Religion und Ästhetik: Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen 9783495826133, 9783495491300


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Inhalt
Geleitwort des Herausgebers
Holger Zaborowski: Vertieftes Wohlgefallen. Die Sinnlichkeit von Religion und die Schönheit der Welt
1. Zur Sinnlichkeit von Religion
2. Zur Dialektik der Erfahrung des Schönen
3. Zur Theologie des Schönen
Christian Wessely: Religion in filmisch-serieller Inszenierung
1. Grundlegendes
1.1. Zum Handwerklichen
1.2. Zum Medium
2. Die christliche Perspektive
2.1. Gemeinsames
2.2. Trennendes
3. Inszenierungsbeispiele
3.1. Der Stoff, aus dem Legenden sind: Die Päpste
3.2. Die christomorphe Präsentation einer Erlöserfigur: Luke Cage
4. Zusammenschau
Jonas Nesselhauf: Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n): Die Gegenwart filmisch-serieller Inszenierung am Beispiel von Herrens veje (2017)
1. Religion und Serialität
1.1 Serielle Organisation
1.2 Fantum und Fankult
1.3 Heilsversprechen und Ekstase
1.4 Religion und serielles Erzählen
2. Darstellung von religiösen Systemen in einer Fernsehserie: Game of Thrones
3. Religion als Strukturprinzip einer Fernsehserie: Lucifer
4. Religion als Erzählprinzip einer Fernsehserie: Herrens veje (Ride upon the Storm)
4.1 Ikonographie und Struktur
4.2 Die Macht des Glaubens
Marie-Therese Mäder: Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder zwischen Medien und Religion
Eine mormonische polygame Familie als Stars einer Realityshow
Realityshows als Diskurs über das Reale
Semiopragmatischer Zugang zu Medien und Religion
Kommunikationsräume und Lektüremodi von Alle meine Frauen
Spanferkel essen im RTV oder das Verhältnis von Medien und Religion
Diedrich Diederichsen: Das Buch und die Fernsehserie
Beispiel 1: Strange Love. Alan Ball. Aus: True Blood. Alan Ball. US 2008–2014. S01 E01, TC: 06:52–08:47.
Beispiel 2: Mission Accomplished. David Simon u.a. Aus: The Wire. S03 E37, TC: 10:40–11:40.
Beispiel 3: Tomorrow. Christopher Misiano u.a. Aus: West Wing. S07 E22, TC: 28:40–29:20.
Beispiel 4: For Those Who Think Young. Tim Hunter. Aus: Mad Men. S02 E01, TC: 08:13–09:25.
Beispiel 5: For Those Who Think Young. Tim Hunter. Aus: Mad Men. S02 E01, TC: 45:00–46:00.
Ahmad Milad Karimi: Zur ästhetisch-seriellen Narration des Korans
1. Die ästhetische Narration des Korans
2. Die serielle Narration des Korans
Karl-Josef Kuschel: Das Jesus-Judas-Drama und seine heutigen Re-inszenierungen
1. Judas-Bilder in der Christlichen Ur-Kunde
2. Seligsprechung für Judas! Walter Jens (1923–2013)
3. Der Friedensstifter – ein Verräter: der »Judas«-Roman von Amos Oz (1939–2018)
Raid Al-Daghistani: Schrift, Schönheit, Spiritualität – Grundlinien einer mystischen Koranästhetik aus dem Geiste der Kalligraphie
1. Offenbarung – Sprache – Schrift
2. Schönheit – Wahrheit – Spiritualität
3. Die mystische Hermeneutik (taʾwīl) und die Buchstabensymbolik
4. Mystik und Kalligraphie: die Spiritualisierung der Ästhetik und die Ästhetisierung der Spiritualität
5. Abschließende Gedanken
Maryam Palizban: Filmische Narration des Religiösen:
Zu den Autorinnen und Autoren
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Religion und Ästhetik: Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen
 9783495826133, 9783495491300

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falsafa. Horizonte islamischer Religionsphilosophie

Ahmad Milad Karimi (Hg.)

Religion und Ästhetik

Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495826133

.

B

Ahmad Milad Karimi Religion und Ästhetik Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

falsafa. Horizonte islamischer Religionsphilosophie Herausgegeben von Ahmad Milad Karimi Band 2 Gefördert durch

und

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Ahmad Milad Karimi (Hg.)

Religion und Ästhetik Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen Unter Mitarbeit von Aise Birinci

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Ahmad Milad Karimi (ed.) Religion and Aesthetics On the cinematic-serial narration of the religious Religions are aesthetically mediated. Not only religious practice, but the religious habitus in general takes place in aesthetic acts. In this volume, the complex field of the aesthetic staging of the religious is taken into account in a multidisciplinary way, with a special focus on cinematic-serial narration.

The Editor: Ahmad Milad Karimi, Dr. phil., born 1979 in Kabul, studied Philosophy, Mathematics and Islamic Studies in Darmstadt, Freiburg and New Delhi. Since 2016 professor of Kalām, Islamic Philosophy and Mysticism at the University of Münster.

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Ahmad Milad Karimi (Hg.) Religion und Ästhetik Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen Religionen sind ästhetisch vermittelt. Nicht nur die religiöse Praxis, sondern der religiöse Habitus überhaupt vollzieht sich in ästhetischen Akten. In diesem Band wird dem komplexen Feld der ästhetischen Inszenierung des Religiösen multidisziplinär Rechnung getragen, und zwar mit besonderem Augenmerk auf filmisch-serielle Narration.

Der Herausgeber: Ahmad Milad Karimi, Dr. phil., geb. 1979 in Kabul, Studium der Philosophie, Mathematik und Islamwissenschaft in Darmstadt, Freiburg und Neu-Delhi. Seit 2016 Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster.

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Kalligraphie auf dem Cover: Iyad Shraim (»Gott ist schön und Er liebt die Schönheit«) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49130-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82613-3

https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Ahmad Milad Karimi Vertieftes Wohlgefallen. Die Sinnlichkeit von Religion und die Schönheit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Holger Zaborowski Religion in filmisch-serieller Inszenierung Christliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Christian Wessely Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n): Die Gegenwart filmisch-serieller Inszenierung am Beispiel von Herrens veje (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Jonas Nesselhauf Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder zwischen Medien und Religion . . . . . .

72

Marie-Therese Mäder Das Buch und die Fernsehserie . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Diedrich Diederichsen Zur ästhetisch-seriellen Narration des Korans . . . . . . . . 113 Ahmad Milad Karimi

7 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Inhalt

Das Jesus-Judas-Drama und seine heutigen Re-inszenierungen 134 Texte von Walter Jens und Amos Oz Karl-Josef Kuschel Schrift, Schönheit, Spiritualität – Grundlinien einer mystischen Koranästhetik aus dem Geiste der Kalligraphie . . . . . . . 154 Raid Al-Daghistani Filmische Narration des Religiösen: . . . . . . . . . . . . . 179 Übergänge der künstlerischen Erzählung Maryam Palizban Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 189

8 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Geleitwort des Herausgebers

»Folgt dem Schönsten!« Koran 39:55

Zur Etablierung der islamischen Theologie an den deutschen Universitäten, die seit einigen wenigen Jahren um eine akademische Selbstauslegung des Islams bemüht ist, gehört die Herausforderung, der Vielfalt und der polyphonen Geistestradition des Islams Rechnung zu tragen. Diese Polyphonie ist dabei der islamischen Religion inhärent, welche insbesondere in ihren ästhetischen Ausdrucksformen zum Tragen kommt. Daher gehört nicht nur eine grundlegende Pluralitätsfeindlichkeit zum Gepräge der literalistisch-engstirnigen Artikulationen des religiösen Fundamentalismus, sondern auch und insbesondere die reservierte und ablehnende Geste gegenüber der Ästhetik überhaupt. Doch die ästhetische Dimension der Religion gehört weder zu einem Beiwerk noch zu einem Randphänomen. Vielmehr haben wir mit einer Vielfalt der ästhetischen Ausdrucksformen zutun, die die religiöse Wirklichkeit der Muslime mit dem Leben verflechten. Religionen sind ästhetisch vermittelt. Nicht nur die religiöse Praxis, sondern der religiöse Habitus überhaupt vollzieht sich in ästhetischen Akten. Insofern ist der ästhetische Zugang zur Religion von zentraler Bedeutung. Die ästhetische Aneignung der Wirklichkeit scheint religiös fundiert zu sein, aber wodurch ist sie begründet? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat die sinnliche Rezeption der religiösen Quellen? Und welche Bedeutung kommt dem ästhetischen Zugang der Religion zu? Kalligraphie, Ornamentik, Musik aber auch Theater, Oper, Film und Serie scheinen als ästhetisch-durchdrungene Sinnfelder mit der religiösen Selbstartikulation innigst verwoben zu sein. Wie lässt sich aber das komplexe Feld dieser ästhetischen Performanz des Religiösen begreifen? Hierbei spielen der filmische und der serielle Standpunkt in zweifacher Hinsicht eine herausragende Rolle. Erstens reflektieren Filme und Fernsehserien immer mehr religiöse Phänomene, übersetzen sie in Bildsprache, verändern die religiöse Perspektive, ver9 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Geleitwort des Herausgebers

leihen der Religion einen eigenen Raum der Rückbesinnung; und zweitens eignen sich Filme und insbesondere Qualitätsserien gleichsam Religiosität an, indem sie selbst durch Wiederholung und Serialität zur Ritualität zwingen. Die Protagonisten, nicht selten auf der Suche nach Sinn und Identität, werden zu Kultfiguren und nehmen damit sakrale Formen an. Filme und Serien schreiben sich fort in die Existenz ihrer Zuschauer, weil sie Sinn stiften, anrühren, aber auch bleibend sind und dadurch einen rezitativen Charakter gewinnen. Filme sind aber auch schonungslos. Darin ist der Film mit der Philosophie verwandt. Was auf der Leinwand erscheint, vermittelt keine einfache Botschaft; Filme und moderne Qualitätsserien verstricken ihre Zuschauer in einem Fragengeflecht, welches die gewohnte Ordnung der Dinge ins Wanken bringt. Unter dem Titel Religion und Ästhetik. Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen fand im Dezember 2018 eine Tagung am Zentrum für islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster statt, deren Erträge in diesem Band vorliegen. Ausgerichtet war die Tagung zum einen interdisziplinär (u. a. philosophisch, theologisch, kulturwissenschaftlich und literarisch) und zum anderen interreligiös (jüdisch, christlich und muslimisch). Dieser Austausch hat sich als außerordentlich fruchtbar und anregend erwiesen, weil die jeweilige Position über die eigenen Grenzen hinaus im je Anderen dem Eigenen erneut, aber nicht selten anders begegnet ist. Dabei ist die filmischserielle Narration gegenwärtig ein bedeutsames Feld ästhetischer Aneignung des Religiösen, die neben den grundsätzlichen Positionen zur ästhetischen Dimension der Religion im vorliegenden Band besonders Würdigung findet. Diese Tagung zur Ästhetik und Religion bildete die Auftakt-Veranstaltung einer Reihe, die sich dezidiert der Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Ästhetik mit besonderem Augenmerk auf die filmisch-seriellen Narrationen widmet. Im ersten Beitrag widmet sich Holger Zaborowski dem Verhältnis der Religion und Ästhetik, indem er die Sinnlichkeit der Religion begründend hervorhebt. Diese ästhetische Artikulation der Religion wird sodann von Christian Wessely aufgegriffen, indem er mit besonderem Augenmerk auf die filmisch-serielle Performanz der Religion aus genuin christlicher Sicht eingeht. Spezifischer beschäftigt sich Jonas Nesselhauf mit einer Analyse über die Strukturen von Religionen und Serien und zeigt dies exemplarisch an der Serie Herrens Veje auf. Marie10 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Geleitwort des Herausgebers

Therese Mäders Artikel beleuchtet daraufhin am Beispiel einer USamerikanische Realityshow die vielfältigen Interaktionsfelder im Verhältnis zwischen Religion und Medien. Insbesondere analysiert Diedrich Diederichsen dabei die bemerkenswerte Verbindung zwischen den Medien Buch und Fernsehserie. Milad Karimi hebt vor diesem Hintergrund die ästhetisch-serielle Narration des Korans hervor, um die These zu vertreten, dass der Koran als Buch ästhetisch-seriell begriffen werden kann. Sodann folgen Karl-Josef Kuschels Ausführungen, die mit einer Analyse der Jesus-Judas Thematik, die er mit einem Ausgriff auf Walter Jens und Amos Oz diskutiert, die ästhetisch-literarische Bedeutung der Religion beleuchten. Konkreter geht Raid AlDaghistani auf die arabische Kalligraphie ein, um deren Bewandtnis für die islamische Mystik näher zu erläutern. Schließlich folgt ein Essay von Maryam Palizban über den iranischen Kurzfilm Das Haus ist schwarz der Dichterin Forough Farrokhzad, die filmisch-poetisch das Religiöse zum Thema und Problem macht. Zur Vollendung des Buches bin ich vielen dankbar. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Aise Birinci, die nicht nur die Hauptlast der Organisation der Tagung trug, sondern auch bei der Redaktion der Beiträge maßgeblich mitgearbeitet hat. Frau Martina A. Kaluza danke ich herzlich für die sorgfältige Korrektur und das Lektorat der Beiträge. Mein aufrichtiger Dank gilt Herrn Lukas Trabert, dem Verlagsleiter des Verlags Karl Alber für die wie immer reibungslose und beste Zusammenarbeit. Zur Sinnlichkeit gehört aber auch die Einsicht in die Vergänglichkeit. So konnte die Stimme des Literaturwissenschaftlers, Theaterkritikers, Journalisten und Ästhetiktheoretikers Dirk Pilz über die Relationalität der Religion und Theater nicht mehr gehört werden, der kurz vor der Tagung im Alter von 46 Jahren in Berlin verstorben ist. Er hat eine Leerstelle hinterlassen, die bewusst ersatzlos bleibt. Münster, im Oktober 2020

Ahmad Milad Karimi

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Vertieftes Wohlgefallen. Die Sinnlichkeit von Religion und die Schönheit der Welt Holger Zaborowski (Erfurt)

1. Zur Sinnlichkeit von Religion Der Apostel Paulus betont, der Glaube komme vom Hören der Botschaft, die auf die mündliche Lehre Christi zurückgehe (Röm 10,17). 1 Christen sind demzufolge »Hörer des Wortes«. 2 Im Zentrum des christlichen Glaubens steht nämlich das Wort Gottes – das Wort, das Christus selbst ist, das Wort, das er verkündet hat, und die biblischen Worte, die sein Leben und seine Lehre überliefern, verkündigen und deuten und in denen sich Gott dem Menschen offenbart. Doch spricht der christliche Glaube auch die anderen Sinne des Menschen an: die Architektur der Kirchen und Kathedralen oder die christliche Kunst den Gesichtssinn; Weihrauch und duftende Öle den Geruchssinn; Berührungen und viele andere leibliche Gesten das Gefühl bzw. den Tastsinn; die Eucharistie oder religiös begründete kulinarische Bräuche den Geschmackssinn. Bereits in den biblischen Texten finden sich, wenn auch dem Hören eine besondere Bedeutung zukommt, zahlreiche Bezugnahmen auf alle Sinne des Menschen. »Unsere Sinne«, so Christian Schütz, »zeigen, sagen und schenken uns mehr, als uns bewußt ist. Von ihrem Ursprung wie von der Überlieferung her sind die Geheimnisse und Wahrheiten unseres Glaubens von einem Kranz sinnhafter Elemente, Zeichen und Symbole umgeben.« 3 Besonders in der Feier der Liturgie wird der Mensch mit all seinen Sinnen, als »Sinnenwesen« angesprochen. Ihr kommt dabei nach Romano Guardini eine »epipha1

Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. Knauer, P.: Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische Fundamentaltheologie. 6. Aufl., Freiburg i. Br. 1991. 2 Vgl. hierzu insbesondere Rahner, K.: Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie. Neu bearb. v. Johann Baptist Metz. 2. Aufl., München 1969. 3 Vgl. Schütz, C.: Mit den Sinnen glauben. Münsterschwarzach 1996.

12 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Vertieftes Wohlgefallen

nische Bedeutung« zu: »Was da wirkt«, so Guardini, »sind sicher die religiösen Gedanken, welche sich im Kult ausdrücken, ebenso wie die Ahnungen heiligen Lebens, die sich von ihr her erheben – darüber hinaus aber auch, und ganz besonders, das Aufleuchten, Auftönen, Greifbar-Werden der heiligen Wirklichkeit.« 4 Diese sinnliche Dimension des Christentums mag zunächst verwundern. Denn der christliche Glaube richtet sich auf einen Gott, der selbst nicht sinnlich erfahrbar ist. Gott ist nach christlichem Glauben unendlich und der Schöpfer von allem, das sinnlich wahrnehmbar ist. Ihn kann man daher nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht hören, nicht fühlen oder ertasten. Sinnliches ist aus christlicher Sicht kein »Gegenstand« des Glaubens. Dieser übersteigt das Sinnliche auf einen Gott hin, der alles Sinnliche wie auch die Sinne und die Sinnlichkeit selbst geschaffen hat. Trotzdem spielt das sinnlich Wahrnehmbare eine wichtige Rolle im Glaubensvollzug und kann auch über den Kreis der Christinnen und Christen hinaus zu sinnlicher Freude führen. »Bis heute lösen seine Feste und Feiern, seine Dichtungen, Gesänge und Bilder, seine Gottesdienste und liturgischen Handlungen«, so Hans Maier über das Christentum, »ein Wohlgefallen aus, das sich Gläubigen wie Nichtgläubigen mitteilt.« 5 Das sinnlich Wahrnehmbare ist über die Erzeugung von Freude und Wohlgefallen hinaus aber auch ein Medium des Glaubens. Denn um verkündet, reflektiert oder bezeugt zu werden, muss er sich der sinnlichen Vermittlung, der Anschauung (oder »Anhörung« oder des Bezugs auf einen anderen Sinn des Menschen) bedienen. Neben dem Wort spielt das Bild in der Geschichte des Christentums eine besondere, wenn auch immer wieder kontrovers diskutierte Rolle. 6 Auch der Musik kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn es gilt, ein Zeugnis des Glaubens abzulegen. 7 Eine sinnliche Erfahrung kann selbst für 4

Guardini, R.: Die Sinne und die religiöse Erkenntnis. Drei Versuche. 2. Aufl., Würzburg 1958, S. 47. 5 Maier, H.: Die Kirchen und die Künste. Guardini-Lectures. Regensburg 2008, S. 61. 6 Vgl. hierzu u. a. Belting, H.: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005; Schwebel, H.: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts. München 2002. 7 Vgl. hierzu u. a. Dober, H. M./Brinkmann, F. T. (Hrsg.): Religion, Geist, Musik. Theologisch-kulturwissenschaftliche Grenzübergänge. Wiesbaden 2019;

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Holger Zaborowski

einen Menschen, der sonst nicht an Gott glaubt, eine offenbarende Qualität annehmen. »Eine Kollegin aus Berlin«, so heißt es in Husch Jostens Roman Land sehen, »hat mir einmal anvertraut, beim Hören von Bachs Matthäus-Passion jedes Mal von tiefem Glauben erfüllt zu sein, während sie ansonsten nichts mit Gott zu tun hat.« 8 Doch dient das sinnlich Wahrnehmbare nicht allein als Medium, das etwas Nicht-Sinnliches zur Erscheinung bringt und dabei bestenfalls auch zu Freude führt. Es kann eine religiöse Bedeutungsverdichtung erfahren. So ist für Christen die Krippe nicht bloß ein Medium, das eine bestimmte, sinnlich nicht fassbare Bedeutung vermittelt, sondern ein Symbol des Glaubens. Ein Symbol ist, so Jörg Splett, »das Erscheinen von Sinn in Sinn«. 9 Splett vertieft seine Überlegungen zum Symbol folgendermaßen: »[…] etwas, das bereits in sich etwas ist und darstellt, wird […] zugleich zum Da-sein eines anderen.« 10 Wenn zu Weihnachten die Krippe aufgestellt und verehrt wird, dann nicht bloß als ein sinnliches Objekt, das in eher loser Weise an etwas erinnert oder auf etwas Bezug nimmt, sondern weil sich in ihr für den gläubigen Menschen die Menschwerdung Gottes und damit Christus – seine Geburt, aber auch sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung – zeigt. Jede Krippe weist daher über sich selbst als sinnlichen Gegenstand hinaus und bereitet einem anderen, tieferen Sinn Raum, der die Grundbotschaft des Christentums zusammenfasst. Von dieser Verdichtung des sinnlich Wahrnehmbaren ist es ein kurzer Schritt zu einer weiteren Verdichtung des Sinnlichen auf eine sinnlich gar nicht fassbare Dimension hin, nämlich zur Ikone, die, so Pavel Florenskij, »dasselbe wie eine himmlische Vision« sei, »und doch nicht dasselbe: eine Linie, die die Vision umreißt«, 11 die also einen Raum für etwas eröffnet, das nur dem inneren oder geistigen Auge zugänglich ist. Das Sinn-

Walter, M.: Musik – Sprache des Glaubens. Zum geistlichen Vokalwerk Johann Sebastian Bachs. Frankfurt i. Br. 1994. 8 Josten, J.: Land sehen. München/Berlin 2018, S. 127. 9 Splett, J.: Die Rede vom Heiligen. Über ein religionsphilosophisches Grundwort. 2. Aufl., Freiburg/München 1985, S. 308. 10 Ebd., S. 308. 11 Florenskij, P.: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland. Übers. und mit einer Einführung von Ulrich Werner. 2. Aufl., Stuttgart 1990, S. 71.

14 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Vertieftes Wohlgefallen

liche selbst, wie sich noch zeigen wird, kann aber auch als sichtbares Zeichen des unsichtbaren Gottes verstanden werden, und zwar nicht, weil der Mensch ihm diese Bedeutung zuschriebe, sondern weil Gott sich in allem sinnlich Wahrnehmbaren als Schöpfer zeigen kann. In besonderer Weise zeigt sich Gott, so der franko-chinesische Christ François Cheng, im Schönen: »Was die Schönheit angeht, so lässt sich objektiv beobachten, dass unser Gefühl für das Heilige, das Göttliche, nicht bloß auf der Feststellung des Wahren beruht, das heißt auf etwas, das seinen Gang geht und funktioniert, sondern viel stärker auf der des Schönen, das heißt auf etwas, das durch seine rätselhafte Pracht erstaunt, bezaubert und überwältigt.« 12 Die Überlegungen, die hier beispielhaft am Christentum entwickelt wurden, lassen sich mutatis mutandis auch für andere Religionen nachweisen: Zum religiösen Vollzug gehört sinnliche Erfahrung, und zwar insbesondere auch in den Religionen, bei denen im Zentrum des Glaubens ein einziger Gott steht, der selbst gar nicht sinnlich zu erfahren ist. Der Grund hierfür ist nicht nur ein theologischer, sondern zugleich auch ein anthropologischer: Der religiöse Glaube ist ein Vollzug der leiblich-seelischen Person und als solcher immer auch auf die Sinne bezogen. So wie für den Menschen keine Erkenntnis ohne die Vermittlung sinnlicher Anschauung möglich ist, so ist auch keine lebendige Religion ohne sinnliche Dimensionen denkbar. Der Glaube hat seinen »Ort« im Innersten eines Menschen. Der Glaubensvollzug selbst ist daher nicht sinnlich wahrnehmbar, und doch tritt er nach außen, hat eine Außenseite und zeigt sich in bestimmten Gesten, Worten, Symbolen, Werken oder Handlungen und wird so für andere Menschen sinnlich erfahrbar. Auch wenn es stark vergeistigte, also vom Sinnlichen in hohem Maße gelöste Formen von Religion oder religiöser Praxis geben mag, bedürfen diese aufgrund der sinnlichen Natur des Menschen doch immer auch der sinnlichen Vermittlung oder einer »Versinnlichung«. Religion und Ästhetik als Lehre von der sinnlichen Erfahrung stehen daher in einem engen Verhältnis. Religion hat eine ästhetische, sinnliche Dimension, ohne dass sie darauf reduziert werden könnte oder dürfte. Wo dies geschieht, zeigt sich die Gefahr einer Ästhetisie12

Cheng, F.: Fünf Meditationen über die Schönheit. Übers. von Judith Klein. München 2013, S. 30.

15 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Holger Zaborowski

rung von Religion und einer ästhetizistischen Theologie. 13 Dann nimmt das sinnlich Wahrnehmbare einen Primat gegenüber dem ein, was sich in ihm – als Tiefendimension, nicht einfach als ein von seiner äußerlichen Form leicht trennbarer Gehalt – zeigt, oder setzt sich an dessen Stelle. Das Endliche, das Mittel der Verkündigung, Symbol, Ikone oder Zeichen sein könnte, wird unter solchen Vorzeichen zu einem Idol, einem Götzen, in dem und durch den der Mensch sich selbst bestätigt. 14 Wahrheitsansprüche, die immer den Bereich des Sinnlichen überschreiten, wären mit einem solchen Glauben nicht mehr verbunden. Der Glaube kann unter solchen, heute nicht seltenen Voraussetzungen zu einer ästhetisch ansprechenden, oft aber inhaltsleeren Folklore werden. Die äußere, sinnlich wahrnehmbare Form hat sich dann von einer tieferen Bedeutung losgelöst oder bestimmt diese – wie etwa auch dann, wenn die Kunst selbst eine religiöse Bedeutung annimmt. 15

2. Zur Dialektik der Erfahrung des Schönen Für die Ästhetik ist das »Schöne« der Schlüsselbegriff oder – anders formuliert – ist die Unterscheidung von »schön« auf der einen und »hässlich« auf der anderen Seite von grundlegender Bedeutung. Jedoch ist kontrovers, was das »Schöne« eigentlich sei. 16 Das platonische Den13

Vgl. hier auch Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Band 1: Schau der Gestalt. Einsiedeln 1961, S. 34 f. 14 Vgl. zur selbstbestätigenden Dimension des Idols Reiter, J., »Phänomenologie des Nennens Gottes: Konsequenzen einer nicht nur methodologischen Verlegenheit in geschichtlich-systematischer Sicht«, in: Casper, B. (Hrsg.): Gott nennen. Phänomenologische Zugänge. Freiburg i. Br./München 1981, S. 125–163, 152 ff.; vgl. hierzu und zur Aktualität des alttestamentlichen Bilderverbots auch Guardini, R.: Die Sinne und die religiöse Erkenntnis. Drei Versuche. 2. Aufl., Würzburg 1958, S. 71 f. 15 Vgl. hierzu u. a. Müller, E.: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004. 16 Vgl. zur Krise des Schönen neben Scruton, R.: Schönheit. Eine Ästhetik. Aus dem Englischen von Reinhard Kreissl. München 2012, auch meine Überlegungen »Bild des Glaubens – Zeugnis der Versöhnung. Hans Kocks Neugestaltung von St. Cyriacus in Kellinghusen und die Stimmigkeit des Schönen«, in: Gott-

16 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Vertieftes Wohlgefallen

ken schreibt dem sinnlich wahrnehmbaren Schönen eine Teilhabe an einer sinnlich nicht erfassbaren Idee der Schönheit zu. Wer daher von Schönheit spricht, muss von dem Geiste zugänglichen Ideen und ihrer nicht sinnlichen Erkenntnis sprechen. In der Gegenwart wird das Schöne allerdings nur selten noch vor dem Hintergrund dieser Tradition, die der Schönheit selbst eine dem Menschen vorgegebene und sinnlich nicht wahrnehmbare Bedeutung zuschreibt, verstanden. Heute steht die Erfahrung im Vordergrund, dass verschiedene Menschen auch an Verschiedenem Gefallen finden und es daher für schön erachten. Einen allgemein verbindlichen Maßstab scheint es nicht zu geben. Man kann vor dem Hintergrund dieser Pluralisierung und Relativierung des Schönen bestenfalls von Moden oder Konventionen sprechen, die dazu führen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt eine gewisse Übereinstimmung in der Frage nach dem Schönen erreicht wird. Damit wird das Schöne zu einer Frage des subjektiven Geschmacks – über den bekanntlich nicht zu streiten ist. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass in breiten Strömungen der Gegenwartskunst das Schöne oder Schönheit auch keine Rolle mehr spielt – oder eben das Hässliche zum Schönen gemacht oder als schön gedeutet wird. 17 Im 19. Jahrhundert hat Nietzsche diesem Verständnis des Schönen einen radikalen Ausdruck verliehen. In der Götzen-Dämmerung stellt er in einem Aphorismus mit der Überschrift »Schön und häßlich« die These auf, dass »[n]ichts […] bedingter, sagen wir beschränkter« sei, »als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füßen.« Die Wurzel des Schönen liegt für Nietzsche in der wald, A./ Zaborowski, H. (Hrsg): Hans Kock. Bild des Glaubens. Die Neugestaltung der Feldsteinkirche St. Cyriacus in Kellinghusen 1974/75 und 1993. Regensburg 2020, S. 148–160. 17 Vgl. hier die pointierte Kritik moderner Kunst von Steiner, W., Venus in Exile. The Rejection of Beauty in 20th-Century Art, New York 2001. Vgl. zur Abkehr der Kunst vom Schönen auch François Cheng, Fünf Meditationen über die Schönheit, S. 109 f.: »Sie [die Kunst, H. Z.] beschränkt sich nun [im 20. Jahrhundert, H. Z.] nicht mehr darauf, ein Schönes zu preisen, das als solches anerkannt ist. In einer Art allgemeinem Expressionismus sucht das künstlerische Schaffen – ähnlich wie die Literatur, die schon früher dazu erwacht ist –, sich mit der gesamten Lebenswirklichkeit und allen Vorstellungen des Menschen zu befassen. Da es – außer auf der Ebene des Stils – nicht mehr allein auf das Schöne abzielt, schreckt es vor extremen Brüchen und Entstellungen nicht zurück.«

17 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Holger Zaborowski

»Lust des Menschen« an sich selbst, da schön jenes sei, »was ihm sein Bild zurückwirft«. Der Mensch, so Nietzsche, setze sich im Schönen »als Maaß der Vollkommenheit« selbst. Da der Mensch selbst »Ursache« des Schönen sei, was er, wie Nietzsche ausdrücklich betont, vergesse, sei auch das »›Schöne an sich‹ […] bloß ein Wort«. Nietzsche spricht somit von einer »sehr menschlich-allzumenschlichen Schönheit«. 18 »Schönheit« ist für ihn ein Anthropomorphismus. Dem Wort entspricht – abgesehen von der »Lust« des Menschen an sich selbst, d. h. von dem, was der Mensch in die nicht-menschliche Welt hineinlegt – nichts in der Wirklichkeit. Daher kann er im folgenden Aphorismus pointiert formulieren: »Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivität ruht alle Aesthetik, sie ist deren erste Wahrheit.« 19 Tatsächlich gibt es Erfahrungen des Schönen, die auf einen individuellen Geschmack, auf persönliches Wohlgefallen oder auch auf die Lust des Menschen an sich selbst reduziert werden können. Zumeist ist diese subjektive Dimension demjenigen, der eine solche Erfahrung macht, auch bewusst oder zumindest könnte sie ihm bewusst werden, wenn er über diese Erfahrung nachdächte. Über solche Erfahrungen wird daher oft in einer relativierenden Weise gesprochen. Man verweist darauf, dass man selbst dies oder das schön finde, wohingegen andere Menschen auch andere Vorlieben haben mögen. Doch gibt es Erfahrungen des Schönen – oder besser: Erfahrungen eines grundsätzlich anderen Schönen –, die diese Relativierung nicht erlauben und die umgekehrt jeden Versuch einer Relativierung radikal in Frage stellen. 20 In diesen vermutlich universellen, allen Menschen zugänglichen Erfahrungen zeigt sich ein Schönes, das eine Wirklichkeit beansprucht, die über bloß subjektive Gewohnheiten und Präferenzen hinausreicht. Das Schöne, das in solchen Erfahrungen zur Erscheinung kommt, ist für alle, d. h. an sich und nicht nur für mich, schön. Wenn jemand etwas derart Schönes erfahren hat, so berichtet er davon und möchte andere 18

Nietzsche, F.: Götzen-Dämmerung, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 6, München 1999, Nr. 19, S. 123. 19 Nietzsche, F.: Götzen-Dämmerung, Nr. 20, S. 124. 20 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den Ausführungen zur Dialektik von Reflexion und Transzendenz von Spaemann, R.: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«. Stuttgart 1996, S. 102 f.

