, „auf historischem Grund und Boden zu bleiben". Ganz genauso fordert er andererseits eine geschichtliche Auffassung des Rechts, die der Einsicht in die „Veränderungen" der staatlichen und zwischenstaatlichen Verhältnisse ohne statisch-abstrakten Vorbehalt gemäß wird. Die Geschichte des europäischen Staatensystems vollzieht sich ihm nicht in den normativen Bahnen eines „in dem Innern seiner Natur" liegenden Rechts78, sondern bringt umgekehrt, im Kontext der individuellen Entwicklung seiner Glieder, eine Summe konkreter rechtlicher Bezüge hervor, und sofern Ranke unter „gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen" auch die Idee des Rechts anerkennt 79, so hat er von dieser Idee 76 77 78 79
Ebd., VII. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (wie Anm. 40), 54 ff. Heeren, Handbuch (wie Anm. 14), Bd. 1,13. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (wie Anm. 40), 61.
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wie von den anderen Ideen offenbar eine lediglich formale Vorstellung, die es zwingend macht, daß sie nur in der Geschichte Wirklichkeit gewinnen kann. Die zwischen den beiden Historikern herrschende Differenz wird an dem Begriff der staatlichen „Freiheit" sinnfällig, die Heeren als allgemeines Rechtsprinzip aufstellt, dagegen Ranke, die Sphäre des Rechts überschreitend, mit der ganzen Individualität der jeweiligen Staatspersönlichkeit gleichsetzt. Was Heeren und Ranke jeweils über das Völkerrecht und das Gleichgewicht sagen, ist dementsprechend zu beurteilen. Ich habe mich nunmehr Droysen zuzuwenden, der uns für die Begründung der borussischen Schule stehen soll. Zunächst muß es um die generelle Thematik seiner Geschichtsschreibung gehen, von der seine Sicht des europäischen Staatensystems abhängig ist. Man kann mit einiger Berechtigung sagen, daß er ein Ranke genau entgegengesetztes historiographisches Interesse verfolgt. Er beginnt mit einer Form ideologisch-universaler Geschichtsbetrachtung, wie sie Ranke mit seiner Wendung gegen die revolutionäre und die reaktionäre Doktrin wie mit seiner Abkehr von der Aufklärungshistorie im Stile Heerens gerade ablehnt, und gelangt schließlich folgerichtig zu einem in sich geschlossenen oder exklusiven Programm preußisch-deutscher Nationalgeschichte. Droysen schreibt zuerst über eine Epoche, die von der Neuzeit weit entfernt ist: über die Epoche des Hellenismus, die, „zwischen Alexander und Cäsar" liegend, „aus dem Griechentum zum Christentum hinüberführt" 80; er widmet ihr zwei Werke: die „Geschichte Alexanders des Großen" (1833) und die „Geschichte des Hellenismus" (1836-43). 81 Gleichwohl vindiziert er dieser Epoche „im Gesamtverlauf der geschichtlichen Entwicklung, in dem gemeinsamen geschichtlichen Tagewerk der Menschheit" eine herausragende Stellung und damit „eine unmittelbare und lebendige Beziehung zur Gegenwart selbst". Ihre weltgeschichtliche Bedeutung besteht ihm darin, daß in ihr eine „staatliche und religiöse Umbildung stattfindet" 82, die die bisher unverbundene Summe der Masse partikularer Verhältnisse zur Einheit der Menschheit transformiert und damit zur Konstituierung einer Weltgeschichte im strikten Sinne führt: „Es gilt, jene Sonderungen zu überwinden, über jene lokalen, natürlichen Bestimmungen sich hinauszuarbeiten, an die Stelle der nationalen Entwicklung die persönliche und damit die allgemein menschliche zu gewinnen."83 Droysen läßt diesen Prozeß ausgehen 80
Antrittsrede Droysens in der Berliner Akademie, in Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. Rudolf Hübner, 2. Aufl. Darmstadt 1967,425 ff., hier 425. 81
Droysen hat diese Werke in der 2. Aufl. 1877-78 zu einer Gesamtausgabe unter dem Titel Geschichte des Hellenismus zusammengefaßt. Auf ihr beruht die hier benutzte Ausgabe: Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus. Hrsg. v. Erich Bayer, Bd. 1: Geschichte Alexanders des Großen, Bd. 2: Geschichte der Diadochen, Bd. 3: Geschichte der Epigonen, Tübingen 1952-53. Das folgende Zitat, Bd. 3,434. 52 Ebd., 18. Ebd., .
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vom Siegeszug Alexanders, würdigt „die hohe Bedeutsamkeit jener weltumfassenden Einheit, die seit Alexanders Eroberung und durch den Geist griechischer Bildung sich zu entwickeln" begonnen hat 84 , erkennt, „daß die endlich sich einigende Menschheit einer einigen und allgemeinen Religion bedürftig und fähig sei" 85 : „jener Vorstellung, die ihren vollendeten Ausdruck in der Erscheinung des Heilandes gewinnt". 86 Die Einigung der Welt im Gefolge des Alexanderzuges hat wiederum die Einigung Griechenlands durch Makedonien zur Voraussetzung, die, im verkleinerten Maßstab, jene Verwandlung partikularer Verhältnisse in einen allgemeinen Zustand antizipiert. Die Epoche des Hellenismus hat „eine unmittelbare und lebendige Beziehung zur Gegenwart selbst" einmal durch ihren Ort im Ablauf der Zeiten: dadurch, daß in ihr ein universalhistorischer Umbruch geschieht, dessen Konsequenzen, über alle seither verflossenen Epochen der Menschheitsgeschichte hinweg, bis in die Jetztzeit hineinwirken. Sie weist zum anderen „gewisse Analogien" mit der Gegenwart auf, die diese exemplarisch zu belehren vermögen. 87 Eine erste Analogie wird ansichtig „in dem Formellen dieses Verlaufes", der sich in der Epoche des Hellenismus vollzieht. 88 Droysen bezeichnet den Hellenismus „als die moderne Zeit des Altertums", die sich über die herkömmlichen Lebensformen der Völker hinweggesetzt habe89, und erblickt darin eine parallele zum gegenwärtigen Zeitalter der Aufklärung, der Französischen Revolution und des Liberalismus mit seiner Kampfansage an die „feudale" Tradition 90 : „Auch die Gegenwart ist aus dem festen Bestände ursprünglicher, naturgemäßer Verhältnisse völlig hinweggedrängt .. .". 9 1 Diese Parallele scheint ihm für die Gegenwart vor allem deswegen instruktiv, weil sie das Muster eines Epochenwandels aufstellt, der über die bloße Entgegensetzung von moderner und alter Zeit hinaus zu einer Vermittlung der konträren Zustände gelangt. Droysen gewinnt damit ein geschichtliches Beispiel für „eine wahrhaft historische Ansicht der Gegenwart", die die von ihm diagnostizierte „Entgegensetzung des Historischen und Rationellen", d. h. der Restauration und der Revolution überwinden oder versöhnen und auf diesem Wege aus der „Zerrüttung unserer staatlichen und sozialen Verhältnisse" herausführen soll. 92 Eine weitere Analogie ergibt sich ihm, damit in Zusammenhang, im Blick auf die Rolle Makedoniens. Die Einigung Griechenlands durch Makedonien wird zum Vorbild für eine Einigung Deutschlands durch Preußen. Wenn es Droysen im Zuge der 84 85 86 87 88 89 90
Ebd., 422. Ebd., Bd. 1,444. Ebd., Bd. 3, 6. Ebd., 416. Ebd. Ebd., XXII. Ebd., XIX ff.
91 Ebd., 416. 92 E b d . , X X f.
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Politik Philipps endlich scheint, „als wenn sich der große Gegensatz der Einheit und Freiheit versöhnen w i l l " 9 3 , dann kommt das einer Anweisung zur Lösung der deutschen Frage gleich. Diese Analogisierung erstreckt sich auch auf die universalhistorische Dimension. Wie Makedonien mit der Einigung Griechenlands ein neues Weltalter einleitet, so soll Preußen mit der Einigung Deutschlands eine weltgeschichtliche Rolle spielen, und wie das von Makedonien eröffnete Weltalter einer Vermittlung der modernen mit der alten Zeit zustrebt, so soll es Preußen zukommen, vor der Welt den Ausgleich des „Historischen" und des „Rationellen", der Restauration und der Revolution ins Werk zu setzen. Droysen hat in seiner Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1867 auf „völlig neue Aufgaben" verwiesen, die ihn, angesichts „der schwellenden politischen Spannung der Zeit", von der Geschichte des Hellenismus zur Geschichte Preußens hingelenkt hätten.94 Mancher ist gewiß noch heute geneigt, diesen vermeintlichen „Abstieg" von der Höhe wissenschaftlicher Geschichtsschreibung zu den Niederungen politischer Tendenzhistorie zu bedauern. Wie wenig es tatsächlich angeht, zwischen dem Hellenismus-Werk und der „Geschichte der Preußischen Politik" eine scharfe Zäsur, gar ein Qualitätsgefälle zu setzen, wird nicht zum wenigsten dadurch bewiesen, daß die „Geschichte" genau dem Umkreis jener Motive entstammt, die die Thematik des Hellenismus-Werkes mit Preußen verknüpfen. Zwischen beiden Werken stehen, gewissermaßen den Übergang von dem einen zu dem anderen vollziehend, die „Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege" (1846). 95 Droysen arbeitet darin die zeitgenössischen Parallelen zur Epoche des Hellenismus, wie sie in dem früheren Werk konstatiert sind, zu einer Weltgeschichte der jüngsten Vergangenheit aus. Als „Zeitalter der Freiheitskriege" gilt ihm die „Reihe von Völkerkämpfen um die Freiheit" zwischen 1765 und 1815, vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zu den deutschen Freiheitskriegen. 96 Die Darstellung hat dabei ihr Schwergewicht in den Kämpfen, die mit der Französischen Revolution anheben und von Frankreich aus ganz Europa ergreifen. Es sind das, nach ihrem wesentlichen Inhalt, Verfassungskämpfe, die in der Form einer dialektischen Triade ablaufen: der revolutionäre Anspruch der Nationen auf Selbstbestimmung löst die Reaktion des alten Europa aus, bis „dann endlich das Alte und das Neue sich auf dem neutralen Gebiet der Reform zu begegnen begann". 97 Die Epoche gipfelt in der Erhebung Preußens nach 1807: Preußen ist „der erste Staat" der Reform 98 , steht „im Namen der deutschen Nation" gegen Napo93 Ebd., 12. 94 Antrittsrede Droysens (wie Anm. 80), 426. 95 Benutzte Ausgabe: Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege, 2. Bde., 2. Aufl. Gotha 1886. 96 Ebd., Bd. 1,4. 97 Ebd., 12. 98 Ebd., 11.
