Narration und Epistemologie zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit: Fallstudien zum französischen Roman des 18. Jahrhunderts 3515132791, 9783515132794

In welchem Verhältnis steht die im 18. Jahrhundert aufkommende Empfindsamkeit zur Aufklärung? Angesichts der Kopräsenz l

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German Pages 287 [290] Year 2022

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem
1.2.1 Zurück zur Frage: „Was ist Aufklärung?“
1.2.2 Aufklärung als literarische Epoche? Zur Bestimmung von ‚Aufklärungsliteratur‘
1.2.3 Die Literatur der Empfindsamkeit
1.2.4 Sensibilité als Kontaktpunkt von Empfindsamkeit und Aufklärung
1.2.5 Aufklärung und Empfindsamkeit in epochentheoretischer Hinsicht
2. Die Physiologisierung der Empfindsamkeit im Zeichen der Religionskritik: Diderots La Religieuse
2.1 Das empfindsame Modell: Diderots Richardson-Rezeption im Éloge de Richardson
2.2 Zwischen Identifikation und Distanzierung: Die Refunktionalisierung empfindsamer Wirkungsästhetik in La Religieuse
2.2.1 Der Entstehungskontext von La Religieuse
2.2.2 Empfindsame Strukturen und identifikatorische Wirkungsästhetik in La Religieuse
2.2.3 Leidnarrativ und Tableau-Ästhetik
2.3 Die Erweiterung des sensibilité-Begriffs in La Religieuse
2.3.1 Sensibilité im medizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts und in Diderots naturphilosophischen Schriften
2.3.2 Das klinische Auge der Narration und die interpretative Leerstelle
2.4 Diskrepanzen vs. bévues: Narrative Diskrepanzen als Instrumente kritischer, metapoetischer und epistemologischer Bedeutungskonstitution
2.4.1 Erzählerische franchise und unzuverlässiges Erzählen
2.4.2 Topische Unschuld und Sexualität
2.4.3 Suzanne und die Klosterkritik
2.5 Fazit: Die drei Ebenen der Bedeutungskonstitution in La Religieuse
3. Die Empfindsamkeit im Dienst der politischen Satire der Aufklärung: Voltaires L’Ingénu
3.1 ‚Komisch‘ und ‚empfindsam‘: Hybridität als Problem der Forschung
3.2 Theorie der literarischen Satire: Das Satirische als negativ-implizierende Schreibweise und als Überlagerung von Kommunikationsmodi
3.3 Die satirische Struktur: Politische Satire als temporal kodierte Analogie
3.3.1 „En l’année 1689, le 15 juillet au soir …“: Die Fiktion und ihr historischer Kontext
3.3.2 1767 – Aktualitätsbezüge
3.4 Das satirische Objekt: Die politische Konstellation um 1760
3.4.1 Bürokratie und Absolutismus
3.4.2 Die Lettre de cachet
3.4.3 Die Verstrickung weltlicher und religiöser Machtansprüche
3.5 Verfolgung als Resultat der politischen Konstellation
3.5.1 Der Fall Quesnel als Rezeptionslenkung
3.5.2 Von Füchsen und Wölfen II: Jesuiten und Jansenisten als Verfolger und Verfolgte
3.5.3 Verfolgung empfindsam: Mademoiselle de Saint-Yves
3.6 Empfindsame Strukturen und Satire in L’Ingénu
3.6.1 Ironisierte Empfindsamkeit
3.6.2 Empfindsamkeit und politische Satire
3.7 Zusammenfassung
4. Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus: Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut
4.1 Das Klassifikationsproblem: Prévost zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit
4.2 Ambivalenzen im „Avis de l’auteur“
4.2.1 Exemple und bizarrerie: Begriffliche, moralische und epistemologische Ambivalenzen
4.2.2 Le Pour et contre: Prévosts proto-journalistisches Interesse an den Erscheinungen des Bizarren
4.2.3 Prévost zwischen Empirismus und moralischer Normativität
4.3 Eine bizarre Konstellation: Die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut als Kasus
4.3.1 Singularité als Wesensmerkmal des bizarren Kasus
4.3.2 Die Konkurrenz moralischer Ordnungen
4.4 Zusammenfassung
5. Schluss
Literaturverzeichnis
Index nominum
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Narration und Epistemologie zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit: Fallstudien zum französischen Roman des 18. Jahrhunderts
 3515132791, 9783515132794

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Anna Cordes

Narration und Epistemologie zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit Fallstudien zum französischen Roman des 18. Jahrhunderts

TEXT UND KONTEXT | 41 Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft Franz Steiner Verlag

Text und Kontext Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft Herausgegeben von Klaus W. Hempfer Band 41

Narration und Epistemologie zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit Fallstudien zum französischen Roman des 18. Jahrhunderts Anna Cordes

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universtät Berlin e.V.

Umschlagabbildung: François Boucher, „Jeune fille en méditation“ (estampe, 1er état). © Gallica/Bibliothèque nationale de France Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Zugleich: Dissertation, Freie Universität Berlin, 2020 (D188) Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13279-4 (Print) ISBN 978-3-515-13284-8 (E-Book)

Danksagung Das vorliegende Buch stellt die leicht erweiterte Fassung meiner Promotionsschrift dar, die im Februar 2020 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen und im Juli desselben Jahres dort verteidigt wurde. Seine Fertigstellung verdanke ich einer Reihe von Personen und Institutionen. Ohne die finanzielle Unterstützung der Berliner Landesgraduiertenförderung durch das Elsa-Neumann-Stipendium wäre diese Arbeit womöglich nie entstanden. Am Beginn der Redaktion stand außerdem ein Forschungsaufenthalt an der Pariser Bibliothèque nationale, der durch ein Stipendium des durch den DAAD geförderten Netzwerkes „Principles of Cultural Dynamics“ möglich gemacht wurde. Die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universtät Berlin hat mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss die Publikation erleichtert. Mein Dank gilt all jenen Personen, die durch Lektüre, Diskussionen, Kritik und Ermutigungen zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle ist dies Herr Professor Klaus W. Hempfer. Ihm danke ich herzlich dafür, mich als Studentin für die systematische Literaturwissenschaft begeistert, die Betreuung des Promotionsvorhabens übernommen und die Arbeit mit seiner unschätzbaren Expertise im Bereich der französischen Aufklärung und der Literaturtheorie bereichert zu haben. Mit der Aufnahme des Buches in die von ihm begründete Reihe „Text und Kontext“ hat er außerdem ermöglicht, dass es ein größeres akademisches Publikum erreicht. Frau Professorin Ulrike Schneider danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Das von ihr gemeinsam mit Herrn Professor Hempfer geleitete Oberseminar am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin gab mir mehrfach die Gelegenheit, Zwischenergebnisse der Dissertation vorzustellen. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sei für die vielen wertvollen Hinweise gedankt. In vielen gemeinsamen Stunden in Hamburger Bibliotheken konnte ich den Aufklärungsbegriff in der Diskussion mit Maxim Görke und Christiane Müller-Lüneschloß schärfen. Herrn Professor Dieter Lenzen sowie meinen Kolleginnen und Kollegen im Präsidialbereich der Universität Hamburg gilt mein besonderer Dank für die Freiräume in der Abschlussphase der Redaktion.

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Danksagung

Schließlich danke ich Simon Schliffke – nicht nur – für sein fachfremdes offenes Ohr und seine liebevolle Unterstützung in allen Höhen und Tiefen der Promotion. Ihm und meinen Eltern, auf die ich bei allen Entscheidungen immer zählen konnte, ist dieses Buch gewidmet.

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Zurück zur Frage: „Was ist Aufklärung?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.1 Zeitgenössisches Epochenbewusstsein und epistemologische Kriterien der Epochisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.2 Historische Tragfähigkeit der Opposition von Rationalismus und Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.3 Der Rationalismus der Aufklärung in epistemologischer und funktionaler Perspektive als Verbindung von longue durée und Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.4 Pluralisierungen des Aufklärungsbegriffs in der neueren Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Aufklärung als literarische Epoche? Zur Bestimmung von ‚Aufklärungsliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Die Literatur der Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Sensibilité als Kontaktpunkt von Empfindsamkeit und Aufklärung . . . . . . . . 1.2.5 Aufklärung und Empfindsamkeit in epochentheoretischer Hinsicht . . . . . . . . . 2. Die Physiologisierung der Empfindsamkeit im Zeichen der Religionskritik: Diderots La Religieuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das empfindsame Modell: Diderots Richardson-Rezeption im Éloge de Richardson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zwischen Identifikation und Distanzierung: Die Refunktionalisierung empfindsamer Wirkungsästhetik in La Religieuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der Entstehungskontext von La Religieuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Empfindsame Strukturen und identifikatorische Wirkungsästhetik in La Religieuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Die empfindsame Rahmung I: Die Konstruktion des empfindsamen Rezipienten . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2.2 Die empfindsame Rahmung II: Die Konstruktion der unschuldigen Heldin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Das Altersproblem der Protagonistin im Kontext der Unschuldsbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Leidnarrativ und Tableau-Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Erweiterung des sensibilité-Begriffs in La Religieuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Sensibilité im medizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts und in Diderots naturphilosophischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das klinische Auge der Narration und die interpretative Leerstelle . . . . . . . . . 2.4 Diskrepanzen vs. bévues: Narrative Diskrepanzen als Instrumente kritischer, metapoetischer und epistemologischer Bedeutungskonstitution . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Erzählerische franchise und unzuverlässiges Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Topische Unschuld und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Suzanne und die Klosterkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Fazit: Die drei Ebenen der Bedeutungskonstitution in La Religieuse . . . . . . . . . .

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3. Die Empfindsamkeit im Dienst der politischen Satire der Aufklärung: Voltaires L’Ingénu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.1 ‚Komisch‘ und ‚empfindsam‘: Hybridität als Problem der Forschung . . . . . . . . . 140 3.2 Theorie der literarischen Satire: Das Satirische als negativ-implizierende Schreibweise und als Überlagerung von Kommunikationsmodi . . . . . . . . . . . . . 141 3.3 Die satirische Struktur: Politische Satire als temporal kodierte Analogie . . . . . 147 3.3.1 „En l’année 1689, le 15 juillet au soir …“: Die Fiktion und ihr historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.3.2 1767 – Aktualitätsbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.4 Das satirische Objekt: Die politische Konstellation um 1760 . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.4.1 Bürokratie und Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.4.2 Die Lettre de cachet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.4.3 Die Verstrickung weltlicher und religiöser Machtansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3.4.3.1 Jesuiten in der Fiktion und als satirisches Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.4.3.2 Von Füchsen und Wölfen I: Jesuiten und Jansenisten als Analogie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.5 Verfolgung als Resultat der politischen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.5.1 Der Fall Quesnel als Rezeptionslenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.5.2 Von Füchsen und Wölfen II: Jesuiten und Jansenisten als Verfolger und Verfolgte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.5.3 Verfolgung empfindsam: Mademoiselle de Saint-Yves. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3.6 Empfindsame Strukturen und Satire in L’Ingénu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3.6.1 Ironisierte Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3.6.2 Empfindsamkeit und politische Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Inhaltsverzeichnis

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4. Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus: Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut. . . . . . . . . . . . 209 4.1 Das Klassifikationsproblem: Prévost zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4.2 Ambivalenzen im „Avis de l’auteur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4.2.1 Exemple und bizarrerie: Begriffliche, moralische und epistemologische Ambivalenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4.2.2 Le Pour et contre: Prévosts proto-journalistisches Interesse an den Erscheinungen des Bizarren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4.2.3 Prévost zwischen Empirismus und moralischer Normativität . . . . . . . . . . . . . . 227 4.3 Eine bizarre Konstellation: Die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut als Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.3.1 Singularité als Wesensmerkmal des bizarren Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.3.1.1 Singularität und induktiver Erkenntnismodus am Beispiel des Des Grieux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.3.1.2 Manon Lescaut als caractère extraordinaire: Vergnügungssucht und ‚bizarrer‘ Liebesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4.3.1.3 Die Singularität der histoire als erzählerisches Experiment . . . . . . . 244 4.3.2 Die Konkurrenz moralischer Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.3.2.1 Honneur vs. Sentiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.3.2.2 Wirkungsästhetische Ambivalenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.3.2.3 Die Ambivalenz des Liebesbegriffs: amour-passion und amour tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

1. Einleitung 1.1 Problemstellung Im Zentrum der wissenschaftlichen Befassung mit der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts stehen traditionsgemäß die Werke der Aufklärung. Kaum eine kulturgeschichtliche Konstellation hat die neuere Geschichte so sehr geprägt wie die Lumières. Nach ihrer anfänglichen Ablehnung durch eine Philologie des 19. Jahrhunderts, die den ästhetischen Wert ihrer Werke in Abrede stellte, haben die Autoren der Aufklärung ihren Platz auf dem Parnass der französischen Literatur eingenommen. Dass neben den i. e. S. ‚aufklärerisch‘ zu nennenden literarischen Texten auch solche das Produkt des Zeitalters sind, die in keiner Beziehung zum Paradigma Aufklärung stehen, wird dabei von der Präsenz Ersterer überblendet. Und auch die Texte der Aufklärung selbst wurden lange Zeit fast ausschließlich als Mittel einer propagande philosophique, als bloßes Vehikel einer politischen These oder ideologischen Parteinahme rezipiert.1 Als typische Form dieser ‚philosophischen Propaganda‘ galt der sog. conte philosophique, dessen Gattungsmerkmale aus der Kurzprosa Voltaires abgeleitet wurden. Obwohl sich die Forschung in der jüngeren Vergangenheit zunehmend auch denjenigen contes widmet, die sich nicht lediglich als Illustration einer philosophischen These begreifen lassen,2 hält sich das Vorurteil, die (französische) Aufklärung manifestiere sich idealtypisch in der Form des conte philosophique, hartnäckig. Dieses Vorurteil beruht auf einer in der älteren Forschung konstruierten Dichotomie zwischen einer distanzierenden – als ‚philosophisch‘ bezeichneten – Narrativik einerseits, die den emoti-

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Gegen diese bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitete Lesart positioniert sich Thoma, Heinz, „Vorurteil und Urteilsbildung in der Narrativik der französischen Spätaufklärung“, in: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption – Expression des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, hg. v. R. Bach u. a., Tübingen 1999, S. 551–564, indem er das reflexive Potential der aufklärerischen Narration aufzeigt. Zu nennen sind etwa Baron, Konstanze, Diderots Erzählungen. Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung, Paderborn 2014; sowie Astbury, Katherine, The Moral Tale in France and Germany, 1750–1789, Oxford 2002.

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Einleitung

onal uninvolvierten Leser3 zu der kritischen Überprüfung einer dem Text zugrundeliegenden These anleite, sowie einer empfindsamen Erzählweise andererseits, die der emotionalen Anteilnahme des Lesers für den Zweck der moralischen Ausbildung verpflichtet sei (émouvoir pour instruire).4 Vor dem Hintergrund dieser schematischen Gegenüberstellung und der ihr zugrundeliegenden Auffassung von ‚Aufklärungsliteratur‘ ist es leicht nachzuvollziehen, weshalb lediglich die distanzierende Erzählhaltung mit dem kritischen Impetus, welcher der Aufklärung gemeinhin zugeschrieben wird, vereinbar schien. Wenn Henri Coulet allerdings einzig Montesquieus Lettres persanes (1721) und Voltaires contes als erfolgreiche Umsetzung des récit philosophique erachtet5 und dabei fast die Gesamtheit der literarischen Produktion des Zeitalters ausschließt, wird deutlich, dass die wirkungsästhetische Kategorie der „distanciation“6 als Bestimmungskriterium für ‚Aufklärungsliteratur‘ zu eng ist, um die Facetten dieser Literatur abzubilden. Vielmehr belegen Texte wie Denis Diderots La Religieuse (1760/1796) eine Nähe zu jenem Erzählmodus, der in der genannten Dichotomie als das genuine Gegenteil aufklärerischen Schreibens konzipiert wurde. Die Rede ist von einem der Empfindsamkeit verpflichteten Erzählen, das sich in seiner spezifisch französischen Variante im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts u. a. als Ergebnis des Kulturtransfers mittels englischer Romane, Dramen und moralischer Wochenschriften herausbildete. Empfindsamkeit und Aufklärung, so lässt sich anhand von Diderots Roman nachweisen, stellen keineswegs einander ausschließende Kategorien dar. Weder lässt sich Aufklärungsliteratur abschließend über die gleichartige wirkungsästhetische Strukturierung einer Gruppe von Texten bestimmen, auch wenn eine derartige Wirkungsästhetik eine Vielzahl aufklärerischer Texte auszeichnen mag; noch handelt es sich bei der Empfindsamkeit um eine kulturelle Erscheinung, die der Aufklärung wesentlich widerspräche. Im Gegenteil tendieren neuere Forschungsansätze zur Empfindsamkeit dazu, diese als einen Bestandteil der Aufklärung zu beschreiben.7 Auf die Probleme dieses Zugangs zur empfindsamen Literatur ist in Abschnitt 1.2.5. zurückzukommen. Im Unterschied hierzu werden Aufklärung und Empfindsamkeit in der vorliegenden Arbeit als Textgruppenbildungen verstanden, die einem jeweils anderen Erkenntnisinteresse folgen.

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Ich verwende das generische Maskulinum, schließe Rezipientinnen jedoch ausdrücklich ein. Vgl. symptomatisch: Coulet, Henri, „La distanciation dans le roman et le conte philosophique“, in: Roman et lumières au XVIIIe siècle. Colloque organisé par le Centre d’études et de recherches marxistes et la Société française d’étude du XVIIIe siècle, Paris 1970, S. 438–447; sowie Gusdorf, Georges, Les Principes de la pensée au siècle des Lumières, Paris 1971, S. 25. Coulet 1970, S. 441 f. Ebd. So etwa Wegmann, Nikolaus, Diskurse der Empfindsamkeit: Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988; sowie Sauder, Gerhard, „Spielarten der Empfindsamkeit in England, Frankreich und Deutschland“, in: Europäische Aufklärung(en) – Einheit und nationale Vielfalt, hg. v. S. Jüttner u. S. Schlobach, Hamburg 1992, S. 106–116.

Problemstellung

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Anhand der Kategorien Aufklärung und Empfindsamkeit, die in Diderots La Religieuse zumindest partiell gleichzeitig zur Anwendung kommen, wird ein weitreichenderes Problem der Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts fassbar, das in der Pluralität der in diesem Zeitraum rekonstruierbaren literarischen Strömungen besteht. Neben den zwei genannten Epochenbegriffen stellt sich das Problem der gleichzeitigen Gültigkeit im 18. Jahrhundert auch für die Konzepte Klassizismus und Libertinage. Eine Untersuchung des historischen Verhältnisses dieser – und ggf. anderer mehr – zueinander hat sich der Fragen zu widmen, ob es sich um voneinander gänzlich unabhängige Paradigmen oder vielmehr um thematisch, genetisch oder erkenntnistheoretisch miteinander verbundene Elemente einer übergreifenden epochalen Konstellation handelt. So gilt etwa für die littérature libertine, dass sie sich in einer Relation zur Empfindsamkeit konstituiert, die als eine der ideologischen und wirkungsästhetischen Umkehr beschrieben werden kann, da die empfindsamen Topoi im Libertinage in negativer Verkehrung einer erotischen Refunktionalisierung unterliegen. Darüber hinaus lässt sich zumindest für eine Teilmenge der libertinen Literatur nachweisen, dass die dargestellten – in der pornographischen Variante der Strömung teils drastischen – Grenzüberschreitungen mit Theoremen der Aufklärung legitimiert werden. Für beide Zusammenhänge legen die Texte des Marquis de Sade ein beredtes Zeugnis ab. In systematischer Hinsicht ist auf der Basis der historischen Analyse zu fragen, welcher terminologische Status Aufklärung, Empfindsamkeit, Libertinage und Klassizismus im Hinblick auf das Literatursystem des 18. Jahrhunderts zukommt. Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Problematik, die zum einen die Bestimmung von Aufklärungsliteratur und zum anderen das systematische Verhältnis zeitgleich sich konstituierender literarischer Strömungen betrifft, widmet sich die vorliegende Arbeit der Konfiguration von Aufklärung und Empfindsamkeit in französischen Romanen des 18. Jahrhunderts. Anhand ausgewählter literarischer Texte wird unter Bezugnahme auf neuere Ansätze der Epochentheorie eine funktionale Vermittlung der genannten Kategorien entwickelt. Dieses Modell ist in einem Begriff von Aufklärung fundiert, der von der grundlegenden funktionalen Indienstnahme der literarischen Form für die Durchsetzung eines mit Aufklärung assoziierten Denkstils ausgeht. Abseits einer Verengung auf die ironische Kommunikation, die eine Vielzahl der Voltaire’schen contes auszeichnet, kann gezeigt werden, dass die Erzählmodi, derer sich die Aufklärung für diesen Zweck bedient, auch die Erzählformen der Empfindsamkeit einschließen und damit weitaus variantenreicher sind, als von Coulets Einschränkung auf die „distanciation“ suggeriert. Hierzu werden in einem ersten theoretischen Teil die Grundannahmen der Arbeit und die ihr zugrundeliegenden Begrifflichkeiten entwickelt. Neben den Bestimmungen von ‚Aufklärung‘ und ‚Aufklärungsliteratur‘ handelt es sich hier in erster Linie um eine Definition von ‚Empfindsamkeit‘ sowie eine Herleitung der epochentheoretischen Voraussetzungen für die systematische Vermittlung empfindsamen und aufklärerischen Schreibens. Anschließend werden anhand dreier Romane verschiedene

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Einleitung

Ausprägungen des Verhältnisses von Aufklärung und Empfindsamkeit untersucht. Mit dem bereits genannten Roman Diderots, La Religieuse, sowie Voltaires L’Ingénu (1767) wird zunächst eine jeweils andersartige aufklärerische Funktionalisierung von ‚Empfindsamem‘ betrachtet. Abschließend wird mit dem bekanntesten Roman des Abbé Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut (1731/1753), ein Text in den Blick genommen, der in der Forschung bislang vornehmlich vor dem Horizont der Entwicklung der Empfindsamkeit in Frankreich und nur selten vor dem Hintergrund des aufklärerischen Paradigmas untersucht wurde. Dagegen lässt sich an diesem Roman verdeutlichen, wie die empfindsame Strukturierung einer Konfliktkonstellation zuarbeitet, die Affinitäten zum Denken der Aufklärung aufweist. 1.2 Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem 1.2.1 Zurück zur Frage: „Was ist Aufklärung?“ Wenigen Epochen der Geschichte ist seitens der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften so viel Aufmerksamkeit zuteil geworden wie der Aufklärung. So mangelt es nicht an von der historischen Semantik inspirierten Begriffsrekonstruktionen, an Epochenumrissen und, vor allem in der französischen Forschung, an philosophiegeschichtlichen ouvrages de synthèse über das historische Phänomen ‚Aufklärung‘ in seinen nationalen8 wie europäischen,9 in geringerem Maße zuletzt auch transatlantischen10 Ausprägungen. Mit der in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts erreichten nötigen zeitlichen Distanz wurde die Aufklärung u. a. in philosophischer und philosophiegeschichtlicher,11 ästhetischer,12 literatur-,13 kultur-,14 motiv-15 und wissens-

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Siehe für Frankreich z. B. Beaurepaire, Pierre-Yves, La France des Lumières 1715–1789, Paris 2011; sowie für die deutsche Aufklärung Martus, Steffen, Aufklärung: Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild, Berlin 2015. Siehe exemplarisch Geier, Manfred, Aufklärung. Das europäische Projekt, Reinbek bei Hamburg 2012; sowie Galle, Roland / Pfeiffer, Helmut (Hgg.), Aufklärung, München 2007. Siehe etwa Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006; Lavalle, Bernard (Hg.), L’Amérique espagnole à l’époque des Lumières: Tradition, innovation, représentations. Colloque franco-espagnol du CNRS, 18–20 septembre 1986, Paris 1987; sowie die im Kontext des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten, an den Universitäten Bremen und Halle durchgeführten Forschungsprojekts „Transatlantische Ideenzirkulation und -transformation: Die Wirkung der Aufklärung in den neueren frankokaribischen Literaturen“ erschienenen Publikationen. Nach wie vor maßgeblich ist Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1973 [1932]; sowie Kondylis, Panajotis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981. Grundlegend Chouillet, Jacques, L’Esthétique des Lumières, Paris 1974; sowie Mortier, Roland, L’Originalité. Une nouvelle catégorie esthétique au siècle des Lumières, Genf 1982. Etwa D’Aprile, Iwan-Michelangelo / Siebers, Winfried, Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2008.

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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geschichtlicher16 Perspektive, neuerdings auch aus seitens der Geschlechter-17 sowie der Mediengeschichte18 eingeordnet, in ihre Bestandteile zerlegt und begrifflich definiert. Dass dieses beständige Forschungsinteresse auch und vor allem der imperfektischen Temporallogik des Terminus ‚Aufklärung‘ selbst sowie ihrem hiermit verbundenen prinzipiell unabgeschlossenen Programm zu verdanken ist, hat zuletzt Gideon Stiening in seiner Besprechung zweier für diese Forschungstendenz beispielhafter Sammelbände herausgestellt.19 Hinlänglich untersucht worden ist auch, dass sich bereits diejenigen, die wir heute als ‚Aufklärer‘ bezeichnen, an Verortungen ihres Schreibens und Handelns, mithin der ‚Aufklärung‘ bzw. des siècle des Lumières, versucht haben.20 Vor dem Hintergrund dieser umfangreichen Vorarbeiten beabsichtigt die vorliegende Arbeit nicht, eine allumfassende Standortbestimmung der modernen Aufklärungsforschung vorzulegen, was bei der schieren Fülle der wissenschaftlichen Produktion in diesem Bereich weder praktikabel noch erkenntnisfördernd erschiene. Zielführender ist es, in Zuschneidung auf das Problem der Relationierung ‚aufklärerischer‘ und ‚empfindsamer‘ literarischer Texte wesentliche Beiträge der Aufklärungsforschung auszuwählen, um ausgehend von ihrem Erkenntnisinteresse etwaige Wissensdesiderate zu formulieren und in der Rekombination unterschiedlicher Ansätze ein Epochenkonstrukt Aufklärung zu skizzieren, das für die Periodisierung der Literaturgeschichte und gleichzeitig für die Analyse literarischer Texte operationalisierbar sein wird.

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Goodman, Dena, The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment, Ithaca/ London 1994. Exemplarisch Schlüter, Gisela, Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung. Materiale und formale Aspekte, Tübingen 1992; Delon, Michel, L’Idée d’énergie au tournant des Lumières, 1770–1820, Paris 1988; sowie Mauzi, Robert, L’Idée de bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle, Paris 1960. So z. B. Vartanian, Aram, Science and Humanism in the French Enlightenment, Charlottesville 1999; sowie Gipper, Andreas, Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich, von Cyrano de Bergerac bis zur Encyclopédie, München 2002. Siehe Gargam, Adeline, Les Femmes savantes, lettrées et cultivées dans la littérature française des Lumières, ou la conquête d’une légitimité, Paris 2013; sowie Steinbrügge, Lieselotte, Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Stuttgart 1992. Siehe etwa Stöber, Rudolf u. a. (Hgg.), Aufklärung der Öffentlichkeit – Medien der Aufklärung. Festschrift für Holger Böning zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2015; sowie als Vertreter eines ahistorischen Aufklärungsbegriffs Vogel, Matthias, Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt am Main 2001. Siehe ebenfalls die umfangreichen Arbeiten von Robert Darnton zum Publikationswesen im 18. Jahrhundert. Stiening, Gideon, Sammelbesprechung von Stockhorst, Stefanie (Hg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, sowie Berndt, Frauke / Fulda, Daniel (Hgg.), Die Sachen der Aufklärung. Beiträge der DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2012, in: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 34/1 (2016), S. 54–58, dort S. 54. Mortier, Roland, „‚Lumière‘ et ‚Lumières‘. Histoire d’une image et d’une idée au XVIIe et au XVIIIe siècle“, in: ders., Clartés et ombres du siècle des lumières. Études sur le XVIIIe siècle littéraire, Genf 1969, S. 13–59.

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Einleitung

Wie jede anhand wissenschaftlicher Maßstäbe verfahrende Konstruktion21 literarhistorischer Epochen ist auch die Bestimmung der Epoche Aufklärung abhängig von den zugrunde gelegten Kriterien der Epochisierung. Die Unterschiedlichkeit der verwendeten Periodisierungskriterien mündet in ebenso unterschiedlichen Aufklärungsbegriffen, wobei freilich nicht alle Verständnisse von Aufklärung in gleichem Maße wissenschaftlich legitim sind. Es gilt daher diejenigen Kriterien zu definieren, auf deren Basis sich ein historisch wie systematisch tragfähiges Aufklärungskonzept konstruieren lässt, das sich von ihr vorausgehenden und nachfolgenden, aber auch kopräsenten Konstellationen unterscheidet. Ohne an dieser Stelle näher auf die theoretischen Voraussetzungen von Epochenkonstruktionen und ihre etwaigen Abstraktionsgrade einzugehen,22 lässt sich doch zunächst festhalten, dass ein rein thematisch ausgerichtetes Vorgehen kaum geeignet kein kann, das Spezifische der Aufklärung aus der Diachronie der Literatur- und Philosophiegeschichte auszudifferenzieren. Themen, Theoreme und Topoi, die für die Aufklärung insofern zwar typisch sind, als sie auf breiter Basis in ihr bearbeitet und mitunter gar erst durch sie entwickelt wurden, sind nicht zwangsläufig auch für sie spezifisch. Die Demokratisierung von Bildung, die Theorie der politischen Gewaltenteilung, die Reform des Strafrechts oder die Abschaffung der Sklaverei, um nur einige der gemeinhin als ‚typisch aufklärerisch‘ geltenden Themen zu nennen, sind weder notwendige noch hinreichende Merkmale, auf deren Grundlage sich eine Bestimmung von Aufklärung vornehmen ließe. Gleichwohl lassen sich aus der Art und Weise, wie diese Themenkomplexe konzipiert und verhandelt werden, Rückschlüsse auf die Spezifik der epochalen Konfiguration ziehen. Es liegt daher nahe, das Eigentümliche der Aufklärung nicht so sehr in ihren Inhalten, als vielmehr in den epistemologischen Voraussetzungen ihrer Themenentwicklung und damit in den ihren Diskursen zugrundeliegenden Rationalitätskriterien zu suchen. Ausgeschlossen ist hiermit nicht, dass sich auch für einen gänzlich anders, z. B. auf der Basis sozialgeschichtlicher Zusammenhänge konstruierten, Aufklärungsbegriff valide Argumente vorbringen ließen. Derartige Komplexe liegen allerdings außerhalb des Untersuchungsbereichs dieser Arbeit. Dargelegt werden soll demgegenüber, dass eine epistemologische Periodisierung erstens möglich ist und dass diese zweitens auf einem Wandel in der Gültigkeit der Rationalitätskriterien basiert.

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Zum grundsätzlichen Konstruktcharakter von Epochisierungen siehe das Kapitel „Epoche“ in: Hempfer, Klaus W., Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie, Stuttgart 2018, S. 214–256. Siehe für den neuesten Stand der Epochentheorie Literaturwissenschaft das bereits zitierte Kapitel „Epoche“ in Hempfer 2018 und dort vor allem den Abschnitt „Verfahren und Kriterien der Konstruktion von Epochenbegriffen“, S. 230–251. Zu den theoretischen Voraussetzungen der in dieser Arbeit vorgenommenen Epochisierung siehe nachstehend den Abschnitt 1.2.5.

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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1.2.1.1 Zeitgenössisches Epochenbewusstsein und epistemologische Kriterien der Epochisierung Es ergibt sich bereits aus den schon zeitgenössisch zur Bezeichnung der philosophisch-künstlerischen Konstellation23 gewählten Termini, die auch heute noch Verwendung finden, dass ein Epochenbegriff Aufklärung auf eine Bestimmung des aufklärerischen Vernunft- und Rationalitätsbegriffs nicht verzichten kann. Konzipiert sich die Aufklärung in Frankreich bekanntlich als siècle philosophique, siècle de la raison, siècle des Lumières u. ä.,24 so bedarf es einer historischen Rekonstruktion dessen, was sich hinter der von den philosophes zu ihrer Fackel erklärten Ratio in erkenntnistheoretischer wie funktionaler Hinsicht verbirgt und wie diese sich zu dem ausgesprochen weiten Philosophieverständnis der Zeit verhält. Anhand zahlreicher Zeugnisse und Selbstbespiegelungen von Autoren des 18. Jahrhunderts lässt sich nachweisen, dass eine nach epistemologischen Kriterien vorgehende Begriffsbildung keineswegs abgeschnitten ist von dem zeitgenössischen Selbstverständnis. Im Gegenteil betont eine Vielzahl von Quellen nicht nur die herausgehobene Stellung des eigenen Zeitalters; vielmehr wird diese Stellung auch explizit auf einen Fortschritt des Geistes zurückgeführt. Begründet wird dieser besagte Fortschritt wiederum mit einem jüngst vollzogenen Wandel im Denken. In besonderer Deutlichkeit lässt sich die Triade von (1.) zeitgenössischem Epochenbewusstsein, (2.) Wahrnehmung einer Veränderung in den Strukturen des Denkens und (3.) aufklärerischer Fortschrittsidee an Voltaires Diagnose im Précis du siècle de Louis XV ablesen. In Kapitel XLIII des 1768 erstmals veröffentlichten historiographischen Textes, das den Titel „Des progrès de l’esprit humain dans le siècle de Louis XV“ trägt, unterstreicht Voltaire die „raison supérieure [qui] s’est fait entendre dans nos derniers jours, du pied des Pyrénées au nord de la France“.25 In einer für das Zeitalter der Aufklärung spezifischen Begriffsverknüpfung wird der für die Gegenwart diagnostizierte esprit éclairé26 als Ergebnis einer Vervollkommnung des Verstandes konzipiert: „Il est certain que la connaissance de la nature, l’esprit de doute sur les fables anciennes honorées du nom d’histoires, la saine métaphysique dégagée des impertinences de l’école, sont les fruits de ce siècle, et que la raison s’est perfectionnée.“27 Die von Voltaire formulierte Idee einer perfektionierten raison gründet allerdings nicht lediglich auf ei23 24 25 26 27

Für den Begriff der ‚philosophischen Konstellation‘ siehe näher Mulsow, Martin, „Qu’est-ce qu’une constellation philosophique? Propositions pour une analyse des réseaux intellectuels“, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 64/1 (2009), S. 81–109. Analoge Bezeichnungen sind im deutschen Raum ‚Zeitalter der Vernunft‘ bzw. ‚Zeitalter der Kritik‘ (Kant), in England und Schottland Age of Reason. Voltaire, Précis du siècle de Louis XV, in: ders., Œuvres historiques, hg. v. R. Pomeau, Paris 1957, S. 1297–1571, dort S. 1566. Vgl. ebd. Ebd., S. 1568.

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Einleitung

ner quantitativen Vermehrung des Wissens; vielmehr wird der Fortschritt auf einen qualitativen Wandel in der Art der Erkenntnisgewinnung zurückgeführt. Ideologische Voraussetzung der kausalen Verbindung von esprit éclairé und raison perfectionnée, die in Voltaires Geschichtsbild die Grundlage für die Einsicht in die Besonderheit der eigenen Epoche darstellt, ist ein als Fortschritt markierter Abstand zu einem als rückständig konzipierten Verstandesmodell der Vergangenheit. Wie so häufig in Voltaires Schriften wird die Überlegenheit der eigenen Zeit gegenüber einem als überkommen ausgewiesenen Denken der Vergangenheit im Précis du siècle de Louis XV anhand der Distanz zur Systemphilosophie Descartes’ verdeutlicht: Plus d’un philosophe, comme on l’a déjà dit ailleurs, a voulu, à l’exemple de Descartes, se mettre à la place de Dieu, et créer comme lui un monde avec la parole: mais bientôt toutes ces folies de la philosophie sont reprouvées des sages; et même ces édifices fantastiques, détruits par la raison laissent dans leurs ruines des matériaux dont la raison même fait usage.28

Mittels des Verweises auf eine durch Descartes repräsentierte Philosophie des 17. Jahrhunderts erhält der Fortschrittsgedanke samt einem historischen Index ein erkenntnistheoretisches Fundament. Denn Descartes steht in Voltaires Schriften paradigmatisch als Konstrukteur philosophischer Systeme, die ausgehend von spekulativen Hypothesen in streng rational deduzierender Weise verfuhren und auf diese Weise „un monde avec la parole“ erschufen. Dass diese Systeme ausgehend von hypothetischen Prinzipien ohne Anbindung an die Phänomene der empirischen Wirklichkeit entwickelt würden, qualifiziere sie als „édifices fantastiques“.29 Nennt Voltaire als Instrument der ‚Zerstörung‘ der philosophischen Systeme ausgerechnet jene raison, welche die wesentliche erkenntnistheoretische Grundlage des deduktiven Rationalismus Cartesischer Prägung darstellt, so bedeutet dies, dass die intellektualistischen Rationalitätskriterien der klassischen Systemphilosophie nunmehr durch ein neues Verständnis von Rationalität abgelöst wurden bzw. in Ablösung begriffen sind: Raison ist nicht mehr gleich raison. Voltaires im Précis du siècle de Louis XV demonstriertes epistemologisch fundiertes Epochenbewusstsein steht in der Tradition eines im 18. Jahrhundert verbreiteten und in seinen Grundzügen weitgehend konstanten Argumentationsschemas über die Vermögen menschlicher Erkenntnis sowie die Kriterien rationaler Argumentation. So beschreibt auch d’Alembert im Discours préliminaire der Encyclopédie die epistemolo-

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Ebd., S. 1569. Descartes Wirbeltheorie dient Voltaire auch in seinen Lettres philosophiques als bevorzugtes Beispiel für die Unterscheidung einer hypothetisch-deduzierenden und einer empirisch-induktiven Denkrichtung; vgl. dort insbesondere die „Quatorzième lettre sur Descartes et Newton“, in: Voltaire, Lettres philosophiques, hg. v. F. Deloffre, Paris 1986, S. 96–101.

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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gische Wende als Ablösung des hypothetisch-deduktiven Vorgehens durch ein empirisch-induktives Erkenntnisideal: Ce n’est donc point par des hypothèses vagues et arbitraires que nous pouvons espérer de connaître la nature, c’est par l’étude réfléchie des phénomènes, par la comparaison que nous ferons des uns avec les autres, par l’art de réduire autant qu’il sera possible, un grand nombre de phénomènes à un seul qui puisse en être regardé comme le principe.30

In erkenntnistheoretischer Hinsicht gründet das epochale Selbstverständnis der Aufklärung folglich auf der Opposition zwischen einem mit Descartes assoziierten, ‚alten‘ rationalistisch-deduktiven Denkmodus und einer ‚neuen‘ empirisch-induktiven Denkform. Letzteres dient den philosophes gleichsam als genealogisches wie ideologisches Fundament. 1.2.1.2 Historische Tragfähigkeit der Opposition von Rationalismus und Empirismus Dass sich erstens ein vielfach dokumentiertes zeitgenössisches Epochenbewusstsein nachweisen lässt und dieses Selbstverständnis zweitens auf der Wahrnehmung eines epistemologischen Wandlungsprozesses basiert, ist jedoch noch kein hinreichender Garant für die Tragfähigkeit des epistemologischen Kriteriums in der wissenschaftlichen Konstruktion einer Epoche Aufklärung. Anders formuliert: Der Umstand, dass sich die Aufklärer auf einen Bruch in der Konzeption von Rationalität berufen, stellt streng genommen noch keinen Nachweis über die Existenz eines solchen Bruches in der Geschichte der frühneuzeitlichen Rationalität am Ende des 17. Jahrhunderts dar. Gleichwohl können die Reflexionen von Voltaire, d’Alembert u. a. m.31 als heuristischer Ausgangspunkt einer Epochenkonstruktion dienen.32 Im Hinblick auf einen epistemologisch ausgerichteten Aufklärungsbegriff hat sich Ernst Cassirers mittlerweile fast neunzig Jahre alte Monographie Die Philosophie der Aufklärung33 als wegweisend erwiesen und eine Reihe von Studien inspiriert, die dem ‚Denkstil‘ der Aufklärung gewidmet sind.34 Anstatt die ‚Philosophie der Aufklärung‘ 30 31

32 33 34

D’Alembert, Jean le Rond, Discours préliminiare de l’Encyclopédie, hg. v. M. Malherbe, Paris 2000, S. 93. Zu nennen wären hier etwa Condillac, Traité des systèmes (1749); Buffon, „De la manière d’étudier et de traiter l’Histoire Naturelle“, in: ders., Histoire naturelle, générale et particulière (1749); Diderot, Pensées sur l’interprétation de la nature (1754); sowie D’Alembert, Essai sur les Éléments de philosophie ou sur les principes des connaissances humaines (1759). Zur Bedeutung des zeitgenössischen Selbstverständnisses für die wissenschaftliche Epochenkonstruktion siehe die erhellenden Ausführungen in Hempfer 2018, S. 251–255. Cassirers Opus erscheint 1932. Verweise auf dieses Werk beziehen sich auf die Ausgabe Cassirer 1973. Neben Cassirers Buch verdankt die vorliegende Arbeit folgenden Studien wertvolle Einsichten in die epochalen Denkstrukturen der Aufklärung sowie deren Genealogie: Gusdorf 1971; Kon-

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Einleitung

über ihre thematische Geschlossenheit zu präsentieren, sucht Cassirer die „Einheit ihres gedanklichen Ursprungs und bestimmenden Prinzips“.35 Die Vielfalt und Diskrepanz der im 18. Jahrhundert formulierten aufklärerischen Positionen, auf die sich die neuere Aufklärungsforschung in fast schon topisch zu nennender Weise beruft, ohne den epochentheoretischen Widerspruch zu erkennen,36 wird bei Cassirer somit in dem den Einzeltheoremen zugrundeliegenden Verstandesbegriff aufgehoben. Demnach sei das Spezifische im Denken der Aufklärung nicht über ein Konvolut propositionaler Wissensbestände zu erfassen, „denn [die Philosophie der Aufklärung] besteht überhaupt weniger in bestimmten einzelnen Sätzen, als in der Form und Art der gedanklichen Auseinandersetzung selbst.“37 Zu zeigen ist, dass in diesem Urteil mehr impliziert ist, als ‚lediglich‘ die schon genannte epistemologische Differenz zwischen einer (voraufklärerischen) hypothetisch-deduktiven und einer (aufklärerischen) empirisch-induktiven Denkweise, auch wenn dieser Unterschied durch Cassirers Ausführungen grundsätzlich bestätigt wird. Obwohl er wiederholt darauf insistiert, dass ein epistemologischer Bruch zwischen der Aufklärung und ihr vorausgehenden Konfigurationen des Denkens nicht nachweisbar sei,38 beruht die von Cassirer analysierte aufklärerische Denkform de facto auf einer Umkehrung des klassischen Cartesischen Rationalitätsprinzips:39 Gab das ausgehend von ersten Prinzipien anhand konsequenter Deduktion verfahrende System der Philosophie eines Gassendi, Spinoza, Descartes oder Leibniz ihre epochentypische Prägung, so setze sich mit der Aufklärung eine „neue methodische Rangordnung“40 durch, die ausgehend von den (empirischen) Phänomenen in induktiver Weise nach den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien forsche: „Die P h ä n o m e n e sind das Gegebene, die P r i n z i p i e n das Gesuchte.“41

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dylis 1981; Dieckmann, Herbert, „Themen und Struktur der Aufklärung“, in: ders., Diderot und die Aufklärung. Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1972 (= 1972a); sowie Mittelstraß, Jürgen, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970. Cassirer 1973, S. V. So etwa in der Einleitung zu Stockhorst, Stefanie (Hg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013. Vgl. für eine Kritik an dem Heterogenitätstopos der neueren Aufklärungsforschung Hempfer, Klaus W., „‚Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques‘. Zum Verhältnis von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘ in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Literatur und praktische Vernunft. Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag, hg. v. F. v. Ammon, C. Rémi u. G. Stiening, Berlin/Boston 2016, S. 233–251. Cassirer 1973, S. XI; Herv. d. Vf.in. Ebd., S. 28. Hempfer, Klaus W., „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 115 (2005), S. 21–53, dort insbes. S. 23; sowie ders., „Epistemologie und Experiment in der Literatur der französischen Aufklärung: Diderots Les Bijoux indiscrets“, in: Dynamiken des Wissens, hg. v. K. W. Hempfer u. A. Traninger, Freiburg 2007, S. 253–268, dort S. 255. Cassirer 1973, S. 7. Ebd., Herv. i. O.

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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Die von Voltaire und Anderen vorgenommene Diagnose ihres Zeitalters wird somit von Cassirer grundsätzlich bestätigt. Dennoch gilt es, die im 18. Jahrhundert entwickelte pauschale Dichotomie ‚alt/hypothetisch-deduktiv‘ versus ‚neu/empirisch-induktiv‘ insofern zu relativieren, als sich deren Elemente in der historischen Wirklichkeit vielmehr als komplexe Hybride dieses Verhältnisses konkretisieren. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das Spezifische der Aufklärung in der Geschichte des frühneuzeitlichen Rationalismus in der Funktion und den Leistungen zu suchen ist, die sie dem ‚neuen‘ empirischen Denken zuweist. In Erweiterung von Cassirers Ausführungen entwickelt die vorliegende Arbeit daher ein Epochenverständnis, das Aufklärung über die ihr eigentümliche Verbindung eines epistemologischen und eines funktionalen Wandels der Ratio beschreibt. Dieser in einem zweifachen Wandlungsbegriff fundierte Zugriff auf den epochenspezifischen Verstandesbegriff der Lumières ermöglicht es, die traditionellen Periodisierungskategorien der Kontinuität und des Bruchs in ein produktives Verhältnis zu setzen: Anstatt in einseitiger Verengung auf Phänomene der Kontinuität (wie sie etwa in dem Makroepochenbegriff Frühe Neuzeit impliziert sind) oder jene des Einschnitts (vgl. etwa das Konzept der Scientific Revolution42) zu fokussieren, verbindet er die in der longue durée vollzogene Entwicklung eines epistemischen Modus, i. e. des Empirismus, mit einer neuartigen Funktionszuschreibung an diesen Modus. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass sich die Autoren der Aufklärung den im Kontext der vormodernen Naturwissenschaften entwickelten Empirismus aneignen, um ihn in neuartiger Weise als eine epistemologische Grundlage ihres engagierten Philosophieverständnisses zu rekonstruieren. 1.2.1.3 Der Rationalismus der Aufklärung in epistemologischer und funktionaler Perspektive als Verbindung von longue durée und Bruch Dient Descartes den Autoren der Aufklärung als Beispiel für einen überkommenen deduktiven Denkmodus, so besetzt Isaac Newton in der im 18. Jahrhundert entwickelten Dichotomie die Position des neuen epistemologischen Ideals. Als autoritatives Modell dieses empirischen Denkens gilt der Aufklärung Newtons Opus Philosophiae naturalis principia mathematica, dessen dritte Auflage von 1726 neben der berühmten Ablehnung spekulativer Hypothesen („Hypotheses non fingo“) mit den vier Regulae philosophandi die methodischen Grundannahmen des empirisch-induktiven Modus enthält. Der von Cassirer beschriebene epistemologische Wandel der Aufklärung gründet somit darauf, dass diese Rationalität nicht länger unter Rückgriff auf Descartes’ Discours de la méthode, sondern unter Bezugnahme auf die Methoden der neueren

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Für eine kritische Revision des Konzeptes der Scientific Revolution siehe Shapin, Steven, The Scientific Revolution, Chicago/London 1996.

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Einleitung

physikalischen Wissenschaften definiert.43 Mit seiner Absage an ein von Hypothesen geleitetes, streng rational deduzierendes Vorgehen avanciert Newton zum paradigmatischen Vertreter eines neuen Denkens und die zeitgenössisch als philosophie expérimentale unter die philosophie naturelle subsumierte Physik zur Leitwissenschaft, deren Methoden in qualitativer wie quantitativer Hinsicht ausgeweitet werden. Operationell mündet der empirisch-induktive Modus mit der experimentellen Methode einerseits sowie der mathematischen Analyse andererseits in zwei komplementäre Verfahren, deren Anwendung in der Aufklärung als Leitlinien des Denkens allgemein gelten. So heißt es etwa in dem von d’Alembert verfassten Discours préliminaire der Encyclopédie: […] concluons que la seule vraie manière de philosopher en Physique, consiste, ou dans l’application de l’analyse mathématique aux expériences, ou dans l’observation seule, éclairée par l’esprit de méthode, aidée quelquefois par des conjectures lorsqu’elles peuvent fournir des vues, mais sévèrement dégagée de toute hypothèse arbitraire.44

Der Eintrag ‚philosophe‘ der Encyclopédie verdeutlicht wiederum, in welchem Maße die mit Newton assoziierte empirisch-induktive Ausrichtung zur Vorgabe für das allgemeine Philosophieverständnis der Aufklärung wird. So heißt es über jenen den philosophe auszeichnenden esprit philosophique: „L’esprit philosophique est donc un esprit d’observation & de justesse, qui rapporte tout à ses véritables principes.“45 Das von empirischer Beobachtung (observation) und mathematischer Genauigkeit (justesse) ausgehende induktive Denken wird aus seinem Ursprungskontext der physikalischen Wissenschaften gelöst und auf die philosophische Tätigkeit als solche ausgeweitet. Anhand zahlreicher Zeugnisse belegt Georges Gusdorf, dass sich dabei nicht nur das Verfahren in alle Wissensbereiche verbreitet, sondern dass auch dessen paradigmatisches Ergebnis, Newtons Gravitationstheorie, als Erklärung für Phänomene unterschiedlichster Art herangezogen wird.46 Wenngleich diese Tendenz offenbart, dass die Referenz ‚Newton‘ im 18. Jahrhundert zunehmend zu einer von den epistemologischen Voraussetzungen der Physik gänzlich unabhängigen Mode verkommt, so unterstreicht sie doch den autoritativen Stellenwert, der den Naturwissenschaften in der Aufklärung zugewiesen wird.47

43 44 45

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Cassirer 1973, S. 7. D’Alembert 2000, S. 94 f. s. v. ‚Philosophe‘, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, 28 Bde., Paris 1751–1772, Bd. 12, 1765, S. 509–511, Zitat S. 510a. Der fast wörtlich übernommene Hypotext des Encyclopédie-Eintrags ist die von César Chesneau Dumarsais bereits 1730 verfasste Schrift Le Philosophe. Vgl. Gusdorf 1971, S. 180–212. Als aufmerksamer Beobachter seiner Zeit äußert sich Voltaire gegenüber dieser ungerechtfertigten Ausweitung im Précis du siècle de Louis XV mit der zu erwartenden Skepsis; siehe dort S. 1569. Vgl. Thoma, Heinz, „Aufklärung“, in: ders. (Hg.), Handbuch Europäische Aufklärung – Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2015, S. 67–85, dort S. 75.

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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Dass die Regulae philosophandi der Newton’schen Physik nunmehr auch für die Metaphysik der Aufklärung gelten, belegen u. a. Voltaires Einträge zum Deismus im Dictionnaire philosophique. Der Artikel ‚Théisme‘ erklärt die Vertreter der modernen Physik, allen voran Newton selbst, aufgrund der ihnen zu verdankenden Einblicke in das Wirken der Natur zu Propheten einer göttlichen Vorhersehung, für welche die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ein kausallogisches Zeugnis ablegten: Lorsqu’on croyait, avec Épicure, que le hasard fait tout, ou, avec Aristote, et même avec plusieurs anciens théologiens, que rien ne naît que par corruption, et qu’avec de la matière et du mouvement le monde va tout seul, alors on ne pouvait pas croire à la Providence. Mais depuis qu’on entrevoit la nature, que les anciens ne voyaient point du tout; depuis qu’on s’est aperçu que tout est organisé, que tout a son germe; depuis qu’on a bien su qu’un champignon est l’ouvrage d’une sagesse infinie aussi bien que tous les mondes; alors ceux qui pensent ont adoré, là où leurs devanciers avaient blasphémé. Les physiciens sont devenus des hérauts de la Providence: un catéchisme annonce Dieu à ses enfants, et un Newton le démontre aux sages.48

In dem Eintrag ‚Théiste‘ wiederum beruft sich Voltaire vermittels der zweiten Regula philosophandi, der zufolge gleichartigen Wirkungen dieselben Ursachen zuzuschreiben sind,49 auf die dieser Regel zugrundeliegende Ablehnung von unempirischen Hypothesen, um die göttliche Vorhersehung aus dem Wirken der Natur abzuleiten: Le théiste ne sait pas comment Dieu punit, comment il favorise, comment il pardonne: car il n’est pas assez téméraire pour se flatter de connaître comment Dieu agit; mais il sait que Dieu agit, et qu’il est juste. […] Les difficultés contre la Providence ne l’ébranlent point dans sa foi, parce qu’elles ne sont que de grandes difficultés, et non pas des preuves; il est soumis à cette Providence, quoiqu’il n’en aperçoive que quelques effets et quelques dehors; et, jugeant des choses qu’il ne voit pas par les choses qu’il voit, il pense que cette Providence s’étend dans tous les lieux et dans tous les siècles.50

Dass Diderot, d’Holbach oder La Mettrie aus dem Erkenntnisgewinn der empirischen Wissenschaften bekanntlich ganz andere – vor allem tendenziell atheistische – Schlüsse ziehen als Voltaire, ist dabei noch kein hinreichendes Argument gegen den fruchtbaren Nutzen der Physik für die Metaphysik der Aufklärung. Entscheidend ist, dass deistische und materialistische bzw. atheistische Fraktionen ihre Überzeugungen 48 49 50

Voltaire, s. v. ‚Théisme‘, in: Dictionnaire philosophique, in: Œuvres complètes de Voltaire, hg. v. J. A. N. de Condorcet u. A. J. Q. Beuchot, Paris 1877–1887, Bd. 20, 1879, S. 505–507, Zitat S. 505 f., Herv. d. Vf.in. Newton, Isaac, Die mathematischen Prinzipien der Physik, übers. u. hg. v. V. Schüller, Berlin/New York 1999, S. 380: „Folglich muß man, soweit wie es möglich ist, den in der Natur vorkommenden Wirkungen von der gleichen Art die gleichen Ursachen zuschreiben.“ Voltaire, s. v. ‚Théiste‘, in: Dictionnaire philosophique, OCV, Bd. 36, hg. v. C. Mervaud, Oxford 1994, S. 545–548, Zitat S. 546 f., Herv. d. Vf.in.