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Vertieftes Wohlgefallen

Menschen an der Erfahrung des Schönen teilhaben lassen: »Schau, wie schön das ist!« Jedoch möchte er andere Menschen nicht dazu überreden, seine eigene Meinung zu teilen oder sich ihm anzuschließen. Weit eher geht es ihm darum, sie davon zu überzeugen, dass es etwas gebe, das unabhängig von allem Geschmack und allen Moden oder von den bloßen Meinungen oder Vorlieben einzelner Menschen schön sei. Dieses Schöne ist für den, der es erfährt, nicht nur scheinbar, sondern wirklich schön. In einer solchen Begegnung mit dem Schönen erfährt man Wirkliches, ohne dass man dieses verursacht hätte oder ohne dass man für das, was es ist, verantwortlich wäre. Der wahrnehmende Mensch transzendiert sich in der Erfahrung dieses Schönen auf etwas hin, das sich ihm gibt – in einer, wie François Cheng neben vielen anderen betont hat, manchmal erstaunenden, bezaubernden oder auch überwältigenden Weise. Doch kann sich diese Transzendenz auf Wirklichkeit hin immer auch als bloß subjektiver Gedanke zeigen. Unter den Vorzeichen einer vertieften Reflexion auf das Schöne kann gerade das wirklich Schöne als Ergebnis einer Setzung durch das Subjekt erscheinen: Was an sich schön zu sein beansprucht, ist, wenn man länger darüber nachdenkt, nur für mich schön. Aber gerade in seiner Gegebenheit für mich beansprucht dieses Schöne immer auch, an sich schön zu sein – was sich wiederum als ein bloßer Gedanke, als subjektive Setzung oder Geschmacksurteil deuten ließe. In diesen Überlegungen zeigt sich eine Dialektik, die sich durch das bloße Denken nicht auflösen lässt. Rein denkerisch, so scheint es, kann man diese Spannung nicht auflösen. Man verliert sich in einer unendlichen Dialektik von einem transzendierenden Ausgreifen auf Wirklichkeit auf der einen Seite und dem reflektierenden Verharren im bloßen Denken auf der anderen.

3. Zur Theologie des Schönen Für den religiösen Menschen, der an Gott als Schöpfer alles dessen, was ist, glaubt, zeigt sich diese Dialektik auch. Aber ihr bleibt nicht das letzte Wort. Ohne Zweifel gibt es auch im Bereich der Religion Fragen des Geschmacks und somit auch Dimensionen oder Erfahrungen des Schönen, die der subjektiven Wertung unterliegen. Doch zugleich kennt der religiöse Mensch die offenbarende Dimension von allem 19 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Holger Zaborowski

sinnlich Wahrnehmbaren, die in besonderer Weise das Schöne durchwaltet. Auch die sinnliche Welt ist eine Offenbarung Gottes. Allerdings zeigt sich in ihr Gott nicht einfach als sinnlich wahrnehmbar, sondern in ihr zeigt sich eine Spur zu Gott oder – vielmehr noch – eine Spur Gottes. Henri de Lubac hat daher die »große Welt« des Kosmos und auch die »kleine Welt« unseres Geistes als »Symbol oder Zeichen Gottes« gedeutet und dies folgendermaßen erklärt: »Nicht irgendein künstliches, nachträglich gewähltes, durch Konvention geltendes Zeichen, sondern ein natürliches, für uns notwendiges Symbol. […] Nie wird Gott unmittelbar und ohne Zeichen geschaut; sondern Gott leuchtet überall, wenn auch dunkel, durch die Welt hindurch. Jedes Geschöpf ist in sich selbst eine Theophanie. Alles ist voller Zeichen, Spuren und Rätsel. Von überallher strahlt die Gottheit hervor.« 21 Im Folgenden zitiert de Lubac Paul Claudel: »Ein reines Herz und ein steter Blick sehen alle Dinge vor sich durchscheinend werden.« 22 Die Welt selbst kann daher in ihrer reinen Weltlichkeit zu einer Ikone werden, zu einem Bild, das transparent wird, das, um mit Pavel Florenskij zu sprechen, eine Vision umreißt und in dem sich Spuren Gottes zeigen, nicht, weil der Mensch sie in die Welt hineinlegt, sondern weil »Gott mir ein Zeichen« gibt. 23 Für den glaubenden Menschen ist daher das Sinnliche und insbesondere das, was als wirklich schön erfahren wird, nicht einfach Gegenstand von bloß subjektiven Bewertungen oder Geschmacksäußerungen. In ihm zeigt sich der Schöpfer, der sich in der Welt seiner Schöpfung offenbart. Aus diesem Grund kann in der Tradition der mittelalterlichen Transzendentalienlehre auch alles, insofern es ist, als schön bezeichnet werden. Das Schöne, das Gott als Schöpfer offenbart, ist dabei von Gott her nicht nur für mich schön, sondern schön an sich. Denn im Schönen offenbart sich die Schönheit und Güte des Schöpfers. Gerade deshalb erzeugt es ein tiefes Wohlgefallen und schenkt Freude. Besonders aus christlicher Sicht ist diese Perspektive auf das Schöne noch zu ergänzen: um den Aspekt der Schrecklichkeit des Schönen. 21 22 23

Lubac, H. Kardinal de: Auf den Wegen Gottes. Freiburg i. Br. 1992, S. 76. Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 77.

20 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Vertieftes Wohlgefallen

Wenn auch die Ästhetik der Neuzeit das Wohlgefallen am Schönen in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellt, so kann doch eine solche Ästhetik nicht allein das Schöne fassen, in dem sich Gott zeigt. Dieses mag immer auch zu Wohlgefallen führen, doch ist ihm oft auch eine erschreckende und irritierende Dimension zu eigen. So gibt es gerade vor dem Hintergrund eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses die Erfahrung des Schönen, das mir – vielleicht nur zunächst – gar nicht wohl gefällt und die zu allem, was mir wohl gefällt, in Konflikt treten kann. Hans Maier hat bei aller Hochschätzung der Schönheit des Christentums und des von ihm erzeugten ästhetischen Wohlgefallens daher darauf aufmerksam gemacht, dass »christliche Ästhetik […] stets auch eine Ästhetik der Entäußerung« sei. 24 Das ist keine destruktive Ästhetik des Hässlichen, die an die Stelle des Schönen bewusst etwas Hässliches als Gegenpol setzt, um das Schöne zu karikieren oder zu ironisieren oder um jene Menschen, die es betrachten oder erfahren, zu irritieren und zu erschüttern. Es ist vielmehr eine von Wohlwollen gegenüber der Wirklichkeit gekennzeichnete Ästhetik, in der das Unscheinbare sich letztlich als bedeutsam, das Kleine sich als groß und das zunächst Hässliche, das den verbreiteten Kriterien des Schönen nicht zu genügen vermag, sich als schön zeigen kann. Dies ist die Ästhetik eines besonderen Lichtes, das, auch wenn es überlieferte Maßstäbe des Schönen voraussetzt oder aufgreift, diese doch zugleich radikal vertieft und wandelt. Es ist ein Licht, in dem sich nicht allein die schöpferische Kraft Gottes, sondern auch seine erlösende Liebe zeigt. In der Schönheit zeigt sich dann das Geheimnis der Erlösung. Dass die Schönheit die Welt erlösen werde, ist eine These Dostojewskis. Oder genauer: In Der Idiot wird Fürst Myschkin, der Christus nachfolgenden Hauptfigur, diese These in den Mund gelegt. Ippolit stellt dort fest, dass »der Fürst behauptet, daß Schönheit die Welt erlösen werde!« 25 Es ist kein direktes Zitat des Fürsten. Was darauf verweisen mag, dass man über das Schöne nicht in direkter Rede sprechen kann. Die erlösende Dimension des Schönen wird von Myschkin nicht einfach in einem Reden über das Schöne behauptet. Sie zeigt sich in 24

Maier, H.: Die Kirchen und die Künste. Guardini-Lectures. Regensburg 2008, S. 65. 25 Dostojewski, F. M.: Der Idiot. Aus dem Russischen übertragen von E. K. Rahsin. München/Zürich 1999, S. 588.

21 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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seinem Leben. Wie Christus bezeugt er das Schöne durch das, was er ist und wie er handelt. Doch ist dies kein Schönes, das ein letztlich oberflächliches Wohlgefallen erzeugt. Es ist ein Schönes, das sich erst auf den zweiten Blick als schön zeigt. Man bedarf einer tieferen Optik, um der Schönheit Myschkins – seiner besonderen Menschlichkeit und Güte – inne zu werden. 26 Das gilt selbst für den Roman Dostojewski, der nach überlieferten Maßstäben nicht »schön erzählt« ist, in dem aber plötzlich, ereignishaft sich eine Schönheit zeigt, in der das Sinnliche wie bei einer Ikone sich auf eine sinnlich nicht fassbare Bedeutung hin öffnet. So beobachtet Julien Green bei einer erneuten Lektüre von Der Idiot: »Vom ersten Kapitel an war ich fassungslos über die unbeholfene Ausarbeitung des Textes. Man kann diesen unwahrscheinlichen Anfang nicht glauben, dieses Gespräch in der Eisenbahn zwischen drei Personen, die einander nicht kennen.« Green berichtet von der Langeweile, die ihn beim Lesen ergriffen habe. Doch wird diese unterbrochen – nahezu wie in einem mystischen Erlebnis: »Und dann plötzlich, wie ein Blitz aufleuchtend, Passagen von einer Schönheit, wie sie in keiner Sprache erreichbar ist.« Für Green ist Tolstoi anders als Dostojewski ein »Erzähler ersten Ranges, aber Dostojewski besitzt die Einbildungskraft«. 27 In seinen Romanen wird nämlich etwas in besonderer Weise Bild, das über alle sinnlichen Bilder hinausweist. So zeigt sich das Schöne auch in der christlichen Kunst, die auf der einen Seite Ideale des Schönen, die sich außerhalb ihres Kontextes entwickelt haben, aufgreift und diese oft bis zur Perfektion weiterentwickelt, sie zugleich aber durchbricht, hinterfragt und in ein radikal anderes Licht stellt. Denn in ihrer Mitte steht die Botschaft vom Leben, Leiden, Sterben und von der Auferstehung Jesu. Diese Botschaft verdichtet sich im Symbol des Kreuzes, das zunächst gar kein Symbol, sondern ein Folter- und Hinrichtungsinstrument ist. Es steht zwischen Leben und Auferstehung Jesu. So künstlerisch dieses auch ausgestattet sein mag, so sehr durchbricht es alle Vorstellungen über das Schöne. Ganz unabhängig von Fragen der Deutung des Kreuzestodes Jesu gilt, 26

Vgl. hierzu auch mein »Das Gesetz des Mitleids. Zu Fjodor Dostojewskis ›Der Idiot‹«, in: Zaborowski, H.: Tragik und Transzendenz. Spuren in der Gegenwartsliteratur. Ostfildern 2017, S. 37–46. 27 Green, J.: Tagebücher 1990–1996. Aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Elisabeth Edl. München 1999, S. 138.

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Vertieftes Wohlgefallen

dass die Darstellung eines gekreuzigten Menschen kein primär ästhetisches, auf die Sinne bezogenes Wohlgefallen erzeugen kann – und darf. Das Christentum begrenzt daher jede Ästhetik des bloß sinnlichen Wohlgefallens. Und doch kann in vielen Kreuzen – wie auch in vielen Vertonungen der Passion Christi – etwas Schönes erscheinen, das zu einem religiösen, nicht rein sinnlich verstehbaren vertieften Wohlgefallen führen kann. In dieser Schönheit eröffnet sich etwas, das selbst nicht sinnlich wahrnehmbar ist, aber allem Sinnlichen eine neue Orientierung gibt und die Welt verwandeln kann. 28 Es zeigt sich im Kreuz nicht nur die Hoffnung der Christinnen und Christen auf Christus und somit auf die Überwindung des Todes. In ihm zeigt sich, und zwar allen Menschen, auch die Würde des leidendenden, geschundenen und sterbenden Menschen. Seine Schönheit lässt den leidenden Menschen in einem neuen Licht erscheinen. Das Kreuz ist daher ein zutiefst revolutionäres, die Geschichte und menschliches Zusammenleben veränderndes Symbol. Es verweist auch auf die Aufgabe, die Welt so zu gestalten, dass Leid gemindert und Leidende getröstet werden. Der Schrecken des Schönen wird daher doppelt gebrochen und aufgehoben: einerseits durch die Hoffnung darauf, dass letztlich alles gut werde, und andererseits durch den mora-

28

Dies zeigt etwa der große Gekreuzigte des Künstlers Hans Kock, der im Zentrum seiner Neugestaltung des Greifswalder Domes steht. Das Kreuz von Kock ist schön. Es kann Wohlgefallen erzeugen. Aber gerade ein bloß äußerlich-sinnlich verbleibendes Wohlgefallen ist nicht das Anliegen dieses Werkes. Es ging Kock – wie vielen anderen Künstlern, die den gekreuzigten Christus dargestellt haben – nicht darum, etwas allein sinnlich Schönes zu erschaffen, sondern darum, über das bloß Sinnliche hinaus eine nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Wahrheit – die Wahrheit der Erlösung – sich zeigen zu lassen. Aus diesem Grunde hat er auch den überlieferten Titulus des Kreuzes verändert. Man liest in Greifswald nicht mehr »I. N. R. I.« (nach Joh 19,19–22), sondern »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Vgl. zu Kocks Neugestaltung des Greifswalder Domes auch meinen Aufsatz »Wer Kunst sagt, spricht vom Menschen.« Der ›Gekreuzigte‹ des Bildhauers Hans Kock im Greifswalder Dom«, in: Gottwald, A./Zaborowski, H. (Hrsg.): Licht – Mitte – Raum. Die Arbeiten des Bildhauers Hans Kock im Greifswalder Dom. Regensburg 2017, S. 167–176. Zum Kreuz und zu seiner künstlerischen Darstellung – hier am Beispiel eines Werkes von Margaret Marquardt – vgl. auch Stadler, A.: Da steht ein großes JA vor mir. Zu einer Arbeit von Margaret Marquardt. Mit einem Nachwort von Niklaus Peter. Erw. Auflage. Salzburg/Wien 2016.

23 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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lischen Imperativ, die Welt zu einem besseren, die Würde des Menschen stärker schützenden Ort zu machen. Es mag sogar eine Grunderfahrung des Menschen sein, dass das, was schön ist, auch gut ist und dass das, was gut ist, auch schön ist. Jeder, der sich vom Schönen wirklich betreffen lässt, verharrt daher weder im bloß sinnlichen Wohlgefallen am Schönen noch im Schrecken, der durch das Schöne hervorgerufen werden kann, sondern wandelt sich und die Welt. Ästhetik und Ethik sind eng aufeinander bezogen – nicht nur im christlichen Kontext. Diese Wandlung des Menschen in der Erfahrung des Schönen geschieht jedoch nicht automatisch. Sie ist nicht vorhersehbar und auch nicht von außen erzeugbar. Sie setzt eine bestimmte Offenheit voraus. Man muss etwas geschehen lassen. Und zugleich muss sich etwas ereignen. Das Schöne selbst muss sich zeigen. Daher bedarf das Schöne, so natürlich der Zugang zu ihm auf der einen Seite ist, immer auch der Einübung, einer Bildung oder Erziehung zum Schönen. Und es bedarf der Geduld, der Aufmerksamkeit für das Ereignis des Schönen, das, gerade wenn man es zu sehr ersehnt oder gar zu begreifen versucht, sich immer wieder entzieht und auf sich warten lässt. Dann zeigt sich das, was ist, als bloß sinnlich Wahrnehmbares, das einmal hier, einmal dort Wohlgefallen erzeugt. Nietzsche, so mag man dann denken, hatte doch recht, als er das Schöne auf die Lust des Menschen zurückführte – bis eine Erfahrung des wirklich Schönen diesen Anthropomorphismus radikal in Frage stellt und mit dem Schönen die ganze Welt in ein anderes, über das Sinnliche hinausweisendes Licht stellt.

24 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Religion in filmisch-serieller Inszenierung Christliche Perspektive Christian Wessely (Graz)

Die Freude über die Gelegenheit, diesen Beitrag verfassen zu dürfen, geht einher mit gewissen Bedenken, die sich aus der Themenstellung herleiten. Es geht letztlich um ein Metaproblem: die Darstellung einer Darstellung; denn wenn etwas filmisch inszeniert wird, so wird es ja schon dargestellt. Im Wesen der Darstellung liegt aber nun schon ein notwendiges Maß an Abstraktion und Idealisierung; und wenn nun diese Darstellung im Rahmen eines Artikels – der notgedrungen Einschränkungen unterliegt – wiederum dargestellt wird, so gilt es, sich dieses doppelten Encodierens und Verweisens bewusst zu sein. Und dann gibt es natürlich die Gefahr, etwas (z. B. einen Bestandteil der Lehre, oder eine bestimmte Medieninterpretation) als spezifisch in Anspruch zu nehmen, obwohl es auch in den bzw. für die Geschwisterreligionen vorhanden sein könnte. Davor bin ich nicht gefeit. Ich versuche es zu vermeiden; wo mir das nicht gelingt, bitte ich um Nachsicht.

1. Grundlegendes 1.1. Zum Handwerklichen In diesem Beitrag soll es um einige Beispiele dafür gehen, wie christliche Motive im Genus der Fernsehserie verwendet werden. 1 Dabei werden zwei grundlegend unterschiedliche Möglichkeiten in Betracht 1

Schon die Bezeichnung des Genus ist irreführend, tritt doch die reine Fernsehserie zugunsten der Produktionen von Streamingdiensten zunehmend in den Hintergrund. Dieser Unterschied wird im vorliegenden Beitrag allerdings nicht gemacht.

25 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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gezogen: Die ikonisch eindeutige Verortung eines medialen Inhaltes im Bereich der christlichen Religion, und die Interpretation einer primär nicht als religiös wahrgenommenen Handlung einer oder mehrerer Episoden einer Serie aus der christlichen Perspektive. Die Betrachtung eines konkreten Religionssystems, nämlich einer Offenbarungsreligion, im Hinblick auf seine mediale Potenz ist unter diesen Bedingungen in jedem Fall ein heikles Unterfangen. Was hier als System begegnet, erhebt ja im Unterschied zu anderen (politischen, ideologischen, philosophischen …) Systemen den Anspruch, in seinem Kern auf kein menschliches, sondern auf göttliches Handeln zurückzugehen. Diese Voraussetzung trifft unterschiedslos jeden, der sich mit dem Religionssystem befasst – sei diese Person Insider, also glaubend, oder Outsider, also analysierend oder in unterschiedlichem Umfang kritisch. Nun ist der Verfasser dieses Beitrages einerseits katholischer Theologe, also von Berufs wegen wissenschaftlich mit der christlichen Botschaft und ihrer Geschichte befasst, andererseits auch selbst praktizierender Katholik, also im Wesentlichen von deren Wahrheit überzeugt. Diese Perspektive muss redlicherweise offengelegt werden, um folgende Einschränkungen zu rechtfertigen: • Die fachliche Blickrichtung auf die analysierten Produkte ist die der Fundamentaltheologie, also unter der Fragestellung der geschichtlichen Äußerungsformen von Offenbarung, konkret in der säkularisierten Konsumgesellschaft. • Die persönliche Blickrichtung ist eine römisch-katholische (nützlicherweise, denn innerhalb der vielfältigen und reichen christlichen Traditionen ist in ihr sowohl Bildaffinität als auch Technikaffinität wohl am ausgeprägtesten vorhanden). • Die lokale Blickrichtung ist eine »westliche«, also eine von der dominierenden Interpretation europäisch-angloamerikanischer Ausprägung beeinflusste. Dies einerseits, weil tatsächlich die kulturelle Hegemonie der westlichen Formsprache die globale Medienproduktion nachhaltig geprägt hat; andererseits, weil der Autor in anderen Kontexten schlicht nicht kundig genug für wissenschaftlich sinnvolle Aussagen ist. Unter diesen Bedingungen sollen die folgenden Ausführungen verstanden werden; zu hoffen ist, dass ihnen dennoch (oder vielleicht: deswegen?) einiges Sinnvolles entnommen werden kann. 26 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Religion in filmisch-serieller Inszenierung

1.2. Zum Medium Audiovisuelle Medien beherrschen den Alltag des durchschnittlichen Menschen. Hochgerechnet verbringt jede Person über 12 Jahre 290 Minuten pro Tag vor dem Bildschirm, davon 192 Minuten vor dem Fernseher. 2 Im deutschen Sprachraum konkurrieren einander jeweils ca. 150 öffentlich-rechtliche und private, frei empfangbare, 90 kostenpflichtige und zusätzlich 240 regionale TV-Programme bei einer Gesamteinwohnerzahl von knapp 100 Millionen Einwohnern. Bis auf die öffentlich-rechtlichen werden alle frei zugänglichen Sender über Werbeeinnahmen finanziert, sodass es enorm wichtig ist, entsprechende Einschaltquoten zu haben, denn diese bestimmen die Werbewirksamkeit und damit den Marktpreis der Werbeminute. 3 Hinzu kommt eine wachsende Anzahl von Streamingdiensten. Netflix, Amazon Prime, Maxdome und andere haben eine wachsende Zahl von zahlenden Abonnenten, die sich einerseits Werbefreiheit erwarten (auch in den öffentlich-rechtlichen Sendern gibt es ja Werbung, nur nicht als Sendungsunterbrechung) und andererseits auf ein breit gefächertes Angebot von On-Demand-Sendungen zurückgreifen wollen. Der Markt ist daher sehr umkämpft; umso zentraler ist es für die Produzenten von Content, hocheffektives Material vorzulegen. Der Content unterliegt nun Beschränkungen in der visuellen Dimension (jedes Endgerät hat eine definierte Auflösung, und jeder Bildausschnitt hat bestimmte Grenzen), der zeitlichen Dimension (ein Serienformat hat in der Regel zwischen 40 und 50 Minuten pro Episode, ein Langfilm zwischen 100 und 120) und der auditiven Dimension (nur eine begrenzte Anzahl von Audioinformationen ist sinnvoll kombinierbar). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selektion nach filmsemantischen Kriterien möglichst effektiver Nutzung von Bild,

2

https://der.orf.at/medienforschung/fernsehen/fernsehnutzunginoesterreich/ index.html [2. 7. 2019]. Von der »Wachzeit« des Tages entfallen damit ca. 30 % auf den Konsum audiovisueller Medien (im Folgenden AV-Medien). 3 Vgl. https://www.werbung-marketing-pr.com/so-teuer-ist-fernsehwerbung/ [2. 7. 2019]. Der Preis ist auch noch abhängig von Sendeplatz und Position im Werbeblock, aber in jedem Fall unmittelbar im Zusammenhang mit dem zu erwartenden Impact.

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Ton und Zeit. 4 Besonders effektiv ist die Nutzung ikonischer Einheiten, die bereits möglichst gut im Bewusstsein der Rezipienten verankert und daher assoziative Bedeutungsträger sind. Andererseits müssen sie offen genug sein, um sich kontextuell flexibel verorten zu lassen. Aus diesem Grunde betrachte ich die im Titel dieses Beitrages angezogene Präsenz »des Christlichen« in filmisch-serieller Inszenierung vor allem in Hinblick auf die besondere Eignung für die filmsemantische Anwendung.

2. Die christliche Perspektive Weiters ist es notwendig zu definieren, was als die »christliche Perspektive« verstanden werden soll. Dazu sollen in aller Kürze einige wesentliche Punkte angerissen werden.

2.1. Gemeinsames Die abrahamitischen Religionen sind durch ein unzerreißbares Band miteinander verbunden: durch den Glauben an den einen persönlichen Gott, dessen Zusage Abraham so rückhaltlos vertraut, dass er seine bisherige Existenz daransetzt, um sich – dem Anruf dieses Gottes gemäß – in das Unbekannte aufzumachen. Dieser Gott ist zugleich Schöpfer, Erhalter, aber auch Richter; die gesamte Existenz des Seienden schlechthin hängt an ihm und nur an ihm. Dabei ist er als »ganz anderer« ein Offenbarender: Bedingt durch die Unmöglichkeit, als Urgrund und Vorseiender allen Seins vom konkreten Seienden aus sich heraus erkannt zu werden, ist er ein Offenbarender. Indem er sich offenbart und – im Wege dieser Offenbarung – sich auch als ein Hörender (die religiöse Sprachform des Gebetes als an Gott gerichtete) und Reagierender (das Handeln Gottes in der konkreten Geschichte) erweist, zeigt er sich als kommunikativer Gott. Diese Sätze umreißen zunächst das »Was« Gottes. Aber auch über sein »Wie« herrscht in den wesentlichen Grundzügen Einigkeit zwi4

Vgl. Monaco, J.: Film verstehen. Kunst. Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Reinbek 1993, S. 161–175.

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schen jüdischer, christlicher und muslimischer Auffassung. In der Sprachtradition der mittelalterlichen Scholastik 5 wird von Einheit, Ewigkeit und Vollkommenheit ausgegangen 6 und auf dieser Grundlage Allmacht, Allwissenheit und Barmherzigkeit postuliert. Hergeleitet wird diese Folgerung aus der Substanz der Offenbarung einerseits, aus dem Befund der Tradition andererseits und dritterseits – insbesondere im aristotelisch geprägten Ansatz des Thomas v. Aquin und der von ihm begründeten Tradition – aus der Beobachtung der Phänomene der Welt. Bis hierher ist wohl in der überwiegenden Mehrheit der Denkschulen von großer Einigkeit hinsichtlich der Gottesidee auszugehen.

2.2. Trennendes Nun gibt es aber Spezifika, die die abrahamitischen Religionen trennen. Als die wesentlichsten spezifisch christlichen Ausprägungen können die Folgenden bezeichnet werden: Die Messiashoffnung der Menschen, also die Ankunft eines in göttlicher Autorität handelnden Retters, der Welt und Gott umfassend miteinander versöhnt, ist in Jesus von Nazaret in Erfüllung gegangen. 7 Die Beziehung Jesu zu Gott ist so eng, dass sie klassischerweise mit der Bezeichnung »Sohn Gottes« ausgedrückt wird; eine Apostrophierung, die zugleich aber ungenügend ist und daher auch als Identität (»göttliche Person«) verstanden wird. Sowohl »Sohnschaft« als auch »Identität« bilden dabei jedoch die Wirklichkeit Gottes nicht völlig ab. 8 In der Leidensgeschichte, dem Tod am Kreuz und der Auferstehung des Jesus von Nazaret wird dieser als der Christus, der Gesalbte Gottes, ausgewiesen. Durch ihn sind für alle Menschen guten Willens Sünde und Tod überwunden, und das Heil Gottes steht der ganzen Schöpfung offen. Die Taufe als Eingliederungshandlung in die christ-

5

Thomas v. Aquin: Summe der Theologie I, hgg. v. Bernhart, Joseph, Untersuchung 3, 4 und 7, Stuttgart 1985. 6 Werbick, J.: Eigenschaften, S. 529. 7 So z. B. biblisch Hebr 1,1 f.; in den Dokumenten des II. vatikanischen Konzils: Dei Verbum I.2 (DH 4202); Dei Verbum I.4 (DH 4204). 8 Wessely, C.: Einfach katholisch. Was katholische Christen glauben und wie sie feiern. Innsbruck 32013, S. 20 f.

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liche Gemeinschaft bewirkt die Vergebung der Sünden und die unwiderrufliche Zusage der Liebe Gottes; die Rede von der Trinität verweist darauf, dass der eine und unteilbare Gott sich dem Menschen in dreifacher Weise jeweils personal zuwendet (die Aspekte des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes). Das Endziel des göttlichen Heilswillens ist die Erlösung des Menschen, also seine Existenz in der unmittelbaren Nähe (»Anschauung«) Gottes, die aber – da Gott auch ein Gerechter ist – von der menschlichen Entscheidung abhängt, gemäß Gottes Willen oder gegen diesen zu leben. Zusätzlich müssen nun noch einige Auffassungen genannt werden, die spezifisch katholisch sind und von anderen christlichen Kirchen nur bedingt oder nicht geteilt werden: Zunächst ist das naturgemäß die Rolle der Kirche selbst, die nicht nur als Organisationsform gesehen wird, sondern selbst als »Wirken Gottes in der Geschichte« zu betrachten ist. Daher ist auch die kirchliche Tradition, die ihren Ursprung nicht in jedem Aspekt unmittelbar in den biblischen Schriften gründet, mehr als bloßes geschichtliches Zeugnis, sondern wird teilweise als heilsrelevant betrachtet – die Lehre von den Sakramenten und deren Wirksamkeit grenzt z. B. den Katholizismus von den protestantischen Gemeinschaften einigermaßen scharf ab. Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Beitrages sind das vor allem die Lehre von der Eucharistie (dass Gott selbst im Rahmen der gottesdienstlichen Feier in den »Gestalten« von Brot und Wein gegenwärtig ist, und der sich daraus ergebende liturgische Rahmen), 9 von der Sünde und deren Vergebung im Bußsakrament (meist inszeniert als Beichte). Ebenso wichtig ist ein organisatorisches Detail: Das katholische Christentum ist die einzige Großreligion, die weltweit zentralistisch geleitet wird, und zwar nicht nur in Fragen der inneren Verfassung, sondern auch in zentralen religiösen Fragen, für die das Oberhaupt der katholischen

9

Diese Sichtweise der liturgischen Feier – die die katholische mit der orthodoxen Kirche teilt – hat detaillierte Regelungen für Ausstattung und Ablauf des Gottesdienstes zur Folge, die eine besonders sinnliche Ausrichtung betreffen: In der Eucharistiefeier in ihrer Vollform wird jeder Sinn des Menschen angesprochen; natürlich auch und in besonderer Weise Gesicht und Gehör. Die visuelle und auditive Dichte der rituellen Handlung (und deren Ausstattung) kommt naturgemäß dem Medium Film sehr entgegen.