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leon auf, dem diese Erhebung „der Anfang seiner Niederlage" ist, weist auf eine Umgestaltung der Mitte Europas und damit der Welt: auf „das nationale Deutschland, um Preußen geeinigt". 99 Das Makedonien der Gegenwart schickt sich an, ein neues nationales Einigungswerk zu vollbringen und damit eine neue Weltepoche anbrechen zu lassen, die wiederum auf eine Synthese der modernen mit der alten Zeit gegründet ist. In der „Geschichte der Preußischen Politik" (1855-86) kommt Droysen dazu, die preußische Geschichte aus diesem universalhistorischen Kontext herauszulösen und zu verselbständigen. Die „Vorlesungen" thematisieren die universale Idee des nationalen Staates; Preußen erscheint als Vorkämpfer dieser in weltweiten Kämpfen durchgedrungenen Idee. Die „Geschichte" hingegen projiziert die nationale Idee auf Preußen oder läßt sie vielmehr in der preußischen Geschichte aufgehen. Die Universalität des Nationalgedankens wird fortgebildet zur Partikularität des preußischen Staatsgedankens. Auf den Begriff gebracht ist dieses veränderte thematische Interesse in demjenigen Gedanken, der das ganze, unvollendet gebliebene Werk, von dem ersten Kapitel über die Mark Brandenburg im Mittelalter bis zum letzten über die Vorgeschichte des Siebenjährigen Krieges, leitmotivisch durchzieht: in dem Gedanken, daß „Preußen seinen Beruf und seine Kraft in der deutschen Entwicklung suchen" müsse. 100 Droysen will damit gerade nicht, wie man ihm und der gesamten borussischen Schule immer wieder unterstellt hat, eine Funktionalisierung oder Instrumentalisierung preußischer Politik durch eine höhere nationale Vernunft behaupten oder seinen Lesern weismachen, daß die brandenburgisch-preußischen Fürsten seit jeher die Errichtung eines deutschen Nationalstaats intendiert hätten. Was er zu zeigen versucht, ist vielmehr so ziemlich das genaue Gegenteil: daß nämlich Preußen durch die Verfolgung seiner Sonderinteressen selbst, kraft der in ihnen steckenden Logik, dahin gelangt sei, eine deutsche Einheit zu fördern, ja denkmöglich werden zu lassen, daß also preußische Politik nach ihrer immanenten Richtung immer auch deutsche Politik gewesen sei oder deutsche Politik hervorgebracht habe. In einer Abhandlung vom Jahre 1849 über „Preußen und das System der Großmächte", die sich, von ihrer tagespolitischen Programmatik abgesehen, wie ein Präludium zu „Geschichte der Preußischen Politik" liest, schreibt Droysen mit Blick auf die Gegenwart: „Aber, sagt man, verfolgt nicht Preußen eben so wie Oestreich nur sein eigen Interesse unter dem Vorwand, für Deutschland zu sorgen? Gebe Gott, daß es völlig rücksichtslos, völlig kühn sein Interesse verfolge; denn es umfaßt nicht blos ein Drittel der Nation, son99 Ebd., Bd. 2, 517. Mit Reinhart Koselleck ist darauf hinzuweisen, daß diese „Eventualprognose" in der 1. Aufl. fehlt, jedoch „dem übrigen Argumentationsduktus entspricht": Reinhart Koselleck, Zur Rezeption der preußischen Reformen in der Historiographie. Droysen, Treitschke, Mehring, in: ders. / Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 4 = dtv, Bd. 4389), München 1982, 245 ff., hier 250, Anm. 4. 100
Johann Gustav Droysen, Abhandlungen. Zur neueren Geschichte, Leipzig 1876, 141.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung dem - Dank: der künstlichen Politik von 1815 - seine disjecta membra verbreiten sich von dem äußersten Nordosten bis zum Südwesten des Vaterlandes." 101
Die gleiche Auffassung von der deutschen Sendung Preußens wird eingangs der „Geschichte" exponiert, als Droysen seine „Aufgabe" umreißt: „ . . . Preußen umfaßt nur Bruchtheile deutschen Volkes und Landes. Aber zum Wesen und Bestand dieses Staates gehört jener Beruf für das Ganze, dessen er fort und fort weitere Theile sich angegliedert hat. In diesem Beruf hat er seine Rechtfertigung und seine Stärke. Er würde aufhören nothwendig zu sein, wenn er ihn vergessen könnte wenn er ihn zeitweise vergaß, war er schwach, verfallend, mehr als einmal dem Untergange nah." 1 0 2
Zur Demonstrierung dieser Verbindung von preußischer und deutscher Geschichte mag noch ein Blick auf Droysens „Leben des Feldmarschall Grafen Yorck von Wartenburg" (1851/52) angebracht sein, das geeignet ist, die „Geschichte der Preußischen Politik" nach der Zeitgeschichte hin exemplarisch zu ergänzen. Das zentrale Thema des Buches, der Entschluß der altpreußischen Offiziers, der bis dahin der Stein-Hardenbergschen Reformpolitik wie damit den in ihr angelegten nationaldeutschen Tendenzen hartnäckig opponiert hat, zur Erhebung gegen Napoleon und damit zur Eröffnung des nationalen Befreiungskampfes, „nach der ganzen Härte des sittlichen Conflictes" gewürdigt 103 , der ihm vorausgegangen ist, macht augenscheinlich, was Droysen unter dem deutschen „Beruf Preußens versteht: nicht die Aufopferung Preußens für Deutschland, sondern die Entstehung Deutschlands aus dem Geist der preußischen Politik. Der Zeitraum, in dem die Reihe dieser historiographischen Werke erscheint, kann durch drei Ereignisse markiert werden: die Julirevolution, die Revolution von 1848 / 49 und die Reichsgründung. Sie deuten, im Gesamtzusammenhang der Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, auf die politische Biographie Droysen, zu der dessen Geschichtsschreibung in einem evidenten Bezug steht. Sie legen vor allem die Perspektive fest, aus der heraus Droysen seine politische Hauptforderung, die Einrichtung eines preußisch-deutschen Nationalstaats, erhoben und dementsprechend Geschichte geschrieben hat. Die politische Haltung Droysens ist fast durchgängig dadurch bestimmt, dass dieser Nationalstaat noch nicht besteht, vielmehr erkämpft werden muß; als die Reichsgründung kommt, liegt der Zenit seines politischen Engagements längst hinter ihm. Demgemäß ist es die wesentliche Absicht von Droysens Geschichtsschreibung, für ein noch nicht erreichtes Ziel zu werben, den Willen zur Veränderung der politischen Verhältnisse in Deutschland zu nähren, das Publikum für die notwendige Schaffung der preußisch-deutschen Einheit zu mobilisieren, zu ermutigen, zu begeistern. 104 Nach loi Ebd., 147. i° 2 Johann Gustav Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, Bd. 1: Die Gründung, 2. Aufl. Leipzig 1868,4. i° 3 Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, Bd. 1, 10. Aufl. Leipzig 1890, 358.
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1871 mag der Wunsch zur Rechtfertigung des nunmehr Erreichten hinzugekommen sein; die späteren Bände der „Geschichte der Preußischen Politik" wie die Neuauflagen des Hellenismus-Werks (1877/78) und der „Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege" (1886) enthalten dazu Anhaltspunkte. Freilich geht dadurch der ursprüngliche agitatorische Grundzug der Droysenschen Geschichtsschreibung um so weniger verloren, als der Autor sich die Erinnerung an die Schwere des Kampfes um die deutsche Einheit gegenwärtig hält. Abzuheben ist aber darauf, daß die Revolution von 1848/49 in der Entwicklung des Politikers und des Historikers Epoche macht. Nach dem Scheitern der Paulskirche bricht Droysen mit allen Formen einer ideologisch-revolutionären Politik und stellt sich auf den Boden einer Realpolitik, der es darum zu tun ist, eine preußisch-deutsche Einheit, unter Berücksichtigung der gegebenen Machtverhältnisse, tatsächlich herbeizuführen. Es ist dieser politische Vorgang, der zugleich den Übergang von einer ideologisch-universalen Geschichtsbetrachtung, zuletzt noch in den „Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege", zu einer preußisch-partikularen erklärt, wie sie in der „Geschichte der Preußischen Politik" hervortritt. Seit den „Vorlesungen" ist das europäische Staatensystem Gegenstand von Droysens Geschichtsschreibung: nach Maßgabe der Bedeutung, die Droysen ihm im Rahmen seiner generellen Thematik zubilligt. Wenn man zunächst die „Vorlesungen" unter diesem Aspekt durchsieht, trifft man einstweilen auf absprechende Urteile. Der Leser wird nicht im unklaren darüber gelassen, daß Droysen das europäische Staatensystem von dessen Anbeginn im späten Mittelalter an ablehnt. Er lernt es als Inbegriff einer bloßen Machtpolitik ohne jede Verbindung mit dem nationalen Leben und damit als mit der Idee des nationalen Staates unvereinbar kennen, auf die es in den Vorlesungen primär ankommt. Droysen hat zuerst Veranlassung, über das europäische Staatensystem zu handeln, als er das „alte Europa" vorstellt 105 : den Zustand Europas vor jenem Zeitalter von „Völkerkämpfen um die Freiheit". Grundeinheit des „alten Europa" ist der „moderne Staat" 106 : Droysen wählt diese terminologische Paradoxie offenbar absichtlich: der „moderne Staat" soll, jedenfalls in der Form, in der er im 18. Jahrhundert bestanden hat, und sofern diese Form noch eine gegenwärtige Geltung beansprucht, als schon veraltet und damit vergangen hingestellt werden. Der „moderne Staat" etabliert im Zeichen monarchischer Souveränität ein System „unerhörter Gewalt" 107 : er macht sich von jeglicher Bindung der Fürstenmacht an 104 Dazu exemplarisch Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 1, IX f. Über die im folgenden erwähnte Einwirkung des Reichsgründungserlebnisses auf die 2. Aufl. des Hellenismus-Werkes vgl. zuletzt, die davor geführte Diskussion zusammenfassend, Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972, 55. 105
Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 1, 128 ff. 106 Ebd., 6. 107 Ebd.