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gleichermaßen als rational-logische Schlussfolgerungen der neuen naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse ausweisen. Hier wird deutlich, dass der Rationalismus der Aufklärung samt seiner Ablehnung der hypothesenbasierten Systemphilosophie keiner Absage an die grundsätzliche Gültigkeit rational-deduzierender Argumentation gleichkommt. Bei aller Kritik an der Bildung spekulativer Hypothesen steht der Verstandesbegriff der Aufklärung nicht zuletzt auch in der Tradition der Cartesischen Logik.51 Entsprechend betont auch Cassirer die Abhängigkeit der aufklärerischen Denkform von den philosophischen Entwürfen des 17. Jahrhunderts: „Das neue Erkenntnisideal entwickelt sich stetig und folgerecht aus den Voraussetzungen, die die Logik und Wissenschaftslehre des siebzehnten Jahrhunderts, die insbesondere D e s c a r t e s und L e i b n i z geschaffen hatten.“52 Dieses Urteil wird von Mittelstraß geteilt,53 der zudem die im Frankreich des 18. Jahrhunderts rhetorisch vehement betriebene Opposition von Descartes und Newton mittels der Rezeptionsgeschichte der Cartesischen Physik in England relativiert.54 Die Geschichte der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft und ihrer epistemologischen Wandlungsprozesse ist erkennbar vielschichtiger, als es die von den philosophes formulierte Gegenüberstellung von ‚altem‘ deduktiven Rationalismus einerseits sowie ‚neuem‘ induktiven Empirismus andererseits suggeriert. Dass zudem der Newton’sche Empirismus selbst in einer naturphilosophischen Tradition steht, die, obwohl sie von der modernen Geschichtswissenschaft in missverständlicher Weise als Scientific Revolution bezeichnet wurde, mindestens bis zu den Schriften Galileo Galileis, d. h. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert zurückreicht, verortet die philosophische Konstellation Aufklärung in einer komplexen Gemengelage aus inhaltlichen wie epistemologischen Abhängigkeiten und Neuerungen von jeweils unterschiedlicher Zeitlichkeit. Das im Diskursfeld der Aufklärung als innovativ beanspruchte empirisch-induktive Modell basiert realiter auf wissenschaftstheoretischen Entwicklungen in der longue durée.

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Für die Problematik einer schematischen Opposition von Rationalismus (verkörpert durch Descartes und Malebranche) und Empirismus (paradigmatisch: Bacon, Newton, Locke) vgl. Thern, Tanja, Descartes im Licht der französischen Aufklärung. Studien zum Descartes-Bild Frankreichs im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2003, S. 224–226, sowie die in den dortigen Anmerkungen aufgeführten Forschungsbeiträge. Cassirer 1973, S. 28, Herv. i. O. Mittelstraß 1970, S. 120. So heißt es in Mittelstraß 1970, S. 126 f.: „Der Rezeption Newtons in Frankreich geht die Rezeption Descartes’ in England voraus. Und zwar ist es in erster Linie der Physiker Descartes, nicht der Metaphysiker, der hier, wie die Geschichte der englischen Übersetzungen seiner Werke und die Reaktion der ‚Royal Society‘ […] zeigen, traditionsbildend wirkt. Und nur weil sich die Newtonsche Physik dann schließlich gegen die Cartesische, auf dem Festland vor allem durch J. Rouhault (Traité de Physique, 1671) und P.-S. Régis (Système de philosophie, 1690) vertretene Physik durchzusetzen hatte, eine Entwicklung, die in Frankreich zunächst auch nur sehr zögerlich verlief, sieht es gelegentlich so aus, als sei nicht schon mit, sondern erst gegen Descartes die neuzeitliche wissenschaftliche Vernunft exemplarisch zur Geltung gekommen.“ (Herv. i. O.)

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Neben dieser pluralen Zeitlichkeit gilt es in der Bewertung des von der Aufklärung beanspruchten epistemologischen Wandels einen zweiten Aspekt zu berücksichtigen, der die kulturellen und politischen Voraussetzungen des Neuheitsdiskurses betrifft. So gibt etwa Dieckmann zu beachten, dass sich die Verehrung von Newton und die vehemente Ablehnung von Descartes in die allgemeine Mode einer ‚Anglomanie‘ im Frankreich des 18. Jahrhunderts einschreiben.55 Hinzu kommt, dass die Lobeshymnen auf die englischen Institutionen und deren Vertreter immer auch einen impliziten Kommentar auf die politischen Verhältnisse des französischen Absolutismus beinhalten. Die polemische Kritik an Descartes und Malebranche zugunsten von Newton und Locke ist daher zu einem gewissen Grad auch als eine politische prise de position zu verstehen. Stellt man die zeitliche wie politische Vielschichtigkeit in Rechnung, die sich hinter dem topischen Rekurs der Aufklärung auf Newton verbirgt, so wird dieser als ein Narrativ transparent:56 Anhand der Symbolfigur des empirisch-induktiven Modells wird die geistesgeschichtliche Entwicklung in vereinfachend zuspitzender, ideologisch wirksamer Weise rekonstruiert. Mit dieser Einschränkung soll jedoch nicht gesagt sein, dass der epistemologische Wandel, in dem die philosophes ihr Schreiben und Handeln fundieren, nicht stattgefunden habe. Rhetorisch konstruiert ist nicht so sehr der epistemologische Wandel selbst, als die Darstellung dieses Wandels als ein Bruch mit Denk- und Wissenschaftstraditionen, die vornehmlich mit französischen Autoritäten konnotiert sind. Wenngleich die Frage nach den Entstehungsgründen und -bedingungen dieses Bruchnarrativs nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein kann, so liegt es doch nahe, diese ebenso sehr in politischen Motiven zu suchen wie in dem grundsätzlich polemischen57 Charakter des philosophischen Denkens im Allgemeinen. Will man die Spezifik der Epoche Aufklärung bestimmen, so erweist sich diese als Zusammenspiel des im Kontext der Naturwissenschaften entwickelten Denkens und einer Ideologie im Hinblick auf die Funktion, die dieses Denken erfüllen kann. Das von den philosophes konstruierte erkenntnistheoretische Bruchnarrativ folgt einer Ideologie, die darin besteht, das empirisch-analytische Vorgehen, für das Newtons

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Dieckmann 1972a, S. 23. Zum Thema der französischen ‚Anglomanie‘ siehe näher Grieder, Joséphine, Anglomania in France, 1740–1789, Genf 1985. Ein Verständnis von Aufklärung als ‚Narrativ‘ vertritt auch Dan Edelstein in The Enlightenment – A Genealogy, Chicago/London 2010, wobei die in dieser Monographie verwendete Terminologie (insbesondere das wiederkehrende Adjektiv „narratological“) irreführend ist. Im Unterschied zu der These Edelsteins, wonach die Lumières auf keinerlei erkenntnis- bzw. wissenstheoretischen Neuerungen, sondern lediglich auf einer historischen Interpretation basierten (vgl. ebd., S. 115), soll der epistemologische Wandel in der vorliegenden Arbeit ernst genommen und gleichzeitig durch einen funktionalen sowie einen polemisch-narrativen Aspekt nuanciert werden. Vgl. für den polemischen Charakter des philosophischen Denkens im Allgemeinen und des aufklärerischen Denkens im Besonderen Kondylis 1981.

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Physik paradigmatisch steht, auf alle Bereiche des Lebens auszuweiten und die Welt als grundsätzlich analysierbar, d. h. in ihre Funktionsprinzipien zerlegbar, auszuweisen. Hieraus ergibt sich die folgende funktional-epistemologische Minimaldefinition von Aufklärung: In der Aufklärung wird die empirisch-analytische Rationalität der neueren Naturwissenschaften von ihrer Begrenzung auf den physikalischen Diskurs gelöst und als Leitlinie des Denkens im Allgemeinen etabliert. Dieses Denken durchzusetzen, zu popularisieren und über Diskursgrenzen hinweg zu verbreiten, setzen sich die philosophes zur Aufgabe.

Folglich ist der von ihnen beschworene Bruch nicht so sehr in den Strukturen des Denkens selbst auszumachen, als vielmehr in der Funktion, die dieses Denken erfüllt, und den Räumen, die es einnimmt. Spezifisch für das Zeitalter der Aufklärung ist die Verbindung zwischen der Ausweitung eines speziellen epistemologischen Modus und einer Raumergreifung der philosophischen Praxis, ja des von der zeitgenössischen Philosophie inspirierten Denkens generell. Ist die Philosophie im siècle de la philosophie nicht mehr nur solitäre geistige Beschäftigung des érudit, sondern, mit Cassirer gesprochen, „das allumfassende Medium“58 der Erkenntnisbildung, gar „Lebensgestaltung“,59 so impliziert dies zweierlei: dass sie einen omnipräsenten Status einnimmt und dass sie nunmehr mit (gesellschaftlichem) Engagement konnotiert wird. Hans Ulrich Gumbrecht und Rolf Reichardt haben im Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich nachgezeichnet, wie die Figur des philosophe in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu einem neuartigen und für die Aufklärung konstitutiven „Konvergenzpunkt von Reflexion und gesellschaftlichem Handeln“ aufsteigt.60 Der von den Verfassern des Handbucheintrags für diese Reflexion veranschlagte und nicht näher spezifizierte „kognitive Stil“61 der Aufklärung bzw. ihres Subjekts, des philosophe,62 lässt sich vor dem Hintergrund unserer bisherigen Argumentation als ein durch den naturwissenschaftlichen Empirismus geprägter eindeutiger fassen.63 Mit dem Entstehen des neuen intellektuellen Typus des

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Cassirer 1973, S. X. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen in Hempfer 2005, S. 23. Cassirer 1973, S. X. Gumbrecht, Hans Ulrich / Reichardt, Rolf, „Philosophe, philosophie“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, hg. v. R. Reichardt u. E. Schmitt, 21 Bde., München 1985–2017, Bd. 3, S. 7–88, hier S. 16. Ebd., S. 9. Zum Aufstieg des philosophe zur moralischen Instanz des Aufklärungsnarrativs siehe Tricoire, Damien, „The Fabrication of the Philosophe: Catholicism, Court Culture, and the Origins of Enlightenment Moralism in France“, in: Eighteenth-Century Studies 51 (2018), S. 453–477. Der Zusammenhang zwischen den empirisch-induktiven Denkstruktur und der Figur des philosophe wird in dem für die Aufklärung maßgeblichen Rollenverständnis deutlich, wie es von Dumarsais 1730 formuliert wird: „Le philosophe forme ses principes sur une infinité d’observations particulières; le peuple adopte le principe sans penser aux observations qui l’ont produit: il croit que la maxime existe, pour ainsi dire, par elle-même; mais le philosophe prend la maxime dès sa source;

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philosophe erhält die Philosophie einen engagierten Impetus, der sein Fundament wiederum aus den erkenntnistheoretischen Grundannahmen der neuen Wissenschaften bezieht. Das Credo der Aufklärung, alle Bereiche des Lebens einer kritischen Überprüfung durch die raison zu unterwerfen, kann methodologisch an die Verfahren der Physik anschließen. Die sog. Scientific Revolution, d. h. der Aufstieg des empirisch-experimentellen Modus, stellt dem selbstbewussten Verstandessubjekt der Aufklärung ein Erkenntnisverfahren bereit, mit dem die Welt in einer von externen Autoritäten unabhängigen Weise erschlossen werden kann.64 Mittels des Modells ‚Newton‘ konstruieren sich die Aufklärer eine Genealogie, die ihrem breiten, gesellschaftlich engagierten Philosophiebegriff ein legitimierendes epistemologisches Fundament verleiht. Der in der französischen Aufklärungsforschung des 20. Jahrhunderts mitunter recht inflationär gebrauchte Begriff der propagande philosophique, mit dem das die Lumières kennzeichnende gesellschaftskritische Engagement ihrer Akteure schlagwortartig erfasst werden soll, verdeckt dabei, dass die in ‚propagandistischer‘ Weise verbreiteten Theoreme eine tiefer liegende wissenstheoretische Orientierung verbindet.65 Die thematische Oberfläche der aufklärerischen Diskurse ist zu unterscheiden von ihrer gemeinsamen Strukturierung und Zielsetzung in der Verbreitung eines Denkmodus, welcher der Bildung dieser Theoreme voransteht. Zentral und für ein Epochenverständnis von Aufklärung höchst bedeutsam ist, dass mit den als fortschrittlich konnotierten Diskursen (bspw. dem Diskurs über die Reform des Strafrechts) eine Denkform propagiert wird, die im zeitgenössischen Bewusstsein als mit Fortschritt äquivalent gesetzt wird. Der für das eigene Zeitalter beschworene – epistemologische – progrès de la raison einerseits sowie der – in gesellschaftlichen Teilsystemen sich manifestierende – progrès de la société andererseits bilden so die zwei Seiten einer einzigen Denkfigur. Im Kern besteht der neuartige engagierte Gestus der philosophes folglich darin, den empirisch-induktiven Denkmodus und seine Verfahren über den physikalischen Spezialdiskurs hinaus in neuen Diskursen, Formen und Gattungen erprobt, propagiert und bis zur Hegemonie durchgesetzt zu haben.66

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il en examine l’origine, il en connaît la propre valeur, et n’en fait que l’usage qui lui convient.“ (Dumarsais, César Chesneau, Le Philosophe, Paris 1797 [Erstveröffentlichung Amsterdam 1743], S. 26). Vgl. Cassirers Eintrag ‚Enlightenment‘, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, hg. v. E. R. A. Seligman, 15 Bde., New York 1948 [1931–1935], Bd. 5, S. 547–552, dort S. 547: „The basic idea underlying all the tendencies of enlightenment was the conviction that human understanding is capable, by its own power and without recourse to supernatural assistance, of comprehending the system of the world and that this new way of understanding the world will lead to a new way of mastering it.“ Als Beispiel dieser mittlerweile überholten Auffassung der literarischen Kommunikation in der Aufklärung siehe Coulet 1970. Dieckmann, Herbert, „Philosophie und literarische Form in Frankreich im 18. Jahrhundert“, in: ders., Diderot und die Aufklärung. Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler, 1972 (= 1972b), S. 59–79, dort S. 59, betont in diesem Zusammenhang die Funktion der philosophes, als Gegenpol zu Kanzel und Herrscher mithilfe des literarischen Diskurses die opinion publique geformt zu haben.

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1.2.1.4 Pluralisierungen des Aufklärungsbegriffs in der neueren Forschung Einem Postulat der neueren Epochentheorie folgend, liegt diesem auf der Basis des epochalen Selbstverständnisses entwickelten funktional-epistemologischen Aufklärungsbegriff ein Verständnis von ‚Epoche‘ zugrunde, das auf der kriterienbegründeten Homogenität von Epochenbegriffen insistiert.67 Demgegenüber lässt sich seit etwa den 2000er Jahren in der Aufklärungsforschung ein Trend zur Pluralisierung feststellen. Um der vermeintlichen Vielfalt des Beschreibungsgegenstands Herr zu werden, wird die Beschreibungsebene selbst in einer Weise vervielfacht, dass sich, grob vereinfacht, eine Tendenz der Auffächerung des Aufklärungsbegriffs nach außen von einer Tendenz seiner Differenzierung nach innen unterscheiden lässt. Als Auffächerungserscheinungen sollen hier Versuche benannt werden, in denen Aufklärung nicht als spezifischer Epochenbegriff konkretisiert, sondern durch immer unterschiedliche Kontextualisierungen und dem Aufklärungsbegriff strictu sensu äußerliche Zuschreibungen und Epitheta diversifiziert wird. Symptomatisch ist die neuerdings gehäuft zu findende Rede von den „Aufklärungen“,68 wobei der Plural sich sowohl auf regionale bzw. landesspezifische Unterschiede beziehen kann wie auch auf Eigenschaften der Autorenschaft wie Geschlecht (‚weibliche‘69 bzw. ‚feministische‘ Aufklärung70) oder konfessionelle Zugehörigkeit. Hier stellt die sog. ‚Katholische Aufklärung‘ einen prägnanten Fall dar, der sich näher zu beleuchten lohnt. Im Jahr 2017 fand die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts unter dem Titel „Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika“ statt. Der 2019 erschienene Tagungsband verdeutlicht, in welch unterschiedlicher Weise dieses Forschungsparadigma durch seine Vertreter konkretisiert wird, was wiederum zu ganz unterschiedlichen Verständnissen des Konzeptes ‚Katholische Aufklärung‘, aber auch von ‚Aufklärung‘ als solcher führt. In seiner Einleitung des Bandes betont der Herausgeber Jürgen Overhoff zunächst den Nutzen, den die Untersuchung der katholischen „Variante“71 für ein Epochenverständnis erfülle. Die Katholische Aufklärung wird hier als „Spielart“ eines „vielschichtige[n] Phänomen[s]“ Aufklärung verstanden, das sich bei aller faktischen Vielfalt mittels eines Sets einender „Kernprinzipien“72 re-

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Siehe jüngst Hempfer 2018, insbes. S. 224–237, sowie die dort angeführte Literatur; siehe zur Homogenitätspräsupposition von Epochenbegriffen näher auch unten Abschnitt 1.2.5. Siehe etwa den so bezeichneten Abschnitt im Handbuch Europäische Aufklärung – Begriffe, Konzepte, Wirkung, hg. v. H. Thoma, Stuttgart/Weimar 2015, S. 86–122. So etwa Women, Gender and Enlightenment, hg. v. S. Knott u. B. Taylor, Basingstoke 2005. So z. B. Feministische Aufklärung in Europa / The Feminist Enlightenment in Europe, hg. v. I. Karremann u. G. Stiening, Hamburg 2020. Overhoff, Jürgen, „Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika. Zur Einleitung“, in: Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, hg. v. J. Overhoff u. A. Oberdorf, Göttingen 2019, S. 9–22, dort S. 13. Ebd.

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konstruieren lasse. Mit diesem Anspruch wären zwei argumentative Vorgehensweisen der versammelten Beiträge zu erwarten: Entweder müssten die behaupteten Kernprinzipien von Aufklärung exemplarisch anhand ihrer katholischen „Variante“ extrapoliert werden, sodass der sprichwörtliche gemeinsame Nenner des Epochentypischen eben auch aus dem Spezifischen der konfessionellen „Spielart“ ableitbar wäre. Oder aber die allgemeinen Prinzipien bilden die Folie, vor der die Spezifik der katholischen Variante in den Blick genommen wird. Tatsächlich zeugen die in dem Tagungsband versammelten Beiträge jedoch von recht unterschiedlichen Auffassungen nicht nur über das ‚Aufklärerische‘ der Katholischen Aufklärung, sondern auch über das Spezifische der Katholischen Aufklärung. Die Bandbreite reicht von einem transhistorischen Verständnis im Sinne einer Aufklärung des Katholizismus seit dem 18. Jahrhundert über einen historischen Aufklärungsbegriff im Sinne einer mittels des katholischen Systems operierenden Aufklärungsbewegung bis hin zu einer Auffassung, die Aufklärungsphänomene im engeren Sinne innerhalb der Staatskirchen des 18. Jahrhunderts untersucht. Kombinationen der genannten Varianten sind ebenso möglich wie auch paradoxale Ansätze, die Katholische Aufklärung als Teil und Motor der Gegenaufklärung zu konzipieren. So vertritt etwa Harm Klueting die Position, es handele sich um eine „innerkatholische […] ‚systemimmanente‘, ja ‚systemstabilisierende‘ Aufnahme von Elementen der Aufklärung zur Verteidigung des katholischen Glaubens gegen die Kirchenkritik der radikalen Aufklärung“,73 in nuce also um die „Verteidigung des Katholischen gegen die Aufklärung mit den Mitteln der Aufklärung“.74 Gegenaufklärerische Ziele des innerkatholischen Diskurses als ‚aufklärerisch‘ zu deklarieren, ist jedoch weder für die Bestimmung eines Epochenkonstruktes Aufklärung noch für die Beschreibung dieses spezifischen Diskurses zielführend. Um der begrifflichen Klarheit willen scheint es angesichts einer derartigen Konstellation mit explizit gegenaufklärerischem Impetus ratsam, eine Situation der Funktionalisierung aufklärerischer Mittel von einer genuin aufklärerischen Erscheinung zu differenzieren. Im selben Band problematisieren die Verfasser Wolfgang Göderle und Thomas Wallnig den Epochenbegriff ‚Katholische Aufklärung‘ als eine Behelfskategorie, deren Nutzen aufgrund ihrer begrifflichen Überschneidungen mit dem Konzept ‚Aufgeklärter Absolutismus‘75 weitgehend auf die deutschsprachigen Gebiete beschränkt und auch mit dieser Restriktion noch zu relativieren sei: Wo immer der Begriff übertragen wird – Frankreich, Italien –, trifft er in Ermangelung eines protestantischen Gegenübers auf eine andere semantische Grundkonstellation, in der

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Klueting, Harm, „‚L’Aufklärung catholique‘ contre ‚les lumières‘. Aporemata der Forschung zur katholischen Aufklärung von 1969 bis 2017“, in: Overhoff/Oberdorf 2019, S. 23–51, dort S. 46. Ebd. Göderle, Wolfgang / Wallnig, Thomas, „Nutzen und Grenzen des Forschungsparadigmas ‚Katholische Aufklärung‘. Herrschaftslogik und sozialer Wandel im Habsburgerreich am Vorabend der Moderne“, in: Overhoff/Oberdorf 2019, S. 52–77, dort S. 53.

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das ‚katholische‘ nicht explizit in den Vordergrund gestellt werden muss. Der katholische Minderwertigkeitskomplex im Hinblick auf das Standardmaß der Aufklärung mag mithin etwas genuin Deutsches gewesen sein, und die Herausstellung des Katholischen verschleiert zugleich einen gesamtdeutschen Kommunikations- und Medienraum, in dem noch lange im 18. Jahrhundert konfessionelle Zugehörigkeit nur eine Identitäts-Kategorie von vielen bildete.76

Angesichts dieses Befundes erscheint fraglich, welcher Verständnisgewinn sich hinsichtlich der epochalen Konstellation Aufklärung aus dem Forschungsparadigma ‚Katholische Aufklärung‘ ziehen ließe. Mindestens offenbart sich jedoch das wesentliche Defizit der Begriffsbildung: Was der Begriff leisten müsste, bestünde darin, zu zeigen, wie sich innerhalb der Strukturen und Institutionen des Katholizismus im 18. Jahrhundert ein Denken formiert, das der säkularen Konstellation Aufklärung geschuldet ist, diese vorantreibt oder aber – z. B. im Sinne einer Ermöglichungsstruktur – zu ihrer Konstitution erst beiträgt. Die Einführung kontextabhängiger Klassifizierungen, die zu einer Auffächerung des Aufklärungsbegriffs führen, sollte daher stets der Frage folgen, welchen Nutzen eine weitere Spezifizierung im Hinblick auf einen Epochenbegriff Aufklärung erfüllen kann. Dringend geboten ist zudem eine trennscharfe Bestimmung des Redegegenstandes und dessen diskursiver Klammer: Besteht die Zielsetzung, wie im angeführten Beispiel, in der Untersuchung der Kontextstrukturen, so wäre der Gegenstand hier in der geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung des europäischen Katholizismus zu situieren. Verkürzt gesagt ginge es also weit weniger um das ‚Aufklärerische‘ als um das ‚Katholische‘ der historischen Erscheinung. Demgegenüber hat eine Erforschung der Aufklärung in ihren unterschiedlichen Kontexten dem Anspruch zu genügen, anhand der kontextabhängigen Konkretisierungen kontextübergreifende Prinzipien herauszuarbeiten, auf deren Grundlage eine Epochenkonstruktion vorzunehmen wäre. Dieser Anspruch gilt ebenfalls für die mit dem beschriebenen Auffächerungstrend korrespondierende Binnendifferenzierung des Aufklärungsbegriffs. Als (derzeit) prominentestes Beispiel dieser Tendenz sei hier die von Jonathan Israel vorgenommene Unterscheidung einer ‚moderaten‘ und einer ‚radikalen‘ Aufklärung zitiert. Obwohl Israel in seiner mittlerweile zur Pentalogie ausgearbeiteten Enlightenment-Serie an die Vorarbeiten von Margaret C. Jacob zur Genese einer radikalen Aufklärungstendenz in den Freimaurerlogen der Holländischen Republik anschließt,77 ist es doch in erster 76 77

Ebd., S. 55 f. Vgl. auch die dezidierte Ablehnung etwas weiter im Text: „Im Kern sind nämlich die Prozesse, mit denen wir es zu tun haben, weit globaler und viel weniger konfessionell markiert, als unser Titel-Oxymoron die Forschung bis heute glauben machen möchte.“ (ebd., S. 71) Siehe insbes. Jacob, Margaret C., The Radical Enlightenment: Pantheists, Freemasons and Republicans, London 1981. Jacobs These einer Entstehung des Radical Enlightenment in den Freimaurerlogen basiert maßgeblich auf den aufklärerischen Kommunikationsnetzwerken und Publikationsmöglichkeiten der holländischen Republik.

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Linie sein Werk, das aktuell Gegenstand durchaus kritischer Rezeption ist.78 Die auf einen Begriff von Aufklärung im Allgemeinen und von ‚Radikaler Aufklärung‘ im Speziellen bezogene These sei daher knapp rekapituliert und einige Argumente der Kritik zusammengefasst. Bekanntlich definiert Israel Enlightenment zunächst als ein „partly unitary phenomenon operative on both sides of the Atlantic, and eventually everywhere, consciously committed to the notion of bettering humanity in this world through a fundamental, revolutionary transformation discarding the ideas, habits, and traditions of the past either wholly or partially“.79 Wesentlich sei die Aufklärung demnach über ein der Epoche spezifisches Revolutionsprinzip charakterisiert, das sich aus dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus herleite: „All Enlightenment by definition is closely linked to revolution“.80 Mit der Verknüpfung der Fortschrittsidee mit einem – zunächst allgemein gehaltenen – revolutionären Impetus kann Israel an Voltaires Argument im Précis sur le siècle de Louis XV anschließen, wobei dieser die Umwälzung, wie in Abschnitt 1.2.1.1. gesehen, epistemologisch als eine révolution des esprits auslegt. Dass Israel Voltaire dennoch keineswegs als paradigmatischen Vertreter der Lumières verstanden wissen will, ergibt sich aus dem zweiten Bestandteil seines Epochenbegriffs und wird in den fünf Bänden der Enlightenment-Serie als Leitthese herausgestellt. Denn obwohl er in der zitierten Basisdefinition von einem zumindest „partly unitary phenomenon“ ausgeht, postuliert Israel im Grunde eine agonale Relation einer radikalen und einer moderaten Ausprägung von Aufklärung. Den Unterschied der beiden Varianten81 erkennt er dabei zum einen in der Konsequenz, mit der das Revolutionsprinzip von dem Bereich der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auf die politische Sphäre übertragen werde, zum anderen in der ideengeschichtlichen Tradition, in der die ‚radikalen‘ Autoren vergemeinschaftet und von der ‚moderaten‘ Fraktion abzugrenzen seien. Zu radicals werden in dieser Systematik jene erklärt, die in der Nachfolge Baruch Spinozas auf der Grundlage von dessen metaphysischem Monismus82 eine atheistisch-materialistische Weltanschauung entwickelten, wodurch Spinoza kurzerhand zum eigentlichen Begründer der Aufklärung erklärt wird. Die Entstehung der ‚radikalen‘ politischen Po78

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Siehe etwa Lilti, Antoine, „Comment écrit-on l’histoire intellectuelle des Lumières? Spinozisme, radicalisme et philosophie“, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 64/1 (2009), S.171–206. Speziell für eine Auseinandersetzung mit den politischen Thesen Israels siehe Les Lumières radicales et le politique. Études critiques sur les travaux de Jonathan Israel, hg. v. M. García-Alonso, Paris 2017. Israel, Jonathan I., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution and Human Rights 1750–1790, Oxford 2011, S. 7. Ebd. ‚Variante‘ sei hier zunächst als Behelfsbegriff verwendet. Dass es sich in Israels Modell de facto nicht um zwei Varianten eines Grundprinzips, sondern vielmehr um eine eigentliche und eine uneigentliche, ergo illegitime, Ausprägung handelt, wobei dies freilich der von Israel selbst formulierten Definition widerspricht, ergibt sich in der weiteren Entfaltung der These und wird im Folgenden dargelegt. Israel 2011, S. 11.

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sitionen der Aufklärung erscheint bei Israel als logische Konsequenz eines ebenso radikalen atheistischen Materialismus, d. h. Radikalität in Bezug auf die Negation einer transzendenten Ordnung und soziopolitischer Reformwille werden als die zwei Seiten derselben Medaille gedeutet: Philosophy denying the created, planned, and supervised character of the existing order, while simultaneously maintaining that reason can provide a better social and moral order, must therefore always be more appealing to outright opponents of ‚priestcraft‘, intolerance, archaic laws, economic inequality, slavery, monarchy, religious, gender, and racial discrimination, and aristocracy than any theological or moderate Enlightenment system.83

Demnach stehe der Grad, zu dem ein Autor atheistisch-materialistische Anschauungen vertrete,84 in einem direkten Verhältnis zu der Radikalität, mit der er das aufklärerische Revolutionsprinzip auf soziopolitische Kontexte übertrage. In dieser Argumentation wird der monistische Materialismus nicht nur mit egalitären politischen Positionen konnotiert;85 die Revolution von 1789 erscheint gar als die notwendige realpolitische Folge der ‚radikal-aufklärerischen‘ Ideengeschichte.86 Voltaires deistische Metaphysik wiederum sowie seine konservative Haltung zugunsten des monarchischen Systems87 bieten Anlass, ihn zu den Vertretern der moderaten Variante zu erklären. Auf den Schwächen dieser pauschalen Zuordnung wurde nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Voltaires Einsatz für die von der Inquisition Verfolgten und für eine Reform des geltenden Strafrechts insistiert.88 Dass sich Voltaire des Risikos nicht nur seines Engagements in den Strafprozessen um den jungen Chevalier de la Barre sowie die Familien Calas und Sirven, sondern darüber hinaus der allgemeinen gegen den parti philosophique gerichteten politischen Stimmung bewusst war, belegt sein Schreiben an Diderot vom 23. Juli 1766.89 Israels kategorische Zuweisung unterschlägt diese Wahrnehmung einer Bedrohungssituation, die das Ergebnis eines durchaus – um dieselbe Terminologie zu verwenden – ‚radikal‘ gegen die Hegemonie der katholischen Ordnung gerichteten Denkens und Schreibens ist.

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Israel 2011, S. 22. Kritik an diesem ideengeschichtlichen Ansatz formuliert Jacob, Margaret C., „The Radical Enlightenment and Freemasonry: Where We Are Now“, in: Philosophica 88 (2013), S. 13–29, speziell S. 21 f. Gegen diesen argumentativen Kurzschluss wendet sich Siep Stuurman in seiner Rezension des ersten Bandes von Israels Enlightenment-Serie, indem er auf die komplexe Entstehung der Gleichberechtigungsdebatten im 18. Jahrhundert aufmerksam macht. Siehe näher Stuurman, Siep, „Pathways to the Enlightenment: from Paul Hazard to Jonathan Israel“, in: History Workshop Journal 54 (2002), S. 227–235, dort insb. S. 234. Israel 2011, S. 16. Siehe hierzu die Textanalyse zu Voltaires L’Ingénu in Abschnitt 3. Siehe etwa Ferret, Olivier, „D’une politique de Voltaire à une pensée du politique“, in: García-Alonso 2017, S. 195–228. Inventarnummer D13442 in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 114; siehe hierzu näher Abschnitt 3.5.2., S. 191 f.

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Der Fall Voltaire offenbart die Schwächen des dichotomischen Modells, das basierend auf einer eindimensional konzipierten Kategorie der ‚Radikalität‘ von Einzelautoren einen Epochenbegriff Aufklärung konstruiert, dessen Nucleus trotz der postulierten Dualität (‚moderat/radikal‘) auf die definierten ‚radikalen‘ Elemente beschränkt bleibt. Denn obwohl die gewählte Terminologie anderes suggeriert, werden die moderate und die radikale Aufklärung nicht etwa im skalaren Vergleich, sondern in gegenseitiger Frontstellung konzipiert.90 Die ‚moderate‘ Tendenz sei überhaupt nur als Reaktion auf die radicals zu verstehen. Israels Präferenz gilt dabei unverhohlen der radikalen Tendenz, die implizit als die ‚wahre‘ Aufklärung nobilitiert wird. Diese Präferenz beruht wiederum auf einer ideologischen Engführung von Enlightenment und Modernity, die Israels Schriften durchweg unterliegt. Als ‚wahre‘ Aufklärung gelte demnach nur, was in ihrer politischen Radikalität der Moderne den Weg bereitet habe.91 Zugunsten dieser Modernitätserzählung wird die historische Kontextualisierung, die als Korrektiv aller Periodisierungsbemühungen fungieren sollte, preisgegeben. Stattdessen macht Israel sich eine telelogische Interpretation der Geschichte zu eigen, die unkritisch an das Fortschrittsnarrativ der Aufklärung anschließt. Explizit ausgeblendet werden all jene Ideen und Positionen der Lumières, die nicht Israels spezifischem Modernebegriff standhalten, die aber im Rahmen der empirisch fundierten Wissenschaften durchaus dem Denken der Epoche entspringen (können): Rassentheorien, Kolonialpolitik, Ungleichheit produzierende Finanzökonomie u. v. a. m. Auf die offensichtliche Anachronismusproblematik, die aus dem von Israel konstruierten Konnex von Moderne und Aufklärung resultiert, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Für den in dieser Arbeit untersuchten Zusammenhang ist zunächst entscheidend, dass Israels auf einem klaren Zuordnungsschema basierende Binnendifferenzierung von Aufklärung zu einer Grenzziehung führt, die in der Forschung wiederholt als eine Scheinopposition und als Ergebnis selektiver, eine schablonenhafte Vereinfachung in Kauf nehmender Lektüren kritisiert wurde.92 Darüber

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Siehe Israel, Jonathan, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, Oxford u. a. 2001, S. 11: „Hence Europe’s war of philosophies during the Early Enlightenment down to 1750 was never confined to the intellectual sphere and was never anywhere a straight-forward two-way context between traditionalists and moderni. Rather, the rivalry between moderate mainstream and radical fringe was always as much an integral part of the drama as that between the moderate Enlightenment and conservative opposition.“ Siehe Israel 2011, S. 7: „Enlightenment is, hence, best characterized as the quest for human amelioration occurring between 1680 and 1800, driven principally by ‚philosophy‘, that is, what we would term philosophy, science, and political and social science including the new science of economics lumped together, leading to revolutions in ideas and attitudes first, and actual practical revolutions second, or else the other way around, both sets of revolutions seeking universal recipes for all mankind and, ultimately, in its radical manifestation, laying the foundations for modern basic human rights and freedoms and representative democracy.“ Z. B. in Jacob 2013, S. 24 f.

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hinaus stellt sich das wesentliche methodische und epochentheoretische Problem, das darin besteht, dass der zugrundeliegende Epochenbegriff bei terminologischem Einschluss beider Tendenzen den moderaten mainstream gleichzeitig als nicht legitim ausschließt. Anstatt das epistemologisch Einende herauszustellen, zersplittert der Epochenbegriff in einer Frontstellung von Tendenzen, die zunächst als Varianten derselben Grundordnung eingeführt werden. Dies ist umso erstaunlicher, als die wissen(schaft)stheoretische Umwälzung in dem von Israel veranschlagten Revolutionsprinzip durchaus impliziert ist und tlw. auch explizit benannt wird: „Enlightenment operated usually by revolutionizing ideas and constitutional principles, first, and society afterwards, but sometimes by proceeding in reverse order, uncovering and making better known the principles of a great ‚revolution‘ that had already happened.“93 Dass nun ausgerechnet Voltaire zum Exemplum einer Aufklärung zweiter Klasse degradiert wird, durchkreuzt letztlich das im Kern – auch – epistemologische Definitionsprinzip. Zu problematisieren ist gleichfalls die von Israel konstruierte genealogische Herleitung des radikalen Aufklärungsbegriffs. So hat Klaus W. Hempfer jüngst herausgearbeitet, dass das genealogisch begründete Kriterium, das Israel als Grundlage für den Ausschluss Voltaires und anderer Autoren aus dem engeren Kanon der Lumières dient, auf einem grundlegenden Missverständnis der zeitgenössischen Spinoza-Rezeption beruht. Denn während Israel Spinozas Werk im Sinne einer Vorwegnahme der epistemologischen, gesellschafts- und systemkritischen Positionen der Aufklärung auffasst, gilt Spinoza den Aufklärern selbst als Konstrukteur deduktiver philosophischer Systeme und damit im Gegenteil als Vertreter eines als überkommen verabschiedeten Denkmodells.94 Dass dies auch für einen von Israel zu den ‚radikalen‘ Aufklärern gezählten Autor wie Diderot gilt, konnte Hempfer anhand von dessen Text Les Bijoux indiscrets belegen.95 Wenngleich sich freilich einzelne Theoreme und Positionen der Aufklärung in Spinozas Werk vorgedacht finden, so verkörpert er neben Descartes oder Leibniz für die Autoren der Lumières doch eine dem empirisch-induktiven Modus der Aufklärung gegenläufige Denkbewegung.96 Dagegen beruht Israels wiederholte und mit erstaunlicher Vehemenz geführte Negation von Voltaires aufklärerischem Status

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Israel 2011, S. 7. Siehe ebenfalls die Beschreibung des aufklärerischen Fortschrittskonzepts „as something arising from a general transformation in men’s thinking, attitudes, and ideas and by challenging accepted values, rather than stemming from other arguably useful forces for change such as economic processes, social practices, inherent national characteristics real or alleged, imperial expansion, religious revelations, rediscovering ancient texts or ancient constitutions“ (ebd., S. 5). Siehe hierzu Hempfer, Klaus W., „Multiple Epochisierungen und die (Un-)Möglichkeit der Konstruktion einer Makroepoche ‚Frühe Neuzeit‘“, in: Multiple Epochisierungen – Literatur und Bildende Kunst 1500–1800, hg. v. K. W. Hempfer u. V. von Rosen, Stuttgart 2021, S. 1–43, dort S. 24–26. Siehe Hempfer 2007. Siehe etwa das zehnte Kapitel mit dem Titel „Le Spinosisme refuté“ in Condillacs Traité des Systèmes (1749).

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auf einer partiellen, d. h. auf die Spinozismus-These zurechtgeschnittenen Lektüre des Aufklärungskanons, in der die epistemologische Grenzziehung vernachlässigt wird. Wenngleich Israels Arbeiten mit ihrer Aufarbeitung eines umfassenden historischen Quellenmaterials beeindrucken, so basiert die durchlaufende These einer Dichotomie von radikaler und moderater Aufklärung mit der Spinoza-Genealogie im Ergebnis doch auf einer falschen Voraussetzung, die mithilfe selektiver Lektüren belegt wird. Dass zudem fast ausschließlich sog. ouvrages d’esprit, d. h. naturwissenschaftliche bzw. -philosophische, erkenntnistheoretische oder politische Texte herangezogen, im engeren Sinne literarische Texte jedoch ausgespart werden, kreiert einen blinden Fleck im entwickelten Aufklärungskonzept. Unberücksichtigt bleibt so die spezifische Kommunikationssphäre der Lumières samt ihrer Inanspruchnahme literarischer Formen für die Verbreitung eines epistemischen Modus. Auch vor dem Hintergrund dieser aufklärerischen Funktionalisierung von Literatur wäre die Dichotomie ‚moderat–radikal‘ auf ihre Plausibilität zu prüfen. Wie auch andere Pluralisierungen des Aufklärungsbegriffs löst Israels Binnendifferenzierung das Problem der Epochisierung von Aufklärung weniger, als dass sie ein neues Problem erzeugt: Denn welcher begriffliche Status käme einer ‚moderaten Aufklärung‘ als uneigentlicher Variante in einem epochentheoretisch fundierten Periodisierungskonzept zu? Skalierungen scheinen im Rahmen eines Epochenbegriffs dort gerade nicht zielführend, wo das skalierte Objekt im selben Moment Gegenstand apriorischer Wertungsvornahmen und als illegitime Ausprägung sodann – implizit oder explizit – aus dem Epochenkonzept ausgegrenzt wird. In der Konstruktion eines Epochenbegriffes a priori auf ‚radikalen‘, ergo Extremausprägungen aufzubauen, ist auch auf einer sprachlogischen Ebene problematisch, soll das zu konstruierende Epochenkonzept doch von dem Nachweis von Gemeinsamkeiten ausgehen. Die für die Pluralisierungstendenz der Aufklärungsforschung konstatierte Annäherung an den Epochenbegriff ‚von den Rändern her‘ bringt es mit sich, dass ein epochenspezifischer Kern nicht systematisch entwickelt werden kann, ohne einen Großteil der Erscheinungen aus der Betrachtung ausschließen zu müssen. Ohne den sprichwörtlichen gemeinsamen Nenner verliert der Epochenbegriff jedoch schlicht seine Brauchbarkeit als historische Ordnungskategorie. 1.2.2 Aufklärung als literarische Epoche? Zur Bestimmung von ‚Aufklärungsliteratur‘ Vor dem Hintergrund des erkenntnistheoretischen und funktionalen Wandels der Rationalitätskriterien, als der Aufklärung in den vorangehenden Abschnitten beschrieben wurde, ist nachvollziehbar, dass es sich bei Aufklärung weder um eine auf das soziokulturelle Teilsystem Literatur beschränkte Kategorie, noch um ein von diesem Teilsystem gänzlich unabhängiges Phänomen handeln kann. Als epistemologische Konfigurati-

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on, die im 18. Jahrhundert als hegemonialer Denkstil durchgesetzt wird, unterscheidet sich der Epochenbegriff Aufklärung in seinem Abstraktionsniveau von anhand genuin formalästhetischer Kriterien konstruierten Epochenbegriffen und ist hierin dem Epochenkonstrukt Renaissance vergleichbar. Anders als etwa das auf die künstlerische Theorie und Praxis beschränkte Konzept Manierismus97 ist Aufklärung im epistemischen Sinne stets perspektivisch auf alle Diskurse des Zeitalters bezogen, wobei umgekehrt freilich nicht zwangsläufig alle Diskurse gleichermaßen ‚aufklärerisch‘ sind. Dennoch kommt der Literatur im Rahmen eines Epochenkonstrukts Aufklärung insofern eine privilegierte Rolle zu, als die im noch nicht final ausdifferenzierten Literatursystem der Vormoderne so genannten belles-lettres neben den ouvrages d’esprit das bevorzugte Medium zur hegemonialen Durchsetzung des empirisch-induktiven Denkstils darstellen.98 In diesem Sinne ist der zweite der für die Aufklärung beschriebenen Ausweitungsprozesse, die für die Raumergreifung des Denkens maßgebliche Ausweitung des philosophischen Kommunikationsraumes, in direkter Weise mit dem literarischen System des 18. Jahrhunderts korreliert. Mit dem beginnenden 18. Jahrhundert erfährt das Literatursystem einen Wandel, der in einer neuartigen Funktionszuschreibung an das literarische Werk besteht: Wie Klaus W. Hempfer festgestellt hat, trifft auf einen Teil dieses Literatursystems – konkret: auf die sogleich näher zu beschreibende Teilmenge ‚Aufklärungsliteratur‘ – zu, „dass in bis dato unbekannter Weise das Ästhetische zur Funktion im Hinblick auf die Durchsetzung eines neuen Denk- und Wirklichkeitsmodells wird […].“99 Dass die epistemologische Konfiguration, deren diskursübergreifender Implementierung die Lumières sich verschrieben haben, gleichermaßen Reflexionsgegenstand und raison d’être der aufklärerischen Literaturproduktion ist, pointiert Hempfer in Abwandlung des Leitsatzes der klassizistischen Wirkungsästhetik mit der Formel plaire pour instruire.100 Aufgrund ihrer Dienstbarkeit für die Durchsetzung eines diskursübergreifenden epistemologischen Wandels und weil sie nicht nur das Ergebnis der Erweiterung der philosophischen Kommunikationssphäre sind, sondern diese zudem aktiv betreiben,101 sind die literarischen Texte der Aufklärung zugleich Instrument und Symptom Siehe hierzu Huß, Bernhard / Wehr, Christian (Hgg.), Manierismus: Interdisziplinäre Studien zu einem ästhetischen Stiltyp zwischen formalem Experiment und historischer Signifikanz, Heidelberg 2014. 98 Siehe auch Dieckmann 1972b, insbes. S. 62, sowie Gusdorf 1971, S. 26. 99 Hempfer 2005, S. 25. 100 Ebd. 101 Dieser summarische Befund wird durch die Ergebnisse von Roger Chartiers Aufarbeitung der Publikations- und Lektürepraktiken im Ancien Régime gestützt; siehe Chartier, Roger, Lectures et lecteurs dans la France d’Ancien Régime, Paris 1987. Für das 18. Jahrhundert konstatiert Chartier unter Berücksichtigung der ökonomischen Unterschiede der Leserschaft sowie regionaler und urban-ländlicher Differenzen: 1. eine Zunahme von gedruckten Büchern in Privatbesitz (S. 171), 2. eine Steigerung von Schriften der Kategorie belles-lettres in Privatbibliotheken des Adels und der Bourgeoisie (S. 175, 178), 3. einen Zuwachs an öffentlichen Bibliotheken (S. 186–189), 4. die Etablierung kommerziell organisierter Buchleihen (S. 195 f.), 5. die wachsende Bedeutung von Le97

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des zweifachen epistemologisch-funktionalen Ausweitungsprozesses, der die Lumières in der ihr eigentümlichen Weise auszeichnet. Insofern Aufklärungsliteratur folglich über ihre Funktion in der Durchsetzung und Ausweitung des aufklärerischen Rationalitätsbegriffs beschreibbar ist, bilden funktionsspezifische und nicht ästhetische Kompositionsprinzipien die Kriterien des literarhistorischen Epochenkonstrukts. Anders ausgedrückt: Der formsprachliche bzw. allgemeiner: produktionsästhetische, die Hervorbringung des ästhetischen Gefallens regulierende Aspekt des plaire pour instruire bildet kein hinreichendes Bestimmungskriterium für einen Epochenbegriff Aufklärung. Tatsächlich ließe sich angesichts der enormen Breite an Formen und Gattungen mit je eigenen mehr oder weniger stark kodifizierten ästhetischen Regelkatalogen, in denen sich die literarischen Texte der Aufklärung präsentieren, kaum ein gemeinsamer poetologisch-ästhetischer Nenner identifizieren. Dass die Literatur der Lumières dennoch schon zeitgenössisch als eine zusammenhängende Textgruppe wahrgenommen, von den Buchhändlern zu publikationspolitischen Zwecken als livres philosophiques zusammengefasst und mit einer neuartigen philosophisch-intellektuellen Autorenkonstellation assoziiert wurde,102 verweist hingegen auf die Validität ihrer epistemologischen Funktionalisierung. Da sich Aufklärungsliteratur demnach immer nur in Relation zu der ihr zugrundeliegenden epistemologischen Konfiguration sowie über ihren Status als Element eines neuartigen philosophischen Kommunikationsgefüges erfassen lässt, erfordert ihre Bestimmung neben der Detaillierung der Gestaltungsprinzipien des verwendeten literarischen ‚Materials‘ stets noch den Einzug einer zweiten Beschreibungsebene. Aus diesem Grund lässt sich für die meisten der unter dem Konstrukt Aufklärung gefassten literarischen Texte neben dieser Klassifizierung noch eine weitere Textgruppenzuordnung vornehmen. So ist etwa für Voltaires Tragödien die Gültigkeit bzw. mindestens eine tendenziell affirmative Bewertung des klassizistischen Paradigmas nachweisbar, während für Diderots Les Bijoux indiscrets eine erotisch-pornographische Strömung seit dem frühen 18. Jahrhundert gestaltungsbildend wirkt.103 Ohne an dieser Stelle auf die Problematik des begrifflichen Status dieser zweifachen Klassifizierung im Hinblick

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sezirkeln und sog. cabinets de lecture, in denen auch die Lektüre von aus Prohibitionsgründen im Ausland gedruckten philosophischen Schriften praktiziert wird (S. 191), sowie 6. anschließend an die bekannte These von Rolf Engelsing eine Individualisierung und Extensivierung der privaten Lektürepraxis (S. 199–203). Dies belegt die von Robert Darnton zusammengetragene Liste der zwischen 1769 und 1789 verbotenen bzw. nicht autorisierten Literatur, für die in Frankreich trotz – oder gerade wegen – ihres illegalen Status eine hohe Nachfrage herrschte, der die französischen Buchhändler nur in Kooperation mit ausländischen, insbesondere schweizerischen und holländischen Händlern nachkommen konnten. Zu diesen Texten zählt auch Voltaires in der vorliegenden Arbeit untersuchter Roman L’Ingénu; siehe Darnton, Robert, The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France, New York/ London 1995, sowie ders., The Corpus of Clandestine Literature in France, 1769–1789, New York/ London 1995. Zu diesem Text siehe die Textanalyse in Hempfer 2005, S. 26–33.

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auf eine Theorie literarischer Epochen einzugehen,104 so lässt sich diese doch exemplarisch an Voltaires Tragödie Œdipe aufzeigen. Roman Kuhn hat jüngst demonstriert, dass für diesen Dramentext neben dem Epochenkonstrukt Aufklärung auch das ästhetische System des Klassizismus einige Gültigkeit besitzt.105 Anders als von einer einseitig auf die ‚modernen‘ Erzählformen conte und Roman fokussierten Aufklärungsforschung suggeriert, sind Aufklärung und Klassizismus daher keineswegs antagonistische Kategorien. Vielmehr beziehen sie sich auf zwei miteinander interagierende, jeweils epistemologisch respektive poetologisch wirksame Kompositionsprinzipien eines einzelnen literarischen Textes, der sich solchermaßen innerhalb eines komplexen Verhältnisses von ‚alt‘ und ‚neu‘ situiert. Neben dem genannten poetologischen System des Klassizismus sind dies im Frankreich des 18. Jahrhunderts in erster Linie die, freilich nicht in vergleichbarem Maße poetologisch kodifizierte, poetische Praxis des libertinage106 sowie der Empfindsamkeit. An die Stelle formalästhetischer Prinzipien treten im Fall des Libertinage und der Empfindsamkeit über Erzähltopoi und moralisch konnotierte Motive vermittelte wirkungsästhetische Leitlinien (vgl. hierzu näher Abschnitt 1.2.3). Obwohl es sich bei den drei genannten (Klassizismus, Libertinage und Empfindsamkeit) auch um epochale Kategorien handelt, die für ihren Zeitraum hinreichend spezifisch sind, gilt für die Literatur der Aufklärung nicht notwendigerweise, dass sie sich immer in eine solche (zweite) Epochenkategorie einordnen lässt. So kann es sich bei der poetologischen Ebene gleichfalls um die Verwendung von in unterschiedlichem Maße transhistorischen Gattungsmustern wie dem Abenteuerroman (bspw. im Fall von Diderots Jacques le fataliste), dem Reisebericht (etwa Voltaires Candide) oder dem Briefroman (Montesquieus Lettres persanes) handeln. Aufgrund der fehlenden oder zumindest reduzierten Interferenz mit einer zweiten für das 18. Jahrhundert hinreichend spezifischen literarischen Gestaltungsweise sind dies bezeichnenderweise zumeist auch diejenigen Texte, die, anders als bspw. Voltaires Henriade, in der modernen Forschung als paradigmatisch aufklärerisch erachtet werden. Der vergleichsweise geringe Grad an poetologischer Regulierung, dem die Erzählgenera unterliegen, führt in Forschungsbeiträgen nicht nur häufig dazu, dass die Erzählliteratur der Aufklärung in anachronistisch-verkürzender Weise als ‚modern‘ charakterisiert wird, sondern er verdeckt auch den spezifischen Doppelcharakter von poetischer Praxis und epistemo-

104 Siehe hierzu näher Abschnitt 1.2.5. 105 Kuhn, Roman, „Recycling Ödipus. Voltaires Œdipe im Kontext von klassizistischer Tragödienästhetik und Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 128 (2018), S. 30–60. 106 Für die Themen und Motive der libertinen Literatur siehe Delon, Michel, Le Savoir-vivre libertin, Paris 2000, sowie Bernier, Marc A., Libertinage et figures du savoir. Rhétorique et roman libertin dans la France des Lumières (1734–1751), Saint-Nicolas/Paris 2001.

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logischer Funktionalisierung, der jeden genuin aufklärerischen Text per definitionem auszeichnet.107 Die literarische Produktion der Aufklärung ist eine höchst pragmatisch fokussierte und programmatisch orientierte, und die Autoren der Lumières arbeiten sich an allen ihnen im Literatursystem des 18. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden Formen, Gattungen und Strömungen ab. Hieraus folgt, dass sich das Verhältnis von ‚Aufklärung‘ und ‚Literatur‘ zwar durchaus schematisch im Anschluss an Hempfer 2005 als die Funktionalisierung des Ästhetischen im Rahmen der Durchsetzung des empirisch-induktiven Denkmodells bestimmen lässt.108 Allerdings ist das Verhältnis von poetischer Praxis und aufklärerischer Indienstnahme für den konkreten Einzeltext jeweils individuell in Abhängigkeit von den diesen Text leitenden ästhetischen Gestaltungsprinzipien zu bestimmen. Angesichts der mit einer Gattung, Strömung oder Poetik jeweils verbundenen unterschiedlichen Strukturen, Motivgeschichten und rezipientenseitigen Verständnishorizonte, in denen sich die Denkform der Aufklärung in je unterschiedlicher Art und Weise konkretisiert, ist es für die Interpretation eines Aufklärungstextes von höchster Relevanz, ob es sich um eine klassizistische Tragödie oder um einen empfindsamen Briefroman handelt. In Abgrenzung von Arbeiten, die sich der Relationierung von Aufklärung und Klassizismus widmen,109 untersucht die vorliegende Studie daher Konkretisierungen der Relation von Aufklärung und literarischer Gestaltung in drei Erzähltexten des 18. Jahrhunderts, die sich in je unterschiedlicher Weise auf eine empfindsame Tendenz des zeitgenössischen Literatursystems beziehen. Hierzu sollen die zentralen Strukturen und Konstanten der literarischen Empfindsamkeit in Frankreich, wo nötig auch unter Rekurs auf die empfindsame Tendenz in Europa, rekapituliert werden.