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Religion in filmisch-serieller Inszenierung

Weltkirche, der Papst, auch Unfehlbarkeit 10 in Anspruch nehmen kann (das »Lehramt«), dazu weiter unten Näheres. 11 Für die konkrete christliche Person, die ihren Glauben praktiziert, ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: • Es ist wichtig, in lebendiger Beziehung zu Gott zu sein; diese äußert sich im individuellen Gebet und in der Teilnahme an der gottesdienstlichen Feier. 12 • Es ist wichtig, immer neu und authentisch die Stärkung des Glaubens in den Sakramenten zu erfahren. 13 • Es ist wichtig, den Glauben im christlichen Handeln im Alltag sichtbar zu machen, wobei dieses Handeln nach Weisung und Beispiel Christi erfolgt. 14

10

Dass diese Unfehlbarkeit in Moral- und Glaubensfragen bisher noch selten ausgeübt wurde, ändert nichts an der Prägnanz und Einzigartigkeit des theoretischen Anspruches. Dieser und die Idee der Heilsrelevanz der kirchlichen Lehre sind gleichermaßen entlastend (der einzelne Mensch trägt nicht mehr die alleinige Verantwortung für sein gottgefälliges Leben, sofern er sich an die kirchlichen Lehren hält) wie auch belastend (die Gewissensentscheidung des Einzelnen kann im Konflikt mit einer Lehre aus der kirchlichen Tradition stehen). Diese Divergenz wird in unterschiedlichen Filmen thematisiert, z. B. Priest (Der Priester). Antonia Byrd. UK 1994. 11 Zu diesen Spezifika vgl. Wessely: Einfach Katholisch, S. 19–21. 12 Die Gottesdienstfeier ist in der Regel eine öffentliche Handlung in einem öffentlichen Sakralraum; ob als eucharistische oder als Wort-Gottes-Feier angelegt, hat sie doch jeweils einen distinkten und einprägsamen Rahmen und ihre Formen in Kleidung, Wechselgebet, Musik etc. 13 Drei in den protestantischen, sieben in den katholischen und orthodoxen Kirchen. Die Sakramente sind sinnlich außerordentlich stark geprägte und unmittelbar wirksame Symbolhandlungen, die sich in besonderer Weise zur medialen Darstellung eignen. Vgl. Wessely: Einfach Katholisch, S. 38. 14 Es ist hier nicht der Ort, eine Darstellung des angemessenen christlichen Handelns zu unternehmen; in sehr komprimierter Form kann man an die »Werke der Barmherzigkeit« erinnern. Als die sieben Leiblichen gelten: die Hungernden speisen, die Durstigen tränken, die Nackten bekleiden, die Fremden als Gäste behandeln, die Kranken besuchen, den Gefangenen Zuwendung bringen und die Toten begraben. Die sieben Geistlichen sind: Die Unwissenden lehren, den Suchenden raten, die Trauernden trösten, die Sünder zurückführen, den Beleidigenden vergeben, die Lästigen ertragen und für die Anderen beten. All dies ist aus dem Geist der Zuwendung zu Gott und nicht um des Eigennutzes willen auszuführen – dann handelt man christlich.

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Jesus als der Heilende, Rettende, Wundertätige, Leidende, Sterbende, Auferstandene und Richtende; die heiligen Zeichen von Kreuz und Kruzifix, Brot und Wein, Weihwasser und Weihrauch, liturgischer Kleidung und spezifischer Architektur; das heilbringende und barmherzige Handeln des Einzelnen: So wird Christsein anschaulich. 15 Eine Inszenierung des Christlichen kann und wird daher einen oder mehrere dieser Punkte, und zwar affirmierend oder negierend, umfassen müssen.

Abb. 1: Der Exorzist. William Friedkin. US 1973. TC: 01:45:14. Das Musterbeispiel einer vordergründigen Inszenierung des »typisch Christlichen« im Film: Die Macht des Gebetes (scil. die Macht Gottes) besiegt das Wirken des Bösen. Ikonisch: Violette Stola, Weihwasser (am Nachttisch), das Rituale Romanum, das Kruzifix (neben dem Weihwasser, verdeckt). Dramaturgisch: Das Ritual des Exorzismus. Dass diese Kombination spezifisch katholisch ist, muss nicht weiter erläutert werden (Screenshot: Wessely). 16 15

Einen hervorragenden »externen« Blick zur Relevanz des Christentums für die Kunstgeschichte Europas hat Kermani, N.: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München 2016 beigesteuert. Die Frage, wie man diesen Jesus von Nazaret darzustellen habe, der doch dogmatisch als göttliche Person gilt, ist allerdings auch in der internen Perspektive eine konfliktreiche, vgl. die Problematik des ostkirchlichen Bilderstreites im 8./9. Jh. inkl. der (politisch motivierten) Beschlüsse der Synode von Frankfurt 794, oder der abendländische Bildersturm im Gefolge der reformatorischen Bewegungen im 16. Jh. 16 Max von Sydow verleiht der Gestalt des P. Merrin hoch verdichtete Glaubwürdigkeit. Zur Ausgestaltung der Rolle des Klerikers und ihrer Spannweite vgl. Heimerl, H./Kienzl, L. (Hg.): Helden in Schwarz. Priesterbilder im populären Film. (Film und Theologie 27) Marburg 2014.

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Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Komplexität des Glaubens in den abrahamitischen Religionen ganz allgemein und besonders im Christentum lässt die Sprache an ihre Grenzen stoßen. Um die Heilswirklichkeit Gottes zu beschreiben, fehlen dem Menschen ganz buchstäblich oft die Worte – die göttliche Wirklichkeit ist in keiner Sprache umfassend ausdrückbar; hier hilft nur Zuflucht zur Bildlichkeit. Und das kommt der spezifischen medialen Potenz des Christentums sehr entgegen.

3. Inszenierungsbeispiele Das Christentum ist seiner Anlage nach eine mediale Religion. Das gilt natürlich in gewissem Maße für alle Offenbarungsreligionen: Die Gottheit, die sich offenbart, muss sich aufgrund ihres wesenhaften und notwendigen Anders-Seins dem Menschen medial mitteilen, weil diese – und das sind die unhintergehbaren Rahmenbedingungen für jede Offenbarung – in einer konkreten Zeit leben, sich einer konkreten Sprache bedienen und in einer konkreten Sozialgemeinschaft verbunden sind. 17 Im Christentum ist – im Unterschied zu Judentum und Islam – das Medium der Schrift nicht das Offenbarungsmedium schlechthin, in dem Gottes Heilszusage und der menschliche freie Entscheidungsakt, auf diese zu hören, aufeinandertreffen. Die Schrift ist vielmehr die Kompilation der Heilserfahrungen konkreter Menschen mit dem sich ihnen in Jesus Christus als Person zuwendenden Gott. 18 Nun ist eine zentrale Anforderung an jedes Medium (und mithin ein Prüfstein für dessen Glaubwürdigkeit) die in je eigenem Maße gegebene Übereinstimmung seines Inhaltes im hermeneutischen Horizont seiner Rezeption mit dem durch den Sender bzw. die Senderin 17

Zu verweisen ist hier u. a. auf die Studie von Fischer, M.: Was ist Offenbarung? Analyse und Diskussion der Konzepte von Karl Barth und Karl Rahner. Marburg 2003, insb. S. 123 ff., der diesen Ansatz für das Christentum anhand zweier theologischer Leitgestalten des 20. Jh. bearbeitet. Zentral ist natürlich die Lehre von der vorauseilenden liebenden Zuwendung Gottes, der eine entsprechende Transzendenzfähigkeit des Menschen gegenübersteht, wodurch letztlich eine Einschränkung des Offenbarungsbegriffes auf die monotheistischen Religionen in der abrahamitischen Tradition naheliegt. 18 So z. B. Dei Verbum III.12 (DH 4217).

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intendierten Gehalt. Somit ist klar, dass sich hier wesentlich das Problem der Authentizität stellt. Dieses Problem gilt in besonderer Weise, wenn nicht ein materiell festmachbares und entsprechend (z. B. mit zeitgemäßen textkritischen Methoden) analysierbares Gegenständliches, sondern vielmehr ein lebendiges, dynamisch-prozessuales Sein zum Träger dieses intendierten Gehaltes wird. Das mediale Ereignis findet in einem konkreten dynamischen Prozess statt. Statt eines relativ statischen Modells von Sender, Medium und Empfänger ist insbesondere im Bereich der audiovisuellen Medien davon auszugehen, dass sich der hermeneutische Horizont des Empfängers ständig ändert. Jedes Bild determiniert die folgenden Bilder; jeder semantische Kontext determiniert die folgenden (und die Interpretation der vergangenen). Zugleich greift der Prozess immer auf konkrete Kenntnisse zurück, die auf Seiten des Rezipienten schon vorhanden sein müssen. Am einfachsten lässt sich diese These anhand eines einfachen Cartoons demonstrieren: Der Meister des sparsamen Striches, Sergio Aragones, bekannt vor allem durch seine MAD-Marginalien, versteht es wie kaum sonst jemand, in eine von verbalen Botschaften völlig freie Darstellung eine geradezu unheimliche Bedeutungsdichte zu packen – die aber seitens des Rezipienten eine hohe Dichte an determinierendem Wissen voraussetzt.

Abb. 2: Aragones, S.: Arche, in: Aragones, S.: Die größten Werke aus fünf Jahrzehnten, Stuttgart 2011, S. 236 (Marginalie).

Auf der Ebene der (stark reduzierten) Darstellung ist ein Wasserfahrzeug zu erkennen, das mit stilisierten Dinosauriern und einer menschlichen Gestalt beladen ist. Ebenso ist erkennbar, dass das Schiff offenbar leck geschlagen ist. Um den Cartoon zu »verstehen« – ihn also witzig zu finden – muss man wissen, dass Dinosaurier ausgestorben sind, und die biblische Sintfluterzählung kennen. Ikonografisch ist auch die Darstellung des Mannes von Bedeutung: Er ist alt und bärtig, eine prototypische 34 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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Zeichnung der biblischen Patriarchengestalten. Die Botschaft erschließt sich erst durch diese Kenntnisse: Die Dinosaurier sind ausgestorben, weil ihre Arche ein Leck hatte. 19 Diese konkrete Illustration trägt eher zufällig religiöse Züge. Doch ganz allgemein ist auffällig, welch starke Affinität das zunächst nur visuelle, später audiovisuelle Medium Film zu religiösen Inhalten hatte. Die religiöse Sozialisation des 20. Jh. war noch so vorherrschend, dass einerseits die Kenntnis heute eher randständiger Themen vorausgesetzt werden konnte, andererseits das Publikum durch einen Film mit religiöser Thematik noch gut mobilisiert werden konnte. 20 Anfang des 21. Jh. sind diese grundlegenden religiös-kulturellen Kenntnisse in wesentlich geringerem Umfang vorhanden, die Entscheidungsoptionen des Individuums zahlreicher, und die Autorität der kirchlichen Organisationen ist nur noch gering. Es ist vor diesem Hintergrund eigentlich erstaunlich, wie präsent die spezifisch christliche (näherhin katholische) Bildwelt dennoch ist. Für diesen Beitrag ist nun von besonderem Interesse, wie sich im filmisch-seriellen Bild eine besondere Bedeutungsverdichtung insbesondere für eine christliche Perspektive ergeben mag. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Serien in einem säkularen Kontext, die christliche Motive aus unterschiedlichen Motiven mitverwenden und Serien, die sich konkreter kirchlicher Traditionen bedienen. Ich möchte beispielhaft auf die Serien Luke Cage und Borgia 21 eingehen und diesen Blickwinkel mit ein paar Querverweisen auf andere Produkte zusätzlich illustrieren. 22

19

Dabei wird ganz nebenbei auch deutlich, dass ein Witz, den man erklärt, leider nicht mehr witzig ist. 20 So z. B. Hasenberg, P.: Der Film und das Religiöse, in: Hasenberg, P./Luley, W./Martig, C. (Hg.): Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahren Kinogeschichte. Mainz 1995, S. 17 f. 21 Luke Cage. Cheo Hodari Coker. Netflix. US seit 2016; und Borgia. Oliver Hirschbiegel, Metin Hüseyin, u. a. Sky Italia/ORF2. D/FR/IT/AT/CZ 2011– 2014. 22 In älteren Produktionen wäre dies noch leichter zu demonstrieren, z. B. anhand der Rolle der Jesuiten in Shogun. Jerry London. NBC. US/JP 1980. Diese sind jedoch inzwischen nur für Nostalgiker sehenswert und haben keinen prägenden Einfluss auf die jüngere Generation von Zuseherinnen und Zusehern.

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3.1. Der Stoff, aus dem Legenden sind: Die Päpste Die katholische Kirche verfügt wie schon angedeutet über eine einzigartige Struktur. Nur wenige Religionsgemeinschaften haben ein einzelnes Oberhaupt mit weltweit anerkannter Autorität; und keine ist so strikt organisiert und reguliert wie diese Gemeinschaft, die über 20 Teilkirchen und ca. 1,3 Milliarden Mitglieder weltweit umfasst. Dem Anspruch nach ist diese Kirche eine absolute Monarchie, der Papst als ihre höchste Instanz, nicht hinterfragbare Autorität in Glaubens- und Sittenfragen. Aus dem politisch wenig einflussreichen, aber religiös hoch geachteten Amt der ersten Jahrhunderte war durch das Machtvakuum in der Folge des Niederganges des weströmischen Reiches ein wesentlicher politischer Faktor geworden. Der überwiegenden Mehrzahl der Päpste gelang es erstaunlich gut, die Balance zwischen religiöser und politischer Rolle zu finden, doch sie bieten Medienproduzenten wenig attraktiven Stoff. 23 Päpste hingegen, die sich – wie paradigmatisch Alexander VI. – über die Konventionen hinwegsetzten und im strikten Sinne völlig unwürdige Amtsträger waren, eignen sich eben aufgrund dieser Diskrepanz hervorragend für jede mediale Bearbeitung. Im Papsttum vereint sich (aus Sicht der Gläubigen) eine religiöse und eine organisatorische Komponente; im Papsttum haben sich jahrhundertealte Riten erhalten, die bis in das byzantinische Hofzeremoniell des 4. Jh. zurückverfolgbar sind; im Papsttum findet sich Demut und Prachtentfaltung; in der päpstlichen Verwaltung mit ihren zahlreichen Kommissionen und Gremien ist die Praxis von ca. 1600 Jahren eingeschrieben (mit allen Vor- und Nachteilen). Der Vatikan als Sitz des Papstes wird als geheimnisumwittert hochstilisiert (obwohl die Wirklichkeit wesentlich einfacher ist), und so eignet er sich hervor23

Die Liste der bisherigen Päpste umfasst 266 legitime Amtsinhaber; nicht gezählt sind dabei Gegenpäpste oder legendarische Figuren wie die »Päpstin Johanna«. Unter diesen 266 Personen sind ca. 20 mit zweifelhaften Aspekten in ihrem Lebenswandel auszumachen (wobei die »Zweifelhaftigkeit« unterschiedliche Ausmaße hat, vom offensichtlichen Missbrauch des Amtes wie bei Alexander VI. über theologische Dummheit – ich würde Stephan VI. diese unterstellen – bis hin zu politischem Ungeschick – was mir bei Eugen IV. so zu sein scheint – ist hier alles auszumachen). 90 stehen dagegen im Stand des Heiligen oder Seligen, und die meisten anderen waren zum überwiegenden Teil durchaus verdienstvolle und ernsthaft bemühte Menschen.

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ragend als Stoff für mediale Unterhaltung. 24 Mitunter allerdings ist die geschichtliche Wirklichkeit zumindest an einigen Stellen durchaus nahe an der Fiktion: Historischer Hintergrund für die Serie Borgia ist die Regentschaft des Papstes Alexander VI., Rodrigo Borgia. 25 Sowohl von den Zeitgenossen als auch in der späteren Rezeption in seinen negativen Eigenschaften stark überzeichnet, entsprach er in seiner Lebensführung und Amtsauffassung dem »damals üblichen Bild eines italienischen Renaissancefürsten […, dies] zeigte sich auch in der verstärkten Förderung von Wissenschaft und Kunst.« 26 Entsprechend sah sich der historische Alexander VI. durchaus auch als Feldherr, der eine straffe politische Agenda verfolgte. Er scheute auch in keiner Weise davor zurück, durch Nepotismus und brutale Machtmittel seine Position und die seiner Familie zu festigen. »Von einer Nachfolge Christi blieb lediglich noch der Titel des vicarius Christi.« 27 Bereits im Vorspann der Serie 28 wird zuerst eine breite Palette ikonografischer Elemente aufgespielt, die die Zuordnung der Handlung zum christlich-katholischen Kontext fixieren. Alte Männer in kirchlichen Paramenten, das Agnus der Eucharistiefeier, kirchliche Innen-

24

Die Zahl der Kriminalromane, Thriller, Gruselschocker und ähnlicher »Werke« ist buchstäblich Legion; erinnert sei hier an Dan Browns Illuminati (2003) oder Sakrileg (2004); Bestseller, wiewohl ohne jegliche faktische Grundlage. 25 Es spricht für das erzählerische Potential dieses Stoffes, dass praktisch zeitgleich zwei einflussreiche Serien zur Geschichte der Familie Borgia im frühen 16. Jh. entstehen. Neben der hier besprochenen maßgeblich deutschen, aber international besetzten Produktion, ist die ebenfalls hervorragend besetzte Serie: The Borgias (Die Borgias). Neil Jordan. Showtime/ProSieben IE/CD/HU 2011–2013 zu nennen. Von beiden wurden drei Staffeln produziert; die irische Produktion umfasst 29 Folgen, die deutsche 38. 26 Schimmelpfennig, B.: Das Papsttum von der Antike bis zur Renaissance. Darmstadt 1988, S. 269. 27 Schimmelpfennig, B.: Das Papsttum. S. 269. Insbesondere diese Divergenz zwischen Anspruch und Einlösung war bereits für die Zeitgenossen ein Ärgernis (und der unmittelbare Anlass für die Reformation), denn ein ähnliches Verhalten legten etwa auch die Medici in Florenz oder die Sforza in Mailand an den Tag, ohne dafür besonders kritisiert zu werden. Aber der Anspruch an den Papst ist ein substanziell anderer. 28 Borgia. TC: 00:00–01:30.

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räume, Details eines Kruzifixes, ein Reliquiar, ein Missale, das geschlossen wird, 29 Weihrauch und Weihwasser sind eindeutige Indikatoren.

Abb. 3: Christi Himmelfahrt. Metin Hüseyin, aus: Borgia. S02 E05, TC: 00:17. Heikel ist dabei die theologische Konnotation: Nach katholischer Lehre ist in der gewandelten Hostie Jesus selbst wahrhaft und umfassend gegenwärtig. Dies kontrastiert mit den folgenden Einstellungen des Vorspannes aufs Schärfste (Screenshot: Wessely).

Doch schon nach 40 Sekunden wechseln die Motive: Blut, Kämpfe, Sex in unterschiedlichen Spielarten, Landkarten und Kronen, volle Gefängnisse, Schlachtungen und Goldmünzen sind zu sehen. Diese Choreografie des Vorspannes trägt bereits in nuce die gesamte Serie in sich, auch unter Einbeziehung des Soundtracks, und ist ein perfektes Beispiel für die handwerkliche Perfektion, mit der die Episoden umgesetzt sind.

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Das Missale war an der Stelle aufgeschlagen, die den Ritus der Messe zu Ehren des Hl. Antonius des Einsiedlers enthält. Antonius der Einsiedler gilt in der katholischen Kirche als Vorbild an Demut, Enthaltsamkeit und Entsagung – und bildet damit den perfekten Kontrast zu der in der Serie geschilderten Familie der Borgias. Dies ist nur eines von vielen Details, die erst bei analytischer Betrachtung sichtbar werden.

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Abb. 4: Christi Himmelfahrt. Metin Hüseyin, aus: Borgia. S02 E05, TC: 01:11. Goldmünzen in einem Lederbeutel vor dem Hintergrund eines offenbar größeren Schatzes stehen für die die Serie durchziehenden Motive von Macht und Bestechlichkeit (Screenshot: Wessely).

Die zentralen Protagonisten sind Kleriker und als solche durch ihre Kleidung, die Dialoge und den architektonischen Kontext, in dem sie sich bewegen, erkennbar. Doch sie verhalten sich kaum als solche. Intrigen stehen an der Tagesordnung, und der Machtkampf zwischen den Fraktionen in der Kurie und dem Papst kreist nicht nur um die bestehenden Machtverhältnisse, sondern auch schon um die Nachfolgefrage (und eine eventuelle Beschleunigung dieser Nachfolge). Es ist schwer, unter den handelnden Personen eine auszumachen, die den Eindruck vermittelt, die Glaubenslehre, der er/sie ihre Macht direkt oder indirekt verdankt, ernst zu nehmen; am ehesten ist es noch die Figur des (später als Ketzer hingerichteten) Giacomo Savonarola (Iain Glen), der einigermaßen authentisch wirkt. Doch auch für ihn steht die Frage der weltlichen Macht und ihrer Lenkung vor der spirituellen Reinigung, auch wenn er seine Botschaft in eine Bußpredigt verpackt: »Make no mistake! Borgia wishes to pull Florence into the very same abyss. I will not let that happen!« 30 So gerät der religiös-kirchliche Kontext zur Staffage. Das Publikum kann sich an der farbenprächtigen Inszenierung delek30

Palmsonntag. Christoph Schrewe, aus: Borgia. S02 E03, TC: 07:30.

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tieren, und die Serie lebt zu einem Gutteil von der Divergenz zwischen Anspruch und Erfüllung, die auch die Sensationslust gut befriedigt. Doch immerhin ist eines wesentlich: Dafür ist eine grundlegende Kenntnis des Anspruches notwendig, den die Figur des Klerikers und der Klerikerin impliziert: Ernsthaftigkeit, Glaubenstreue, authentische Religiosität, zölibatärer Lebenswandel. Nur dadurch wird deren radikale Abwesenheit überhaupt erkennbar. Zwei völlig andere Beispiele seien hier erwähnt: Zunächst die Gestalt des Aethelstan in der Serie Vikings 31. Diese Figur spielt durchgehend von S01 E02 bis S03 E06 eine zentrale Rolle und ist auch danach immer wieder in Reminiszenzen präsent. Aethelstan tritt meist in Zivilkleidung auf, erweist sich aber durch sein Handeln (und die damit oft einhergehenden Gewissenskonflikte) als wesentlich christlicher als die Gestalt des Bischofs Haehmund in derselben Serie oder eben Alexander VI. in Borgia.

Abb. 5: Aethelstan (George Blagden, li.) lehrt Ragnar Lodbrok (Travis Fimmel, re.) das Vaterunser. Aethelstan ist nicht dem Habitus nach, sondern seinem Verhalten gemäß ein christlicher Kleriker mit allen Aspekten von seelischen Siegen und Niederlagen. The Lord’s Prayer. Michael Hirst, aus: Vikings. S02 E10, TC: 32:10 (Screenshot: Wessely).

Aber auch eine weitere Serie, die ebenfalls ausschließlich um die Institution des Papsttums – allerdings in der Gegenwart – kreist, zeigt einen

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Vikings. Michael Hirst. History Television. CA/IE 2013–2019.

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völlig anderen Zugang: The Young Pope. 32 Im Konklave wird überraschend der junge Amerikaner Leonard Belardo zum neuen (fiktiven) Papst Pius XIII. gewählt. Er wählt gegen den Rat seines Kardinalskollegiums einen völlig anderen Zugang zu seinem Amt und versucht, so zurückgezogen wie möglich zu bleiben. Er tritt nicht öffentlich auf, er verhindert, dass Bilder von ihm auf Devotionalien gedruckt werden und er versucht auch Fotos so weit wie möglich zu entgehen, wohl wissend, dass die Macht des Bildes in der Bildgesellschaft einzig durch die Macht des Mysteriums gebrochen werden kann. Das Bilderverbot im biblischen Buch Exodus 20,4 entfaltet in der visuell orientierten Gesellschaft tatsächlich eine völlig neue Macht. Pius XIII. agiert zunächst extrem konservativ, aber nicht vorhersagbar. Sein Sendungsbewusstsein geht so weit, dass er sogar den Bruch des Beichtgeheimnisses legitimiert, um die Kirche (und seine Ideen für diese) zu schützen.

Abb. 6: Papst Pius XIII. (Jude Law) zeigt seinem Beichtvater Tommaso (Marcello Romolo) einen Punkt am Sternenhimmel: »That’s where god’s house is.« Episode 1. Paolo Sorrentino, aus: The Young Pope. S01 E01, TC: 0:54:32 (Screenshot: Wessely). 32

The Young Pope. Paolo Sorrentino. Sky Italia. IT/ES/FR seit 2016. Sorrentinos Papstserie spiegelt sein eigenes Verhältnis zum Katholizismus, für ihn zugleich Reibebaum und Sehnsuchtsort, vgl. https://www.zeit.de/kultur/film/ 2016–09/the-young-people-serie-paolo-sorrentino-jude-law-filmfestival-venedig/ [27. 7. 2019].

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Allerdings entwickelt er sich im Laufe der Serie und gewinnt eine ungeahnte Tiefenschärfe. Sein Machtbewusstsein (seine Machtgier?) ist nicht primäres Anliegen; es geht ihm vielmehr darum, die Menschen wieder zum Glauben hinzuführen. Sogar seine nach außen radikal ablehnende Haltung zur Homosexualität relativiert er in einem Gespräch mit Kardinal Gutierrez, den er zu seinem Sekretär beruft: »I … I’m a homosexual, Holy Father. And you want to expel all homosexuals from the church.« […] »Try to reason with me. If I ask you to be my personal secretary, am I not already revising my own beliefs about homosexuality, or do you actually believe I knew nothing about your homosexuality or the fact that you was sexually abused as a child?« 33 Im Unterschied zu Alexander VI. ist dem fiktiven Pius die Ambivalenz seines Amtes bewusst, und dies beginnt ihn immer mehr zu belasten.

Abb. 7: In einer visionsartigen Szene sieht sich Pius XIII. seinen Vorgängern gegenüber und fragt sie um Rat. Die Antwort scheint ihm eine »banale Plattitüde« zu sein; er wird darüber aufgeklärt, dass Macht nun einmal eine banale Plattitüde ist. Episode 10. Paolo Sorrentino, aus: The Young Pope. S01 E10, TC: 12:25 (Screenshot: Wessely).

Auch dass der Papst sich in dieser Serie ausschließlich auf eine Nonne (bezeichnenderweise ist ihr Name Mary, und sie ist ihm, wie er ausdrücklich eingesteht, Ersatzmutter) als Beraterin verlässt und die Kurie 33

Episode 10. Paolo Sorrentino, aus: The Young Pope. S01 E10, TC: 09:35.

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auf eine mehr oder weniger dekorative Rolle reduziert, sorgt für Machtkämpfe und Spannungen im Vatikan. Diese werden – ebenso wie die beteiligten Personen – aber wesentlich differenzierter dargestellt als in der Serie Borgia. Pius XIII. äußert im Dialog mit seinem Sekretär Gutierrez sogar offene Glaubenszweifel: »Do you belive in God?« »I … Yes, I do.« »I don’t … Those who believe in God don’t believe in anything …«. 34 Zumindest einem Teil der handelnden Personen kann man als ZuschauerIn Authentizität attestieren. Im Vergleich zu der aufwendig produzierten Serie Borgia ist The Young Pope geradezu ein Kammerspiel; dennoch übt er gerade wegen dieser Authentizität eine tiefe Faszination aus.

3.2. Die christomorphe Präsentation einer Erlöserfigur: Luke Cage 35 Luke Cage ist ein Superheld aus dem Marvel-Universum. Wie viele andere seiner Art entstand diese Figur in einer Krisenzeit, in den USA der frühen 1970er Jahre: Die Erschütterung klassischer sozialer Strukturen durch die Bürgerrechtsbewegung war noch lange nicht abgeklungen; der Vietnamkrieg forderte immer mehr Opfer. 36 Die heile Familie des american dream war keine Selbstverständlichkeit mehr; und nicht zuletzt: die politische Glaubwürdigkeit der Regierung war nachhaltig geschädigt. In dieser Gesamtlage war ein neuer, farbiger Superheld willkommen; einer, der aus einer sozial unterprivilegierten Schicht kommt und vor seinem respektablen Leben sogar eine Vergangenheit 34

Episode 10. Paolo Sorrentino, aus: The Young Pope. S01 E10, TC: 37:40. Luke Cage. Cheo Hodari Coker. Netflix. US 2016–2018. vgl. https://www. imdb.com/title/tt3322314/. 36 Hier ist weniger das tragische Schicksal der weit über 40.000 gefallenen USSoldaten zentral, sondern jenes der über 150.000 verwundeten, die schwer traumatisiert und zum Großteil mit körperlichen Dauerfolgen nach Hause geholt wurden. Doch auch die körperlich unverwundet gebliebenen US-Soldaten (weitere 350.000) erlitten teilweise schwerste Traumata, vgl. Scurfield, Raymond: A Vietnam Trilogy: Veterans and Post Traumatic Stress, New York 2004. Hinzu kommt, dass ein überproportionaler Teil der kämpfenden Truppe in Vietnam unterhalb der Offiziersränge aus Angehörigen ethnischer Minderheiten und sozial unterprivilegierten Schichten bestand. Mediale Heldenfiguren – auch fiktive – können in derartigen Situationen helfen, den Alltag strukturiert und erträglich zu halten. 35

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in einer Straßengang aufweist. Zum Superhelden wird er durch eine Passions- und Auferstehungsgeschichte, die man christologisch deuten kann: 37 Durch eine verräterische Handlung seiner Freunde (Mt 26,14–16 par.) 38 gerät er in Gefangenschaft (Mt 26,47–57 par.), wird in dieser von den Wächtern gequält (Mt 26,67; 27,26b–30 par).

Abb. 8: Lukes persönliche Version der Passionsgeschichte. Step in the Arena. Charles Murray, aus: Luke Cage. S01 E04, TC: 04:31 (Screenshot: Wessely).

Halbtot wird Luke von einem Wissenschaftler einer experimentellen Behandlung unterzogen, die von seinem Widersacher sabotiert wird, um ihn zu töten (Mt 27,49–50). Er erwacht nach dem Experiment (an dessen Höhepunkt die Fenster des »Behandlungsraumes« zerbersten, die Menschen im Raum zu Boden stürzen (Mt 27,51) und das Licht ausfällt (Mt 27,45)) jedoch wieder und kann sich erheben (Mt 28,6) 37

Die direkte Bezugnahme auf die entsprechenden Passagen im Neuen Testament soll an dieser Stelle nur verdeutlichen, dass eine solche Verknüpfung denkbar ist; sie müsste anhand einer filmtechnischen Analysearbeit nun noch formal überprüft werden, was aber innerhalb dieses kurzen Beitrages nicht geleistet werden kann. Dazu allg. vgl. Monaco, J.: Film verstehen. Reinbek 1993; Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart u. a. 1993; Faulstich, W.: Grundkurs Filmanalyse. Paderborn 32013; Wessely, C.: Von Star Wars, Ultima und Doom. Mythologische Strukturen in der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt 1996. 38 Abkürzungen biblischer Schriften gemäß den Konventionen der Loccumer Richtlinien; hier: Evangelium nach Matthäus.

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und den Raum, in dem er gefangen ist, verlassen, denn sein Körper ist nun verwandelt und verfügt über übernatürliche Kräfte. Sein Geist scheint nun ebenfalls geläutert: War er schon vorher – wenn auch ein hoch talentierter Kämpfer – eher defensiv-friedfertig, 39 so erkennt er nun das Potential seiner Fähigkeiten für die Zukunft der Gesellschaft und begibt sich – beraten und motiviert durch die Gefängnispsychologin – auf die Straße, um das klassische Doppelleben des »anonymen Superhelden« zu führen. Dabei bedient er sich allerdings – anders als die meisten seines Genres – keiner alternativen Identität oder einer Maske, sondern agiert jederzeit offen und als er selbst (Joh 18,20). Es wird rasch deutlich, dass seine Lebensumgebung – der New Yorker Stadtteil Harlem – eine diminuierte Version der sozialen Gegebenheiten in größerem Maßstab ist. Zwischen den Polen der Gerechtigkeit (sein Freund Pop, geläutertes Gangmitglied und Garant der Integrität) und des Verbrechens (»Cottonmouth« Stokes, der das Stadtviertel unter Kontrolle bringen will) bewegt sich die überwiegende Mehrzahl der Menschen einfach mit dem Ziel zu überleben.

Abb. 9: »Cottonmouth« Stokes, der Antagonist und ungekrönte König der Unterwelt in Harlem. Moment of Truth. Cheo Hodari Coker, aus: Luke Cage. S01 E01, TC: 43:38 (Screenshot: Wessely).

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Vgl. Derry, K.: Bulletproof Love. Luke Cage (2016) and Religion, in: Journal for Religion, Film and Media. Vol. 3 (2017) 1, S. 123–155, S. 129.