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Volksgemeinde, Kirche, Stände los, „verschlang alles Recht und alle Freiheit", bewirkt „die Entwürdigung der Völker" 108 , wird ein „mechanisches Kunstwerk, ein überkünstlicher Mechanismus" 109 ; das parlamentarische Regime in England ist eine Variante dieses Systems.110 Das Staatensystem, das sich aus derartigen Gebilden zusammensetzt, kann nur „durch und durch krankhaft, unheilbar, monströs" sein: „Je mehr sich der moderne Staat über die mittelalterlichen Beschränkungen erhob, um so irrationaler, willkürlicher, verworrener wurden die Staatenverhältnisse; und indem jeder Staat nur sein Interesse, sein Machtinteresse hartnäckig und soweit er irgend konnte, verfolgte, schien endlich jede Basis, jedes Princip, jede tiefere Berechtigung aus dem System der Mächte, wie sie nun waren, dahinzuschwinden."111
Wo Droysen Grundsätze zu einer dauerhaften Ordnung der Staatenbeziehungen erklärt findet, handelt es sich für ihn um eine Verschleierung reiner Machtpolitik. Der konfessionelle Gegensatz wird seit Heinrich IV. und Richelieu allenfalls „zum Deckmantel unlauterster Absichten mißbraucht" 112 . Der Name des europäischen Gleichgewichts muß nach dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Nordischen Krieg herhalten für „jene wüste Gier des Hazardierens um Kronen, des Ländertauschens, der europäischen Staatenverhältnisse, die doch ohnegleichen in den Jahrhunderten der Geschichte war". 1 1 3 Sofern sich in Europa eine Ordnung etabliert, ist es die Herrschaft von schließlich fünf Großmächten, Frankreich, Österreich, England, Rußland, Preußen, über den „Wust europäischer Staaten zweiten, dritten, vierten usw. Ranges". 114 Aber diese Pentarchie, weit entfernt, die europäischen Staatenverhältnisse zu stabilisieren, bedeutet lediglich eine Zusammenballung von Machtegoismen und produziert daher unablässig neue Machtkämpfe, in denen grundsätzlich alle gegeneinander stehen. Den Schlußstein des Systems bildet die „dauernde Ohnmacht und Staatlosigkeit" des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wie sie der Westfälische Frieden besiegelt hat. 115 Als Droysen beim Übergang zur Epoche der „Freiheitskriege" nochmals auf das „alte Europa" zurückblickt, bleibt ihm nur die Feststellung: „In der Zeit, da die französische Revolution begann, befand sich die europäische Politik in einem Zustand von Maßlosigkeit und Verworrenheit, wie vielleicht nie zuvor." 116 Es ist nach dieser Diagnose konsequent, daß Droysen den Sturz des europäischen Staatensystems durch das revolutionäre Frankreich zunächst enthusiastisch 108 Ebd., 6 f. 109 Ebd., 44. ho Ebd., 35. in Ebd., 129. 112 Ebd. 113 Ebd., 130. 114 Ebd. Iis Ebd., Bd. 2, 516. ii6 Ebd., Bd. 1, 266. 22 Muhlack
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begrüßt. Er preist das Riesenwerk der Französischen Revolution: „Die alte verrottete Monarchie ward umgeschaffen zu einem Staate der Freiheit" 117 ; es gestaltet sich „jene Fülle neuer Verhältnisse des innern Staatslebens, in denen die Idee des einigen nationalen Staates ihren Ausdruck finden sollte". 118 Er hält es für unausweichlich, daß die neuerstandene Nation im Bewußtsein gerechter Verteidigung 119 dem „alten Europa" den Krieg erklärt, die eigene Erhebung durch die Befreiung aller anderen Völker zu sichern: den Kontinent „lavagleich überflutend, überall von volkstümlichen Sympathien begrüßt, überall des Sieges gewiß über die gedankenlos gewordenen Formen, in denen die Welt gebunden lag". Das Ergebnis ist, binnen kürzester Zeit, der Zusammenbruch des europäischen Staatensystems: „Mit einem Schlage waren die Merlinsnetze des alten Staatensystems, des europäischen Gleichgewichts durchrissen; diese lebendige Völkskraft schnellte die Schale der mechanisch abgewägten Mächte in die Höhe." 1 2 0 Andererseits läßt Droysen die Französische Revolution alsbald einen Gang nehmen, der im Innern und nach außen in die alten Bahnen zurücklenkt. Das revolutionäre Frankreich errichtet unter dem „System des Schreckens" die Diktatur einer als absolut gesetzten Nation, in der sich die „von den Monarchen angestrebte Herrschaft der Staatsidee erfüllt" 121 , bis endlich, auf dieser Basis, Napoleon eine neue Monarchie schafft. Der Napoleonische Staat erscheint Droysen als „die Vollendung der Monarchie", als „der vollkommenste Absolutismus", als „der Despotismus der Staatsidee".122 Nach außen ist es das Bestreben dieses Staates, „nur Macht zu sein, aber Macht im eminentesten Sinne". 123 Französische Außenpolitik wird also wiederum pure Machtpolitik: aber Machtpolitik, die durch die Radikalisierung im Gefolge der Revolution eine bis dahin unerhörte Durchschlagskraft gewinnt. Die Folge ist, daß Europa in die Strukturen des alten Staatensystems zurückfällt. Es erhebt sich „die alte Lehre vom Gleichgewicht, um bald frecher und nichtswürdiger als je zuvor über die Völker und Länder und Staaten zu schalten". 124 Freilich entsteht anstellte der früheren Pentarchie „das Prinzipat Frankreichs", das nur noch „den Schein eines Staatensystems" aufrechterhält. 125 Aber diese Ordnung ist keineswegs „besser, wahrhafter, minder irrational" als die alte, vielmehr auf dem gleichen Gedanken des Machtegoismus aufgebaut. 126 Auch von ihr gilt, daß sie die Schwäche Deutschlands zur Voraussetzung hat: das Reich weicht einer „entwürdigenden Oberherrschaft über Deutschland", der Rest deutscher Einheit einer politischen i n Ebd., 285. Iis Ebd., 289. 119 Ebd., 291. 120 Ebd., 301. 121 Ebd., 326 f. 122 Ebd., Bd. 2, 92. 123 Ebd., 180. 124 Ebd., 119. 125 Ebd., 187. 126 Ebd., 260.
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„Leere". 127 Droysens Gesamturteil über das neue System lautet: „Auch hier scheint die Revolution, statt eine neue Zeit heraufzuführen, nur das 18. Jahrhundert zu vollenden; auch in der äußern Politik, in der Verfassung des Staatensystems ist die Welt um keinen Schritt weiter gekommen." 128 Als die europäische Diplomatie nach dem Ende der Revolutionszeit die Grundlagen für eine Neugestaltung des Systems feststellt, sitzt sie bald „wieder da, wo vordem, als habe sie allein nichts gelernt und nichts vergessen". 129 Ihr Werk ist eine Restauration des „alten Europa", des monarchischen Staates wie der europäischen Pentarchie, freilich durch Beiziehung von Instrumenten aus dem Arsenal des Napoleonischen Machtstaates. Im Innern der europäischen Staaten soll „das Prinzip der monarchischen Legitimität" herrschen; es steht, nach der Steigerung der Monarchie durch Napoleon, „in vollster Blüte, in überreifer Vollendung". 130 Damit geht nach außen „die Neugründung des europäischen Staatensystems" einher 131 : „dies Gleichgewichtssystem unter der Obhut der Mächte ersten Ranges", nichts anderes „als eine Willkürherrschaft, unter der die kleineren und mittleren Staaten nur geduldet, nur träge Zwischenlagen für die großen Gewaltiger, nur Alluvionen ihrer gegen einander strömenden Eifersucht sind". 132 Die neue Ordnung enthüllt ihre wahre Natur auch dadurch, daß unter ihr die Schwäche Deutschlands fortdauert: aus der Erinnerung heraus, „daß das Staatensystem, das jetzt endlich hergestellt war und fortan gelten sollte, zuerst im Westfälischen Frieden gegründet war, darauf gegründet war, daß das mächtige Reich in der Mitte, das Reich deutscher Nation, das Jahrhunderte lang Europa überragt und wie peripherisch unter sich gehabt hatte, durch den furchtbarsten Krieg zerstört mit jenem Frieden in hunderte von ohnmächtigen Souveränetäten aufgelöst und mit dem Namen des Kaisertums und des Reichs auf dauernde Ohnmacht und Staatlosigkeit angewiesen 44
133
war .
Es ist offenkundig, daß Droysen sich mit der ganzen Richtung dieser Argumentation nicht nur in entschiedenen Gegensatz oder Widerspruch zu Ranke begibt, sondern auch alles auf eine solche Konfrontation anlegt. Ranke zeichnet ein positives, Droysen ein negatives Bild des europäischen Staatensystems. Ranke nennt die Glieder des Staatensystems „geistige Kräfte, moralische Energien, originale Schöpfungen des Menschengeistes"; Droysen spricht vom „Inbegriff unerhörter Gewalt, von Entwürdigung der Völker", von „Machtinteressen ohne jede tiefere Berechtigung". Es ist eine direkte Polemik gegen Ranke, wenn Droysen sein Verdikt über die sogenannten „Staatsindividualitäten" fällt, die sich nach 1815, wie 127 Ebd., 197. 128 Ebd., 119. 129 Ebd., 458. 130 Ebd., 512. 131 Ebd., 472. 132 Ebd., 482. 133 Ebd., 516. 22*
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vormals, über alle „geographischen, historischen, volkstümlichen Gegebenheiten" hinwegsetzen und damit der Konkretheit menschlicher Lebensverhältnisse Hohn sprechen. 134 Ranke scheinen die europäischen Staatenbeziehungen von „wahrer Harmonie", Droysen von „Maßlosigkeit und Verworrenheit" gekennzeichnet. Ranke stellt die Französische Revolution und die durch sie ausgelöste Außenpolitik in die Kontinuität der französischen und europäischen Geschichte; Droysen feiert den Bruch der Revolution mit dem „alten Europa". Freilich stimmen beide in der negativen Beurteilung Napoleons überein: aber Ranke beklagt, wie Heeren, daß Napoleon die „alte Freiheit von Europa", d. h. die traditionelle Ordnung des europäischen Staatensystems unterdrückt habe 135 , während er bei Droysen gerade als der Erneuerer der traditionellen Machtpolitik erscheint. Schließlich: Ranke erblickt mit Heeren in der lockeren Organisation des alten Reiches wie des Deutschen Bundes eine Garantie für die Stabilität des europäischen Staatensystems; Droysen konstatiert den gleichen Tatbestand, aber mit genau entgegengesetzter Bewertung. Diese negative Sicht des europäischen Staatensystems ist allerdings nur die eine Seite der Droysenschen Position. Die „Vorlesungen" bieten zugleich auch eine andere Seite: die Vorstellung eines europäischen Staatensystems, das im Einklang mit dem Gedanken des nationalen Staates steht. Man muß dabei zurückgehen bis zu Droysens Anerkennung, daß die Bildung des „modernen Staates" und des Staatensystems im „alten Europa" eine ursprüngliche Berechtigung habe. Der „moderne Staat", der anfangs „in dieser rohesten Gestalt" des monarchischen Absolutismus auftritt, bringt erstmals „die Idee des Staates" überhaupt zur Geltung: „des Staates nicht mehr als einer Gemeinsamkeit vieler partikularer Rechte, Freiheiten, Vereinbarungen, sondern als ... Ausdruck des Allgemeinen, Wesentlichen, Vernünftigen". 136 Droysen wehrt sich demgemäß dagegen, „den Untergang jener alten feudalen Stände" zu bejammern, hält vielmehr dafür, „daß in dem Siege der Souveränität über jene das Prinzip des Staates und damit der Freiheit den entscheidenden Schritt vorwärts getan hat". 1 3 7 Mit der „Idee des Staates" tritt auch die Idee des Staatensystems in die Erscheinung. Droysen stellt fest, daß „die Gründung eines Staatensystems, dies freie und autonome Nebeneinander kleiner und großer Mächte, wie es die beginnende neue Zeit geschaffen, einen tiefen Sinn" gehabt habe: die Erhebung einer höheren Gewalt zu dem Zweck, „den Weltfrieden zu hüten und den Völkern, kleinen wie großen, den Rechtsschutz, die Möglichkeit friedlicher und fleißiger Existenz zu gewähren, die nur die Barbarei entbehren kann". 138 Die Idee des Staatensystems fordert also eine rechtliche Regulierung der Beziehungen zwischen souveränen Staaten, durch die 134 135 136 137 138
Ebd., 512. Ranke, Die großen Mächte (wie Anm. 24), 36. Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 2, 16. Droysen, Geschichte des Hellenismus (wie Anm. 81), Bd. 3, XXI. Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 2, 181.