107 Keineswegs ausgeschlossen ist hiermit, dass auch die dem Einzeltext zugrundeliegende Poetologie selbst eine aufklärerische sein kann. Es wäre dann im Detail zu untersuchen, in wie fern die jeweilige Poetik ihrerseits, und nicht allein der literarische Text, der Durchsetzung des empirischen Denkstils zuarbeitet. Dies könnte etwa für Diderots Theorie des drame bourgeois gelten, das von Lioure als in „étroite parenté“ mit der Encyclopédie stehend und so implizit als Theater der Aufklärung ausgewiesen wird; siehe Lioure, Michel, Le Drame, Paris 1963, S. 12. Die Zulässigkeit von derartigen Urteilen wäre vor dem Hintergrund der in diesem und dem voranstehenden Abschnitt getätigten Ausführungen zu hinterfragen. 108 Zur Ablehnung des deduktiven Rationalismus und Durchsetzung der empirischen Induktion im Werk Voltaires siehe auch Stenger, Gerhardt, „La méthode de Voltaire: du Traité de métaphysique au Philosophe ignorant“, in: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption – Expression des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, hg. v. R. Bach u. a., Tübingen 1999, S. 505–516. 109 Diesem Themenkomplex widmet sich das von Klaus W. Hempfer geleitete Unterprojekt der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe FOR 2305 Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in dessen Kontext auch der zitierte Aufsatz von Kuhn 2018 entstanden ist.

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1.2.3 Die Literatur der Empfindsamkeit Im Januar 1762 veröffentlicht Diderot einen Text, der, obwohl er als Lobschrift auf einen konkreten Autor konzipiert ist, die Elemente und Basispostulate einer ganzen Tendenz der französischen (und europäischen) Literatur des 18. Jahrhunderts konturiert. Bereits kurz nach dem Tod des englischen Romanciers, zu dessen Anlass der Éloge de Richardson verfasst wurde, verbindet Diderot mit dem Namen Richardson die Grundelemente einer gefühlsbetonten, empfindsamen Ausrichtung der zeitgenössischen Literaturproduktion: S’il importe aux hommes d’être persuadés qu’indépendamment de toute considération ultérieure à cette vie, nous n’avons rien de mieux à faire pour être heureux que d’être vertueux, quel service Richardson n’a-t-il pas rendu à l’espèce humaine? Il n’a point démontré cette vérité; mais il l’a fait sentir: à chaque ligne il fait préférer le sort de la vertu opprimée au sort du vice triomphant.110

In all ihrer Kürze bringt diese Textstelle die anthropologischen, ideologischen, wirkungsästhetischen und thematischen Basispostulate der französischen Empfindsamkeit auf den Punkt. Mit der Rückführung von bonheur auf eine tugendhafte Lebensführung ist die diesseitige Orientierung benannt, die das ideologisch-anthropologische Fundament der Empfindsamkeit kennzeichnet. Dass dem Leser die „Wahrheit“ dieser Relation nicht durch logische Argumentation vorgeführt werde, er sie vielmehr in der emotionalen Anteilnahme am Erzählten im Akt des Lesens ‚zu spüren‘ bekomme, bildet die wirkungsästhetische Prämisse des empfindsamen Schreibens. Auf der thematischen Ebene findet diese Wirkungsästhetik ihre Umsetzung in dem Empathie und Identifikation stiftenden Motiv der ‚verfolgten Unschuld‘ (frz. vertu opprimée). Der mit dem Romanautor Richardson konnotierte Wandel, der sich im 18. Jahrhundert über die innereuropäischen Grenzen hinweg in der Konzeption einer literarischen Gattung vollzieht, die traditionell mit einem schädlichen Einfluss auf die Moral des Lesers in Verbindung gebracht wurde,111 wird in dem Eintrag ‚Roman‘ der Encyclopédie bekräftigt. Betont wird die moralbildende Funktion, die dem Roman à la façon de Richardson nunmehr zukomme: Enfin, les Anglois ont heureusement imaginé depuis peu de tourner ce genre de fictions à des choses utiles; & de les employer pour inspirer en amusant l’amour des bonnes mœurs & de la vertu, par des tableaux simples, naturels & ingénieux, des événemens de la vie.112

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Diderot, Denis, Éloge de Richardson, hg. v. J. Varloot u. a., DPV, Bd. 13, 1980, S. 181–208, dort S. 195. Siehe für die gegen die Gattung vorgebrachten moralischen Argumente noch immer grundlegend May, Georges, Le Dilemme du roman au XVIIIe siècle. Études sur les rapports du roman et de la critique (1715–1761), New Haven/Paris 1963. s. v. ‚Roman‘, in: Encyclopédie, Bd. 14, 1765, S. 341 f., Zitat auf S. 342a.

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Zentral ist, dass die in moraltheoretischen Argumenten fundierte Positivierung der Gattung ihren Ausgang in jener empfindsamen Ausrichtung des Romans nimmt, für die Samuel Richardson bereits in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen paradigmatisch steht. Ausgehend von der für Richardsons Werk typischen Fülle illusionsfördernder Details konstruiert Diderot in seiner Lobschrift eine Poetik des empfindsamen Romans, welche die moralische Bildung des Lesers an dessen affektive Identifikation mit dem Erzählten bindet, für die wiederum die Illusionskraft der Gattung die produktive Voraussetzung bildet.113 Dem entspricht, dass die typischen Erzählformen der Empfindsamkeit eben solche sind, die auf die Erzeugung einer Näherelation zwischen Leser und Erzählstimme einerseits sowie zwischen Erzähler und erzählter Geschichte andererseits abzielen: Briefromane und sog. mémoires, deren vermeintliche Authentizität durch die Fiktion des manuscrit trouvé forciert wird, sind repräsentativ für die zeitgenössische empfindsame Romanproduktion. Authentifizierung der Fiktion, emotionale Affizierung des Lesers und moralbildende Textfunktion stehen in einem für die Empfindsamkeit spezifischen Interdependenzverhältnis. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bietet für ‚Empfindsamkeit‘ die folgende Definition an: Mit dem Begriffsnamen Empfindsamkeit ist ein (1) gesteigertes, (2) bewußtgemachtes, (3) positiv bewertetes und (4) geschlossenes Fühlen (‚Gefühlskult‘) bezeichnet, das sich in deutschsprachigen literarischen Texten etwa ab 1740 (in Frankreich und England früher) gattungsübergreifend – in besonderer Weise auch in nicht-fiktiven Gattungen wie Tagebuch und Brief – Geltung verschafft. Obgleich Nachwirkungen bis tief ins 19. Jahrhundert hineinreichen, bleibt die Empfindsamkeit eingebunden in den Kontext der Aufklärung.114

Zumindest für die französische, englische und deutsche Variante der Empfindsamkeit lässt sich eine moralbildende Funktion der Emotionalität nachweisen. Daher handelt es sich bei dem sich vor allem in der Literatur Geltung verschaffenden „gesteigerten“ Gefühl, das der Empfindsamkeit ihren Namen gibt, nicht um einen autonomen Wert. Das Gefühl situiert sich vielmehr innerhalb eines umfassenderen moraltheoretischen Arguments,115 welches das empathische Vermögen zum einen als Ausweis der moralischen Güte des Fühlenden konzipiert und zum anderen den durch die Kunst stimulierten Affekt als Mittel der Ausbildung empathischer Fähigkeiten in der Realität theoretisiert. Die Empfindsamkeit des Lesers ist somit gleichermaßen eine vorausgesetzte und im Prozess des Lesens erst sich ausbildende Eigenschaft. Diese von Coulet lapidar

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Geißler, Rolf, Romantheorie in der Aufklärung. Thesen und Texte zum Roman des 18. Jahrhunderts in Frankreich, Berlin 1984, S. 82. s. v. ‚Empfindsamkeit‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. K. Weimar, 3 Bde., Berlin/New York 1997–2003, Bd. 1, 1997, S. 438–441, dort S. 438. Siehe ebd., S. 439.

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als „émouvoir pour instruire“116 zusammengefasste immanent pädagogische Funktion der empfindsamen Literatur wird von Geißler präzisiert als dasjenige Ziel, „die Leser mit einem höheren moralischen Bewußtsein auszustatten und sie zu stimulieren, dieses zur Grundlage ihrer Lebenspraxis zu machen“.117 Wie der in dem zitierten Eintrag des Reallexikons, wenn auch nur in Parenthese, gewählte Begriff des ‚Gefühlskults‘ deutlich macht, umfasst das Phänomen Empfindsamkeit alle Facetten des kulturellen Lebens und ist keinesfalls auf die Literatur beschränkt, wenngleich es in dieser ihren prägnantesten Ausdruck findet.118 Allen Ausprägungen der allgemeinen empfindsamen Tendenz des 18. Jahrhunderts, die sich in den Bildenden Künsten ebenso nachweisen lässt wie im Gartenbau, gilt die Stimulierung und Ausbildung der gleichnamigen menschlichen Fakultät, eben der Empfindsamkeit, als wirkungsästhetische Maßgabe. Als gleichsam vorausgesetzte wie auszubildende Eigenschaft des Rezipienten bildet die sensibilité das theoretische wie in der praktischen Lebensführung angestrebte Kernkonzept, in dem sich Affektideal, Ästhetik und Moraltheorie in einer für die empfindsame Tendenz in Frankreich eigenen Weise verbinden.119 In ihrer Entwicklung hin zu einem Schlüsselbegriff des physiologischen Diskurses erweist sich die sensibilité zudem als begrifflicher Berührungspunkt von Empfindsamkeit und Aufklärung. Auf diesen Zusammenhang ist im nachfolgenden Abschnitt näher einzugehen. Zunächst ist die konzeptuelle Bedeutung der sensibilité für die literarische Praxis der Empfindsamkeit darzulegen. Obwohl die Empfindsamkeit in ihrer gesamteuropäischen Ausbreitung auf dem ihr den Namen verleihenden affektiven Konzept beruht, birgt die jeweilige begriffliche Füllung dieses Konzeptes länder- bzw. kulturspezifische Unterschiede. So lässt sich etwa für den französischen sensibilité-Begriff im Unterschied zu seinem englischen Pendant sensibility oder dem deutschen Terminus ‚Empfindsamkeit‘ eine Traditions-

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Coulet 1970, S. 440. Geißler 1984, S. 87. Zur Genese und konzeptuellen Konstitution der Empfindsamkeit siehe die Ausführungen und den Forschungsbericht in Wolf, Werner, Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts (Marivaux und Beaumarchais), Frankfurt a. M. 1984, sowie den kurzen Überblick in Sauder 1992. Der vor allem in der germanistischen Literaturwissenschaft geführte Streit darüber, ob es sich bei der Empfindsamkeit um ein spezifisch bürgerliches Phänomen oder im Gegenteil um einen ein Machtvakuum kompensierenden Affektkult des Adels handelt, stellt sich für den französischen Bereich in dieser schematischen Gegenüberstellung nicht. Wie zuletzt Burckhardt Meyer-Sickendiek gezeigt hat (Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit, Paderborn 2016), ist für die Empfindsamkeit in Frankreich ein deutlicher Einfluss von im Kontext der vornehmlich aristokratischen galanterie des späten 17. Jahrhunderts entwickelten Gefühlsbegriffen nachweisbar. Durch den Transfer verschiedener moraltheoretischer Begriffe, die vor allem den Theorien des Naturrechts entstammen, wird diese zunächst aristokratisch geformte Emotionalität für das Bürgertum anschlussfähig. Für die Begriffsgeschichte und interdependenten Bedeutungsfacetten von sensibilité siehe die Aufarbeitung von Baasner, Frank, Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert – Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988.

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linie zu amourösen Konzepten aristokratischer Prägung ziehen, die im Kontext des galanten Diskurses ab der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden sind:120 In Abgrenzung zum mit Leidenschaft und damit tendenziell negativ konnotierten Liebesbegriff der Klassik entwickelt sich unter der Federführung der Mademoiselle de Scudéry das Gegenmodell eines positiv bewerteten amour tendre heraus, das in der Folge auch als amour sensible Eingang in die Wörterbücher der Zeit findet und breite Resonanz erfährt. Dieser zunächst als alternatives Liebesverständnis konzipierte postklassische Empfindsamkeitsbegriff wandelt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der in Frankreich, England und Schottland parallel geführten Naturrechtsdiskussionen zu einem multidimensionalen Terminus, der Affekt- mit Gesellschaftstheorien und diese wiederum mit anthropologischen Thesen verbindet:121 Sensibilité wird in zunehmend synonymischer Verwendung mit ‚Empathie‘ zum affekttheoretischen Zentrum von Thesen über einen dem Menschen innewohnenden moral sense.122 War bereits das Scudéry’sche Konzept der Zärtlichkeit im Grunde Ausweis der moralischen Güte des zärtlich Liebenden, wobei diese Liebe im Prinzip noch einer sozialen Elite vorbehalten war, so wird die moralische bzw. moraltheoretische Dimension des französischen sensibilité-Begriffs durch den Transfer der moral sense-Theorien zusätzlich fundiert und zudem von ihrer ständischen Begrenzung auf die hochgeborenen Schichten gelöst. Verstanden als natürliche menschliche Veranlagung im Sinne einer angeborenen Fähigkeit zu Empathie und Mitleid fungiert die Empfindsamkeit einer gelungenen Formulierung Frank Baasners zufolge als „psychisches Korrelat zur Soziabilität“.123 Sie ist damit sowohl „Quelle des moralischen Verhaltens“ als auch „selbst ein moralischer Wert“.124 Ein derart als natürliches Empathievermögen konzipierter weltlicher Humanitätsbegriff übernimmt traditionelle Funktionen der christlichen Caritas.125 Mit der Verbreitung eines moralisch aufgeladenen Empfindsamkeitsbegriffs geht im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Wandel der geltenden Rollenmodelle einher: Das klassische soziale Modell des honnête homme wird durch das Ideal des homme sensible abgelöst, welches als Nukleus der sich durchsetzenden Vorstellung von einer empfindsam-tugendhaften Gemeinschaft in standesübergreifender Weise gesellschaftsbildend wirken kann. Um das Konzept des homme sensible bzw. zunehmend auch der 120 Siehe zu dieser Herleitung der Empfindsamkeit die Ausführungen in Meyer-Sickendiek 2016, insbes. S. 61–112. 121 Baasner, Frank, s. v. ‚Sensibilité‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971– 2007, Bd. 9, 1995, S. 609–614, dort insbes. S. 610 f. Für die Voraussetzungen und Elemente der Empfindsamkeit siehe im Einzelnen die gleichnamige Monographie von Sauder, Gerhardt, Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974. 122 Gemäß Sauder 1974 handelt es sich bei der naturrechtlich fundierten moral sense-Theorie um die einzige Theorie, „die als Begründung wie Rechtfertigung der empfindsamen Tendenz in England, Frankreich und Deutschland dienen konnte“ (dort S. 85). 123 Baasner 1995, S. 610. 124 Baasner 1988, S. 124. 125 Ebd., S. 134.

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femme sensible herum entsteht eine Reihe an kulturellen Praktiken, die darauf abzielen, die Kernkompetenz sensibilité zu stimulieren, auszubilden und den Rezipienten in der Unterscheidung eines richtigen von einem falschen Gebrauch der empfindsamen Empathie zu schulen.126 Innerhalb dieser allgemeinen empfindsamen Kulturtendenz127 konstituiert sich ein literarisches Paradigma128 Empfindsamkeit, das sich durch seine Funktion im Rahmen des empfindsamen anthropologischen Ideals sowie durch weitere ihm spezifische und ausreichend distinkte Merkmale von kopräsenten Tendenzen desselben Zeitraumes abgrenzen lässt. Unter dieses literarische Paradigma lassen sich diejenigen Texte des 18. Jahrhunderts subsumieren, die in der moralisch-empfindsamen Ideologie geeint sind und deren literarische Strukturierung auf eine gemeinsame wirkungsästhetische Prämisse zurückgeführt werden kann: auf jenes „wirkungsästhetische Axiom“,129 demzufolge die exemplarische Vorführung der – zumeist in Bedrängnis geratenen – Tugend über die empathische Reaktion des Rezipienten auf die Fiktion diesen in dem realen Gebrauch seiner empfindsamen Humanität schulen möge. In seinen 1719 erstmals erscheinenden und bis zur Revolution von 1789 mehrfach wiederaufgelegten Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture legt Dubos den theoretischen Grundstein für die im Rahmen der Empfindsamkeit nunmehr an ein literarisches Werk gestellten wirkungsästhetischen Anforderungen. Aus der grundsätzlichen empfindsamen Veranlagung des Menschen schließt Dubos auf das Potential literarischer Kommunikation. Über die grundlegende Empathiefähigkeit des Menschen heißt es dort: La nature a donc pris le parti de nous construire de maniere que l’agitation de tout ce qui nous approche eût un puissant empire sur nous, afin que ceux qui ont besoin de notre indulgence ou de notre secours, pussent nous ébranler avec facilité. Ainsi leur émotion seule nous touche subitement; & ils obtiennent de nous, en nous attendrissant, ce qu’ils n’obtiendroient jamais par la voie du raisonnement & de la conviction. Les larmes d’un inconnu nous émeuvent même avant que nous sçachions le sujet qui le fait pleurer. Les cris

126 127 128

129

Siehe beispielhaft das Traktat des Autors Mistelet, De la sensibilité par rapport aux drames, aux romans et à l’éducation (1777), hg. v. F. Baasner, in: LIAS 11 (1984), S. 253–275, dort insbes. S. 267 und 274. Vor dem Hintergrund einer Kopplung von Empfindsamkeits- und Tugendbegriff, die zum höchsten gesellschaftlichen Wert aufsteige, bezeichnet Sauder die Empfindsamkeit als „kollektive Mentalität“ des 18. Jahrhunderts (Sauder 1992, S. 106). Gemäß Michael Titzmann handelt es sich bei der Empfindsamkeit um das dominante System in der deutschen Literatur ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Siehe hierzu insbesondere Titzmann, Michael, „‚Empfindung‘ und ‚Leidenschaft‘: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Empfindsamkeiten, hg. v. Klaus P. Hansen, Passau 1990, S. 137–165. Für eine Auseinandersetzung mit Titzmanns epochentheoretischen Überlegungen im Allgemeinen und seiner Darstellung der Empfindsamkeit als epochalem Literatursystem siehe Abschnitt 1.2.5. der vorliegenden Arbeit. Baasner 1988, S. 189.

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d’un homme qui ne tient à nous que par l’humanité, nous font voler à son secours par un mouvement machinal qui précède toute délibération.130

Im Unterschied zu den in der Leidenschaftsästhetik der Klassik präferierten extremen Affekten handelt es sich bei den in der Empfindsamkeit anvisierten Emotionen um gemäßigte „Mischgefühle“,131 die zwar weniger geeignet sind, die Katharsis des Theaterzuschauers zu befördern, jedoch umso mehr, die identifizierende Reaktion mit dem Erzählten bzw. Dargestellten hervorzurufen. Dem neuen gesellschaftlichen Ideal des homme sensible entsprechend, gehört auch die (Selbst-)Beschreibung des durch seine Lektüre zu Tränen gerührten Lesers zum Repertoire des Empfindsamen. Exemplarisch sei erneut Diderot zitiert, dessen Éloge de Richardson den beiden in der empfindsamen Poetik untrennbar verbundenen Seiten des empfindsamen Schreibens und Lesens Rechnung trägt. Anhand der Bestattungsszene in Richardsons Briefroman Clarissa, or the History of a Young Lady wird der empfindsame Lektüreprozess rekonstruiert, indem der Sprecher ‚Diderot‘ die Reaktionen seines die genannte Szene lesenden Freundes bezeugt: J’étais avec un ami, lorsqu’on me remit l’enterrement et le testament de Clarisse, deux morceaux que le traducteur français a supprimés, sans qu’on sache trop pourquoi. Cet ami est un des hommes les plus sensibles que je connaisse, et un des plus ardents fanatiques de Richardson: peu s’en faut qu’il ne le soit autant que moi. Le voilà qui s’empare des cahiers, qui se retire dans un coin et qui lit. Je l’examinais: d’abord je vois couler des pleurs, il s’interrompt, il sanglote; tout à coup il se lève, il marche sans savoir où il va, il pousse des cris comme un homme désolé, et il adresse les reproches les plus amers à toute la famille des Harlove.132

Wenngleich sich in einigen Passagen des Éloge de Richardson auch jenes insbesondere der späten Empfindsamkeit nicht fremde Genussempfinden an dem Gemütszustand selbst erkennen lässt, wird die Wirkung der von dem empfindsamen Leser durchlebten Affekte dezidiert als eine moralische zu verstehen gegeben. So gibt ‚Diderot‘ im Éloge de Richardson zu: „J’étais, au sortir de ta lecture, ce qu’est un homme à la fin d’une journée qu’il a employée à faire le bien.“133 Im Kontext eines Tugendverständnisses, das vertu vor allem als Bereitschaft zur Selbst(auf)opferung konzipiert,134 wird diese

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Dubos, Jean-Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Paris 71770 [11719], Reprint Genf 1967, S. 40. Sauder, Gerhard, „Der empfindsame Leser“, in: Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Heidelberg 1983, S. 9–23, dort S. 19. Diderot, Éloge de Richardson, S. 205 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 194: „Qu’est-ce que la vertu? C’est, sous quelque face qu’on la considère, un sacrifice de soi-même. Le sacrifice que l’on fait de soi-même en idée est une disposition préconçue à s’immoler en réalité.“

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Bereitschaft im mit literarischen Mitteln stimulierten Erleben gewissermaßen vorvollzogen und ausgebildet. Mittels der Romane Richardsons wendet Diderot dieses abstrakte Tugendverständnis ins Konkrete: Richardson sème dans les cœurs des germes de vertu qui y restent d’abord oisifs et tranquilles: ils y sont secrètement, jusqu’à ce qu’il se présente une occasion qui les remue et les fasse éclore. Alors ils se développent; on se sent porter au bien avec une impétuosité qu’on ne se connaissait pas. On éprouve, à l’aspect de l’injustice, une révolte qu’on ne saurait s’expliquer à soi-même. C’est qu’on a fréquenté Richardson; c’est qu’on a conversé avec l’homme de bien, dans des moments où l’âme désintéressée était ouverte à la vérité.135

Basierend auf der Annahme einer vollkommenen Transparenz des Gefühls und einer Äquivalenz von innerem Gefühlszustand und dessen körperlichen Manifestationen, wird sensibilité als ein Zeichensystem dekodierbar, das den Empfindsamen bzw. die Empfindsame unmittelbar zu erkennen erlaubt. In diesem Transparenzideal unterscheidet sich das Modell des homme sensible zum einen von jenem des honnête homme. Dass die Manifestationsformen der sensibilité dabei jedoch hoch stereotypisiert und stilisiert sind, markiert die Differenz des empfindsamen Affektregisters auch von dem auf individuelle Authentizität fokussierten Gefühlsbegriff der Romantik. Gerade diese stereotypen Gefühlsausdrücke des Empfindsamen sind es jedoch, die seine sofortige Identifikation ermöglichen, und diese werden in der Literatur entwickelt, vorgeformt und als Imitationsmodell vorgegeben. Im Hinblick auf die mentalitätsgeschichtliche Prägung des 18. Jahrhunderts erfüllt die Literatur daher insofern eine gestaltungsbildende Funktion, als sensibilité als Ziel- und Endpunkt des Erzählens „nicht in systematisch philosophischem Zusammenhang definiert, sondern als Menschenideal durch literarische Werke erst konstruiert und transportiert“ wird.136 Es handelt sich damit um ein theoretisches Konzept, das in der literarischen Kommunikation nicht nur seinen adäquaten Ausdruck findet, sondern das erst durch diese in gesamtkultureller Weise prägend auf das Zeitalter wirkt: Sensibilité wird allererst in der Literatur qua Anschauung fassbar gemacht, als Humanitätsideal vorgegeben und zur Nachahmung angeboten. Hierzu verfügt die Empfindsamkeit über ein relativ konstantes Set an thematischen wie strukturellen Elementen, dem das literarische Paradigma seine spezifische Differenzqualität verdankt: Auf der Handlungsebene dominiert das Motiv der ‚verfolgten Unschuld‘ bzw. vertu persécutée (englisch: virtue in distress), das insofern als topisch gelten kann, als sich fast jede in der empfindsamen Literatur erzählte oder dargestellte Handlung an ihm abarbeitet.137 Dass die vertu persécutée in ideologischer Verkehrung 135 136 137

Ebd. Baasner 1995, S. 612. Siehe zu diesem Motiv näher Brissenden, Robert F., Virtue in Distress. Studies in the Novel of Sentiment from Richardson to Sade, London/Basingstoke 1974.

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auch die Literatur des Libertinage strukturiert, belegt ihren topischen Stellenwert. Im Hinblick auf die Struktur des empfindsamen Textes werden homodiegetisch strukturierte Erzählformen wie der Briefroman oder der autofiktionale récit aktiviert, die auf eine außenstehende narrative Instanz weitestgehend verzichten und so leserseitig eine Nähe zum erzählenden Subjekt und – meist in Personalunion – zur Figur der Handlung fingieren. 1.2.4 Sensibilité als Kontaktpunkt von Empfindsamkeit und Aufklärung 1777 erscheint das programmatische Traktat De la sensibilité par rapport aux drames, aux romans et à l’éducation des ansonsten unbekannten Autors Mistelet. Dieses von seinem Herausgeber Frank Baasner als „texte typique et représentatif “ bezeichnete Traktat138 ist für den vorliegenden Zusammenhang einer textfunktional begründeten Relationierung von Aufklärung und Empfindsamkeit in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, da es erstens einen Beleg für eine weitläufig akzeptierte Definition von sensibilité liefert, und darüber hinaus auf eine Tendenz des zeitgenössischen Literatursystems Bezug nimmt, deren Funktion in der rezipientenseitigen Herausbildung ebendieser Eigenschaft besteht. In einer für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typischen Weise nimmt Mistelet zunächst eine Binnendifferenzierung der empfindsamen Eigenschaft in eine körperliche (sensibilité physique) und eine moralische (sensibilité de l’âme) Ausprägung vor, wobei er seine Betrachtungen auf Letztere beschränkt: On peut distinguer deux sortes de Sensibilité; la Sensibilité physique, et la Sensibilité de l’ame ou de sentiment. La Sensibilité physique est, sans contredit, le premier principe des passions; c’est le pinceau qui forme, à grands traits, l’exquisse du tableau; mais la Sensibilité de l’ame le perfectionne: elle en est le coloris vif, animé, touchant; elle adoucit les traits trop rudes, et acheve de former ceux qui n’étoient qu’ébauchés. C’est de la Sensibilité physique que naît la Sensibilité de sentiment; mais l’une fait mouvoir tous les hommes, et l’autre n’étend son pouvoir que sur un petit nombre. La premiere est la source des besoins primitifs; la seconde, celle des besoins du cœur. L’une est pour l’homme encore brut et grossier; l’autre, pour l’homme éclairé et délicat.139

Verstanden als affektiv-moralische ‚Verfeinerung‘ einer in jedem Menschen angelegten – zunächst einmal schlicht körperlichen – Reizbarkeit, wird die sensibilité140 als Dis-

138 Mistelet, De la sensibilité, S. 254. 139 Ebd., S. 258 140 Ich verwende sensibilité in Einschränkung auf das seelisch-moralische Verständnis, d. h., in Mistelets Terminologie, auf die sensibilité de l’âme. Wo die physiologische Reizbarkeit gemeint ist, wird dies entsprechend deutlich gemacht.

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tinktionsmerkmal einer Gruppe von Personen zugeordnet, die unter dem Signum des „homme éclairé et délicat“ firmiert. Dass Mistelet sich mit dieser differenziellen Einschränkung gegen eine die britischen moral sense-Theorien aufnehmende Tendenz der zeitgenössischen französischen Moralphilosophie positioniert, die eine empathische Empfänglichkeit für das Leid der Mitmenschen als menschliche Universalie postuliert, ist in vorliegendem Zusammenhang aus zwei Gründen unerheblich: Zum einen kann in der historischen Rekonstruktion der Herausbildung eines Begriffs, Konzepts oder einer kulturellen Tendenz in der Regel nicht von einer homogenen Entwicklung ausgegangen werden. Zum anderen handelt es sich bei Mistelets Text mitnichten um eine systematische, anthropologisch orientierte Untersuchung des Wesens oder Ursprungs der empfindsamen Veranlagung. Vielmehr ist der Text innerhalb einer zweifachen literaturtheoretischen Debatte zu verorten, die vor dem Hintergrund einer Transformation des dramatischen Gattungssystems – dem Aufkommen des genre sérieux – sowie der sich durchsetzenden Aufwertung des Romans die Frage nach dem erzieherischen Wert dieser literarischen Genera neu stellt. Mistelet beantwortet diese Frage in affirmativer Weise, indem er die Debatte mit dem zeitgenössisch virulenten sensibilité-Begriff verbindet: Sowohl das neue dramatische Genus, als dessen Modell Diderots Stück Le Père de famille zitiert wird,141 als auch die von Richardson vertretene Konzeption des Romans142 verfüge demnach über das Potential, die moralische Haltung des Zuschauers bzw. der Leserin vermittels der Anschauung als vorbildhaft gesetzter Handlungen auszubilden. Neben der Bedingung, dass die Handlung geeignet ist, das attendrissement zu erwecken, besteht die Voraussetzung für das Gelingen dieser empfindsam-moralischen Textfunktion freilich in der sensiblen Vorprägung des Rezipienten. Zentral ist nun, dass Mistelet die um die Jahrhundertmitte hinlänglich verbreiteten Gemeinplätze143 der gattungstheoretischen Debatten um das drame und den Roman mit dem Argument einer notwendigen empfindsamen Rezipientenprädisposition unterlegt und diese sensible Vorprägung wiederum in eine begriffliche Nähe zum Aufklärungsparadigma rückt. Die sensibilité wird als konstitutive Eigenschaft des „homme éclairé“ genannt; im Sinne des Ideals des ‚ganzen Menschen‘ bildeten Verstand und Empfindsamkeit die zwei untrennbaren Grundkomponenten des aufgeklärten Geistes: L’alliage de la Raison et de la Sensibilité fait l’homme de génie, l’homme vertueux: elles se prêtent l’une à l’autre un secours mutuel; elles adoucissent et fortifient en même tems le cœur où elles se sont établies. La Raison est rarement où manque la Sensibilité.144

141 Siehe Mistelet, De la sensibilité, S. 262. 142 Siehe ebd., S. 268. 143 Vgl. nicht zuletzt Diderots bereits mehrfach zitierten Éloge de Richardson sowie seine die Uraufführung seiner Stücke Le Fils naturel und Le Père de famille jeweils begleitenden theatertheoretischen Schriften Entretiens sur le Fils naturel (1757) und De la poésie dramatique (1758). 144 Mistelet, De la sensibilité, S. 258.

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Zwar greift Mistelet mit dieser Äußerung eine generelle Annäherung von sensibilité und lumières auf, die bereits 20 Jahre zuvor im siebten Band der Encyclopédie formuliert wurde. Dort heißt es im Eintrag ‚Foible‘: „à mesure que l’esprit acquiert plus de lumières, le cœur acquiert plus de sensibilité“.145 Doch während die in dem Encyclopédie-Artikel gewählte Formulierung die sensibilité in Abhängigkeit von den rationalen lumières stellt, wendet Mistelet das Argument um, wenn er über den „Ministre Philosophe“ schreibt, dieser sei „éclairé par la sensibilité“.146 In dieser Argumentation wird jene empfindsame Literatur, mittels derer sich die Ausbildung der sensibilité vollzieht, gleichsam zu einem Mittel der Aufklärung. Mistelets Argument liegt hierbei ein breiter Aufklärungsbegriff zugrunde, der ‚Aufklärung‘ weniger über eine spezifische epistemologische Konstellation, als über ein sich durchsetzendes Primat (allgemein-)rationaler Analyse im Zusammenspiel mit einer neuen – empfindsamen – Orientierung an Humanität begreift. Von der stets vorausgesetzten Einheit dieser beiden Komponenten zeugt die wiederkehrende Beschreibung des Aufgeklärten (Minister, Philosoph, Theaterzuschauer, Romanleser) nach dem Muster einer „ame tendre, sensible et réfléchie“.147 Trotz dieses wenig ausdifferenzierten Verständnisses von ‚Aufklärung‘, das sich von dem in dieser Arbeit zugrunde gelegten Begriff in seiner fehlenden Spezifik merklich unterscheidet, lassen sich aus ihm drei Schlussfolgerungen ableiten, die sich einerseits auf das Literatursystem im 18. Jahrhundert und andererseits auf das, im weitesten Sinne, epistemologische Fundament der Epoche Aufklärung beziehen: (1) Es existiert eine literarische Tendenz bzw. Strömung des Literatursystems, die schon zeitgenössisch dezidiert mit der mentalitätsgeschichtlichen Formation Empfindsamkeit in Verbindung gebracht wird. (2) Dieser literarischen Tendenz wird eine Funktion im Rahmen der Genese des homme éclairé, folglich der Aufklärung, zugesprochen, die sich zumindest partiell durch den in ihr an Prominenz gewinnenden Stellenwert der verstandesmäßigen Analyse auszeichnet. (3) Der Begriff, in dem sich Aufklärung als epistemologische Konstellation und Empfindsamkeit als Tendenz des Literatursystems berühren, ist jener der sensibilité. Das Publikationsjahr von Mistelets De la sensibilité ist dabei in zweifacher Hinsicht relevant: Das letzte Drittel des 18. Jahrhundert markiert zum einen die Hochzeit der empfindsamen Kultur; zum anderen sind im Jahr 1777 die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Fundamente der Aufklärung bereits gelegt und hinlänglich verbreitet. Vor diesem Hintergrund kann Mistelets Text als ein Beleg dafür gelten, dass eine Integration des im 17. Jahrhundert im Rahmen der preziösen Liebessemantik 145 s. v. ‚Foible‘, in: Encyclopédie, Bd. 7, 1757, S. 27b. 146 Mistelet, De la sensibilité, S. 259, Herv. d. Vf.in. 147 Ebd., S. 261.

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entwickelten frühneuzeitlichen sensibilité-Diskurses in den im 18. Jahrhundert geführten Diskurs über ‚Aufklärung‘ stattgefunden hat. Wie ein Scharnier bildet sensibilité in beide Richtungen einen Anschlusspunkt für Empfindsamkeit und Aufklärung. Als Eigenschaften des Individuums ergänzen sensibilité und Lumières sich in der Ausbildung des „vrai génie“,148 während sensibilité gleichzeitig die Grundlage des gesamten empfindsamen Affekt- und Moraldiskurses bildet und als solche auch für den Moral- und Erziehungsdiskurs der Aufklärung anschlussfähig ist. Baasner betont daher zwar mit einigem Recht, dass „die S[ensibilité] zum Kern des aufklärerischen Gedankenguts“ gehöre.149 Dennoch wäre es verkürzt und fehlgeleitet, die Empfindsamkeit, verstanden als kulturelle Tendenz des 18. Jahrhunderts, pauschal in einen Epochenbegriff Aufklärung einzugemeinden, etwa, indem man Erstere als eine bloße Facette der Letzteren konzipiert. Zum einen ist die Empfindsamkeit in ihrer Gesamtheit keinesfalls als Produkt, Ausprägung oder Schlussfolgerung eines empirisch-induktiven Denkmodells zu verstehen, wenngleich sich freilich einzelne ihrer Komponenten, unter ihnen bestimmte Aspekte des Konzepts sensibilité, vermittels der epistemologischen Vorgaben der Aufklärung entwickelt haben können. Des Weiteren würde ein derart ausgeweiteter Aufklärungsbegriff, der alle Erscheinungen des Zeitraumes ‚18. Jahrhundert‘ abzudecken geeignet sein soll, jegliche Unterscheidungsqualität verlieren und wäre für die Periodisierung der Geschichte schlicht unbrauchbar. Dagegen wird in Abschnitt 1.2.5. ein Vorschlag für eine epochentheoretisch fundierte Relationierung von Aufklärung und Empfindsamkeit erarbeitet. Der Terminus sensibilité in seinem für das 18. Jahrhundert spezifischen Bedeutungsspektrum erweist sich als der wesentliche Kontaktpunkt zwischen aufklärerischer Epistemologie sowie den diesem Denken entspringenden Diskursen einerseits und der kulturell-literarischen Formation Empfindsamkeit andererseits. Im vorangehenden Abschnitt wurde referiert, dass sich der Begriff unter dem Einfluss von Naturrechtstheorien von einem zunächst affekttheoretischen Terminus zu einem moralphilosophischen Konzept von gesellschaftsbildender Tragweite entwickelt hat, wobei die Verbindung zum Liebesdiskurs nicht gekappt, sondern dieser um moralphilosophische Argumente erweitert wird. Eine zusätzliche und weitaus umfassendere Erweiterung, die sich treffender als eine Bedeutungsverlagerung beschreiben lässt, erfährt der Begriff sensibilité allerdings aufgrund seiner Integration in den medizinischen Diskurs der Zeit.150 In der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich unter Federführung von Autoren aus dem Kreis der medizinischen Fakultät von Montpellier ein neues Verständnis des or148 Ebd., S. 275. 149 Baasner 1995, S. 610. 150 Siehe hierzu die Arbeiten von Vila, Anne C., Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France, Baltimore/London 1998; Riskin, Jessica, Science in the Age of Sensibility: The Sentimental Empiricists of the French Enlightenment, Chicago/London 2002; sowie Van Sant, Ann J., Eighteenth-Century Sensibility and the Novel – The Senses in Social Context, Cambridge u. a. 2004.

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ganischen Zusammenspiels der Körperfunktionen, das sich gegen das vorherrschende mechanistische Körpermodell wendet und so die moderne Physiologie einläutet.151 Diese sog. vitalistische Schule gründet ihr neues physiologisches Körpermodell auf ein Verständnis von sensibilité, das zwar an eine bereits im Mittelalter nachweisbare körperliche Begriffskomponente anschließbar ist,152 diese jedoch auf spezifisch aufklärerische Weise reaktiviert. Als Knotenpunkt der physiologischen Konzeption wird sensibilité zum wesentlichen Funktionsprinzip der Organe und von deren ‚organischem‘ Zusammenwirken. Dient die sensibilité dem neuen physiologischen Modell folglich als körperliche Globalfunktion, so fasst die Encyclopédie das in ihr enthaltene Basisverständnis dennoch mit wenigen Zeilen zusammen. Es handele es sich um „la faculté de sentir, le principe sensitif, ou le sentiment même des parties, la base & l’agent conservateur de la vie, l’animalité par excellence, le plus beau, le plus singulier phénomène de la nature, etc.“153 Wenn diese Erläuterung, das letzte Aufzählungsglied ausgenommen, im Grunde die bereits im 14. Jahrhundert mitgedachte Bedeutung aufgreift, so deutet sich direkt im Anschluss die Neuorientierung auf ein Funktionsverständnis an, in dem sensibilité nicht nur die allgemeine Fühlfähigkeit benennt, sondern zu dem entscheidenden Prinzip im Gesamtzusammenhang der œconomie animale154 wird: „La sensibilité est dans le corps vivant, une propriété qu’ont certaines parties de percevoir les impressions des objets externes, & de produire en conséquence des mouvements proportionnés au degré d’intensité de cette perception.“155 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der physiologisch neu verstandenen sensibilité nehme ich in Abschnitt 2.3. anhand von Diderots Roman La Religieuse vor. Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist der Umstand, dass in der Medizin des mittleren 18. Jahrhunderts ein bis dahin lediglich subkutan mitschwingender Aspekt von sensibilité aufgegriffen wird und an Gewicht gewinnt. Dass es diese zunächst wenig relevante Bedeutungskomponente ist, die das aufklärerische Verständnis von sensibilité in wesentlicher Weise prägt, legt die Behandlung des Terminus in der Encyclopédie nahe. Dieses Monumentalwerk, das wie kaum ein zweites das Projekt Aufklärung verkörpert, widmet dem Terminus zwei Einträge, die jeweils durch eine Parenthese voneinander differenziert werden: ‚Sensibilité (Morale)‘ folgt auf ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘. Da ersterer Eintrag jedoch auf 16 Zeilen beschränkt ist, während dem medizinischen Begriff ganze 27 Spalten gewidmet sind, nimmt die Encyclopédie 151

152 153 154 155

Zu dieser sog. vitalistischen Schule von Montpellier und deren Abgrenzung von mechanistischen und animistischen Modellen siehe im Detail Rey, Roselyne, Naissance et développement du vitalisme en France de la deuxième moitié du 18e siècle à la fin du Premier Empire, Oxford 2000, dort insbes. S. 123–184. Vgl. Baasner 1995, S. 609. s. v. ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘, in: Encyclopédie, Bd. 15, 1765, S. 38–52, hier S. 38b. Siehe den gleichnamigen Encyclopédie-Eintrag des Mediziners Menuret de Chambaud für die Grundlagen der neuen Physiologie; Encyclopédie, Bd. 11, 1765, S. 360–366. s. v. ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘, in: Encyclopédie, S. 38b.

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eine eindeutige Gewichtung der für das aktuelle Wissen, das zu systematisieren ihr Programm ist, relevanten Aspekte vor. Doch die Vertreter der vitalistischen Schule sind der Aufklärung nicht nur als Verfasser von Encyclopédie-Einträgen aus dem Bereich der neuen Physiologie verbunden, die für die genannte Begriffserweiterung bzw. Bedeutungsverlagerung von sensibilité höchst relevant sind.156 Ihre Epistemologie ist zudem von jener Denkrichtung aus empirischer Beobachtung und induktiver Folgerung geprägt, deren Verbreitung die Aufklärung programmatisch betreibt. Dies wird in den zahlreichen medizinische Subthemen behandelnden Einträgen der Encyclopédie deutlich, die von Vertretern des Vitalismus verantwortet werden und in denen sich das neue physiologische Körperverständnis entfaltet. Exemplarisch sei auf den dem diagnostischen Potential des arteriellen Pulses gewidmeten Eintrag ‚Pouls (Med. Econom. anim. Physiol. Séméiot.)‘157 verwiesen. Am Beispiel des Pulses wird nicht nur ein praktisch-diagnostisches Vorgehen des Arztes skizziert; vielmehr verbirgt sich hinter der diagnostischen Tätigkeit ein neues erkenntnistheoretisches Ideal des medizinischen Berufsstandes, das der Epistemologie der Aufklärung verpflichtet ist: das mit der neuen physiologischen Disziplin untrennbar verbundene Modell des aufgeklärten médecin philosophe.158 Der Encyclopédie-Eintrag konturiert die Grundannahmen der neuen Physiologie, die sich auf das Prinzip der organischen sensibilité beruft, indem er ihr Entstehen als neue Anschauung der Medizin als notwendiges Ergebnis des empiristisch-induktiven Verfahrens ausweist. Dieses Argument konstruiert sich in zwei Schritten. Zunächst wird der möglichen Kritik an der von der vitalistischen Schule vorgenommenen Unterscheidung zahlreicher Pulszustände und ihrer Entsprechung in Stadien der Krankheitszustände mit dem Argument begegnet, dass deren Faktizität durch genaue und wiederholte Beobachtung verbürgt sei, ohne hierdurch zwangsläufig zugleich erklärbar zu sein: Mais on devroit savoir 1°. que des faits pour être inexplicables, ne sont pas moins certains, qu’il arrive souvent au vrai de n’être pas vraissemblable. 2°. Que souvent ces faits sont inexplicables, parce qu’on se sert des principes faux & peu féconds.159

Anschließend wird das physiologische Funktionsverständnis des Körpers zusammengefasst, indem es als von den Fakten induziertes Strukturmodell begründet und dieses wiederum gegenüber scholastischen, mechanistischen und animistischen Modellen als das wahrscheinlichste ausgewiesen wird:

156 157 158 159

Um nur zwei zu nennen: Théophile de Bordeu, der für Diderots Wissenschaftsfiktion Le Rêve de d’Alembert (ungewollt) Pate stand, ist der Verfasser des Artikels ‚Crise‘; Henri Fouquet verantwortet den Eintrag ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘. s. v. ‚Pouls (Med. Econom. anim. Physiol. Séméiot.)‘, in: Encyclopédie, Bd. 13, 1765, S. 205–240. Siehe zu diesem Konzept näher Vila 1998, insbes. S. 43–80. s. v. ‚Pouls (Med. Econom. anim. Physiol. Séméiot.)‘, in: Encyclopédie, Bd. 13, 1765, S. 239 f.

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Il ne seroit pas difficile de prouver la possibilité & la vraissemblance des faits énoncés; on n’a qu’à bien comprendre le peu de mots qu’on a dit sur les causes du pouls; il faut pour cela, dépouillant tous les préjugés scholastiques, cesser de regarder avec les méchaniciens & les boërrhaavistes, le corps humain de même que celui des animaux, comme une machine brute, où toutes les actions & les parties sont indépendantes les unes des autres, où tous les mouvemens isolés s’exécutent mollement par des puissances inanimées; tout doit changer de face; le corps ne doit paroître que comme un assemblage infini de petits corps semblables, également vivans, également animés, qui ont chacun une vie, une action, une sensibilité, un jeu & des mouvemens propres & particuliers, & en même tems, une vie, une sensibilité, &c. communes & générales.160

Aufklärerischer Denkstil, physiologisches Körpermodell und vitalistischer sensibilité-Begriff sind kausal aufeinander bezogen. Unter Berufung auf den aufklärerischen Empirismus wächst sensibilité in – einigen161 – Tendenzen des Vitalismus zu einem Globalterminus heran, der den Cartesischen Dualismus von res cogitans und res extensa aufhebt.162 Diese Entwicklung des Begriffs hin zu einem Begründungsprinzip der Physiologie lässt ihn zu einem Knotenpunkt materialistisch-monistischer Theorien der Aufklärung werden, zu denen prominent auch Diderot beiträgt. Dass derjenige Text Diderots, in der die Theorie einer die Kette allen Lebens begründenden sensibilité am deutlichsten (wenn auch unter den Vorzeichen der Fiktion) formuliert wird, ebendiese Theorie der Figur Bordeu und damit einem der bekanntesten Vertreter der vitalistischen Schule von Montpellier ‚in den Mund legt‘, bezeugt die Bedeutung der physiologischen Reinterpretation des sensibilité-Begriffs für die Theoriebildung der Aufklärung.163 Die bemerkenswerte Integrationsfähigkeit des sensibilité-Begriffs in gänzlich unterschiedliche Diskurse des 18. Jahrhunderts wird an dem umfangreichen Werk Diderots augenscheinlich. Unter Diderots Feder allein wandelt sich sensibilité von einem affektiv-moralischen Begriff als ideologischem Fundament einer empfindsam ausgerichteten Theorie des bürgerlichen Dramas (Entretiens sur le Fils naturel, 1757) über eine dem physiologischen Diskurs entlehnte Kategorie zur Unterscheidung belebter und unbelebter Materie im Rahmen einer transformistischen Theorie des Lebens (Le Rêve de d’Alembert, 1769) hin zu einer anthropologischen Kategorie zur skalaren Unterscheidung menschlicher Temperamente (Paradoxe sur le comédien, 1777). Diese von 160 Ebd., S. 240. 161 Die variantenreichen Fäden, die unter der Überschrift des Vitalismus zusammengefasst werden, sind hier stark vereinfacht wiedergegeben. Für die unterschiedlichen Auslegungen von sensibilité in den wiederum verschiedenen Tendenzen der vitalistischen Schule siehe die bereits zitierte Monographie von Rey 2000. 162 Rey 2000, S. 131 f. 163 Vgl. auch die Einführung von Colas Duflo in: Diderot, Denis, Le Rêve de d’Alembert, hg. v. C. Duflo, Paris 2002, S. 9–46.

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Diderots Gesamtwerk nahegelegte chronologische Logik eines Bedeutungswandels von sensibilité im 18. Jahrhundert ist allerdings irreführend. Vielmehr lässt sich, anstelle einer in chronologischer Folge homogen sich vollziehenden Entwicklung, eine komplexe Gemengelage von Gleichzeitigkeiten, begrifflichen Überlagerungen und partiellen Ablösungstendenzen konstatieren. Mit Recht hat Frank Baasner daher die inkongruent verlaufende Entwicklung verschiedener sensibilité-Verständnisse im französischen 18. Jahrhundert betont, insofern sich die auf einen moralischen Begriff berufende empfindsame Kultur in Frankreich nach der Jahrhundertmitte auf ihrem Höhepunkt befindet, während ebendieser Begriff zur selben Zeit in den Wissenschaften bereits verabschiedet wird: „[…] während die Wissenschaften den Begriff, wie er in der ersten Hälfte des Jahrhunderts geschaffen wurde, in seinen Grundfesten erschüttern, findet er überhaupt erst in einer Bedeutung Verwendung, die für Denker der damaligen Avantgarde wie Diderot schon längst überholt ist.“164 Die von Baasner angesprochene Asynchronizität, welche die verschiedenen sensibilité-Begriffe in ihrer teilweise parallel verlaufenden, teilweise sich kreuzenden Entwicklung im 18. Jahrhundert kennzeichnet, ließe sich als System verschiedener Zeitebenen mit unterschiedlichen Interdepenzverhältnissen fassen, wie es jüngst von Klaus Hempfer für eine Theorie historischer Epochen vorgeschlagen wurde.165 In dieser Perspektive wird ein- und derselbe Zeitraum unter verschiedenen Kriterien strukturierbar bzw. epochisierbar, da die vorgenommene Periodisierung davon abhängt, welche Kriterien jeweils zugrunde gelegt und welche Zeitschicht hiermit in den Blick genommen wird. Ein solches Zeitschichtenmodell würde es erlauben, nicht nur die heterogene Entwicklung innerhalb eines soziokulturellen Teilsystems, etwa der Literatur, zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch die komplexen Relationen zwischen unterschiedlichen soziokulturellen Teilsystemen durchsichtiger erscheinen zu lassen. Für den Terminus sensibilité ließen sich so die unterschiedlichen – affektiven, moralischen, physiologischen – Begriffe, in denen er sich im Frankreich des 18. Jahrhunderts konkretisiert, in ihren jeweiligen Dominanzverhältnissen als eine ‚Schicht‘ darstellen, wobei jede dieser Schichten ihrerseits in verschiedener Weise auf eine epochale Konfiguration (Aufklärung, Empfindsamkeit) bezogen ist. 1.2.5 Aufklärung und Empfindsamkeit in epochentheoretischer Hinsicht Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen können Aufklärung und Empfindsamkeit als gleichzeitig aktualisierte und dennoch zu differenzierende Paradigmen in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts gelten. Gleichwohl lassen sich, wie

164 Baasner 1988, S. 236. 165 Siehe Hempfer 2018, S. 214–256, dort insbes. S. 245, 251.

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anhand des Terminus sensibilité veranschaulicht wurde, Kontaktpunkte zwischen den Paradigmen im Sinne von Überschneidungen und Überlagerungen der für den jeweiligen Epochenbegriff wesentlichen Begriffsarsenale identifizieren. Neben dem Begriff sensibilité wurden in der Empfindsamkeitsforschung weitere Kontaktpunkte untersucht, die als Argumente für die vermeintliche Einheit von Aufklärung und Empfindsamkeit angeführt wurden. Insbesondere zwei ihrer Aspekte haben in der Forschung Anlass dazu geboten, die Empfindsamkeit als Bestandteil, Variante oder „Tendenz“166 der Aufklärung einzugemeinden. Zum einen ist dies der empfindsame Gefühlsbegriff, der von Gerhard Sauder als ein ‚rationalisierter‘ und auf ein vernünftiges Maß regulierter auf das analytische Vorgehen der Aufklärung zurückgeführt wird: „Die Empfindsamkeit der Aufklärung war keine Tendenz gegen die Vernunft, sondern der Versuch, mit Hilfe der Vernunft auch die Empfindungen aufzuklären.“167 Zum anderen wird die Integration der Empfindsamkeit in die Aufklärung168 mittels des empfindsamen Tugendbegriffs betrieben, der als Kern einer Moralauffassung der mittleren Schichten in den sozialhistorisch im 18. Jahrhundert verorteten Aufstieg des Bürgertums eingebettet wird: „Empfindsame Tugend – zwischen Idee und Verhaltensnorm – ist Teil der für die Aufklärung fundamentalen Auffassung von Moral im Sinne einer vernünftigen Praxis der mittleren Stände.“169 Ausgehend von diesem moraltheoretischen Zusammenhang pointiert Sauder: „Empfindsamkeit im Kontext der Aufklärung ist in die Aufstiegsbewegung des Bürgertums eingebunden.“170 Abgesehen davon, dass die prominent von Sauder vertretene These, der zufolge es sich bei der Empfindsamkeit um ein dezidiert bürgerliches Phänomen handele, für den französischen Bereich wiederholt widerlegt worden ist,171 wird hier ein Aspekt der Empfindsamkeit isoliert und sozialgeschichtlich in einen Zusammenhang mit der Aufklärung gestellt, ohne überhaupt einen in der Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts fundierten Epochenbegriff Aufklärung zu entwickeln. Mit der Integration der Empfindsamkeit in die Aufklärung verfolgt Sauder das Ziel, die „Geschichte der Aufklärung“ jenseits ihrer etwaigen Verkürzung auf den „Rationalismus“ in ihrer Vielfalt ernst zu nehmen.172 Dieser Betonung der Heterogenität der

166 Sauder 1974, S. XI: „Empfindsamkeit ist als Tendenz der Aufklärung zu begreifen wie Sturm und Drang und Rokoko.“ 167 Ebd., S. XV. 168 Auch Wegmann 1988 argumentiert für einen mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang von Aufklärung und Empfindsamkeit. 169 Sauder 1992, S. 106, Herv. i. O. 170 Sauder 1974, S. XIII. 171 Siehe hierzu insgesamt Meyer-Sickendiek 2016. Zur Entstehung und Verbreitung der Bürgerlichkeitsthese siehe Danneberg, Lutz / Vollhardt, Friedrich, „Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation: Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur ‚Empfindsamkeit‘“, in: Aufklärung 13 (2001), S. 33–69. 172 Sauder 1974, S. XI.