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Luke Cage wird zum Heilsbringer mit all der damit verbundenen Polarität, denn in seinen Versuchen, dem Verbrechen entgegenzutreten, verursacht er mittelbar zunächst deutlich mehr Spannungen und Unheil. Seine Gegner versuchen dies zu verstärken, um Lukes Rückhalt in der Bevölkerung zu untergraben. Luke bleibt unbeirrt und folgt dem Pfad, den er für den richtigen hält und der zur Wiederherstellung der Ordnung in Harlem führen soll (Mt 10,34–36). Luke selbst zitiert die Bibel; am eindrucksvollsten ist wohl seine Wiedergabe von Lk 4,18, dem Herzstück der Selbstoffenbarungsperikope 40 unmittelbar nach seiner »Auferstehung«. Kreuze (und solche andeutende Bildkompositionen) kommen immer wieder vor. 41 Er ist nur von einer »Judas-Kugel« verwundbar, die aber nicht von dieser Welt ist. 42 Und diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Abb. 10: Auch Lukes Gegner verwenden die Bibel (vgl. Lk 4). Kurz bevor Luke mit der Judas-Kugel angeschossen wird, drückt einer seiner Gegner einer Geisel seine von intensiver Nutzung zeugende Bibel in die Hand – und das Lesezeichen findet sich bei Num 29, ein Kapitel, in dem ein Brand- und Sündopfer vor dem Herrn beschrieben wird. Now You’re Mine. Christian Taylor, aus: Luke Cage. S01 E11, TC: 15:11 (Screenshot: Wessely). 40

Jesus zitiert in dieser Schriftstelle selbst Jes 61,1 und stellt sich damit ausdrücklich in die Tradition der Propheten Gottes. 41 Derry: Bulletproof Love, S. 131–133. 42 »What kind of metal does that?« »Nothing from this earth.« […] »If you wanted to kill Jesus that’s the bullet you’d use! That’s why they call it the Judas«. Just to Get a Rep. Jason Horwitch, aus: Luke Cage. S01 E05, TC: 27:15–27:35.

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Es ist deutlich zu sehen, dass christliche Elemente sowohl strukturell als auch inhaltlich ein wesentliches Gestaltungsmoment der Serie »Luke Cage« sind. Die Produzenten greifen auf narrative Formen zurück, die den Anschluss an noch weitgehend bekannte biblische Erzählungen und christlich-traditionelle Überlieferungen anschließen. Sie tun dies allerdings nicht mit einer Verkündigungsabsicht, denn im Unterschied zum Reich Gottes, von dem Jesus spricht, ist das Friedensreich des Luke Cage nicht nur örtlich und zeitlich begrenzt (von daher allerdings auch vorstellbarer bzw. greifbarer!), sondern auch von einer wesentlich politischeren Ausrichtung geprägt: Wie Derry u. a. nachgewiesen haben, spielt im Gegensatz zum historischen Jesus, der der Versuchung zum Ergreifen irdischer Macht mehrmals widersteht (Mt 4,8–11 oder Mt 21,14–17), die konkrete politische Konstellation eine große Rolle und bildet geradezu einen Deutungsrahmen für die gesamte Erzählung. 43 Eine ähnliche, doch bei weitem nicht so deutlich ausgeprägte Konstellation findet sich in Altered Carbon 44. Dort ist es die Polizistin Kristin Ortega, die in der dystopischen Gesellschaft des 24. Jh. für Ordnung innerhalb der breiten Masse der »normalen Sterblichen« sorgt, während die kleine Oberschicht der »Meths« (von Methusalem, die alte Schreibweise von Metuschelach, Gen 5,21) in faktischer Unsterblichkeit und enormem Luxus scheinbar jenseits aller Regeln und Gesetze lebt. Während der ehemalige militante Umweltaktivist Takeshi Kovacs angeheuert wird, um einen Mord in dieser Elite aufzuklären, hat Ortega ihn zu überwachen und zu begleiten. Ihre prophetische Rolle entwickelt sich langsam, von der Ablehnung der katholischen Religiosität ihrer Eltern hin zu einem Bewusstsein, im Namen der Unterdrückten und Entrechteten gegen die Mächtigen auftreten zu müssen. Zusammen mit Takeshi Kovacs, der die säkulare Immanenz repräsentiert, bildet sie als Repräsentantin einer »laisierten Sakralität« das handlungsbestimmende Moment.

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Derry: Bulletproof Love, S. 150–152. Altered Carbon. Laeta Kalogridis. Virago Productions u. a. US seit 2018.

47 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Christian Wessely

Abb. 11: Kristin Ortega (Martha Higareda) stellt den (religiös motivierten) Killer der Meths, Leung (Trien Tranh), der unter anderem auch ihre Mutter getötet hat: »My mother prayed to God – and he put you in my arms.« The Killers. Peter Hoar, aus: Altered Carbon. S01 E10, TC: 27:42 (Screenshot: Wessely).

4. Zusammenschau Versuchen wir nun die angeführten Beobachtungen zusammenzuführen. Im enorm wachsenden Angebotssegment des seriellen Unterhaltungsfilmes gibt es sehr großen Bedarf an spannenden bzw. unterhaltsamen Stoffen, die aufgrund der serienbedingten Einschränkung, vor allem zeitlicher Natur, in hoch verdichteter Form präsentiert werden müssen, um sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Religiöse Motive eignen sich auf besondere Weise für diese Verdichtung; und hier wieder insbesondere Motive bzw. Motivkonstellationen aus dem Bereich der katholischen Kirche, die einerseits selbst lehrbedingt medienaffin ist und sich andererseits durch die ikonische Qualität ihrer Riten und Traditionen auszeichnet. Doch diese Form der Verwendung ist in keiner Weise ein Indiz für eine besondere Präsenz christlicher oder allgemein religiöser Werte in den Produktionen. Theologisch betrachtet ist es wohl eher so, dass ein derartiges Wertbewusstsein die meisten Fälle eines Einsatzes solcher determinierter Motive unterbinden würde, weil sie nur in seltenen Fällen konzise mit dem Lehrinhalt übereinstimmend dargestellt werden. 48 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Religion in filmisch-serieller Inszenierung

Sie werden, das lässt sich verallgemeinernd sagen, in der Regel als Bedeutungsträger benutzt, die Assoziationsketten im Publikum wachrufen und hoch verdichtete Handlungsmomente erzeugen können. Insgesamt scheint es mir so zu sein, dass die steigende Komplexität des gesellschaftlichen Alltages eine Tendenz zur Vereinfachung der Strukturen im populären Film insgesamt fördert – als Ausgleich für die zunehmend schwierigere Orientierung im multiplen Wertbezugssystem der offenen Gesellschaft westeuropäisch-nordamerikanischen Zuschnittes wird Vereinfachung gerne in Kauf genommen, ja bevorzugt. Auch im Zuge dieser Vereinfachung wird gerade in Serienproduktionen häufig zu Motiven gegriffen, die aus der christlichen Tradition entliehen sind. Dass dies mittelbar auch mit einer Krise der institutionellen religiösen Orientierung zusammenhängt, ist eine naheliegende Hypothese.

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n): Die Gegenwart filmisch-serieller Inszenierung am Beispiel von Herrens veje (2017) Jonas Nesselhauf (Saarbrücken) In den vergangenen Jahren scheint das Thema der Religion in englischsprachigen Serienformaten eine regelrechte Konjunktur zu erleben – das lassen zumindest Serien wie Preacher, Lucifer, The Young Pope, American Gods oder Good Omens, in gewisser Weise auch Father Brown, Hand of God und The Sinner 1 vermuten. In Frankreich wiederum konnte die seit 2012 laufende Serie Ainsi soient-ils über ein Priesterseminar mehrere Fernsehpreise gewinnen, und das Format Sacristie! 2 wirft einen sozialkritischen Blick auf die Institution Kirche und die gesellschaftlichen Herausforderungen in der Banlieue. Aber auch in der deutschen Fernsehlandschaft haben Serien mit einem Fokus auf Religion und Religiosität einen festen Platz, so bereits etwa mit den beiden Formaten Oh Gott, Herr Pfarrer (1988) und Pfarrerin Lenau (1990), die in jeweils 13 Episoden in der ARD liefen; das ZDF legte etwa zeitgleich mit der Serie Mit Leib und Seele (1989– 1993) um den Pfarrer Dr. Dr. Adam Kempfert (gespielt von Günter Strack) nach. Fester Bestandteil des Dienstagabend-Programms in der ARD ist seit vielen Jahren Um Himmels Willen (seit 2002) über das Nonnenkloster Kaltenthal (mit Fritz Wepper in der Rolle des Bürgermeisters). In der ›Krimirepublik‹ Deutschland müssen aber natürlich längst auch Geistliche verschiedener Art als Ermittlerfiguren herhalten, so beispielsweise in der Serie Pfarrer Braun (2003–2013) mit Ottfried 1

Preacher. Seth Rogen u. a. AMC. US 2016–2019; Lucifer. Tom Kapinos. Fox. US seit 2016; The Young Pope. Paolo Sorrentino. HBO/Sky Italia. IT/ESP/FR seit 2016; American Gods. Bryan Fuller, Michael Green. Starz. US seit 2017; Good Omens. Neil Gaiman. BBC. UK 2019; Father Brown. Rachel Flowerday, Tahsin Guner. BBC. UK seit 2013; Hand of God. Marc Forster. Amazon. US 2014–2017; The Sinner. Donna E. Bloom. USA Network. US seit 2017. 2 Ainsi soient-ils (Dein Wille geschehe). David Elkaïm u. a. arte. FR seit 2012; Sacristie! France 2. FR seit 2016.

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

Fischer (mit Referenz auf Gilbert Chestertons Figur des Pater Brown, der in fast 50 Erzählungen zwischen 1910 und 1935 detektivisch tätig war) oder dem Actionformat Lasko – Die Faust Gottes (2008–2010), das in zwei Staffeln auf RTL ausgestrahlt wurde. Seit 2018 läuft dort mit Sankt Maik eine neue Serie über einen Trickbetrüger im Priestergewand, angesiedelt in einem fiktiven Ort mit dem vielsagenden Namen Läuterberg. 3 Und auch zahlreiche andere Fernsehserien setzen sich immer wieder kritisch und häufig ironisch mit Religion und Glauben auseinander, etwa Trickformate wie The Simpsons 4, Family Guy 5 und South Park 6 – oder beispielsweise zuletzt das kontrovers diskutierte Format Burka Avenger 7. 3

Die Serientitel zeigen im internationalen Vergleich eine gewisse Tendenz zu teils albernen Wortspielereien – und das nicht erst in den vergangenen Jahren, wie die Formate All Gas and Gaiters (1966–1971, BBC), Good News (1997–1998, UPN), Moral Orel (2005–2008, Adult Swim) oder Impastor (2015–2016, TV Land) eindrucksvoll beweisen. DrehbuchautorInnen und Showrunner seien darauf hingewiesen, dass nach derzeitigem Stand aber noch zukünftig zu vergeben wären: »Herrgottszeiten. Es ist nie zu spät zum Glauben« (über einen grantligen Pfarrer, der durch den Minarettbau in einem bayerischen Dorf zur Ökumene findet), »Der eilige Geist« (die dramatische Geschichte eines Wanderpredigers) und »Holy Molly« (die revolutionäre Lebensgeschichte der ersten Päpstin). 4 Dort werden biblische Geschichten und deren Moral in den regelmäßig wiederkehrenden ›Anthologie-Episoden‹ aktualisiert – beispielsweise in der Folge »Simpson’s Bible Stories« (S10 E18). The Simpsons. Matt Groening. Fox. US seit 1989. 5 So entführt beispielsweise Peter Griffin den Papst, um seinen religiösen Vater zu überzeugen (S2 E2) oder gründet in der Episode »The Father, the Son, and the Holy Fonz« (S4 E18) eine eigene Kirche. Family Guy. Seth MacFarlane. Fox. US seit 1999. 6 Wohl noch radikaler als andere Serien thematisiert South Park etwa die Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche (in »Red Hot Catholic Love« von 2002), die umstrittenen Mohammed-Karikaturen (in der Doppelfolge »Cartoon Wars« zu Beginn der zehnten Staffel) oder Scientology (in der kontroversen Folge »Trapped in the Closet« von 2005). South Park. Trey Parker. Comedy Central. US seit 1997. 7 Das pakistanische Zeichentrickformat erzählt (mit einem durchaus didaktischen Anspruch) die Abenteuer einer Superheldin – angelehnt an die ›klassischen‹ Figuren wie Superman oder Batman, ist es hier nun eine Lehrerin, deren wahre Identität bei der Verbrecherjagd nicht durch Cape und Maske, sondern durch eine Burka verborgen bleibt. Burka Avenger. Aaron Haroon Rashid. Geo Tez/ Nickelodeon. PAK 2013–2016.

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Jonas Nesselhauf

Die ›Gegenwart filmisch-serieller Inszenierung‹ des Religiösen klingt also vielversprechend und soll aus zwei Perspektiven das Verhältnis von Religion und seriellem Erzählen beleuchten: Einerseits unter dem Aspekt von Religion und Serialität (also Verbindungen zwischen Religion und dem seriellen Prinzip), ab dem zweiten Kapitel dann unter dem Aspekt von Religion in Serialität (also der Darstellung von Glaubenssystemen in rezenten Fernsehserien), zunächst mit einem kurzen Blick auf die erfolgreichen Formate Game of Thrones und Lucifer, dann schwerpunktmäßig am Beispiel der dänischen Miniserie Herrens veje. 8

1. Religion und Serialität Natürlich gibt es eine offensichtliche Verbindung zwischen Religion und seriellem Erzählen, nämlich der Moment des ›Glaubens‹ : Wie bei jeder Erzählung (egal ob Film, Roman oder Comic), muss man sich auf die Geschichte einlassen, diese ›glauben‹. Und mehr noch: Die RezipientInnen sind der jeweiligen Erzählinstanz – sei es ein homodiegetischer Ich-Erzähler oder ein heterodiegetischer Er-Erzähler im Roman, sei es der filmische Erzähler usw. – als dem Vermittler des Textes ›ausgeliefert‹, müssen dessen Beschreibungen und Charakterisierungen folgen und dieser vor allem vertrauen (können). Diese Nähe zwischen dem Sich-Einlassen auf eine Erzählung und dem ›Glauben‹ zeigt sich exemplarisch im Begriff der »willing suspension of disbelief«, geprägt vom englischen Dichter Samuel Taylor Coleridge. 9 Er umschrieb damit im frühen 19. Jahrhundert das Lesen von Literatur als eine ›willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit‹ – die RezipientInnen müssen ihren ›disbelief‹ also überwinden und ›gläubig‹ werden, indem sie den ›Fiktionspakt‹ eingehen. Neben diesem aber allgemeinen Aspekt des ›Glaubens‹ einer fiktiven oder fiktionalen Erzählung gibt es noch weitere Parallelen zwischen Religion und Serialität, die nun an vier Stationen beleuchtet werden sollen. 8

Game of Thrones. David Benioff, D. B. Weiss. HBO. US 2011–2019; Herrens veje (Ride upon the Storm). Adam Price. DR1. DNK seit 2017. 9 Vgl. Coleridge, S. T.: »Biographia Literaria (1815–17).« In: Ders.: The Major Works. Oxford 2008, S. 155–482, hier S. 314.

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

1.1 Serielle Organisation Religiöse Praxis und religiöse Praktiken sind stets als Rituale seriell organisiert, und das wohl in jeder Epoche und in jeder Kultur. So finden sich beispielsweise bereits in der Vor- und Frühzeit regelmäßig stattfindende kultische Opferungen und Prozessionen. Diese besonderen und im Jahreskreislauf wiederkehrenden Fest- und Feiertage folgten nicht selten einem astronomischen Kalender (bspw. den Sonnenwenden), seien es keltische Megalithen (etwa im englischen Stonehenge), ägyptische Steinkreise (wie im Nabta-Playa) oder mittelamerikanische Pyramidenanlagen (etwa im mexikanischen Chichén Itzá). Aber selbst auch die regelmäßigen Gottesdienste, die wöchentliche Messe oder gar das tägliche Gebet (auch im formalisierten Beten des Rosenkranzes, im Gebet nach Mekka etc.) sind ihrem Prinzip nach seriell organisiert. Diese Repetition macht die Spiritualität damit zu einer seriellen Erfahrung – und das nicht zufällig, sondern mit einer klaren Funktion: Die Religion ›ordnet‹ das Leben der Gläubigen durch die regelmäßige Wiederholung, was natürlich die Religion mit dem Alltagsleben verschmelzen und den Glauben dadurch vertiefen soll. Die Verbindung zur TV-Serie ist hier offensichtlich: So wie religiöse Handlungen, ist auch die Rezeption einer Fernsehserie (in ihrer klassischen Form) streng ritualisiert, schließlich wird zumeist wöchentlich, bei Soaps oder Telenovelas in der Regel gar werktäglich, eine neue Folge zur gewohnten Uhrzeit im linearen Fernsehen ausgestrahlt. Auch hier wird der Alltag der ZuschauerInnen, der (häufig durch einen Cliffhanger unterbrochenen) Handlungsfortsetzung entgegenfiebernd, in ähnlicher Weise strukturiert. Diese Form der ›Zuschauerbindung‹ ist bereits auch aus serialisierten Romanen bekannt, die ab den 1830er Jahren verstärkt aufkamen und während des 19. Jahrhunderts vor allem in England (von Charles Dickens bis Arthur Conan Doyle) und Frankreich (bspw. Honoré de Balzac, Eugène Sue) populär waren. An diesem seriellen Strukturprinzip orientierte sich dann später ebenso das Radio mit zahlreichen nachmittäglichen ›Soaps‹ 10, und auch das 10

Die ›Seifenopern‹ richteten sich in der Regel an Hausfrauen und wurden daher nicht selten von Waschmittelfirmen gesponsert (vgl. Schleich, M. und Nesselhauf, J.: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration. Tübingen 2016, S. 29).

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(lineare) Fernsehen funktioniert weiterhin über festgelegte Sendezeiten (etwa 20:15 Uhr als die ›Primetime‹ in Deutschland). Gleichzeitig heben Fernsehserien nicht selten dabei sogar besondere Tage im Jahreskalender hervor – entweder der Beginn und das Ende einer Staffel als Kulminationspunkte der seriellen Handlung (bspw. mit Doppelfolgen), oder eine Annäherung an religiöse oder weltliche (pagane) Feiertage, denn viele Serien warten mit thematischen ›Sonderepisoden‹ zum Valentinstag, zu Halloween, zu Thanksgiving oder zu Weihnachten auf. Eine (langlaufende) Serie begleitet die ZuschauerInnen also durch und über die Jahre und stellt dabei eine Art ›Band‹ zwischen den Charakteren und den RezipientInnen her, die sich quasi gemeinsam begleiten. Dieses ›Älterwerden‹ spiegelt sich (außer bei Zeichentrickformaten) nicht zuletzt ja auch an den Figuren der Serie selbst, die gewissermaßen mit den ZuschauerInnen zusammen altern.

1.2 Fantum und Fankult Wie sehr man sich nun aber auf eine Serie einlässt, ist natürlich abhängig von der einzelnen Zuschauerin und dem einzelnen Zuschauer. Doch gerade durch eine regelmäßige Rezeption kann die Serie ein – mit Rudolf Ottos Theorie des ›Heiligen‹ gesprochen – Moment des energeticum befördern, also eine energetische Wirkung haben und den Rezipienten aktivieren. 11 Dies zeigt sich beispielsweise an crossmedialen Angeboten (also Webseiten oder Apps mit Bonus- und Zusatzmaterial, Spielen, Rätseln, oder Minifolgen), an umfangreichem Merchandising (inklusive limitierte Sammlereditionen) oder an Ablegern (sogenannte Spin-Offs, die aus der ›Mutterserie‹ hervorgehen). Gerade mit solchen Elementen wird die sonst einseitige Kommunikation zwischen Mattscheibe und RezipientInnen aufgebrochen, und eine aktive Partizipation der Zuschauenden wird möglich und ermöglicht. Und durch offizielle und inoffizielle Fanclubs als soziale Gefüge, durch das ›Pilgern‹ ans Set oder zur ›ComicCon‹ wie auch das öffent11

Vgl. Otto, R.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1987, S. 27 f.

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liche Schauen (bspw. in zahllosen Tatort-Viewings am Sonntagabend) als soziales ›Happening‹ wird die Serie darüber hinaus zu einem verbindenden gemeinsamen und gemeinschaftlichen Erlebnis – erneut mit deutlichen Parallelen an religiöse Erfahrungen. 12 Das »Fansein« ist immer auch eine ›Glaubensfrage‹, und je nachdem, wie stark der Rezipient diesen Angeboten folgt, kann das »Fantum« dann auch in einem regelrechten »Fankult« umschlagen, die Serie also zu einer Art ›Ersatzreligion‹ werden. Wenig überraschend haben sich vor allem Geistliche bereits relativ früh gegen die serielle Unterhaltung ausgesprochen; so predigt beispielsweise Thomas Arnold im November 1837, solch ›süchtigmachende‹ Geschichten »are not the more wicked for being published so cheap, and at regular intervals; but yet these two circumstances make them so peculiarly injurious« 13. Und auch Fernsehserien bergen das Potential, den Zuschauer (im pathologischen Fall) zum Teil eines ›Kults‹ werden zu lassen, wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Realität in beide Richtungen verschwimmen: So können einerseits unzählige SoapschauspielerInnen von wütenden Anfeindungen auf der Straße berichten, wenn ihre Figur in der aktuell ausgestrahlten Folge gerade wieder eine Intrige gesponnen hat; andererseits befördert die bereits als ritualhaft bezeichnete Repetition natürlich auch die Übernahme von Verhaltensweisen der Figuren in den eigenen Alltag. So nutzen inzwischen nahezu alle Serien wiederkehrende Elemente – besonders ›Catchphrases‹ 14 –, die sowohl die Wiedererkennung mit der Serie und dadurch die Identifikation der ZuschauerInnen mit dem Format erhöhen, und die letztlich auch auf eine Übernahme in den Alltag angelegt sind. Beides sind Prinzipien,

12

Vgl. etwa die Parallele zur »Ausbildung von Sozialisationsformen und Institutionen« (Ohlig, K.-H.: Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins. Darmstadt: 2006, S. 17) von Religionen und religiösen Gemeinschaften. 13 Zitiert nach Hayward, J.: Consuming Pleasures. Active Audiences and Serial Fictions from Charles Dickens to Soap Opera. Lexington, KT 2009, S. 6. 14 Catchphrases als charakteristische Sätze von Figuren (etwa Bart Simpsons »Ay Caramba« oder Sheldon Coopers »Bazinga!«) fungieren als prägnante Erkennungszeichen, wobei die ritualhafte Wiederholung innerhalb der Serienwelt hier auch durchaus von den Zuschauenden weitergetragen wird (vgl. Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, S. 174 f.).

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die sich in ähnlicher Weise auch in der religiösen Praxis wiederfinden lassen. 15

1.3 Heilsversprechen und Ekstase Wie jeder fiktive Text (das gilt natürlich auch für Science Fiction ebenso wie für historische Stoffe, für in der Zukunft oder Vergangenheit angesetzte Utopien ebenso wie für Dystopien, da diese stets als Gegenfolie zu einer gesellschaftlichen Realität funktionieren) ist auch eine Fernsehserie als eine von der Alltagswelt abgegrenzte Parallelwelt mit handelnden Personen gestaltet. Diese (mit Platon und Aristoteles gesprochene) mímēsis als ›Nachahmung von handelnden Menschen‹ 16 erleichtert die Identifikation mit den Charakteren und überwindet damit auch die ›abstrakte‹ Ebene einer Darstellung (nämlich eben jene »willing suspension of disbelief«). Gleichzeitig kann die Serie als fiktionaler Experimentalraum alltägliche oder nicht so alltägliche Probleme durchspielen und Lösungswege aufzeigen, und damit an die Erfahrungswelt der RezipientInnen anknüpfen. In diesem Zusammenhang kommt einer Serie auch ein gewisses ›Heilsversprechen‹ zu – und dies besonders bei flexinarrativen Formaten, also beispielsweise Kriminal- oder Krankenhausserien, die ihren ›case of the week‹ in der jeweiligen Episode abschließen und somit eine (in der Regel ›gute‹) Auflösung des wöchentlichen Falls respektive des Spannungsbogens versprechen. 17 Interessant ist die Beobachtung, dass mit der Fortdauer der Serie (wenn ein gewisser Punkt überwunden ist, an dem die Serie die RezipientInnen ›gepackt‹ hat) die Faszination an der seriellen Geschichte keineswegs abnimmt, im Gegenteil: die Identifikation mit den Figuren scheint vielmehr zuzunehmen. Und das obwohl den ZuschauerInnen 15

Vgl. die Nähe zu Gebeten und rituellen Formeln als ›sprachliche Erfahrung‹ von Religion (vgl. Ohlig: Religion in der Geschichte der Menschheit. S. 17). 16 Vgl. Aristoteles: Poetik. Stuttgart 2006, S. 6 f. 17 Und gerade Kriminalserien als solche flexinarratives (vgl. Nelson, R.: TV Drama in Transition. Forms, Values and Cultural Change. London 1997, S. 30 ff.) gehen ja mit dem Versprechen von ›Gerechtigkeit‹, also einer Auflösung des Verbrechens bei gleichzeitiger ›Rächung‹ des Opfers durch die Bestrafung des Täters einher.

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klar sein dürfte, dass es sich hierbei um Fiktion und damit erneut, um mímēsis handelt. So mag die Serienwelt sicherlich RezipientInnen immer mal wieder als ein Referenzpunkt oder gar eine ›Ersatzfamilie‹ dienen (man hat dies zuletzt bspw. bei den Reaktionen auf die Absetzung der Lindenstraße, die im Frühjahr 2020 ihre letzte Folge ausstrahlte, gesehen); denn wie in jedem fiktiven oder fiktionalen Text werden hier ja Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen aufgezeigt, die in der Serienwelt durchgespielt werden (und dort unter Umständen funktionieren). 18 Dies sollte aber natürlich nicht als Anweisung verstanden werden, sondern als Fiktion erkannt bleiben, und glücklicherweise nehmen nur die wenigsten ZuschauerInnen eine Serie als ›Kult‹ und die Figuren als ›priesterliche‹ Anweisungen wahr – ein solcher ›fundamentalistischer‹ wäre dann ebenso ein pathologischer Fall. 19

1.4 Religion und serielles Erzählen Umgekehrt – blickt man also nun nicht auf die ›religiösen‹ Aspekte der Serie, sondern auf die seriellen Aspekte der Religion – lassen sich seriell organisierte Erzählungen auch in zahlreichen religiösen Kontexten finden. So arbeiten beispielsweise die Kreuzwege in römisch-katholischen Kirchenbauten sowohl mit einer seriellen Erzählung wie der serialisierten Erfahrung, wenn die Andachten und Gebete an verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stationen erfolgen. In ähnlicher Weise findet sich dies ebenfalls im formalen Aufbau zahlreicher Leidens- und Erlösungsgeschichten (wie Oster- und Passionsspiele) wieder, und auch christliche Stationendramen folgen in ihrer Struktur seriellen Prinzipien, während das neutestamentliche Evangelium (nach Matthäus,

18

Wobei die moralischen Kategorien durchaus wandelbar sind, und man sich beispielsweise plötzlich in Serien wie Dexter. Jeff Lindsay u. a. Showtime. US 2006–2013 oder Hannibal. Bryan Fuller. NBC. US 2013–2015 als Rezipient womöglich gar mit dem Serienmörder ›identifiziert‹. 19 Vgl. etwa Neil LaButes Kinofilm Nurse Betty (2000), in dem die junge Betty Sizemore (gespielt von Renée Zellweger) nach einem traumatischen Ereignis die Realität mit ihrer Lieblingssoap A Reason to Love vermischt.

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Markus, Lukas und Johannes) gar als ein multiperspektivisches Erzählen verstanden werden kann. Solche Phänomene sind allerdings keineswegs nur in den christlichen Religionen zu finden, sondern teilweise bauen ganze Mythologien oder religiöse Systeme auf seriellen Prinzipien auf, beispielsweise im zyklischen Welterklärungsmodell mesoamerikanischer Kulturen mit regelmäßigen ›Weltuntergängen‹ und ›Neuschöpfungen‹ – etwa im aztekischen ›Fünfsonnen-Mythos‹. 20 Jede neue Welt wäre hier gewissermaßen eine eigene ›Staffel‹ innerhalb der übergreifenden seriellen Erzählung. Über die Bedeutung des Erzählens in religiösen oder mythologischen Texten allgemein liegen bereits zahlreiche Forschungen vor 21, doch scheint gerade seriell organisierten Geschichten hier eine interessante Bedeutung zuzukommen. Dieser allgemeine ›Reiz‹ des Seriellen für religiöse Glaubenssysteme ist sicherlich nicht zufällig und liegt wohl auch in der allgemeinen Grundstruktur des Seriellen begründet, die sich stets zwischen Wiederholung und Progression bewegt. Damit zeichnen sich serialisierte Erzählungen durch einen gezielten Spannungsaufbau, durch eine gute ›Erzählbarkeit‹ und durch eine quasi ›implizite‹ Didaktik aus – drei nicht unwichtige Aspekte, um RezipientInnen an eine Geschichte zu binden. 22 Dies zeigt sich interessanterweise in zahlreichen der in den vergangenen Jahren erschienenen Fernsehserien, die sich dem Thema von Religion und Religiosität annehmen – entweder auf der Inhaltsebene der Serie (also anhand von Narrativen, Figuren, Symbolen usw.) oder, was letztlich noch reizvoller erscheint, auf der formalen Ebene, also wenn eine Serie zusätzlich strukturell wie ein religiöses System funktioniert. Während Game of Thrones eher der ersten, Lucifer der zweiten 20

Vgl. Taube, K.: Aztekische und Maya-Mythen. Stuttgart 1994, S. 84. Vgl. etwa die kulturethnologischen Arbeiten von Joseph Campbell, Mircea Eliade oder Claude Levi-Strauss. 22 So bilden Pausen und Haltepunkte (wie etwa Cliffhanger) strukturelle Einschnitte, wodurch die Serie ihren RezipientInnen einen Rhythmus auferlegt (vgl. Eco, U.: »Die Zeit in der Kunst.« In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München 2002, S. 143–154, hier S. 153). Wenig überraschend dürften sich serielle Erzählprinzipien vor allem in mündlich tradierten Geschichten (wie antike oder mittelalterliche Heldensagen) gefunden haben, da hier die Rahmengeschichte quasi infinit mit einzelnen Episoden ergänzt werden konnte. 21

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Kategorie zuzuordnen wäre, scheint die dänische Miniserie Herrens veje beide Strategien zu kombinieren.

2. Darstellung von religiösen Systemen in einer Fernsehserie: Game of Thrones Die HBO-Serie Game of Thrones geht auf die 1996 begonnene Fantasy-Reihe A Song of Ice and Fire des US-amerikanischen Schriftstellers George R. R. Martin zurück. Angesiedelt in der mittelalterlich anmutenden Welt der Sieben Königslande von Westeros, geht es um zahlreiche Intrigen und Machtkämpfe zwischen den einzelnen Reichen und Herrschern, die auch auf der Ebene der Religion gespiegelt werden. Dabei thematisiert die (Buch- und Fernseh-)Serie, die sich ja ohnehin durch ein regelrecht ›enzyklopädisches‹ Erzählen auszeichnet und ein eigenes Universum erschafft, die Konkurrenz parallel existierender religiöser Systeme (d. h. spezifischer Glaubensvorstellungen und eigener Mythologien). So hat sich im Norden von Westeros ein archaischer Glaube erhalten, der als ›ursprünglichste‹ Form einer kultisch organisierten Religion angenommen werden kann. Dort sind auch noch ›Wehrholzbäume‹ (»weirwood«) als Gebets- und Andachtsstätten weit verbreitet; entweder im Wald oder in einem extra angelegten Götterhain (»godswood«) zu finden, werden in den besonderen ›Herzbaum‹ (»heart tree«) außerdem häufig Gesichter geschnitzt. Dieses Glaubenssystem erinnert an klassische Naturreligionen, die sich durch eine tiefe Verbundenheit mit dem Natürlichen auszeichnen und stellt gleichzeitig eine mythologische Linie zu den ›ersten Menschen‹ und den ›Kindern des Waldes‹ her – denn diese ursprünglichen Götter des Nordens, die sie anbeteten, »were the old ones, the nameless, faceless gods of the greenwood they shared with the vanished children of the forest« 23. Die jedoch am weitesten verbreitete religiöse Vorstellung in den Sieben Königslanden von Westeros ist der »Glaube der Sieben«, also ein Glaube an sieben Götter, wobei diese Zahl als ›heilig‹ verstanden wird, beispielsweise wenn in der (dementsprechend benannten) Septe 23

Martin, G. R. R.: A Game of Thrones. Book One of A Song of Ice and Fire. New York 2015, S. 20.