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die Freiheit jedes einzelnen Staates nicht aufgehoben wird, sondern sich allererst erfüllt: „so muß sich endlich die Gesamtheit der Staatenautonomien zu einer Verfassung zusammenfinden, in der Friede, Recht und Freiheit aller gesichert ist". 1 3 9 Droysen hat weiterhin die Meinung, daß das „alte Europa" diesen Ideen, der Idee des Staates wie der Idee des Staatensystems, auf Dauer nicht gerecht geworden sei und daß die Notwendigkeit bestehe, sie in einem neuen Europa der Nationalstaaten zu verwirklichen, zur „Wahrheit" werden zu lassen.140 Wie die Idee des Staates sich im Prinzip der nationalen Selbstbestimmung vollendet, so die Idee des Staatensystems in der Koordinierung von Staaten, die auf diesem Prinzip fußen: Droysens Vision eines nach Nationalstaaten eingeteilten Europa ist „eine große Friedensunion, in sich mannigfach nach der Mannigfaltigkeit der Volksindividualitäten, staatlich gegliedert nach deren Unterschied, die Staaten selbst in verfassungsmäßiger Ordnung". 141 Man muß die positive Kategorie der „Volksindividualität" gegen die negative der „Staatsindividualität" halten, um die qualitative Differenz zwischen dem alten und dem neuen Staatensystem zu ermessen. Einen ersten Anlauf, mit dem nationalen Staat ein Europa der Nationen aufzurichten, unternimmt das revolutionäre Frankreich, in dem Bewußtsein, daß in den „gegenseitigen Beziehungen" der europäischen Mächte „eine ernste und tiefgehende Wandelung" vonnöten sei: „eine solche, die sie über die frivole Unersättlichkeit ihres rastlos rivalisierenden Machtinteresses, dem allein sie bisher gelebt hatten, zu der Einsicht führte, daß sie nur in der Gemeinsamkeit großer europäischer und internationaler Interessen, in dem Frieden und der Wohlfahrt ihrer Volker ihre Aufgabe suchen müßten, ihren Beruf und ihre Rechtfertigung finden könnten". 142
Als dieser Anlauf gescheitert ist und vielmehr der Napoleonische Staat neuerdings, voller „Selbstsucht und Willkür" 1 4 3 , den Geist des alten Staatensystems wiederhergestellt hat, geht die neue europäische Mission auf die Nationen über, die gegen die französische Fremdherrschaft Widerstand leisten. Auch wenn der nationale Befreiungskampf schließlich am Verrat der etablierten Regimes zuschanden geworden ist, bleibt er doch eine Anweisung für die Zukunft. Droysen setzt vorab seine ganze Hoffnung auf Preußen. Preußen, „der erste Staat" der Reform 144 und damit der erste Staat in Deutschland, in dem die Möglichkeit nationaler Selbstbestimmung in die Tat umgesetzt wird, tritt, „an der Spitze des endlich stolz sich aufrichtenden deutschen Geistes", in den Kampf 139 Ebd., 457. 140 Ebd. 141 Ebd., 458. 142 Ebd., Bd. 1,266. 143 Ebd., Bd. 2, 260. 144 Ebd., Bd. 1, 11.
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gegen Napoleon mit dem Willen, „die mechanische Staatsweisheit der Gleichgewichtspolitik" zu überwinden 145 , und scheint auch nach dem einstweiligen Sieg der Restauration am ehesten imstande, eine veritable Neuordnung des europäischen Staatensystems herbeizuführen. Als Ansatz für eine solche Entwicklung stellt Droysen die Errichtung eines deutschen Nationalstaats um Preußen heraus, die es ermöglichen soll, Europa von einer erstarkten Mitte her zu organisieren. Er proklamiert damit ein Modell, das den Vorstellungen Heerens und Rankes von der Rolle Deutschlands in Europa konträr ist, freilich mit ihnen gemeinsam hat, daß der Zustand Europas von dem Zustand Deutschlands abhängig gemacht wird. Beides klingt zusammen in einer Formulierung, die Droysen in der Abhandlung „Preußen und das System der Großmächte" gebraucht: „Die Macht oder Ohnmacht Deutschlands bestimmt die Geschicke Europas." 146 Am Ende der „Vorlesungen" gibt sich Droysen, als er sich nochmals die Weltlage nach dem Sturz Napoleons vergegenwärtigt, der konkreten Utopie eines kommenden Deutschland und damit eines kommenden Europa hin: „Wie nun, wenn sich die Mitte Europas, das nationale Deutschland, um Preußen geeinigt erhob und die alte Machtbedeutung der beherrschenden Mitte für immer erneute. Das freilich wäre die größte Revolution in den Machtverhältnissen Europas geworden." 147 Nach der Enttäuschung von 1848/49 richtet er demgemäß an Preußen die Forderung, „das Reich deutscher Nation" wiederaufzubauen und sich damit zu einer „Höhe" zu erheben, „unter deren Schirm ringsher die minder Mächtigen leben und weben können nach ihrer Art". 1 4 8 1 871 ist „die größte Revolution in den Machtverhältnissen Europas Wirklichkeit geworden: das neue deutsche Reich, die Friedensmacht in der Mitte Europa's". 149 Ich kehre nach diesem Ausblick zu den „Vorlesungen" zurück. Es ist wesentlich, daß Droysen sein Konzept eines preußisch erneuerten Staatensystems nicht allein auf das Preußen der Reformzeit fixiert, sondern auch auf die „alteuropäische" Geschichte überträgt. Droysen leugnet nicht, daß das alte Preußen an allen Fehlentwicklungen oder Entartungen des „alten Europa" teilhat. Wenn ihm der „moderne Staat" schließlich ein „mechanisches Kunstwerk", ein „überkünstlicher Mechanismus" wird, dem eine organische Verbindung mit dem Volk fehlt, dann demonstriert er das an der „Allgewalt des administrativ militärischen Staates" im Friderizianischen Preußen. 150 Friedrich der Große betreibt zugleich eine Außenpolitik zur Wahrung des „status quo", die sich „in den territorialen Verhältnissen Europas" bewegt, „wie sie damals waren": ohne „innere Berechtigung und Lebensfähigkeit". 151 Andererseits 145 Ebd., Bd. 2,459. 146 Droysen, Abhandlungen (wie Anm. 100), 135. 1 47 Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 2, 517; s. dazu Anm. 99. 148 Droysen, Abhandlungen (wie Anm. 100), 152. 149 Droysen, Graf York (wie Anm. 103), Bd. 1, XI. 150 Droysen, Vorlesungen (wie Anm. 95), Bd. 1, 44 f. 151 Ebd., 134.
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sucht Droysen evident zu machen, daß Preußen, wegen seiner spezifischen Interessenlage, von vornherein zu einer Politik disponiert gewesen sei, durch die es innerhalb des „alten Europa" eine besondere Stellung eingenommen habe. Er sieht Preußen als den einzigen europäischen Staat an, der, ungeachtet mannigfacher Abirrungen, der „Idee des Staates" verpflichtet geblieben sei. Dasselbe Friderizianische System, das ihm zur Demonstrierung der Künstlichkeit des „modernen Staates" taugt, erweist sich ihm auch als „ein vollendetes Muster von Regentenweisheit", das den Weg zum „Staatsbürgertum" und damit zur nationalen Selbstbestimmung anbahnt: Resultat „der ganzen sich selbst weise beschränkenden Umsicht eines hart geprüften, stets gefährdeten, auf einen kleinen Kreis von Mitteln angewiesenen Fürsten, aus dem klaren Verständnis seiner Verhältnisse und seiner Aufgabe". 152 Droysen spricht Preußen damit zugleich eine einzigartige Position im europäischen Staatensystem zu. Sie hat zwei Seiten. Preußen muß sich einmal gegen die bestehende Ordnung behaupten, führt einen permanenten Abwehrkampf gegen das diesem „jüngsten Staat Europas" 153 feindselige System. Preußen bringt zum andern in dem Maße, in dem ihm diese Selbstbehauptung gelingt, die Möglichkeit einer neuen Ordnung in Europa hervor, die schon die Umrisse einer „Friedensunion" hat. Wiederum ist es Friedrich der Große, unter dem diese Position ihre schärfste Ausprägung erhält. Es weiß die durch die Eroberung Schlesiens gewonnene Großmachtstellung gegen den Widerstand des ganzen Systems zu erhalten, und mag auch die daraus erwachsene Politik zur Wahrung des „status quo" in Europa „jenes irrationale Verhältnis" 154 zur Basis haben, so signalisiert sie doch die „rationale" Idee eines Gesamtzustandes, indem jeder einzelne Staat eine rechtlich gesicherte Existenz hat: „Ein kleiner, armer Staat von zerrissenem Gebiet, mit fast offenen Grenzen, vermag, so geleitet, auf seiner eigenen Kraft zu ruhen, sich gegen das vereinte Europa zu behaupten, auf den Gang der europäischen Verhältnisse maßgebend einzuwirken" 155 , durch „eine neue Art von Politik", durch die Friedrich, „der Natur der Sache nach, im Mittelpunkt des europäischen Gleichgewichtes" steht als „der Beschützer jeder minderen Macht gegen die größeren, der Vertreter des Besitzstandes, wie er nun war". 1 5 6 Thema der „Vorlesungen" ist die Weltgeschichte der nationalen Idee im „Zeitalter der Freiheitskriege". Sie laufen auf Preußen zu, weil dieser Staat in der Reformzeit zum Vorkämpfer der nationalen Idee aufsteigt und damit eine weltgeschichtliche Aufgabe übernimmt. Die Neuordnung des europäischen Staatensystems von einem geeinigten Deutschland her ist ein Teil dieser Aufgabe. Die Position Preußens im „alten Europa" wird insoweit Vorstufe oder Vorgeschichte preußisch-deutscher Weltgeltung im 19. Jahrhundert. Die „Geschichte der Preußi152 153 154 155 156
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
41 f., 44. 41. 135. 42. 132 f.