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Aufklärung173 liegt die fehlende Differenzierung zugrunde zwischen dem historischen Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘, der insofern naturgemäß heterogen ist, als sich seine vielfältigen Erscheinungen als unterschiedliche, teils komplementäre, teils konkurrierende Strömungen, Bewegungen usw. bündeln lassen, und der Epoche Aufklärung, die bereits eine kriterienbegründete Ordnung einer Auswahl dieser Erscheinungen voraussetzt. Auf dieses Problem ist sogleich zurückzukommen. Gegen die von Sauder postulierte und mit der Vielfalt der Erscheinungen begründete Einheit von Aufklärung und Empfindsamkeit bringt Walter Göbel aus anglistischer Perspektive die gegenaufklärerischen Tendenzen in Texten der englischen Empfindsamkeit vor.174 Indem Göbel somit jedoch die eine Heterogenitätspräsupposition mit einer anderen Vielfalt – nämlich jener der Empfindsamkeit – kontert, schüttet er das sprichwörtliche Kind mit dem Bade aus, wenn er feststellt: „Empfindsamkeit wird so vielschichtig und widersetzt sich epochalen Generalisierungen.“175 Auch Göbel kommt somit über den Heterogenitätstopos nicht hinaus, weil auch er in seiner Kritik an Sauders Empfindsamkeitsbegriff letztlich mit einem Referenzhorizont Aufklärung operiert. In ihrer jeweiligen heterogenitätsbedingten Ausweitung verlieren die Epochenbegriffe ihre spezifische Differenzqualität. Systematische, in einer Theorie literarischer Epochen fundierte Ansätze zur Relationierung von Aufklärung und Empfindsamkeit stellen in der Forschung zu diesem Problem eine Ausnahme dar. Als heuristische Leitfrage einer solchermaßen systematischen Befassung dient jene Grundsatzfrage, die Rüdiger Nutt-Kofoth in Hinblick auf die konkurrierenden Epochenbegriffe in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts stellt: „Ist die Zuschreibung eines literarhistorisch markanten Epochenstatus – oder zumindest desjenigen einer eigenständigen literarischen Phase oder Strömung – für Empfindsamkeit und Klassik berechtigt und literaturgeschichtlich notwendig?“176 Freilich ist das von der Pluralität seiner Strömungen gekennzeichnete deutschsprachige Literatursystem des 18. Jahrhunderts nur bedingt mit der Situation im Frankreich desselben Zeitraumes vergleichbar. So existiert etwa in der französischen Literatur keine Entsprechung für das spezifisch deutsche Phänomen des ‚Sturm 173

174 175 176

In der Betonung der Heterogenität der Aufklärung reproduziert Sauder einen Topos der Aufklärungsforschung, gegen den sich Klaus Hempfer zuletzt entschieden gewendet hat; siehe Hempfer 2016, S. 239. Dem theoretischen Problem, das sich aus der Betonung der Heterogenität von Epochen ergibt, setzt Hempfer 2018 ein Verständnis von Epochen entgegen, das auf der systematischen Unterscheidung von historischen Zeiträumen einerseits und auf diese anzuwendenden Epochenbegriffen andererseits beruht, wobei Letztere im Gegensatz zu Ersteren notwendigerweise homogen zu sein haben. Göbel, Walter, „Über einige Widersprüche der englischen Empfindsamkeit im europäischen Vergleich“, in: Arcadia 23/1 (1988), S. 42–63. Ebd., S. 46. Nutt-Kofoth, Rüdiger, „Weimarer Klassik und Empfindsamkeit – Aspekte einer Beziehung. Mit einigen Überlegungen zum Problem von Epochenbegriffen“, in: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, hg. v. A. Aurnhammer, D. Martin u. R. Seidel, Tübingen 2004, S. 255–270, hier S. 256 f.

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und Drang‘, und die deutsche ‚Klassik‘ unterscheidet sich nicht nur im Hinblick auf ihre zeitliche Verortung von der unter dem Einfluss der doctrine classique stehenden Literatur des französischen 17. Jahrhunderts. Dennoch stellt sich das systematische Grundproblem, dass in einem einzigen chronologischen Zeitraum verschiedene literarische Paradigmen Gültigkeit besitzen, in der französischen wie auch in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht ist die von Nutt-Kofoth formulierte Alternative ‚Phase oder Strömung‘ allerdings insofern irreführend, als es sich eben nicht um konsekutiv sich ablösende zeitliche Phasen, sondern um eine Relation der Gleichzeitigkeit handelt. Dass sich Empfindsamkeit und Aufklärung historisch als distinkte, wenngleich zeitgleich gültige Paradigmen des französischen Literatursystems konstruieren lassen, wurde in den vorangehenden Abschnitten dargelegt. Wie diese zeitgleich sich konstituierenden Tendenzen innerhalb des Literatursystems des französischen 18. Jahrhunderts zu situieren sind, welcher begriffliche und ontologische Status ihnen zukommt und in welchem systematischen Verhältnis sie jeweils zueinander zu denken sind, ist in der Aufklärungsforschung bisher unterrepräsentiert. Unter den wenigen existierenden Arbeiten stechen die Ansätze von Michael Titzmann und Klaus Hempfer als die bei Weitem elaboriertesten hervor. Beide Autoren integrieren die Relationierung der literarischen Tendenzen des französischen (Hempfer)177 bzw. deutschen (Titzmann)178 18. Jahrhunderts in eine allgemeine Theorie literarischer Epochen. Auf die Einzelheiten der jeweiligen theoretischen Modelle kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; es werden nunmehr die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit relevanten Aspekte dargelegt. Die von Michael Titzmann seit den 1980er Jahren ausgehend von der deutschen Literaturproduktion des 18. Jahrhunderts entwickelte ‚integrative Literaturgeschichtsschreibung‘ basiert auf der grundlegenden Differenzierung einer Ebene des Denksystems einerseits und des Literatursystems andererseits.179 Beide Systeme ließen sich in 177 178

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Siehe insbesondere den bereits zitierten Aufsatz von Hempfer 2016 sowie, für die epochentheoretische Grundlegung, Hempfer 2018, S. 214–256. Für Titzmanns Ansatz einer ‚integrativen Literaturgeschichtsschreibung‘, den er seit den 1980er Jahren in zahlreichen Aufsätzen entwickelt hat, siehe Titzmann, Michael, „Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung“, in: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess, hg. v. K. Richter u. J. Schönert, Stuttgart 1983, S. 98–131; ders., „Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61; den bereits zitierten Aufsatz Titzmann 1990; ders., „Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft“, in: ders. (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 395–438; sowie ders., „‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘. Zum theoretischen Status zweier Begriffe“, in: Aufklärung und Romantik: Epochenschnittstellen, hg. v. D. Fulda, S. Kerschbaumer u. S. Matuschek, Paderborn 2015, S. 69–86. Diese Unterscheidung findet sich in allen unter der voranstehenden Anmerkung genannten Arbeiten. Ich zitiere hier die aktuellste: Titzmann 2015, S. 69. Für Hempfers Kritik an Titzmanns systemtheoretisch inspiriertem Modell siehe Hempfer 2018, S. 228–237.

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der Periodisierung der Geschichte als Epochen rekonstruieren, wobei ‚Epoche‘ als ein „Zeitraum“ verstanden wird, „in dem ein ‚Denk‘- bzw. ein ‚Literatursystem‘ dominiert“.180 Auf die in dieser Definition implizierte problematische Gleichsetzung von ‚Epoche‘ als Einheit der geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion und ‚Zeitraum‘ als chronologische Einheit des Geschichtsverlaufs wird zurückzukommen sein. Wichtig ist zunächst, dass die Periodisierung von Veränderungen in den Strukturen des jeweiligen Systems selbst auszugehen habe, was etwa für das Literatursystem bedeutet, dass „allein nachweisbare Veränderungen der Strukturen der literarischen Texte selbst“ als Grundlage einer Periodisierung heranzuziehen seien.181 Ausgehend von diesen theoretischen Voraussetzungen rekonstruiert Titzmann für das 18. Jahrhundert ein Denksystem Aufklärung, das als Epoche das Denken des Zeitraumes in dominanter Weise strukturiere. Dagegen rekonstruiert er für die Zeit der „mittleren Aufklärung“, für die Titzmann den Zeitraum von ca. 1750 bis etwa 1770 angibt, ein dominantes Literatursystem Empfindsamkeit, das als „Applikation, Illustration, Einübung“ des Zustandes des Denksystems, d. h. der Aufklärung, fungiere.182 Die Empfindsamkeit stellt in Titzmanns Ansatz somit nicht nur das dominante Paradigma der deutschen Literaturproduktion in der Mitte des Jahrhunderts dar, sie stehe überdies in einer funktionalen – da applizierenden, illustrierenden oder einübenden – Relation zum Denken der Aufklärung. In der Verwendung des Systemsbegriffs deutet sich bereits an, dass sich Titzmanns Epochentheorie auf die grundsätzliche Annahme totalitärer Epochenbegriffe beruft: Wenn nun jede Epochenuntersuchung zu Ti auf der Grundlage der Gesamtmenge der Texte der behandelten Gattung(en) aus Ti zu basieren hat, dann folgt daraus also: a) Keine Klassifikation, die nur auf einer Teilmenge der Texte aus Ti basiert (ob sie nun die anderen nur vernachlässigt oder gar ausschließt), kann eine ‚Epoche‘ darstellen. b) Zwei ‚Epochen‘ können sich nicht überschneiden.183

Überlagerungen sind in Titzmanns Modell lediglich in Phasen des Übergangs zwischen zwei Epochen vorgesehen, während genuine Gleichzeitigkeiten nur auf der Ebene der Subsysteme denkbar seien.184 Diese theoretische Einschränkung ist im Hinblick 180 Titzmann 2015, S. 69. In älteren Publikationen wählt Titzmann technischere, stärker systemtheoretisch lautende Definitionen wie die folgende: „Eine Epoche ist ein zeitlich begrenztes System, das wir von einer Menge von Texten abstrahieren und von dem wir behaupten, daß seine fundamentalen Merkmale bzw. Strukturen in diesem Zeitraum konstant bleiben.“ (Titzmann 1991, S. 405) 181 Titzmann 1983, S. 112 f., Herv. i. O. 182 Titzmann 1990, S. 137. 183 Titzmann 1983, S. 114. 184 Vgl. Titzmann 1991, S. 419 f.: „Nicht alle Texte des Raumzeitsegments müssen nun dem rekonstruierbaren Literatursystem angehören, das seinerseits aus Subsystemen mit komplexen Relationen untereinander bestehen kann. […] Texte, die dem Literatursystem nicht angehören, weil sie dessen fundamentale Regularitäten partiell oder total nicht erfüllen, können entweder abweichend-singuläre Ausnahmetexte, die sich keinem Literatursystem eindeutig subsumieren lassen,

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auf die epochale Konstellation im literarischen Feld des französischen 18. Jahrhunderts in dreierlei Hinsicht problematisch. Das erste Problem liegt in der konzeptuellen Engführung des Epochenbegriffs mit dem Systembegriff begründet, aus dem sich in notwendiger Konsequenz ein totalisierender Anspruch des Epochenkonzeptes ergibt. Als literarische Epoche ist in Titzmanns Theoriemodell nur darstellbar, was gleichzeitig einen Anspruch auf systembildende Dominanz geltend machen kann. Anders ausgedrückt: Das Epochenkonstrukt bildet gleichsam das Literatursystem als solches in sich ab. Dies wird bereits dadurch ersichtlich, dass der Epochenbegriff Empfindsamkeit als Bezeichnung für einen Zustand des gesamten Systems dient. Die Frage der Dominanz wird in Titzmanns Modell somit in eindeutiger Weise beantwortet, indem je ein Paradigma als dominante Struktur des Systems gesetzt wird, zu dem sich alle anderen koexistenten Strukturen als logische ‚Subsysteme‘ verhalten, sofern es sich nicht um „abweichend-singuläre Ausnahmetexte“ handele.185 Im Hinblick auf das ‚Literatursystem‘ Empfindsamkeit, das Titzmann als literarische Epoche des mittleren 18. Jahrhunderts konstruiert,186 bedeutet dies, vereinfacht ausgedrückt, dass alle Texte des Zeitraumes, so sie nicht singuläre Ausnahmeerscheinungen darstellten, in einer logischen Relation zu den literarischen Formen bzw. Strukturen sowie moralischen Basispostulaten der empfindsamen Tendenz darstellbar sein müssen. Der Komplexität und Heterogenität der literarischen Produktion des Zeitraumes, die sich als Konkurrenz, Komplementarität, logische Alternative, Sukzession, partielle oder absolute Ablösung u. v. a. m. darstellen lässt, wird dieser Versuch einer logischen Strukturbildung nicht gerecht. Dass sich, zweitens, abseits von diesem systematischen Problem auch historisch im Frankreich des 18. Jahrhunderts keine literatursystembildende Dominanz des Empfindsamen rekonstruieren ließe, folgt nicht zuletzt bereits aus der Kritik an der sog. Préromantisme-Schule.187 Grundlage der vor allem in Frankreich betriebenen ‚Präromantik‘-Forschung war die These eines epochalen Einschnitts in der Mitte des 18. Jahr-

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oder Texte eines alternativen Literatursystems sein, z. B. etwa späte Exemplare eines in Dekonstruktion begriffenen Systems oder frühe Exemplare eines in Konstitution begriffenen Systems. Quantitatives und qualitatives Ausmaß und temporale Distribution der abweichend-singulären Texte sind für das Literatursystem signifikante Größen, insofern der Grad möglicher Abweichung vom System Aussagen über den Status des Systems erlaubt. Solche Texte, aus denen sich kein neues System konstituiert und die (in diesem Sinne) folgenlos sind, sind wohl am ehesten in Krisenund Experimentierphasen zu erwarten. […] Alte und neue Systeme koexistieren in den Phasen der Ablösung und des Übergangs; ‚Epoche‘ soll der Zeitraum heißen, in dem ein Literatursystem dominant ist.“ Siehe Ebd. Siehe zu dieser faktischen Gleichsetzung von Epochenbegriff und historischem Zeitraum die Kritik in Hempfer 2018, S. 229 f. Für die wichtigsten Vertreter des Préromantisme-Ansatzes siehe Van Tieghem, Paul, Le Préromantisme: Études d’histoire littéraire européenne, 3 Bde., Paris 1924–1947; sowie Trahard, Pierre, Les Maîtres de la sensibilité française au XVIIIe siècle (1715–1789), 4 Bde., Paris 1931–1933. Für die Argumente der Kritik an diesem Ansatz siehe die in Le Préromantisme: Hypothèque ou hypothèse? Colloque

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hunderts, der ein vermeintlich streng klassizistisch-rationales frühes siècle des Lumières von einem sentimental-empfindsamen späten siècle des Lumières trenne. Ausgehend von einer künstlichen Opposition von raison und cœur, die seitens der historischen Emotionenforschung mittlerweile widerlegt ist,188 wurde ein Empfindsamkeitsbegriff entwickelt, der die Gefühlskonzepte der Romantik vorbereite und somit in seiner Kontinuität mit dieser zu verstehen sei. In dem ideologisch in der Philologie des 19. Jahrhunderts verorteten Versuch, der Aufklärung ihren eigenständigen Epochenstatus abzusprechen, indem man sie einerseits an die Klassik, andererseits an die Romantik angliederte, wird das Aufkommen der empfindsamen Tendenzen als Gegenbewegung zur Betätigung des Geistes, als antirationales Vergnügen an Emotionalität betrachtet. Dagegen hat Roland Mortier bereits 1969 auf die konzeptuellen Schwächen des Préromantisme-Ansatzes hingewiesen, indem er nicht nur den identifizierten Bruch um 1750 als einen retrospektiv künstlich konstruierten auswies, sondern auch die vermeintliche Dominanz einer empfindsamen Tendenz in der zweiten Jahrhunderthälfte entkräftete. Das von Mortier in dieser Hinsicht vorgebrachte Argument mag noch heute als Argument gegen Titzmanns Konstruktion eines Literatursystems Empfindsamkeit dienen. Im Hinblick auf die schematische und zeitlich an die Jahrhundertmitte gebundene Antithese fragt er: „[…] peut-on affirmer sérieusement qu’il faille imputer à la ‚sensibilité‘ la quasi-totalité des œuvres de Diderot, celles de Buffon, d’Holbach, d’Helvétius, la poésie de Chénier (‚athée avec délices‘), les romans de Laclos ou de Sade?“189 Mit der Nennung von Autoren, die wie Buffon, d’Holbach oder Helvétius schwerlich als Autoren der Empfindsamkeit gelten können, deren in der zweiten Jahrhunderthälfte erschienene Schriften wohl aber zu den wesentlichen Zeugnissen aufklärerischer Epistemologie zu zählen sind, verdeutlicht Mortier, dass sich der Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘ keinesfalls als schematische Abfolge literarischer Phasen begreifen lässt. Vielmehr besitzen aufklärerische und empfindsame Tendenzen – zumindest zeitweise – gleichzeitige Gültigkeit. Diese Heterogenität des Zeitraumes wird durch die von Titzmann betriebene exklusive Setzung eines Paradigmas als die Epoche konstituierendes System überblendet. Das dritte Problem betrifft den Titzmanns Epochisierung des 18. Jahrhunderts zugrundeliegenden Begriff von ‚Aufklärungsliteratur‘. Aufgrund der strikten Differenzierung von Denk- und Literatursystem ist die Bezeichnung ‚Aufklärungsliteratur‘ ebenso wie ‚Literatur der Aufklärung‘ in Titzmanns Terminologie explizit nicht vorgesehen. Um der Unterscheidung terminologisch gerecht zu werden, plädiert er dagegen für

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organisé à Clermont-Ferrand les 29 et 30 juin par le Centre de Recherches Révolutionnaires et Romantiques de l’Université, hg. v. P. Viallaneix, Paris 1975, versammelten Aufsätze. Baasner 1995, S. 610. Mortier, Roland, „Unité ou scission du siècle des Lumières?“, in: ders., Clartés et ombres du siècle des Lumières. Études sur le XVIIIe siècle, Genf: 1969, S. 114–124, dort S. 116.

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die Formulierung „Literatur zur Zeit der mittleren Aufklärung“.190 Doch gerade diese Formulierung und die ihr zugrundeliegende konzeptuelle Trennung der den Denkstil betreffenden Konstellation und der literarischen Produktion der Zeit wird der in Abschnitt 1.2.2. dargestellten besonderen Verschränkung beider Konfigurationen in und durch die Aufklärungsliteratur nicht gerecht. Wie an früherer Stelle unter Bezugnahme auf die einschlägigen Arbeiten von Klaus Hempfer bereits deutlich gemacht worden ist, bildet sich im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine Literatur heraus, die in für sie konstitutiver Weise auf die epistemische Konfiguration Aufklärung Bezug nimmt, ja, an deren Festigung, Implementierung und Verbreitung allererst mitwirkt. Wenngleich freilich Literatur „zur Zeit“ der Aufklärung in dem Sinne unterschieden werden kann (und muss), dass nicht jeder im 18. Jahrhundert entstandene Text zwangsläufig ‚Aufklärung betreibt‘, so existiert doch zugleich auch eine Literatur der Aufklärung. Nicht erfassbar ist mit Titzmanns Modell folglich der spezifische Doppelcharakter von Aufklärungsliteratur: Diese konstituiert sich insofern gleichzeitig über eine im engeren Sinne poetologisch-strukturelle Ebene sowie über eine epistemologische Ebene, als Erstere für die Durchsetzung des empirisch-induktiven Denkens funktionalisiert wird. So gilt etwa für die in dieser Arbeit untersuchten Prosatexte – wenn auch, wie zu zeigen sein wird, in verschiedener Ausprägung und unterschiedlichem Ausmaß –, dass eine empfindsame Erzählstruktur samt ihrer narrativen Gestaltung und den für sie typischen Topoi in den Dienst des aufklärerischen Diskurses gestellt wird. Ähnliches ließe sich für die Verbindung der Epistemologie der Aufklärung mit einer klassizistischen Formsprache zeigen.191 Ist folglich die für Aufklärungsliteratur konstitutive Zwei-Ebenen-Struktur mit dem Modell Titzmanns gerade nicht abbildbar, so liegt dies einerseits an der Abgeschlossenheit der von ihm konstruierten Systeme, andererseits an dem hiermit verbundenen totalisierenden Charakter des verwendeten Epochenbegriffs. Da Titzmann die genuine Gleichzeitigkeit von Epochen ausschließt, muss er die heterogenen Erscheinungen des Zeitraumes entweder unter einen einzigen Epochenbegriff ‚zwängen‘, sie als frühe oder späte Formen einer vorgängigen oder nachfolgenden Epoche kenntlich machen oder aber sie als singuläre Ausnahmen gänzlich exkludieren. Die besondere zweifache Heterogenität der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts lässt sich in diesem Modell jedoch nicht abbilden. Zweifach heterogen ist diese insofern, als sich Heterogenität zum einen in Hinblick auf die parallel zur Geltung gebrachten literarischen Strömungen und zum anderen in Hinblick auf die Funktion der einzelnen Texte dieser Strömungen für die Aufklärung nachweisen lässt. In einem literarisch-poetologischen, d. h. Stilebenen, Gattungsstrukturen, Topoi, Handlungs- und Figurenkonstellationen, affektive Konfigurationen u. a. m. einschließenden Sinne sind im 18. Jahrhundert gleichzeitige

190 Titzmann 2015, S. 70, Herv. i. O. 191 Siehe hierzu jüngst den bereits zitierten Aufsatz von Kuhn 2018.

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Tendenzen in unterschiedlichen Dominanzverhältnissen feststellbar. Diese Tendenzen, Strömungen oder Paradigmen können miteinander verwandt oder aufeinander bezogen sein wie die Literatur der Empfindsamkeit und jene des Libertinage, sie sind es jedoch nicht zwangsläufig. Darüber hinaus können all diese Tendenzen für den Zweck der Durchsetzung des aufklärerischen Denkens funktionalisiert werden, und zwar in je unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß. So gilt etwa für Diderots Les Bijoux indiscrets (1748), dass ein libertines, tendenziell gar pornographisches Thema als „Vehikel für die Propagierung des neuen, aufklärerischen Denkstils fungiert“.192 Gleichzeitig verbindet dieser Text die libertin-pornographische Tendenz mit einer zeitgenössischen Mode des Orientalismus einerseits und der für das 18. Jahrhundert typischen Erzählform des conte andererseits, was innerhalb des zeitgenössischen Literatursystems wiederum ein Ausweis seiner heterogenen Ausdifferenzierung ist. Das Beispiel Titzmanns offenbart die Probleme, die entstehen, soll ein von Natur aus heterogener historischer Zeitraum unter einem einzigen diese Differenzen nivellierenden Globalterminus zusammengefasst werden. In extremis wird dieses Problem sichtbar in den nach wie vor gängigen weiten Bestimmungen von ‚Aufklärung‘, welche neben der Empfindsamkeit nichts weniger als alle Erscheinungen des 18. Jahrhunderts abzubilden geeignet sein sollen. Eine Variante dieser Tendenz stellt die in der französischen Forschung nach wie vor übliche Bezeichnung der Periode als siècle des Lumières dar. Nicht nur in historischer Hinsicht verliert der Begriff ‚Aufklärung‘ dabei seine Differenzqualität in der hinreichenden Abgrenzung einer spezifischen Konstellation in der Geschichte des frühneuzeitlichen Denkens. Auch in epochentheoretischer Perspektive verhindert die Gleichsetzung des Epochenbegriffs Aufklärung mit dem Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘ eine systematische Relationierung der heterogenen Phänomene der historischen Periode.193 Nur selten wird der Widerspruch erkannt, der dadurch entsteht, dass die – literarischen, philosophischen, kulturellen – Tendenzen des 18. Jahrhunderts einerseits in ihrer Verschiedenheit ausdifferenziert werden, während man sie gleichsam dem Etikett Aufklärung als Signum des gesamten Zeitraumes unterstellt. Exemplarisch konstatiert etwa Barbara Stollberg-Rillinger, dass sich der Begriff ‚Aufklärung‘ „unter den Historikern nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und zuletzt auch im angelsächsischen Raum als Epochenbezeichnung für das 18. Jahrhundert weitgehend etabliert“194 habe, während sie nur kurz darauf korrigierend differenziert: Wenn hier im folgenden von ‚Aufklärung‘ die Rede ist, so also ausschließlich im Sinne eines bestimmten historischen Phänomens, einer geistigen und sozialen Bewegung, die

192 Hempfer 2007, S. 257. 193 Siehe Hempfer 2018, S. 232. 194 Stollberg-Rillinger, Barbara, Die Aufklärung – Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2017, S. 12 f., Herv. d. Vf.in.

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zeitlich – grob vereinfacht – mit dem 18. Jahrhundert zur Deckung kommt und als dessen Eigentümlichkeit gelten kann. […] Das heißt aber nicht, dass damit die ganze Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der vergangenen Realität erfasst wäre. Zum einen kann man nicht alle Phänomene des 18. Jahrhunderts unter ‚Aufklärung‘ subsumieren. Auch Widerstände und Gegensätze gehören zu dem Bild der Epoche: die Hofkultur des Rokoko etwa, neue Frömmigkeitsbewegungen oder die Neigung zu Okkultismus und Geheimbünden. Zum anderen war aber auch das, was sich in dieser Zeit selbst unter dem Etikett ‚Aufklärung‘ versammelte, alles andere als einheitlich.195

Die völlig sachgerechte Differenzierung der eigenständigen Strömungen im 18. Jahrhundert, die nicht zwangsläufig allesamt der Aufklärung zuzuschlagen seien, wird durch die Feststellung der Autorin, die Aufklärung selbst sei „alles andere als einheitlich“, konterkariert. Der Heterogenität des historischen Zeitraumes mit der vermeintlichen Uneinheitlichkeit der Epoche Aufklärung zu begegnen, löst das historische wie systematische Heterogenitätsproblem keinesfalls auf. Im Gegenteil argumentiert Hempfer, dass, bei aller Verschiedenheit der Erscheinungen eines historischen Zeitraumes, Heterogenität gerade keine Eigenschaft von Epochenbegriffen sein könne: ‚Epochen‘ sind theoretische Konstrukte, die auf ‚Zeiträume‘ als chronologische Einheiten anwendbar sind; sie basieren auf der Rekonstruktion von Merkmalskomplexionen, die sich synchron und/oder diachron von anderen Merkmalskomplexionen unterscheiden lassen; sie können in einem bestimmten Zeitraum eindeutig dominierende Charakteristika benennen oder aber Merkmalskomplexionen, die entweder in Konkurrenz zu anderen stehen oder schlicht auf gänzlich Unterschiedliches abheben, d. h. sich nicht ausschließen. Epochenkonstrukte müssen notwendig homogen sein, da sie sich nur als solche voneinander unterscheiden lassen, während Zeiträume in der Regel durch Heterogenität gekennzeichnet sind.196

Benannt ist damit der Konstruktcharakter von Epochen, die von der historischen Zeitspanne, auf die sie sich beziehen, systematisch zu unterscheiden sind und deren jeweilige Konstruktion abhängig ist von den zugrunde gelegten Kriterien. Da Epochenbegriffe folglich einen jeweils anderen Bereich der historischen Wirklichkeit fokussieren, können je nach verwendeten Kriterien verschiedene Epochenbegriffe für einen einzigen Zeitraum Anwendung finden. Ein solches Verständnis von Epochen als Konstrukte, die jeweils auf eine kriterienbegründete Auswahl der Erscheinungen eines Zeitraumes abstellen, ermöglicht es, die Heterogenität der historischen Phänomene im Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘ als komplexe Relationen197 zwischen den unterschied-

195 Ebd., S. 14 f. 196 Hempfer 2018, S. 227. 197 Siehe ebd., S. 232.

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lichen Konstrukten als Konkurrenz oder Komplementarität, als logische Sukzession oder partielle Überlagerung bzw. als partielle oder vollständige Ablösung darzustellen. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist das bisher zum Verhältnis von Aufklärung und Empfindsamkeit in historisch-textpraktischer Perspektive Gesagte um die systematisch-epochentheoretischen Implikationen zu konkretisieren: In der Gesamtheit der Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts lassen sich Texte, denen eine epistemologische Funktion im Sinne der Aufklärung zugrunde liegt, von jenen unterscheiden, die nicht derart aufklärerisch funktionalisiert sind. Sowohl die ‚aufklärerischen‘ als auch alle anderen literarischen Texte lassen sich wiederum Strömungen zuordnen, die ihrerseits anhand von im engeren Sinne poetologischen, nicht epistemologischen Kriterien zu rekonstruieren sind. Konstruiert werden somit je unterschiedliche Textgruppenbildungen, deren Konstruktion sich auf zwei Ebenen – erstens: epistemologische, i. e. aufklärerische Textfunktion; zweitens: Bestimmung der poetologischen Merkmalskomplexe – vollzieht. Die Zuordnung eines Einzeltextes zu den Epochenkonstrukten Aufklärung und Empfindsamkeit ist daher nicht als logische Alternative zu verstehen. Vielmehr operiert sie anhand eines jeweils unterschiedlichen Sets an Kriterien und fokussiert je verschiedene Aspekte der Textfunktion und -gestalt, sowie der epistemologischen und ideologischen Konstellation. In diesem Sinne ist auf den Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘ sowohl ein Epochenkonstrukt Aufklärung als auch ein Epochenkonstrukt Empfindsamkeit anwendbar: Während Empfindsamkeit eine literarische wie allgemein kulturelle Formation im 18. Jahrhundert abbildet, die sich anhand einer ihr spezifischen affektiv-moralischen Konfiguration und den hiermit verbundenen literarischen Gestaltungen von gleichzeitigen literarischen Tendenzen unterscheiden lässt, zielt Aufklärung auf eine Gruppe von Texten ab, deren Funktion in der qualitativen Durchsetzung sowie quantitativen Ausweitung, mitunter auch Reflexion, des empirisch-induktiven Denkmodus besteht. Insofern diese Funktion durch das Vehikel so verschiedener literarischer Konfigurationen wie der Empfindsamkeit, dem Libertinage oder dem Klassizismus Form annimmt, ist für die Epoche Aufklärung eine fundamentale Relationiertheit zu anderen Paradigmen, die auf denselben Zeitraum anwendbar sind, bereits konstitutiver Bestandteil ihrer Konstruktion. Anders formuliert: Für das Epochenkonstrukt Aufklärung ist maßgeblich, dass es sich in einer Relation zu anderen Konstrukten – d. h. Epochen, Strömungen, Tendenzen usw. – verhält, die eine dezidiert funktionale ist. Im Rahmen dieser Indienstnahme von im zeitgenössischen Literatursystem aktualisierten Tendenzen kommt innerhalb des Konstruktes Aufklärung eine zweite Beschreibungsebene zum Tragen, die auf das jeweils instrumentalisierte literarische Konstrukt abstellt. Anhand der nachfolgenden Textanalysen wird gezeigt, dass die empfindsame Tendenz in der Literatur des französischen 18. Jahrhunderts eine Möglichkeit der Diskursivierung von Aufklärung in dem oben erläuterten epistemologisch-funktionalen Sinne darstellt. In direkter oder indirekter Weise stehen die ausgewählten Texte unter dem Einfluss des empirisch-induktiven Denkstils, während sie als belles-lettres zudem Symp-

Aufklärung und Empfindsamkeit – ein Epochisierungsproblem

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tom und Instrument jener Ausweitung der philosophischen Kommunikationssphäre sind, im Rahmen derer das naturwissenschaftliche Modell auf alle Bereiche des Denkens ausgeweitet wird. Ausgewählt wurden drei zwischen 1731 und 1782 entstandene Prosatexte – Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, Voltaires L’Ingénu sowie Diderots La Religieuse –, die die epochalen Konstellationen Aufklärung und Empfindsamkeit in je unterschiedlicher Weise miteinander vermitteln. Es wird im Detail untersucht, wie die motivischen und wirkungsästhetischen Voraussetzungen des empfindsamen Erzählens in unterschiedlicher Ausprägung und in unterschiedlichem Ausmaß in einer aufklärerischen Funktion reaktualisiert bzw. refunktionalisiert werden.

2. Die Physiologisierung der Empfindsamkeit im Zeichen der Religionskritik: Diderots La Religieuse

Denis Diderots Klosterroman La Religieuse erzählt in retrospektiv-homodiegetischer Weise die Geschichte der jungen Nonne Suzanne Simonin, die nach einem von ihrer Familie erzwungenen Gelübde in verschiedenen Klöstern zunächst Demütigung und Folter erlebt und später Objekt homoerotischen Begehrens wird. Indem das Kloster als Ort der unnatürlichen Isolation für die Ausprägung unterschiedlicher ‚Perversionen‘ der Nonnen verantwortlich gemacht wird, werden diese Grenzüberschreitungen als notwendige Folgen der Widernatürlichkeit der Institution Kloster präsentiert. Fiktionsintern stellt die Erzählung eine aus der Erinnerung verfasste schriftliche Abhandlung dar, die die Protagonistin nach ihrer Flucht im Sinne eines Hilfegesuchs an einen konkreten Adressaten, den Marquis de Croismare, richtet. Nach seiner postumen Veröffentlichung im Jahr 1796 ist der Roman Gegenstand zahlreicher Rezensionen, die im Wesentlichen zwei Wertungstendenzen unterscheiden lassen. Seinen Fürsprechern gilt der Text als gelungenes Beispiel eines empfindsam-illusionistischen Erzählideals, das den Leser durch Rührung zur Anteilnahme an Suzannes Schicksal motiviert. Als „digne émule des Prévot [sic], des Sterne, des Richardson“198 wird Diderot in eine Reihe mit den für die Ausbildung des empfindsamen Paradigmas der Literatur des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Autoren gestellt. Dem gegenüber steht eine moralisierende Kritik, die insbesondere im Hinblick auf die homoerotischen Passagen des Romans den Vorwurf der Immoralität erhebt. Das Ausmaß der Empörung spiegelt sich in der Wahl des Vokabulars wider: Als „ordures philosophiques“199 wird der Roman bezeichnet, man sei „révolté des peintures lubriques

Rezension in der Gazette nationale, 11. Dezember 1796, zitiert nach De Booy, Jean / Freer, Alan (Hgg.), Jacques le fataliste et La Religieuse devant la critique révolutionnaire (1796–1800), Genf 1965; Zitat dort S. 241. Den Bezug zu Richardson stellt auch der Rezensent der Annales patriotiques et littéraires am 21. Oktober 1796 her; De Booy/Freer 1965, S. 122. 199 Besprechung in Le Véridique ou Courier universel, 8. November 1796, zitiert nach De Booy/Freer 1965, S. 176. 198

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et indécentes“,200 es handele sich um „une œuvre si grossière, si dégoûtante, si scandaleuse“.201 Eine moralische Zumutbarkeitsgrenze scheint überschritten. Bewerten die negativen Kritiken Diderots Roman folglich primär im Hinblick auf seine moralischen Defizite, so liegt diesem Negativurteil die im 18. Jahrhundert verbreitete Vorstellung vom Nutzen der Literatur für die Ausbildung der Moral zugrunde. In kaum einer literarischen Strömung des 18. Jahrhunderts kommt diese pädagogische Verpflichtung auf die moralische Ausbildung des Lesers indes so deutlich zum Ausdruck wie in den Texten der Empfindsamkeit. Implizit werden die von den positiven Kritiken gezogenen Traditionslinien zu einem Erzählideal der Empfindsamkeit daher auch seitens der ablehnenden Kritiker als Vergleichshorizont bemüht. Der Impuls, La Religieuse im Kontext der Empfindsamkeit zu situieren, bleibt dabei nicht auf die der Erstpublikation unmittelbar folgende Rezeption beschränkt. Auch die moderne Literaturgeschichtsschreibung im Allgemeinen und die Diderot-Forschung im Speziellen betonen die Nähe des Textes zu den wohl bekanntesten Zeugnissen der europäischen Empfindsamkeit, den Romanen Samuel Richardsons. Dass Diderot sich tatsächlich intensiv mit dessen sentimental novel auseinander gesetzt hat, bezeugt seine von der Richardson-Lektüre inspirierte Romanpoetik, die 1762 unter dem programmatischen Titel Éloge de Richardson erscheint.202 Der Roman La Religieuse wurde in der Forschung denn auch bevorzugt vor dem Hintergrund dieser Poetik gelesen, um ihn sodann als „le plus richardsonien de tous les écrits de Diderot“203 zu kategorisieren. Obwohl dieses Urteil einige Berechtigung hat, bedarf es doch einer Korrektur. Zwar stellt die Empfindsamkeit für La Religieuse durchaus eine interpretationsrelevante Folie bereit. Doch erst in der Abweichung von dieser Folie konstituiert sich die Textbedeutung als Spiel von Reinterpretation, Dekonstruktion und Refunktionalisierung empfindsamer Strukturen. ‚Empfindsames‘ wird in La Religieuse in einer Weise reinterpretiert, dass es eine Funktion für die Kommunikation einer von dem Denken der Aufklärung inspirierten kritischen Textbedeutung erfüllt. Zur Verdeutlichung dieser These ist zunächst ein Modell der Empfindsamkeit zu skizzieren, das Diderot ausgehend von seiner Beschäftigung mit den Romanen Samuel Richardsons als ein Ideal der narrativen Gestaltung entwirft. Anschließend wird dieses Modell mit den erzählerischen Verfahren in La Religieuse kontrastiert, um die spezifische Verwendung empfindsamer Strukturen und deren Funktion für den Entwurf

200 Besprechung in Le Nouvelliste littéraire, des sciences et des arts, 4. Januar 1797, zitiert nach De Booy/ Freer 1965, S. 250. 201 Besprechung im Journal des débats et loix du pouvoir législatif, et des actes du gouvernement, 11. November 1804, zitiert nach De Booy/Freer, S. 329. 202 Zur Chronologie von Diderots Richardson-Lektüre siehe zuletzt Charles, Shelly, „Les mystères d’une lecture. Quand et comment Diderot a-t-il lu Richardson?“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 45 (2010), S. 23–39. 203 May, Georges, Diderot et „La Religieuse“. Étude historique et littéraire, Yale/Paris 1954, S. 13.

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eines impliziten Leserkonstruktes zu untersuchen, das im Dienst der Durchsetzung aufklärerischen Denkens steht. 2.1 Das empfindsame Modell: Diderots Richardson-Rezeption im Éloge de Richardson Diderots Lobpreisung des englischen Romanciers Samuel Richardson, der Éloge de Richardson, erscheint im Januar 1762 im Pariser Journal étranger. Anhand der Romane des Engländers entwirft Diderot eine Poetik, die Richardson zum zu imitierenden Modell eines der sensibilité verpflichteten Erzählens erhebt. Betont wird dabei nicht nur die Vorbildhaftigkeit Richardsons für den Roman im Allgemeinen; der Éloge bildet zudem ein Ideal der literarischen Rezeption ab, das im Wesentlichen als ein empfindsames beschrieben wird. Diese empfindsame Prägung wird in jenen Passagen des Textes deutlich, die an Dritten beobachtete Lektürehandlungen schildern. Es handelt sich hierbei um Lektüresituationen, deren Gegenstand bezeichnenderweise Richardsons wohl bekanntester Roman Clarissa Harlowe, or the History of a Young Lady ist. Folgende Schilderung der von ‚Diderot‘ an einem Bekannten beobachteten Reaktion während der Lektüre der Begräbnisszene in besagtem Roman bildet in nuce die ideale Rezeption einer empfindsam strukturierten Erzählung ab: Le voilà qui s’empare des cahiers, qui se retire dans un coin et qui lit. Je l’examinai: d’abord je vois couler des pleurs, bientôt il s’interrompt, il sanglote; tout à coup il se lève, il marche sans savoir où il va, il pousse des cris comme un homme désolé et il adresse les reproches les plus amers à toute la famille des Harloves.204

Im Vordergrund stehen die im Lektüreprozess durchlebten Affekte. Die Stimulation der Empfindsamkeit des Lesers setzt im Umkehrschluss ein Erzählen voraus, welches die Emotionalität des Rezipienten zum Ziel hat. In ihrer Befassung mit dem Éloge de Richardson hat die Diderot-Forschung wiederholt auf die Bedeutung des petit détail für eine illusionistische Poetik aufmerksam gemacht.205 In der Tat zeugt dieser Text von einer Beschäftigung des Autors mit dem illusionsfördernden Potential der Romangattung, für das die Verwendung des situativen Details als wesentliche Voraussetzung erkannt wird: „Sachez que c’est à la multitude de petites choses que tient l’illusion.“206 Vor dem Hintergrund der dezidiert empfindsamen Ausrichtung, die aus der zentralen Setzung des emotional involvierten Lesers in der sentimentalen Rezeptionssituation hervorgeht, wird das Interesse an dem petit détail zugleich an die Empfindsamkeit anschließbar. Illusionistisches und empfindsames 204 Diderot, Éloge de Richardson, S. 205 f. 205 So z. B. in dem Vorwort von Jean Sgard in: Diderot, Éloge de Richardson, S. 181–190, dort S. 189. 206 Diderot, Éloge de Richardson, S. 198.

Das empfindsame Modell: Diderots Richardson-Rezeption im Éloge de Richardson

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Erzählen sind im Éloge de Richardson insofern untrennbar verbunden, als die geforderte möglichst umfassende Illusionierung des Lesers dessen emotionale Affizierung einschließt. Dass die Rührung des in der zitierten Passage gezeichneten Lesers in Entrüstung ob des Verhaltens der Familie Harlowe umschlägt, zeugt von seiner starken (emotionalen) Identifikation mit der titelgebenden Heldin. Clarissas Zwangslage, ihr auf finanzpolitischen Motiven beruhender Ausstoß aus der Familie Harlowe, ihr Missbrauch durch den Libertin Lovelace werden in der für Richardson typischen Erzählform des Briefes in ungebrochener Subjektivität dargestellt und dem empathischen Leser auf diese Weise zum Mitfühlen übergeben. Der von Diderot geschätzte illusionistische Charakter der Romane Richardsons beruht damit im Wesentlichen auf der empathischen Reaktion des Lesers. Dass Diderot diese zum Kern der Romanpoetik erhebt, setzt voraus, dass er die Axiome der Empfindsamkeit hinsichtlich der moralischen Funktion des Mitleids und deren Ausbildung durch die Kunst teilt. Wie aus der zitierten Textstelle deutlich wird, handelt es sich bei der im Éloge reklamierten Illusion nicht um eine Abbildung von ‚Realität‘ im Sinne einer mit der extraliterarischen Lebenswelt abzugleichenden Repräsentation von Welt. Bindet Diderot das illusionistische Potential der Romane Richardsons an die bei deren Lektüre erlebten Gemütszustände des Lesers, so ist dieser ‚Realismus‘ in erster Linie als ein psychologischer zu bezeichnen. Verhandelt wird die Darstellung konfliktbehafteter Situationen, die den Leser durch emotionale Affizierung zum Eintritt in den Konflikt zwingt und ihn provoziert, das implizite Moralurteil207 zu teilen. Eine zentrale Funktion kommt hierbei den durch den Konflikt hervorgerufenen Emotionen und Kognitionsprozessen der Figuren zu, die sich sodann in einer identifikatorischen Rezeptionshaltung des Lesers spiegelten: O Richardson! On prend, malgré qu’on en ait, un rôle dans tes ouvrages, on se mêle à la conversation, on approuve, on blâme, on admire, on s’irrite, on s’indigne. Combien de fois ne me suis-je pas surpris, comme il est arrivé à des enfants qu’on avait menés aux spectacles pour la première fois, criant: Ne le croyez pas, il vous trompe … si vous allez là, vous êtes perdu. Mon âme était tenue dans une agitation perpétuelle. Combien j’étais bon! combien j’étais juste! que j’étais satisfait de moi! j’étais au sortir de ta lecture, ce qu’est un homme à la fin d’une journée qu’il a employée à faire le bien.“208

Roger Chartier unterstreicht die Bedeutung der Illusionierung und der mit ihr verbundenen Aufhebung der Distanz zwischen Fiktion und Realität für die emotionale 207 Es soll hier nicht darum gehen, den Éloge de Richardson als moralphilosophische Abhandlung zu lesen, wie es in der Kritik nicht selten geschieht, jüngst etwa in Fowler, James Richardson and the Philosophes, London 2014. Im Gegenteil erscheint mir zentral, dass Moral im Éloge immer nur als über den Roman vermittelt behandelt wird, es sich demnach gerade nicht um eine philosophische Beschäftigung mit dem Phänomen Moral per se, sondern um eine grundlegend poetologisch orientierte Betrachtung des Themas handelt. 208 Diderot, Éloge de Richardson, S. 193, Herv. i. O.

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Involvierung des Lesers.209 Empathische Teilhabe und Illusionierung des Lesers sind jedoch kein Selbstzweck; deutlich formuliert wird in obigem Zitat eine moralische Funktionalisierung der Illusion.210 Sie wird als Instrument einer moralischen Erziehung konzipiert, die sich pointiert als Moralisierung durch identifizierendes Mitleid zusammenfassen lässt. Indem Diderot sich auf das mit moralischem Handeln gleichzusetzende Ergebnis der Lektüre beruft („j’étais au sortir de ta lecture, ce qu’est un homme à la fin d’une journée qu’il a employée à faire le bien“), wird die Rezeption von empfindsam strukturierten Erzählungen als Substitut moralischen Handelns nobilitiert. In Bezug auf die Forschung zu den Wandlungsprozessen der Lektürepraktiken im 18. Jahrhundert besteht Chartier zufolge die eigentliche ‚Revolution‘ in diesem Konnex aus Lektüre und moralischer Ausbildung: Indem die Identifikation des Lesers mit dem Erzählten nicht mehr als schädliches Resultat der Romanlektüre, sondern als ihr erstrebenswertes Produkt ausgewiesen werde, werde sie nunmehr als „critère[] de l’excellence esthétique, donc morale, de l’œuvre d’art“211 anerkannt. Je stärker die Erzählung den Leser mit empathiefördernden und illusionistischen Mitteln in den moralischen Konflikt zu involvieren vermag, umso stärker gestaltet sich der ethische Nutzen dieser Erzählung. Der in der empfindsamen Tendenz der Literatur des 18. Jahrhunderts gestärkte Zusammenhang von moralischer Zielsetzung und der Rolle des Gefühls zum Erreichen dieser Intention bildet den poetologischen Kern des Éloge de Richardson. Diderot lobt in dieser Frage insbesondere Richardsons Fähigkeit, Angelegenheiten der Moral nicht in rationaler Argumentation ‚demonstriert‘, sondern dem Leser zum Fühlen übergeben zu haben: S’il importe aux hommes d’être persuadés qu’indépendamment de toute considération ultérieure à cette vie, nous n’avons rien de mieux à faire pour être heureux que d’être vertueux, quel service Richardson n’a-t-il pas rendu à l’espèce humaine? Il n’a point démontré cette vérité, mais il l’a fait sentir […].212

In dieser Formulierung lässt sich eine Denkverwandtschaft herstellen zwischen dem empfindsamen Erzählen mit seiner Kopplung von Tugenderziehung und Gefühl und den Grundannahmen der sensualistischen Philosophie, welche die Ideen des Menschen – auch die moralischen – an die Empfängnis von Sinneseindrücken bindet. In der Interpretation Diderots ist das sensualistische Prinzip des (moralischen) Lernens

209 Chartier, Roger, „Richardson, Diderot et la lectrice impatiente“, in: Modern Language Notes 114/4 (1999), S. 647–666. 210 Vgl. die Vorrede von Sgard in Diderot, Éloge de Richardson, S. 187. 211 Chartier 1999, S. 663. Chartier setzt sich damit von jenen, u. a. von Rolf Engelsing hervorgebrachten, Ansätzen ab, die im Wandel von einer intensiven zu einer extensiven Lesepraxis die konstitutive Voraussetzung der ‚Lektürerevolution‘ um 1750 erkennen. 212 Diderot, Éloge de Richardson, S. 195

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über Sinneseindrücke dem empfindsamen Roman folglich implizit eingeschrieben.213 Gesteht Diderot dem Roman, zumindest in seiner von Richardson repräsentierten empfindsamen Ausprägung, eine Rolle in der moralischen Erziehung des Menschen zu, so positioniert er sich gegen die im 18. Jahrhundert verbreitete moralisch wie poetologisch begründete Kritik an der ‚neuen‘ Gattung.214 In diesem moralischen und poetologischen Problemkomplex ist auch jene Äußerung Diderots zu situieren, welche die künstlerische Komposition der Realität implizit als überlegen ausweist, insofern sie es dem Leser erlaube, „dans l’intervalle de quelques heures un grand nombre de situations“ stellvertretend zu durchleben, „que la vie la plus longue offre à peine dans toute sa durée“.215 Für den Grad an ‚Realismus‘ der empfindsamen Erzählung bedeutet dies, dass für die Affektstimulation im Rahmen der moralischen Funktion des Romans ausgerechnet eine romanesk-künstlerische Anordnung der histoire Voraussetzung ist. Paradox erscheint diese Relation von psychologischer Illusion und offensichtlichem Artefakt-Charakter indes erst vor dem Hintergrund einer Realismus-Auffassung des 19. Jahrhunderts, die für Diderots Schreiben nur als anachronistisch gelten kann.216 Demgegenüber formuliert Diderot im Éloge ein Verständnis von Fiktionalität, welches die Bewertung des Lesers hinsichtlich des ontologischen Status des Erzählten an dessen Einstellung gegenüber den moralischen Konflikten der Fiktionsebene bindet: C’est alors qu’affaissé de douleur ou transporté de joie, vous n’aurez plus la force de retenir vos larmes prêtes à couler et de vous dire à vous-même: Mais peut-être que cela n’est pas vrai. Cette pensée a été éloignée de vous peu à peu et elle est si loin qu’elle ne se présentera pas.217

213

Fowler 2014 erkennt in dem Gefühlsbegriff der zitierten Passage eine strategische Absage Diderots an einen auktorialen Intentionalismus, die das Ziel verfolge, Richardson die Deutungshoheit über sein Werk abzusprechen, um es für eigene Deutungen anschließbar zu machen. Insgesamt liest Fowler den Éloge als kreative und intentionale Fehlinterpretation der Romane Richardsons, die deren christliche und teilweise gegenaufklärerische Morallehre bewusst ausspare, um sich im Gegenzug das implizite Leserkonstrukt der Romane zu eigen zu machen. Ich teile Fowlers Ansicht, dass die Werke des Engländers für die Aufklärer ein Potential der Lesereinwirkung bergen, das sich für die Ziele der Aufklärung fruchtbar machen lässt. Die wirkungsästhetische Analyse, die sich an diese Feststellung gewissermaßen zwangsläufig anschließen müsste, wird bei Fowler jedoch vermisst. Die folgenden Kapitel haben zum Ziel, diese Lücke zu schließen. 214 Zur Legitimationsproblematik des Romans ist die Studie von May 1963 nach wie vor grundlegend. Interessante neuere Perspektiven bzgl. des ‚Dilemmas‘ des Romans liefert die Bilanz von Herman, Jan / Kozul, Mladen / Kremer, Nathalie, „Crise et triomphe du roman au XVIIIe siècle: un bilan“, in: Le Second triomphe du roman du XVIIIe siècle, hg. v. P. Stewart u. M. Delon, Oxford 2009, S. 29– 66. Die Autoren vertreten die Auffassung einer Skalierbarkeit der Fiktionalität im Roman des 18. Jahrhunderts, die an die zweifache Notwendigkeit der Gattung, ihre Erzählung zu akkreditieren („par l’effacement de la fiction“, S. 64) und zu legitimieren („par la mise en évidence de la fiction“, ebd.), anschließt: „La gradualité de la fiction s’étale entre un état non déclaré, qu’on peut appeler feintise, et un état déclaré.“ (dort S. 65) 215 Diderot, Éloge de Richardson, S. 193. 216 Allein aus diesem Grund erscheint es ungerechtfertigt, Diderot aufgrund seiner Poetik des petit détail zum Vertreter eines Realismus avant la lettre zu erheben. 217 Diderot, Éloge de Richardson, S. 198, Herv. i. O.

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In fiktionstheoretischer Hinsicht entwirft Diderot hier ein Konzept der willing suspension of disbelief avant la lettre, das auf dem affektiven Ansteckungspotential des erzählten moralischen Konflikts basiert. Die Authentizität der im Lektüreprozess erlebten und durch diesen provozierten Gefühle bildet die Grundlage dafür, dass das Erzählte leserseitig als ‚wahr‘ rezipiert wird. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, die Poetik des Éloge de Richardson auf seine argumentative Stringenz hin zu untersuchen, noch die von Diderot angeführten Argumente seiner Lobschrift innerhalb zeitgenössischer Debatten um eine Poetik des Romans zu situieren. So bezeichnet etwa Jean Sgard in seiner Einführung des Textes in der zitierten Gesamtausgabe die dort verhandelte romantheoretische Problematik als „désuète“ und verdächtigt Diderot der „mauvaise foi“, weil jener „admire chez Richardson ce qu’il aurait pu admirer tout aussi bien chez Prévost ou dans La Nouvelle Héloïse“.218 Für den vorliegenden Zusammenhang ist nicht von Belang, in wie fern Diderots Argumente von den romantheoretischen und -praktischen Ausführungen eines Prévost oder Rousseau vorweggenommen werden. Zentral erscheint mir vielmehr, dass Diderot mit Richardson den berühmtesten Vertreter des von ihm so geschätzten illusionistischen Erzählens auf den Sockel des zu imitierenden Vorbilds stellt und damit ein Schreiben zum Modell erhebt, das sich auf empfindsame Grundsätze berufen kann. In welchem Maße das im Éloge gepriesene Schreiben des englischen Vorbilds als Folie für Diderots Klosterroman La Religieuse zu gelten hat und welche Funktion der Bezug auf die Empfindsamkeit in diesem Text erfüllt, soll im Folgenden thematisiert werden. Das Ziel des nachfolgenden Kapitels ist es, darzustellen, in wie weit das eben betrachtete Modell empfindsamen Erzählens im Éloge als ästhetischer Fluchtpunkt für die Poetik von La Religieuse herangezogen werden kann und inwieweit den empfindsamen Erzählverfahren dieses Romans Strategien der aufklärerischen Refunktionalisierung zugrundeliegen. 2.2 Zwischen Identifikation und Distanzierung: Die Refunktionalisierung empfindsamer Wirkungsästhetik in La Religieuse 2.2.1 Der Entstehungskontext von La Religieuse Da die komplexe Entstehungsgeschichte von La Religieuse Hinweise auf die Bedeutungskonstitution in diesem Roman gibt, seien die wesentlichen Eckdaten der Genese kurz rekapituliert: Der Ursprung von La Religieuse liegt in einem Briefwechsel, den Diderot 1760 im Namen einer fiktiven in Not geratenen Nonne mit dem Marquis de Croismare führt, um den beliebten Zeitgenossen zu seiner Rückkehr von der Provinz

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Sgard in Diderot, Éloge de Richardson, S. 187.