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»seven times to the seven faces of God« 24 gebetet wird, eine Salbung mit sieben Ölen erfolgt oder die Vorstellung von sieben Höllen existiert. Dieser Glaube ist nun eine deutliche Weiterentwicklung der ursprünglichen Naturreligion – der Götterdienst findet nicht mehr in der Stille der Natur, sondern als institutionalisierte Zeremonie in der Septe und durch einen Septon statt. Eine relative Glaubensfreiheit in Westeros ermöglicht aber Andachten prinzipiell in anderen Landesteilen, und so befindet sich beispielsweise ebenso in der südlich gelegenen Hauptstadt King’s Landing ein Götterhain, »an acre of elm and alder and black cottonwood overlooking the river« 25, und auch die Nachtwache verfügt sowohl über eine Septe als auch einen Wehrholzbaum. Von den freien Städten her kommt der Glaube an den »Lord of Light«, der sich langsam auch in Westeros verbreitet. Das Heilsversprechen wird hier mit Licht gleichgesetzt, was deutliche Parallelen zum Christentum aufweist. Ebenfalls fernab von Westeros existiert beispielsweise der (Aber-)Glaube der Dothraki, der von Omen und mythischen Legenden bestimmt wird und eher an (zyklische) Welterklärungsmodelle erinnert. 26 In vergleichender Perspektive zeigt sich einerseits, dass den jeweiligen Göttern die Macht von Regeln und Entscheidungen zugesprochen sowie ein Einfluss auf Natur und Klima, auf Glück im Krieg oder körperliche Genesung nachgesagt wird. Jede Religion hat ihren eigenen Toten- und Bestattungskult, ihre eigenen Normen und ihre eigenen Zeremonien. Der jeweilige Glaube fungiert dabei als ein gruppenkonstituierendes Merkmal und wird durch den Herrschenden festgelegt (ähnlich dem mittelalterlichen Konzept des »cuius regio, eius religio«). Der Kampf um den ›Eisernen Thron‹ ist also untrennbar mit den rivalisierenden Glaubensvorstellungen verbunden und spiegelt auf der Mikroebene die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Damit stellt die Fantasy-Serie Game of Thrones deskriptiv religiöse Systeme vor und vergleichend nebeneinander, die einerseits auf syn24

Ebd., S. 90. Ebd., S. 247. 26 Vgl. etwa diese sehr an die mesoamerikanischen Mythologien erinnernde Vorstellung: »The Dothraki claim that someday ghost grass will cover the entire world, and then all life will end.« (Ebd., S. 219). 25

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chroner Ebene miteinander konkurrieren, und sich andererseits in diachroner Perspektive entwickeln und sogar gegenseitig verdrängen.

3. Religion als Strukturprinzip einer Fernsehserie: Lucifer Im Vergleich dazu geht die Serie Lucifer noch einen Schritt weiter – hier geht es nicht nur um die inhaltlich-deskriptive Darstellung von Religionen oder religiösen Systemen, sondern vor allem greift die Religion auf die serielle Struktur über. Die Handlung ist schnell skizziert: Der Teufel höchstpersönlich, Lucifer Morningstar, kommt in die ›Stadt der Engel‹ und eröffnet dort einen Nachtclub mit Namen »Lux«. Während Game of Thrones eine Parallelwelt erschafft, in der Magie und fliegende Drachen sowohl logisch als auch physikalisch möglich sind, bricht bei Lucifer das ›Übernatürliche‹ vielmehr regelrecht in das ›tatsächliche‹ Los Angeles ein. Dieses vom Religionswissenschaftler Mircea Eliade in anderem Kontext als ›Niveaubruch‹ 27, einem »rupture de niveau« 28, aufgegriffene Phänomen gleicht einem ›Zusammenprall‹ von Alltagsexistenz und Fiktion. Fortan hilft der Teufel – der übrigens nicht nur einen VaterKonflikt austrägt, sondern auch handfeste Probleme mit seiner Mutter bekommt – der Polizistin Chloe Decker bei der Aufklärung von Verbrechen und kann auf diese Weise (ähnlich wie in der Hölle) schuldig gewordene Menschen bestrafen. Diese Kriminalfälle sind als »case of the week« verwoben mit den übergreifenden Konflikten – bei Lucifer handelt es sich also um ein Flexidrama mit dem Versprechen einer wöchentlichen Fallgeschichte mit jeweiliger Auflösung. Eine solch ›ritualhafte‹ Strukturform macht es den RezipientInnen sicherlich einfacher, der Serie zu folgen und auch nach einer Unterbrechung wieder in die Handlung einzusteigen, als dies bei Game of Thrones der Fall wäre. Und gleichzeitig eröffnet das Prinzip der Kriminalserie ein (verlässliches) moralisches ›Fundament‹, mit dem sich die ZuschauerInnen identifizieren können: Der ›Bösewicht‹ der jeweiligen Episode wird (quasi durch den Teufel und die

27 28

Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Reinbek 1957, S. 38. Eliade, M.: Le Sacré et le Profane. Paris 1965, S. 39.

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Jonas Nesselhauf

Polizei gemeinsam) bestraft, das Verbrechen aufgeklärt und das Opfer dadurch gerächt. Doch im Gegensatz zu Game of Thrones mit einem geradezu deskriptiven Blick auf religiöse Systeme bleibt die Darstellung der Religion bei Lucifer aber nicht auf die Inhaltsebene beschränkt, schließlich müssen die RezipientInnen durch den ›Einbruch‹ des Übernatürlichen in das moderne Los Angeles gewissermaßen selbst ›gläubig‹ werden und die »willing suspension of disbelief« überkommen: Denn während Lucifer als der Teufel inszeniert wird und auch immer wieder behauptet, der Hölle entstiegen zu sein, ist dies (mit wenigen Ausnahmen) vor allem dem ›Glauben‹ der ZuschauerInnen überlassen, etwa da sich Lucifer der Polizistin Chloe Decker über mehrere Staffeln hinweg nicht ›körperlich‹ offenbaren kann (seine ›Magie‹ bleibt in ihrer Gegenwart wirkungslos). So scheint seine größte ›Macht‹ aus ihrer Perspektive im Taschenspielertrick zu bestehen, Verdächtigen ihre geheimsten Sehnsüchte und verborgenen Wünsche zu entlocken, während andere ›Fähigkeiten‹ und ›Verwandlungen‹ des vorlauten Draufgängers häufig nur für die ZuschauerInnen (und damit ohne objektive Zeugen) sichtbar werden. Und ohnehin bekommt auch die ›positive‹ Inszenierung des Teufels (gespielt vom walisischen Schauspieler Tom Ellis) als gut gekleideter, wortgewandter und selbstironischer Gentleman mit Neigung zu teuren Autos (Luxus) und schnellem Sex (Ausschweifung) eine wichtige Rolle, bis hin zur Rezeptionserfahrung: So bewirbt der Streamingdienst Amazon Prime seine Serie sicherlich nicht zufällig mit einem coming-of-age-Trailer, in dem sich ein ›biederer‹ jugendlicher Zuschauer über die Episoden hinweg langsam verändert und ›selbstbewusster‹ (bzw. negativ gesprochen: ›indoktriniert‹) wird. 29 Damit bringt Lucifer auf spannende Weise die inhaltliche Handlung mit der seriellen Struktur zusammen: Die ›Verführung‹ des Rezipienten durch den charismatischen (und vor allem in den frühen Staffeln ›Evergreens‹ singenden) Teufel im ritualisierten Serienformat des Flexidramas mit seinem Versprechen einer ›gerechten‹ Auflösung geht einher mit der ebenso ›verführenden‹ seriellen Struktur.

29

Vgl. hhttps://www.youtube.com/watch?v=uHMvvk541sgi (letzter Zugriff: 31. 12. 2018).

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

4. Religion als Erzählprinzip einer Fernsehserie: Herrens veje (Ride upon the Storm) Eine noch stärkere Verzahnung zwischen Inhalt und Struktur findet sich in der dänischen Miniserie Herrens veje 30 über die Familie Krogh, deren männliche Nachkommen seit inzwischen 250 Jahren protestantische Geistliche hervorbringen. Das Familienoberhaupt Johannes bewirbt sich in der ersten Folge als Bischof von Kopenhagen und legt in einer Rede sein Verständnis von Glaube und Religion dar: »Ja, ich glaube an Gott. Und diese Aussage ist fast kontroverser als wenn ich mich hinstelle und Euch in allen Einzelheiten erzählen würde, wo, wie und wann ich zuletzt Sex hatte. Das verrate ich Euch nicht. Aber ein ›Ich glaube an Gott‹, das berührt doch ein Stück zu weit die Intimsphäre, oder? Und dem allen zum Trotz weiß ich, dass der moderne Mensch, nennen wir ihn so, den Glauben noch braucht. Er braucht eine Richtschnur, ein Gefühl für all das, was man nicht wiegen oder messen kann. Die Musik des Zufalls, die Poesie des Augenblicks, die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen […]: Das große Mysterium des Lebens – all das geht einher mit Gott. Mit dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist. Und an alles in ihnen glaube ich fest. Und ich lebe mein Leben danach.« 31 Hat Showrunner Adam Price mit Borgen 32 noch zuvor einen Blick auf die Politik geworfen und aufgezeigt, dass ›etwas faul im Staate Dänemark‹ ist, dreht sich der große Konflikt der Serie um diese eine Familie und besonders das Verhältnis des Patriarchen Johannes zu seiner Frau Elisabeth und den beiden Söhnen August und Christian. 33

30

Die Serie wurde im September 2017 im dänischen Fernsehen (DR1), dann unter dem Titel Ride upon the Storm im November und Dezember 2018 auf dem deutsch-französischen Kultursender Arte (vgl. die Pressemappe unter hhttps://www.arte.tv/sites/de/presse/files/pm_ruts2_web.pdfi (letzter Zugriff: 31. 12. 2018)) ausgestrahlt. Die zweite Staffel setzt etwa eineinhalb Jahre nach dem dramatischen Ende der letzten Folge ein und lief im Herbst 2018 auf DR1 sowie dann im Mai 2020 auf Arte. 31 Herrens veje. Adam Price. DR1. DNK seit 2017. S01 E01, TC: 08:03. 32 Borgen. Adam Price. DR1. DNK 2010–2013. 33 Vgl. die aufgeladene Namenssymbolik, die sich am Neuen Testament (Johannes der Täufer, Elisabet als dessen Mutter, Christian als ›Anhänger Christus‹) orientiert; der Name August wiederum erinnert an den römischen Kaiser dieser

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Jonas Nesselhauf

Strukturalistisch auf die Narration heruntergebrochen ist der Handlungsmotor der ersten Staffel dann auch Johannes’ Niederlage bei der Bischofswahl – er verliert unerwartet gegen seine Gegenkandidatin Monica. Als seinem Sohn August kurz darauf (aufgrund dessen ›populären‹ und modernen Gottesdiensten) von der neuen Bischöfin ein Pfarramt in der Marmor-Kirche in Kopenhagen 34 angeboten wird, drängt ihn der Vater, die Berufung abzulehnen. August geht stattdessen als Militärpfarrer nach Afghanistan und gerät bei einer Patrouille unter Beschuss. Er tötet eine unschuldige und unbewaffnete Frau und leidet fortan unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, die er allerdings auf Rat seines Vaters nicht therapieren lässt – vielmehr solle der Glaube ihn wieder zurück in den Alltag führen. Stattdessen jedoch leidet August unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die zum absoluten Kontrollverlust und schließlich zum Selbstmord führen.

4.1 Ikonographie und Struktur Interessant ist nun, dass diese (hier stark verkürzt skizzierte) Handlung – ähnlich dem Prinzip des ›mehrfachen Schriftsinns‹ zur Interpretation biblischer Texte im Mittelalter – einerseits als tragische Familiengeschichte verstanden werden kann, die Serie aber durchaus weitere, symbolische Ebenen eröffnet, beginnend mit der Figurenkonstellation: So erscheint Johannes, der Patriarch, aufgeladen als (christlicher) Gott, analog zum ›strafenden‹ Gott des Alten Testaments wie auch zum ›gütigen‹ Gott des Neuen Testaments. 35 Sein Sohn August wiederum wird als (messianische) ›Erlöserfigur‹ dargestellt, die sich nach dem ›RausZeit, findet in der Bibel aber nur am Rande Erwähnung (vgl. Schmoldt, H.: Lexikon der biblischen Personen und Gestalten. Stuttgart 2009, S. 52). 34 Also der monumentalen Frederikskirche (Frederiks Kirken), die – nachdem der Bau zu teuer wurde – für gut eineinhalb Jahrhunderte ein Dasein als Ruine führte und erst Ende des 19. Jahrhunderts fertiggestellt worden war. 35 Bezeichnenderweise ist einer der ersten Sätze des Vaters zu seinem Sohn August seine beruhigende Versicherung, er solle keine Angst haben (S01 E01, TC: 2:21), was ebenso im letzten Satz der Serie aufgegriffen wird (S01 E10, TC: 57:31) und dadurch eine Rahmung herstellt. Diese Interpretation eröffnet gleichzeitig ein Spiel mit dem Titel der Serie, schließlich bezieht sich der deutsche Titel ›Wege des Herrn‹ gleichfalls auf den Familienpatriarchen wie auch den christlichen Gottvater.

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

schmiss‹ aus der protestantischen Kircheninstitution eine ›eigene‹ Kirche sucht und fortan als Straßenpfarrer arbeitet. Doch die Grenzen zwischen Glauben und Wahnsinn, zwischen engagiertem Pfarrer und traumatisiertem Kriegsheimkehrer, verlaufen fließend: August erlebt um Pfingsten einen Zusammenbruch (er redet in Zungen, verlässt das einem Abendmahl gleichende Essen der Familie und schläft längere Zeit), und lässt sich einige Tage später auf dem Weg zum Sommerhaus (und erneut unter Halluzinationen leidend) von einem LKW überfahren. So sind die versatzstückartigen Anspielungen hier noch stärker herausgearbeitet und vor allem deutlich ›ästhetisierter‹ als bei Lucifer, sodass die erste Staffel von Herrens veje ein regelrecht postmodernes Spiel mit Ikonographien und Bildtraditionen betreibt. Denn die Serie erzeugt durch die symbolische Aufladung eine bildliche und narrative Ausstattung, die bei ReligionswissenschaftlerInnen und KunsthistorikerInnen gleichermaßen zu spannenden Entdeckungen führen dürfte. So erinnert beispielsweise das Verhältnis der beiden Söhne im ›Kampf‹ um die Anerkennung des Vaters natürlich an die alttestamentarische Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1–16); eine im Garten der Pfarrei ausartende Feier erzeugt einen ›brennenden Dornbusch‹ (Ex 2,3) bzw. das Bild von Adam und Eva bei ihrer Vertreibung (Gen 3,24); das Pfingstessen ist, wie bereits angedeutet, in Anlehnung an das letzte Abendmahl (Mt 26,20–29) inszeniert; nach der Tötung der afghanischen Frau im Gefecht schaut sich August gegen den expliziten Rat des Kommandanten den Leichnam an (ähnlich der Erzählung um Lots Frau in Gen 19,26) und wird fortan von ihr in Albträumen und Halluzinationen heimgesucht; die Geschichte von August erinnert ansatzweise an die ›Rückkehr des verlorenen Sohns‹ (Lk 15,11–32) usw. Und auch die Dauer der Serienhandlung ist sicherlich keineswegs zufällig und erstreckt sich über fast ein ganzes Kalenderjahr – vom Wahlkampf um den Bischofsposten im Herbst (S01 E01), dem aufkommenden Winter (S01 E02) und Heiligabend (S01 E04), über Palmsonntag und Karfreitag (S01 E06) bis hin zu Pfingsten (S01 E10), und damit quasi von Christi Geburt bis zu seinem Tod. Diese christliche Ikonographie wird bereits im Intro zu Herrens veje angedeutet – also dem ›Aushängeschild‹ und damit ›Erkennungszeichen‹ einer Serie schlechthin. Mit einer Dauer von über 50 Sekunden handelt es sich hierbei um ein verhältnismäßig langes Intro, war in 65 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Jonas Nesselhauf

den vergangenen Jahren in der Serienlandschaft doch eher die Tendenz einer Reduzierung zu erkennen. 36 Es besteht aus 19 Einstellungen und vermischt Sequenzen der Serienhandlung mit einer allgemeinen christlichen Bildsymbolik; vor allem jedoch wird hier der Gegensatz zwischen Licht und Schatten (also durchaus ›Erkenntnis‹ und ›Unglaube‹) herausgearbeitet. Und auch der daruntergelegte Titelsong ist mehrdeutig zu verstehen – es ist die für die Serie geschriebene Komposition Ride upon the Storm von Claus Hempler feat. Dragonborn mit dem Refrain: 37 God moves in a mysterious way / His wonders to perform; / He plants His footsteps in the sea / And rides upon the storm. Interessant ist nun der Blick auf den strukturellen Aufbau der Serie: Die einzelnen Episoden beginnen mit einem kurzen Rückblick auf die bisherige Handlung (»Previously on …«) 38 und einem Cold Open, das häufig bereits einen zentralen Aspekt der folgenden Handlung herausgreift. An das Intro der Serie schließt sich dann eine Titelkarte mit einem Zitat an, bevor die eigentliche Episode beginnt. Dieses vorangestellte Epigraph ist als ›Motto‹ der jeweiligen Folge zu verstehen und sowohl dem Alten Testament (S01 E01, S01 E02), buddhistischen Weisheiten (S01 E03, S01 E04), dem Neuen Testament (S01 E05, S01 E06, S01 E10) oder der Dichtung (S01 E07, S01 E09) entnommen. #

»Previously Cold Open on …«

Intro ab

E1



02:27 min. »Thou shalt have no 03:31 min. 59:26 min. other Gods before me.« – Exodus 20:3 39

Amateurvideo Kinder: Strand, Großvater, Vater

Epigraph

Folge ab

36

Laufzeit

So etwa auch bei Lucifer, wo das Intro aus der Titelkarte und einem kurzen musikalischen Thema besteht. 37 Erste Strophe: Drop in unfathomable mines / Of never-failing skill / He treasures up His bright designs /And works His sovereign will. – Zweite Strophe: Blind unbelief is sure to err / And scan His work in vain; / He’s His own Interpreter / And He will make it plain. 38 Dieses Segment als Bestandteil des seriellen Rahmens (vgl. Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, S. 181 ff.) fasst – gezielt und den Rezipienten steuernd – bisherige Ereignisse raffend zusammen. 39 Erstes der zehn alttestamentarischen Gebote: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.«, Ex 20,3 (vgl. auch Dtn 5,7).

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n) #

»Previously Cold Open on …«

Intro ab

Epigraph

Folge ab

Laufzeit

E2

00:45 min. Prolepse: Soldaten

01:33 min. »Thou shalt not take 02:39 min. 58:25 min. the name of the Lord thy God in vain.« – Exodus 20:7 40

E3

00:45 min. Prolepse: Nepal; 01:41 min. »Three things can- 02:49 min. 58:24 min. Off-Stimme: Totennot be long hidden: ritual, Böses The sun, the moon, and the truth.« – Buddha 41

E4

00:45 min. Nepal: Fiebertraum Christian

01:36 min. »You will not be punished for your anger. You will be punished by your anger.« – Buddha 42

E5

00:59 min. Johannes und August in Unterführung: Gebet

03:53 min. »And led us not into 02:35 min. 56:42 min. temptation, but deliver us from evil.« – Matthew 6:13 43

E6

00:45 min. Prolepse: Johannes bei ›brennendem Busch‹

01:30 min. »My God, my God, 02:35 min. 58:10 min. why have you forsaken me?« – Matthew 27:46 44

E7

00:45 min. Prolepse: Johannes 01:24 min. »We are all like the 02:30 min. 58:20 min. schreiend auf Boden bright moon, we still have our darker side.« – Khalil Gibran, Lebanese Poet 45

02:42 min. 58:29 min.

40

Ebenfalls den zehn Geboten entnommen: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.«, Ex 20,7 (vgl. auch Dtn 5,11). 41 »Drei Dinge bleiben nicht lange verborgen: Die Sonne, der Mond und die Wahrheit.«, Buddha. 42 »Du wirst nicht für deine Wut bestraft – du wirst durch deine Wut bestraft.«, Buddha. 43 Abschließende Bitte aus dem Vaterunser: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.«, Mt 6,13. 44 Ausspruch von Jesus am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«, Mt 27,46. 45 Dem libanesischen Dichter Kahlil Gibran (1883–1931) zugeschriebenes Zitat: »Wir alle sind wie der helle Mond, wir haben auch unsere dunkle Seite.«

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Jonas Nesselhauf #

»Previously Cold Open on …«

Intro ab

Epigraph

E8

01:00 min. August als Straßenpfarrer; Flüchtling

04:55 min. »He who passes by his neighbor also passes by God.« – Martin Luther 46

E9

00:51 min. Kind macht Zucker- 02:22 min. »Therefore, send not 03:27 min. 56:53 min. kreis; Großvater to know for whom spricht zu Gott the bell tolls, it tells for thee.« – John Donne, English Poet 47

01:34 min. »It’s finished.« – E10 00:45 min. Blick LKW Landstraße; Off-Stimme: Jesus on the Cross, »sah das Korn« John 19:30 48

Folge ab

Laufzeit

05:59 min. 58:30 min.

02:38 min. 58:29 min.

4.2 Die Macht des Glaubens Durch diese vorangestellten Mottos wie auch durch die Ikonographie in Intro und Serie erzeugt Herrens veje damit für die RezipientInnen verschiedene Deutungsangebote und legt gleichzeitig auch den Interpretationsspielraum fest. So scheint der (inhaltliche und bildästhetische) Schwerpunkt zwar deutlich auf der christlichen Religion zu liegen, doch gleichzeitig geht es der Serie aber ebenso um den Glauben allgemein. Denn auf seiner Reise durch Nepal kommt Christian etwa in Kontakt mit dem Buddhismus, den er in der Folge als Richtschnur für sich entdeckt; August trifft sowohl im Militäreinsatz wie auch in Dänemark (durch seine Begegnung mit ›illegalen‹ Flüchtlingen) MuslimInnen, gegen die sein Vater beispielsweise hetzt; und während die neue Bischöfin Monica eine regelrechte ›Ökonomisierung‹ der Religion und Programme wie »Yoga mit Jesus« vorantreibt, hält Johannes 46

Dem Reformator Martin Luther (1483–1546) zugeschriebenes Zitat: »Wer an seinem Nachbarn vorbeigeht, geht auch an Gott vorbei.« 47 Meditation Nr. 17 aus Devotions upon Emergent Occasions (1624) des ›metaphysischen‹ Dichters John Donne (1572–1631): »Darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt – sie schlägt Dir selbst.« 48 Ausspruch von Jesus am Kreuz unmittelbar vor seinem Tod, der so bei den anderen Evangelisten nicht erwähnt wird: »Es ist vollbracht.«, Joh 19,30.

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

in der Kirche eine fast schon fanatische Zwiesprache mit Jesus (S01 E01, TC: 27:42 und 35:39, S01 E3, TC: 38:12). Damit hinterfragt Herrens veje letztlich auch den Glauben bzw. das Glauben der ZuschauerInnen, und das auf zwei Ebenen: So lassen sich immer wieder in der Serie (vermeintliche) ›Wunder‹ finden, die teilweise auf eine rational-logische (wissenschaftliche/›weltliche‹) Erklärung zurückzuführen sind, allerdings eben nicht immer! Denn: Mal scheinen Gebete eine kausale Konsequenz auf spätere Handlungen und Ereignisse zu haben, mal gibt es dafür wohl recht einfache Erklärungen, oder es ist schlicht ein Zufall! 49 Auf diese Weise spiegelt die Serie den menschlichen ›Drang‹ nach religiösen Systemen (als Halt und Heilsversprechen, zur Welterklärung usw.) und lädt die RezipientInnen ein, sich mit diesem gar ›unbequemen‹ – und wie Johannes Krogh in seiner Rede ausführt: ›intimen‹ – Thema zu beschäftigen. Zweitens wiederum zeigt sich, dass die erzählte Geschichte letztlich universell ist, und das trotz des christlichen Schwerpunkts (sei es im intertextuellen Spiel des Epigraphs oder in zahllosen Referenzen auf künstlerischen Bildtraditionen in der Serienästhetik): Themen wie der Konflikt zwischen Vater und Sohn, die Suche nach einem ›höheren‹ Sinn oder das (Ver-)Zweifeln am Glauben wurden in allen Glaubenssystemen thematisiert und stellen wohl übergreifende Narrative in jeder Kultur dar. Doch Herrens veje bietet nun als eine Metaerzählung nicht die ›gleiche‹ (schematische) Geschichte – was dem seriellen Format ja häufig vorgeworfen wird – an, sondern aktualisiert (im Dänemark der 49

Logisch erklärbar als biochemischer Vorgang ist etwa der ›Naturdünger‹ (Liv und Elisabeth urinieren im Pfarrgarten), der die Rose erblühen lässt (S01 E04, TC: 57:38) oder die ›Wiederauferstehung‹ des wohl nur leicht verletzten Rotkehlchens (S01 E01, TC: 58:24). Interessant ist nun, dass gerade Gebete manchmal offenbar helfen (zum Beispiel wenn sich Johannes zu Beginn ›im schwarzen Loch‹ befindet und eine Predigt halten muss, S01 E01, TC: 50:27), aber manchmal eben auch nicht (etwa Augusts Gebet für den verwundeten Soldaten in Afghanistan, S01 E02, TC: 43:17). Eher ›mystisch‹ und ›übernatürlich‹ (da rational unerklärlich) wiederum wirken beispielsweise ›Zeichen‹ und Vorausdeutungen (wie die Verbindung zwischen August und der Familie, während er in Afghanistan unter Beschuss gerät, S01 E02, TC: 45:55) oder letztlich Augusts ›Sprechen in Zungen‹ (S01 E10, TC: 20:55), das durch den Taubenflug und den einsetzenden Wind scheinbar zufällig gesteigert wird, während Svends Gebet dieses Mal wohl nicht hilft.

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Jonas Nesselhauf

Gegenwart), erweitert (im Spiel mit fragmentarischen Versatzstücken) und ästhetisiert (durch die filmische Bildsprache) diese universelle Thematik postmodern und innovativ im Medium der Serie. Und das sicherlich nicht zufällig, schließlich verfügt sie, im Gegensatz zum eineinhalbstündigen Fernsehfilm, so über die Ressource Zeit (nämlich fast 600 Minuten), um Handlung und Charaktere entwickeln zu können. Hierbei jedoch fällt auf, dass die filmische Erzählinstanz auffällig häufig mit Parallelmontagen arbeitet und dadurch Analogien zwischen den Erzählsträngen und zwischen den Figuren herstellt; solch ein ordnendes Eingreifen ist einerseits ›sinnstiftend‹ (es erzeugt eine Geschichte), andererseits aber ebenso nicht unproblematisch, schließlich wird dadurch bereits ein Deutungsrahmen evoziert. Auch Analepsen (Rückblenden) innerhalb der Episoden sowie Prolepsen (Vorausdeutungen) im Cold Open, jeweils als Bruch mit der chronologischen Abfolge von Ereignissen, unterstreichen die gezielte ›Konstruiertheit‹ des Erzählten. Denn bei der filmischen Erzählperspektive handelt es sich keineswegs um einen ›neutralen‹ (extern fokalisierten) Blick auf die verschiedenen Familienmitglieder, sondern diese beinhaltet auch Einblick in (Fieber-) Träume und Halluzinationen – und damit höchst individuelle innerpsychische Phänomene, die eigentlich nicht sichtbar gemacht werden können. So beispielsweise in der Schlussszene der Serie, die sowohl die erzählerischen Perspektiven als auch die Handlungsfäden zusammenbringt (S01 E10): Als sich Christian mit seinem Bruder auf dem Weg ins ländliche Sommerhaus befindet, wird August erneut von einer Halluzination heimgesucht und glaubt, die in Afghanistan erschossene Frau durch ein Kornfeld laufen zu sehen. Die ZuschauerInnen erhalten nun beide Blickwinkel – August, der Frau hinterherlaufend sowie (aus Christians Sicht) ein offenbar orientierungslos die Straße überquerender August. Welche Perspektive nun die ›richtige‹ ist, bleibt dementsprechend offen, doch ist eine solch serielle Pluralität letztlich auch Einladung und Angebot an die RezipientInnen der Serie zugleich: Denn wenn Herrens veje neben den institutionalisierten religiösen Systemen (Christentum, Islam, Buddhismus) ebenso den Aberglauben (etwa der Soldaten im Kriegseinsatz oder der Norwegerin Liv 50) und letztlich auch 50

Die Frau mit dem heidnischen Namen bricht als regelrechte ›Versuchung‹ in

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Zur Serialität von Religion und Religiosität in Serie(n)

den ›Glauben‹ in die Wissenschaft (Tabletten gegen die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung) problematisiert, spiegelt dies nicht nur die religiöse Offenheit und Freiheit im 21. Jahrhundert, sondern unterstreicht auch, dass sich letztlich jeder Mensch seinen ›passenden‹ Glauben suchen kann (oder muss).

die Familie Krogh ein; sie schenkt beispielsweise Elisabeth ein Kuhhorn (S01 E03, TC: 10:16) und geht später mit der Pfarrersfrau eine lesbische Beziehung ein.