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sehen Politik" stellt, unter dem Gedanken des deutschen „Berufs" Preußens, Nationalgeschichte als Partikulargeschichte dar. Damit stimmt zusammen, daß sie das Konzept einer preußischen Neuordnung Europas in diesen neuen Kontext verpflanzt, von einer universalen auf eine partikulare Dimension projiziert: von der Weltgeschichte auf die preußisch-deutsche Geschichte. Der Leser muß sich dabei naturgemäß mit der Darstellung der „alteuropäischen" Position Preußens begnügen. Sie ist der Darstellung in den „Vorlesungen" genau entsprechend. Preußen gerät zunehmend, gestützt auf eine mustergültige Organisation im Innern, in jene doppelte Position gegenüber dem europäischen Staatensystem: indem es im Kampf gegen das alte, „krankhafte" System emporkommt und damit die Voraussetzungen für die Errichtung eines neuen, „wahren" Systems schafft. Der deutsche „Beruf 4 Preußens hat dabei eine Logik, die kritische Äußerungen über die „altpreußische" Politik, wie sie in den „Vorlesungen" wiederholt begegnen, immer weniger zuläßt. Kritik heftet sich vielmehr fast ganz an die Umstände, in denen Preußen aufsteigt. Die Distanzierung Preußens gegenüber dem alten System wird bis zu einer völlig unvermittelten Ausnahmestellung zugespitzt, durch die Preußen quasi außerhalb der allgemeinen Geschichte zu stehen kommt. Ich wähle wenige Zitate aus, um die Droysensche These, auch mit dieser dogmatischen Wendung, zu illustrieren. Sie gelten den beiden Fürsten, die die Hauptgestalten der „Geschichte der Preußischen Politik" sind: dem Großen Kurfürsten und Friedrich dem Großen. Der Große Kurfürst betreibt zuerst systematisch europäische Politik: „er ward der zweite Gründer dieses Staates, der von dem an, trotz Kaiser und Papst, unter der stets regen Mißgunst aller außerdeutschen und undeutsch deutschen Politik, nicht aufgehört hat, tief und tiefer in Deutschland hineinzuwachsen"157 und dadurch eine „Stelle in der kühn fortschreitenden Bewegung des europäischen Lebens" zu gewinnen. 158 Aber auch hier kulminiert die Entwicklung in Friedrich dem Großen, der aus dem Gegensatz gegen das bestehende System heraus das Fundament zu einem neuen System legt: „Dies Preußen, das in Mitten der Misregierung und Erschlaffung der übrigen Staatenwelt innerlich straff und rüstig, in neuer wohlgefugter Ordnung, militärisch und finanziell in voller Spannkraft dastand, schien durch den Wust der trägen Wucherbildungen, die unter dem Namen Volkerrecht, Gleichgewicht der Macht, europäisches Gemeininteresse als eben so viele Rettungen der Menschheit gepriesen wurden, langsam erdrückt werden zu sollen" 159 ;
die anderen Mächte hegen Empörung und Haß „gegen den Emporkömmling, der die Stirn hatte sich ihnen als Gleicher an die Seite zu stellen und ohne Rücksicht auf den altbegründeten ,Vorzug der großen Mächte' in Krieg und Frieden daherzuschreiten, als wenn er berufen sei eine neue Ordnung der Dinge in der Staatenwelt zu begründen". 160 157
Droysen, Geschichte der Preußischen Politik (wie Anm. 102), Bd. 1, 457. 158 Ebd., Bd. 4 /1: Friedrich I. König von Preußen, 2. Aufl., Leipzig 1872, 4. 159 Ebd., Bd. 5: Friedrich der Große, T. 1, Leipzig 1874, 58. 160 Ebd., Bd. 5/4, Leipzig 1874, 9.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
Treitschke wird der letzte große Vertreter der borussischen Schule durch die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" (1879-94): eine bis zum Jahre 1847 ausgeführte Geschichte des Aufstiegs des preußisch-deutschen Nationalstaats161; die in ihrem Umkreis entstandenen Aufsätze sind hauptsächlich der eigentlichen Zeitgeschichte gewidmet. 162 Die besondere Stellung des Verfassers erhellt am besten aus einem Vergleich mit Droysen; wir mögen dabei zugleich den ganzen Abstand zwischen dem Anfang und dem Ende der Schule erkennen: die Fortentwicklung oder Veränderung, die innerhalb derselben historiographischen Gattung möglich ist. Man sieht Treitschke in allen wesentlichen Hinsichten da beginnen, wo Droysen aufgehört hat, und von dieser gemeinsamen Linie her eine Position erreichen, die, ohne den Schulzusammenhang aufzulösen, jenseits von ihr liegt. Zunächst handelt es sich, bei gleicher Grundauffassung, um eine Veränderung der politischen Ausgangslage. Droysen schreibt oder konzipiert seine Geschichtswerke in der Zeit vor der Reichsgründung: in einer Situation, in der er sich politisch für die Erkämpfung des preußisch-deutschen Nationalstaats einsetzt; das Erlebnis der Reichsgründung selbst ist demgegenüber für den Politiker wie für den Historiker durchaus sekundär. Dagegen schreibt Treitschke die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", nachdem das Reich gegründet ist: aus der politischen Überzeugung heraus, daß nunmehr alles daran gewendet werden müsse, den endlich erkämpften preußisch-deutschen Nationalstaat zu konsolidieren und auszubauen. Er vollendet mit dieser Haltung zugleich die realpolitische Wendung, die Droysen nach der Revolution von 1848/49 vollzogen hat; wo es um die Befestigung eines status quo geht, ist es mehr denn je geboten, gegebene Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Der veränderten politischen Ausgangslage entspricht, auf dem gemeinsamen Boden nationalgeschichtlicher Interessen, eine veränderte historiographische Zielsetzung. Die Droysensche Geschichtsschreibung verfolgt die primäre Absicht, zur Mobilisierung der Öffentlichkeit für die erstrebte preußisch-deutsche Einheit beizutragen. Dagegen soll Treitschkes „Deutsche Geschichte" einer Intention dienen, die den Historiker Droysen in der vergleichbaren Zeit nach 1871 allenfalls nebenher bewegt: der Rechtfertigung des durch die Reichsgründung geschaffenen Einigungswerks. Der Verfasser erklärt es zu seinem Anliegen, eine „gemeinsame nationale Geschichtsüberlieferung" zu stiften, „Reichtum und schlichte Größe unserer vaterländischen Geschichte" zu wahren, den „Segen" der deutschen Einheit bewußt zu machen, „die Freude am Vaterlande" wachzuhalten.163 Dazu gehört, daß 161 Benutzte Ausgabe: Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden; Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen; Bd. 3: Bis zur Julirevolution; Bd. 4: Bis zum Tode Friedrich Wilhelms III.; Bd. 5: Bis zur Märzrevolution; Bd. 6: Namen- und Sachregister. Hrsg. v. G. Dittrich, Leipzig 1927-28. 162
Heinrich von Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. v. K. M. Schiller, Bd. 4: Schriften und Reden zur Zeitgeschichte II, Meersburg 1929. 163 Treitschke, Deutsche Geschichte (wie Anm. 161), Bd. 1., VII u. IX.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
Treitschke endgültig jeder ideologisch-universalen Betrachtungsweise absagt und preußisch-deutsche Nationalgeschichte rein als solche, gleichsam voraussetzungslos schreibt und damit die von Droysen eingeleitete Partikularisierung zu Ende führt. Man kann es auch so ausdrücken, daß er mit der „Deutschen Geschichte die Geschichte der Preußischen Politik" fortsetzt, ohne die weltgeschichtlichen Prämissen zu akzeptieren, von denen die Droysensche Historiographie ausgegangen ist und die insoweit auch noch für dieses Werk gelten. Die Veränderung der politischen Ausgangslage wie damit der historiographischen Zielsetzung bewirkt schließlich, daß sich auch die Deutung des europäischen Staatensystems zu wandeln beginnt. Freilich fußt Treitschke durchaus auf jenem Interpretationsmodell, wie wir es zuletzt in der „Geschichte der Preußischen Politik" angetroffen haben. Auch ihm steht zunächst fest, daß einerseits Preußen-Deutschland im Gegensatz zum etablierten Staatensystem aufkommt und daß andererseits der Aufstieg PreußenDeutschlands die Entstehung eines neuen Staatensystems ermöglicht. Im ersten Abschnitt des ersten Buches der „Deutschen Geschichte", der eine Betrachtung über „Deutschland nach dem Westfälischen Frieden" bietet, wird diese Auffassung in zwei Sätzen über den Staat des Großen Kurfürsten mit konzeptioneller Prägnanz exponiert. Der eine Satz lautet: „Der geborene Gegner der alten, auf Deutschlands Ohnmacht ruhenden Ordnung Europas, stand Preußen in einer Welt von Feinden.. , " . 1 6 4 Man sieht, wie Treitschke damit das negative Verdikt über das „alteuropäische" Staatensystem ebenso steigert wie die Vorstellung einer Ausnahmestellung Preußens; er wiederholt dieses Urteil, als er die angebliche „neue Staatskunst" des revolutionären und Napoleonischen Frankreich als auf „die alten Ziele" gerichtet entlarvt sowie das durch die fortdauernde deutsche Schwäche „unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas" nach 1815 anprangert 165 und gegen beide, ungeachtet gelegentlicher Unzulänglichkeiten, die preußische Politik absetzt. Der andere Satz lautet: „So erwies sich die neue Staatsbildung schon in ihren Anfängen als eine europäische Notwendigkeit." 166 Die Aufrichtung einer neuen Ordnung in Europa erscheint damit als Daseinsgesetz des preußischen 164 Ebd., 30. 165 Ebd., 125, 159 u. 771. Treitschke flicht in seine sarkastische Darstellung der Eröffnung des Deutschen Bundestages, dieser „neu hergestellten Regensburger Herrlichkeit", eine herablassende Bemerkung über Heerens „Friedensstaat von Europa" ein, die indirekt auch den frühen Ranke trifft: „Der Göttinger Historiker, ein achtungswerter Vertreter der alten, dem Leben entfremdeten Stubengelehrsamkeit, ... entwarf ... ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutschen Bundes, das freilich in der verstimmten Nation nur noch wenige Gläubige fand. Soeben erst war ein Menschenalter voll Blut und Greueln über die Welt dahingegangen, weil Deutschland in seiner Zersplitterung sich nicht verteidigen konnte. Und angesichts solcher Erfahrungen erklärte Heeren wieder . . . : die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren Ordnung Deutschlands, denn welche Macht könnte sich ihres Besitzes ruhig freuen, wenn Deutschland zu einer großen Monarchie vereinigt wäre?" (ebd., Bd. 2, 140 f.) 166 Ebd., Bd. 1,31.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
Staates. Treitschke wird in der Folge nicht müde, dieses Daseinsgesetz wieder und wieder einzuschärfen: er schreibt Friedrich dem Großen „die Einheit der neuen Staatengesellschaft 4' zu 1 6 7 ; er nennt die Erhebung Preußens nach 1807 eine Erhebung des Gedankens der „Staatenfreiheit" 168; er erwartet seitdem von Preußen, daß es in die Lage komme, „die verschlungenen Machtverhältnisse Europas frei zu überblicken" und damit zu entwirren. 169 Als er 1884 einen Aufsatz „Über die ersten Versuche deutscher Kolonialpolitik" schreibt, zieht er, unter dieser Perspektive, eine Bilanz der Reichsgründung, die sich ihm zu einer Prognose erweitert. Er glaubt durch die Reichsgründung den in der bisherigen preußischen Geschichte vorgezeichneten Durchbruch zu einer Neuordnung der europäischen Staatenbeziehungen verwirklicht: „An die Stelle des alten Staatensystems, das durch die Schwäche der Mitte des Festlandes bedingt war, ist eine neue Staatengesellschaft getreten, die auf der Stärke Mitteleuropas ruht: durch eine Friedenspolitik großen Stiles hat unser Reich die Mächte des Kontinents genötigt, sich in diese veränderte Ordnung der Dinge zu finden.. .". 1 7 °
Der nächste Schritt dieser „Friedenspolitik" soll nach dem Willen Treitschkes in die Welt hinausgehen: bis „auch auf den Meeren, wie längst auf dem Festlande, ein Gleichgewicht der Mächte besteht und kein Staat mehr wagen darf, sich alles zu erlauben" 171 , d. h. bis die Macht Deutschlands zur Basis eines Weltstaatensystems geworden ist. Das alles sind Gedanken vom Geiste Droysens. Aber Treitschke schreitet dadurch über Droysen hinaus, daß ihm in der gegebenen „realpolitischen" Situation, in der er für eine Konsolidierung des neugeschaffenen Reiches eintritt, dessen auswärtige Stellung besonders wichtig wird und daß sich daraus eine doppelte historiographische Konsequenz ergibt. Denn angesichts der außenpolitischen Erfordernisse der Gegenwart erlangt er zum einen ein neues Verständnis für die ganze bisherige Geschichte des europäischen Staatensystems: er muß sie auf Dauer insgesamt als notwendige Vorgeschichte der gegenwärtigen, von Deutschland bestimmten Konstellation der Staatenverhältnisse ansehen und damit jenes ursprüngliche Verdikt revidieren oder relativieren. Darüber hinaus läßt sich absehen, daß dieser Gegenstandsbereich damit mehr und mehr ein primäres historiographisches Interesse auf sich zieht. Es ist unübersehbar, daß Treitschke durch diese doppelte Konsequenz einer Ranke-Renaissance Vorschub leistet: einer Erneuerung oder Fortschreibung der Thematik von Rankes Geschichtsschreibung in dem Bewußtsein, daß sie die entscheidenden Determinanten der modernen europäischen Geschichte umfaßt. 167 168 169 170
Ebd., 58. Ebd., 262. Ebd., Bd. 5, 60. Treitschke, Aufsätze (wie Anm. 162), Bd. 4, 665 f.