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in die französische Hauptstadt zu bewegen. Wissend, dass Croismare sich einige Jahre zuvor in dem Gerichtsverfahren einer gegen ihren klösterlichen Eid erfolglos protestierenden Nonne engagiert hatte, fingieren Diderot, Grimm und Madame d’Épinay in einer Reihe von Briefen ein Hilfegesuch der nun vermeintlich aus dem Kloster entflohenen Frau an den Marquis. Um das Hilfegesuch mit einer quasi-veristischen Grundlage auszustatten, verfasst Diderot die Geschichte der Suzanne Simonin in Form des an den Marquis gerichteten autodiegetischen mémoire, als das der Roman heute vorliegt. Bevor der Text zwischen 1780 und 1782 dem elitären Abonnentenkreis der Corrrespondance littéraire zur Verfügung gestellt wurde, überarbeitet Diderot ihn mehrfach. Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1796 wird der Roman in der Regel samt dem Briefwechsel, der sog. Préface-Annexe, herausgegeben.219 Neben dieser originären mystification, die 1760 die Entstehung der ersten Fassung des Romans begründet, sind für die Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte noch zwei weitere Daten von Bedeutung: 1770 sowie der Zeitraum 1780–1782. In der Ausgabe der Correspondance littéraire vom 15. März 1770 macht Grimm die Umstände der mystification publik und erwähnt zudem einen unvollendeten Roman Diderots.220 Der folgende, auf den ersten Blick kryptische Zusatz: „(Et j’ajouterai, moi qui connais un peu M. Diderot, que ce roman, il l’a achevé, et que ce sont les Mémoires mêmes qu’on vient de lire […].)“,221 den Diderot den Ausführungen Grimms nachträglich hinzufügte, erweist sich auf den zweiten Blick als Beleg für eine These der modernen Textkritik, die von einem sukzessiven Redaktionsprozess auf der Grundlage von zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfassten Fragmenten ausgeht.222 Gestützt wird diese These nicht

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Für eine detailliertere Darstellung der historischen Begebenheiten und deren anschließende Fiktionalisierung durch Diderots Nachbearbeitung des Briefwechsels sei auf die Ausführungen in der kritischen Gesamtausgabe verwiesen: Denis, Diderot, La Religieuse, hg. v. G. May, DPV, Bd. 11, 1980. Soweit nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich alle Zitate auf diese Textausgabe. 220 „Il est certain que s’il eût achevé cette histoire, elle serait devenue un des romans les plus vrais, les plus intéressants et les plus pathétiques que nous ayons. On n’en pouvait pas lire une page sans verser des pleurs; et cependant il n’y avait point d’amour; ouvrage de génie qui présentait partout la plus forte empreinte de l’imagination de l’auteur: ouvrage d’une utilité publique et générale, car c’était la plus cruelle satire qu’on eût fait des cloîtres; elle était d’autant plus dangereuse que la première partie n’en renfermait que des éloges: sa jeune religieuse était d’une dévotion angélique, et conservait dans son cœur simple et tendre le respect le plus sincère pour tout ce qu’on lui avait appris à respecter. Mais ce roman n’a jamais existé que par lambeaux et en est resté là […].“ (Diderot, La Religieuse, S. 31 f.) Es sei erwähnt, dass auch Grimms Zeugnis in der Correspondance littéraire in der Folge von Diderot bearbeitet wurde, um die in der sog. Préface-Annexe gruppierten Dokumente zu vereinheitlichen. Sowohl Grimms Dokumentation der Ereignisse als auch der Briefwechsel unterliegen folglich einem Prozess der Fiktionalisierung, der das Verhältnis von Fiktion und historischer Realität aus heutiger theoretischer Perspektive so intrikat erscheinen lässt. Alle Verweise auf die Préface-Annexe sind der von Diderot überarbeiteten Version in der zitierten Gesamtausgabe entnommen. 221 Diderot, La Religieuse, S. 32. 222 Eine auf der Untersuchung des manuscrit autographe basierende Darstellung des Redaktionsprozesses findet sich in Parrish, Jean, „Conception, évolution, et forme finale de la Religieuse“, in: Romanische Forschungen 74 (1962), S. 361–384.

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nur durch Grimms Charakterisierung des unvollendeten Romans als „lambeaux“,223 sondern auch durch die Tatsache, dass die Protagonistin des manuscrit autographe mit unterschiedlichen Namen bezeichnet wird, die erst in einem späteren Korrekturschritt vereinheitlicht wurden.224 Entgegen Diderots eigener Beteuerungen kann von einer Redaktion „au courant de la plume“225 – einer Selbstdarstellung, die von der Kritik lange Zeit allzu unreflektiert übernommen wurde, weil sie sich anbot, die logischen Ungereimtheiten des Romans zu erklären – demnach heute längst nicht mehr ausgegangen werden. Im Gegenteil bezeugt das von Jean Parrish edierte Originalmanuskript226 (bezeichnet als manuscrit autographe) mit seinen zahlreichen von Diderot persönlich vorgenommenen Korrekturen eine intensive, mehr als 20 Jahre andauernde Beschäftigung des philosophe mit diesem Text.227 1780 kehrt Diderot, wahrscheinlich im Rahmen einer systematischen Ordnung seines literarischen Nachlasses, zu seiner ‚Klostersatire‘ La Religieuse zurück. Jean Parrish datiert die drei Phasen der Überarbeitung, die Diderot am manuscrit autographe und dessen Abschrift vornimmt, auf den Zeitabschnitt 1780–1782, in den auch die Publikation des Romans in der Correspondance littéraire fällt.228 Die Implikationen, die sich aus diesem langwierigen Redaktionsprozess für die internen Diskrepanzen des Romans ergeben, werden für meine Analyse von La Religieuse eine Rolle spielen. Hierauf wird an geeigneter Stelle zurückzukommen sein. Während sich die ersten kritischen Studien zu La Religieuse im Anschluss an die Pionierarbeit von Georges May229 um die Aufarbeitung der dem Werk zugrunde liegenden mystification sowie der historischen Begebenheiten hinsichtlich des Gerichtsprozesses der Nonne Marguerite Delamarre – jener Nonne, für deren Prozess sich der Marquis de Croismare im Jahre 1757 eingesetzt hatte – und somit im Grunde um das Verhältnis von historischem Fakt und literarischer Fiktion bemühen, zeugen neuere Arbeiten, insbesondere seit den 1990er Jahren, von einem stärkeren Interesse an Fragen der Psychologie und Sexualität. Trotz der Verschiedenheit der überaus zahlreichen Forschungsbeiträge und Ansätze lässt sich für fast alle Arbeiten zu La Religieuse konstatieren, dass sie sich an dem Aspekt der ostentativ zur Schau gestellten Unschuld der Ich-Erzählerin als zentraler Diskrepanz des Werkes abarbeiten. Neben der Frage nach der Aufrichtigkeit von Suzannes Unschuldsbehauptung, die, wie wir sehen wer-

223 Diderot, La Religieuse, S. 32. 224 Parrish 1962, S. 367. 225 Brief Diderots an Wilhelm Meister vom 27. September 1780; Diderot, Denis, Correspondance, in: ders., Œuvres, hg. v. L. Versini, 5 Bde., Paris 1994–1997, Bd. 5, 1997, S. 1309. 226 Diderot, Denis, La Religieuse, hg. v. J. Parrish, Genf 1963. Es handelt sich hierbei um die Edition des manuscrit autographe, die im Folgenden als Diderot/Parrish 1963 zitiert wird. 227 „Peu nombreuses sont les œuvres que Diderot a corrigées aussi soigneusement“, schreibt Herbert Dieckmann in seinem Vorwort zu der Préface de la Religieuse in Diderot, La Religieuse, S. 21. 228 Diderot/Parrish 1963, „Introduction“, S. 13–55. La Religieuse erscheint in der Correspondance littéraire in neun Lieferungen von Oktober 1780 bis März 1782. 229 May 1954.

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den, auch ein narratologisches Problem beinhaltet, wird seit Mays Monographie ungebrochen die Frage nach der religionskritischen Intention des Werkes im Kontext der Diderotschen Philosophie thematisiert. Anstatt die einzelnen Positionen der Diderot-Forschung an dieser Stelle gesammelt zu referieren, werde ich die verschiedenen Argumentationsansätze an den betreffenden Stellen der Textanalyse aufnehmen und diskutieren.230 Ziel der folgenden Textanalyse ist es, zu zeigen, dass Diderot im Anschluss an seine poetologischen Ausführungen im Éloge de Richardson in La Religieuse ein implizites Leserkonstrukt entwirft, das an eine empfindsam-identifikatorische Wirkungsästhetik anschließbar ist, und dass diese empfindsame Ästhetik eine zentrale Funktion in der sozial- bzw. institutionenkritischen Bedeutung des Werkes einnimmt. Jedoch beschränkt sich die Funktionalisierung des empfindsamen Erzählens in diesem Roman nicht auf eine bloße Übernahme empfindsamer Erzählmuster nach dem Vorbild Richardsons. Die Analyse wird zeigen, dass der Begriff der sensibilité in La Religieuse erweitert wird und durch eine Dekonstruktion des vorher entworfenen impliziten Leserkonstruktes eine Refunktionalisierung empfindsamen Erzählens vorgenommen wird. Die Gliederung der Textinterpretation folgt dabei der Struktur des Romans, indem sie von einer Zweiteilung des Textes im Sinne einer Umwertung des Leserkonstruktes und damit der wirkungsästhetischen Strategie ausgeht. 2.2.2 Empfindsame Strukturen und identifikatorische Wirkungsästhetik in La Religieuse In ihrem als Hilfegesuch an den Marquis de Croismare gerichteten mémoire rekapituliert die aus familienpolitischen Gründen zum Eintritt in den Klosterstand gezwungene Protagonistin Suzanne Simonin ihre Erlebnisse in drei verschiedenen Ordenshäusern. Inhalt des Berichts ist neben Suzannes moralischer Zwangslage, die sich aus ihrer fehlenden religiösen Berufung und der Aussicht auf ein Leben hinter Klostermauern ergibt, auch die physische und psychische Gewalt, die sie als strafende Reaktion auf ihre gerichtliche Anfechtung des Gelübdes erfährt. Nachdem der von Suzanne beauftragte Anwalt zwar nicht die Annullierung ihres Gelübdes, wohl aber den Umzug in ein anderes Kloster erreicht, sind ihre Prüfungen neuer, für Suzanne bis dato unbekannter Natur: Von einem Opfer der Gewaltausübungen und Demütigungen seitens einer als sadistisch markierten Oberin wandelt sich Suzanne zum Objekt homoerotischer Annäherungen durch die neue Vorsteherin. Die Textanalyse wird zeigen, dass mit dem Umschlag von Suzannes Situation durch den Umzug nach Saint-Eutrope d’Arpajon 230 Dass die Geschichte der Suzanne Simonin auch außerhalb i. e. S. literaturwissenschaftlicher und literarhistorischer Beschäftigung fasziniert, belegt die an Jacques Rivettes filmische Interpretation von 1966 anschließende Neuverfilmung von Guillaume Nicloux aus dem Jahr 2013.

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auch ein Wechsel in der wirkungsästhetischen Strategie des Romans einhergeht. Dazu soll in einem ersten Analyseschritt gezeigt werden, auf welches implizite Leserkonstrukt sich der Roman eingangs beruft, indem er in eine Tradition gestellt wird, die Diderot mit dem empfindsamen Erzählens Richardsons assoziiert. Im Anschluss wird eine Erweiterung und Umwertung dieses Leserkonstruktes aufgezeigt. 2.2.2.1 Die empfindsame Rahmung I: Die Konstruktion des empfindsamen Rezipienten Im Incipit des Romans beschreibt Suzanne jenen Adressaten, an den sie sich mit ihrem Gesuch wendet, und liefert im Anschluss eine kurze Darstellung ihrer selbst. Im Hinblick auf die Relation von La Religieuse zu den literarischen Strömungen des 18. Jahrhunderts ist dieser kurze Passus insofern zweifach relevant, als die Charakterisierung des Marquis einerseits den intendierten Wirkmechanismus von Suzannes Gesuch programmatisch einleitet, andererseits sich über ebendiese Beschreibungen sowohl Bezüge zur Poetik des Éloge de Richardson herstellen als auch bereits Elemente identifizieren lassen, die auf eine Erweiterung des dort entworfenen Leserkonstruktes hinweisen. La Religieuse führt mit folgenden Worten in das Geschehen ein: La réponse de M. le marquis de C***, s’il m’en fait une, me fournira les premières lignes de ce récit. Avant que de lui écrire, j’ai voulu le connaître. C’est un homme du monde; il s’est illustré au service; il est âgé; il a été marié; il a une fille et deux fils qu’il aime et dont il est chéri. Il a de la naissance; des lumières; de l’esprit, de la gaieté, du goût pour les beauxarts, et surtout de l’originalité. On m’a fait l’éloge de sa sensibilité, de son honneur et de sa probité, et j’ai jugé par le vif intérêt qu’il a pris à mon affaire, et par tout ce qu’on m’en a dit que je ne m’étais point compromise en m’adressant à lui; mais il n’est pas à présumer qu’il se détermine à changer mon sort sans savoir qui je suis; et c’est ce motif qui me résout à vaincre mon amour-propre et ma répugnance, en entreprenant ces Mémoires où je peins une partie de mes malheurs sans talent et sans art, avec la naïveté d’un enfant de mon âge et la franchise de mon caractère.231

Aus kommunikationstheoretischer Sicht handelt es sich bei diesem Incipit um eine paradoxe Srechsituation, ist Suzannes récit doch in direkter Ansprache an ebenjenen Adressaten gerichtet, den sie hier in der dritten Person beschreibt. Mit dem Beginn des zweiten Absatzes („Mon père était avocat.“232) erfolgt sodann ein Wechsel der Kommunikationssituation, der jedoch nur durch eine späte Apostrophe an den vor-

231 232

Diderot, La Religieuse, S. 81 f. Ebd., S. 82.

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her charakterisierten Marquis kenntlich gemacht wird. Erst an dieser Stelle tritt der Marquis explizit als Adressat der Erzählung hervor: „vous l’avouerai-je, Monsieur?“233 Das Paradoxon des Incipit besteht demnach darin, dass der Marquis einerseits als der Adressat des Textes (vous), andererseits in einem kommunikationstheoretischen Sinne als Botschaft des Textes (il) ausgewiesen wird.234 In der critique génétique folgenden Interpretationen wird dieser Widerspruch plausibilisiert, indem der zitierte Passus und damit die Charakterisierungen des Marquis und Suzannes als eine späte Ergänzung Diderots identifiziert werden konnten,235 die wiederum auf einer Ausweitung des intendierten Rezipientenkreises – von dem realen Marquis über den zwar erweiterten, jedoch noch klar definierten Kreis der noblen Abonnentenschaft der Correspondance littéraire, hin zu dem gänzlich anonymen Leser des Romans236 – basiert. In Erweiterung dieses Erklärungsansatzes, der die Widersprüche des Incipit mittels der Erkenntnisse über die Textgenese in erster Linie zu glätten sucht, schlage ich die These vor, dass es sich bei der Besonderheit der Kommunikationssituation um ein auktorial angelegtes, folglich intentionales Paradox handelt, das an eine spezielle wirkungsästhetische Orientierung des Romans anschließbar ist bzw. diese Orientierung vorbereitet. Weil wir aufgrund des vorliegenden Materials von einer intendierten Ausweitung des Leserkreises ausgehen können, erscheint das kommunikationstheoretisch widersprüchliche Incipit als Codierung eines impliziten Leserkonstruktes, d. h. eines idealen anvisierten Lesers, der spätestens nach Diderots Überarbeitungen nicht mehr mit dem Marquis gleichzusetzen ist. Auch Anne Coudreuse löst das Paradoxon des Romanbeginns mittels des Konstruktes eines impliziten Lesers auf, der die Funktion des Lesers Croismare übersteige, indem er die narrativen Leerstellen des discours zu füllen, die Ironie zu verstehen und Suzannes Erzählstrategien zu rekonstruieren in der Lage ist.237 Ist der Marquis im Kommunikationsmodell des Textes zugleich Angesprochener und Botschaft, so erhält der Erzähldiskurs eine ambige Dimension. Während Coudreuse diese Ambiguität aber als eine ideologische, die kritische Bedeutung des Textes betreffende auslegt, so

233 Ebd., S. 83. 234 Zu diesem widersprüchlichen Kommunikationsschema siehe auch Coudreuse, Anne, „Pour un nouveau lecteur. La Religieuse de Diderot et ses destinataires“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 27 (1999), S. 43–57. (= 1999b) 235 Vgl. dazu Diderot/Parrish 1963, S. 59. Der Beginn des manuscrit autographe lautet: „La réponse du marquis, s’il en fait une, fournira le commencement de ce récit. Mon père était avocat; […].“ 236 Zur Ausweitung der intendierten Leserschaft und der damit einhergehenden Verlagerung der mystification in der Préface-Annexe siehe Rebejkow, Jean-Christophe, „Double lecture, double écriture. La mystification en question dans la Préface de La Religieuse“, in: Studi settecenteschi 19 (1999), S. 145–165. 237 Coudreuse 1999b, S. 52: „Si le texte est écrit pour Croismare, il n’est réellement lisible que par le lecteur implicite qui comble les blancs du texte, destinés à ménager le marquis, déjoue les stratégies de la mauvaise foi et les jeux de l’ironie ou de la parodie, entend l’éclat de rire quand Croismare verse une larme.“

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scheint mir der ambige Status vor allem auf einer poetologischen Ebene verortet zu sein: Die kommunikationstheoretische Ambiguität des Incipit verleiht der Leserfigur Croismare einen metapoetischen Bezug. Durch den doppelten Status des Marquis als destinataire und message wird dem impliziten Leser nicht einfach ein nachzuahmendes Modell im Sinne einer Lektüreanweisung vorgegeben, sondern der Marquis wird gleichsam in seiner Funktion als Adressat zu einem Objekt der Anschauung gemacht. In Folge der Überarbeitungen wandelt sich der Status des Marquis als realer Leser zu einer dem Text eingeschriebenen Leserfigur, die durch intertextuelle Verweise zudem in einem bestimmten literarischen Kontext situierbar ist. Anders ausgedrückt: Nicht so sehr die Person des Marquis wird thematisch, als vielmehr seine Eigenschaften und Funktionen als Leser. Indem auf diese Weise der Adressat der Erzählung zum Objekt wird, wird auch die Art der Erzählung, die diesen Leser explizit anspricht, thematisch. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Charakterisierung des Marquis und deren intertextuelle Bezugnahmen Hinweise auf die Bezüge der folgenden Erzählung auf ein Paradigma des zeitgenössischen Literatursystems liefern können. Erinnern wir uns an dieser Stelle an die von Suzanne aufgezählten Eigenschaften des Marquis: „Il a de la naissance; des lumières; de l’esprit, de la gaieté, du goût pour les beaux-arts, et surtout de l’originalité. On m’a fait l’éloge de sa sensibilité, de son honneur et de sa probité […].“238 Dena Goodman hebt für die Funktion des Marquis die Epitheta lumières, esprit und originalité hervor, die ihn als Angehörigen der République des Lettres auswiesen und ihn damit als nachzuahmendes Vorbild für die anonyme Leserschaft qualifizierten.239 Es scheint jedoch, dass Forschungsbeiträge, welche die philosophischen Fähigkeiten Croismares und ihre Bedeutung in Hinblick auf dessen Vorbildfunktion betonen, die andere Seite seiner Charakterisierung vernachlässigen.240 Dabei erweist sich gerade diese seine andere Seite, seine außerordentliche sen-

238 Diderot, La Religieuse, S. 81. 239 Goodman, Dena, „Storytelling in the Republic of Letters: The Rhetorical Context of Diderot’s La Religieuse“, in: Nouvelles de la République des Lettres 1986/1 (1986), S. 51–70, insbes. S. 60. Goodmans Untersuchung liegt ein Konzept von ‚Aufklärung‘ zugrunde, das die République des Lettres zum rhetorischen Leitsystem erklärt, dessen Mitglieder gleichzeitig Bürger des absolutistischen Gesellschaftssystems sind. Das wirklichkeitstransformierende Potential der Aufklärung bestehe dem Modell zufolge in dieser doppelten ‚Bürgerschaft‘, die es den Mitgliedern der République des Lettres ermögliche, die in geschütztem Rahmen entworfenen Diskurse und Ideen in das Gesellschaftssystem des Absolutismus einzubringen. 240 Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Robert Ellrich („The Rhetoric of La Religieuse and Eighteenth-Century Forensic Rhetoric“, in: Diderot Studies 3 (1961), S. 129–154) dar, der in La Religieuse aufgrund der rhetorischen Strukturierung die fiktionale Inszenierung einer juristischen Gerichtsrede erkennt, innerhalb derer der Marquis de Croismare die Position des Richters einnehme. Als epochentypisches Merkmal der Gerichtsrede konstituiere sich diese in ihrer Verbindung von argumentativen und affektstimulierenden Passagen, für die der Richter folglich idealerweise gleichermaßen empfänglich sein müsse. Das Problem dieses Ansatzes liegt jedoch darin, dass er die unzweifelhafte Unschuld der Erzählinstanz voraussetzt und zum zentralen wirkungsästhetischen Prinzip erklärt; vgl. Ellrich 1961, S. 146: „[…] the tale is morally beautiful because it tells of

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sibilité, für die wirkungsästhetische Ökonomie des Werkes von zentraler Bedeutung. Indem der Marquis durch den Verweis auf seine sensibilité von Beginn an in die Position des empfindsamen Lesers gesetzt wird, wird die Empfindsamkeit als interpretationsrelevantes Erzählparadigma aufgerufen und gleich eingangs eine bestimmte – eben empfindsame – Rezeptionshaltung gefordert. Hierbei erfüllt die Empfindsamkeit als psychologische Qualität eine doppelte Funktion: Zum einen ist die Fähigkeit des Marquis zur empathischen Teilhabe, kombiniert mit einem ausgeprägten Sinn für Tugend und Moral, der für den Begriff der sensibilité im 18. Jahrhundert spezifisch ist,241 die Voraussetzung dafür, dass Suzanne mit ihrem Hilfegesuch an ihn überhaupt Erfolg haben kann. Zum anderen fungiert diese Qualität als strukturelle Vorgabe für Suzannes Diskurs, der so konstruiert sein muss, dass er das Mitgefühl des Marquis stimuliert und ihn zum Handeln verleitet. Während der Verweis auf die sensibilité des ersten Ziellesers die Empfindsamkeit und ihre erzählerische Aktualisierung folglich explizit aufruft, lässt sich mithilfe intertextueller Bezüge auf Diderots empfindsame Poetik im Éloge de Richardson rekonstruieren, in wie fern die Charakterisierungspassage auch implizit die zentrale Stellung der Empfindsamkeit innerhalb der Wirkungsästhetik des Romans kodiert. Folgende Formulierung im Éloge resümiert den Zusammenhang von bestimmten Charaktereigenschaften eines (idealen) Lesers und dessen Vorliebe für die empfindsamen Briefromane Richardsons: „Plus on a l’âme belle, plus on a le goût exquis et pur, plus on connaît la nature, plus on aime la vérité, plus on estime les ouvrages de Richardson.“242 Ein Vergleich der in dieser Stelle formulierten Merkmale mit den Eigenschaften des Marquis zeigt, dass Erstere gewissermaßen die Oberbegriffe für Letztere bereitstellen bzw. anders herum ausgedrückt, dass es sich bei den Merkmalen des Marquis um eine Konkretisierung der im Éloge allgemein gehaltenen Eigenschaften des empfindsamen Lesers handelt: Die Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit, das fröhliche Gemüt und insbesondere die sensibilité des Marquis lassen sich als das zusammenfassen, was im Éloge als „âme belle“ verallgemeinert wird; Croismares „goût pour les beaux-arts“ ist ein Beispiel für den dort geforderten „gôut exquis et pure“; eine connaissance de la nature erlangte der betagte Marquis in seinen Stellungen in monde und service; der Wahrheitsliebe im Éloge entsprechen dessen philosophische Attribute lumières und esprit. Dass Diderot in seinen Überarbeitungen von La Religieuse mit der Figur des Marquis folglich genau jenen Leser entwirft, dessen Eigenschaften er 1762 dem empfindinnocence suffering at the hands of injustice and cruelty, and because innocence does not flag.“ (Herv. i. O.) So überzeugend es auch sein mag, die Diskrepanzen des Textes mittels des Verweises auf einen Diskurstyp der Epoche zu erklären, so problematisch ist es, Suzannes Erzählposition unkritisch als unschuldige Entität zu übernehmen und zu ignorieren, dass zentrale Diskrepanzen des Werkes gerade auf die Fragwürdigkeit ihrer Unschuldsbehauptung zurückgeführt werden können. Dieses Argument wird in Kap. 2.4.2. weiter ausgeführt. 241 Vgl. oben Abschnitt 1.2.3. 242 Diderot, Éloge de Richardson, S. 197.

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samen Richardson-Leser zuschreibt,243 lässt sich an einer weiteren Textstelle des Éloge verdeutlichen: Les détails de Richardson déplaisent et doivent déplaire à un homme frivole et dissipé; mais ce n’est pas pour cet homme-là qu’il écrivait; c’est pour l’homme tranquille et solitaire, qui a connu la vanité du bruit et des amusements du monde, et qui aime à habiter l’ombre d’une retraite, et à s’attendrir utilement dans le silence.244

Diderot konfrontiert hier jene Kritiker, die den Romanen Richardsons einen langatmigen – und damit gänzlich unfranzösischen – Detailreichtum vorwerfen. Im Gegensatz zu jenem „homme frivole et dissipé“, dessen Leben mit den kurzweiligen Vergnügungen der Hauptstadt ausgefüllt ist, wende sich Richardson an den der frivolen amusements überdrüssigen, gereiften Leser, der nach einem Leben dans le monde die Muße der Zurückgezogenheit genießt. Es sei daran erinnert, dass sich der reale Marquis de Croismare Grimms Darstellung in der Correspondance littéraire zufolge nach dem Tod seiner Söhne aus dem Pariser Leben in die Abgeschiedenheit seines normannischen Landsitzes zurückzog, um sich dort den bescheidenen Freuden des Landlebens zu widmen.245 Wichtiger als eine mögliche Referenz auf einen realen Umstand erscheint mir jedoch, dass sich der Inhalt dieser Textstelle des Éloge mit den Lebensumständen der im Incipit von La Religieuse porträtierten Figur des Lesers Croismare deckt. Die dortige Verwendung des passé composé („il s’est illustré au service“; „il a été marié“) macht die Abgeschlossenheit des aktiven Gesellschaftslebens und eine geistige Reife der Croismare-Figur zur Erfolgsvoraussetzung von Suzannes empfindsamem Anliegen. Mittels dieser subtilen intertextuellen Beziehung zwischen der Porträtpassage in La Religieuse und der Lesercharakterisierung im Éloge wird Croismare als ein Leser gewürdigt – und qua Referenz auf Richardson gewissermaßen nobilitiert –, der die Details in Suzannes récit auf einer ästhetischen Ebene zu würdigen weiß. Gleichzeitig wird eben dieser Detailreichtum, der aus streng pragmatischer Sicht erstaunlich ist, handelt es sich Suzannes Formulierung zufolge doch um einen „naiven“ Bericht auf der Grundlage bloßer Erinnerungen, auf einer poetologischen Ebene plausibel, indem mittels des genannten Bezugs eine Verbindung zur Poetik des Éloge hergestellt wird. Anschließend an die spezifische Funktion des Details in der empfindsam-illusionis-

243 Diese Beobachtung kann als Illustration für Sauders Bemerkungen zum ‚performativen‘ Status der empfindsamen Leserinstanz gelten, die durch Paratexte oder lektürelenkende Erzählerkommentare für die Lektüre des empfindsamen Textes erst geschaffen werden müsse: „Für die Romanautoren der siebziger Jahre, die noch in der rhetorischen Tradition erzogen wurden, war der ‚empfindsame Leser‘ keine Selbstverständlichkeit; er musste im Kontext der bereits vorhandenen lebensweltlichen Erfahrungen von Empfindsamkeit in seiner spezifischen Funktion als Romanleser erst geschaffen werden.“ (Sauder 1983, S. 14) 244 Diderot, Éloge de Richardson, S. 197. 245 Préface du précédent ouvrage, tirée de la Correspondance littéraire de M. Grimm, année 1760, in: Diderot, La Religieuse, S. 27–68, hier S. 27.

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tischen Poetik wird der Erzählakt in La Religieuse in einem empfindsamen Kontext situiert. Aus dem zitierten intertextuellen Bezug von La Religieuse auf den Éloge de Richardson wird implizit eine Relation zwischen der literarischen Verarbeitung des Details und einer bestimmten, empfindsam-moralischen Leserdisposition hergestellt, die sich auch in der moralbildenden Funktion des beabsichtigen attendrissement niederschlägt (vgl. „s’attendrir utilement“). Auch diese poetologische Beziehung sorgt am Anfang des Romans für dessen Einschreibung in die empfindsame Tradition. Der bisher in der Forschung vernachlässigte intertextuelle Bezug des Incipit von La Religieuse zu Diderots Poetik im Éloge de Richardson verdeutlicht, dass die in dieser Arbeit unternommene Verortung des Textes in der Tradition der Empfindsamkeit keine willkürliche Setzung ist. Vielmehr kann sich diese Deutung auf Zuordnungen berufen, die der Text selbst vornimmt. Er beruft sich damit auf ein Modell des Erzählens, das Diderot in seiner Lobschrift auf Richardson sowohl in den Beschreibungen von Lektüresituationen als auch in den Charakterisierungen des Lesers Richardson’scher Romane als ein empfindsames hervorhebt. Dabei ist die Tatsache, dass die Charakterisierung Croismares erst während der Überarbeitungen zwischen 1780 und 1782 der Originalversion hinzugefügt wurde, nicht nur ein Argument für die Ausweitung des intendierten Leserkreises; sie ist darüber hinaus ein Beleg für Diderots Bemühen, seinen Text auch mittels intertextueller Bezüge in eine empfindsame Tradition zu stellen und diesen Bezug nachträglich zu stärken. Gleichwohl wird diese Zuordnung durch die Dopplung der Kommunikationssituation (vous/il), die durch die nachträgliche Ergänzung der Charakterisierungspassage erst erzeugt wird, immer schon metapoetisch reflektiert. Hierin liegt der ambige Status der Passage: Indem der Marquis als empfindsamer Leser eingesetzt und markiert, diese Empfindsamkeit über die zweite Kommunikationsebene gleichzeitig thematisch wird, wird das empfindsame Erzählen als gültige Systemreferenz aufgerufen und diese Referenz gleichzeitig zur Reflexion geöffnet. Zwar ist das Paradoxon der Kommunikationssituation im Kern bereits im Originalmanuskript angelegt („La réponse du marquis, s’il m’en fait une, fournira le commencement de ce récit. Mon père était avocat […].“).246 Die Tatsache, dass Diderot in seinen Überarbeitungsschritten diese Diskrepanz nicht behebt, sondern durch die Ausarbeitung einer Charakterisierung der Leserfigur noch verschärft, macht jedoch deutlich, dass es ihm nicht nur um die Einschreibung in den empfindsamen Diskurs geht. Vielmehr wird diese Einschreibung durch das widersprüchliche Kommunikationsschema gleichsam auf subtile Weise Gegenstand einer metapoetischen Reflexionsebene. Diese Reflexion betrifft über den Status des Marquis hinaus das empfindsame Erzählverfahren des Textes insgesamt. Für die weitere Interpretation des Romans wird diese subtile anfängliche Ambiguität hinsichtlich der empfindsamen Narration des Textes von Bedeutung sein.

246 Diderot, La Religieuse, S. 81.

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2.2.2.2 Die empfindsame Rahmung II: Die Konstruktion der unschuldigen Heldin Das Incipit erweitert den durch die Einführung der sensiblen Leserfigur kreierten empfindsamen Rahmen durch ein Selbstporträt der Erzählerin. Suzanne selbst macht deutlich, dass die Art und Weise ihrer Eigendarstellung eng mit der explizit ausgewiesenen Zielsetzung ihrer Narration verknüpft ist. Ihre Intention, den Marquis zum helfenden Handeln zu bewegen („à changer mon sort“), setzt einerseits einen bestimmten Modus der Narration voraus, andererseits einen bestimmten Charakter der Hilfesuchenden. Beides wird in Suzannes einleitenden Worten programmatisch vorweggenommen: […] mais il n’est pas à présumer qu’il se détermine à changer mon sort sans savoir qui je suis; et c’est ce motif qui me résout à vaincre mon amour-propre et ma répugnance, en entreprenant ces Mémoires où je peins une partie de mes malheurs sans talent et sans art, avec la naïveté d’un enfant de mon âge et la franchise de mon caractère.247

Mit dieser kurzen Einleitung ist das Programm des nun folgenden récit festgelegt. Suzannes Selbstporträt führt eine Protagonistin ein, als deren maßgebliche Eigenschaften eine jugendliche Naivität und Aufrichtigkeit angegeben werden. Diese Merkmale werden als wiederkehrende Elemente die Fluchtpunkte des Erzählens bilden. Ohne dass die malheurs, deren Opfer die Erzählerin im Laufe ihres bis dato kurzen Lebens wurde, an dieser Stelle bereits näher spezifiziert würden, wird ein abstrakter Begriff von Unglück mittels Juxtaposition mit ihrer jugendlichen Naivität konfrontiert. Das von dieser Konfrontation erzeugte rezeptionslenkende Bild ist jenes einer unschuldig leidenden Protagonistin. Mit dem Rezipienten, einem bestimmten thematischen Objekt sowie dem Subjekt der Narration sind die Grundvoraussetzungen empfindsamen Erzählens im Incipit somit geschaffen. Mit dem Verweis auf Suzannes ungekünstelten jugendlichen Charakter legt das Selbstporträt des Incipit den Grundstein für jenen Aspekt, der Suzannes récit strukturell wie inhaltlich bestimmt und der als zentrales rezeptionslenkendes Element ihrer Narration gelten kann: ihre Unschuld. Es liegt in Suzannes wirkungsstrategischem Interesse, sich als unschuldiges Opfer übermächtiger Kräfte in Szene zu setzen.248 Der Erfolg von Suzannes Anliegen an den Marquis hängt dabei maßgeblich davon ab, wie stark sie ihn mit der narrativen Darstellung ihrer malheurs emotional zu affizieren und 247 Ebd., S. 82. 248 Hinsichtlich der Wirkungsästhetik des Romans handelt es sich bei Suzannes Wirkungsintention und dem im Hinblick auf diese Intention verwendeten diskursiven Verfahren nur um einen Aspekt in der Gesamtästhetik des Textes, die in ihrer Gesamtheit dem Verantwortungsbereich des Textautors, nicht der Erzählerfigur Suzanne Simonin zuzurechnen ist. Die Unschuldsbehauptungen der Erzählerfigur werden, in mal mehr, mal weniger subtiler Weise, durch die Hand des Autors auf ein höheres Ziel hin gelenkt und dafür refunktionalisiert.

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in ihren récit zu involvieren vermag. Eine nach dualistischen Prinzipien angelegte histoire, in der Suzanne den Pol des Unschuldigen und Guten bezieht, während der Familie Simonin und der Institution Kloster gemeinsam der Pol des Korrupten zugewiesen wird, ist geeignet, den Leser mit der Protagonistin zu solidarisieren. In der Eingangsdarstellung der familiären Beziehungen wird diese dualistische Struktur mittels des Aschenputtel-Motivs konstruiert: Mon père était avocat. Il avait épousé ma mère dans un âge assez avancé; il en eut trois filles. Il avait plus de fortune qu’il n’en fallait pour les établir solidement; mais pour cela il fallait au moins que sa tendresse fut également partagée, et il s’en manque bien que j’en puisse faire cet éloge. Certainement je valais mieux que mes sœurs par les agréments de l’esprit et de la figure, le caractère et les talents, et il semblait que mes parents en fussent affligés. Ce que la nature et l’application m’avaient accordé d’avantages sur elles devenant pour moi une source de chagrins; afin d’être aimée, chérie, fêtée, excusée toujours comme elles l’étaient, dès mes plus jeunes ans j’ai désiré de leur ressembler.249

Suzannes Überlegenheit über ihre Schwestern wird ihr in doppelter Hinsicht zum Verhängnis, weil sie zum einen dem Vater die Verfehlung der des Ehebruchs verdächtigten Mutter stets vor Augen führt und zum anderen die Heiratsaussichten der Schwestern schmälert. Dass der Vater sein Vermögen in der Mitgift der Schwestern verausgabt und der unehelichen Tochter so die Aussicht auf eine standesgemäße Vermählung nimmt, ist handlungsmotivisch betrachtet bereits eine ausreichend plausible Motivation für Suzannes erzwungenen Klosterbeitritt. Zumal es sich bei dieser Art der vocation forcée um eine verbreitete und beim zeitgenössischen Leser als bekannt vorauszusetzende Interpretation klösterlicher Praktiken im 18. Jahrhundert handelt,250 die die literarische Fiktion in der Realität des Lesers verankert. Für das wirkungsästhetische Ziel der Mitleiderregung ist die beschriebene familienpolitische Ausgangslage für sich genommen bereits ausreichend, um Suzanne im Handlungsgefüge des Romans die Position des Opfers zuzuweisen. Dass diese familiäre Konstellation Suzannes Profess ausweglos erscheinen lässt, birgt ein tragisches Potential, das durch die religiösen Anschauungen der Mutter eine zusätzliche Steigerung erfährt. Als Sündenbock für den mütterlichen Ehebruch ist Suzanne Opfer einer kruden Interpretation von Interzession, die das jenseitige Schicksal der sündigen Mutter von dem Betragen der unschuldigen Tochter im Diesseits abhängig macht. Im Kontrast von Suzannes fehlender religiöser Berufung mit dem ihr auf249 Diderot, La Religieuse, S. 83. 250 Eine historische Einordnung der vocation forcée-Problematik liefert Choudhury, Mita, Convents and Nuns in Eighteenth-Century French Politics, Ithaca/London 2004; dort insbes. das Kapitel „The vocation forcée in French political and literary culture, 1740–1789“ (S. 98–128). Die Verfasserin argumentiert, dass es sich bei der vocation forcée entgegen der geläufigen Auffassung nicht um eine statistisch relevante gesellschaftliche Praxis handele, sondern um den Kern eines die opinion publique regierenden anti-monastischen Narrativs.

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erzwungenen Lebensweg wird die Tragik der Ausgangssituation verschärft. Mit der Integration des Sühnekonfliktes verkompliziert Diderot die Intrige um Suzannes vocation forcée und enthebt sie dem Kontext der (bürgerlichen wie aristokratischen) Alltäglichkeit, indem er den Konflikt um unterschiedliche Auffassungen von individueller Freiheit um eine Perspektive religiöser Gewissensmotive erweitert. Die Komplexität dieser Ausgangssituation gibt dem Leser zu verstehen, dass alle Elemente der Konfliktsituation auf Suzannes erzwungene Profess hinauslaufen. Somit wird die Figur Suzanne als dreifaches unschuldiges Opfer etabliert: als Opfer eines familienpolitischen Manövers in Verbindung mit einer als vocation forcée bekannten soziokulturellen Praxis der Zeit, einer pervertierten religiösen Konzeption von Schuld und Sühne, sowie roher menschlicher Leidenschaften (Gier und Neid seitens der Schwestern, Eifersucht und Rache seitens des Stiefvaters). Diese dreifache Viktimisierung stabilisiert die Funktion der Figur Suzanne in der wirkungsästhetischen Anlage des Romans.251 Dass Suzannes Charakterisierung als unschuldiges Opfer über die explizite Zielsetzung des Hilfeappells hinaus durch die empfindsame Tradition gleichsam vorgegeben ist, offenbart ein Blick in verschiedene Aktualisierungen des empfindsamen Paradigmas im 18. Jahrhundert. Im Hinblick auf die Konstellation von ‚verfolgter Unschuld‘ und ‚empfindsamem Advokaten‘ – diese Position wird in Suzannes Fall von ihrem Anwalt Manouri besetzt – wird aus den von Hans-Jürgen Lüsebrink aufgearbeiteten juristischen Prozessakten ersichtlich, dass die Unschuld der weiblichen Angeklagten zu einem Topos der forensischen Rhetorik des Ancien Régime verfestigt ist.252 Lüsebrink zeigt, dass die Strategie der Verteidiger in ihren öffentlichen Plädoyerschriften darin bestand, der Angeklagten mittels auf Pathos ausgerichteter rhetorischer Verfahren die Rolle des unschuldigen Opfers einer Intrige zuzuweisen und auf diese Weise die Anteilnahme der breiten Öffentlichkeit zu erregen. In dieser Strategie konnte der Begriff der sensibilité in seiner semantischen Breite sowohl die Tugend der Angeklagten als auch das karitative Engagement ihrer Verteidiger sowie den empathischen Aufschrei der Öffentlichkeit umfassen. Dabei galt der öffentlichen Meinung die Unschuld der Angeklagten qua erfolgreicher Mitleiderregung praktisch als erwiesen. Wenn Suzanne ihrem Anwalt Manouri vorwirft, seinem Plädoyer fehle es an Pathos,253 kann sie

251

Auch Inge Beisel weist darauf hin, dass die Figurenkonstellation insofern rezeptionsästhetische Relevanz besitze, als sie als Negativfolie diene, vor deren Hintergrund sich die positive Identifikation des Lesers mit Suzanne entfalten könne; siehe Beisel, Inge, Ästhetischer Anspruch und narrative Praxis: Zur Koautorschaft des Lesers in französischen Romanen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1991, S. 95. 252 Lüsebrink, Hans-Jürgen, „Die verfolgte Unschuld und ihre Advokaten – Zur Rhetorik und öffentlichen Wirkung empfindsamer Rede im Frankreich des 18. Jahrhunderts“, in: Empfindsamkeiten, hg. v. K. P. Hansen, Passau 1990, S. 121–135. Lüsebrink konzentriert sich auf Fälle ‚verfolgter Unschuld‘, in denen eine dem einfachen Volk entstammende Angeklagte Opfer von Nachstellungen seitens eines aristokratischen libertin wurde. 253 Diderot, La Religieuse, S. 181.

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sich folglich auf diesen Konnex von empfindsamem Mitleid und öffentlicher Schuldzuweisung berufen. Nach Manouris Scheitern obliegt es nun der Erzählerin selbst, den Leser durch Rührung von ihrer Unschuld zu überzeugen.254 Ihr Selbstporträt lässt sich damit – auch – in einem institutionalisierten Kontext rhetorischer Verfahren und Zielsetzungen der zeitgenössischen Gerichtspraxis situieren, in der ihre Unschuldsbehauptung als topisches Element einer Kommunikationsstrategie fungiert, die ihrerseits in der empfindsamen Prägung der Kultur des 18. Jahrhunderts fundiert ist. In wie weit ein solcher ‚forensischer‘ Unschuldstopos in La Religieuse mit im engeren Sinne literarischen Modellen der ‚verfolgten Unschuld‘ verwoben ist, gilt es nun zu zeigen. Im vorigen Abschnitt konnte dargelegt werden, dass Diderot seinen Roman anhand einer Reihe von intertextuellen Verweisen in die empfindsame Tradition stellt, indem er Suzannes Adressaten gemäß der im Éloge de Richardson entworfenen Skizze eines Richardson-Lesers modelliert. Auch in der Anlage der Figur Suzanne lassen sich Bezüge zu den die Romane des Engländers strukturierenden Handlungs- und Konfliktmustern herstellen. Als Nukleus eines familien- und finanzpolitischen Konfliktes (Clarissa) bzw. der komplex angelegten Verführungspläne skrupelloser libertins (Pamela und Clarissa) sind Richardsons berühmte Heldinnen vor allem Opfer einer ihre Freiheit beschneidenden Intrige. Allen Widrigkeiten zum Trotz bleibt ihre Tugend und moralische Souveränität jedoch unangetastet.255 Mit der standhaften Heldin wird dem empfindsamen Leser ein moralisches Modell geboten, das erst im Kontrast von Tugend und Leiderfahrung sein volles Interesse entfaltet: Qui est-ce qui voudrait être Lovelace avec tous ses avantages? Qui est-ce qui ne voudrait pas être Clarisse malgré toutes ses infortunes? Souvent j’ai dit en le lisant: Je donnerais volontiers ma vie pour ressembler à celle-ci; j’aimerais mieux être mort que d’être celui-là.256

Diderots Faszination für „l’infortunée Clarisse“257 bildet die Folie, vor deren Hintergrund die Figur Suzanne sich entfaltet und absetzt. Auch in diesem Sinne ist die Unschuld der Suzanne als Topos zu begreifen, da sie als notwendiges Element des empfindsamen Diskurses die Erwartungen des empfindsam vorgebildeten Lesers erfüllt. Bereits ein oberflächlicher Textvergleich von Diderots La Religieuse und Richardsons Clarissa Harlowe lässt hinsichtlich des Ausgangskonfliktes Parallelen erkennen. Der empfindsam-literarisch vorgebildete Leser fühlt sich angesichts der Heirats- und Eifersuchtskabale in La Religieuse zwangsläufig an die Ausgangssituation von Clarissas Geschichte erinnert, in der der anfangs von der Schwester begehrte Lovelace die jüngere Clarissa vorzieht.

254 Lüsebrink 1990, S. 125. 255 Dass Clarissas Entführer sich ihrer letztlich nur unter Zuhilfenahme von Betäubungsmitteln bemächtigen kann, stellt die Kompromisslosigkeit ihrer Tugend umso eindrucksvoller unter Beweis. 256 Diderot, Éloge de Richardson, S. 195. 257 Ebd., S. 199.

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Sofern der Leser mit dem Verlauf von Clarissas mitleiderregender History vertraut ist, ist er auch im Falle der Suzanne geneigt, in ihrem nun folgenden Bericht tragische Wendungen zu erwarten. Indem auf diese Weise Elemente des empfindsamen Literaturkanons mittels Ähnlichkeiten in der Handlungskonstellation aufgerufen werden, wird die Disposition des Rezipienten von Anfang an auf eine bestimmte Tendenz (Mitgefühl) hin aktiviert. Beachtenswert ist hierbei, dass die empathische Einstellung des Lesers sowohl über die Inhalte von Suzannes familiärer und moralischer Konfliktsituation, d. h. über die Inhalte der histoire, als auch über das literarische Vorwissen des Lesers, der sogleich Bezüge zu einem erwartbaren Inhalt herstellt, beeinflusst wird. Dem Autor gelingt es, auf der Grundlage einer intertextuellen Ähnlichkeitsbeziehung der Ausgangskonstellationen in La Religieuse und Clarissa Harlowe eine mitfühlende Disposition des Lesers zu aktivieren, indem er auf der Basis von dessen literarischem Vorwissen eine Erwartungshaltung stimuliert, die qua Gewohnheit eine mitfühlende Lektüre induziert. Einen zusätzlichen und bedeutenden Hinweis auf den topischen Charakter einer ‚verfolgten Unschuld‘ liefert eine Textstelle aus Diderots Jacques le fataliste et son maître, die sich für einen Vergleich mit der narrativen Gestaltung von Suzannes récit anbietet. Es handelt sich um jene Zusammenfassung der wirkungsästhetischen Leitprinzipien romanesken Erzählens, die Jacques’ Herr als Reaktion auf die von der Wirtin vorgetragene Erzählung um die Madame de la Pommeraye formuliert. Die Bewertung des Herrn betrifft die Charakterdarstellung der jungen Dirne, die seitens der Pommeraye als Instrument der Rache an dem Marquis des Arcis eingesetzt wird: „Si vous vouliez que cette fille intéressât, il fallait lui donner de la franchise, et nous la montrer la victime innocente et forcée de sa mère et de La Pommeraye […].“258 Diese Textstelle bietet sich als metapoetischer Kommentar zu der erzählerischen Ausgestaltung von Suzannes histoire in La Religieuse in geradezu auffälliger Weise an. ‚Interessant‘ ist den kurzen Ausführungen des Herrn zufolge eine zum unschuldigen Opfer stilisierte (weibliche) Figur. Als Verständnishorizont für das betreffende Verb intéresser vgl. folgende Definition des Dictionnaire de Trévoux: „Intéresser, se dit aussi en Morale, pour émouvoir, toucher de quelque passion.“259 Von ‚Interesse‘ ist demnach, was den Leser geistig und emotional bewegt, ihm (Mit-)Gefühl einflößt. Über die semantische Konnotation des Verbes intéresser verweist der Herr folglich auf einen für das empfindsame Erzählen spezifischen Zusammenhang von einem als ‚verfolgte Unschuld‘ resümierbaren Inhalt des Geschehens einerseits, einer die Empathie des Lesers stimulierenden – pathetischen – Gestaltung dieses Inhalts sowie der mitfühlenden Rezipientendisposition andererseits.

258 Diderot, Denis, Jacques le fataliste et son maître, hg. v. J. Proust, DPV, Bd. 23, 1981, S. 169, Herv. d. Vf.in. Wie in Abschnitt 2.4.1. zu zeigen sein wird, ist der Begriff der franchise im Hinblick auf Suzannes erzählerische Zuverlässigkeit zu problematisieren. 259 s. v. ‚intéresser‘, in: Dictionnaire universel françois et latin, vulgairement appelé Dictionnaire de Trévoux, Paris 61771.

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2.2.2.3 Das Altersproblem der Protagonistin im Kontext der Unschuldsbehauptung Für Suzannes Unschuldsbehauptung ist charakteristisch, dass sie mit einer betonten Kindlichkeit der Protagonistin verbunden ist, die sich gleich eingangs auf die spezifische Unschuld eines Kindes beruft: „avec la naïveté d’un enfant de mon âge“.260 Der Verweis auf ihre jugendliche Naivität lässt die stets betonte Unschuld nicht als Ergebnis eines moralischen Reifungsprozesses, sondern im Gegenteil als natürlicher, folglich unreflektierter Aspekt von Kindlichkeit erscheinen. Dass Suzanne entgegen jeglicher chronologischer Wahrscheinlichkeit auf ihrem jugendlichen Alter beharrt, ist im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Narration ein problematischer und in Forschungsbeiträgen wiederholt kritisch kommentierter Aspekt: Suzannes Bezeichnung als „enfant“ steht in eklatantem Widerspruch zur Chronologie der erzählten histoire.261 In Anbetracht der Tatsache, dass Suzanne seit Beginn ihres Noviziats im Alter von „seize ans et demi“262 immerhin zehn Jahre in verschiedenen Klöstern verbrachte, scheint die Deklarierung als ‚Kind‘ nicht nur unangebracht; die Angaben, die Suzanne im Laufe ihres récit über ihr Alter liefert, sind mit der Chronologie des Geschehens schlicht nicht vereinbar. Dem Herausgeber der größten Wissenssammlung seiner Zeit und Autor naturphilosophischer Schriften hier mangelndes Rechenvermögen vorzuwerfen, wäre allerdings wenig überzeugend. Der problematische Aspekt der Altersangaben bzw. der ostentativ betonten Jugendlichkeit ist daher auf seine (wirkungsästhetische) Funktion hin zu befragen. Georges May argumentiert zu Recht für die Funktion der Unschuld für die Figur der Suzanne: „Il est probable que la répugnance qu’éprouve Diderot à laisser vieillir son héroïne est due principalement au rôle capital que joue dans le roman l’innocence et la pureté de la jeune fille, qualités qui demeurent dans la pensée de l’écrivain une fonction, sinon un apanage de sa jeunesse.“263 Und doch ist Mays Argumentation in einigen Punkten zu differenzieren. Es ist unbestreitbar, dass die Unschuld in Suzannes Anliegen an den Marquis eine zentrale Funktion erfüllt. Die Formulierung Mays vernachlässigt es jedoch, die Wirkungsintention der fiktiven Erzählerin von derjenigen des Romanautors zu unterscheiden. Dem Problem, dass die fiktive Erzählerin offensichtlich nicht darauf abzielt, eine ‚Klostersatire‘ zu schreiben, wohingegen Diderot ebendiese Bezeichnung für seinen Text wählt,264 lässt sich nur begegnen, indem unterschiedliche Ebenen der Wirkungsästhetik in Rechnung gestellt werden. Grundsätzlich besteht ein wesentliches Problem der Religieuse-Forschung darin, dass die Kommuni260 Diderot, La Religieuse, S. 82. 261 Georges May rechnet im kritischen Apparat zu La Religieuse vor, dass Suzanne bei ihrer Flucht aus St. Eutrope – also zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Redaktion ihres mémoire beginnt – kaum jünger als 25 Jahre sein kann; siehe Diderot, La Religieuse, Anm. 3 auf S. 289 f. 262 Diderot, La Religieuse, S. 86. 263 Ebd., S. 290. 264 Brief an Wilhelm Meister vom 27. September 1780, zitiert nach Diderot, Correspondance, S. 1309.