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Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder zwischen Medien und Religion Marie-Therese Mäder (München)

Kody sitzt umringt von seinen vier Frauen Meri, Robyn, Janelle, und Christine auf dem Sofa und beschreibt, was in seiner Familie von zentraler Bedeutung ist: »In unserer Familie geht’s nicht um die Vielehe, es geht uns um Vielfältigkeit. Wir können unterschiedlich und uns trotzdem nahe sein. Wir passen aufeinander auf.« 1 Je nachdem was unter Vielfalt verstanden wird, wirkt Kodys Aussage irritierend – schließlich spricht hier ein mittelalterlicher weißer US-amerikanischer Mann, der mit vier ebenso weißen Frauen zwischen 35 und 45 Jahren verheiratet ist. Bezüglich ethnischer Herkunft und Alter wirkt diese Familie doch ziemlich homogen. Was das Familienoberhaupt jedoch anspricht, sind die vielfältigen Essensvorlieben seiner Familie und im Speziellen seine eigenen, die wiederum in einer Diskussion über den Verzehr von Schweinefleisch münden. Seine zweite Ehefrau Janelle begründet den Verzicht auf den Verzehr von Schweinefleisch folgendermaßen: »Vor vielen Jahren als die Kinder langsam älter wurden, beschloss Kody, dass er nach den Regeln und Schriften, nach denen Jesus lebte, ebenfalls leben sollte. Jesus war Jude und lebte koscher. Kody fand es wichtig, diesen Aspekt in unser Leben zu integrieren. Unsere Kirche schreibt uns das nicht vor, aber Kody fühlt sich Jesus Christus dadurch näher und weil Jesus Jude war, hat er kein Schweinefleisch gegessen.« Dieses Statement, gemacht in einer Realityshow, ist in vielerlei Hinsicht auf1

Siehe Alle meine Frauen (Sister Wives). Timothy Gibbons u. a. TLC. US seit 2010. S06 E24 (Ich beziehe mich auf die Aufteilung wie sie auf amazon.com video library angeboten wird. Je nach Streaming-Anbieter unterscheidet sich die Nummerierung). Das Original der Show ist in Englisch. Die deutsche Version ist darüber gesprochen, während das Englische im Hintergrund noch zu hören ist. Dies lautet: »Our family culture isn’t about plural marriage. Our family culture is about diversity in a family. That is close, bonded, and watching out for each other.«

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Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder

schlussreich besonders in Bezug auf das Verhältnis von Medien und Religion. Der vorliegende Beitrag erkundet dieses Verhältnis am Beispiel von Alle meine Frauen 2 und fragt, wie das Genre der Realityshow (RTV) das Thema Religion aufnimmt, formt und verändert. Gleichzeitig soll aber auch danach gefragt werden, wie Religion in ihren sozialen und kulturellen Dimensionen ein solches Showformat prägt und mit ihm interagiert. Diese Fragen werden zuerst im Kontext der Show und der historischen Verortung von Polygamie im Mormonentum weiter differenziert. In einem zweiten Schritt wird der Fokus auf das Realityshowformat gelegt, um aufzuzeigen, welchen Einfluss ein bestimmtes Genre auf die Darstellung und Kommunikation von Religion hat. Schließlich wird mit dem semio-pragmatischen Ansatz ein Zugang zum Verhältnis von Medien und Religion skizziert, der die Repräsentation von Religion im RTV und deren Transformation in der Spannung zwischen der Produktion, der Distribution durch Verleiher und Produktionsgesellschaften sowie deren institutionelle Verbreitung unter anderem durch Fernsehstationen und der Konsumption durch die Zuschauerinnen und Zuschauer ansiedelt. Der Beitrag zielt darauf ab, das Verhältnis von Medien und Religion in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und einen systematischen Zugang zu diesem Forschungsfeld zu eröffnen. 3

Eine mormonische polygame Familie als Stars einer Realityshow Mit Blick auf die eingangs erwähnte Szene aus der RTV-Show Alle meine Frauen und die Sequenz, in die sie eingebettet ist, lassen sich verschiedene Interaktionsfelder der beiden kulturellen Bereiche Medien und Religion herausfiltern. Religion passt sich sowohl den medialen Kommunikationsformen an, als auch beeinflussen die Medien religiöse Kommunikation. 4 Dabei entstehen unterschiedliche Kommuni2

Alle meine Frauen (Sister Wives). Timothy Gibbons u. a. TLC. US seit 2010. Eine vertiefte Diskussion zum Verhältnis von Religion und Reality Shows findet sich in Mäder, Marie-Therese. Mormon Lifestyles: Communicating Religion and Ethics in Documentary Media. 1. Edition. Nomos, 2020, 159–204. 4 Pezzoli-Olgiati, D.: Eine illustrierte Annäherung an das Verhältnis von Medien und Religion, in: Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse: Visualität und Reli3

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Marie-Therese Mäder

kationsräume, in denen Handlungen vollzogen werden, die sich sowohl im medialen wie auch im religiösen Feld abspielen. 5 Zum Beispiel zeigt sich Religion in dieser Reality-Show in offensichtlicher Weise in der polygamen Familienstruktur der Browns. Die Familie ist Mitglied der US-amerikanischen fundamentalen Mormonengemeinschaft »Apostolic United Brethren« (AUB), die sich mit der Gruppe der fundamentalen Mormonen (FLDS, Fundamental Church of Jesus Christ of the Latter-day Saints 6) identifiziert. 7 Die Gruppierung ist mit ihren geschätzten 10 000 Mitgliedern eine der größten fundamentalen Mormonengemeinschaften in den Vereinigten Staaten. Joseph White Musser war von 1951–53 der erste AUB-Prophet und verteidigte unterschiedliche religiöse Praktiken, die er an die Mitglieder der Gruppierung weitergab. Bei einer handelte es sich um die Praxis der Vielehe, die White Musser dem Gründer der Gemeinschaft, Joseph Smith (1805–1844), zuschrieb. Im Verlauf der Show wird die AUB-Organisation jedoch selten explizit erwähnt. Neben kleineren Hinweisen am Rande der Show wird die religiöse Zugehörigkeit der Familie Brown vor allem in der Regenbogenpresse immer wieder thematisiert. Die Familie selbst begründet die Wahl ihres Lebensstils religiös und setzt sich gleichzeitig für die Legalisierung der Polygamie ein. Die Serie wird auf diese Weise auch zur Plattform um die politischen und rechtlichen Interessen einer religiösen Minderheit zu verteidigen. Davon profitiert letztlich nicht nur die Familie Brown, sondern die ganze AUB-Institution. 8 gion. Hg. v. B. Beinhauer-Köhler, D. Pezzoli-Olgiati, J. Valentin. Zürich 2010, S. 245–266. 5 Mäder, M.-T.: Auf den Spuren eines Stummfilms. Zwei Filme eine Geschichte, in: Leid-Bilder. Eine interdisziplinäre Perspektive auf die Passionsgeschichte in der Kultur. Hg. v. N. Fritz, M.-T. Mäder, D. Pezzoli-Olgiati, u. a. Marburg 2018, S. 51–69, hier: S. 52–54. 6 Jacobson, C. K., Burton, L.: Prologue: The Incident at Eldorado, Texas, in: Modern Polygamy in the United States: Historical, Cultural, and Legal Issues. Ed. by C. K. Jacobson, L. Burton. Oxford, New York 2011, S. xvii–xxvi. 7 Die FLDS-Gruppierung um den Propheten Warren Jeffs, bekannt auch als United Order Effort, ist die wohl aus den Medien bekannteste Splittergruppe der Mormonen. Jeffs wurde 2011 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Siehe auch Polygamy-Practicing, in: Melton’s Encyclopedia of American Religions. Ed. by J. Gordon Melton. 8th Ed., Detroit, MI 2009, S. 646–651, [17. 03. 2019]. 8 Während der Show sind die Erwachsenen der Familie Brown in ein laufendes

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Das Publikum der Show lernt so einiges über den Alltag einer fundamentalen Mormonenfamilie mit ihren 18 Kindern. In der eingangs beschriebenen Szene erfahren wir zum Beispiel, dass obwohl es keine bindenden Essensregeln gibt, Familienoberhaupt Kody für sich trotzdem eine religiös begründete Richtlinie festlegt. Diese Wahl ist im Hinblick auf zwei Aspekte aufschlussreich: Einerseits zeigt sie, dass Kody weder seinen Kindern noch seinen Frauen vorschreibt, was sie essen dürfen. Denn seine Entscheidungen sind nicht in allen Fällen für den Rest der Familie maßgebend und haben deshalb keinen normativen Charakter, wie Außenstehende vielleicht annehmen könnten. Damit kommt er auch Vorurteilen gegenüber fundamentalen Gruppierungen zuvor, die von den kriminellen Vorfällen in der FLDSGruppierung mit ihrem Propheten, Warren Jeffs, genährt werden. Dieser sitzt wegen Kindsmissbrauch eine lebenslängliche Gefängnisstrafe ab, weswegen ihm auch medial viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Aus seiner Haft heraus führt der Prophet die Gemeinschaft weiterhin an und erlässt auch neue Regeln, wie zum Beispiel das Verbot rote Kleidung zu tragen oder Spielzeug für die Kinder zu kaufen/besitzen. Kody kann sich also mit seiner Haltung bezüglich Essensregeln als tolerantes Familienoberhaupt inszenieren und grenzt sich dadurch von anderen FLDS-Gruppierungen ab. Andererseits wird mit der Szene das Bedürfnis der Familie und ihrer religiösen Gemeinschaft, als Christen wahrgenommen zu werden, hervorgehoben. Damit reagieren die Browns mittels der Show auf das Vorurteil, dass Mormoninnen und Mormonen nicht christlich seien. Janelle betont den Glauben an Jesus Christus mit dem Verweis auf Kodys Schweinefleischverzicht. Zusätzlich stellt sie einen Bezug zur jüdischen Tradition her, indem sie richtigweise festhält, dass Jesus sich als Jude bestimmt an die koscheren Speisegesetze gehalten und kein Schweinefleisch gegessen habe. Mit dieser sehr alltäglichen Szene von der Familie in den Ferien, die bei einem traditionellen hawaiianischen Essen mit einem gegrillten Schwein sitzt, wird also auf unterhaltsame Gerichtsverfahren involviert, da sie wegen Bigamie angeklagt sind. Sie werden jedoch freigesprochen, da Bigamie in den USA nur dann verfolgt wird, wenn Minderjährige involviert sind oder Missbrauch oder Betrug nachgewiesen werden kann. Strassberg, M.: Scrutinizing Polygamy: Utah’s Brown v. British Columbia’s Reference Re: Section 293, in: Beyond same-sex marriage: perspectives on marital possibilities. Ed. by Den Otter, R. C., Lanham 2016, S. 167–203, hier: S. 168.

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und einprägsame Weise ein Bezug zwischen den Browns, ihrer religiösen Zugehörigkeit und der jüdisch-christlichen Tradition hergestellt. Wir erfahren etwas über ihre religiöse Praxis und wie flexibel sie diese handhaben. Dies ist übrigens auch der Fall in Bezug auf den Genuss von Alkohol, der im Mormonentum untersagt ist. Trotzdem sehen wir, wenn auch äußerst selten, die Erwachsenen ein Bier oder ein Glas Wein trinken. Auch bei der Hochzeit der Tochter Aspyn mit dem evangelikalen Mitch kommt das Thema Alkohol auf. Der Freundeskreis und die Familie des Bräutigams erwarten eine Hochzeit, bei der alkoholische Getränke ausgeschenkt werden. Außerdem besteht auch Tochter Aspyn darauf, mit einem Glas Schaumwein mit den Hochzeitsgästen anstoßen zu dürfen. Die Vorstellung, der Hochzeitsgesellschaft Alkohol anzubieten, geht der Familie Brown im ersten Moment dann doch zu weit. Doch die Tochter insistiert und so willigen die Erwachsenen, wenn auch zögerlich, ohne weiteres, ein. 9 Ein weiteres noch größeres Zugeständnis an eine moderne Lebensweise, die von den traditionellen Normen der Mormonen abweicht, ist die lesbische Beziehung zwischen Mariah, der einzigen Tochter von Kody und Meri, und ihrer Freundin Audrey. 10 Ob die beiden auch Sex haben, wird in der Serie ausgeklammert. In unterschiedlichen Situationen wird jedoch betont, dass Sexualität erst nach der religiösen Hochzeitszeremonie stattzufinden hat. Mittlerweile sind Mariah und Audrey verlobt und folgen so den von der Familie Brown propagierten Werten zumindest formal. Anhand dieser Ereignisse wird den Zuschauenden unmissverständlich verdeutlicht, wie offen und vielleicht wider Erwarten tolerant die Familie Brown gegenüber bestimmten Themen ist. Mit ihrer Haltung exponiert sich die Familie, was sowohl eine Chance als auch ein Risiko beinhaltet. Denn einerseits wird der Umgang mit der homosexuellen Tochter und ihrer Partnerin bei konservativen Gruppierungen mit großer Wahrscheinlichkeit auf Kritik

9

Siehe Alle meine Frauen, S13 E06. Homosexualität wird bei der LDS-Kirche als Problem verstanden und geduldet. Menschen mit dieser sexuellen Orientierung werden dazu angehalten, ihre Vorliebe nicht auszuleben. Wie mit dem Thema gemäß der Kirche umgegangen werden soll, wurde auf folgender Website dargelegt: Mormon and Gay – An Official Church Website, https://mormonandgay.churchofjesuschrist.org/ [29. 10. 2019]. Mittlerweile wurde die Website jedoch gelöscht.

10

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stoßen und andererseits erhalten sie wohl eher positive Anerkennung bei einem offeneren Publikum. Die genannten Beispiele zeigen, wieviel die Realityshow Alle meine Frauen über Religion, im konkreten Fall über die AUB-Gemeinschaft, erzählt und wie die Normen und Werte dieser Gemeinschaft das Narrativ prägen. 11 Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich: Das RTVGenre, dessen spezifische Ausdrucksmittel und die damit verbundenen Erwartungshaltungen des Publikums, beeinflussen die Darstellungsund Erzählweise der RTV-Show und indirekt auch die Darstellung von Religion wie im Folgenden diskutiert wird.

Realityshows als Diskurs über das Reale RTV wird in der Literatur als kommerzielles Genre und populäre Unterhaltung erfasst, das im Raum der Repräsentation einen Realitätsanspruch erhebt. 12 Die sozialen Akteurinnen und Akteure verfolgen oftmals individuelle Ziele und persönliche Interessen während der Show. Es findet deshalb auch oft ein Kampf um Aufmerksamkeit zwischen den Teilnehmenden vor der Kamera statt, was sich in kompetitiven Haltungen, möglichst viel von sich preiszugeben, äußern kann. 13 Einerseits wird RTV von den Akteurinnen und Akteuren als Bühne genutzt, andererseits hat das Publikum auch bestimmte Erwartungen an das Genre. In erster Linie gehen die Zuschauerinnen und Zuschauer nämlich davon aus, dass die Geschichten nicht auf einem Drehbuch basieren, sondern dass »wahre« soziale, historische, psychologische und politische Begebenheiten gezeigt werden. Diese wirken in ihrer Darstellungsweise unmittelbar und wecken in den Zuschauenden das Gefühl, wesentliche Momente live mitzuerleben und daran teilzunehmen. Das Publikum möchte zwar Menschen »wie Du und ich« erleben, doch 11

Normen werden als verbindliche Handlungsanweisungen verstanden, die mit bestimmten Werten begründet werden. Siehe Kettner, M.: Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Hg. v. F. Jaeger. Sonderausg. Stuttgart 2011, S. 219–231. 12 Murray, S., Ouellette, L.: Reality TV: Remaking Television Culture. 2nd Ed. New York 2009, S. 3. 13 Biressi, A., Nunn, H.: Reality TV: Realism and Revelation. London, New York 2005, S. 155.

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die oftmals alltäglichen Momente, die sich vor der Kamera abspielen, sollen überraschende Intimitäten offenbaren. Denn diese versehen die repräsentierten Ereignisse mit einer bestimmten Spannung und sprechen die Schaulust 14 des Publikums an. Oder wie es die US-amerikanischen Medienwissenschaftlerinnen Susan Murray und Laurie Oulette in Abgrenzung zu fiktionalen Fernsehgenres auf den Punkt bringen: What ties together all the various formats of the reality TV genre is their professed abilities to more fully provide viewers an unmediated, voyeuristic, and yet often playful look into what might be called the ›entertaining real‹ : This fixation with ›authentic‹ personalities, situations, problems, and narratives is considered to be reality TV’s primary distinction from fictional television and also its primary selling point.

Wenn es also beim RTV in erster Linie darum geht, die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einem »Diskurs über das Reale« 15 wie Murray und Oulette RTV umschreiben, zu unterhalten, dann sollte auch Religion dazu etwas beitragen, weil sie Teil der Lebenswelt ist, in der Menschen, Gegenstände, Situationen und Orte gezeigt werden. Dieser Diskurs, bei dem, wie aufgezeigt, auch religiöse Weltbilder kommuniziert werden, lebt von einer Verbindung zwischen informativen und emotionalen Qualitäten, die an die Zuschauerschaft als Rezeptionserlebnis weitergegeben werden. In dieser Spannung werden Fakten über eine religiöse Gemeinschaft mit persönlichen und individuellen Geschichten verwoben, die dadurch unmittelbar und intim wirken. Auch die eingangs eingeführte Essens-Sequenz bewegt sich zwischen diesen beiden Polen von Information und Emotion. Die Information bezüglich religiös begründeter Normen bezieht sich auf den Umgang mit dem Verzehr von Schweinefleisch. Ebenso erfahren die Zuschauenden, dass Fluchen in diesem Umfeld zwar nicht erwünscht ist, im Einzelfall, wie bei Kody, jedoch mit Nachsicht und Humor begegnet wird. Diese Informationen machen jedoch nur einen kleinen Teil aus. Viel mehr Aufmerksamkeit wird den Familienmitgliedern geschenkt, wie sie mit diesen Normen im Alltag umgehen und welche Emotionen und Haltungen dabei ausgedrückt werden.

14

Murray, S., Ouellette, L.: Reality TV: Remaking Television Culture. 2nd Ed. New York 2009, S. 5. 15 Ebd., S. 3.

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Die erwähnte Sequenz über Schweinefleisch beginnt ganz harmlos damit, dass Janelle mit ihrer Nichte auf dem Wohnzimmersofa des Ferienhauses sitzend erzählt, dass sie morgen Abend zum Abschluss ihrer Ferien in Hawaii ein hawaiianisches Spanferkel essen und zu traditioneller Musik Hula tanzen werden. Janelle freut sich offensichtlich auf den Abend, Kody dagegen weniger, da er kein Schweinefleisch isst, wie Mindy, die Nichte von Robyn, bemerkt. Janelle findet das nicht so schlimm, da er der einzige sei. Da schaltet sich Kody vom Sofa gegenüber ein und meint beleidigt: »Dann hungere ich einfach.« Janelle versucht ihn zu trösten und ergänzt, dass noch viele andere Speisen aufgetischt würden. Doch Kody lässt sich nicht so einfach zufrieden stellen. Janelle erklärt, wie eingangs zitiert, dass Kody aus religiösen Gründen kein Schwein isst. Um Kody weiter aufzumuntern fragt sie ihn, ob er, der sehr gerne tanzt, wie das Publikum von anderen Gelegenheiten weiß, Hula tanzen werde. Auch darauf kommt keine wirkliche Antwort. Zwischen den Handlungen im Ferienhaus wird die nachträglich gefilmte Gesprächsrunde auf dem Sofa als Art Analyserunde, die im Studio gedreht wurde, gezeigt (Abb. 1). Darin verteidigt Janelle ihren Ehemann, dass er vor der Schweinefleisch-Sequenz zu wenig geschlafen hätte und deshalb schlecht gelaunt gewesen sei.

Abb. 1: Die Familienmitglieder treffen sich regelmäßig auf dem Sofa im Studio, um über vergangene und anstehende Ereignisse zu diskutieren (Szenenbild aus Alle meine Frauen, S06 E06, TC: 00:36:39).

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Zurück im Ferienhaus in Hawaii und nach weiteren aufmunternden Worten von seinem Sohn Logan, dass er doch auch dabei sein könne, ohne Fleisch zu essen, beendet Kody die Diskussion wie folgt: »Niemand hat mich gefragt. Ihr könnt mich mal alle [Piepston].« Logan reagiert auf Kodys Antwort mit: »Wow!« Denn wahrscheinlich hat Kody »fuck« gesagt.

Abb. 2: Das Spanferkel im Vordergrund wird auffällig in Szene gesetzt (Szenenbild aus Alle meine Frauen, S06 E06, TC: 00:35:20).

Janelle kommentiert Kodys verbal heftige Reaktion, während sie mit den anderen Frauen auf dem Sofa sitzt: »Ich finde das zum Schießen. Das hat er noch nie zu mir gesagt! Es ist ein neues Schimpfwort für ihn.« Robyn und Meri lachen über Kodys Verhalten, während Christine Janelle widerspricht: »Nein es ist kein neues Schimpfwort für ihn.« Janelle: »Ist es nicht? Sagt er das zu dir?« Janelle lacht immer noch darüber, Christine bejaht die Frage und findet es dagegen weniger lustig: »Ja, aber ich sag noch Schlimmeres zu ihm.« Jetzt schaut Janelle Christine mit einem kurzen und irritierten Blick an, als wüsste sie nicht, was sie mit dieser Antwort anfangen soll. Im Anschluss an die Sofaszene wechselt die Narration den Ort und zeigt die Umgebung und das Ferienhaus der Familie aus der Vogelperspektive mit dem Meer im Hintergrund. In einer weiteren kurzen Szene vom Sofa wird dann nochmals erklärt, was dieses hawaiianische Spanferkel genau ist, und dass Kody wieder besserer Laune gewesen sei und sie sich alle auf den 80 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder

gemeinsamen Abschlussabend gefreut hätten. Damit wird der Abschlussabend dramaturgisch eröffnet, der mit einer Großaufnahme des Spanferkels beginnt, während im Hintergrund die Familienmitglieder zu sehen sind, wie sie zur Feuerstelle gehen, an der das Schwein gebraten wird (Abb. 2). Robyn kommentiert die Szene aus dem Off: »Er ist hin und her gerissen. Er will seiner Familie nicht verbieten an dieser traditionellen Feier teilzunehmen. Aber er möchte auch den religiösen Schriften der Bibel folgen …«. Die Einstellung wechselt und zeigt die Frauen auf dem Sofa. Robyn spricht weiter: »… wie den koscheren Speisegesetzen.« Jetzt wechselt die Szene wieder zum Spanferkel, das von den jungen Männern der Familie und den hawaiianischen Gastgebern in die Küche getragen wird, um es anzurichten. Gabriel, Janelles und Kodys Sohn, bemerkt in der anschließenden Sofarunde zusammen mit drei seiner (Halb-)Brüder: »Es war toll das Schwein zu tragen. Der Stock war warm und es roch lecker.« Paedon, Sohn von Christine und Kody, stimmt Gabriel zu. Wieder wird die Gruppe gezeigt, wie sie das Schwein in die Küche bringen. Dazu sagt Robyn im Kommentar: »Kody ist kein Diktator.« Wieder auf dem Sofa sitzend bemerkt Gabriel: »Es war gut, nicht so fett wie ich gedacht habe.« Garrison ergänzt: »Das Essen war irre!« Gabriel doppelt nach: »Oh ja!« Nach ein paar Großaufnahmen, die zeigen, wie die Familie mit entsetzten Mienen und gleichzeitig fasziniert zuschaut (Abb. 3), wie das Schwein präpariert wird (Abb. 4), kommt endlich wieder Kody zu Wort, der seinen angestammten Platz auf dem Sofa zwischen seinen Frauen eingenommen hat. Er sinniert: »Meine Kinder haben vom Schwein gegessen, ich nicht.« Janelle meint: »Ich habe es probiert, ich war neugierig und es war sehr gut.« Als Quintessenz der gesamten Diskussion erklärt Kody wie eingangs ausgeführt, dass Vielfalt das Credo ihrer Familienkultur sei und nicht die Vielehe. Im Anschluss daran folgt als krönender Abschluss der Sequenz das gemeinsame Essen, bei dem die Familie mit Kody in ihrer Mitte zusammen tanzt (Abb. 5) und ein Fotograf den Abend in einem Familienportrait auch noch visuell festhält (Abb. 6). »Die ganze Familie ist zusammen und wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal alle zusammen sein werden«, kommentiert der wieder gut gelaunte und leicht sentimentale Kody. Die Kamera schwenkt noch ein letztes Mal über die tanzende Brown-Sippe, um sie aus der Vogel81 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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Abb. 3/Abb. 4: Das Schwein wird als Sensation in Szene gesetzt (Szenenbilder aus Alle meine Frauen, S06 E06, TC: 00:36:10/00:36:12).

perspektive zu zeigen, und richtet sich dann auf den Horizont in der Abenddämmerung. Der Diskurs über das Reale in Bezug auf Religion zeigt sich also in der vorliegenden Szene in den authentischen und emotionalen Reaktionen der Familienmitglieder auf das Problem des Fleischverzehrs, in denen auch der Unterhaltungswert der Show liegt. Die Zuschauenden können mit den Protagonisten und Protagonistinnen mitfühlen, ihr Verhalten nachvollziehen, auch wenn sie nicht die gleiche Meinung 82 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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Abb. 5/Abb. 6: Die Familie wird zum Schluss der Sequenz harmonisch inszeniert (Szenenbilder aus Alle meine Frauen, S06 E06, TC: 00:37:54/00:37:26).

teilen. Vielleicht entwickeln sie eine ebenso emotionale Haltung zum Thema wie dies bei den einzelnen Familienmitgliedern der Fall ist. Grundsätzlich geht es jedoch der RTV-Show darum, das Publikum in die Geschichte zu involvieren und sie am Familienleben der Browns teilhaben zu lassen. In diesem Sinne vermittelt die Show Religion als etwas, das gelebt und ausgehandelt werden muss und bezieht die Zuschauenden in den Diskurs mit ein. Damit lässt sich das Verhältnis zwischen dem Medium der RTV und Religion als ein Interaktionsfeld 83 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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zwischen der Repräsentation und dem Rezeptionsprozess durch die Zuschauenden erfassen, wie dies im Sinne eines semio-pragmatischen Kommunikationsverständnisses der Fall ist.

Semiopragmatischer Zugang zu Medien und Religion Mediale Blicke auf Religion sind vielfältig und beinhalten sowohl emische und etische als auch wissenschaftliche Perspektiven auf Religion. Sie üben einen großen Einfluss darauf aus, was sich eine Gesellschaft unter Religion vorstellt oder, wie von Religionswissenschaftlerinnen in der Monographie »Sichtbare Religion« wie folgt beschrieben wird: Während emische Perspektiven durch eine große Variabilität und Vielfalt charakterisiert sind, zeichnen sich mediale Diskurse zu Religion durch eine Tendenz zur Generalisierung aus. Sie verbreiten häufig eine Eindeutigkeit über Religion, die mit der Fülle der emischen Blicke kontrastiert. Mediale Blicke auf Religion arbeiten mit Stereotypen und Verallgemeinerungen, wobei ihre Bilder der Zementierung, Kritik oder Karikatur solcher Stereotypen dienen. Die medialen Blicke von Zeitungen, Zeitschriften, Plakaten, Werbungen oder Filmen prägen die öffentlichen und privaten Vorstellungen von Religion maßgebend. Sie haben aber auch einen signifikanten Einfluss auf emische Sichtweisen, indem Perspektiven, Innensichten, Selbstwahrnehmungen von Individuen und Gemeinschaften repräsentieren, beeinflussen und verändern. 16

In Alle meine Frauen spielt der emische Blick eine wichtige Rolle, da es sich um eine polygame Familie handelt, die sich dafür entschieden hat, Einblick in ihren Alltag zu gewähren. Der mediale Blick entspricht, wie oben ausgeführt wurde, demjenigen des RTV-Genres. Zwei weitere Interaktionsfelder ergeben sich, wenn Medien über Religion berichten oder religiöse Gruppierungen Medien verwenden. Bei Alle meine Frauen handelt es sich am ehesten um eine Verbindung der beiden letztgenannten Interaktionsfelder: eine Familie mit einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit und Praxis liefert mittels eines Reality-ShowFormats Einblick in ihr Leben. Die RTV-Show berichtet über eine spezifische religiöse Gruppierung und gleichzeitig nutzt die Familie 16

Fritz, N., Höpflinger, A.-K., Knauß, S., u. a.: Sichtbare Religion: eine Einführung in die Religionswissenschaft (De Gruyter Studium). Berlin 2018, S. 13/14.

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Brown die Show als Plattform. Ebenso wäre dies zum Beispiel in einem Dokumentarfilm, einer Fernsehreportage oder mittels eines Zeitungsberichtes möglich. 17 Auffällig ist, dass sich Religion im RTV genauso verändert, wie das Genre bei der Darstellung von Religion spezifische Qualitäten annimmt. Das macht auch die vorangegangene Analyse der Szene deutlich. Die Show nährt sich sozusagen vom religiösen Narrativ der Familie, das sowohl über informative als auch über emotionale Qualitäten verfügt. Ebenso werden der Alltag der Familie und die explizit religiösen Themen in der vom RTV-Genre geforderten Darstellungskonvention präsentiert. Sie haben zum Ziel, das Publikum zu unterhalten und die Konsumierenden auch bei der dazwischen oder davor geschalteten Werbung bei der Stange zu halten. TLC zeigt die Folgen online und kostenlos, davor werden aber mindestens drei Werbefilme gezeigt, was mehrere Minuten dauert und von den Zuschauenden einiges an Geduld einfordert. Diese beschriebene Interaktion von Religion und Medien wird unter dem Begriff der Mediatisierung erfasst, der vom schwedischen Medienwissenschaftler Stig Hjarvard geprägt wurde. 18 Mit Blick auf Nordeuropa hebt er drei Dimensionen der Mediatisierung von Religion hervor. 19 Erstens kanalisieren die Medien Religion, indem sie Narrative und Symbole aus religiösen Traditionen fragmentarisch aufnehmen, neu kombinieren und verbreiten. Religion gehört in dieser Dimension zum Fundus von Mediennarrativen. Hjarvard spricht in diesem Fall von »banal religion«. 20 Medien verfügen aber auch über eine eigene Sprache, mit der sie Religion im Speziellen in der populären Kultur formen. Damit schaffen die Medien ein Angebot, sich mit Religion auseinanderzusetzen oder Religion sogar zu praktizieren, wie 17

Hoover, S. M.: Media and Religion, in: Id.: Encyclopedia of religion. 2nd Ed. Detroit 2005, S. 5805–5810, hier: S. 5805–5807. 18 Hjarvard, S.: The Mediatisation of Religion: Theorising Religion, Media and Social Change, in: Culture and Religion, 2011, S. 119–135; Hjarvard, S.: The Mediatization of Religion: A Theory of the Media as Agents of Religious Change, in: Northern Lights: Film & Media Studies Yearbook, 6,1. Copenhagen 2008, S. 9–26. 19 Hjarvard, S.: Three Forms of Mediatized Religion. Changing the Public Face of Religion, in: Mediatization and religion: Nordic perspectives. Göteborg 2012, S. 21–45, hier: S. 27. 20 Ebd.

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zum Beispiel in interaktiven digitalen Formen, die bis anhin von institutionalisierten Religionen nicht angeboten wurden. Mittlerweile profitieren jedoch religiöse Institutionen auch von den Vorzügen mit ihren Mitgliedern im digitalen Raum zu kommunizieren. Dabei konkurrieren sie jedoch mit alternativen Angeboten im Netz. Als dritte Dimension stellen die Medien soziale Leistungen zur Verfügung, die früher von religiösen Institutionen – Hjarvard verweist im Speziellen auf die Kirchen Nordeuropas – erbracht wurden. Dies sind zum Beispiel moralische Orientierung, das Feiern von nationalen und kulturellen Ereignissen oder Trost in Krisenzeiten. Der Autor grenzt zudem den Begriff der »mediation« von Religion, womit der konkrete Kommunikationsakt gemeint ist, von »mediatisation« wie folgt ab: Mediatization, by contrast, concerns the long-term process whereby social and cultural institutions and modes of interaction are changed as a consequence of the growth of the ways that religious organizations, practices and beliefs are altered through the increased presence of media both inside and outside the institution of religion. 21

Mediatisierung erfasst also, wie sich Religion in der medialen Kommunikation verändert. Wichtig dabei ist, dass Hjarvard sich mit dem Begriff der Medien auf die Massenmedien bezieht wie das Fernsehen, die Zeitungen und das Internet. Seine These lautet weiter, dass, indem die Medien über Religion berichten, sie deren Repräsentationsform in der Öffentlichkeit einerseits beeinflussen und sie andererseits auch unkontrollierbarer machen. Die allgemeine Frage nach dem mehr oder weniger an Kontrolle bei der Repräsentation von Religion, scheint ein schwieriges und vielleicht auch gar nicht wirklich relevantes Unterfangen zu sein. An konkreten Beispielen zu untersuchen, inwiefern sich bestimmte Repräsentationsformen von Religion den Medien anpassen und wie die Medien Religion in ihre Narrative einbinden, verleiht der Mediatisierungsthese Boden und lässt uns sowohl in historischer wie auch in zeitgenössischer Perspektive neue Erkenntnisse über Religion gewinnen. Dies bedingt jedoch, dass wir einen weiten Begriff von Medien annehmen, bei dem auch andere als die Massenmedien mitgedacht werden dürfen wie die Malerei, Architektur oder Kleidung. Ebenso gehört auch ein bestimmtes Religionsverständnis dazu. 21

Ebd., S. 26.