171 Ebd., 674.
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Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
Treitschke demonstriert diese Rückkehr zu Ranke sinnfällig, als er die allgemeine Lage nach der Julirevolution in Wendungen beschreibt, in denen die Problemstellung Rankes enthalten ist: die Entgegensetzung des europäischen Staatensystems gegen die Universalismen des revolutionären Zeitalters, wie sie noch in den „Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege" begegnen. Er konstatiert den seit 1815 verbreiteten „Wahn, daß die Parteiung der Staatengesellschaft nicht durch die Weltstellung und die auswärtigen Interessen der Mächte bestimmt werden, sondern... allein durch ihre inneren Zustände", erklärt die beiden angeblichen „Heerlager der konstitutionellen und der absoluten Kronen" für ein Trugbild, das zu dem Zweck in die Welt gesetzt sei, die Interessen der dahinter stehenden Mächte zu verschleiern. 172 Man denke zum Vergleich nur an das „Politische Gespräch", wo Ranke, ebenfalls im Blick auf die Julirevolution und ihre Auswirkungen, die Meinung verwirft, daß „die europäischen Reiche hauptsächlich im Kampfe über innere Einrichtungen in zwei feindselige, einander unaufhörlich bedrohende Hälften zerfallen" seien, und dagegen seine „Lehre" setzt, „daß jener Gegensatz zweier feindseliger Parteien in Europa eigentlich gar nicht bestehe".173 Allerdings bedeutet Treitschkes Rekurs auf Ranke keine unmittelbare Restituierung Rankes. Vielmehr bleibt irreversibel, daß Treitschke zu Ranke im Durchgang durch ein Konzept preußisch-deutscher Nationalgeschichte zurückkehrt, das, im Anschluß an Droysen, einen originären Gegensatz gegen Ranke verrät. Seine Vorstellung vom europäischen Staatensystem ist gerade auch in ihren Rankeschen Zügen von diesem Konzept geprägt. Treitschke rekurriert auf Ranke aus der inneren Logik seiner preußisch-deutschen Position heraus; er bezieht die Rankesche Betrachtungsweise also in einen ganz anderen Zusammenhang ein. Wir sind an einen Punkt gelangt, von dem aus die sogenannten Neurankeaner in unseren Blick rücken: jene Gruppe von Historikern, die erklärtermaßen eine Erneuerung Rankescher Geschichtsschreibung betreiben; die Namen ihrer Protagonisten reichen von Erich Mareks und Max Lenz über Felix Rachfahl und Hermann Oncken bis zu Moriz Ritter, Max Lehmann, Alfred Stern, Walter Goetz und Friedrich Meinecke. 174 Es ist gewiß nicht angängig, die Ranke-Rezeption dieser Historiker auf Rankes Konzept des europäischen Staatensystems zu beschränken; ihre 172 Treitschke, Deutsche Geschichte (wie Anm. 161), Bd. 4, 29 f. 173 Ranke, Politisches Gespräch (wie Anm. 24), 61, 64. 174 Dazu außer Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus (wie Anm. 1): Hans-Heinz Krill, Die Ranke-Renaissance. Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880-1935 (Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 3), Berlin 1962; Hans Schleier, Die Ranke-Renaissance, in: Joachim Streisand (Hrsg.), Die bürgerliche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus (Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 2 = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften des Instituts für Geschichte, Reihe I: Allgemeine und deutsche Geschichte, 21), Berlin 1967.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
Werke haben sogar fast durchweg andere Schwerpunkte. Aber richtig ist, daß ihnen die Aneignung dieses Konzeptes vielfach am Anfang gestanden hat, daß sie ihm jedenfalls alle eine selbständige Bedeutung eingeräumt haben und daß von ihnen auch Anstöße zu neuen Forschungen auf diesem Gebiet ausgegangen sind; die einschlägigen Bände des Below-Meineckeschen Handbuchs haben hier ihre Stelle. Die Neurankeaner stehen in einer neuen politischen Situation. Sie erleben, um 1900, den Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik, und sie erleben damit, daß der außenpolitische Rahmen, innerhalb dessen die Reichsgründung durchgesetzt worden ist, aufgesprengt scheint. Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses widerfährt ihnen ebenso eine Relativierung wie eine Erweiterung des preußisch-deutschen Nationalinteresses: eine Relativierung, insofern ihnen der herkömmliche Nationalstaat vor den globalen Herausforderungen gegenwärtiger Weltpolitik ungenügend wird; eine Erweiterung, insofern sie die Vorstellung haben, daß sich der Nationalstaat, aus den engen Verhältnissen seiner bisherigen Existenz heraus, auf das Niveau dieser Herausforderungen erheben soll. Man kann sagen, daß sie damit die politische Situation Treitschkes imperialistisch überhöhen oder vielmehr die in ihr schon enthaltenen imperialistischen Ansätze ausgestalten. Es ist diese Situation, in der die Neurankeaner das Rankesche Konzept des europäischen Staatensystems wiederbeleben. Sie machen dabei entschieden Front gegen die borussischen Historiker. Sie werfen ihnen partikulare Befangenheit in der preußisch-deutschen Nationalgeschichte vor und bringen demgegenüber die universale Betrachtungsweise Rankes zur Geltung; sie halten zumindest dafür, daß die partikulare Geschichtsschreibung der borussischen Autoren allenfalls in ihrer Zeit eine Berechtigung gehabt habe, während die deutsche Geschichtswissenschaft in der Gegenwart die historisch-politische Realität wiederum mit Rankes Augen anzusehen genötigt sei. Andererseits ist unleugbar, daß sie mit dieser Kritik zugleich die borussische Schule fortführen. Mögen sie sich auch von der borussischen Partikularität abwenden, so bildet diese doch die Grundlage, auf der sie die Rankesche Universalität des europäischen Staatensystems wiederentdecken. Sie werden, im Gegensatz zur borussischen Nationalgeschichte, Universalhistoriker, aber von einem borussischen Standpunkt aus: durch ihre Einsicht in die universalen Dimensionen preußisch-deutscher Politik in der Gegenwart. Es handelt sich darum, daß die borussische Partikularität in eine neue Universalität umschlägt oder dazu gesteigert wird. Treitschke, der die Partikularisierung der preußisch-deutschen Nationalgeschichte vollendet und dabei zugleich einer Ranke-Renaissance Vorschub leistet, fungiert auch hier als Vermittler: auch insoweit, als er die Differenz antizipiert, die die Neurankeaner naturgemäß von Ranke selbst trennt. Ich füge kurz an, daß die Neurankeaner das von ihnen restituierte Konzept in zweifacher Weise realisieren: politisch-publizistisch und historiographisch. Politisch-publizistisch geht es um die Übertragung des Rankeschen Modells auf die weltpolitischen Verhältnisse der Gegenwart; die Programmschrift bleibt dafür die Abhandlung von Lenz über „Die großen Mächte" aus dem Jahre 1900, die an Ran-
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Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
kes gleichbetitelten Essay vom Jahre 1833 anschließt. Historiographisch geht es um eine neue Rechtfertigung der ganzen bisherigen Geschichte des europäischen Staatensystems. In dieses Bemühen ist auch eine neue Bewertung der Stellung Deutschlands und Preußens eingeschlossen: man wendet sich auch nur gegen den Anschein einer anachronistischen Teleologisierung der älteren deutschen und preußischen Geschichte am Maßstab des modernen Nationalstaats. Ich brauche nicht zu wiederholen, daß solche Korrekturen die vorgängige Gemeinsamkeit der Neurankeaner mit der borussischen Schule unberührt lassen. Wenn die Ranke-Renaissance über Ranke hinausführt, so ist umgekehrt bemerkenswert, daß es Ansätze Rankeschen Geschichtsdenkens gibt, die, unbeschadet aller sonst bestehenden Kontraste, auf die Entwicklung der borussischen Schule wie damit auf die borussische Grundlegung der Neurankeaner hindeuten, sozusagen die Transformierung Rankes vorbereiten. Das eine ist, daß Ranke in seinen Schriften und Vorlesungen zur Geschichte Europas nach 1789, in Analogie zu Droysens „Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege", die Geschichte des europäischen Staatensystems hinter jene Universalismen zurücktreten läßt, gegen die er ursprünglich angeht, und damit eine gewisse Untauglichkeit der traditionellen Figur zur primären Erfassung der neuesten europäischen Geschichte zu bekunden scheint. Er kann beim „Ursprung und Beginn der Revolutionskriege" eine Feststellung treffen, mit der er geradezu das „alteuropäische" Zeitalter des Staatensystems von dem modernen Zeitalter weltweiter Verfassungskämpfe scheidet: „Die Politik suchte den Frieden, die universalen Gegensätze stellten den Krieg in Aussicht" 175 ; anders gewendet: die Künste des europäischen Staatensystems erlagen der Dynamik der aus der Revolution entstandenen konstitutionellen Konflikte. Über Europa nach 1815 heißt es 1854 in den Berchtesgadener Vorträgen: „Da war kein Land, wo nicht die beiden Prinzipien der Monarchie und der Volkssouveränität miteinander in Widerstreit geraten wären." 176 In einer Vorlesung vom Jahre 1869 scheint ihm der „Gegensatz zwischen absoluter Gewalt und Republik" seit geraumer Zeit in einer neuen Verfassungsordnung aufgehoben: „Beide Tendenzen haben gleichsam einen Pakt miteinander getroffen und erscheinen in dem konstitutionellen System. Nach mannigfaltigen Erschütterungen ist man auf diesen Ausgleich zurückgekommen." 177 Damit ist Rankes eigene Position, die, aus dem „Gegensatz gegen eine allgemeine Herrschaft heraus, weder Revolution noch Reaction" ist, zu einer universalen Tendenz hypostasiert: dieselbe Position, die ihn andererseits zur historisch gewachsenen Vielfalt des europäischen Staatensystems hinlenkt. Ranke befindet sich hier in genauer Übereinstimmung mit jener Droysenschen Triade europäischer Verfassungskämpfe, die von der Revolution über die Reaktion zur Reform führt. Sie verweist 175 Leopold von Ranke, Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792 (Sämmtliche Werke, Bd. 45), 2. Aufl., Leipzig 1879, 82. 176 Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (wie Anm. 40), 436. 177 Ranke, Vorlesungseinleitungen (wie Anm. 27), 464.