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kationsebenen der Erzählerin Suzanne und des Autors Diderot nicht hinreichend differenziert werden. Im Falle der autodiegetischen Erzählsituation in La Religieuse sind die problematischen Angaben über Suzannes Alter zunächst dem Verantwortungsbereich der Erzählerin zuzurechnen. Dort dienen sie der rhetorischen Unterstreichung ihrer Unschuld, die für den Erfolg von Suzannes Hilfegesuch an den Marquis durchaus ausschlaggebend sind. Auf einer übergeordneten Analyseebene können diese diskursiven Elemente nach ihrer Funktion auch innerhalb einer auktorial angelegten Wirkungsästhetik befragt werden. Aus den verschiedenen Bearbeitungsstufen des manuscrit autographe wird ersichtlich, dass auch die Angaben zu Suzannes Alter von Diderot mehrfach geändert wurden. Von einer Unachtsamkeit seitens des Autors zu sprechen, würde daher bedeuten, die Realität des Textgeneseprozesses zu ignorieren. Erstaunlich ist dabei, dass Diderot seine Erzählerin im Zuge der Korrekturen zunehmend verjüngt hat,265 ohne die Diskrepanzen zwischen diesen Altersangaben und der histoire-Chronologie, die bereits vor diesen Korrekturen vorhanden waren, zu beheben: Trotz der Überarbeitung lässt Diderot seine Heldin nicht dem histoire-Verlauf entsprechend altern. Suzannes Erzählung liegen damit sowohl in der Originalversion als auch in der finalen Fassung zwei Chronologien zugrunde: einerseits die Abfolge der Ereignisse, andererseits die Chronologie ihres Alters, die Ersterer in ganz offensichtlicher Weise widerspricht: „[Suzanne] vieillit selon un écoulement du temps beaucoup moins rapide“, so May.266 Die Tatsache, dass Diderot diese Diskrepanz auch in wiederholter Überarbeitung nicht korrigierte, lässt den Schluss zu, dass er der chronologischen Kohärenz und damit der internen Wahrscheinlichkeit des récit weniger Bedeutung beimaß als der Hervorhebung bestimmter Attribute der Erzählerin, die mit Jugendlichkeit in Verbindung gebracht werden. Als bewusste Setzungen des Autors – und davon ist angesichts des dokumentierten Bearbeitungsaufwandes auszugehen – erfüllen die Altersangaben eine maßgebliche Funktion in der Charakterisierung der Protagonistin und innerhalb der Gesamtökonomie des Romans. Die Frage nach der Intentionalität dieser und anderer Diskrepanzen wird in Abschnitt 2.4. näher untersucht. Mit Blick auf den Zusammenhang von topischer Unschuld, Jugendlichkeit und inkohärenten Altersangaben lässt sich festhalten: Ein Desinteresse des Autors an (chrono-)logischer Kohärenz erscheint in Anbetracht der Erkenntnisse über die Textgenese und Diderots naturphilosophischer Betätigungen unwahrscheinlich. Geht man hingegen von der Intentionalität dieser Diskrepanzen aus, so erfüllen sie als bedeutungsbildende Elemente eine Funktion in der Gesamtanlage des Romans. Die diskrepanten Chronologien erklären sich aus der Besonderheit 265 Siehe z. B. Diderot, La Religieuse, S. 107: Aus „une fille de dix-neuf à vingt ans“ (manuscrit autographe) wird „une fille de dix-sept à dix-huit ans“. 266 Ebd., S. 290. Siehe auch Stewart, Philip, „A Note on Chronology in La Religieuse“, in: Romance Notes 12 (1970), S. 149–156.

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der autodiegetischen Erzählsituation. Suzannes Alter erfüllt sowohl in der Wirkungsstrategie der fiktiven Erzählerin als auch in Diderots wirkungsästhetischer Komposition eine Funktion: Wo es für Suzanne nötig ist, ihrer Selbstdarstellung als unschuldiges Opfer durch ein jugendliches Alter Nachdruck zu verleihen, deuten die chronologischen Ungereimtheiten auf die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz hin. Gleichzeitig wird durch die offensichtliche Inadäquatheit der Altersangaben der topische Charakter der Unschuld in Suzannes Diskurs und in der empfindsamen Tradition exponiert. Für Suzanne ist ihre Unschuld ein strategischer Faktor in ihrem Gesuch an den Marquis; für Diderot ist sie ein Grundelement des empfindsamen Diskurses, das in der Figur Suzanne zwar bedient wird, dessen Ambivalenzen jedoch immer schon deutlich mittransportiert werden. Dass die topische Unschuld im zweiten Teil des Romans durch die Häufigkeit und zweifelhafte Aufrichtigkeit der Beteuerungen eine zunehmende Sinnentleerung erfährt, ist Teil einer wirkungsästhetischen Umwertung, die gleichsam auf einer inhaltlichen Verlagerung des Unschuldsbegriffs beruht. Während im ersten Teil des Romans Suzannes Unschuld in ihrer Funktion als Opfer unterschiedlicher gegen ihre Person gerichteter Kräfte zur Darstellung gebracht wird, bedeutet ‚Unschuld‘ im zweiten Teil, d. h. nach dem Umzug von Longchamp nach St. Eutrope d’Arpajon, vor allem sexuelle Unbeflecktheit und Unerfahrenheit in Sinnesangelegenheiten. Aus der narrativen Gestaltung dieser zwei Auffassungen von Unschuld resultieren grundsätzlich verschiedene Einstellungen des Lesers zum Subjekt der Narration und damit zur Erzählung an sich.267 Suzannes Diskurs und der Diskurs einer übergeordneten Autorinstanz, die Ersteren in letzter Konsequenz zu verantworten hat, berufen sich auf unterschiedliche Leserkonstrukte. Allgemeiner formuliert: Über dem discours der autodiegetischen Erzählerin ist eine zweite Ebene einer auktorialen Instanz zu identifizieren, auf der die spezifischen Merkmale dieser Narration refunktionalisiert werden.268 Auf dieser Narrationsebene lässt sich bereits im ersten Teil von La Religieuse aufzeigen, in wie fern das in Suzannes empfindsamer Erzählstrategie kodierte wirkungsästhetische Konstrukt überschritten wird. Das von Suzannes Diskursstrategien entworfene Konstrukt des mit der unschuldig Leidenden empfindsam mitfühlenden Lesers ist dabei zwar auch für Diderots Kloster- bzw. Religionskritik essentiell, weil es den Leser für die kritische Botschaft prädisponiert. Für die über diese thematische Kritik hinausgehende 267 Zu dieser Umwertung des Unschuldsaspektes im zweiten Teil des Romans siehe näher Kapitel 2.4.2. 268 Manifest wird diese übergeordnete Instanz dort, wo Suzannes mémoire abbricht, um nunmehr in eine skizzenhafte Darstellung der Ereignisse überzugehen. Eine Erzählstimme, die nun nicht mehr als diejenige Suzannes identifiziert werden kann, kommentiert den Übergang mit den folgenden Worten: „Ici les Mémoires de la sœur Suzanne sont interrompus; ce qui suit ne sont plus que les réclames de ce qu’elle se promettait apparemment d’employer dans le reste de son récit. Il paraît que la supérieure devint folle et que c’est à son état malheureux qu’il faut rapporter les fragments que je vais transcrire.“ (Diderot, La Religieuse, S. 275)

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epistemologische Funktion des Werkes werden jedoch in einem nächsten Schritt die Diskrepanzen des Erzähldiskurses relevant, die es erlauben, die Position der Erzählerin zu problematisieren. 2.2.3 Leidnarrativ und Tableau-Ästhetik Im Anschluss an das Incipit, das eine empathische Rezeptionshaltung vorstrukturiert, werden die dort unbestimmt eingeführten malheurs narrativ entfaltet. Um die empathische Disposition des Marquis bzw. des anonymen Lesers zu festigen, muss die narrative Darstellung der malheurs geeignet sein, ihn emotional zu affizieren. Zu diesem Zweck bedient sich Suzanne einer erzählerischen Strategie, die sich als Leidnarrativ zusammenfassen lässt.269 Der empfindsamen Affizierung des Lesers arbeiten drei diskursive Verfahren zu: Eine bereits in der Familienkonstellation angelegte dualistische Strukturierung sowie eine Struktur der Wiederholung festigen Suzannes Opferstatus, eine Strategie der Visualisierung lässt den Leser zudem in voyeuristischer Weise unmittelbar an Suzannes Leid teilhaben. Das neben der Familie Simonin zentrale ideologische und handlungskonstitutive Element des Romans, die Institution Kloster, unterliegt ebenso wie Erstere einer dualistischen Stilisierung, im Rahmen derer Suzanne den Oberinnen antagonistisch gegenüberstellt wird: „Oh Monsieur, combien ces supérieures de couvent sont artificieuses!“270 Suzannes unterschiedliche Erfahrungen mit verschiedenen Klostervorsteherinnen konvergieren in diesem Urteil zu einem eindeutig negativ bewerteten Kollektiv. Die chronologischen Anforderungen der Gattung erfüllend, wird in der für den roman-mémoires typischen Posteriorität die Darstellung des Erlebten von der rückblickenden Bewertung des erzählenden Ich regiert.271 Indem die posteriorischen Bewertungen des moi narrant und die erinnerten Empfindungen des moi narré nebeneinander gestellt werden, wird die erste Klostererfahrung Suzannes in Sainte-Marie zur Folie für die Institution Kloster im Allgemeinen. Qua Generalisierung wird die Gesamtheit aller Oberinnen zu korrupten Heuchlerinnen und zu Gehilfinnen einer

269 Dieses Leidnarrativ findet vor allem im ersten Teil des Romans, d. h. vor Suzannes Umzug nach St. Eutrope, Anwendung. Mit der Verlagerung des Unschuldsbegriffs geht dort eine Veränderung in Suzannes Erleben einher: Da sie in St. Eutrope eine privilegierte Position genießt, die ihren dortigen Aufenthalt verhältnismäßig angenehm erscheinen lässt, ist das Erlebte diskrepant zu seiner narrativen Darstellung. 270 Diderot, La Religieuse, S. 87. 271 Dass Diderot dieses chronologische Grundmuster des roman-mémoires in entscheidenden Punkten durchbricht, was zu Schwierigkeiten in der Logik der Wissensbestände und zu Instabilitäten der Erzählinstanz führt, gehört zu den Grundvoraussetzungen jeder Beschäftigung mit La Religieuse. Für die Bedeutung dieser chronologischen Brüche für die wirkungsästhetische Ausrichtung des Romans siehe unten Abschnitt 2.4.1.

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sozialen Praxis stilisiert, der Suzanne ausgeliefert ist: „je ne savais où l’on me mènerait, et je me laissai persuader“.272 Das generalisierende on273 bildet zeichenhaft ein Verhältnis ab, in dem sich die Erzählerin als dem anonymen Kollektiv der Ordensschwestern hilflos gegenüberstehend positioniert. Wo das on auf Satzebene ein Oppositionsverhältnis zwischen Suzanne und dem Ordenskollektiv zum Ausdruck bringt, wird die hilflose Position der Protagonistin angesichts eines übermächtigen Systems markiert. Der Zusammenhang von individueller Hilflosigkeit und Fremdbestimmtheit, der in dem oben zitierten Satz zum Ausdruck kommt, wird in Suzannes Eigenart, in den einschneidenden Momenten ihrer Geschichte in einen Zustand geistiger Lähmung zu verfallen, auch bildlich manifest. In den Momenten dieser aliénation präsentiert sich Suzanne als quasi fremdgesteuert. So kann sie sich an den Moment ihrer Profess in Longchamp weder erinnern, noch hat sie aktiv an ihm teilgenommen, weshalb sie den Ablauf der Zeremonie in der Folge aus Vermutungen rekonstruiert: L’assemblée était peu nombreuse; je fus prêchée bien ou mal, je n’entendis rien. On disposa de moi pendant toute cette matinée qui a été nulle dans ma vie, car je n’en ai jamais connu la durée; je ne sais ni ce que j’ai fait, ni ce que j’ai dit. On m’a sans doute interrogée, j’ai sans doute répondu, j’ai prononcé des vœux, mais je n’en ai nulle mémoire, et je me suis trouvée religieuse aussi innocemment que je fus faite chrétienne […].274

Dieser Zustand von Fremdbestimmtheit, in dem sich Suzanne, „presque réduite à l’état d’automate“,275 befindet, stärkt den aus der Handlungskonstellation gewonnenen Eindruck des Lesers von der Opferrolle der Protagonistin. Auf diese Weise erscheint die Profess nicht nur aus moralischer Perspektive als erzwungen, sondern sie ist überdies auch physisch und psychisch eine bewusstlose, in der das eigentliche Subjekt der Profess zum passiven Objekt wird. Wo Suzannes körperliche ‚Entfremdung‘ in Longchamp zudem das Resultat von Demütigungen und Folterprozeduren ist, gewinnt die Darstellung dieses Zustandes an physischer Drastik und Konkretheit. Während die aliénation im Moment der Profess auf die Abwesenheit von Bewusstsein und die resultierende Unfreiwilligkeit der Klosterinitiation verweist, fokussieren die Szenen folterinduzierter Bewusstseinsstörung deren körperliche Ausprägungen: A cette idée de mort prochaine, je voulus crier, mais ma bouche était ouverte et il n’en sortait aucun son. J’avançais vers la supérieure des bras suppliants et mon corps défaillant se renversant en arrière. Je tombai, mais ma chute ne fut pas dure; dans ces moments de transe où la force abandonne insensiblement, les membres se dérobent, s’affaissent, pour

272 Diderot, La Religieuse, S. 88. 273 Eine Deutung des häufigen Gebrauchs des Pronomens on als Metapher eines malebranchistischen Okkasionalismus liefert Hayward, Susan, „‚Res brutae‘ and Diderot’s nun“, in: Diderot Studies 20 (1981), S. 109–123, insbes. S. 120 f. 274 Diderot, La Religieuse, S. 123 f. 275 Ebd., S. 123.

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ainsi dire, les uns sur les autres, et la nature ne pouvant se soutenir, semble chercher à défaillir mollement. Je perdis la connaissance et le sentiment; j’entendais seulement bourdonner autour de moi des voix confuses et lointaines; soit qu’elles parlassent, soit que les oreilles me tintassent, je ne distinguais rien que ce tintement qui durait. Je ne sais combien je restai dans cet état, mais j’en fus tirée par une fraîcheur subite qui me causa une convulsion légère et qui m’arracha un profond soupir.276

Von einem Opfer familiärer und religiös motivierter Konflikte wandelt sich die Protagonistin unter der Oberin von Longchamp zu einem Opfer körperlicher und psychischer Gewalt. Die moralische Funktion ihrer Rolle wird durch die physische Dimension der Demütigungen, die die junge Nonne nach Bekanntwerden ihres juristischen Vorgehens erleiden muss, in eine körperlich dominierte transformiert. Als wiederkehrende Elemente bilden die aliénation und die körperliche Qual die Opferrolle Suzannes in einer Struktur der Wiederholung ab. Statt Varianz setzt Diderot auf die wirkungsästhetischen Effekte der intensivierenden Repetition: Die Szenen körperlicher Qual folgen einem Schema, das den Leser durch seine repetitive Drastik für Suzannes Leid empfänglich macht.277 Die auf Repetition beruhende Wirkung des Leidnarrativs geht einher mit einer Ästhetik der Visualisierung. Denn die körperliche Viktimisierung basiert auch darauf, dass Suzannes Porträts, die sie stets zwischen interner und externer Fokalisierung oszillierend von sich entwirft,278 ihren Körper279 buchstäblich ins Zentrum der Betrachtung stellen: J’étais traversée d’eau, elle coulait de mes vêtements à terre, c’était celle d’un grand bénitier qu’on m’avait répandu sur le corps. J’étais couchée sur le côté, étendue dans cette eau, la tête appuyée contre le mur, la bouche entrouvert et les yeux à demi morts et fermés. Je cherchai à les ouvrir et à regarder, mais il me sembla que j’étais enveloppée d’un air épais à travers lequel je n’entrevoyais que des vêtements flottants auxquels je cherchais à m’attacher sans le pouvoir; je faisais effort du bras sur lequel je n’étais pas soutenue, je voulais le lever mais je le trouvais trop pesant. Mon extrême faiblesse diminua peu à peu; je me sou-

276 Ebd., S. 169 f. 277 Suzanne erkennt den repetitiven Charakter des erzählten Geschehens selbst: „Je vous entends, Monsieur le marquis et la plupart de ceux qui liront ces mémoires, ‚des horreurs si multipliées, si variées, si continues! Une suite d’atrocités si recherchées dans des âmes religieuses! Cela n’est pas vraisemblable, diront-ils, dites-vous‘; et j’en conviens; mais cela est vrai.“ (Diderot, La Religieuse, S. 178) 278 Zur Fokalisierung von Suzannes Porträts und der verführerischen Zielsetzung, die durch die Fokalisierung kodiert wird, siehe Gepner, Corinna, „L’autoportrait de la narration dans La Religieuse: les ruses du regard“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 17 (1994), S. 55–67. 279 Zum Aspekt der Körperlichkeit in La Religieuse siehe Luoni, Flavio, „La Religieuse: récit et écriture du corps“, in: Littérature 54 (1984), S. 79–99; sowie allgemein im Werk Diderots: Goodden, Angelica, Diderot and the Body, Oxford 2001.

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levai, je m’appuyais le dos contre le mur; j’avais les deux mains dans l’eau, la tête penchée sur la poitrine, et je poussais une plainte inarticulée, entrecoupée et pénible.280

Indem das Leidnarrativ durch die detailreiche Beschreibung die Körperlichkeit von Suzannes Qual hervorhebt, wird der empfindsame Opferbegriff der moralischen Reflexion enthoben und unmittelbar erfahrbar gemacht. Mitgefühl mit Suzanne bedeutet in der Longchamp-Episode vor allem Mitleid mit Suzannes gequältem Körper.281 Auffällig ist ein Beschreibungsmodus, der den misshandelten Körper in seinen geschundenen Einzelheiten ins Visier nimmt. Wie durch eine Lupe fällt der Blick auf Suzannes „pieds ensanglantés“,282 ihre „jambes meurtries“283 und „bras livides et sans chair“.284 Durch die Inszenierung des wehrlosen, buchstäblich nackten Körpers wird Suzanne in ihrer Opferrolle entblößt. Der Opferbegriff der empfindsamen Literatur wird auf diese Weise gleichzeitig anzitiert und in einer spezifisch körperlichen Darstellung neu interpretiert: Suzannes Konflikt, der im Grunde ein moralischer ist, wird auf der körperlichen Ebene ausgetragen. Während bei Richardson die empfindsamen Strategien noch vornehmlich auf der moralischen Teilhabe am Schicksal der leidenden Protagonistin beruhen, deutet sich in La Religieuse bereits im ersten Teil des Romans somit eine Umwertung an, die den Fokus auf das körperliche Ausmaß von Suzannes Erfahrung verlegt. Gleichwohl findet sich auch diese Umwertung zugunsten der Körperlichkeit in Ansätzen bei Richardson vorgezeichnet, und zwar dort, wo der Höhepunkt in Clarissas Leiderfahrung mit dem Verlust ihrer körperlichen Unversehrtheit zusammenfällt. Indem Lovelace unter Zuhilfenahme von Betäubungsmitteln im Akt der Vergewaltigung gewaltsam in Clarissas körperliche Selbstbestimmtheit eingreift, sucht er sie ihres moralischen Trumpfes zu berauben. Auch bei Richardson besteht die Klimax in Clarissas Leiderfahrung daher im Moment der größten Körperlichkeit. Diderot erweist sich hier einmal mehr als aufmerksamer Richardson-Leser. Er erweitert diese Orientierung auf die physische Erfahrung allerdings dahingehend, dass er in der Longchamp-Episode Suzannes Leid nunmehr einzig in der Form ihres gequälten Körpers zugänglich macht. Während der Moment des gewalttätigen Übergriffs in Clarissas Briefen zudem aufgrund ihrer fehlenden Erinnerungen nur andeutungsweise rekonstruiert werden kann und weitestgehend ausgespart bleibt, wird er in Suzannes Erzähldiskurs in seiner ganzen

280 Diderot, La Religieuse, S. 170 281 Unter den zahlreichen ähnlichen Stellen siehe z. B. ebd., S. 194: „Après cela, on m’ôta la corde, on me déshabilla jusqu’à la ceinture, on prit mes cheveux qui étaient épars sur mes épaules, on les rejeta sur un des côtés de mon cou, on me mit dans la main droite la discipline que je portais de la main gauche, et l’on commença le Miserere. Je compris ce que l’on attendait de moi et je l’exécutai.“ 282 Ebd., S. 140. 283 Ebd. 284 Ebd., S. 178.

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Drastik inszeniert und dem Leser zur Teilhabe vorgeführt.285 Die von dem Adressaten des Leidnarrativs erwartete Rezeptionshaltung wird ihm dabei durch das Beispiel der jungen Kirchenmänner vorgegeben, die beim Anblick von Suzannes gequältem Körper Tränen empfindsamen Mitleids vergießen.286 Aus einer pragmatischen Perspektive überrascht der Detailreichtum jener Szenen, in denen Suzanne sich im Moment größter körperlicher und seelischer Qual selbst beschreibt, steht er doch im Widerspruch zu der Wahrscheinlichkeit der Erzählsituation eines eilig aus der Erinnerung niedergeschriebenen mémoire. Als paradigmatisch kann hier die zentrale Kerkerszene gelten: Ses compagnes s’en saisirent [de mes bras]; on m’arracha mon voile, on me dépouilla sans pudeur, on trouva sur mon sein un petit portrait de mon ancienne supérieure, on s’en saisit; je suppliai qu’on me permît de le baiser encore une fois, on me refusa; on me jeta une chemise, on m’ôta mes bas, l’on me couvrit d’un sac, et l’on me conduisit la tête et les pieds nus à travers les corridors. Je criais, j’appelais à mon secours, mais on avait sonné la cloche pour avertir que personne ne parût. J’invoquais le Ciel, j’étais à terre et l’on me traînait; quand j’arrivais au bas des escaliers j’avais les pieds ensanglantés et les jambes meurtries, j’étais dans un état à toucher les âmes de bronze. Cependant l’on ouvrit avec de grosses clefs la porte d’un petit lieu souterrain, obscur où l’on me jeta sur une natte que l’humidité avait à demi pourrie. Là, je trouvai un morceau de pain noir et une cruche d’eau avec quelques vaisseaux nécessaires et grossiers. La natte roulée par un bout formait un oreiller; il y avait sur un bloc de pierre une tête de mort avec un crucifix de bois. Mon premier mouvement fut de me détruire. Je portai mes mains à ma gorge, je déchirai mon vêtement avec mes dents; je poussai des cris affreux, je hurlai comme une bête féroce. Je me frappai la tête contre les murs, je me mis toute en sang, je cherchai à me détruire jusqu’à ce que les forces me manquassent, ce qui ne tarda pas.287

Die in dieser Stelle bemerkenswerte Ausstellung des situativen Details bindet das Mitgefühl des Lesers an dessen visuelle Vorstellung der dargestellten Situation und deren räumlichen Voraussetzungen. Die detailgetreue Wiedergabe des Ortes und des körperlichen Zustandes der sich wehrenden Protagonistin erlauben es dem Leser, sich ihr Leid im wörtlichen Sinne vor Augen zu führen, wobei Suzanne die erwartete Mitleidsreaktion auch explizit vorgibt: „j’étais dans un état à toucher des âmes de bronze“. Die detaillierte Beschreibung macht dem Leser die Visualisierung von Suzannes körperlichem Zustand unumgänglich. Diderot wendet die illusionistische Poetik des petit détail, die er im Éloge de Richardson entwickelt, ins Visuelle: Indem das Leidnarrativ auf 285 Ähnlich argumentiert Coudreuse, Anne, Le goût des larmes au XVIIIe siècle, Paris 1999 (= 1999a), S. 163. 286 Diderot, La Religieuse, S. 174. 287 Ebd., S. 140 f., Herv. d. Vf.in. Kursiv hervorgehoben sind Diderots Hinzufügungen am manuscrit autographe aus den Überarbeitungen zwischen 1780 und 1782.

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Strategien der Verbildlichung zurückgreift, wird die Wirkung des empfindsamen Erzählens in La Religieuse an visuelle Wahrnehmungs- und Imaginationsverfahren rückgebunden. Dieses Argument wird durch den Befund gestützt, dass Diderot im Zuge der umfangreichen Bearbeitungen an seinem Orginalmanuskript die zitierte Passage durch eine Reihe von Details angereichert hat, die zum visuellen Potential der Szene beitragen. Diese Zusätze sind in obigem Zitat kursiv gedruckt. Aus rein pragmatischer Sicht ist es für den Erstadressaten von Suzannes mémoire nur wenig relevant, ob die Matte, die ihr im Kerker als Bettstatt dient, nicht vollständig, sondern nur „halb“ vermodert ist. Zum visuellen Illusionspotential der Szene tragen diese Details hingegen insofern bei, als sie den Leser in quasi-realistischer Weise an Suzannes (Seh-)Erfahrung teilhaben lassen. Indem Diderot die Szene detailreich erweitert, verfestigt er eine wirkungsästhetische Strategie der empfindsam-illusionistischen Leserbeteiligung, die dem Rezipienten anhand der Fülle der materiellen Einzelheiten die Körperlichkeit von Suzannes Leid bildhaft werden lässt. Mehrfach ist in der Diderot-Forschung die Relevanz der in Diderots Dramenpoetik entwickelten Ästhetik des tableau für La Religieuse erkannt288 und mitunter ein Zusammenhang zu Diderots Ausführungen zur Bildkomposition in den Salons hergestellt worden.289 Tatsächlich kann sich die aufgezeigte Wirkungsästhetik des Visuellen, die Suzannes Erzähldiskurs beherrscht, auf eine Ästhetik des tableau berufen, welches Diderot in den Entretiens sur le Fils naturel (1757) in Abgrenzung zum coup de théâtre folgendermaßen definiert: „Un incident imprévu qui se passe en action, et qui change subitement l’état des personnages, est un coup de théâtre. Une disposition de ces personnages sur la scène, si naturelle et si vraie, que, rendue fidèlement par un peintre, elle me plairait sur la toile, est un tableau.“290 Als „représentation figée d’attitudes qui facilite la circulation des émotions“291 zielt das tableau auf eine Kommunikation von Emotionen zwischen Figurengeschehen und Zuschauerraum bzw., übertragen auf die Kommunikationssituation des Romans, zwischen der Gefühlswelt des erzählten Ich und dem Leser.292 Dass Diderot selbst eine Reihe von Szenen seines Romans als ta-

288 Z. B. in Apostolidès, Jean-Marie, „La Religieuse et ses tableaux“, in: Poétique 35 (2004), S. 73–86, sowie Berthiaume, Pierre, „La Religieuse de Diderot ou l’hypotypose spéculaire“, in: Lumen. Travaux choisis de la Société canadienne d’étude du dix-huitième siècle 22 (2003), S. 67–81. 289 Vgl. hier die nachmittägliche Zusammenkunft der jungen Nonnen in den Gemächern der Oberin von St. Eutrope in Diderot, La Religieuse, S. 244; siehe dazu May 1954, S. 255, sowie Coudreuse 1999a, S. 164 f. 290 Diderot, Denis, Entretiens sur le Fils naturel, in: ders., Œuvres esthétiques, hg. v. P. Vernière, Paris 1959, S. 69–175, dort S. 88. 291 Apostolidès 2004, S. 74. 292 Frantz, Pierre, L’Esthétique du tableau dans le théâtre du XVIIIe siècle, Paris 1998, S. 5, führt diese emotionale ‚Ansteckung‘ auf ein Paradox in der neuen Illusionskonzeption der Dramentheorie zurück: „Le tableau révèle et organise une conception nouvelle de l’illusion, fondée sur un paradoxe: il exclut le spectateur du spectacle, aussi fortement qu’il est possible, mais pour le toucher au cœur, l’émouvoir violemment, aimanter son imagination si puissamment qu’elle envahisse le spectacle.“

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bleaux begreift, diese folglich in eine Beziehung zur empfindsamen Emotionspoetik seiner Dramentheorie stellt, bezeugt nicht zuletzt der bereits an früherer Stelle zitierte Brief an Meister. Bezug nehmend auf La Religieuse zieht Diderot hier erneut die schon in den Entretiens sur le Fils naturel hergeleitete Verbindung zwischen literarischem tableau und Malerei und stilisiert sich im gleichen Zuge selbst als Maler: C’est un ouvrage que j’ai fait au courant de la plume, et sur lequel j’ai été rappelé par mon travail actuel. C’est la contrepartie de Jacques le Fataliste. Il est rempli de tableaux pathétiques. Il est très intéressant, et tout l’intérêt est rassemblé sur le personnage qui parle. Je suis bien sûr qu’il affligera plus vos lecteurs que Jacques ne les a fait rire; d’où il pourrait arriver qu’ils en désireront plus tôt la fin. Il est intitulé La Religieuse; et je ne crois pas qu’on ait jamais écrit une plus effrayante satire des couvents. C’est un ouvrage à feuilleter sans cesse par les peintres; et si la vanité ne s’y opposait, sa véritable épigraphe serait: Son pittor anch’io.“293

Auktoriale Aussagen wie diese machen deutlich, dass es Diderot auch darum geht, das tableau in La Religieuse als Medium eines empfindsamen Narrativs der ‚verfolgten Unschuld‘ zu funktionalisieren. Die Visualität dieser Bilder ist dabei unmittelbar an die von Diderot gewählte Malereimetapher anschließbar. So verlässt sich Suzanne auf die visuelle Aussagekraft ihres geschundenen Körpers, als sie im Anschluss an das Exorzismusritual an die Sehkraft des Generalvikars appelliert: „Je lui dis en lui montrant ma tête meurtrie en plusieurs endroits, mes pieds ensanglantés, mes bras livides et sans chair, mon vêtement sale et déchiré: Vous voyez!“294 Mit dem Vikar wird auch dem Leser die Position des Zuschauers zugewiesen; er wird im wahrsten Wortsinn zum voyeur.295 Die Kehrseite der Bildästhetik besteht jedoch darin, dass das tableau durch die Ausgrenzung des Schauenden aus dem Dargestellten eine rezeptive Distanz erzeugt und dadurch die eigentliche Identifikation des Rezipienten mit der dargestellten Figur erschwert: Empfindsame Identifikation mit der Protagonistin wird in La Religieuse in voyeuristische Anteilnahme an ihrem – körperlichen – Leid umgedeutet. In dieser wirkungsästhetischen Verschiebung von der in der Empfindsamkeit als Zielvorgabe gesetzten empathischen Identifikation hin zu der distanzierten Teilhabe eines Zuschauers wirken die medialen Strategien der tableau-Ästhetik als subtiles Mittel der Dekonstruktion der empfindsamen Prämissen des Leidnarrativs. Mittels der Verwendung des tableau rekurriert Diderot somit auf dasselbe Prinzip, das bereits für das ambige Incipit als charakteristisch festgehalten werden konnte: Empfindsame Erzählstrukturen und deren wirkungsästhetische Ziele werden bedient

293 Brief vom 27. September 1780, Diderot, Correspondance, S. 1309. 294 Diderot, La Religieuse, S. 178, Herv. d. Vf.in. 295 Cusset, Catherine, No Tomorrow: The Ethics of Pleasure in the French Enlightenment, Charlottesville 1999, S. 131, erkennt ebenfalls eine voyeuristische Tendenz in der Rezeptionslenkung, sie reduziert diese allerdings auf die erotische Dimension des zweiten Romanteils.

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und gleichzeitig subtil verschoben. Empfindsames Erzählen beinhaltet in La Religieuse somit immer schon eine nuancierte Reflexion von dessen paradigmatischen Strukturen. Während empfindsame Schemata auf der Oberfläche abgespielt werden, werden sie auf tieferen Ebenen durch andere Strukturen ergänzt, verschoben und teilweise dekonstruiert. Dass mit Suzannes Umzug eine Verlagerung der Wirkungsästhetik umgesetzt wird, ist ebenso Teil dieser Verschiebung wie die in La Religieuse vorgenommene Erweiterung des Empfindsamkeitsbegriffs. Dieses für Diderots Roman konstitutive Spannungsverhältnis von Empfindsamkeit und ihrer Reorientierung gilt es hinsichtlich der Bedeutungskonstitution des Romans näher zu beschreiben. Zu diesem Zweck werden wir uns zunächst der Körperdarstellung in La Religieuse zuwenden, um zu zeigen, in wie fern sich einige der Verschiebungen empfindsamen Erzählens auf die semantische Breite des Begriffs sensibilité in der Mitte des 18. Jahrhunderts zurückführen lassen. 2.3 Die Erweiterung des sensibilité-Begriffs in La Religieuse 2.3.1 Sensibilité im medizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts und in Diderots naturphilosophischen Schriften In den vorhergehenden Kapiteln wurde herausgearbeitet, inwiefern die empfindsame Mitleiderregung in La Religieuse auf einer visuellen Wirkungsästhetik der Körperlichkeit beruht, in der die Opferrolle der Protagonistin in physische Leiderfahrung uminterpretiert wird. Vor dem literarischen Hintergrund empfindsamen Erzählens mag der dezidiert körperliche Fokus verwundern; die am empfindsamen Opferbegriff vorgenommene Umwertung zugunsten der physis ist jedoch Symptom einer umfassenden Bedeutungserweiterung, die das Konzept der sensibilité seiner Integration in den lebenswissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts verdankt.296 Es soll im Folgenden dargelegt werden, welche (neuen) Verständnisse von sensibilité in La Religieuse zur Anwendung kommen, und auf welche Weise eine Überlagerung verschiedener Diskurse narrativ umgesetzt wird. Als Erzählerin ihres Leidberichts bedient sich Suzanne eines traditionellen Verständnisses von sensibilité, dessen naive Begriffsverwendung in ihrer Diskrepanz zu den auf der Inhaltsebene zur Darstellung gebrachten Ereignissen immer schon ironisch gebrochen ist. Paradigmatisch sind dabei jene Stellen, in denen Suzanne mit

296 Eine Synthese der sciences de la vie und ihrer Elemente im 18. Jahrhundert in Frankreich bietet das gleichnamige Opus von Jacques Roger, Les Sciences de la vie dans la pensée française du XVIIIe siècle: la génération des animaux de Descartes à l’Encyclopédie, Paris 1971 [1963]. Der folgende Überblick über das Phänomen sensibilité als vitalistisches Kernprinzip verdankt sich der aufschlussreichen Studie Rogers.

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großer Akribie die körperlichen Reaktionen der Oberin des Klosters St. Eutrope beschreibt, während ihr der dezidiert erotische Charakter dieser Körperlichkeit jedoch verschlossen bleibt: Je fis d’abord des accords, ensuite je jouai quelques pièces de Couprin, de Rameau, de Scarlatti; cependant elle avait levé un coin de mon linge de cou, sa main était placée sur mon épaule nue et l’extrémité de ses doigts posée sur ma gorge. Elle soupirait, elle paraissait oppressée, son haleine s’embarrasser; la main qu’elle tenait sur mon épaule d’abord la pressait fortement, puis elle ne la pressait plus du tout, comme si elle eût été sans force et sans vie, et sa tête tombait sur la mienne. En vérité, cette folle-là était d’une sensibilité incroyable et avait le goût le plus vif pour la musique; je n’ai jamais connu personne sur qui elle eût produit des effets si singuliers.297

Die für Suzannes Selbstcharakterisierung maßgebliche Naivität spiegelt sich in dem écart von narrativer Deskriptivität und mangelnder Interpretation der körperlichen Reaktivität der Oberin. Die entstehende Leerstelle wird durch den Erklärungsversuch mittels der von der Oberin vermeintlich bezeugten „sensibilité incroyable“ weniger gefüllt denn als solche markiert, da sich Suzannes Begriffsverständnis gerade nicht anbietet, das Verhalten der Oberin zufriedenstellend zu erklären. In seiner Ausklammerung von Sexualität erweist sich der von Suzanne veranschlagte Begriff von sensibilité als nicht adäquat, die sensitiven Reaktionen der Oberin zu erfassen. Ganz im Gegenteil kommt ihr Begriffsverständnis insbesondere dort, wo es die Epitheta ‚empfindsam‘ und ‚gut‘ bzw. ‚tugendhaft‘ miteinander verknüpft, über den tradierten, affektiv-moralischen Bezugsrahmen des empfindsamen Paradigmas nicht hinaus: „Cependant cette bonne supérieure, car il est impossible d’être si sensible et de n’être pas bonne, […].“298 Diese Verknüpfung erscheint aus Suzannes Perspektive logisch, weil sie ihr Begriffsverständnis nur aus ihrem persönlichen Erfahrungsfundus schöpfen kann. Ihre persönliche Konfrontation mit Empfindsamkeit bzw. empfindsamen Personen war vor ihrem Umzug nach St. Eutrope von den ihr entgegengebrachten mitleidigen Reaktionen geprägt, die sich gemäß ihrer Erfahrung als empfindsame Tränen auszudrücken pflegen. So ist es nur konsequent, dass Suzanne ebendiese empfindsamen Tränen auch bei ihrem ersten Adressaten hervorzurufen sucht. Empfindsam-empathische Reaktionen dieser Art beschreibt Suzanne im Laufe ihres récit wiederholt; als modellhafte Rezeptionsvorgaben strukturieren sie die Narration und werden dem Adressaten als die gewünschte Lektürehaltung vorgegeben. Über ihren Anwalt Manouri schreibt Suzanne etwa: „Cet homme a le cœur sensible“,299 und bezeichnet hiermit seine über Suzannes Schicksal empfindsam vergossenen Tränen. Auch die jungen Akolythen des 297 Diderot, La Religieuse, 223 f., Herv. d. Vf.in. 298 Ebd., S. 228, Herv. d. Vf.in. Zur epochentypischen Verbindung von Empfindsamkeits- und Tugendbegriff siehe Baasner 1988, S. 124. 299 Diderot, La Religieuse, S. 190.

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Erzdiakons werden ausschließlich über ihr Mitleid mit der leidenden Protagonistin charakterisiert.300 Suzannes Erfahrungen mit sensibilité beschränken sich demnach auf emotionales Mitleid mit ihrer Person. Dagegen lässt sich das Verhalten der Oberin von St. Eutrope unter diese Form der Empfindsamkeit nur partiell subsumieren. Wo auch Mme *** auf Suzannes Bericht mit Tränen reagiert, ist die Wirkungsstrategie des Leidnarrativs erfolgreich. Dass diese Tränen dennoch gleichzeitig sensitiver Ausdruck eines imaginierten erotischen reenactment der Folterungen301 sind und somit eine sexuelle Dimension bergen, lässt sich indes mit Suzannes Empfindsamkeitsbegriff nicht adäquat beschreiben. Entgegen Suzannes naiver Begriffsverwendung zeugt ihr Diskurs von subtilen Verschiebungen in der Darstellung von Empfindsamkeit, die sich (wie in der oben zitierten Textstelle) in einer Fokusverschiebung auf die körperliche Erscheinung von sensibilité ausdrücken. Da diese Körperlichkeit auf parataktische Weise der Bezeichnung sensibilité beigeordnet wird, wird sie implizit als kausale Ausprägung ebendieser erkennbar. Ähnlich den Selbstporträts der Erzählerin in ihren Momenten höchster Qual wird auch hier die Empfindsamkeit einzig über ihre physischen Effekte wahrgenommen. Dabei besitzt das naive Urteil über die „sensibilité incroyable“ der Madame*** eine Berechtigung: Die Oberin ist durchaus sehr sensible – wenn auch in einem Bedeutungssinn, den Suzanne nicht intendiert haben kann, weil er ihrer Vorstellung von Unschuld grundsätzlich widerspricht. Durch die Evokation der sensibilité für ein als körperlich beschriebenes Phänomen steht nunmehr ein physisches Begriffsverständnis dem Leser als subtiler Schlüssel für die auffallend zahlreichen Szenen betonter Körperlichkeit bereit. Wo hinsichtlich des empfindsamen Charakters der Oberin das Narrationssubjekt eine Leerstelle lässt, bieten sich dem Leser als Indizien nur jene Körperbeschreibungen an, die Suzannes naiver Empfindsamkeitsbegriff eigentlich nicht abdeckt. Auf diese Weise kommt in Suzannes Erzähldiskurs unterschwellig ein Begriff der sensibilité zur Anwendung, der in einem Bezug zu zeitgenössisch diskutierten medizinischen Theorien steht. Denn wie bereits an voriger Stelle skizziert,302 behandelt der medizinische sensibilité-Diskurs des 18. Jahrhunderts das gleichnamige Prinzip als ein grundlegend physiologisches Phänomen. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Irritabilität Albrecht von Hallers erarbeiten die Mediziner um Théophile de Bordeu303 an der Fakultät von Montpellier um die Jahrhundertmitte eine physiologische Theorie der Sensibilität. Diese Theorie 300 Ebd., S. 174. 301 Spitzer, Leo, „The Style of Diderot“, in: ders., Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics, New York 1962 [1948], S. 135–191; zu oben genannter Passage dort S. 147–150. 302 Siehe oben, Abschnitt 1.2.4. 303 Roger hebt neben Bordeu die zwei weiteren medizinischen Mitarbeiter der Encyclopédie, Fouquet und Menuret de Chambaud, hervor. Zur Situierung Diderots im intellektuellen Klima des sensibilité-Diskurses siehe das Kapitel „De l’Interprétation de la nature au Rêve de d’Alembert: les médecins de l’Encyclopédie et les philosophes de l’échelle des êtres“ in Roger 1971, S. 614–654.

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beruft sich auf der Basis physiologischer Beobachtungen auf die individuelle Empfindlichkeit der einzelnen Organe, die in ihrer Gesamtheit in der sensibilité des Organismus zusammenwirken.304 Eine derart verstandene Theorie von Sensitivität entbehrt jeglichem Psychologismus der Empfindsamkeitskultur, da sie die sensibilité von einer moralischen zu einer physiologischen Kategorie erklärt. Dass im 18. Jahrhundert psychologisch-moralische und physiologische Modelle der Empfindsamkeit sich nicht überschneidungsfrei ablösen, sondern zeitweilig nebeneinander existieren, bezeugt die Zweiteilung des Artikels sensibilité in der Encyclopédie, in dem der Bedeutungsbereich der Moral von jenem der Medizin unterschieden wird.305 Der vom Chevalier de Jaucourt verfasste Eintrag zur moralischen sensibilité ist verglichen mit dem medizinischen Artikel kurz gehalten. Ersterer definiert besagte Eigenschaft knapp als „disposition tendre & délicate de l’âme, qui la rend facile à être émue, à être touchée“ und stellt einen Kausalbezug zwischen der solchermaßen bestimmten Disposition und einem tugendhaften Charakter her.306 Mit seinen 27 Spalten liegt der Schwerpunkt der sensibilité-Definition in der Encyclopédie auf dem medizinischen Verständnis. Der vom montpellieraner Mediziner Fouquet signierte Artikel definiert die sensibilité wie folgt, bevor er auf Fragen der Medizingeschichte, der alters- und geschlechterspezifischen sensibilité sowie der medizinischen Diagnostik eingeht: la faculté de sentir, le principe sensitif, ou le sentiment même des parties, la base & l’agent conservateur de la vie, l’animalité par excellence, le plus beau, le plus singulier phénomène de la nature, etc. La sensibilité est dans le corps vivant, une propriété qu’ont certaines parties de percevoir les impressions des objets externes, & de produire en conséquence des mouvements proportionnés au degré d’intensité de cette perception.307

Die Bestimmung von sensibilité mittels ihrer zwei Konstituenten sentiment und mouvement erlaubt es den Medizinern von Montpellier, dieses Prinzip ohne Rückgriff auf metaphysische Entitäten als allgemeines Vitalprinzip zu etablieren. Verkürzt ausgedrückt gilt: „[…] vivre, c’est proprement sentir.“308 Roger arbeitet detailliert heraus, wie 304 Vgl. s. v. ‚Œconomie animale‘, in: Encyclopédie, Bd. 11, 1765, S. 360–366. 305 Wie bereits dargelegt, geht Baasner von einer Ungleichzeitigkeit im Wandlungsprozess des Begriffes aus, in dem Sinne, dass ein moralischer Begriff von sensibilité erst dann umfassend verbreitet wird, als ebendieser Begriff in den Wissenschaften bereits verabschiedet wird (Baasner 1988, S. 236). Demgegenüber argumentiert Vila 1998, S. 111, dass „sensibility’s sociomoral connotations were not so much replaced as broadened in the 1750s, when novelists began to transcode the notion’s recently acquired physio-philosophical overtones into their fictional writings“. In diesem und den folgenden Kapiteln werde ich darlegen, dass in La Religieuse ein Nebeneinander verschiedener Begriffe von sensibilité inszeniert wird. 306 s. v. ‚Sensibilité (Morale)‘, in: Encyclopédie, Bd. 15, 1765, S. 52a. 307 s. v. ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘, in: Encyclopédie, Bd. 15, 1765, S. 38–52, hier S. 38b. 308 Ebd., S. 42b, Herv. i. O.

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diese Gleichsetzung von sensibilité und vie in den physiologischen Arbeiten der sog. médecins philosophes von Montpellier Diderot den nötigen Anker seiner materialistischen Weltanschauung bereitstellt, in deren Rahmen er die sensibilité zur Grundlage der grande chaîne allen Seins ausgestaltet.309 ‚Sensibel‘ ist Diderot zufolge nun nicht mehr allein das lebende Wesen; vielmehr verfügt auch die (noch) unbelebte Masse über eine inerte Form der Sensibilität, die im Zuge von Einverleibungsprozessen aktiviert, d. h. ‚belebt‘ wird. Im Rahmen dieses „matérialisme vitaliste“310 erfüllt die sensibilité nunmehr die Funktion einer „propriété universelle de la matière“.311 Auf der Ebene des einzelnen Körpers bzw. Organs schließen Diderots Überlegungen unmittelbar an die physiologischen Forschungen der vitalistischen Medizin an. Physiologische sensibilité einerseits sowie sensibilité verstanden als ontologische Einheit allen Seins im Sinne eines materialistischen Monismus andererseits sind bei Diderot weniger zwei zu

309 Roger 1971, S. 620–630. Siehe zu Diderots Verwendung des sensibilité-Begriffs auch Skrzypek, Marian, „Les catégories centrales dans la philosophie de Diderot“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 26 (1999), S. 27–36. 310 Roger 1971, S. 654. 311 In seinem berühmten Brief vom 10. Oktober 1765 resümiert Diderot die Elemente seiner sensibilité-Theorie, die er wenig später im Rêve de d’Alembert literarisch ausarbeiten wird: „Si j’ai dit […] que la pensée ne pouvait résulter de la transposition des molécules, c’est que la pensée est le résultat de la sensibilité, et que, selon moi, la sensibilité est une propriété universelle de la matière; propriété inerte dans les corps bruts, comme le mouvement dans les corps pesants arrêtés par un obstacle; propriété rendue active dans les mêmes corps par leur assimilation avec une substance animale vivante. C’est ce que le phénomène de la nutrition démontre à chaque instant, phénomène par lequel un animal qui ne sentait d’abord que dans l’espace d’un pied, d’un demi-pied, d’une ligne, devient sentant activement dans l’espace de deux, trois, quatre, cinq, six pieds, par la digestion et l’assimilation de substances en qui la sensibilité était inerte, avant qu’elles fussent digérées, assimilées par l’animal. L’animal est le laboratoire où la sensibilité, d’inerte qu’elle était, devient active.“ (Zitiert nach Diderot, Correspondance, S. 541). Dabei ist sich Diderot des hypothetischen Charakters dieser „propriété universelle de la matière“ bewusst. In seiner Réfutation von Helvétius‘ De l’Homme ringt er mit seinem Wunsch nach einer theoretischen Grundlage für sein materialistisches Weltkonstrukt eines grand flux des êtres, die er in der sensibilité gefunden zu haben glaubt, und seinem Bedürfnis nach einer empirischen Fundierung dieser Theorie: „J’invite tous les physiciens et tous les chimistes à rechercher ce que c’est que la substance animale, sensible et vivante. Je vois clairement dans le développement de l’œuf et quelques autres opérations de la nature, la matière inerte en apparence, mais organisée, passer par des agents purement physiques de l’état d’inertie à l’état de sensibilité et de vie, mais la liaison nécessaire de ce passage m’échappe […]. Il faut en convenir, l’organisation ou la coordination de parties inertes ne mène point du tout à la sensibilité, et la sensibilité générale des molécules de la matière n’est qu’une supposition, qui tire toute sa force des difficultés dont elle débarrasse, ce qui ne suffit pas en bonne philosophie.“ (Diderot, Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé l’Homme, zitiert nach Roger 1971, S. 670). Für eine Übersicht der sensibilité-Theorie Diderots siehe auch Lannoy, Cyprien, „La sensibilité épistémologique de Diderot. Expression matérialiste d’un désir d’éternité“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 27 (1999), S. 59–88. Lannoy deutet Diderots Theorie als Versuch, seinem persönlichen Wunsch nach Unsterblichkeit mittels einer Weltanschauung des sensiblen grand flux eine materialistische Basis zu verleihen.

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trennende Begriffe, als vielmehr unterschiedliche Abstraktionsgrade eines philosophischen Gedankengebäudes.312 Psychologie und Physiologie sind in dieser Funktionsbestimmung des menschlichen Körpers insofern ihrerseits nur zwei Seiten einer einzigen Medaille, als Wahrnehmungs- und Emotionsprozesse als Resultate physiologischer Sensibilität unmittelbar an diese rückgebunden werden. Die psychologische Betrachtungsweise der sensibilité, wie sie Diderot u. a. im Paradoxe sur le comédien entwickelt, stellt sich als konsequentes Weiterdenken der Physiologie dar: Indem das Zwerchfell als maßgebliches ‚affektives‘ Organ konzipiert wird, dessen Erregbarkeit als Ausprägung der individuellen sensibilité die emotionale Stimulierbarkeit des Individuums begründet, wird die Psychologie unmittelbar auf physiologische Vorgänge zurückgeführt. Der Zusammenhang von organischer ‚Schwäche‘ und individueller Affektivität wird im Paradoxe sur le comédien folgendermaßen zusammengefasst: La sensibilité, selon la seule acception qu’on ait donnée jusqu’à présent à ce terme, est, ce me semble, cette disposition compagne de la faiblesse des organes, suite de la mobilité du diaphragme, de la vivacité de l’imagination, de la délicatesse des nerfs, qui incline à compatir, à frissonner, à admirer, à craindre, à se troubler, à pleurer, à s’évanouir, à secourir, à fuir, à crier, à perdre la raison, à exagérer, à mépriser, à dédaigner, à n’avoir aucune idée précise du vrai, du bon et du beau, à être injuste, à être fou. Multipliez les âmes sensibles, et vous multiplierez en même proportion les bonnes et les mauvaises actions en tout genre, les éloges et les blâmes outrés.313

In dieser Erweiterung eines im empfindsamen Paradigma der Kultur des 18. Jahrhunderts entwickelten emotiv-moralischen Begriffs von sensibilité durch neue naturwissenschaftliche Diskursformationen und deren empiristische Epistemologie sowie der Ausweitung zu einer materialistisch fundierten Erklärung allen Seins erweist sich die Diderot’sche sensibilité-Philosophie als Resultat des aufklärerischen Denkens. Roger betont, dass Diderots naturphilosophische Betätigungen kein Selbstzweck seien, sie vielmehr Erkenntnisse lieferten, die ihren Beitrag leisteten zu einer moralistisch orientierten Beschäftigung des philosophe mit dem Menschen und dessen Situation in der Welt.314 Tatsächlich verbindet Diderot in seinen Schriften, nicht zuletzt in La Religieuse, 312

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Lannoy 1999 insistiert dagegen darauf, die zwei Aspekte der sensibilité als distinkte Prinzipien zu behandeln: „Cependant, je souligne le fait que cette sensibilité psychologique n’est pas le principe philosophique et épistémologique que travaillera Diderot dans son principal dialogue, le Rêve de d’Alembert.“ (dort S. 64) Ich halte eine derart rigorose Trennung für verfehlt, zeigt doch gerade die Lektüre des von Lannoy genannten Rêve de d’Alembert, und dort insbesondere das Beispiel der Entstehung Jean le Rond d’Alemberts, dass psychologische und ontologische bzw., um in Lannoys Terminologie zu bleiben, „epistemologische“ Aspekte in einem einzigen Zirkelschluss verhandelt werden; vgl. dafür Diderot, Denis, Le Rêve de d’Alembert, hg. v. J. Varloot, DPV, Bd. 17, 1987, S. 25– 209, dort S. 95 f. Diderot, Denis, Paradoxe sur le comédien, hg. v. J. Marsh Dieckmann, DPV, Bd. 20, 1995, S. 1–132, dort S. 89 f. Roger 1971, S. 676.

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moralische und physiologische sensibilité-Ansätze zu einer übergreifenden Anschauung des Menschen in seiner Umwelt. In La Religieuse finden die verschiedenen Begriffe von sensibilité auf unterschiedlichen Ebenen der Narration ihren Ausdruck, um in einer literarischen Betrachtung des Menschen in dem ihn determinierenden Umfeld zu konvergieren. Eingangs wurde auf der diegetischen Ebene ein affektiv-moralisches Verständnis aufgezeigt, das die Erzählerin anhand der ihr typischerweise entgegengebrachten Mitleidsreaktionen entwickelt und das ihrem Wirkungsziel zuarbeitet. Wo Suzannes Beschreibungen der körperlichen Reaktivität ihrer Oberin verwundert einen moralisch-affektiven Begriff von sensibilité anzitieren, der das Phänomen der Körperlichkeit jedoch gerade nicht zu erfassen vermag, wird ebendiese Körperlichkeit durch das Nebeneinander von ausgestellter physis und einem traditionellen sensibilité-Begriff leserseitig als spezifische Ausprägung ebendieser sensibilité interpretierbar. Einige bedeutende Forschungsbeiträge zu La Religieuse heben den Zusammenhang von Diderots theoretischen Bestimmungsversuchen der sensibilité und dem Verhalten der Nonnen hervor, jedoch ohne diesen Bezug aus dem Roman selbst herzuleiten.315 Dabei wird nicht hinreichend deutlich gemacht, in wie fern es dem Leser möglich ist, das vitalistische Konzept, das in Diderots Roman zum Tragen kommt, als sensibilité zu identifizieren. Die Forschungsbeiträge beruhen auf der impliziten Annahme, dass Diderots naturphilosophische Schriften zwangsläufig als Interpretationsgrundlage seines Romans heranzuziehen seien. Hierüber wird es vernachlässigt nachzuweisen, dass eine Erweiterung des sensibilité-Begriffs im Sinne einer Inbezugsetzung von moralisch-affektiven und physiologischen Aspekten bereits im Text selbst angelegt ist. Dies geschieht dort, wo Suzanne die sensibilité explizit als Interpretationskategorie bemüht, dieses moralisch-affektive Verständnis angesichts seiner interpretativen Unangemessenheit im vorliegenden Kontext jedoch ins Leere läuft. Indem die in den deskriptiven Passagen angelegte physische bzw. physiologische Komponente die Leerstellen von Suzannes sensibilité-Verständnis füllt, wird eine Bedeutungserweiterung des Begriffs sensibilité diskursiv umgesetzt. In der Diskrepanz von Suzannes narrativem Verhalten und dem auf der Inhaltsebene dargestellten 315

Siehe etwa die ansonsten überaus aufschlussreiche Studie von Vila 1998. Dass die Vf.in in Suzannes Diskurs eine Hybridisierung zweier Genres – „the sentimental novel and medical discourse“ (Vila 1998, S. 166) – erkennt, trifft zwar den Kern der Sache; die interne Verbindung dieser zwei Diskurse in Suzannes narrativer Logik wird allerdings nicht weiter problematisiert. Im Anschluss an Vila liest Alexandre Wenger („From medical case to narrative fiction: Diderot’s La Religieuse“, in: Medicine and Narration in the Eighteenth Century, hg. v. S. Vasset, Oxford 2013, S. 17–30) den Roman als narrative Ausgestaltung der zeitgenössisch verbreiteten Fallberichte über die pathologische Sensibilität von Nonnen und konstatiert, dass „Diderot transforms case writing by using the topoi of sentimental novels and by resorting to the vocabulary of medical observation“ (S. 21). Obwohl beide Arbeiten den Zusammenhang von empfindsamem Erzählen und physiologischem sensibilité-Begriff in La Religieuse im Prinzip betonen, bleibt offen, welche narrativen Verfahren zum Einsatz kommen, um die vitalistischen Aspekte für den Leser an den ihm bekannten sentimentalen Diskurs anschließbar zu machen.