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Soll Religion und deren vielfältige Interaktionen mit verschiedenen Medien untersucht werden, ist der Blick auf die Akteurinnen und Akteure unumgänglich, da sie sowohl im medialen wie auch im religiösen Feld Handlungen ausführen, mit denen sie Bedeutungen schaffen wie dies der Kulturwissenschaftler Stuart Hall beschrieben hat. 22 Sein Verständnis von Kultur als unterschiedliche Praktiken, durch die Dinge mit Bedeutung besetzt werden, lässt sich auf Religion und Medien ausweiten, indem danach gefragt wird, welche Handlungen Akteure und Akteurinnen in Mediatisierungsprozessen von Religion durchführen. Damit wird der Blick in einem ersten Schritt wieder auf die konkreten Kommunikationsprozesse geworfen, auf die Mediation von Religion, und es wird danach gefragt, wie mit sowohl religiösen wie auch medialen Handlungen Bedeutungen geschaffen werden. Diese Frage lässt sich fruchtbar mittels eines semio-pragmatischen Verständnisses sowohl von Religion wie auch der Medien beantworten. 23 Ein semio-pragmatischer Zugang zu Medien und Religion verortet kulturelle Bedeutungsprozesse in der Spannung zwischen den Akteurinnen und Akteuren und den Repräsentationen, die diese produzieren, verbreiten und konsumieren. Der Kommunikationswissenschaftler und wichtige Vertreter der Semio-Pragmatik, Roger Odin, erfasst ihr Unterfangen wie folgt: Ziel der Semio-Pragmatik ist es, einen theoretischen Rahmen bereitzustellen, der die Frage nach der Art und Weise, wie sich die Texte konstruieren, sowohl im Raum der Herstellung als auch in dem der Lektüre, und die nach den Wirkungen dieser Konstruktion ermöglicht. 24

22

Hall, S.: Introduction, in: Representation: Cultural Representation and Signifying Practices, ed. by S. Hall, J. Evans, S. Nixon. 2nd Ed. Los Angeles/Calif 2013, S. xvii–xxvi, hier: S. xix. 23 Der hier diskutierte Zugang zu Medien und Religion verwendet einen Religionsbegriff, bei dem die Akteurinnen und Akteure und deren Handlungen als kommunikative Konfigurationen im Zentrum stehen, wie ihn Detlef Pollack und Gergely Rosta vorschlagen. Siehe Pollack, D., Rosta, G.: Religion in der Moderne: ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main 2015 (Schriftenreihe »Religion und Moderne«), S. 48–72. 24 Odin, R.: Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen. Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 11,2. Marburg 2002, S. 42–57, hier: S. 42.

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Unterschiedliche Repräsentationskontexte wie die Produktion, Verbreitung und Konsumption verändern die Bedeutungszuschreibungen und die entsprechende Wirkung auf die Akteure und Akteurinnen. »Die Semiopragmatik versucht daher, die ›Lektüren‹ vorherzusehen, die in einem gegebenen sozialen Raum für einen gegebenen Film vorgenommen werden können.« 25 Diese vorhergesehenen oder eingeschriebenen Lektüren gilt es in einer semio-pragmatischen Analyse im Feld von Medien und Religion herauszuarbeiten. Die Handlungen der unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen werden in ihren Kontexten oder Kommunikationsräumen verortet und in Bezug zur Repräsentation gesetzt. Die erwähnten Kommunikationsräume lassen sich anhand eines Modells differenzieren, bei dem auffällt, dass die Räume der Produktion und Konsumption voneinander getrennt sind, über den Raum der Repräsentation jedoch miteinander verbunden sind (Abb. 7). Raum der Distribution und Verbreitung der Medien

Raum der Repräsentation

Raum der Produktion

Raum der Konsumption

Abb. 7: Das semio-pragmatische Kommunikationsmodell unterscheidet vier Räume.

Hinzu kommt der Raum der Distribution und Verbreitung der Medien, der ein weiteres Verbindungsglied zwischen Produktion und

25

Odin, R.: Wirkungsbedingungen des Dokumentarfilms. Zur Semio-Pragmatik am Beispiel »Notre planète la terre« (1947), in: Perspektiven des Dokumentarfilms. Hg. v. Manfred Hattendorf, Band 7. München 1995 (Diskurs Film), S. 85–96, hier: S. 96.

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Konsumption darstellt (Abb. 4). 26 Mit dem Modell der Kommunikationsräume lassen sich die unterschiedlichen Handlungen und die entsprechenden Lektüremodi mit Fokus auf Religion herausarbeiten und systematisieren. Wie dies konkret aussieht soll anhand von Alle meine Frauen vertieft werden.

Kommunikationsräume und Lektüremodi von Alle meine Frauen Der Produktionsraum der Show ist, wie eingangs diskutiert, geprägt von den stilistischen Eigenschaften des RTV. Die Akteurinnen und Akteure vor der Kamera spielen eine zentrale Rolle, um den Ereignissen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Familie ist nicht nur in der Show präsent, sondern wird auch in Illustrierten und einschlägigen Online-Portalen rege diskutiert. Die Familie ist in den sozialen Medien auch selbst aktiv und betreibt ihren eigenen Online-Shop Sister Wives Closet, 27 wo von der vierten Frau Robyn entworfener Schmuck und Accessoires speziell auch für polygame Bedürfnisse angeboten wird. Dies ist zum Beispiel ein Sister Wives-Ehe- oder Freundschaftsring. Sister Wives ist übrigens die englische Bezeichnung für die Frauen in einer polygynen Ehe. Meri, die erste Frau von Kody führt zudem im Haus ihrer Ur-Großeltern in Utah ihre eigene Pension Lizzie’s Heritage Inn. 28 Die Familie vermarktet sich und ihre eigenen Produkte gleich selber und trägt gleichzeitig dazu bei, dass die polygame Familie auch außerhalb der Show ein Leben führt, das öffentlich zugänglich und überprüfbar ist, was entscheidend zur ihrer Glaubwürdigkeit beiträgt. Jede und jeder kann etwas im Online-Shop bestellen oder im Lizzie’s 26

Für eine ausführlich Diskussion des semiopragmatischen Ansatzes siehe Mäder, Marie-Therese. Mormon Lifestyles: Communicating Religion and Ethics in Documentary Media. 1. Edition. Nomos, 2020, 31–80. Mäder, M.-T.: Documentary Media and Religious Communities, in: Journal for Religion, Film and Media (JRFM), 1,1, Graz 2015, S. 31–36; Mäder, M.-T.: Auf den Spuren eines Stummfilms. Zwei Filme eine Geschichte, in: Leid-Bilder. Eine interdisziplinäre Perspektive auf die Passionsgeschichte in der Kultur. Hg. v. N. Fritz, M.-T. Mäder, D. Pezzoli-Olgiati, u. a. Marburg 2018. 27 My Sister Wifes Closet, in: My Sisterwife’s Closet, https://mysisterwifescloset. com/ [19. 03. 2019]. 28 Lizzie’s Heritage Inn, in: Lizzie’s Heritage Inn, https://lizziesheritageinn.com/ [20. 03. 2019].

89 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Marie-Therese Mäder

Inn übernachten. In einzelnen Folgen wird auch beiden Unternehmen genügend Raum gegeben, sodass für Werbung beim Publikum, das aus potenziellen Kundinnen und Gästen besteht, gesorgt ist. Zusätzlich ist der US-amerikanische Fernsehsender TLC auf die Produktion des RTV-Genres spezialisiert und bietet seine Produktionen sowohl als Fernsehprogramm als auch online in unterschiedlichen Distributionsräumen und Institutionen zur Verbreitung inklusive Werbezeit an. Er bürgt sozusagen für den Standard von RTV-Shows und garantiert einen entsprechenden Unterhaltungswert. Das bedeutet, dass die Zuschauerschaft bei TLC eine bestimmte Erwartungshaltung an das Gezeigte hat und davon ausgeht, dass sie eine drehbuchfreie Show zu sehen bekommt. Dies wird unter anderem auf der Ebene der Repräsentation dadurch unterstützt, dass die englische Originalsprache der amerikanischen Protagonisten und Protagonistinnen im Hintergrund trotz Synchronisation noch zu hören ist. Nennenswert ist auch das Zielpublikum von »The Learning Channel« (TLC), wie der US-Sender sinnigerweise ursprünglich hieß, das er im Konsumptionsraum erfolgreich erreicht. TLC gehört mit weiteren Sendern wie Animal Planet, Discovery Channel und Eurosport zu Discovery Inc. und strahlt sein Programm seit 2014 auch in deutschsprachigen Regionen aus. Mittlerweile rangiert er als Nummer 1 Kabelsender am Freitagabend in Deutschland mit einem Marktanteil von 0,8 % (0,5 % Marktanteil allgemein) bei den Zuschauerinnen, seiner Kernzielgruppe, zwischen 20–49 Jahren (Wachstum im Vergleich zum Vorjahr 42 %). Als Teil der Discovery Gruppe bezeichnet sich der Sender als »die weltweit größte Entertainment-Marke für Frauen«. 29 Pro Tag schauen fast 840’000 Personen mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren im Schnitt 39 Minuten TLC. 30 Mit diesen Informationen vor Augen lassen sich im Konsumptionsraum einige mögliche Lektüremodi herausarbeiten. In erster Linie handelt es sich beim RTV um ein dokumentarisches Medium, das einen ebensolchen dokumentarischen Lektüremodus unterstützt, der 29

TLC – Discovery Networks Deutschland, in: TLC – Discovery Networks Deutschland, 2014, https://www.discovery-networks.de/plattform/tv/tlc/ [03. 10. 2019]. 30 Research & Insights – Discovery Networks DeutschlandDiscovery Networks Deutschland, in: Research & Insights – Discovery Networks Deutschland, 2015, https://www.discovery-networks.de/research-insights/ [03. 10. 2019].

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Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder

eine authentische Wirkung der Geschichte betont und auf einen realen Enunziator 31 im Sinne des Urhebers der Geschichte verweist. Gemäß Roger Odin wird der dokumentarische Lektüremodus aber auch immer mit einem moralischen verbunden, bei dem die Zuschauenden danach fragen, warum sie das Gezeigte glauben sollen und welche Werte vermittelt werden. 32 Die Spanferkelszene vermittelt zum Beispiel, dass unterschiedliche Essensvorlieben innerhalb einer Familie einen positiven Wert darstellen, da sie zeigen, dass die Familie Vielfalt und vor allem eigene Entscheidungen zulässt. Es wird damit der positiv konnotierte Wert von Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Lebensvorstellungen propagiert. Kody wird in dieser Situation als Familienoberhaupt nicht über seine Definitionsmacht von richtigem und falschem Verhalten zum Maßstab genommen, sondern seine tolerante und offene Haltung gegenüber seiner Familie wird wertgeschätzt. Damit verweist die Familie implizit auch darauf, dass sie im Sinne eines reziproken Verhältnisses das Gleiche von den Zuschauenden gegenüber ihrem polygamen Lebensstil erwartet. Ebenso wird der Wert eines harmonischen Familienlebens als steter Prozess hervorgehoben und als kleines Drama inszeniert: Ein Konflikt bricht aus und dabei wird sogar geflucht (Kody). In der anschließenden reflektierenden Sofarunde wird über die Details ausgiebig diskutiert. Zu guter Letzt findet die Familie beim gemeinsamen Abendessen und Hula tanzen wieder zusammen, was auch visuell eindeutig ausgedrückt wird. Das RTV-Genre erlaubt aber wie schon angemerkt neben dem informativen noch den emotionalisierenden Lektüremodus, der, wie der Begriff schon sagt, Emotionen auslösen soll. Auch der damit verbundene spektakuläre Lektüremodus, der die Betonung auf dem Spektakel der Inszenierung hat, wird initiiert. Letzterer wird mittels des Spanferkels ausgelöst, das mit seinen glasigen Augen und der gebratenen und aufgeschlitzten Haut mehrmals in Großaufnahme gezeigt wird und mit faszinierten bis angeekelten Blicken der Brown Familienmitglieder betrachtet wird. Emotionen soll das Spanferkel auch bei den Zuschauenden auslösen, worauf die filmische Inszenierung in Bild und Ton hinweist. Die aufgeschnittene 31

Roger Odin: Les Espaces de communication: Introduction à la sémio-pragmatique. Grenoble 2011, S. 53–58, 289–291. 32 Ebd., S. 56.

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Marie-Therese Mäder

Haut und der Holzstock, der dem Schwein durch den Mund gestoßen wurde, um es über dem Feuer zu braten, sind eindrücklich. Das Präparieren des gegrillten Schweins für den Verzehr wird in Detailaufnahmen gezeigt und gleicht einer anatomischen Anleitung. Die Spanferkel-Inszenierung kann je nach Vorlieben der Zuschauerinnen oder der Zuschauer unterschiedlich bewertet werden, den einen wird das Wasser im Mund zusammenlaufen und andere werden die expliziten und aufdringlichen Bilder schockieren (Abb. 8). Eine Form der emotionalisierenden und spektakulären Wirkung der Bilder ist jedoch mit Sicherheit gegeben.

Abb. 8: Die Mimik der Familienmitglieder spricht eine eindeutige Sprache (Szenenbilder aus Alle meine Frauen, S06 E06, TC: 00:36:11).

Ähnlich wie schon zu Beginn der Sequenz kommt zusätzlich ein informativer Lektüremodus zur Spanferkel Szene hinzu. Er eröffnet innerhalb eines religiösen Bezugsrahmens beim Thema Schweinefleisch-essen einen größeren Horizont als nur denjenigen der Familie Brown. Denn, soviel Hintergrundwissen kann den Zuschauenden zugemutet werden, die Diskussion über Schweinefleisch verweist ebenso auf die jüdische und muslimische Tradition und deren Umgang damit. Damit bringt sich die Familie Brown mit der Spanferkel-Episode auch in einen religiös geprägten Diskurs ein und grenzt sich gleichzeitig von der jüdischen und der muslimischen Tradition ab. Dieser Lektüremodus kommt auch zur Anwendung, wenn Janelle erklärt, warum 92 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder

Kody kein Schweinfleisch isst und es gemäß Kody in einer polygamen Familie in erster Linie um die Vielfalt gehe. Hier können sich je nach religiösem Hintergrund und Wissenstand der rezipierenden Person auch Unterschiede im Lektüremodus zeigen. Thematisch verändert sich die Information nicht, sie wird jedoch dem hermeneutischen Horizont der Zuschauerschaft entsprechend unterschiedlich bewertet. Der emotionalisierende Modus wird erneut in der Schlussszene aktiviert, bei der die Familie bei Sonnenuntergang vereint Hula tanzt (Abb. 5). Das gemeinsame Tanzen wird aus der Vogelperspektive gefilmt und ist ein wiederkehrendes Motiv in der Show (Abb. 9). Es betont die Einheit der Familie, stellt Harmonie her und/oder drückt ein Gemeinschaftsgefühl unter den Mitgliedern aus.

Abb. 9: Hier tanzt die Familie vereint während der Hochzeit von Robyn und Kody am Ende der ersten Staffel von Alle meine Frauen, in der die Browns als als polygame Familie ihr coming-out hatten (Szenenbild aus Alle meine Frauen, S01 E07, TC: 00:17:50).

Der abschließende Schwenk über den Garten, die Köpfe der Browns und die Dächer des Feriendomizils, in den Horizont der Abenddämmerung Richtung offenes Meer wird von melancholischer Synthesizermusik untermalt. Er unterstreicht nochmals den Zusammenhalt der Familie und versieht die Szene mit einer wehmütigen Stimmung, die von Kodys eben solchem Kommentar angekündigt wird: »Und wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal wieder alle zusammen sein 93 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Marie-Therese Mäder

werden.« In diesem emotionalisierenden Lektüremodus, der die Großfamilie idealisiert und mit Blick von oben, als würde es da noch jemand anderen geben, visuell sogar transzendiert, endet die SpanferkelSequenz.

Spanferkel essen im RTV oder das Verhältnis von Medien und Religion Die Spanferkel-Szene beinhaltet in vielerlei Hinsicht mannigfaltige Verbindungen zwischen Medien und Religion. Wie in einer semiopragmatischen Analyse aufgezeigt induziert die Darstellung von Religion gemäß den RTV-Konventionen bestimmte Lektüremodi bei der Zuschauerschaft. Ebenso werden sowohl Informationen über einen religiösen Lebensstil vermittelt, als auch bietet die Show der Familie Brown eine Bühne, um für Toleranz gegenüber Polygamie zu werben. Im Hinblick auf die Kommunikationsräume von Medien und Religion lassen sich noch weitere Eigenschaften des Verhältnisses aufzeigen. Erstens setzt sich die RTV-Produktion in Konkurrenz zur religiösen Institution. Die AUB-Institution ist abwesend, wird jedoch durch die Familie Brown als Akteurin der RTV-Show vertreten. Die AUBTheologie erfährt dadurch eine durch die Show geprägte Interpretation. Zum Beispiel wird oftmals das matrifokale Netzwerk in der Show betont, 33 das die Ehefrauen ins Zentrum der Familie rückt und dem Ehemann nur eine Nebenrolle zugesteht, was teilweise sogar den AUBNormen widerspricht. Zweitens zeigt sich Religion im Raum der Repräsentation als identitätsstiftendes Element für die Familie, wobei individuelle Entscheidungen zugelassen werden. Das Familienleben inklusive religiöse Praxis wird öffentlich verhandelt, Sexualität und Berufsleben werden größtenteils aus dem Narrativ ausgeklammert. Religion drückt sich teilweise als Lifestyle aus, der sich auf Essensgewohnheiten, Kleidungsvorschriften und alltägliche Aktivitäten der Familie bezieht. Die AUB-Theologie nimmt dabei eine sekundäre Rolle ein. Durch die Popularität der Show erreicht sie drittens im Verhältnis 33

Bennion, J.: History, Culture, and Variability of Mormon Schismatic Groups, in: Modern Polygamy in the United States: Historical, Cultural, and Legal Issues. Ed. by C. Jacobson, L. Burton. Oxford, New York 2011, S. 101–124, hier: S. 57.

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Das Spanferkel, die Realityshow und die vielfältigen Interaktionsfelder

zur Größe der Gruppierung eine relativ große geografische Ausdehnung im Raum der Distribution. Die Show ist nicht nur in Amerika bekannt, sondern wird auch in deutschsprachigen Ländern gezeigt. Viertens steht Alle meine Frauen deshalb im Raum der Konsumption auch in Konkurrenz zur viel größeren Kirche »Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« (LDS-Kirche, 16.5 Millionen Mitglieder weltweit). 34 Obwohl beide Gruppierungen dem Mormonentum zugeschrieben werden, lehnt die LDS-Kirche die Praxis der Polygamie seit 1890 entschieden ab. Durch die große Aufmerksamkeit des polygamen Lebensstils mittels der RTV-Show wird die LDS-Kirche fälschlicherweise oftmals mit Polygamie in Verbindung gebracht. Dieser öffentlichen Fehlwahrnehmung versucht die LDS-Kirche wiederum in aufwändigen Kampagnen entgegenzusteuern. Dagegen nutzt die Familie Brown die Show, um fünftens ihr religiöses Weltbild im Raum der Konsumption positiv zu konnotieren und dabei auch noch finanziell davon zu profitieren. Die Show mit ihren Zusatzprodukten wie dem OnlineShop und der Pension stellt einen wesentlichen Bestandteil des familiären Einkommens dar, das die Familie entsprechend der Lehre des Kommunalismus (»law of consecration«), einer religiösen Norm der AUB-Gemeinschaft, der Kirchenleitung übergeben sollte, die wiederum das Geld unter ihren Mitgliedern verteilt. 35 Im konkreten Fall wird das Einkommen der erwerbstätigen Erwachsenen, anstatt es der Kirchenleitung zu übergeben, gleichmäßig untereinander aufgeteilt. Die Familie Brown bietet dem Publikum mit ihrem religiösen Lifestyle inklusive Dramen mittlerweile seit neun Jahren erfolgreiche Unterhaltung und fordert im Gegenzug dazu religiöse Freiheit und Toleranz gegenüber einem Leben als Großfamilie und der polygamen Ehe bis hin zu deren Legalisierung. In diesem Sinne stellt die Show eine Win-win-Strategie sowohl für Medien wie auch für Religion dar und dies sowohl im Produktions- als auch im Medienkonsumptionsraum.

34

Siehe presse-de.kirchejesuchristi.org. »Fakten und Statistiken – Presseseite der Kirche Jesu Christi«. Zugegriffen 26. Mai 2021. http://presse-de.kirchejesu christi.org/zahlen-und-fakten. 35 Ebd., S. 323.

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Das Buch und die Fernsehserie Diedrich Diederichsen (Wien)

D’Angelo Barksdale wird am Ende der ersten Staffel von The Wire 1 zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Sie ist das Ergebnis mehrerer Deals: einerseits eines Deals zwischen seiner Familie, dem Drogenhändler-Clan der Barksdales, mit der Justiz, und andererseits eines Deals innerhalb der Familie, die auf D’Angelo eingewirkt hat, dass er ein paar Jahre Gefängnis für die Familie opfern soll und, um seiner Mutter willen, auf keinen Fall auf das Angebot einer Kronzeugenregelung eingehen soll. Unter diesen Voraussetzungen nimmt es nicht Wunder, dass der immer schon etwas sensiblere D’Angelo, der einst jüngeren Kollegen das Schachspiel anhand der Mechanismen im Drogengeschäft (und umgekehrt) in einer berühmten Szene nahegebracht hatte, im Gefängnis nachdenklich wird. Bald schon entgleitet er dem Einfluss der anderen Clan-Vertreter im Knast. Sinnbildlich für seine Entwicklung übernimmt er einen Job in der Bibliothek. Wann immer wir ihn im Verlauf der zweiten Staffel sehen, liest er gerade ein Buch, sammelt ausgelesene Schwarten ein oder rückt schwere Bände zurück an ihre Stelle im Regal. D’Angelo und die Bücher, mit denen zusammen er im Bild ist, bringen metonymisch etwas über seinen Charakter zum Ausdruck, was klassischerweise andere Objekte in Gangster- und Polizei-Filmen zu sagen pflegen: Autos, persönliche Accessoires und Waffen. Doch andererseits sind Bibliothek als Ort und Buch als Ausdruck für Bildung, Nachdenklichkeit, Gewissenhaftigkeit keine ganz neuen Zeichen im Reservoir von Erzählkino und Fernsehfilm. Es ist daher nicht allein die Häufigkeit, mit der in den letzten, zehn, zwanzig Jahren aufgekommenen, so genannten neuen Qualitätsfernsehserien von HBO, AMC, Netflix, Amazon und anderen, Bücher und Bibliotheken 1

The Wire. David Simon u. a. HBO. US 2002–2008.

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Das Buch und die Fernsehserie

als sprechende Hintergründe auftauchen, sondern auch was sie im Gegensatz zu dem Buch, das in einem Kinofilm auftaucht, für Bezugspunkte einerseits in der diegetischen Wirklichkeit und andererseits in der Wirklichkeit der Rezeption dieser Fernsehserien haben. Als diese zu reüssieren begannen und dann auch feuilletonistische und kulturwissenschaftliche Diskussionen anstießen, hatten sie meist noch die Materialität einer DVD, die heute weitgehend verdrängt ist. Diese Materialität wiederum unterschied sich nicht nur vom heutigen Normalfall des Streaming, sondern auch von ihrem Vorgänger, der fest terminierten Serie im Kalender des Fernsehprogramms, nicht zuletzt dadurch, dass die gesammelten Exemplare in Objekten verkauft wurden, die an Bücher erinnern. Ein theologisch oder religionswissenschaftlich interessiertes Publikum wird bei der Trope des Buches naturgemäß besonders hellhörig – nicht nur wegen der heiligen Bücher, die für manche Religionen entscheidend sind, während andere ganz ohne sie auszukommen scheinen, sondern vor allem auch wegen der so entscheidenden Frage, wer der Autor dieser Bücher ist; denn diese Frage wird von den Serien neuen Typus ebenfalls neu gestellt und beantwortet. Propheten, Literaten, Poeten oder Gott selbst? Das arbeitsteilige Produkt Film hatte da schon länger eine debattenreiche Geschichte, die aber interessanterweise doch einige vorübergehend sehr anerkannte Zwischenergebnisse zeitigte. In einem alten Film von Friedrich W. Murnau – bezeichnend, dass ich sage »von« Murnau – sieht man zwischen den Eröffnungstiteln kurz den greisen Gerhart Hauptmann mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand durch ein Kornfeld laufen. Damit soll uns gesagt werden, dass der Film Phantom (1922) 2 auf einem Roman von Hauptmann 3 basiert: Als Autor des Films galt der Autor der Drehbuchvorlage. Später – und bei den Oscars bis heute – galt der Produzent als der Autor. Die so genannte »politique des auteurs« der Filmzeitschrift Cahiers du Cinema schaffte es in den 1950er Jahren schließlich durchzusetzen, dass der Regisseur als eigentlicher Urheber gelten konnte. Bei den Serien aber gibt es einen Creator oder Showrunner, einen Überautor, der oft weder Regie führt, noch für das Drehbuch einer Episode ver2

Phantom. Friedrich Wilhelm Murnau. DE 1922. Hauptmann, G.: Phantom. Aufzeichnungen eines ehemaligen Sträflings. Berlin 1923. Entstanden 1915–1921.

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Diedrich Diederichsen

antwortlich zeichnet und dennoch diesen Funktionen übergeordnet ist. Verständlich, dass diese Autorschaft, die mit keiner konkreten Funktion in der arbeitsteiligen Produktion mehr in direkter Verbindung steht, die Theologie neugierig macht. Zehn Jahre nachdem Lawren Gillard jr. den D’Angelo hinter Gefängnismauern gegeben hat, spielt er, wieder in einer von dem Showrunner David Simon verantworteten Serie namens »The Deuce« einen skeptischen Polizisten, dessen Funktion darin besteht, die Ideen von New Yorks Stadtplanern, die den Times Square »säubern« und der Immobilienspekulation überlassen wollen, anzuzweifeln. In dieser Serie geht es, ähnlich multiperspektivisch aufgebaut wie The Wire, um die Verlagerung der Straßenprostitution in Bordelle und die langsam um Pornofilme und Peepshows herum entstehende Sex-Industrie New Yorks während der 1970er Jahre, zwischen einerseits Hollywood, andererseits Mafia und darüber hinaus auch der älteren von Straßenzuhältern und Sex-Arbeiterinnen gestützten Struktur. James Franco spielt in einer Doppelrolle einen kleinkriminellen Tunichtgut und Bruder Leichtfuß und dessen nachdenklichen, ökonomisch erfolgreichen, aber seelisch rastlosen und zweifelnden Bruder Vincent. Auch in dieser Serie sieht man viele Lesende, aber anders als vor 16 Jahren: Die intelligente schwarze Prostituierte liest Toni Morrison – damit ist eigentlich nur gesagt, dass sie intelligent ist und über ihr Schwarzsein nachdenkt. Vincents feministische Freundin liest feministische Bücher und schließlich wird ein Witz gerissen, der eigentlich unter dem Niveau der Showrunner David Simons und George Pelecanos liegt: Vincent liest ein Buch auf dem Kopf – Kants Kritik der reinen Vernunft – was bedeuten soll, dass er es nicht versteht. Stattdessen hören wir häufiger von Lesefrüchten. Eine ehemalige Prostituierte und Pornodarstellerin, ist selbst zur Regisseurin geworden – unter einigen Opfern, sie wird von Maggie Gyllenhal gespielt. Sie erklärt einem Produzenten, wie sie sich eine Erotik-Version von Rotkäppchen, Little Red Ridinghood, vorstellt. Der Produzent, selbst ein gefallener Intellektueller, hört ihren Ausführungen über die inhärente Erotik von Märchen aufmerksam zu, um ihr dann schließlich ins Wort zu fallen und zu erklären, was er alles schon kennt und gelesen hat, im Zusammenhang mit Märchen, Sex und Psychoanalyse. Am Ende zählt er nochmal all das auf, was er weiß, was aber nicht helfe, ein so anspruchsvolles Unternehmen auf dem Pornofilmmarkt durchzusetzen: 98 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Das Buch und die Fernsehserie

»I am through with Bettelheim«, anspielend auf den österreichischamerikanischen Psychologen Bruno Bettelheim, berühmt vor allem in den USA für seine kinderpsychologischen Schriften, hier Bezug nehmend auf sein 1976 erschienenes Werk The Uses of Enchantment 4, das sich genau den erwachsenen Inhalten der Grimm’schen Märchen widmet. Gyllenhall aus der Besprechung kommend zu ihrer Drehbuchkoautorin: »What is a Bettelheim?« Kulturgeschichte als Mediengeschichte zu erzählen, wurde erfolgreich als Alternative einerseits zur reinen Geistesgeschichte altbürgerlicher Prägung wie andererseits zur parteilichen Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen lanciert. Die zweite Natur wird in der Mediengeschichte so objektiv, wie sie vorher nur dem falschen Bewusstsein erschien. Wie sich aber die konkrete Kultur einen medientechnischen Einschnitt anders zurechtlegt, nicht nur anders als Ingenieure und Interface-Designer erwarteten, auch anders als MarketingStrategen, vor allem aber auch anders als eine Ontologie der Medien nahelegt, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Cultural Studies, das gerade anhand von Audio-Kulturen viel diskutiert worden ist. Es lässt sich vom Vierspur-Studio und dessen produktivem Missbrauch im Dub-Reggae (eine additive, regulierende Maschine wird zu einer subtraktiven, öffnenden), über den Technics-Plattenspieler oder den digitalen AKAI-Sampler im HipHop bis zur Erfindung des Grammophons zurückverfolgen, das bekanntlich zu Beginn als eine Art Büromaschine, ähnlich einem Diktiergerät konzipiert war. Für die Geschichte der Qualitätsserien gilt es, zwei Epochen zu unterscheiden, diejenige, in der DVDs gebraucht wurden – und davon will ich heute vor allem reden – und diejenige, in der diese Buchlesen-Simulation der DVDBenutzung wieder durch Streaming und oft sogar wieder durch ein programmplatz-spezifisches Fernsehen ersetzt wurde. DVDs, so stellte sich bald heraus, sind nicht einfach die neuen Videokassetten, so wie diese schon nicht die neuen Super-8-Filme waren. Der Unterschied lag aber nicht in der unterschiedlichen Bildqualität oder Möglichkeit der Wiederbespielbarkeit eines Speichermediums, der bequemen Erreichbarkeit bestimmter Szenen oder anderer Aspekte des Bedienkomforts. Vielmehr konvergierten technische Vor4

Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales. New York 1976.