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
auf eine Verwandtschaft der beiden politisch-historischen Konzepte freilich auch in dem Sinne, daß Droysen sich im Zeichen seines Reformgedankens wiederum von vornherein Rankes Widerspruch „gegen eine allgemeine Herrschaft" annähert; wir erinnern uns in diesem Zusammenhang, daß Ranke die Entwicklung der neueren deutschen Geschichtswissenschaft überhaupt auf diesen Widerspruch zurückführt. Das andere ist, daß Ranke im Fortgang der deutschen Dinge eine völlige Umgestaltung des europäischen Staatensystems ins Auge faßt: eine Neuordnung Europas und der Welt durch Deutschland, wie sie den borussischen Historikern und den Neurankeanern vorschwebt. In einer Vorlesung vom Jahre 1868 deutet er auf „neue Kriege..., welche dem System der europäischen Mächte einen neuen Charakter gegeben haben ... die Souveränität der Nationalitäten ist zu allgemeiner Geltung gelangt...". 178 Man mag bei dieser Formulierung den Eindruck haben, als sei Droysens Vision eines von Preußen-Deutschland heraufgeführten Europa der Nationalstaaten anstelle des auf der monarchischen Souveränität beruhenden „alteuropäischen" Staatensystems verwirklicht. Ranke kommt auf eine solche Perspektive kurz vor seinem Tod zurück, wie um eine testamentarische Bestimmung auszusprechen. Er erwähnt in einem autobiographischen Diktat vom November 1885 die Kriege von 1866 und 1870/71, „welche das Geschick in der Welt verändert haben", mit der Folge, „daß die politischen Verhältnisse sich auf einem einheitlich ebenen Boden entwickelt haben"; er behauptet sogar, diese „universale Aussicht für Deutschland und die Welt" habe ihn zur Abfassung seiner „Weltgeschichte" veranlaßt. 179 Mir war es bisher wesentlich darum zu tun, den Einsatz der Figur des europäischen Staatensystems in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts im Lichte der jeweiligen thematischen Interessen zu betrachten, die wiederum durchgängig als mit bestimmten politischen Positionen zusammenhängend erkannt werden müssen. Ich möchte zum Schluß wenigstens andeuten, daß es bei alledem auch theoretisch-methodische Bezüge gibt. Ich habe eingangs von den paradigmatischen Konflikten Rankes und der borussischen Historiker, von den Gegensätzen und Vermittlungen gesprochen, die zwischen beiden Seiten ins Auge fallen. Ich setze nunmehr hinzu, daß diese Konflikte sich jeweils auf die Sicht des europäischen Staatensystems ausgewirkt haben oder umgekehrt: daß die jeweilige Sicht des europäischen Staatensystems den Austrag dieser Konflikte beeinflußt oder bestimmt hat. Es gibt zunächst einmal eine offensichtliche Korrelation zwischen Rankes Konzept des europäischen Staatensystems, das eine gleichmäßige Würdigung verschiedener Staatsindividualitäten verlangt, und Rankes Objektivitätsideal 180 wie zwi178 Ebd., 450. 179 Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte (wie Anm. 31), 76. 180 Dazu Schulin, Universalgeschichte (wie Anm. 1), 44 f.
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Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
sehen der preußisch-deutschen Betrachtungsweise und der Forderung nach politischer Parteinahme in der Geschichtsschreibung bei den borussischen Historikern. Zugleich wird auch hier deutlich, daß die jeweils bekämpfte Position bis zu einem gewissen Grad immer auch in der eigenen enthalten ist und daß sich damit beide Positionen als im Grunde zusammengehörig erweisen: indem einerseits Ranke sein Konzept des europäischen Staatensystems von einem bestimmten-politischen Standort aus entwirft und sich dessen nicht nur bewußt ist, sondern darin auch eine notwendige Voraussetzung seiner Historiographie erblickt; indem andererseits die borussischen Historiker beanspruchen, ihre preußisch-deutsche Betrachtungsweise auf eine Forschungsleistung nach Objektivitätskriterien im Sinne Rankes zu gründen. Ich brauche weiterhin kaum eigens hervorzuheben, daß Rankes Konzept des europäischen Staatensystems eine einzige Demonstration eines universalgeschichtlichen Interesses darstellt und daß demgegenüber die preußisch-deutsche Betrachtungsweise der borussischen Historiker auf eine Präferenz für die Nationalgeschichte hinausläuft. Aber Ranke arbeitet gerade mit seiner zentralen Kategorie der Staatsindividualität jedenfalls der Möglichkeit einer nationalen Geschichtsschreibung vor, mag etwa Droysen auch die Volksindividualität von der Staatsindividualität abheben; dabei kann noch ganz davon abgesehen werden, daß Ranke selbst, wie zuletzt dargetan, immer mehr in den Bannkreis preußisch-deutscher Interessen gerät. Umgekehrt behalten die Werke der borussischen Historiker durch die bloße Tatsache, daß sie allenthalben den Zusammenhang der preußischen Geschichte mit der Geschichte des europäischen Staatensystems wahren, einen universalhistorischen Zug; er tritt am Schluß sogar verstärkt hervor, wie sich bei Treitschke und beim Übergang von Treitschke zu den Neurankeanern zeigt. Ich bemerke schließlich, daß Rankes Konzept des europäischen Staatensystems einen Vorrang der Kriegs- und Diplomatiegeschichte vor der inneren Geschichte signalisiert, während die preußisch-deutsche Betrachtungsweise der borussischen Historiker eine vermehrte Aufmerksamkeit auf die inneren Verhältnisse begünstigt. Andererseits gilt, daß Ranke keineswegs einen starren Primat der Außenpolitik verficht, sich vielmehr wiederum durch seine Kategorie der Staatsindividualität auch und gerade auf die innerpolitischen Zustände verwiesen sieht, die die Stellung einer Macht im europäischen Staatensystem bedingen, und daß die borussischen Historiker durch ihre Einordnung der preußisch-deutschen Nationalgeschichte in die Geschichte des europäischen Staatensystems der Einsicht in die Wechselwirkung von innerer und äußerer Politik teilhaftig werden. Selbst die Neurankeaner, die den Begriff vom Primat der Außenpolitik prägen, sind alles andere als reine Kriegs- und Diplomatiehistoriker. Es ist nicht mehr meine Aufgabe, von der sogenannten Gegenwartsbedeutung alles dessen zu handeln, worüber ich hier referiert habe. Ich hoffe aber doch, daß mögliche Anschlußstellen für heutige Diskussionen sichtbar geworden sind: sei es im Hinblick auf die sachliche Problematik des europäischen Staatensystems selbst,
Das europäische Staatensystem in der Geschichtsschreibung
sei es im Hinblick auf die soeben angeschnittenen theoretisch-methodischen Probleme. Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist heute bekanntlich ein beliebter Gegenstand ethisch-politischer Denunziation; viele glauben in ihr eine der Quellen des Unheils sehen zu müssen, das im 20. Jahrhundert über uns hereingebrochen ist. Eine solche Einstellung ist aber für ein wissenschaftsgeschichtliches Verständnis gewiß nicht ausreichend. Wem, über bloße Vorannahmen oder Vorurteile hinaus an einem, veritablen Erkenntnisinteresse gelegen ist, dem ergibt sich im Rückblick auf unser Thema ein anderes Bild: das Bild einer aus den Zeitverhältnissen heraus engagiert geführten wissenschaftlichen Diskussion. Seit jeher sind es derartige Diskussionen gewesen, die Erkenntnisfortschritte in unserer Disziplin ermöglicht haben.