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Sachverhalt wird nicht allein ein Nebeneinander verschiedener – ‚alter‘ und ‚neuer‘ – Begriffe von Empfindsamkeit inszeniert, sondern es wird die semantische Verlagerung des sensibilité-Begriffs gewissermaßen performiert. Es ist daher Vilas Urteil grundsätzlich zuzustimmen, demzufolge die Innovation des Romans in seiner Umdeutung des Phänomens sensibilité von einer psychologischen zu einer physiologischen Kategorie bestehe.316 Dennoch ist es für das Gelingen der Kommunikationsstrategie, die dem Roman wirkungsästhetisch zugrunde liegt, notwendig, dass das Phänomen für den Leser als sensibilité im Sinne des empfindsamen Paradigmas erkennbar bleibt. Anders formuliert: Die Darstellung der sensibilité in La Religieuse muss an das literarische Vorwissen des Lesers anschließbar sein. Damit die beschriebene Bedeutungsverlagerung leserseitig plausibel und im eigentlichen Sinne erst möglich ist, ist ein Rahmen erforderlich, der ‚alte‘ (moralisch-affektive, psychologische) Konzepte von Empfindsamkeit mit neuen (physiologischen, naturphilosophischen) Begriffen verbindet. Diesen Rahmen erzeugen die in den vorherigen Kapiteln thematisierten Motive und Topoi empfindsamen Erzählens wie Charakterdarstellung und Handlungsführung sowie der typische Kommunikationsmodus des Briefromans. Abschließend werden wir uns der Frage widmen, auf welche Weise der physiologische Begriff der sensibilité in Suzannes Erzähldiskurs zum Ausdruck kommt. Die zentrale Stellung der Physiologie in der Ökonomie des Romans317 wird bereits durch ein vermeintliches Detail der Manuskriptkorrekturen bezeugt. Über Suzannes Zustand der aliénation zum Zeitpunkt ihrer Profess heißt es im Originalmanuskript: „j’ai été ce qu’on appelle moralement aliénée“.318 In der Endfassung des Textes wird die moralische Komponente dieses Zustandes zugunsten einer Fokussierung auf die physis aufgegeben; die entsprechende Passage lautet sodann: „j’ai été ce qu’on appelle physiquement aliénée“.319 Hervorzuheben ist neben dieser offensichtlichen Fokusverschiebung auch die Tatsache, dass die diagnostische Benennung dieses Entfremdungszustandes an externe Autoritäten abgetreten wird: „ce qu’on appelle“. Bezieht sich Suzanne in dieser Selbstbeschreibung auf gewisse anonyme Autoritäten, so ist damit implizit angezeigt, dass zeitgenössisch ein Diskurs existieren muss, auf den sich besagte Zustandsbe316

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Vila, Anne, „Sensible diagnostics in Diderot’s La Religieuse“, in: Modern Language Notes 105 (1990), S. 774–799, hier S. 791. Vila stellt die These auf, dass Diderot in La Religieuse nicht nur einen medizinischen sensibilité-Diskurs imitiere, sondern die Annahmen und Konzepte dieses Diskurses erprobe. Vila wehrt sich gegen metaphorische Zuschreibungen der körperlichen Sprache in La Religieuse: „I contend, by contrast, that the body language in La Religieuse is not metaphorical but literal: the fundamental subject of this novel is the primacy bodily sensibility in all aspects of human experience, and most particularly in the peculiarly interconnected realms of aesthetics and social hygiene.“ (Vila 1998, S. 153) Das resolute Urteil Vilas hinsichtlich des „fundamental subject“ des Romans ist m. E. zu relativieren; siehe für die dreifache Bedeutungskonstitution des Romans unten Abschnitt 2.5. Diderot/Parrish 1963, S. 86. Diderot, La Religieuse, S. 124.

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schreibung beziehen lässt und der hierfür eine geeignete Terminologie bereitstellt. Darüber hinaus impliziert das Adverb physiquement, dass es sich bei diesem Diskurs um einen wissenschaftlichen handelt, der Inhalte aus dem Bereich der Physiologie generiert.320 Über das bereits beschriebene Diskrepanzverhältnis von traditionell-moralischem sensibilité-Begriff und physischer Deskriptivität hinaus stehen dem Leser somit auch in Suzannes Diskurs selbst Hinweise zur Verfügung, das erzählte Geschehen auf die Erkenntnisse der zeitgenössischen physiologischen Wissenschaft zu beziehen. Vor diesem diskursiven Hintergrund verleiht denn auch die Neigung der Protagonistin zu Ohnmachtsanfällen der empfindsamen Opferrolle eine weitere Dimension. Roger weist darauf hin, dass Suzannes aliénation in der vitalistischen Medizin als Symptom der folie erklärt werden kann.321 Tatsächlich führt der medizinische sensibilité-Artikel der Encyclopédie Erkrankungen jedweder Art, darunter auch jene der modernen Psychiatrie, auf Störungen in der Sensibilitätsökonomie des Organismus und somit letztlich auf eine nervliche oder organische Indisposition zurück.322 Suzannes krankhafte Krisenzustände (Ohnmacht, Taubheit, Spasmen etc.) lassen sich über ein Netz von Querverweisen, wie es für die Funktionssystematik der Encyclopédie typisch ist, mit der Wahnsinnskonzeption der vitalistischen Schule in Verbindung bringen. Als Subgattung der folie lassen sich die von Suzanne repräsentierten Symptome auf das Krankheitsbild der passion hystérique beziehen, die gemäß den vitalistischen Autoren der medizinbezogenen Encyclopédie-Artikel als Folge einer Beeinträchtigung des Nervensystems und folglich der sensibilité-Ökonomie ausgewiesen wird.323 Ein im Hysterie-Eintrag vorgenommener Querverweis auf die ‚Modekrankheit‘324 des 18. Jahrhunderts, die sog. vapeurs,325 hebt eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen diesen beiden Krankheitsbildern hervor, die in einem weiteren Schritt als Ausprägungen der Melancholie326 systematisiert werden. 320 Die implizite Referenz auf einen wissenschaftlichen Diskurs beinhaltet das doppelte Problem, dass aus Suzannes Perspektive die Verfügbarkeit bestimmter Wissensbestände zum einen schlicht unwahrscheinlich ist, zum anderen dieses Wissen mit dem Bild der naiven Unschuld, das sie von sich zeichnet, unvereinbar erscheint. Auf diese und ähnliche Probleme der erzählerischen Unzuverlässigkeit wird im dritten Teil der Textanalyse zurückzukommen sein. 321 Roger 1971, S. 636; siehe auch Duflo, Colas, „La nature pervertie: l’analyse des passions dans La Religieuse de Diderot“, in: De Rabelais à Sade. L’analyse des passions dans le roman de l’âge classique, hg. v. C. Duflo u. L. Ruiz, Saint-Étienne 2003, S. 83–92, dort insbes. S. 87. 322 s. v. ‚Sensibilité, sentiment (Médecine)‘, in: Encyclopédie, Bd. 15, 1765, S. 42. 323 s. v. ‚Hystérique (passion ou affection)‘, in: Encyclopédie, Bd. 8, 1765, S. 420. 324 Siehe auch Appelt, Beate, Les vapeurs: Eine literarische Nosologie zwischen Klassik und Romantik. Kulturgeschichtliche Untersuchung, literarische Analyse und bibliographische Dokumentation, Frankfurt/M. u. a. 2000. 325 Siehe s. v. ‚Vapeurs‘, in: Encyclopédie, Bd. 16, 1765, S. 836–837, dort S. 836b: „Cette prétendue fumée n’est rien autre chose que l’irritation des fibres nerveuses des visceres contenus dans le bas-ventre, tels que le foie, la rate, l’estomac & la matrice, qui affecte sympathiquement le cerveau par la communication de la huitieme paire de nerfs avec le grand nerf intercostal.“ 326 Für den Zusammenhang von sensibilité und Melancholie siehe s. v. ‚Melancholie (Médecine)‘, in: Encyclopédie, Bd. 10, 1765, S. 308–311, dort insbes. S. 309a: „Considérant toutes ces observations, & les causes les plus ordinaires de cette maladie, l’on ne seroit pas éloigné de croire que tous les

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Ob Suzannes Symptomatik eher dem Krankheitsbild der vapeurs oder jenem der Hysterie zuzuordnen ist, ist für den vorliegenden Zusammenhang daher insofern nebensächlich, als mit dem Überbegriff der Melancholie der krankhafte Charakter von Suzannes aliénation bereits hinreichend auf eine gestörte sensibilité beziehbar ist. Darüber hinaus scheint mir zentral zu sein, dass sowohl im Eintrag ‚Vapeurs‘ als auch im Artikel ‚Affection mélancholique‘ moralische Faktoren als Erkrankungsursache herausgestellt werden. In letztgenanntem Eintrag heißt es: „[…] les chagrins, les peines d’esprit, les passions, & sur-tout l’amour et l’appétit vénerien non satisfait, sont le plus souvent suivis de délire mélancholique; les craintes vives & continuelles manquent rarement de la produire […].“327 Fehlgeleitete Leidenschaften, Gefühlskonflikte sowie – und darauf wird zurückzukommen sein – ein unbefriedigter Geschlechtstrieb werden im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung kausal einer im Grunde physiologischen Indisposition vorangestellt. Mithin werden Inhalte der traditionellen Moralistik einer medizinischen Perspektive unterzogen und pathologisiert.328 Aus den zitierten Einträgen der Encyclopédie zeichnet sich ab, dass auch in den naturwissenschaftlichen Diskursen um das Phänomen sensibilité der Versuch unternommen wird, moralische und physiologische Aspekte in einem übergreifenden Konzept zu vereinen, indem Konflikte moralischer Natur als Ursachen physiologischer Sensibilitätsstörungen in den medizinischen sensibilité-Diskurs integriert werden. Diese Integration ermöglicht es Diderot, in La Religieuse eine gleichermaßen moralisch wie physiologisch fundierte Kritik an klösterlichen Praktiken zu entwerfen, die sich anhand von Suzannes Hang zur hysterischen aliénation exemplarisch nachzeichnen lässt. Wird in den zitierten Encyclopédie-Einträgen der Zusammenhang von „passions“ bzw. „folles idées“ und einer Störung der sensibilité hervorgehoben, so ist der Grund für Suzannes gestörte Sensibilität, die sich in den Momenten ihrer körperlichen ‚Entfremdung‘ manifestiert, in ebenjenen Leidenschaften zu suchen. Ein durch den Keuschheits- und Gehorsamsschwur unterdrückter cri de la nature verschafft sich in Suzannes Anfällen hysterischer aliénation Geltung. Mit dem sensibilité-Konzept der vitalistischen Medizin wird die in

symptômes qui la constituent sont les plus souvent excités par quelque vice dans le bas-ventre, & sur tout dans la région épigastrique. Il y a tout lieu de présumer que c’est là que reside ordinairement la cause immediate de la mélancholie, & que le cerveau n’est que sympathiquement affecté; pour s’assurer qu’un dérangement dans ces parties peut exciter le délire mélancholique, il ne faut que faire attention aux lois les plus simples de l’économie animale, se rappeller que ces parties sont parsemées d’une grande quantité de nerfs extrèmement sensibles, considérer que leur lesion jette le trouble & le désordre dans toute la machine, & quelquefois est suivie d’une mort prochaine […].“ 327 Ebd., S. 308b. Im Eintrag ‚Vapeurs‘ heißt es: „Il faut avouer en effet que sa premiere cause est l’ennui et une folle passion, mais qui à force de tourmenter l’esprit oblige le corps à se mettre de la partie […].“ (Encyclopédie, Bd. 16, 1765, S. 837) 328 Vgl. s. v. ‚Œconomie animale‘, in: Encyclopédie, Bd. 11, S. 360: „peut-être est-il vrai que pour être bon moraliste, il faut être excellent médecin.“

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La Religieuse zum Ausdruck gebrachte Kritik an der Naturfeindlichkeit des Katholizismus gleichsam an den zeitgenössischen Erkenntnisstand anschließbar. In seinen Schriften kommt Diderot wiederholt auf die Bedeutung der natürlichen Triebhaftigkeit des Menschen und insbesondere des Sexualtriebs zurück.329 Mit der Übersetzung der moralisch-affektiven sensibilité des literarischen Empfindsamkeitsparadigmas in ein Konzept der Körperlichkeit geht einher, dass nunmehr alle Vorgänge der physis und psyche, auch Fragen der Sexualität, auf die organische Sensibilität zurückgeführt werden können. Wenn Suzanne also, wie eingangs zitiert, die physische Reaktivität ihrer Oberin einem naiven Begriff von sensibilité unterzieht, so hat dies insofern seine Berechtigung, als es sich bei diesem Verhalten auch aus vitalistischer Sicht um eine Manifestation von erregter Sensibilität handelt. In La Religieuse wird der Leser Zeuge der Funktionsweise von sensibilité in all ihren gestörten Formen: als Reaktion auf körperliche und psychologische Folter, in Form des kranken Körpers, hysterischer folie und weiblicher Homosexualität, die damit zu einem krankhaften Substitut für ‚natürliche‘, d. h. heteroerotische Sexualität degradiert wird. Die den finalen Wahnsinn der lesbischen Oberin resümierenden Worte des Beichtvaters Père Morel lassen sich unmittelbar auf die vitalistische Konzeption von sensibilité in ihrer Verstrickung von moralischen Ursachen und physiologischen Effekten beziehen: „Quand on s’oppose au penchant général de la nature, cette contrainte la détourne à des affections déréglées qui sont d’autant plus violentes qu’elles sont mal fondées; c’est une espèce de folie“.330 Konnte die Mutter Oberin vor ihrer Beichte ihren Sexualtrieb – jenen „penchant général de la nature“ – noch in homoerotischer Weise ersatzbefriedigen, so manifestiert sich mit ihrer Rückkehr zu religiöser Askese der Konflikt von Natur und klösterlicher Praxis als Störung der économie animale, als folie. Im Licht der sensibilité erscheinen alle von den Nonnen und Oberinnen repräsentierten ‚Perversionen‘ (Mystizismus, Sadismus, Homosexualität, Hysterie) als psychologisch-physiologische Ausprägungen dieser Konfliktkompensation.331 Dass in dieser Hinsicht alle Nonnen – auch die Täterinnen im engeren Sinne – zu Opfern einer widernatürlichen Religionspraxis stilisiert werden, relativiert somit den empfindsamen Opferbegriff, den Suzanne für sich geltend macht.

329 U. a. in Le Rêve de d’Alembert. 330 Diderot, La Religieuse, S. 271. 331 Das Argument Duflos (2003, S. 91), die physiologische Erklärung in La Religieuse sei zwar präsent, jedoch nur diskret vorhanden, beruht auf dem impliziten Bedauern, dass es an einer als Autorstimme identifizierbaren Instanz fehle, mittels derer der Physiologie explizit eine Erklärungsfunktion zuerkannt werde. Dass sich jedoch gerade in Suzannes narrativem Verhalten eine klinische Dimension verbirgt, in der sich der physiologische Ansatz allererst entfaltet, wird übersehen. Zu Suzannes Funktion als klinische Beobachtungsinstanz siehe das nachfolgende Kapitel.

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2.3.2 Das klinische Auge der Narration und die interpretative Leerstelle Im vorherigen Abschnitt wurde für eine Verlagerung des sensibilité-Begriffs zugunsten eines physiologischen Verständnisses argumentiert; eine Verlagerung, die tradierte Begriffsverständnisse nicht annihiliert, sondern sie gleichsam zur Voraussetzung macht. Dieses Unterkapitel verfolgt das Ziel, diese semantische Umwertung auch auf stilistischer und narratologischer Ebene nachzuzeichnen. Dieser Schritt ist insofern relevant, als Suzannes spezifischer Narrationsstil die Beteiligung des Rezipienten aktiviert und daher als Instrument einer aufklärerischen Funktion des Werkes betrachtet werden soll. Hierauf wird später zurückzukommen sein. Die Diderot-Forschung hat in Bezug auf La Religieuse wiederholt auf den ‚klinischen‘ bzw. wissenschaftlichen Stil des Werkes hingewiesen, was es ihr gleichermaßen erlaubte, Bezüge zu naturwissenschaftlichen Diskursen herzustellen332 wie eine generell epistemologische Funktion der Narration hervorzuheben.333 In der Tat lassen sich zahlreiche Abschnitte des Romans insofern als Imitation des zeitgenössischen medizinischen Diskurses lesen, als auf terminologischer wie inhaltlicher Ebene Bezugnahmen auf die Ergebnisse der zeitgenössischen Physiologie in Suzannes Narration eingewoben sind. Dass mit der Imitation eines ‚klinischen‘ Stils jedoch mehr tangiert wird, als eine bloß terminologische bzw. stilistische Ebene, dass sich vielmehr eine an der zeitgenössischen klinischen Physiologie orientierte Narration auch auf deren epistemologische Ideale und Voraussetzungen berufen kann, wird im Folgenden zu zeigen sein. In La Religieuse regiert der Blick auf den Körper Dargestelltes und narrative Darstellung gleichermaßen: Die von Suzannes Verfolgern vorgenommene körperliche Viktimisierung (Ebene der histoire) wird erzählerseitig durch einen deskriptiven Modus (Ebene des discours) gespiegelt, der den Körper als System anatomischer Funktionsbeziehungen ganz buchstäblich unter die Lupe nimmt. So wird bspw. Suzannes gefesselter Zustand zeichenhaft durch die aus den Fesseln resultierende Blutstauung repräsentiert: „[…] la corde dont on me les avait liées [i. e. les mains] m’était entrée presqu’entièrement dans les chairs, et elles étaient toutes violettes du sang qui ne circulait plus et qui s’était extravasé.“334 Als dem medizinischen Diskurs entnommener Terminus steht das Verb extravaser335 paradigmatisch für eine physiologische Orientierung

332

Z. B. May 1954; Vila 1998; Von Held, Phoebe, „‚Le grand oubli de Suzanne Simonin‘. A premature case of amnesia in Diderot’s La Religieuse“, in: SVEC 2007:06 (2007), S. 83–100; Storck, Barbara, Erzählte Enge. Raum und Weiblichkeit in französischen Erzähltexten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2009; sowie Wenger 2013. 333 Vila 1990; Beisel 1991. Die folgenden Überlegungen sind einer kritischen Auseinandersetzung mit Vilas Thesen zu verdanken. 334 Diderot, La Religieuse, S. 174. 335 Im Dictionnaire de l’Académie françoise (Ausgabe von 1765) findet sich unter dem Eintrag extravaser folgende Definition, die das Verb eindeutig dem medizinischen Diskurs zuordnet: „Il ne se dit proprement que du sang & des humeurs qui sortent des veines & de leurs vaisseaux ordinaires, &

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des Textes, die den gequälten Körper in all seinen rohen Funktionszusammenhängen zur Darstellung bringt. Anne Vilas Publikationen verlegen den Fokus erstmals vom Modus und der Logik der (empfindsamen) Erzählsituation und ihrer Themen in La Religieuse auf deren bis dato zwar erkannte, aber nicht systematisch untersuchte eigenartige medizinische Fundierung, die sich als an die zeitgenössische vitalistische Forschung anschließbar erweist. Die emotionslose Distanz,336 die für Suzannes Narration immer dann zu konstatieren ist, wenn es nicht um die Darstellung ihres persönlichen Leids, sondern um die Beschreibung Anderer – ihrer Schwestern und Oberinnen – geht, deutet Vila schlüssig als exemplarischen Ausdruck einer klinischen Beobachtungsperspektive, die im Konzept des médecin philosophe im 18. Jahrhundert zu diagnostischer Vollendung gelangt.337 Mittels dieser stilistischen Annäherung an eine klinische Tätigkeit, die im Begriff des médecin philosophe auf die spezielle Diagnostik der vitalistischen Schule referiert,338 wird der im Phänomen sensibilité zur Ausdruck gebrachte physiologische Fokus auf den Körper gleichsam in die Struktur des Textes eingeschrieben. Ist für die diagnostische Tätigkeit des médecin philosophe seine Fähigkeit zur beobachtenden Distanzierung maßgeblich, so folgt daraus, dass mittels eines diese vitalistische Diagnosepraxis imitierenden Erzählstils die Einstellung des Erzählsubjekts zu den von ihm vermittelten Inhalten zur Disposition gestellt wird. Das Zusammenspiel von physiologischen Inhalten, Erzählstil und narrativem Nähe-Distanz-Verhältnis soll im Folgenden anhand einer Reihe prägnanter Textstellen beleuchtet werden. Was diese Textbeispiele eint, ist die zentrale Setzung körperlicher Beobachtungsobjekte. Neben seiner logischen Inkohärenz besteht das auffälligste Merkmal von Suzannes erzählerischem Verhalten in dem Gebrauch situativer Details, deren pragmatische invraisemblance bereits an vorheriger Stelle kommentiert wurde. Suzannes Rolle als erzählende Diagnostikerin, die ihr u. a. von Anne Vila zuerkannt wird, hängt mit ebendiesem Detailreichtum zusammen und im Speziellen mit der Frage, welche Einzelheiten sie als berichtswürdig erachtet. Paradigmatisch ist Suzannes Beschreibung ihrer sterbenden Freundin Sœur Ursule, die als Paradebeispiel klinischer Narrativik in La Religieuse gelten kann: La sœur Ursule ne m’avait presque point quittée. Lorsque je commençais à reprendre des forces les siennes se perdirent; ses digestions se dérangèrent; elle était attaquée l’après-midi de défaillances qui duraient quelquefois un quart d’heure. Dans cet état elle était comme

qui se répandent sous la peau, dans les chairs, & dans quelques parties du corps, où ils ne doivent pas être.“ 336 Duflo 2003, S. 83, konstatiert in Suzannes Verhalten eine Leidenschaftslosigkeit, die im Kontext ihrer Zeit eine Ausnahmeerscheinung darstelle. 337 Vila 1998, S. 153. Vila zieht als Beleg den von Bordeu verfassten Eintrag ‚Crise‘ der Encyclopédie heran. Vgl. ebenfalls Vila 1990, S. 776. 338 Vgl. bspw. Diderot, La Religieuse, S. 197.

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morte, sa vue s’éteignait, une sueur froide lui couvrait le front et se ramassait en gouttes qui coulaient le long de ses joues; ses bras sans mouvement pendaient à ses côtés; on ne la soulageait un peu qu’en la délaçant et qu’en relâchant ses vêtements.339

Textstellen wie diese zeugen von Suzannes ausgeprägter Beobachtungsfähigkeit in physischen Angelegenheiten. Angesichts des Umstandes, dass es sich bei dem Beschreibungsobjekt um jene Schwester handelt, von der Suzanne kurz zuvor selbst bis zur Selbstaufgabe gesund gepflegt worden war, ist die Distanz der Erzählerin erstaunlich. Obwohl Ursule sich ganz offensichtlich in einem kritischen Zustand befindet, bleibt Suzanne emotional uninvolviert. Wichtiger als ihre Einstellung gegenüber dem Krankheitszustand der Freundin sind ihr die klinischen Zeichen dieser Krankheit. So ist es gerade Suzannes emotionale Distanz zur beobachteten Situation, die den Detailreichtum der Beschreibung erst ermöglicht. Ursules physischer Zustand wird zum Objekt einer klinischen Begutachtung, in der jede Ausprägung ihrer Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes unter die observierende Lupe genommen wird. Wie unter dem Vergrößerungsglas werden verschiedene Körperzonen und -vorgänge nacheinander untersucht, wird gar die Laufbahn von Ursules Schweiß nachverfolgt; selbst der Status der Verdauungsabläufe wird als relevante Information erachtet. Können diese Informationen über Ursules Zustand im narratologischen Sinne als situative Details abgehandelt werden, so stellen sie aus der klinischen Perspektive Symptome dar, die von einem erfahrenen médecin philosophe zu einer Diagnose kombiniert werden können. Was Vila in ihrer Untersuchung hingegen nicht berücksichtigt, ist der Umstand, dass Suzanne im Unterschied zu jenem médecin philosophe auf der Beschreibungsebene verweilt und ihre Beobachtungen nicht zu einer interpretierenden Diagnose kombiniert. Der Luzidität der Beobachtungen folgt keine ebenso luzide Interpretation. Suzannes narrative Funktion lässt sich daher als die eines klinischen Auges begreifen, das aus einer emotional distanzierten Position detaillierte Körperbeschreibungen, jedoch keine Diagnosen im eigentlichen Sinne liefert. Die Frage lautet mithin: Welchem Zweck dienen diese Beschreibungen? Vila hat eindrucksvoll gezeigt, dass sowohl der Inhalt der Beschreibungen als auch der observierende Modus und das klinische Ideal, auf das sich die dargestellte Art der Untersuchungsführung berufen kann, einer vitalistisch-physiologischen Orientierung folgen.340 Relevant ist folglich nicht allein, dass, sondern gleichsam was und wie Suzanne beobachtet. Vor dem von Vila herausgearbeiteten Hintergrund der vitalistischen Epistemologie beziehen sich Modus und Inhalt der Beschreibungen auf die klinischen Symptome einer gestörten sensibilité-Ökonomie. Der Körper wird so zum Ort einer semiologischen Dechiffrierung.341 Diese De-

339 Ebd., S. 198 f. 340 Vila 1990, S. 776. 341 Ähnlich Coudreuse 1999a, S. 195–198.

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chiffrierung wird von Suzanne nicht geleistet, da das Zeichen lediglich in seiner Form beschrieben wird und hinsichtlich des Interpretationsaktes eine Leerstelle bleibt. Die interpretativen Leerstellen des klinischen Beobachtungsmodus werden insbesondere dann manifest, wenn Suzanne mit den physischen Zeichen von Sexualität konfrontiert wird. Interpretationen hinsichtlich des erotischen Charakters ihrer Begegnungen mit der Oberin von St. Eutrope werden stets zugunsten detaillierter Körperstudien ausgespart: La main qu’elle avait posée sur mon genou se promenait sur tous mes vêtements depuis l’extrémité de mes pieds jusqu’à ma ceinture, me pressant tantôt dans un endroit, tantôt en un autre; elle m’exhortait en bégayant et d’une voix altérée et basse à redoubler mes caresses, je les redoublais; enfin il vint un moment, je ne sais si ce fut de plaisir ou de peine, où elle devint pâle comme la mort, ses lèvres se fermèrent d’abord, elles étaient humectées comme d’une mousse légère, puis sa bouche s’entrouvrit, et elle me parut mourir en poussant un grand soupir.342

Suzannes klinisches Auge zeichnet die Vorgänge des erregten Körpers präzise nach, ohne sie als natürliche Ausprägung von Sexualität zu interpretieren. „Sachliche Explizität“343 und Ablehnung des sexualisierten Körpers stehen bei Suzanne stets in einem paradoxalen Verhältnis. Wo sie die körperlichen Auswirkungen ihrer zärtlichen Begegnungen mit der Oberin nur zu konstatieren, jedoch – vorgeblich – nicht zu deuten vermag, entsteht eine interpretative Leerstelle, die nur leserseitig kompensiert werden kann: Während die Erzählerin eine Deutung verweigert, tritt der Leser selbst in die Position des Interpreten ein,344 indem er die physiologischen Deskriptionen zwangsläufig auf das Handlungsgeschehen bezieht. Entscheidend ist, dass er diese Verbindung anhand von Informationen herstellt, die Suzannes klinischer Observationsmodus ihm bereitstellt. Indem der Leser so in die interpretierende Rolle gezwungen wird, übernimmt er eine Funktion, die gattungstypologisch eigentlich mit der das Geschehen retrospektiv überblickenden und einordnenden Erzählstimme des roman-mémoires verbunden ist:345 Da Suzanne als Erzählerin nicht leistet, was die Gattung des Memoi342 Diderot, La Religieuse, S. 227, Herv. d. Vf.in. 343 Beisel 1991, S. 89. 344 Wenger beschreibt daher die Funktion des die „interpretative gaps“ kompensierenden Lesers als eine diagnostische (Wenger 2013, S. 25). Während ich in den nachfolgenden Kapiteln für eine Relevanz von Suzannes erzählerischer Unzuverlässigkeit, die sich u. a. in den chronologischen Inkohärenzen manifestiert, für die Bedeutungskonstitution des Textes argumentiere, bezieht Wenger die Diagnosetätigkeit des Lesers auf eine autoreflexive Beschäftigung des Romans mit der Überzeugungskraft von Fiktionen und erkennt Ähnlichkeitsrelation zwischen der literarischen Fiktion und medizinischen Fallberichten. 345 Zu der mit dem Problem von Erzählerstimme und retrospektiver Evaluation verbundenen Frage der Gattungszugehörigkeit siehe Rustin, Jacques, „La Religieuse de Diderot: mémoires ou journal intime?“, in: Le Journal intime et ses formes littéraires. Actes du Colloque de septembre 1975, hg. v. V. Del Litto, Genf 1978, S. 24–47.

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renromans in die Chronologie der Narration betreffender Hinsicht verspricht, wird dieses Versäumnis leserseitig kompensiert. Im oben zitierten Beispiel wird die Problematik einer fehlenden evaluierenden Rückschau anhand des Orgasmus der Oberin verdeutlicht, dessen physiologische Erscheinung die observierende Suzanne vorgeblich ahnungslos zurücklässt. Ob es sich um Zeichen des plaisir oder im Gegenteil um solche der peine handelt, vermag Suzanne nicht zu beantworten. Der semiotische Prozess wird abgebrochen, obwohl Suzanne über ein persönliches Erfahrungswissen verfügt, das es ihr erlauben würde, den Körper der Mme *** korrekt zu deuten. Dies beweist sie auf der dem obigen Zitat folgenden Seite, als sie von ihren am eigenen Leib erfahrenen Erregungszuständen berichtet: Je ne sais ce qui se passait en moi, je craignais, je tremblais, le cœur me palpitait, j’avais de la peine à respirer, je me sentais troublée, oppressée, agitée, j’avais peur, il me semblait que les forces m’abandonnassent et que j’allais défaillir; cependant je ne saurais dire que ce fût de la peine que je ressentisse.346

Angesichts der Präzision der Körperdarstellung geht Suzannes als Litotes maskiertes Lustgeständnis fast unter. Dennoch führt die Einsicht, das hier beschriebene körperliche Empfinden habe ihr durchaus Vergnügen bereitet, in der Rückschau des Erlebten nicht zu einer Evaluierung der körperlichen Zeichen, die sie an ihrer Oberin beobachtet. Ein Abgleich eigener und beobachteter Erfahrungen findet nicht statt. Im Gegenteil wird die retrospektive Verknüpfung und Evaluierung von Wissen unter dem Vorwand einer naiven Beschreibungsfunktion stets dermaßen verweigert, dass diese Verweigerungshaltung als zentrales Merkmal der Erzählsituation in La Religieuse zu gelten hat. Der interpretierende Akt retrospektiven Erzählens wird stets zugunsten einer übersteigerten Beschreibungsfunktion ausgespart.347

346 Diderot, La Religieuse, S. 228, Herv. d. Vf.in. 347 Es ließe sich nun entgegnen, dass Suzanne durchaus einen Interpretationsansatz formuliert, indem sie die gesteigerte Sensibilität ihrer Oberin, die Eifersucht der Schwester Thérèse sowie ansatzweise auch ihre eigene Erregung als ansteckende Krankheit zu erklären versucht: „[…] le résultat de mes réflexions, c’est que c’était peut-être une maladie à laquelle elle [i. e. la supérieure] était sujette; puis il m’en vint une autre, c’est que peut-être cette maladie se gagnait, que Ste. Thérèse l’avait prise, et que je la prendrais aussi.“ (La Religieuse, S. 230) Gleichwohl ist dieser Deutungsversuch aus zweierlei Gründen schwerlich als Evaluation des Vergangenen ernst zu nehmen: Zum einen bezeichnet der Begriff ‚Krankheit‘ eindeutig einen negativen, mit Schmerz verbundenen Zustand, wohingegen Suzanne an voriger Stelle bereits auf den vergnüglichen Charakter ihres Erregungszustandes hingewiesen hat. Die Krankheitshypothese dient Suzanne letztlich dazu, eine positive Interpretation des Erlebten absichtlich abzuschneiden, um das an der Oberin beobachtete Verhalten im Umkehrschluss als deviant und schädlich zu stigmatisieren. Auf diese Weise tritt Suzanne hinter die Maske der unbefleckten Beobachterin zurück, ohne ihre moralische Integrität als Erzählerin zu gefährden. Zum anderen ist die Krankheitshypothese schon deshalb suspekt, weil Suzanne zum Zeitpunkt der Redaktion ihres mémoire durchaus über die Bedeutung des beschriebenen Verhaltens aufgeklärt ist. Als eine der zahlreichen Diskrepanzen in Suzannes Narration wirkt sie als Indiz für Suzannes erzählerische Unzuverlässigkeit. Grundsätzlich fügt sich die Krankheitshypo-

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Mit dem in Suzannes Erregungsmoment zum Ausdruck gebrachten Kontrast zwischen erfahrener sensibilité und distanzierter, ‚unsensibler‘ Beobachtung ist ein zentrales Problem in Suzannes Narration angesprochen. Vila zufolge ist Suzanne in quasi schizophrener Weise „split between her insensibility as a conscious observing subject, and her clearly reactive sensibility as an observed object“, was Vila als komplementäre Entfaltung einer kognitiven, die diagnostische Beobachtungs- und Kombinationsfähigkeit betreffende, und einer emotional-physiologischen sensibilité bewertet.348 Das Problem dieser Analyse besteht jedoch darin, dass sie den literarischen Charakter der Erzählsituation und ihre chronologischen Besonderheiten nicht hinreichend berücksichtigt. Denn Suzanne ist eben nicht gleichzeitig distanziert und empfindsam: Vielmehr ist sie als erlebendes Ich empfindsam für sexuelles Erleben, während sie in ihrer rückblickenden Funktion als erzählendes Ich diese Sensibilität verleugnet und sich auf eine distanzierte Beobachtungsposition zurückzieht. Es handelt sich damit in letzter Konsequenz um ein narratologisches Problem, das in der Leerstelle zwischen aktualer Beobachtung der erlebenden und fehlender posteriorischer Evaluation der erzählenden Suzanne manifest wird. Ebendiese Leerstelle ist das zentrale Element der Wirkungsästhetik von La Religieuse. Die zitierten Textstellen zeigen deutlich, dass interpretative Leerstellen in Suzannes Diskurs immer dann entstehen, wenn sie sich der Beschreibung körperlicher Phänomene widmet. Innerhalb der Ökonomie von Suzannes récit stellen sich hinsichtlich Modus und Inhalt dieser Sequenzen zwei zentrale Fragen: Welche pragmatische Relevanz besitzen diese Detailangaben im Allgemeinen und ihr physiologischer Tenor im Speziellen für das Anliegen der Erzählerin? Wie verhält sich das implizite Wissen um physiologische Diskurse darüber hinaus zur vraisemblance der Figur Suzanne? Das Ausmaß an Beschreibungen, die eine physiologische Sicht auf den Menschen kodieren, wirkt auf den Leser insofern irritierend, als diese Informationen keinerlei pragmatische Relevanz für das konkrete Anliegen an den Marquis de Croismare besitzen. In rezeptionsästhetischer Perspektive ist die leserseitige Irritation über Fülle und Inhalt der Details daher als Aufforderung an den Leser zu werten, Suzannes Position als Erzählerin skeptisch zu hinterfragen. Eine kritische Positionierung des Lesers zur Narration und ihrem Subjekt ist schon aufgrund der offensichtlichen Inkohärenz der Figur Suzanne angezeigt. Aus Gründen der Wahrscheinlichkeit kann das Wissen über die den Beschreibungen zugrundeliegenden physiologischen Diskurse nicht dem Verantwortungsbereich der Erzählerin zugeordnet werden. Im Gegenteil lassen sich die these nahtlos in die physiologische Ausrichtung des Romans ein. Suzanne macht hier explizit auf einen Zusammenhang aufmerksam, der dem Roman programmatisch zugrunde liegt. 348 Vila 1990, S. 789 f. Implizit spricht sich Vila folglich für eine in La Religieuse literarisch umgesetzte Lösung des im Paradoxe sur le comédien ausführlich thematisierten Problems von emotionaler Teilnahme und distanzierter Urteilsfähigkeit aus. Suzannes aliénation nimmt in Vilas Analyse insofern eine Scharnierfunktion ein, als der Zustand emotionaler Entfremdung im Sinne einer epistemologischen Operation die Distanzierung der Heldin von dem Geschehen erst ermöglicht.

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Diskrepanzen von Charakter, Diskurs und Wirkungsanliegen nur mittels einer Differenzierung der narrativen Kommunikationssituationen und deren Instanzen erklären. Im Auseinandertreten von explizit ausgewiesener Wirkungsintention der Erzählerin und jener Wirkungsästhetik, die als dem Text tatsächlich zugrundeliegend analysiert werden kann, manifestiert sich der fiktionale Status der Erzählsituation. Ihre Diskrepanzen und Inkohärenzen sollen daher als Fiktionssignale und in letzter Konsequenz als Hinweise auf eine auktoriale Präsenz im Text, die für diese verantwortlich zeichnet, betrachtet werden.349 Mittels der Differenzierung der Kommunikationsebenen wird Suzannes Charakterzeichnung zwar nicht weniger invraisemblable; sie bietet aber die Möglichkeit, diese invraisemblance als intentionale Anlage der Figur zu betrachten und ihr somit als Element einer auktorial angelegten Strategie wirkungsästhetische Funktionen beizumessen. Jene Details körperlicher Beschreibungen, die für die Kommunikation zwischen Suzanne und dem Marquis streng genommen nichtig sind, besitzen im Rahmen des Kommunikationsverhältnisses von realem, anonymem Leser und realem Autor durchaus eine wirkungsästhetische Relevanz. Anders formuliert: Die diskrepanten Elemente der fiktiven Erzählsituation werden auf einer höheren Ebene des literarischen Kommunikationsmodells als Teil einer auktorial angelegten Wirkungsästhetik refunktionalisiert. Diese Refunktionalisierung operiert dabei in komplexer Weise selbst auf unterschiedlichen, wenn auch interdependenten Niveaus. Indem die Diskrepanzen die Grenzen der Erzählstimme markieren und auf diese Weise die interpretative Leistung des Lesers erst aktivieren, betrifft die Refunktionalisierung zum einen eine epistemologische Dimension des Textes. In diesem Sinne ist es sein diskrepanter Charakter selbst, der das spezifisch Ästhetische des Romans darstellt: Die in Suzannes Diskurs entstehenden Leerstellen stellen dem Leser die Aufgabe, die Interpretationen im Hinblick auf Sexualität und sensibilité eigenständig zusammenzufügen. Zum anderen werden auch die für Suzannes diskursives Anliegen im engeren Sinne überflüssigen Informationen in inhaltlicher Perspektive refunktionalisiert, indem Modus und Inhalt der Körperbeschreibungen für eine kritische Textfunktion rückgewonnen werden.350 Mit der physiologischen Sicht auf den Körper und die Grundannahmen der vitalistischen 349 Zum Begriff der Fiktionssignale und ihrer theoretischen Unterscheidung von den Fiktionsmerkmalen siehe Hempfer, Klaus W., „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), S. 109–137, dort S. 121. 350 Goldberg, Rita, Sex and Enlightenment. Women in Richardson and Diderot, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 1984, S. 193, bewertet Suzannes Unschuld als „primarily epistemological“ und hebt damit im Grunde, wenn auch nicht ausdrücklich, ebenfalls auf eine Differenzierung von Erzähler- und Autoranliegen ab. Suzannes unschuldige Naivität sei nur überzeugend, wenn sie als Ermöglichung transparenter Beobachtungen gelesen werde. Im Umkehrschluss mache diese narrative Funktion als Observationsinstanz eine Lernentwicklung der Erzählerin unmöglich. Gemäß Goldberg sind die Diskrepanzen des Romans, die aus dieser unschuldigen Beobachterfunktion hinsichtlich der formalen und chronologischen Anforderungen des roman-mémoires erwachsen, folglich ein Produkt seiner wirkungsästhetischen Funktion.

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Medizin wird die anhand empfindsamer Erzählmotive und -topoi umgesetzte Kritik an der vocation forcée um eine physiologisch begründete Kritik an der Institution Kloster im Speziellen und der katholischen Religion im Allgemeinen erweitert. Im Sinne einer ‚physiologischen‘ Anthropologie wird die den Menschen determinierende Umwelt hinsichtlich ihres Einflusses auf dessen physiologische Konstitution untersucht. In einem späteren Kapitel (2.4.3.) wird zu zeigen sein, dass dieser Erkenntnisschluss des Lesers mithilfe der Argumentation im Plädoyer des Anwalts Manouri durchgeführt wird, indem abstrakte Argumente und konkrete Fallbeschreibung zu einem physiologisch-philosophischen Problem von Frau und Kloster verbunden werden. Zentral ist, dass die vom Leser zu leistende Erkenntnis über den schädlichen Einfluss katholischer Klosterpraktiken ebenso physiologischer Natur ist wie die Art des Erkenntnisprozesses auf der empiristischen Epistemologie physiologischer Diagnostik beruht: Die von Suzanne auf der Beschreibungsebene zusammengetragenen körperlichen Zeichen werden leserseitig semiotisch als Symptome einer durch das widernatürliche Klima der Institution Kloster gestörten sensibilité dechiffriert. Mittels der in La Religieuse imitierten medizinischen Diskursformationen vollzieht sich die epistemologische und inhaltlich-kritische Bedeutungskonstitution in einem wechselseitigen Prozess. 2.4 Diskrepanzen vs. bévues: Narrative Diskrepanzen als Instrumente kritischer, metapoetischer und epistemologischer Bedeutungskonstitution Ziel der nachfolgenden Abschnitte ist es, zu zeigen, dass die Diskrepanzen, die sich anhand der interpretativen Leerstellen der medizinischen Observation in Suzannes narrativem Projekt andeuten, ein strukturelles Merkmal des Romans darstellen und als solches wirkungsästhetisch funktionalisiert sind. Dabei gilt es im Folgenden drei Problemfelder zu untersuchen, deren narrative Ausgestaltung in La Religieuse in besonderem Maße Diskrepanzen aufweist: Aufrichtigkeit und (un-)zuverlässiges Erzählen, das Spannungsfeld von empfindsamer Unschuld und Sexualität, sowie die Urheberschaft der in Suzannes récit eingewobenen ideologisch fundierten Kritik. 2.4.1 Erzählerische franchise und unzuverlässiges Erzählen Der Aspekt der Aufrichtigkeit ist für die Analyse von La Religieuse zu berücksichtigen, weil Suzanne gleich eingangs ihre franchise als zentrales Persönlichkeitsmerkmal hervorhebt (vgl. „avec la franchise de mon caractère“351) und somit ihren récit von Be-

351

Diderot, La Religieuse, S. 82.

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ginn an unter das Prinzip erzählerischer Zuverlässigkeit stellt. Mittels des Verweises auf diese Eigenschaft weckt sie leserseitig die Erwartung einer verlässlichen retrospektiven Einordnung des Erlebten im Sinne der narratologischen Anforderungen des roman-mémoires. Bezugspunkt dieser erwarteten Zuverlässigkeit der Erzählinstanz ist neben den chronologischen Voraussetzungen der Wissensbestände von erzähltem und erzählendem Ich ebenso die Glaubhaftigkeit von Suzannes Motivation als Erzählerin. Mittels der Schilderung der überhörten Beichte ihrer Oberin führt Suzanne jedoch nicht nur ihren Unschuldsvorbehalt und ihr Bekenntnis zur franchise, sondern gleichsam die Logik retrospektiven Erzählens ad absurdum. Doch Suzannes Diskurs verstrickt sich nicht erst am Ende in logische Widersprüche, er weist durchgehend inkonsistente Elemente unterschiedlicher Ausprägung auf. Dabei betrifft der Großteil der Inkohärenzen das Verhältnis der Wissensbestände von moi narré und moi narrant und somit das konstitutive Merkmal des roman-mémoires. Eine erste Darbietung eines inkonsistenten Erzählverfahrens liefert Suzanne bereits im Rahmen ihres Selbstporträts zu Beginn des récit. Obwohl sie zum Zeitpunkt der Niederschrift ihres mémoire durchaus über ihre Herkunft aufgeklärt ist und den Umstand dieser Aufklärung später auch schildert, wird dieses Wissen im Akt der Narration zum bloßen „soupçon“ verklärt: Peut-être mon père avait-il quelque incertitude sur ma naissance; peut-être rappelais-je à ma mère une faute qu’elle avait commise, et l’ingratitude d’un homme qu’elle avait trop écouté; que sais-je. Mais quand ces soupçons seraient mal fondés, que risquerais-je à vous les confier?352

In der Proposition „que sais-je“, die im Präsens-Tempus die vermeintliche Ahnungslosigkeit des erzählenden Ich markiert, wird das logische Paradoxon der Erzählsituation in La Religieuse formelhaft zusammengefasst. Die Diskrepanzen vorliegenden Typs beruhen folglich darauf, dass die erzählende Suzanne ihr im Verlauf des temps narré erworbenes Wissen nicht zur Deutung oder Einordnung des erzählten Geschehens nutzt, sondern im Gegenteil einen Status der naiven Unwissenheit geltend macht, der in Anbetracht der Erzählkonstellation logisch unhaltbar ist. Gattungstypologisch bewegt sie sich mit diesem narrativen Verhalten zwischen den Genres des roman à lettres, des fiktiven Tagebuchs und des roman-mémoires.353 Hervorzuheben ist, dass diese Diskrepanzen sich leserseitig nicht erst unter Berücksichtigung der erhellenden Beichtszene am Ende des Romans, also in der reflektierenden Rückschau des Lesers auf den Text, ergeben, sondern diesen von Beginn an strukturieren. Diejenigen Diskrepanzen, die das Verhältnis der Wissensbestände von erzähltem und erzählendem Ich betreffen, sind dem Bereich der Narratologie zuzurechnen. Da352 353

Ebd., S. 84, Herv. d. Vf.in. Die Kursivierung markiert einen im Originalmanuskript noch nicht vorhandenen Zusatz; vgl. Diderot/Parrish 1962, S. 60. Zu dieser Frage siehe auch Rustin 1978.

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neben lassen sich in La Religieuse auch im Konstrukt des erzählten Ich Diskrepanzen nachweisen, die anhand eines Beispiels verdeutlicht werden sollen. Bekanntlich ist das Verhältnis Suzannes zur Oberin von St. Eutrope in seiner narrativen Repräsentation von einem wissensmäßigen Ungleichgewicht geprägt, das darin besteht, dass die junge Nonne die homoerotische Natur ihrer Begegnungen vorgeblich nicht als solche zu deuten vermag, da ihr das für eine derartige Interpretation nötige Wissen um die Ausprägungen von Sexualität fehlt. Dass jedoch nicht nur die gereifte, rückblickende Erzählerin, sondern auch das junge erzählte Ich bereits über Wissen dieser Natur verfügt, gibt sie selbst zu, als sie ein Beispiel für ihren Widerstand im Kloster von Longchamp anführt: „Je m’étais échappée en propos indiscrets sur l’intimité suspecte de quelques-unes des favorites; la supérieure avait des tête-à-tête longs et fréquents avec un jeune ecclésiastique, et j’en avais démêlé la raison et le prétexte.“354 Mit der Andeutung, dass sowohl die Schwestern untereinander als auch die Oberin und ein gewisser junger Kirchenmann ein Verhältnis sexueller Natur pflegten, beweist Suzanne, dass die Gewohnheiten der lesbischen Oberin ein ihr durchaus bekanntes Verhalten wiederholen. Diskrepant ist dieser Umstand folglich zum einen aus narratologischer Sicht im Hinblick auf die Wissensverarbeitung der Erzählung, zum anderen im Hinblick auf die Kohärenz der erzählten histoire. Denn das oben zitierte Geständnis Suzannes steht in grobem Widerspruch zu ihren späteren Beteuerungen, in ihrem Verhältnis zur Oberin lediglich eine zärtliche Form weiblicher Freundschaft zu erkennen: „En vérité, je ne suis pas un homme et je ne sais ce qu’on peut imaginer d’une femme et d’une autre femme, et moins encore d’une femme seule […].“355 Auf histoire- wie auf discours-Ebene setzt Suzanne ihr Verständnis- und Deutungsvermögen höchst selektiv ein.356 Im Anschluss an die zwei genannten Beispiele erzählerischer Unzuverlässigkeit – Suzannes Wissen um ihre Herkunft sowie um (Homo-)Sexualität – lassen sich zwei Aspekte festhalten: Erstens können die den Leser konfrontierenden Inkohärenzen in La Religieuse in Diskrepanzen narratologischer Art, die das Verhältnis von erzählen354 Diderot, La Religieuse, S. 131. 355 Ebd., S. 164. Vgl. ähnlich ebd., S. 258, S. 270. 356 Inge Beisels an einer Theorie der ‚Sympraxis‘ – mit Rolf Kloepfer verstanden als „zeichengesteuertes Mithandeln des Adressaten“ (Beisel 1991, S. 71) – orientierte Lektüre bescheinigt Suzanne in der Longchamp-Episode aufgrund ihrer Sachlichkeit hingegen „positive Werte wie Ehrlichkeit, Luzidität, Urteilsfähigkeit, Bescheidenheit“ (ebd., S. 97), die eine Identifikation des Lesers mit der Protagonistin förderten. Die oben zitierten Passagen aus dem Longchamp-Teil machen m. E. hingegen deutlich, in welchem Ausmaß Suzannes Luzidität selektiv ist. Da Beisel die Widersprüche und Diskrepanzen des Textes nicht in ihre Analyse einbezieht, bleibt deren ‚sympraktisches‘, da dissoziatives Potential unkommentiert. Entgegen der Argumentation der Vf.in, die eine erste Verlagerung der Leseridentifikation auf die Transformation von Suzannes Glaubensauffassung (von aufrichtiger Frömmigkeit zu passivem Erdulden) zurückführt und in der „wissensmäßige[n] Überlegenheit“ (ebd., S. 119) des Lesers in der St. Eutrope-Episode schließlich eine Ablösung erkennt, lautet meine These, dass im zweiten Teil durchaus eine Distanzierung stattfindet, dass diese jedoch auf den in diesem Teil z. T. eklatanten Diskrepanzen der Erzählsituation beruht. Die bereits im ersten Teil angelegten Elemente erzählerischer Unzuverlässigkeit bereiten diese Umwertung vor.

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dem und erzähltem Ich betreffen, sowie auf der histoire-Ebene zu verortende Diskrepanzen des moi narré unterschieden werden. Zweitens ist deutlich geworden, dass in Narration und histoire nicht erst in der Rückschau des Lesers auf die beendete Lektüre, sondern bereits im Prozess der Lektüre diskrepante Aspekte auszumachen sind. Die Forschungslage hinsichtlich der Diskrepanzen und ihrer möglichen Bedeutung stellt sich divers dar. Im Anschluss an Georges May hat sich die Tradition herausgebildet, von den Inkohärenzen des Romans als ‚Lapsus‘ bzw. bévues zu sprechen.357 Von einem fehlenden Bewusstsein des Autors für die mitunter enormen Diskrepanzen der Erzählsituation kann in Anbetracht der Erkenntnisse über die Textgenese heute jedoch nicht mehr plausibel ausgegangen werden. Im Gegenteil lässt ein Vergleich des Originalmanuskriptes mit der zitierten Textfassung der Œuvres complètes und ihrer Varianten auf eine Intentionalität der Diskrepanzen schließen.358 Veranschaulichen lässt sich dies an der zentralen Diskrepanz des Werkes, an Suzannes Darstellung ihrer homoerotischen Begegnungen mit der Oberin von St. Eutrope. Jeder Leser von La Religieuse weiß um das narratologische Problem, das sich am Ende des Romans ergibt, als sich Suzannes im Verlauf des récit ostentativ betontes Unverständnis über Dinge sexueller Natur im Allgemeinen und die Vorlieben ihrer Oberin im Besonderen als unhaltbar erweist. Es sollen nun zur Evaluation dieses Problems einige zentrale Passagen, die diese Begegnungen verhandeln, rekapituliert werden. Ein Blick in die Genese des Romans wird es uns gestatten, begründete Hypothesen über die Intentionalität der diskrepanten Textstellen zu formulieren. Ihr erstes intimes Treffen mit der Oberin von St. Eutrope erinnert Suzanne mit folgender Mischung aus Beschreibung und moralischer Bewertung:

357

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May 1954 (S. 206–210) macht eine übermäßige Identifikation des Autors mit seiner Figur für die Fehler in der (chrono-)logischen Kohärenz des Werkes verantwortlich. Ähnlich unterstellt Robert Mauzi Diderot die „impatience“ eines exaltierten Autors, der dem Eifer der Kreation unterlegen sei; siehe „Préface“, in: Diderot, Denis, La Religieuse, hg. v. R. Mauzi, Paris 1972, S. 22. Publikationen, die das Problem aus der Perspektive einer der Wahrscheinlichkeit verpflichteten Figurendarstellung untersuchen, folgen Jacques Proust und verorten die Diskrepanzen im Verantwortungsbereich der Erzählfigur. Proust argumentiert in „Recherches nouvelles sur La Religieuse“, in: Diderot Studies 6 (1964), S. 197–214, für eine „maladresse“ des récit, die sich konform zum Motto von Suzannes Selbstbeschreibung (vgl. „sans talent et sans art“) präsentiere. Der Aufsatz von Fowler, James, „Suzanne at Ste Eutrope: Negation and narration in La Religieuse“, in: Diderot Studies 27 (1998), S. 83–96, bedient sich psychoanalytischer Theorien, um Suzannes Wissensverweigerung als Folge psychologischer Wissensunterdrückung zu erklären. Barbara Storck deutet die logischen Widersprüche als mimetische Darstellung einer durch die räumliche Enge des Klosters induzierten Hysterie; siehe Storck 2009, S. 31–66. Edmiston, William, „Narrative voice and cognitive privilege in Diderot’s La Religieuse“, in: French Forum 10 (1985), S. 133–144, analysiert die logischen Diskrepanzen, die der Dominanz des erlebenden gegenüber dem reflektierenden Bewusstsein geschuldet sind, daher als „experimental transgressions“ hinsichtlich der Erzählkonventionen des roman-mémoires (Edmiston 1985, S. 141) mit spannungssteigernder Funktion.