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Diedrich Diederichsen

gaben und soziales Dispositif-Building zu etwas, das man Ästhetik der Nutzung nennen könnte: der Beeinflussung ästhetischer Werte und Interessen durch sozial und psychologisch neu tarierte Nutzungsmöglichkeiten und -gewohnheiten. DVDs können einzelne Filme speichern. Werden sie so verkauft, übernehmen sie im Alltag tatsächlich eine der vielen Funktionen der Videokassette. Doch wegen ihres geringeren Gewichts und der größeren Speichermöglichkeiten wurden sie bald in Box-Sets vermarktet. Diese Box-Sets dienten vor allem zwei verschiedenen Funktionen: Entweder versammelten sie die Werke eines einzelnen Autors. Das konnte je nach Autorbegriff eine Regisseurin, ein Schauspieler oder ein Produzent sein. Oder es war eine konstruierte Gemeinsamkeit: eine Gattung, ein Genre, eine historische Phase oder die ökonomischen Interessen der Süddeutschen Zeitung. Oder aber sie sammelten die Episoden einer Serie, sie gaben dem Begriff der Staffel oder der Season, also einem größeren Zusammenhang innerhalb der Architektur von Serien, eine auch kommunikationsdesignerisch plausibel gemachte Gestalt. Erst durch solche Box-Sets wird diese implizit für Autoren, Fernsehsender, Produktionsfirmen immer schon relevante Werkkategorie greifbar – im buchstäblichen Sinne handlich. Infolgedessen lernt das Publikum in Staffeln und Seasons zu denken. Es sind nicht mehr die Sommerpausen und andere äußerliche Einschnitte des Fernsehlebens, sondern nunmehr auch werkästhetisch relevante, nicht kontingente Einheiten. Dieses Denken in Seasons hat es einstweilen sogar geschafft, die DVD zu überleben. Doch bleiben diese Einheiten nicht die einzigen, die wir der DVD verdanken. Die Serie wird erst in der DVD-Vermarktung und der damit verbundenen Ablösung von mitunter weit auseinanderliegenden Sendeterminen zum Gegenstand einer spezifischen Rezeption, zu der die Möglichkeit gehört, diese zu intensivieren und sich von Spannung und anderen Faktoren so fesseln zu lassen, dass man wie bei einem faszinierenden Buch nicht mehr aufhört – das berühmte Binge-Watching. In Ansätzen vermischt sich so die Asozialität und der Eskapismus klassisch kunstreligiöser Hingabe genussreich gerade mit dem Gefühl eines gesteigerten Verstehens dieser einerseits kondensierten, andererseits aber ausladend ausgeführten sozialen Wirklichkeit der Gegenwart. Diese Rezeptionsform des Verschlingens mit ihrer tendenziell suchtartigen Verlaufsform ist aber auch ein klassischer Zug popularisierten 100 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Das Buch und die Fernsehserie

Lesens. Erst als Bücher zu Massenartikeln wurden, entstand auch massenkulturelles und an unmittelbarem Genuss orientiertes Leseverhalten, auf das die frühe Kulturindustrie unter anderem durch die Einführung des Fortsetzungsromans reagierte: eine Form, die u. a. Dostojewski und Kipling zu ihren Pionieren zählte. Im Fortsetzungsroman begegnet die Flucht vor dem Zeitmanagement des Alltags und seiner Kontrollinstanzen (unter der Schulbank lesen, bei der Arbeit verstohlen schmökern) der neuen Abhängigkeit von der Kontrolle durch den Dealer der Fortsetzung. So wie der Fortsetzungsroman Kompositionstechniken des 19. Jahrhundert beeinflusst hat, kann man auch bei den Autoren von Fernsehserien einen anderen Umgang mit ihren Bauelementen erkennen, seit diese auch in der und durch die Werkgestalt in ihrer vermarkteten Form sichtbarer geworden sind. Die Serie arbeitet jetzt offensiver mit ihren Einteilungen, mit der Einführung von Standards und deren Verletzung. Die Zuschauer können die Formate ohne anderswo entschiedene Sendetermine und Werbeunterbrechungen betrachten und entscheiden selbst, wo und wie sie diese Betrachtung in ihrem Alltag unterbringen. Mit anderen Worten: Sie erklären die Serie zu einem Buch. Darauf haben die Vermarkter der neuen Serienprodukte schnell reagiert: Die Zahl der Serien-Box-Sets, deren graphisch-designerische Gestaltung sich offensiv des Buch-Charakters bedient, ist Legion. Die Gesamtausgabe der sieben Staffeln von The West Wing 5 etwa nennt sich und kommt daher als »The Presidential Library«. Der Buchcharakter bleibt aber auch bis zu einem gewissen Grad erhalten, wenn kleine handliche Lesegeräte in Bahn und Bus ausgepackt werden und Serien geschaut werden: Dies ist dem Lesen auch näher, als es das Fernsehen alter Prägung oder gar der Kinobesuch war. Die Ablösung dieser Serien vom fixen Sendetermin ist natürlich auch noch durch andere technische und verkäuferische Entwicklungen unterstützt worden, die gleichzeitig mit der DVD aufkamen: Downloads und Viewing-on-demand trugen zur Destandardisierung bei, entwerten die Ausstrahlungstermine und stärken die Entwicklung von Rezipientenentscheidungen. Doch auch in diesem Falle ist der entscheidende Punkt, dass dieses destandardisierte Schauen sich in seinem Bruch mit der alten Funktion von TV – einerseits durch fixe Termine 5

The West Wing. Aaron Sorkin. NBC. US 1999–2006.

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Diedrich Diederichsen

und Formate, die den Alltag kontrollieren und standardisieren, andererseits durch eskapistische Inhalte von dieser Kontrolle ablenken: uns zugleich wecken und einschläfern – seinerseits mindestens zur Hälfte an einer anderen längst eingeführten Rezeptionskultur orientiert: dem schmökernden Abtauchen mit einem Buch; bei Fortgeschrittenen auch am wissenschaftlichen, studierenden Lesen. Seit DVDs bewegte Bilder speichern, sind so viele Detailbeobachtungen wie noch nie nicht nur in professionell beobachtende, akademische und journalistische Diskurse eingebracht worden, auch die Fankultur blättert vor und zurück und schreibt, was sie weit hinten im Bildraum erkannt hat, in ihre Blogs und Netzkommentare. Sehr oft sind diese Fundstücke wiederum Titel von Büchern, die man auf den Regalen der zentralen Figuren sehen kann. In der neuen Kultur der Qualitätsserien-User entwickelt eine Mittelschicht, der die bürgerlichen Selbstverständlichkeiten nicht mehr in die Wiege gelegt wurden, ein Verhältnis zum seelischen Zeitmanagement. Wie bei ihren schmökernden kleinbürgerlichen Vorgängern, die unter der Norm des sozialen Aufstiegs sich einerseits durch äußeren Kultivierungsdruck gehalten sahen, ein Innenleben mit einer Eigenzeit des Seelischen zu entwickeln und diese Eigenzeit andererseits von sich aus affektiv als Gegenprogramm zur Aufstiegs-Fron besetzten, gilt für die heutigen kulturell und symbolverarbeitend beschäftigten Mittelschichten, dass sie dem postfordistischen Imperativ der Selbstperformance dringend in Schutzräume eigener Zeitlichkeit entkommen müssen; in diesen Schutzräumen finden aber zu einem guten Teil gerade die Reproduktion dieses Selbst statt und neuer Gesprächsstoff wird geschmiedet. Wenn also in Fernsehserien neuer Prägung Bücher auftauchen, verweisen sie nicht nur auf die Figur, die das Buch erklären soll, sie verweisen auch auf die Praxis derjenigen, die gerade zusehen; sie stellen Verbindungen her, die den liebevollen Szenen mit und in Kinos in Nouvelle-Vague-Filmen, dem Einsatz von historischen Pop-Songs im post-linearen Gegenwartskino der Tarantino-Generation oder den flackernden Fernsehern, die öffentlich-rechtliche Bilder in Fassbinder-Filmen ausstrahlen, ähneln. Darüber hinaus haben Bücher-Bilder aber auch einen spezifischen Aussagewert in Bezug auf die Unterscheidung von Erzählbarem und Nichterzählbarem. Bücher, die metonymisch einer Figur zugeordnet werden und diese zu erklären helfen sollen, haben zwei, im Grunde antagonistische Inhalte und Funktionen. 102 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

Das Buch und die Fernsehserie

Zum einen sagt das Buch Lesbarkeit. »Man kann in ihm lesen wie in einem offenen Buch.« Die Person ist absolut dechiffrierbar, sie hat kein Geheimnis, bzw. sie hat ein Geheimnis, ihrer Meinung nach, aber man kann es sich ausbuchstabieren lassen. Das Buch in diesem Sinne ist eine Art Entschuldigung. Es heißt: Wir alle, die wir lesen können, wissen, was mit dieser Person los ist, wir erzählen es nur etwas ausführlicher, für die, die das nicht lesen können. Das Buch hat in diesem Sinne auch etwas Determinierendes. Wenn wir Paulie Walnut, den etwas eindimensionalen Soldaten der Soprano-Familie ein Buch mit dem Titel How To Clean Up Practically Anything lesen sehen, erkennen wir seine Beschränktheit nicht nur in seiner Bedürftigkeit, sich Hilfe von Ratgeberliteratur holen zu müssen, sondern zugleich die aggressive Ungeduld (»practically anything«), seine Neigung zu faschistoiden Impulsen. Ein ähnlicher und doch anderer Fall liegt hier vor:

Beispiel 1 Strange Love. Alan Ball. Aus: True Blood. Alan Ball. US 2008– 2014. S01 E01, TC: 06:52–08:47. In diesem Beispiel sieht man, wie die Figur Tara als Verkäuferin eines Baumarktes sich erst mit einer lästigen Kundin, dann mit ihrem ebenso rassistischen wie sexistischen Waschlappen von einem Chef auseinandersetzt und sich in einen Wutanfall steigert, an dessen Ende sie kündigt. Dabei hält sie die ganze Zeit Naomi Kleins Buch »Shock Strategy« in der Hand. 6 Die Figur Tara aus der Serie True Blood liest also Naomi Kleins viel beachtete Studie Shock Doctrine (dt.: »Schock Strategie«) über USPolitik und Imperialismus neuer Prägung. Das weist sie einerseits als kritisches, linkes Temperament aus, andererseits wird eine Verbindung hergestellt zwischen Taras Temperament und Kleins These, dass der globale Kapitalismus, insbesondere der den US-Staat unterstützende, herbeigeführte oder Katastrophen natürlicher und nicht-natürlicher Art gerne nutzt, um politische Veränderungen in seinem Sinne zu initiieren. Tara ist sozusagen selber eine kleine wandelnde Katastrophenmaschine, obwohl sie diese selten in ihrem eigenen Interesse nutzt. Hinter diesem Einsatz eines Buches steckt aber auch ein anderes Cha6

Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ZMOypXPrl_Y [14. 04. 2021].

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Diedrich Diederichsen

rakteristikum dieser Serie, die sie für mich von den wirklich neuartigen und diesen Namen verdienenden Qualitätsserien unterscheidet: Die Charaktere sind bereits von vornherein festgelegt. Anders als bei den Sopranos, Deadwood 7 oder The Wire ergibt sich Überraschung nicht aus den den Zuschauern bereits bekannten, aber naturgemäß eben nicht restlos überblickten Charaktereigenschaften, sondern durch externe Ereignisse. Die Personen werden dagegen mit der üblichen TV-Logik eingeführt: Der Zuschauer darf sich bestätigt fühlen, dass sie so stereotyp und vorhersehbar handeln, wie sie nun mal immer handeln. Das Buch hat hier zwar inhaltlich eine, wie beschrieben, mehrdeutige metonymische Funktion, aber eben nur diese: Es teilt uns nur eine fixe Eigenschaft des Charakters mit – oder zwei – tritt aber nicht selbst in Erscheinung. Die grundsätzlich andere, zweite Funktion der Trope Buch findet sich daher eher in tatsächlichen Qualitätsserien. Das Buch bedeutet hier nicht mehr Lesbarkeit, sondern unübersichtliche Fülle, ein Reichtum und eine Dichte, die ein Archiv aufbewahrt: die Bibliothek, die spezifisch von dieser Person gelesenen Bücher, die von diesem Gehirn gespeicherten Informationen, das Wissen dieser Person. Dies ergibt eine Art verhinderten Erhabenheitseffekt, den in der Literatur, der er naturgemäß leichter verfügbar ist, Jorge Luis Borges in seiner berühmten Erzählung Die Bibliothek von Babylon ausgekostet hat, indem er den Gedanken einer alle denkbaren Bücher umfassenden Bibliothek entwirft. Die visuellen Medien scheitern dagegen meistens an der mathematischen Erhabenheit (im Sinne Kants) des Codes, er bildet ihre traditionelle Grenze. Sie sind stattdessen auf die dynamische Erhabenheit der Natur abonniert; doch in den Beispielen, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde, und die nicht allein stehen in den Serien, von denen wir reden, lassen sich bewegte Bilder auf einen Kontakt zu dieser ästhetischen Region, der Erhabenheit des Codes, ein, die man bisher nur als Quatschi-Zahlenflimmern in The Matrix oder animiertes Rechenpapier in Tron kannte, und zwar in Verbindung mit einer Person – das ist wahrscheinlich Voraussetzung dafür – und interessanterweise mit dem Tod. Die unüberschaubare Erhabenheit des mensch-

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The Sopranos. David Chase. HBO. US 1999–2007; Deadwood. David Milch. HBO. US 2004–2006.

104 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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lichen Geistes lässt sich wohl nur dann mit der Trope des Buches oder der Bibliothek in Verbindung bringen, wenn die Betroffenen tot sind. Bei meinem nächsten Beispiel sehen wir zwei Detectives, wie sie die Wohnung eines toten Gangsters inspizieren, den sie jahrelang gejagt haben. Die Zuschauer haben in den 36 Episoden von The Wire, die zu diesem Zeitpunkt schon ins Land gegangen sind, diese beiden Detectives schon öfters Wohnungen inspizieren sehen. Sie sind es gewohnt, ihren Blicken zu folgen; denn die Blicke suchen nach Indizien und Beweismitteln. Hier fallen die Kopfbewegungen von Jimmy McNulty und Bunk Moreland aber etwas ungerichteter aus. Sie versuchen die Inneneinrichtung zu lesen – und dann, als Höhepunkt der Szene, nachdem McNulty bereits ihr Resümee ausgesprochen hat – »Wir hatten keine Ahnung, wen wir gejagt haben« –, zieht er ein Buch aus dem Regal.

Beispiel 2 Mission Accomplished. David Simon u. a. Aus: The Wire. S03 E37, TC: 10:40–11:40. In diesem Beispiel inspizieren die Detectives Jimmy McNulty und Bunk Moreland die Wohnung eines ermordeten Gangsters. Nachdem sie sich erstaunt über den Geschmack und die Belesenheit ihres lange gejagten Feindes äußern, findet McNulty »The Wealth of Nations« von Adam Smith in dessen Bücherregal. 8 Bei dem Buch handelt sich um die Grundlage moderner Nationalökonomie, Adam Smith’ The Wealth of Nations ist unter anderem auch das Buch, gegen das Karl Marx Das Kapital geschrieben hat. Es scheint Informationen über den Charakter des Verstorbenen zu enthalten, ja es scheint das Rätsel, aber auch dessen geahnte Lösungen, die wir auf den Gesichtern der Beamten erkennen können, auf die Spitze zu treiben – und zu lösen. Russel Bell, genannt Stringer, war ein ebenso skrupelloser wie ehrgeiziger Gangster. Er wollte mehr als nur den täglichen Kleinkrieg um die Junkieversorgung an den einschlägigen Straßenecken; er investierte in Immobilien und träumte von einem Wirtschaftsimperi8

Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=YVJScIAdGNo [14. 04. 2021].

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um, das aus dem Drogenhandel hinauswachsen würde; er schmierte Politiker und versuchte in höhere Gesellschaftsschichten vorzudringen. Als Adam-Smith-Leser erscheint er plötzlich als eine Art Musterknabe: ein BWL-Karrierist supreme, komplett mit japanoider Inneneinrichtung. Sagt uns die Szene damit nicht auch, dass der zu Ende gedachte Kapitalismus im Sinne Smiths zwangsläufig zum Gangstertum führt? Ja, das ist die eine mögliche und sicher nicht unerwünschte Lesart. Die Zwangsläufigkeit wäre die der, wenn schon nicht geschmackvollen, so doch selbstbewussten Inneneinrichtung zugrundeliegende schöne, einfache Struktur. Die zweite Lesart aber wäre, dass der Kapitalismus und die von ihm profitierende Bourgeoisie eben keine Option für alle darstellt: Als im Ghetto aufgewachsener Afroamerikaner bleibt für Stringer Bell nur diese Version des Kapitalismus. Nicht zufällig sind Bells Mörder zwei charismatische Vertreter allerdings höchst unterschiedlicher Formen afroamerikanischer Selbstorganisation, mithin die ideologischen Konkurrenten von Bell: Omar Little ist der anarchistische Robin Hood, der die Drogenhändler beklaut, den Süchtigen gibt und einen subkulturellen und schwulen Lifestyle lebt und schon durch seinen Nachnamen Malcolm X – geboren als Malcolm Little – nahesteht; Brother Mouzon hingegen kleidet sich, als gehöre er zur Nation of Islam, einer separatistischen, konservativen und religiösen Organisation, die ebenfalls, wenn auch aus ganz anderen Gründen, die Community gegen ihre selbst hervorgebrachten Kapitalisten verteidigt – obwohl in der Serie beide unterschiedliche Gründe haben, Bell zu töten, auch dass er Leser des Smith-Buches war, könnte einer ihrer Gründe gewesen sein. Beim nächsten Beispiel ist niemand gestorben, es hat nur jemand den Job verloren. Offizielle räumen das Büro des Betreffenden aus und sie haben, anders als unsere Detectives, kein Interesse an der Interpretation der Gegenstände, die sie zusammenpacken. Trotzdem gönnt uns auch hier die Kamera einen Blick auf ein Buch, das ähnlich wie in der zuvor vorgestellten Szene so etwas wie ein Resümee, einen Schluss der ganzen Szene darzustellen scheint. Auch hier wird auf den Abwesenden ein ebenso überraschendes wie ergänzendes Licht geworfen, welches eine lange gehegte Vermutung bestätigt.

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Beispiel 3 Tomorrow. Christopher Misiano u. a. Aus: West Wing. S07 E22, TC: 28:40–29:20. In diesem Beispiel sieht man zu Beginn einen Blues-Sänger auf einem kleinen Monitor, der bei der Inauguration des neuen US-Präsidenten auftritt; von dem Monitor aus folgt die Kamera einer Gruppe von weißbehandschuhten Arbeiter/innen und Helfer/innen, die das Oval Office leer räumen und die privaten Gegenstände des scheidenden Präsidenten in Umzugskisten verstauen. Kurz folgt die Kamera einer Hand, die nach einem Haufen Bücher greift, dabei wird ganz kurz die Vorderseite von Michel Foucaults »Society Must Be Defended« sichtbar. Das Buch, um das es hier geht, ist schwer zu erkennen, es stammt von Michel Foucault und heißt in der amerikanischen Fassung Society Must Be Defended, die deutsche Übersetzung heißt In Verteidigung der Gesellschaft. Es handelt sich um ein Transkript von Foucaults Vorlesungen am College de France in den Jahre 1975/76. Dies ist eine oft als Wendepunkt beschriebene Zeit in Foucaults Entwicklung. Die erste Systematisierung u. a. seines Begriffs der Bio-Macht und der Bio-Politik und anderer zentraler Ideen seiner 1977 mit dem ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« beginnenden letzten Periode seiner Entwicklung lässt sich hier nachverfolgen. Die amerikanische Ausgabe ist 2003 erschienen, die betreffende Episode der Serie West Wing, die sich in sieben Staffeln mit zwei Amtszeiten eines amerikanischen Präsidenten beschäftigt, wurde im Mai 2006 ausgestrahlt und spielt im Januar desselben Jahres, am Tage der Amtsübergabe des scheidenden Präsidenten Bartlet an seinen Nachfolger Santos. Der Präsident der Vereinigten Staaten liest also mehr oder weniger den neuen Foucault, nicht irgendeinen. Ein Beleg für eine meiner früheren Thesen – dass die Leute Serien heutzutage nicht einfach schauen, sondern in ihnen blättern – ist die Tatsache, dass nicht nur mir, sondern mindestens 208 weiteren Personen, die auf die eine oder andere Weise im Netz publizieren, der Titel und der Autor dieses Buches in The West Wing aufgefallen sind. Der Huffington Post-Kolumnist Thomas de Zengotita etwa meint, dass es gerade auf den phantastisch-eskapistischen Charakter der Serie schließen lasse, dass sie uns allen Ernstes verkaufen wolle, es könne einen amerikanischen Präsidenten geben, der »kritische Theorie« zur Kenntnis nehme – aber 107 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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in welchem Sinne ist gerade der 75er Foucault ein kritischer Theoretiker? Der kanadische Soziologe Craig McFarlane, selber Serienfan, argumentiert hingegen, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Inhalt dieses Buches und dem Charakter Bartlet gäbe, dass aber Battlestar Galactica in großem Detailreichtum nicht nur Foucaults, in diesen Vorlesungen erstmals entwickelte Thesen, diskutiere, sondern darüber hinaus auch deren Rezeption und Weiterentwicklung bei Agamben und Lazzarato. Ich möchte beiden widersprechen. McFarlane gibt auch zu, dass er The West Wing nur aus Erzählungen kenne. Die pro Episode zugespitzten politischen Entscheidungen oder auch Unentscheidbarkeiten, um die es in der Serie geht, sind in ihrer skeptischen Einbettung in strukturell Vorentschiedenes etwa der Subjektkritik in Foucaults »Analytik der Macht« durchaus nahe. Vor allem aber werfen sie ein Licht auf die Person des Präsidenten, der – das ist die Idee der Serie – ein Intellektueller an der Macht ist: ein Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, sozusagen die liberal-sozialdemokratische, offizielle, aus altem Ostküstenadel stammende Alternative zu Stringer Bell. So wie am Horizont seines von einer ganz und gar illegitimen Kultur kommenden Denkens für Stringer Bell der gemeinsame Ursprung legalen und illegalen Volkswirtschaftens steht, ein ganz und gar legitimes Buch, so steht am Ende des Horizonts von Präsident Bartlet die Machtkritik eines Autors der 68er-Kultur, während seine letzte Amtshandlung darin besteht, einen ehemaligen Mitarbeiter, der beim Versuch alte linke Ideale hochzuhalten zum Landesverräter wird, zu begnadigen. Das Gehirn als Archiv, als nicht visualisierbare Fülle an Daten ist natürlich immer schon mal wieder von Filmemachern als Herausforderung aufgegriffen worden und nicht immer auf so ungeschickte Weise wie bei den Beispielen, bei denen es um die Erhabenheit des Codes gegangen ist, die ich vorhin genannt habe. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich das Abschalten des Bordcomputers HAL 9000 in Kubricks Space Odyssey 9. Hier wird sozusagen das Negativ des Actionfilms ausgemalt, der uns den Tod eines Menschen immer als das Zusammenbrechen eines Körpers zeigt, dessen kognitive Seite bestenfalls aus mo-

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2001: A Space Odyssey. Stanley Kubrick. UK/US 1968.

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ralischer Männlichkeit besteht, die entweder aushält oder nicht aushält, was dem Körper widerfährt. Der Tod im Actionfilm folgt bis heute dem Laookon-Modell: Menschlichkeit erweist sich durch die Unabhängigkeit der seelischen Substanz vom körperlichen Schmerz. Beim langsamen Abschalten HALs wird der Umstand, dass der Tod eines Menschen vor allem auch das Löschen eines riesigen Archivs bedeutet, inszeniert – allerdings nicht am Beispiel eines konkreten Archivs, sondern am Beispiel künstlicher Intelligenz, die nicht für eine konkrete Person, sondern für Kognition schlechthin steht. Dass das Buch und seine Funktion für das Zeigen, Bedeuten, Inszenieren von oder Vergleichen mit menschlicher Kognition, zerebralen Archiven etc. in Qualitätsserien an Bedeutung gewinnt, hat aber noch einen anderen Grund. Die ästhetischen Werte des klassischen Erzählkinos sind von den Mitteln abgeleitet, die filmisches Erzählen gefunden haben, um Stoffmengen zu bewältigen, die gelesen ungefähr 10 bis 15 Stunden dauern. Die Zahlen basieren auf Durchschnittswerten, aber in der Regel basieren Spielfilme des letzten Jahrhunderts, so sie sich auf vorher schon veröffentlichte Literatur beziehen, auf Texten, die im Schnitt um die 200 Seiten lang sind und die zu lesen man zwischen 400 und 800 Minuten braucht. Die elliptische Kontraktion der Bilderbetrachtungszeit auf ein Zehntel der Lesezeit bringt bestimmte syntaktische und rhetorische Mittel hervor, deren Verknappungsleistung als filmisch schön empfunden wird. Dazu gehört eine behavioristische Konzentration darauf, wie menschliches Fühlen von außen aussieht – trotz natürlich beträchtlicher Versuche nicht zuletzt unter Einfluss von Surrealismus und Psychoanalyse, Träumen und der Innenarchitektur des Oberstübchens zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Erzählzeiten der Serienbücher sind dagegen beträchtlich länger, hier deckt sich die durchschnittliche Staffellänge mit der durchschnittlichen Leselänge eines durchschnittlichen Romans. Dies eröffnet die Möglichkeit eines anderen Verhältnisses dessen, was das Buch im zweiten Sinne zeigen oder veranschaulichen soll. Das Archiv wird als das persönliche Archiv darstellbar – die Konjunktur von psychoanalytischem Personal bei etwa den Sopranos oder in Serien wie In Treatment oder Maniac legt davon Zeugnis ab, aber auch die vielen Supervisoren, Vorgesetzten und anderen Instanzen der Verdichtung und Verschiebung in den Verwaltungsapparaten von The Wire – und 109 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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es wird zugleich von seiner Beschränkung darauf als Extension toter oder pensionierter Menschen sowie als Zeichen ihrer vergangenen Einzigartigkeit getrennt und permanent in die Handlung integriert. Zum Schluss noch eine weitere, neuere Funktion des Buches, die einiges der alten Funktion aufgenommen hat. Die ebenfalls klassische Qualitätsserie Mad Men 10 hat auch eine Reihe lesender Charaktere, die so nicht nur metonymisch auf einen Charakterzug festgelegt werden, sondern eine unerwartete Seite ihres Charakters offenbaren. François Truffaut hat einmal am Auftritt eines lesenden Cowboys in Nicholas Rays Johnny Guitar den Einzug von Urbanität in den Western festgemacht. In der Stadt hat man es mit Routinen zu tun und wer wartet, liest. In der postfordistischen Informations- und Wissensgesellschaft stellt der Wartende aber darüber hinaus zur Schau, wie er wartet und was in ihm oder ihr dabei abläuft, indem er oder sie das Buch sichtbar hält, das er oder sie liest. Hier liest einer erkennbar ein Buch und ein anderer antwortet ihm:

Beispiel 4 For Those Who Think Young. Tim Hunter. Aus: Mad Men. S02 E01, TC: 08:13–09:25. In diesem Beispiel sieht man Don Draper ein schnelles Lunch an der Theke einnehmen. Neugierig schaut er zu, wie sein Thekennachbar, ein Beatnik, in einem Lyrikband liest, »Meditations in an Emergency« von Frank O’Hara. Draper erkundigt sich, ob das Buch gut sei, der Beatnik bejaht, es sei aber nichts für ihn (Draper). 11 Der interessierte, zum Reden aufgelegte Bar-Besucher ist die MadMen-Hauptfigur Don Draper. Unter allen Spießern der späten 50er und frühen 60er, um die es hier geht, ist er der geheimnisvollste. Er hat ein anderes Leben hinter sich und er führt ein zweites, während er ein erfolgreicher Werber ist; dieses zweite Leben hat u. a. zum Kontakt mit Beatniks und Unangepassten geführt: er hatte eine Weile eine Ge-

10 11

Mad Men. Matthew Weiner. AMC. US 2007–2015. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=qB5pwX2IR0k [14. 04. 2021].

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liebte, die in diesem Milieu verkehrte. Daher seine Aufmerksamkeit, sein Interesse: Was denken die Brüder? Das Buch »Meditations in an Emergency« stammt von Frank O’Hara, dessen kulturhistorische Sonderstellung nicht zuletzt darin besteht, dass er einerseits mit den unangepassten und zu einem gewissen Grad auch antimodernistischen Beatnik-Dichtern seiner Zeit andererseits mit den hochmodernistischen Malern und Komponisten der New York School engen Kontakt hatte. Sein Buch von 1957 ist ein Schlüssel zu der anderen Gegenwart der späten 50er, der unangepassten Gegenwart von Beatniks, Schwulen, Bürgerrechtlern und Drogen-Usern, die im Laufe der Serie wichtiger werden sollen. Doch das Buch, mit dem sich der eine ziert, mit dem er sich im urbanen Konkurrenzkampf der Outfits und Lebenseinstellungen fast schon so schmückt, wie man sich heute mit Merkmalen der Identität und des Andersseins schmückt, die mittlerweile nichts mehr bedeuten, als dass man dasselbe tut wie alle anderen, dieses Buch ist für den anderen nur halb erreichbar: es bleibt Traum und Subtext. Am Ende sehen wir Draper, wie er an eine Person – vermutlich seine BeatnikGeliebte – dieses Buch schickt und dazu ein Gedicht aus dem Buch zitiert. Dazu sehen wir ihn, wie er, ohne Dialog, die kleine spießbürgerliche Freiheit des Mit-dem-Hund-nochmal-Rausgehens nutzt, um Brief und Buch in den Briefkasten zu schmeißen. Frank O’Haras Gedichte verhalten sich ähnlich zu Draper wie Adam Smith und Michel Foucault zu Stringer Bell und President Bartlet, aber Draper ist nicht tot und pensioniert: Wir finden die Bücher nicht im Archiv, sondern sehen zu, wie sie dort verstaut werden. Wir erleben sozusagen die Bücher als Handelnde, die noch am Leben sind und geheimnisvolle Reisen antreten, geheimnisvoller als der Weg des Hundes und seines Besitzers zum Baum an der Ecke.

Beispiel 5 For Those Who Think Young. Tim Hunter. Aus: Mad Men. S02 E01, TC: 45:00–46:00. Draper liest im Off ein Gedicht aus »Meditations«, während er einen Brief schreibt und das Buch verpackt. Dann hören wir ihn im Off seinen Brief lesen, während er das Haus verlässt und das Päckchen zum Briefkasten 111 https://doi.org/10.5771/9783495826133 .

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bringt. Seiner Frau ruft er durchs Einfamilienhaus zu, er gehe noch einmal mit dem Hund raus. 12

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Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=dPPhd4elT5o [14. 04. 2021]. Teile der zweiten Hälfte dieses Textes sind in ähnlicher Form schon erschienen als »In bewegten Bildern blättern: Die Videothek von Babylon« [dt./engl.], in: Christoph Dreher (Hrsg.): Autorenserien. Stuttgart: Merz & Solitude, 2010.

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Zur ästhetisch-seriellen Narration des Korans Ahmad Milad Karimi (Münster) »Gott hat allen Dingen die Schönheit eingeschrieben.« 1 Der Prophet Muḥammad

In der vierten Folge der dritten Staffel der Qualitätsserie 2 House of Cards 3 ist Frank Underwood (Kevin Spacey) in seinem Büro zu sehen, der am Schreibtisch sitzt, die Füße hochgelegt intensiv aus einem Buch liest. Das Buch hat einen schwarzen Einband. Der Titel ist nicht erkennbar. Erst als er durch die Ankündigung eines Besuchs beim Lesen gestört wird, legt er das Buch auf den Schreibtisch. Durch die nächste Kameraeinstellung wird der Titel erkennbar: The Holy Qurʾ ān. Religion spielt in der Serie explizit keine bedeutende Rolle. Wenn die Religion überhaupt thematisiert wird, dann im Zusammenhang mit der Politik, als Instrument der Macht. Umso bemerkenswerter wirkt die Szene, die ohne eine Hinführung Underwood bei der Lektüre des Korans zeigt. Nicht unähnlich zeigt die Serie Orange Is the New Black auch in der vierten Folge der dritten Staffel das Motiv der unmittelbaren Koranlektüre. Alex Vause (Laura Prepon) liest im Gefängnis aus dem Koran. Die Botschaft ist dabei uneindeutig, durchaus irritierend. 4 Bei 1

Muslim: Ṣaḥ