23 Muhlack
Register Verfasser moderner Forschungsliteratur sind nur dann aufgeführt, wenn sie und ihre Werke im Text behandelt werden. Antike Persönlichkeiten figurieren unter ihrem heute gebräuchlichen Namen (z. B. nicht „Tullius", sondern „Cicero"). Fürsten sind nicht unter den Namen der Länder, sondern unter ihren Vornamen zu suchen. Achenwall, Gottfried 317 Acton, John Emerich Edward Dalberg Lord 255 f. Adela von Champagne 53 Albrecht III. Achilles von Brandenburg 185 Alexander der Große 302, 331 f. Althamer, Andreas 296 f. Annius von Viterbo 284, 288 Arminius 282, 288, 292 Augustus 155 Aventinus, Johannes 130, 134, 140 f. Baudeau, Nicolas 95, 109, 112 f. Beatus Rhenanus 130, 134, 140, 282, 293296, 299 Below, Georg von 30, 313, 319 f., 349 Benz, Richard 17 Bernegger, Matthias 296 f. Berney, Arnold 176 Beroaldo, Filippo 282 Besterman, Theodore 174 Beyme, Karl Friedrich 229-235, 238 f., 244 f., 250, 253 Biondo, Flavio 14, 129 ff., 136 f., 140 Bischof, Hermann 261, 266 Böckh, August 247 Bodin, Jean 59 ff., 66 f., 197 f. Bolingbroke, Henry St. John, Lord Viscount 316 Bossuet, Jaques-Benigne 83 Boulainvilliers, Henri, Comte de 49 Brandes, Georg 173 Brandi, Karl 19, 23 Brumfitt, John C. Hall 175 Bruni, Leonardo 128 f., 136
Burckhardt, Jacob 11, 14-23, 194 Burdach, Konrad 13, 16-19 Caesar (Gaius Julius C.) 22, 128, 178, 282, 286,331 Campano, Giovanantonio 286 ff., 295 Cellarius, Christoph 14 Celtis, Konrad 130, 289 Charles du Moulin 56 Cicero (Marcus Tullius C.) 25 Colbert, Jeasn-Baptiste 69, 82, 110 Conring, Hermann 197, 292, 296 f. Corvisier, André 83 Dahlmann, Friedrich Christoph 302, 307 f. Dehio, Ludwig 34 Diaz, Furio 175 Diderot, Denis 49, 106 Disslnkötter, H. 175 Dohm,Christian Wilhelm von 118 Droysen, Johann Gustav 43 f., 203, 258, 261, 263, 265, 268, 271, 301 f., 304 f., 307, 313, 318 f., 331 -352 Duchhardt, Heinz 30 Dupont de Nemours, Pierre Samuel 95, 108,
112, 118, 120
Eduard III. von England 54 Eichhorn, Karl Friedrich 253 Elisabeth von Hennegau 53 Engel, Johann Jakob 229 ff. Erasmus von Rotterdam 127 Fabricius, Johann Albert 147 Fichte, Johann Gottlieb 203, 231 -234, 237, 245, 258
Register Florus (Publius Annius F.) 282 Franz I. von Frankreich 47. 50, 89 Franz von Anjou 61 Friedrich I. von Preußen 185 Friedrich II. von Preußen, der Große 122, 173-199, 326 f., 342 ff., 347 Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, der Große Kurfürst 189, 193, 196 f., 344, 346 Friedrich Wilhelm I. von Preußen 185 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 228 f., 231,247, 249 Fueter, Eduard 30, 175, 313 Gatterer, Johann Christoph 161-164, 203 Gauß, Karl Friedrich 245 Gebauer, Georg Christian 296 Gentz, Friedrich von 310 Gervinus, Georg Gottfried 44 f., 301 f., 309 f. Gesner, Johann Matthias 147, 158 Giesebrecht, Wilhelm 263, 270 Goethe, Johann Wolfgang von 201, 219 Goetz, Walter 19, 22, 348 Gooch, George Peabody 173, 176 Grimm, Jacob 264 f., 276, 297 ff., 301, 307 Guicciardini, Francesco 42, 315 Guillaume de Nangis 53 f. Gundolf, Friedrich 11, 21 ff. Gustav II. Adolf von Schweden 210 Hardenberg, Karl August Graf 250 f., 326, 335 Harnack, Adolf von 262, 266 Häusser, Ludwig 265 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 42 f., 161, 163 ff., 313, 317 ff., 327-331, 340, 346 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 203, 253, 304, 306 Heinrich II. von England 52 Heinrich V. von England 55, 58 Heinrich III. von Frankreich 61 f. Heinrich IV. von Frankreich 35, 47, 49, 61-66, 85,337 Herder, Johann Gottfried 203, 257 f., 261 f., 291 Herderhorst, Wilfried 176 Herodot 162 23*
355
Heyne, Christian Gottlob 147, 150-159, 161-169, 171 Hintze, Otto 70, 262 Holldach, Heinz 97 Homer 152 ff., 157, 169 f., 188 Hotman, François 49, 274 Hufeland, Christoph Wilhelm 232 Hugo Capet 52 Humboldt, Alexander von 275 Humboldt, Wilhelm von 166 ff., 170, 201 205, 216-224, 234-247, 249-253, 258 f., 262, 303 Hume, David 203 Hutten, Ulrich von 139, 288 Immich, Max, 30 f., 313, 319 Irenicus, Franciscus 282, 285 Isabella von Aragon (Gemahlin Philipps III. von Frankreich) 54 Isabella (Tochter Philipps II. von Spanien) 63 Iselin, Isaak 203 Jean de Montreuil 56 Jean de Terre Rouge 49, 56 ff., 61 Jeanne d'Arc 51 Joachim II. von Brandenburg 185 Joachim von Fiore 18 Joachimsen, Paul 13, 19, 20-23, 26, 275 f., 282, 285 Joseph II. (Kaiser) 119, 121, 123 Josephus, Flavius 284 Justinian 292 Kant, Immanuel 203 ff., 214-222 Karl der Große 53, 56 f., 128, 177, 191 Karl Friedrich von Baden 118 f., 123 Karl V (Kaiser) 177, 280 Karl IV. von Frankreich 53 f. Karl VI. von Frankreich 55, 58 Karl VII. von Frankreich 51, 55, 58, 89 Karl VIII. von Frankreich 315 Karl von Bourbon 63 f. Karl XII. von Schweden 177, 188 Kepler, Johannes 216 Knipping, Franz 30 Köpke, Rudolf 256 Körner, Christian Gottfried 214, 297
356
Register
Koser, Reinhold 173 Krüger, Peter 31 Küntzel, Georg 176 Lamprecht, Karl 270 Le Tellier, Michel 69, 86, 90 Lehmann, Max 348 Lenz, Max 262, 348 ff. Leo, Heinrich 302 Leopold II. (Kaiser) 121 Lescot, Richard 56 Lipsius, Justus 127 Livius, Titus 132, 134 Loebell, Johann Wilhelm 261 Louvois, François-Michel Le Tellier, Marquis de 69 Luden, Heinrich 301 Ludwig VII. von Frankreich 48 Ludwig VIII. von Frankreich 48, 53 Ludwig IX. von Frankreich, der Heilige 49 Ludwig X. von Frankreich 52 Ludwig XIV. von Frankreich 47, 67, 69-94, 107, 173-199 (als Thema von Voltaire), 281,316, 326 Ludwig XV. von Frankreich 177 Lukian 132 Luther, Martin 278 Lykurg 153 Macaulay, Thomas Babington 271 f. Machiavelli, Niccolö 42, 197 ff., 314 f. Major, John Russell 71, 88 Mareks, Erich 348 Marillac, Michel de 85, 87 f. Martin, Alfred von 175 Massow, Julius von 225 ff., 229, 231, 234 f., 238 f., 241,250, 253 Mauvillon, Jakob 118, 120 ff. Mayer, Martin 286 Mazarin, Jules 35, 85 - 88,94 Meinecke, Friedrich 30, 200 f., 313, 319 f., 348 f. Melanchthon, Philipp 290 Mercier de la Rivière, Pierre Paul François 95, 108 f. Metternich, Clemens Wenzel Nepomuk Lothar, Fürst von 301, 310 Meyer, Eduard 262
Michelet, Jules 15 f. Mirabeau, Victor Riquetti, Marquis de 95, 118 Mommsen, Theodor 262 f. Mönch, Walter 174 Monroe, James 41 Montesquieu, Charles de Secondât, Baron de 49, 107, 198 f., 274 Moscherosch, Hans Michael 290 Müllenhoff, Karl 276, 298 Münchhausen, Gerlach Adolph Freiherr von 231 Muralt, Leonhard von 176 Napoleon Bonaparte 37, 40-43, 227, 241 f., 301, 333 f., 338-342, 346 Nauclerus, Johannes 129 Neumann, Carl 17, 23 Newton, Isaac 216 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 249 Niebuhr, Barthold Georg 170 ff., 203, 247, 263, 301, 305 f. Niemeyer, August Hermann 232 Oltmanns, Jabbo 245 Oncken, Hermann 348 Orieux, Jean 174 Parker, David 71 Paulus Aemilius 129 Peisistratos 153 Peter I. von Rußland, der Große 177, 193 Petrarca, Francesco 22, 127, 132, 134 ff. Peutinger, Konrad 134 Philipp II. Augustus von Frankreich 48, 50, 53, 63 Philipp III. von Frankreich 50, 54 Philipp V. von Frankreich 53 Philipp VI. von Frankreich 54 Philipp von Makedonien 333 Philipp II. von Orléans 67 f. Philipp II. von Spanien 35, 63 Philipp V. von Spanien 67 Piccolomini, Enea Silvio 129, 286 f., 289 Platzhoff, Walter 30,313 Plinius der Ältere (Gaius P. Secundus) 155 Polydor Vergil 129 Pomponius Laetus (Pomponio Leto) 136
Register Posner, Max 175 Prutz, Hans 260, 262, 266 Pufendorf, Samuel 189, 197, 317
Strabon 286 Süvern, Johann Wilhelm 247 Sybel, Heinrich von 261, 266, 268, 271, 302, 308
Quesnay, François 95, 107, 109, 112 Rachfahl, Felix 348 Ranke, Leopold von 16, 22 f., 43, 69-72, 92, 155, 199, 203, 255 f., 261, 265, 267, 271 ff., 301 f., 305-309, 313, 318 ff., 321-328, 330 f., 339 f., 347-352 Ranke-Graves, Clarissa 272 f. Reil, Johann Christian 226, 232, 245 Ritter, Heinrich 267, 273 Ritter, Moriz 175, 348 Robertson, William 203 Rohan, Henri de 315 f. Sabellicus (Marcus Antonius Coccius) 129 Sakmann, Paul 175 Savigny, Friedrich Karl von 233, 245, 247, 249, 304, 306 Schäfer, Dietrich 262 f. Schieder, Theodor 174, 176 Schiller, Friedrich von 200-222, 257 ff., 262, 281,297 Schilling, Heinz 31 Schleiermacher, Friedrich 231-234, 237, 245, 247, 249, 253 Schlettwein, Johann August 118, 120-123 Schlosser, Friedrich Christoph 309-312 Schlözer, August Ludwig 161, 203 ff., 212 ff., 220 f. Schmalz, Theodor Anton Heinrich 232 f., 245, 247 Schmauß, Johann Jakob 317 Schuckmann, Friedrich von 250-253 Schwartzenberg, Adam Graf von 185 Scipio Africanus (Publius Cornelius S.) 132 Solon 153 Spittler, Ludwig Timotheus 161 Srbik, Heinrich Ritter von 175 Stackelberg., Jürgen von 274 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 234 f., 249, 335 Stenzel, Gustav Adolf Harald 301 Stern, Alfred 348
Tacitus, Cornelius 138, 274-299 Thibaut, Anton Friedrich Justus 304 Thode, Henry 17 Thukydides 162, 198 Tocqueville, Alexis de 99 Treitschke, Heinrich von 203, 261, 265 f., 271 f., 307, 313, 318 f., 345-348, 352 Trithemius, Johannes 284 Troeltsch, Ernst 200 Turgot, Anne Robert Jacques, Baron d'Aulne 95, 101, 113-118 Uhden, Johann Daniel 247, 252 Ukert, Friedrich August 319 Vasari, Giorgio 16 Vellerns Paterculus 282 Vergil (Publius Vergilius Maro) 188 Vico, Giambattista 272 Villani, Giovanni 128 Voigt, Georg 20 Voltaire 14, 69 f., 173-199, 203, 274, 316 Volz, Gustav Berthold 178 Wachsmuth, Wilhelm 268 Wahl, Albert 30 f., 313, 325 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius von 76, 210 Wegele, Franz Xaver von 175, 256, 266 Wieland, Christoph Martin 281 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 259 Wilhelm III. von England 326 Wimpheling, Jakob 129 ff., 138, 294 Winckelmann, Johann Joachim 147-153, 155 ff. Wolf, Friedrich August 168 ff., 232 f., 240, 245, 249, 262 f. Yorck von Wartenburg, Johann David Ludwig Graf 335 Zimmermann, Wilhelm 302