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Le premier soir, j’eus la visite de la supérieure; elle vint à mon déshabiller. Ce fut elle qui m’ôta mon voile et ma guimpe et qui me coiffa de nuit, ce fut elle qui me déshabilla. Elle me tint cent propos doux et me fit mille caresses qui m’embarassèrent un peu, je ne sais pas pourquoi, car je n’y entendais rien, ni elle non plus, et à présent même que j’y réfléchis, qu’aurions-nous pu y entendre? Cependant j’en parlai à mon directeur qui traita cette familiarité, qui me paraissait innocente et qui me le paraît encore, d’un ton fort sérieux et me défendit gravement de m’y prêter davantage.359

Obwohl sie die zärtlichen Gesten der Oberin nach Kenntnis des Beichtinhalts durchaus als das verstehen kann, was sie sind: der Ausdruck homosexuellen Begehrens, reklamiert Suzanne noch im Moment des Erzählens („à présent même“, „encore“) eine paradoxale unschuldige Unwissenheit. Die Hervorhebungen verdeutlichen das Verhältnis von narratologischen Diskrepanzen (Fettdruck) und auktorialer Überarbeitung (Kursivdruck). Die textgenetische Perspektive erlaubt die Einsicht, dass Diderot keine Versuche zur Beseitigung der erzähllogischen Diskrepanzen unternommen hat. Im Gegenteil wurde die Diskrepanz durch den Zusatz gar noch verstärkt, indem eine weitere diskrepante Formulierung („qui me le paraît encore“) die bereits vorhandenen ergänzt. Es kann daher in Anbetracht des auktorialen Bearbeitungsaufwandes und seiner Ergebnisse weder von der Absicht des Autors, die Inkonsistenzen zu mildern, ausgegangen werden, noch von seinem fehlenden Bewusstsein für die Problematik der Passage. Die Varianten des Textmaterials legen vielmehr die begründete Hypothese nahe, dass die Diskrepanzen bewusste Setzungen des Autors darstellen.360 Dem möglichen Einwand, eine fehlende Abmilderung lasse noch nicht auf ein ausgeprägtes Bewusstsein des Autors für die diskrepanten Elemente schließen, sei mit textkritischen Befunden hinsichtlich der viel diskutierten Szene der von Suzanne belauschten Beichte begegnet. Wo die Originalversion von 1760 die Situation in zwei Sätzen resümiert: „Son premier mot [i. e. de la supérieure], après un long silence [me fit] frémir. Elle dit, mon père, je suis damnée …“,361 schildert die finale Version ausführlicher: Le premier mot que j’entendis après un long silence me fit frémir, ce fut: Mon Père, je suis damnée … Je me rassurai. J’écoutais, le voile qui jusqu’alors m’avait dérobé le péril que j’avais couru se déchirait, lorsqu’on m’appela. Il fallut aller, j’allai donc; mais hélas! je n’en avais que trop entendu. Quelle femme, M. le marquis! quelle abominable femme!362 359 Diderot, La Religieuse, S. 214, Herv. d. Vf.in. Die kursiv gedruckte Passage stellt einen Zusatz Diderots an der Originalversion dar; der Fettdruck markiert die narratologischen Diskrepanzen. Für einen Abgleich der Versionen siehe Diderot/Parrish 1963, S. 148. 360 Für diese These sprechen weitere problematische Ergänzungen, die in den Überarbeitungen vorgenommen werden, wie bspw. die im Präsens formulierte Wertung der Erzählerin angesichts der Auflagen ihres Beichtvaters, die Oberin auf Abstand zu halten: „Certainement cet homme est trop sévère.“ (Diderot, La Religieuse, S. 256) 361 Diderot/Parrish 1963, S. 196. 362 Diderot, La Religieuse, S. 274.

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In ihrer finalen Ausarbeitung erhält die Szene ein größeres Gewicht in der Ökonomie des Romans. Anstelle einer bloßen Ellipse des Beichtinhalts stehen nun der Rezeptionsvorgang Suzannes und ihr Verständnisprozess im Zentrum. Indem Diderot also den Wissenserwerb der Protagonistin ausgestaltet und fokussiert, markiert er die narrative Darstellung des Wissensverhältnisses von moi narrant und moi narré in Suzannes récit als eine diskrepante. In der Interpretation, die Vivienne Mylne von dieser Textstelle liefert, wird das Ausmaß dieses Wissenserwerbs hingegen in Zweifel gezogen.363 Mylne argumentiert dabei auf der Grundlage einer Textvariante der ersten Überarbeitungsphase, die den Schleier als sich lediglich zu lüften beginnend kennzeichnet („le voile commençait à se déchirer“364), für ein höchstens partielles Wissen Suzannes. Indem Mylne die Ambiguität, die das Verb commencer hinsichtlich des Umfangs von Suzannes Aufklärung erzeugt, als Argument gegen deren Wissen um Homosexualität nutzt, plausibilisiert sie die Diskrepanzen des Diskurses. Dieser Interpretation sind zwei Punkte entgegenzusetzen: Zum einen ignoriert sie die oben dargelegten Diskrepanzen des erzählten Ich auf der histoire-Ebene, die auf ein Wissen der Protagonistin bereits vor der Beichtszene schließen lassen. Zum anderen wird, indem ein älterer Manuskriptzustand zu Lasten eines aktuelleren bevorzugt wird, der Autorwille den Argumentationszielen der Interpretin untergeordnet. Hieraus folgt, dass Diderots Entscheidung für das weniger ergebnisambivalente se déchirait in der letzten Überarbeitung als bedeutungsbildende Setzung berücksichtigt werden sollte. Wo Diderot mittels der Prozessorientierung der imperfektischen Verbform den Wissenserwerb betont, konstituiert sich erst das große Paradox des Romans. Für diese wie für die weiteren in diesem Abschnitt zitierten Textstellen lässt sich folglich konstatieren, dass Diderot die Überarbeitungen nicht nutzte, um die Diskrepanzen der Erzählsituation und der Figur Suzanne aufzulösen, sondern um sie stärker hervorzuheben. Dieser Befund gestattet die Schlussfolgerung, dass Diderot seinen Roman als Konstruktion diskrepanter Elemente verstand, deren Ausarbeitung im Zentrum der Bearbeitungen stand. Die Erkenntnis der critique génétique, wonach Diderot mit La Religieuse einzelne zu unterschiedlichen Zeitpunkten autonom entstandene Versatzstücke fusioniert habe, bildet das Ausgangsargument für diese These. Entgegen der in der critique génétique des Romans häufig vorgenommenen Wertung, die Diskrepanzen seien ein von Diderot nicht korrigierbarer Makel der sequentiellen Textproduktion,365 erlaubt es die formulierte These, die Unstimmigkeiten in positiver 363 Mylne, Vivienne, „What Suzanne knew: Lesbianism and La Religieuse“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 208 (1982), S. 167–173. 364 Diderot, La Religieuse, S. 274, dort Anm. x. 365 So Parrishs Urteil in ihrer Einleitung zum Text des manuscrit autographe, Diderot/Parrish 1963, S. 23. Ähnlich auch Parrish 1962, S. 364. Dieckmann formuliert: „Le fait qu’il a laissé subsister des contradictions dans la Préface comme dans le roman témoigne seulement des insuffisances de sa rédaction première et de ses révisions, mais n’apporte aucune preuve contre son souci d’unifier les différents éléments de l’œuvre.“ (Diderot, La Religieuse, S. 17, Anm. 7)

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Wendung als Ergebnis des Überarbeitungsaufwandes, als konstruktive Eigenschaft des Textes und damit als bedeutungskonstituierend zu erschließen. Im Sinne eines Zwischenfazits lässt sich daher die folgende These formulieren: Als intentionale Konstrukte kodieren die narratologischen und figurenbezogenen Diskrepanzen in La Religieuse eine Bedeutungsdimension des Romans,366 die sowohl die Figurenkonstruktion als auch ihre erzählerischen Voraussetzungen betrifft. Darüber hinaus bergen sie ein epistemologisches Potential, das in der Unzuverlässigkeit der Erzählposition und der Übernahme der Deutungsaktivitäten durch den Leser liegt. Die Diskrepanzen des franchise-Konstruktes der Erzählsituation arbeiten insofern einer epistemologischen Textfunktion zu, als sie die Haltung des Lesers zum Subjekt der Erzählung maßgeblich beeinflussen. Nachdem die empfindsamen Tendenzen des ersten Romanteils zunächst einer empathischen Solidarität Vorschub geleistet haben, stoßen die Diskrepanzen einen Distanzierungsprozess an, der mit dem Zweifel an der Verlässlichkeit des Erzählaktes beginnt und in der Übernahme einer kritischen Distanz gegenüber der Erzählerin endet. Diese kritische Haltung wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass der Leser die von Suzanne verweigerte Deutungsleistung übernehmen kann. Neben dem Aspekt der erzählerischen Zuverlässigkeit bzw. Aufrichtigkeit steht auch das paradoxale Unschuldskonstrukt des Textes im Zeichen der epistemologischen Textfunktion. Der in La Religieuse zur Anwendung gebrachte Unschuldsbegriff wird uns im nachfolgenden Kapitel näher beschäftigen. An dieser Stelle soll lediglich die wirkungsästhetische Funktion einer diskrepanten erzählerischen franchise hervorgehoben werden, die sich im Konstrukt der innocence besonders eindrücklich manifestiert. In Anbetracht ihrer erzähllogischen Unwahrscheinlichkeit muss Suzannes Unfähigkeit, das Geschehen in St. Eutrope als Ausprägung menschlicher Sexualität zu deuten, leserseitig als narrative Verweigerung interpretiert werden. Die für das Leidnarrativ motivisch zugrunde gelegte franchise einer verfolgten Unschuld wird somit suspekt und ihre rezeptionslenkende Funktion verkehrt sich in ihr Gegenteil. Da er sich auf die Deutungsfunktion des Narrationssubjekts nicht mehr verlassen kann, übernimmt der sich nunmehr emotional distanzierende Leser die interpretative Vervollständigung selbst. In der als Produkt des unzuverlässigen Erzählens entstandenen Distanz zum Subjekt der Narration konstituiert er sich als dem Text eingeschriebene kritische Instanz. Die oben referierten Befunde der Textproduktion legen nahe, dass die Überarbeitungen und Korrekturschritte einen auf unterschiedlichen Ebenen diskrepanten Text zum Ziel haben. Im Gegensatz zu Ansätzen, die eine fehlende ‚Einheit‘ des Textes als sein defizitäres Merkmal begreifen, soll daher die Verlagerung der Wirkungsästhetik 366 Für eine Intentionalität der „logical faults“ tritt auch Hayes, Julie C., „Retrospection and Contradiction in Diderot’s La Religieuse“, in: Romanic Review 77 (1986), S. 233–242, ein. Hayes identifiziert die diskrepanten Elemente als Strategie der Analyse bedeutungskonstituierender Verfahren und ordnet sie damit letztlich einer Diderot’schen Phänomenologie des Lesens zu.

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nicht als unglückliches Produkt der langen Werkgenese betrachtet werden, sondern als im Zuge der Textkorrekturen konzipiertes strukturelles Konstrukt mit wirkungsästhetischer Relevanz.367 Diderot inszeniert die Diskrepanzen in discours und histoire als Elemente unzuverlässigen Erzählens und verleiht ihnen auf diese Weise eine epistemologische Dimension. Die narrativen Diskrepanzen sollen daher als Appellstruktur an einen impliziten Leser verstanden werden, die diesen zur kritischen Reflexion der Logik und Voraussetzungen von Suzannes Erzählung veranlasst. Damit sind sämtliche im empfindsamen Erzählverfahren der Religieuse nachweisbaren Verschiebungen und Schichtenphänomene als Teil eines diskrepanten Erzählens erfasst, das sich der aufklärerischen Hervorbringung einer autonomen Leserfigur einschreibt. Dass die Funktionalisierung diskrepanter Elemente mit einer aufklärerischen Refunktionalisierung empfindsamen Erzählens einhergeht, soll in den zwei abschließenden Kapiteln anhand des Diskrepanzfeldes von Sexualität und empfindsamem Unschuldstopos sowie der in La Religieuse formulierten Klosterkritik veranschaulicht werden. 2.4.2 Topische Unschuld und Sexualität In den vorigen Abschnitten konnte Suzannes Diskurs als ein auf verschiedenen Ebenen diskrepanter beschrieben werden, dessen Diskrepanzen sich im Hinblick auf Erzählinhalte und Erzählstil in ihrer Relation zur pragmatischen Textfunktion sowie auf das für die Gattung des Memoirenromans konstitutive Verhältnis von narratologisch kohärenter Repräsentation von Wissensbeständen und erzählerischer Zuverlässigkeit nachweisen lassen. Die Bewertung ‚zuverlässigen‘ Erzählens beinhaltet daneben auch die Eindeutigkeit der hinter der Narration stehenden Motivation des Erzählsubjekts. Als Elemente einer sich zunehmend unzuverlässig darstellenden Erzählsituation dekonstruieren die Diskrepanzen im Erzähldiskurs die von der Erzählerin eingangs für ebendiesen Diskurs reklamierte franchise. Es gilt nun zu zeigen, dass neben der (chrono-)logischen Kohärenz des récit und der damit verbundenen Verarbeitung von Wissensbeständen auch die motivationale Aufrichtigkeit der Erzählerin zur Disposition gestellt wird, indem mit dem Unschuldsbegriff ein für die Figur konstitutives Merkmal untergraben wird. An voriger Stelle wurde dargelegt, dass Diderot im ersten Teil von La Religieuse auf Topoi und Mechanismen der Rezeptionslenkung rekurriert, die der empfindsamen Tendenz des Literatursystems zugeordnet werden können, wobei diese Zuordnung intra-, inter- und paratextuell auch von dem Autor selbst vorgenommen wird. Der 367 Einige Forschungsbeträge gehen explizit auf die wirkungsästhetische Differenz der zwei Romanteile ein. Hervorzuheben ist neben der bereits zitierten Arbeit von Beisel 1991 der Beitrag von Byrne, Patrick, „The Form of Paradox: A Critical Study of Diderot’s La Religieuse“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 319 (1994), S. 169–293.

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in La Religieuse zur Anwendung gebrachte Unschuldsbegriff steht ebenfalls in dieser empfindsamen Traditionslinie. Gleichzeitig lässt sich anhand der Konstruktion und Darstellung der Unschuld im Verlauf des Romans eine Verlagerung der Rezeptionslenkung nachweisen: Während Suzannes Unschuld im ersten Romanteil im Dienst einer tendenziell empfindsamen Rezeptionslenkung steht, vollzieht sich mit dem Umzug der Protagonistin in das Kloster St. Eutrope eine wirkungsästhetische Umwertung, die in einer Verschiebung in der Bedeutungszuschreibung von ‚Unschuld‘ begründet liegt. In ihrem ersten Teil konstruiert die Erzählung einen Unschuldsbegriff, der eng mit Suzannes Darstellung als Opfer verwoben ist. Wie bereits beschrieben, knüpft La Religieuse mit dieser, ihren Ausgang im Raum der Familie nehmenden Konstellation, die der jungen weiblichen Protagonistin die Rolle des unschuldigen Opfers zuweist, an eine typische Struktur des empfindsamen Paradigmas an, die sich in den Romanen Richardsons ebenso nachweisen lässt wie etwa in Marivaux’ La Vie de Marianne (erschienen 1731–1742). Von Clarissa Harlowe bis zu Laclos’ Présidente de Tourvel ist die Heldin des empfindsamen Romans im 18. Jahrhundert, wie Hellmuth Petriconi treffend formuliert hat, „wesentlich unschuldig“.368 Dass es sich bei der von Suzanne eingenommenen Rolle des unschuldigen weiblichen Opfers um eine Handlungs- und Figurenkonstellation handelt, die nicht nur in der Literatur der Empfindsamkeit eine topische Funktion erfüllt, ergibt sich daraus, dass dieselbe Konstellation auch das ideologische Gegenteil der empfindsamen Literatur, den Libertinage, strukturiert, wobei die Empathie stiftende Konstellation nunmehr auf die Luststimulation des Lesers angelegt ist. Auch den in dieser Arbeit beispielhaft untersuchten Romanen liegt eine Beschäftigung mit dem Unschuldsbegriff der Empfindsamkeit zugrunde, die sich in jeweils unterschiedlichen Strategien aufklärerischer Funktionalisierung niederschlägt. Wie bereits gesehen, konstruiert das Erzählsubjekt in La Religieuse einen Unschuldsbegriff, der anhand einer Oppositionsstruktur verfährt, in der das katholische Nonnenkloster der Protagonistin antagonistisch gegenübersteht. Diese Opposition strukturiert auch Suzannes Profess, deren Ergebnis mit den folgenden Worten resümiert wird: „[…] je me suis trouvée religieuse aussi innocemment que je fus faite chrétienne.“369 Die Verwendung von innocemment im Kontext der Profess überrascht, handelt es sich doch um eine Situation, die üblicherweise keinen Anlass zur Annahme einer Schuld bietet. Da die Nennung von ‚Unschuld‘ stets auch ihr Gegenteil, ‚Schuld‘, aufruft, wird durch die explizite Anwendung der Ersteren auf Suzanne Letztere implizit mit dem Kloster verbunden. Die Termini religieuse und innocence werden so als konfligierende Begriffe markiert. Indem innocence in adverbialer Verwendung auf den gezwungenen Eintritt in die Ordensgemeinschaft bezogen ist, ist der Begriff im ersten

368 Petriconi, Hellmuth, Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema, Hamburg 1953, S. 54. 369 Diderot, La Religieuse, S. 124.

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Teil des Romans durchweg mit der verhinderten Ausübung des freien Willens konnotiert und steht in der Funktion eines Arguments für die persönliche Willensfreiheit. Die Darstellung der Unfreiwilligkeit, die im ersten Romanteil den Unschuldsbegriff strukturiert, wird durch die körperliche Folter dramatisch gesteigert. Die Physiologisierung des Opferbegriffs bedingt eine empfindsame Leserlenkung, die auf die visuelle Affizierung des Rezipienten mit dem leidenden Körper der Protagonistin abstellt. Vor dem Hintergrund einer empfindsamen Folie, die innocence im Wesentlichen moralisch konnotiert, liegt hier daher zwar eine subtile Verlagerung der Wirkungsstrategie vor. Das wirkungsästhetische Ziel empfindsamen Erzählens, die Stimulation der Empathie und Solidarisierung mit der Protagonistin, behält in diesem Teil des Romans jedoch weiterhin Gültigkeit. Mit dem örtlichen Wechsel in das Kloster St. Eutrope vollzieht sich eine Verschiebung in der Bedeutung und Darstellung des Unschuldsbegriffs: In St. Eutrope ist Suzannes innocence nun Synonym für Unerfahrenheit und Unwissenheit in allen Dingen sexueller Natur. Da der sich in diesem neuen Kloster entspinnende Konflikt im Grunde auf einer amourösen Konstellation beruht, kann diese Verschiebung einerseits an das bevorzugte Handlungsmuster der empfindsamen Literatur anknüpfen. Andererseits wird diese oberflächliche Ähnlichkeit der Handlungsebene durch merkliche Überschreitungen des empfindsamen Referenzrahmens sogleich dekonstruiert. Die genannte Bedeutungsverschiebung wird mittels der vehementen Unschuldsbeteuerung im Kontext erotischer Szenen vollzogen. Als rekurrierendes Element strukturiert die Betonung der eigenen Unschuld die Beschreibung der Begegnungen zwischen Suzanne und ihrer neuen Oberin. Paradigmatisch sei hier die bereits als Beispiel physiologischer Beschreibungsvorgänge angeführte Situation sexueller Erregung zitiert: Cependant elle avait levé son linge de cou et elle avait mis une de mes mains sur sa gorge, elle se taisait, je me taisais aussi; elle paraissait goûter le plus grand plaisir; elle m’invitait à lui baiser le front, les joues, les yeux et la bouche, et je lui obéissais, je ne crois pas qu’il y eût du mal à cela. Cependant son plaisir s’accroissait, et comme je ne demandais pas mieux que d’ajouter à son bonheur d’une manière aussi innocente, je lui baisais encore le front, les joues, les yeux et la bouche. La main qu’elle avait posée sur mon genou se promenait sur tous mes vêtements depuis l’extrémité de mes pieds jusqu’à ma ceinture, me pressant tantôt dans un endroit, tantôt en un autre; elle m’exhortait en bégayant et d’une voix altérée et basse à redoubler mes caresses, je les redoublais; enfin il vint un moment, je ne sais si ce fut de plaisir ou de peine, où elle devint pâle comme la mort, ses yeux se fermèrent, tout son corps s’étendit avec violence, ses lèvres se fermèrent d’abord, elles étaient humectées comme d’une mousse légère, puis sa bouche s’entrouvrit, et elle me parut mourir en poussant un grand soupir.370

370 Diderot, La Religieuse, S. 227, Herv. d. Vf.in.

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Diese Passage ist paradigmatisch für Suzannes narratives Vorgehen in der St. Eutrope-Episode. Zum einen manifestiert sich in der Formel je ne crois pas qu’il y eût du mal à cela mittels der präsentischen Verbform die für La Religieuse so charakteristische chronologisch-narratologische Diskrepanz der Wissensbestände. Zum anderen lässt die Tatsache, dass das erzählende Ich von seinem aufgeklärten Wissensstandpunkt aus stets seine unschuldige Ahnungslosigkeit betont, ein Bewusstsein für die Brisanz der beschriebenen Situationen erkennen. Hier zeigt sich, dass die (chrono-)logische Unstimmigkeit von Suzannes Unschuldsbehauptung noch eine weitere Faltung des Diskrepanten birgt. Die rhetorische Akzentuierung der innocence verkehrt sich wirkungsästhetisch in ihr Gegenteil: Die leserseitige Solidarität mit einer Unschuld, die als unverschuldete Leiderfahrung präsentiert wurde, weicht skeptischer Distanz zu einem sexuell konnotierten Unschuldskonstrukt von zweifelhafter Aufrichtigkeit. Wenn Suzanne zugleich zugibt: „En vérité, c’était comme un amant“,371 so zieht sie selber die notwendige Schlussfolgerung vom Verhalten ihrer Oberin auf dessen sinnliche Bedeutung und konterkariert die eigene Naivitätsbekundung. Der leserseitige Distanzierungsprozess lässt sich an ein weiteres für die Erzählung typisches Merkmal der zitierten Textpassage rückbinden, das als widersprüchliches Verhältnis von Unschuldsrhetorik und Explizitheit des dargestellten Sachverhalts beschreibbar ist. Suzannes Beteuerung, es handele sich um eine Situation „[…] aussi innocente“, wird im Kontrast mit der detailgetreuen und physiologisch orientierten Rekonstruktion sexuellen Erlebens sinnentleert. Somit erweist sich die innocence nicht allein im Hinblick auf die Wissensbestände der Erzählsituation, sondern auch im Verhältnis von narrativer Darstellung und ihrer Kommentierung als eine diskrepante. In diesem Kontrast deutet sich eine Dekonstruktion des empfindsamen Unschuldstopos an, die in einer weiteren diskrepanten Tendenz des Textes vorangetrieben wird. Diese soll im Folgenden als ‚kokette Unschuld‘ verhandelt werden. Im Kapitel zur tableau-Ästhetik wurde bereits auf die pragmatische Besonderheit der häufigen Selbst- und Körperbeschreibungen im Kontext eines in mémoire-Form verfassten Hilfegesuchs hingewiesen. Hinsichtlich ihrer pragmatischen Funktion stellen diese Beschreibungssequenzen für sich genommen daher bereits eine Facette des Diskrepanten in Suzannes récit dar. Wo sie sich aber zudem einer im Zeichen der Unschuld stehenden Selbstdarstellung einschreiben, erhalten die Autoporträts insofern eine zusätzliche Brisanz, als in ihnen eine Tendenz zur Verführung des Lesers immer schon mitschwingt und sie somit das Potential bergen, die empfindsame Beziehung zwischen Erzählsubjekt und Adressat in eine Relation erotischen Begehrens zu transformieren. Die Tendenz eines koketten Blicks, den die Erzählerin auf sich selbst richtet, durchzieht den Roman von Beginn an, wie folgendes Detail aus Suzannes Noviziat nahelegt:

371

Ebd., S. 222.

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Mes compagnes m’ont entourée, elles m’embrassent et se disent: Mais voyez donc, ma sœur; comme elle est belle! comme ce voile relève la blancheur de son teint! Comme ce bandeau lui sied, comme il lui arrondit le visage, comme il étend ses joues! Comme cet habit fait valoir sa taille et se bras! … Je les écoutais à peine; j’étais désolée; cependant il faut que j’en convienne, quand je fus seule dans ma cellule je me ressouvins de leurs flatteries, je ne pus m’empêcher de les vérifier à mon petit miroir, et il me sembla qu’elles n’étaient pas tout à fait déplacées.372

Im Modus affichierter Bescheidenheit hallt die Bewunderung der Mitschwestern in Suzannes Erzählung nach und wird als Rezeptionsvorgabe an den Adressaten übergeben. In Longchamp trotzt Suzannes Schönheit allen körperlichen Qualen und verleiht ihr im Kontrast mit ihrem Leid die Erhabenheit der schönen Märtyrerin.373 All diese Bilder sind seitens der Erzählerin Suzanne gesteuert, die mittels externer Fokalisierung den Blick von außen auf ihre Person richtet. Wo aber in Longchamp das Autoporträt noch im Sinne des Leidnarrativs einer empfindsamen Wirkungsfunktion zugeordnet werden kann, da steht der Blick auf Suzanne in St. Eutrope losgelöst von einem leidnarrativischen Appell für sich selbst. Im Gegensatz zur Longchamp-Episode bezieht Suzanne in St. Eutrope nicht mehr die Funktion des Gewaltopfers. Ihre ästhetischen und jugendlichen Attribute verleihen ihr von Beginn an eine Sonderstellung in den Gefügen des Klosters und determinieren ihr Verhältnis zu den Mitschwestern und zur Oberin. Mit ihrem Einzug in St. Eutrope steht Suzanne im Zentrum jener Intrigen von Eifersucht und Begehren, die den Alltag in diesem Kloster beherrschen. Wenn sie folglich in ihrer Darstellung der St. Eutrope-Episode den Blick auf sich selbst lenkt, so ist dieser Blick dem pragmatischen Anliegen des Hilfegesuchs umso mehr entrückt, als er Suzannes ästhetische und erotische Sonderstellung in den Rängen von St. Eutrope reproduziert. Dass Suzannes récit daher immer schon verführerische Zielsetzungen verfolgt, gibt die Erzählerin in einer an ihren adeligen Adressaten gerichteten Apostrophe selbst zu: Disons donc que j’ai un tour d’esprit bien singulier; lorsque les choses peuvent exciter votre estime ou accroître votre commisération, j’écris bien ou mal, mais avec une vitesse

372 Ebd., S. 90. 373 Vgl. die Art und Weise, wie Suzanne den Blick des Betrachters/Lesers in der Darstellung des Exorzismus auf ihr Gesicht lenkt und so dem inszenierten Chaos während des Rituals eine abgeklärte Schönheit entgegensetzt: „[L’archidiacre] dit: Qu’on lui lève son voile … On l’avait cousu en différents endroits sans que je m’en aperçusse, et l’on apporta encore bien de l’embarras et de la violence à une chose qui n’en exigeait que parce qu’on y avait pourvu; il fallait que ce prêtre me vît obsédée, possédée ou folle; cependant à force de tirer, le fil manqua en quelques endroits, le voile ou mon habit se déchirèrent en d’autres, et l’on me vit. J’ai la figure intéressante, la profonde douleur l’avait altérée, mais le lui avait rien ôté de son caractère; j’ai un son de voix qui touche, on sent que mon expression est celle de la vérité. Ces qualités réunies firent une forte impression de pitié sur les jeunes acolytes de l’archidiacre; […].“ (Diderot, La Religieuse, S. 174, Herv. d. Vf.in)

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et une facilité incroyables; mon âme est gaie; l’expression me vient sans peine; mes larmes coulent avec douceur; il me semble que vous êtes présent, que je vous vois et que vous m’écoutez. Si je suis forcée au contraire de me montrer à vos yeux sous un aspect défavorable, je pense avec difficulté, l’expression se refuse, la plume va mal, le caractère même de mon écriture s’en ressent, et je ne continue que parce que je me flatte secrètement que vous ne lirez pas ces endroits.374

Hinter dieser prise de conscience Suzannes als Erzählerin verbirgt sich eine auktoriale Reflexion der Voraussetzungen empfindsamen Erzählens, das immer schon eine Verführung, zumindest aber eine Vereinnahmung des Lesers zum Auftrag hat. Diese verführerische Komponente der Empfindsamkeit wird in Suzannes koketter Attitüde akzentuiert und explizit gemacht. Am Ende des Romans werden diese erzählerische Bewusstwerdung und metapoetische Reflexion wiederholt und der verführerische Charakter der Erzählsituation noch stärker markiert: Ces Mémoires que j’écrivais à la hâte je viens de les relire à tête reposée, et je me suis aperçue que sans avoir eu le moindre projet, je m’étais montrée à chaque ligne aussi malheureuse à la vérité que je l’étais, mais beaucoup plus aimable que je ne le suis. Serait-ce que nous croyons les hommes moins sensibles à la peinture de nos peines qu’à l’image de nos charmes, et nous promettrions-nous encore plus de facilité à les séduire qu’à les toucher? Je les connais trop peu et je ne me suis pas assez étudiée pour savoir cela. Cependant si le marquis, à qui l’on accorde le tact le plus délicat, venait à se persuader que ce n’est pas à sa bienfaisance mais à son vice que je m’adresse, que penserait-il de moi? Cette réflexion m’inquiète. En vérité il aurait bien tort de m’imputer personnellement un instinct propre à tout mon sexe. Je suis une femme, peut-être un peu coquette, que sais-je? mais c’est naturellement et sans artifice.375

Indem die Erzähl- und Rezeptionssituation des récit explizit als Verhältnis erotischen Verführens und Begehrens beschrieben wird, wird nicht nur eine metapoetische Thematisierung der empfindsamen Rezeptionsvoraussetzungen betrieben, sondern der Unschuldsvorbehalt der Erzählsituation wird in einer autoreflexiven Schleife gleichsam ausgehebelt. Suzanne wird zur Projektionsfläche für die Begehrlichkeiten des Lesers ausgestaltet wie sie auch für die Oberin von St. Eutrope Objekt des Begehrens ist. In Weiterverfolgung dieser metapoetischen Reflexion lässt sich formulieren: Die sonderbare Sexualisierung des empfindsamen Diskurses, die sich in der St. Eutrope-Episode mittels einer Verbindung der koketten Autoporträts und einer detaillierten

374 Ebd., S. 273. 375 Ebd., S. 288. Die Tatsache, dass diese Reflexion Suzannes dank des manuscrit autographe auf die Überarbeitungsphase datiert werden konnte, stärkt die These, dass Diderot den Diskrepanzen der Erzählsituation im Zuge seiner Textkorrekturen eine zunehmend prononcierte metapoetische Bedeutung zuweist.

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Zeichnung körperlicher Erregungsvorgänge vollzieht, liefert eine Überzeichnung der diesem Diskurs immer schon inhärenten Tendenz. Die Besonderheit des Diderot’schen Spiels mit den ‚verführerischen‘ Voraussetzungen der Empfindsamkeit besteht nun freilich darin, dass jene Szenen, die sich durch ihre besondere Körperlichkeit auszeichnen – dies gilt neben den Szenen lesbischer Sexualität in St. Eutrope in geringerem Maße auch für die Folterszenen in Longchamp –, sowohl im Sinne eines ‚technischen‘ Protokolls physiologischer Vorgänge, als auch als erotische Szenen rezipiert werden können.376 Die für das Subjekt wie den Gegenstand der Erzählung gleichermaßen reklamierte Unschuld ist mit beidem jedoch unvereinbar. Die rezeptionslenkende Funktion des empfindsamen Unschuldskonstrukts wird in La Religieuse gewissermaßen einer Strapazierprobe unterzogen. Dabei sind es gerade jene die Unschuldsbehauptung überstrapazierenden Diskrepanzen, welche die topische Funktion der Unschuld im Kontext der Empfindsamkeit markieren.377 Während die (chrono-)logischen wie inhaltlichen Diskrepanzen die Unschuld folglich als ein Grundelement empfindsamen Erzählens markieren, entwerten sie sie zugleich und reflektieren sie auf diese Weise metapoetisch. Dass sich die empfindsame Unschuld in La Religieuse als derart diskrepantes Konstrukt erweist, kommt einer Dekonstruktion gleich, die sich mittels einer Beschreibungsästhetik, die ihr Objekt als Fläche des Begehrens ausgestaltet, mittels einer physiologischen Rekonstruktion sexuellen Erlebens sowie mittels einer alogischen erzählerischen Verarbeitung von Wissensbeständen auf dreifache Weise vollzieht. Leserseitig tragen die Verlagerung des Unschuldsbegriffs in St. Eutrope und seine Dekonstruktion durch die eben benannten Mittel zu jener wirkungsästhetischen Verschiebung bei, die im vorigen Kapitel anhand der narrativen Diskrepanzen als Aufhebung der solidarischen Haltung durch skeptische Distanzierung beschrieben werden konnte. Wird Suzannes Unschuldsbegriff in der Logik der Narration unhaltbar und zudem von den Mitteln der Darstellung sowie dem Inhalt des Dargestellten konterkariert, so wird die im ersten Teil des Romans aktivierte emotionale Prädisposition des Lesers für die Figur und Erzählerin Suzanne in einer Ablösungsbewegung aufgehoben.378 Die so entstehende emotionale Distanz ist die Voraussetzung dafür, dass 376 Dass die Sexualität gleichzeitig die große Leerstelle in Suzannes Diskurs darstellt, wirft die Frage nach einem sexuellen Tabu des empfindsamen Diskurses auf, das durch Suzannes narrative Verweigerung einerseits als solches markiert, durch die Explizitheit der Darstellung in der Praxis jedoch dekonstruiert wird. 377 Suzannes Unschuldsbeteuerung ließe sich in dieser Perspektive daher als auktoriale Systemreferenz auf empfindsame Formen des Erzählens verstehen. Zur Unterscheidung von Systemreferenz und Intertextualität siehe Hempfer, Klaus W., „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)“, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. v. M. Titzmann, Tübingen 1991, S. 7–44. 378 Martin, Christophe, „Innocence et séduction. Les aventures de la voix féminine dans La Religieuse de Diderot“, in: Littérature 171 (2013), S. 39–53, argumentiert, dass sich Diderots Roman einen „des-

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der Leser die der Unschuldsbehauptung geschuldeten interpretativen Leerstellen in Suzannes Diskurs aktiv kompensieren kann. Da Suzanne ihrem Adressaten auf diese Weise einen interpretativen Spielraum schafft, der ihrem unschuldigen Selbstporträt eigentlich abträglich ist, ist die Berufung auf den Unschuldstopos als rezeptionslenkendes Element für das Erreichen ihrer Ziele streng genommen kontraproduktiv. Es manifestiert sich in dieser Spannung zwischen einer Wirkungsintention der Erzählerin und ihrem in den Diskrepanzen de facto rekonstruierbaren Wirken eine auktoriale Präsenz im Text, die ebendiese Diskrepanzen kommunikativ funktionalisiert. Nicht die Unschuld, sondern ihre diskrepante Konstellation bildet folglich das wirkungsästhetische Leitprinzip der St. Eutrope-Episode. Ihre Diskrepanz ist die Grundlage einer epistemologischen Dimension des Textes, die in der Aktivierung des Lesers als kritische, interpretative Instanz besteht379 und die sich in Form eines Erkenntnisprozesses weiter entfaltet. Im Unterschied zu Forschungsbeiträgen, die Suzannes alogisches Beharren auf ihrer Unschuld mit der epistemologischen Funktion dieser Unschuld zu begründen suchen, verschiebe ich die epistemologische Perspektive demnach auf die Funktion der Unaufrichtigkeit der Unschuldsbehauptung. Aus dem Gesagten lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Diskursivierung der Unschuld in La Religieuse einer doppelten Funktionalisierungsstrategie folgt, die einerseits auf die reale Leserwelt, andererseits auf das zeitgenössische literarische System bezogen ist. Während die diskursiven Diskrepanzen des Unschuldskonstrukts eine aufklärungsideologisch fundierte Aktivierung des Lesers wirkungsästhetisch einleiten, bergen sie überdies eine metapoetische Reflexion der rezeptionslenkenden

tinataire dédoublé“ zum Ziel setze, „qui puisse simultanément compatir aux malheurs de Suzanne et suspecter son innocence“ (S. 44, Herv. dort), dass also stets eine „lecture intéressée“ und eine „lecture du soupçon“ miteinander konkurrierten. Während Vf. hier jedoch eine wirkungsästhetische Einheit des Romans postuliert, kann m. E. vor dem Hintergrund der inhaltlichen Verlagerung des zweiten Teils und der dort akzentuierten, Suzannes Unschuld dekonstruierenden diskursiven Diskrepanzen von einer durchgehenden „lecture intéressée“ nicht ausgegangen werden. Im Gegenteil arbeitet die Struktur der St. Eutrope-Episode einer empfindsamen Rezeptionshaltung systematisch entgegen. 379 Vertreter der genannten epistemologischen Position sind insbes. Goldberg 1984, Vila 1990 (dort v. a. S. 792) und Byrne 1994, S. 234. Edmiston 1985 erkennt in der erzählerischen Umsetzung der Unschuldsbehauptung eine narratologische Lösung für das „problem of maintaining suspense in a memoir-novel“ (dort S. 139). In einer früheren Publikation („Sacrifice and innocence in La Religieuse, in: Diderot Studies 19 (1978), S. 67–84) bezieht Edmiston das Paradoxon um Suzannes Wissen, dass sie unschuldig erscheinen müsse, weil diese Tugend sie vor genau jenem moralischen Bösen schütze, über das sie unwissend bleiben möchte, in negativer Verkehrung auf den aufklärerischen Zusammenhang von Wissen und moralischer Besserung. Suzannes Unschuld ist in dieser Interpretation Zeichen einer Kritik an einem christlichen Ideal, das Unschuld als Nichtwissen definiere. Während – mit Ausnahme von Edmiston 1985 – die genannten Positionen die Diskrepanzen des Textes implizit als Defizit einer dem Unschuldsbegriff zugeschriebenen Funktion herabsetzen, integriert die vorgeschlagene Interpretation epistemologisch funktionalisierter Diskrepanzen die vermeintlichen Mängel (bzw. die auktorialen ‚Lapsus‘) als intentional gesetzte Elemente einer literarischen Wissensgenerierung.

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Wirkungen des empfindsamen Topos. Anhand der von Diderot am Unschuldstopos vorgenommen wirkungsästhetischen Umwertung konnte dargelegt werden, wie die literarischen Strukturen der Empfindsamkeit für die Ziele der Aufklärung refunktionalisierbar sind. Für die wirkungsästhetische Strategie von La Religieuse stellt die empfindsame Literatur daher das interpretationsrelevante Paradigma bereit, vor dessen Hintergrund Diderots Roman sich in bedeutungskonstituierender Weise absetzt. Bezugnahme auf und Distanzierung von der Empfindsamkeit sind für die Bedeutung von La Religieuse gleichermaßen relevant. 2.4.3 Suzanne und die Klosterkritik In diesem Abschnitt ist darzulegen, welche wirkungsästhetische Relevanz die anhand der innocence und der franchise nachgewiesenen Diskrepanzen in Suzannes narrativem Projekt im Hinblick auf die hierin formulierte Kritik an Kloster und Kirche besitzen. Neben den die Kritik auf implizite Weise in Handlung transponierenden Passagen formuliert Suzannes récit auch in argumentativer Hinsicht eine deutliche Kritik an der Institution Kloster und den in ihr zur Geltung kommenden Praktiken. Die in diesen Passagen unter Beweis gestellte Luzidität und argumentative Stringenz steht in deutlichem Kontrast zu der den Narrationsakt leitmotivisch durchziehenden Naivitätsbekundung. In Ergänzung der bis hierher genannten Diskrepanzen des Textes ist daher auch das Verhältnis von ausgestellter Naivität der Erzählinstanz und in dem Text geübter ideologisch fundierter Kritik als ein diskrepantes beschreibbar. Es wird in diesem Abschnitt nicht darum gehen, diese Kritik auf ihre argumentative Konsistenz hin zu überprüfen. Zu zeigen ist vielmehr, dass die erfolgreiche Kommunikation der kritischen Textbedeutung an den Leser mit den Diskrepanzen der Figur und des Erzählaktes zusammenhängt. Während die Erzählerin sich ihrem Adressaten mit der „naïveté d’un enfant de [s]on âge“380 vorstellt und so das Unschuldsmotiv der empfindsamen Literatur ihrer Zeit bedient, liefert sie kurz darauf eine religionsphilosophische Reflexion, deren Luzidität mit erstgenannter kindlicher Naivität nur schwer vereinbar scheint. Anlass der nachfolgenden Argumentation ist der von Suzanne vorgetäuschte Entschluss, sich dem elterlichen Willen zu fügen und den Klosterschwur zu leisten, was angesichts ihrer vorherigen Weigerungshaltung zu diametral entgegengesetzten religiösen Bewertungen dieses vermeintlichen Sinneswandels führt: Il me paraît assez singulier que la même chose vînt de Dieu ou du diable, selon qu’il leur plaisait de l’envisager. Il y a beaucoup de circonstances pareilles dans la religion; et ceux qui m’ont consolée m’ont souvent dit de mes pensées, les uns que c’étaient autant d’insti380 Diderot, La Religieuse, S. 82.

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gations de Satan, et les autres d’inspirations de Dieu. Le même mal vient ou de Dieu qui nous éprouve ou du diable qui nous tente.381

Berücksichtigt man, dass diese Textstelle insgesamt mehrfach bearbeitet wurde und der letzte Satz eine von Diderot am Originalmanuskript vorgenommene Ergänzung darstellt, so bestätigt sich die bereits an vorheriger Stelle getroffene Einschätzung, dass die den Text durchziehenden Diskrepanzen im Hinblick auf die Figur Suzanne von Diderot im Rahmen der Überarbeitungen nicht geschmälert, sondern noch zusätzlich verschärft worden sind. Am augenscheinlichsten treten die Diskrepanzen von Figurenzeichnung, Erzählakt und kloster- bzw. religionskritischen Argumenten in dem Plädoyer des Anwalts Manouri zutage, das dieser zu Suzannes Gunsten hält und auf dessen Argumente die Erzählerin sich in ihrem récit bezieht. Dieses Plädoyer382 verbindet politische383 mit juristischen,384 anthropologischen,385 sozialpsychologischen386 und im physiologischen Diskurs fundierten387 Argumenten zu einer umfassenden Kritik an der die Institution Kloster begründenden katholischen Religion. Die Erzählerin verweist mehrfach auf den Inhalt des Plädoyers, wobei die Sprecherrollen (Suzanne/Manouri) jedoch nicht in allen Fällen gleichermaßen differenziert werden. Charakteristisch für Suzannes Inanspruchnahme der juristisch vorgebrachten Argumente ist daher eine fehlende Eindeutigkeit der Redeinstanzen, die eine leserseitige Zuordnung der Äußerungen erschwert. Diese mangelnde Differenzierung wurde in wiederholten Korrekturschritten nachbearbeitet, wobei Diderot der argumentativen Passage erst in der finalen Korrektur Anführungszeichen sowie die Proposition „[…], disait ensuite M. Manouri dans son plaidoyer“388 einfügte, welche die Ausführungen dem Anwalt zuordnen, der von 381 382 383 384

Ebd., S. 97. Das Plädoyer findet sich ebd. auf S. 182–184. Etwa ebd., S. 182: „Les couvents sont-ils donc si essentiels à la constitution d’un État?“ Ebd.: „[…] et pourquoi ne pas ajouter ce cas à tant d’autres où le moindre défaut de formalités anéantit une procédure même juste d’ailleurs?“ 385 Vgl. ebd., S. 183: „Ces vœux qui heurtent la pente générale de la nature, peuvent-ils jamais être bien observés que par quelques créatures mal organisées en qui les germes des passions sont flétris, et qu’on rangerait à bon droit parmi les monstres, si nos lumières nous permettaient de connaître aussi facilement et aussi bien la structure intérieure de l’homme que sa forme extérieure?“ 386 Siehe ebd., S. 184: „En quel endroit le chagrin et l’humeur ont-ils anéanti toutes les qualités sociales? Où est-ce qu’il y a ni père, ni mère, ni frère, ni sœur, ni parents, ni amis? Où est-ce que l’homme ne se considérant que comme un être d’un instant et qui passe, traite les liaisons les plus douces de ce monde comme un voyageur les objets qu’il rencontre, sans attachement?“ 387 Ebd., S. 183: „Toutes ces cérémonies lugubres qu’on observe à la prise d’habit et à la profession quand on consacre un homme ou une femme à la vie monastique et au malheur, suspendent-elles les fonctions animales? Au contraire, ne se réveillent-elles pas dans le silence, la contrainte et l’oisiveté avec une violence inconnue aux gens du monde qu’une foule de distractions emportent? […] Où est-ce qu’on voit cet ennui profond, cette pâleur, cette maigreur, tous ces symptômes de la nature qui languit et se consume?“ 388 Ebd., S. 184.

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Suzanne lediglich zitiert wird. Als Ergebnis der Korrektur wird Manouri endgültig als Urheber der von Suzanne verwendeten Argumente gegen den Klosterstand markiert, wodurch ebendiese Argumente aus dem subjektiven Leidbericht der Erzählerin gelöst und objektiviert werden. Durch die gestärkte Zuschreibung der Urheberschaft gewinnt nicht nur die Figurenkonstellation bzw. das Verhältnis von Figur und Rede an Wahrscheinlichkeit. Darüber hinaus wird der auf Suzannes individueller Erfahrung beruhende récit in der kritischen Botschaft des Plädoyers auf einer höheren Abstraktionsebene versachlicht und durch eine externe Instanz, die zudem mit Autoritätsmerkmalen ausgestattet ist (Anwaltsstand und Männlichkeit389), verbürgt. Von diesem Befund hinsichtlich der Korrektur des kritischen Plädoyers auf eine generelle Ausdifferenzierung der Sprecherinstanzen in Bezug auf die in La Religieuse formulierte Kritik im Rahmen der Überarbeitungen zu schließen, wäre jedoch verfrüht. Im Gegenteil zeugen andere Korrekturen anstatt von einer Vereindeutigung eher von einer Forcierung der die Figur Suzanne und ihren Erzählakt betreffenden Diskrepanzen. So findet sich etwa folgendes Echo der Thesen Manouris auch in einer Sprechsituation, die nicht nur eindeutig der Protagonistin, sondern in dieser zudem dem Bereich des erlebenden Ich zugeordnet wird: Et nous nous séparâmes, elle pour aller se désoler dans sa cellule, moi pour aller rêver dans la mienne à la bizarrerie des têtes des femmes. Voilà l’effet de la retraite. L’homme est né pour la société. Séparez-le, isolez-le, ses idées se désuniront, son caractère se tournera, mille affections ridicules s’élèveront dans son cœur, des pensées extravagantes germeront dans son esprit comme les ronces dans une terre sauvage. Placez un homme dans une forêt, il y deviendra féroce; dans un cloître où l’idée de nécessité se joint à celle de servitude, c’est pire encore: on sort d’une forêt, on ne sort plus d’un cloître; on est libre dans la forêt, on est esclave dans le cloître.390

Vor dem Hintergrund der vorgeblichen Unfähigkeit, die Ausprägungen von Sexualität innerhalb des Klosteralltags von St. Eutrope als ebensolche zu interpretieren, erstaunt der esprit philosophique, der in dem hier vorgetragenen, die Widernatürlichkeit der klösterlichen Institution anvisierenden Argument durchscheint. Suzanne eignet sich die an voriger Stelle in Form des Plädoyers wiedergegebenen Thesen an, als deren Urheberin sie in dem zitierten Kontext allerdings nunmehr erscheint.391 Dass außer Suzanne noch weitere Figuren des Romans die Argumentation Manouris wiederholen,392 389 Storck 2009, S. 63, vertritt die These, dass sich weibliches Sprechen in La Religieuse durch eine inkohärente écriture hystérique auszeichne, der vorbildhaft eine mit ratio konnotierte männliche Rede gegenübergestellt werde. 390 Diderot, La Religieuse, S. 225. 391 Storck 2009, S. 46. 392 Siehe z. B. folgende Äußerungen des Priesters Dom Morel: „Quand on s’oppose au penchant général de la nature, cette contrainte la détourne à des affections déréglées qui sont d’autant plus violentes qu’elles sont mal fondées; c’est une espèce de folie.“ (Diderot, La Religieuse, S. 271)

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lässt die Sprecherrollen im Hinblick auf die formulierte Klosterkritik verschwimmen. Dies gilt trotz der vorgenommenen Korrekturen zugunsten einer größeren Differenzierbarkeit der Sprecherinstanzen im Übrigen, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls für die zentrale Plädoyer-Passage (s. o.), die auch nach der Bearbeitung noch unvermittelt in dem récit steht. Hieraus lässt sich schließen, dass die Individualisierung der Sprecherinstanzen und die erzählinterne Urheberschaft gegenüber den Argumenten an sich nachrangig behandelt werden. In Bezug auf die fiktionsinterne Konsistenz der Erzählerfigur folgt hieraus, dass die kritische Funktion des Redeinhalts ungeachtet der Konsequenzen für die logische Kohärenz der Narration der fiktionsinternen Konsistenz des Redesubjekts übergeordnet wird. In diesem Sinne stellen die Diskrepanzen von Narration, Erzählfigur und formulierter Kritik ein weiteres Element in der Appellstruktur des Textes an einen impliziten Leser dar. Die fehlende Differenzierung der die kritischen Argumente vorbringenden Sprecherinstanzen sowie der Abstraktionsgrad der Argumente bewirken eine Distanzierung des Lesers von dem subjektiven, tendenziell empfindsam strukturierten récit. Colas Duflo zufolge lade die „indétermination narrative“393 und die aus ihr resultierende fiktionsinterne Unvereinbarkeit des Äußerungsinhaltes mit der fiktiven Erzählerfigur den Leser ein, „à changer sa position par rapport à la narration, à ne plus suivre passivement une histoire racontée, mais à considérer une thèse pour ellemême.“394 In dieser Perspektive ist die narrative Struktur von La Religieuse als eine intentional hervorgebrachte zu werten, deren Funktion es sei, die zuvor mit empfindsamen Mitteln erzeugte Illusion des Lesers zu stören, um dessen selbsttätigen Denkprozess anzustoßen. Dem Leser wird die Aufgabe übertragen, den Zusammenhang zwischen der Fiktion als subjektivem Leidbericht und der Theorie, d. h. den von der subjektiven Erfahrung abstrahierenden Argumenten der Kritik, selbst herzustellen. Die den Text strukturierenden Diskrepanzen erfüllen hierbei eine konstitutive Funktion, indem sie die Haltung des Lesers zum récit, zur histoire und zur Erzählerin steuern.

393 Duflo, Colas, „Suzanne un instant philosophe. Amour, sexualité, violence à la lumière de quelques lignes de La Religieuse de Diderot“, in: Amour, violence, sexualité – De Sade à nos jours. Hommage à Svein-Eirik Fauskevåg à l’occasion de son 65e anniversaire, hg. v. M. Wåhlberg u. T. Kolderup, Paris 2007, S. 43–54, dort S. 45. 394 Ebd., S. 46. Duflo situiert dieses Verfahren innerhalb einer Diderot’schen Ästhetik des philosophischen Romans, die im Wesentlichen auf der Voraussetzung beruhe, dass „il faut éviter que le lecteur soit tellement pris dans l’histoire que sa pensée s’arrête au profit d’une agitation passive de l’imagination […], mais ne pas lui donner non plus des leçons, qui arrêtent tout autant la pensée.“ (Duflo 2007, S. 51)

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2.5 Fazit: Die drei Ebenen der Bedeutungskonstitution in La Religieuse Vieles wurde bereits geschrieben über die in La Religieuse formulierte Kritik. Dass Diderot selbst seinen Roman als „satire des couvents“ bezeichnete, gibt der Forschung bis heute Anlass dazu, die Frage nach dem Gegenstand und dem Umfang der kritischen Textbedeutung zu stellen. Während einige Forschungsbeiträge die Kritik auf die soziale Praxis der vocation forcée einschränken,395 beziehen andere die Kritik in einem weiteren Sinne auf die herrschenden Zustände in den Klöstern im Speziellen sowie die klösterliche Institution und ihre Normen im Allgemeinen,396 während wieder andere sie auf die katholische Religion als solche ausweiten.397 Vernachlässigt wurde es jedoch, die narrativen Strukturen des Romans als literarisches Vehikel der Kritik in den Blick zu nehmen. Eine Untersuchung der Erzählstruktur des Romans bestätigt zu einem gewissen Grad die bereits zeitgenössisch festgestellte Ähnlichkeit mit Texten des empfindsamen Paradigmas, weshalb sich La Religieuse mit einigem Recht innerhalb der empfindsamen Tendenz des Literatursystems des 18. Jahrhunderts situieren lässt. Wo diese jedoch die empathische Teilnahme des Lesers an dem moralischen Handlungskonflikt zum Ziel der literarischen Kommunikation erhebt, sind die empfindsamen Strukturen in Diderots Roman nicht bereits Endpunkt, sondern ihrerseits lediglich Vehikel zur Durchsetzung einer Textbedeutung, die im Denken der Aufklärung fundiert ist. Dabei werden die literarischen Voraussetzungen der Empfindsamkeit nicht einfach aktualisiert, sondern einer grundlegenden Umwertung unterzogen, wobei Diderot sich für diese Verlagerung in der Epistemologie der Aufklärung fundierter Diskurse bedient. Empfindsame Strukturen und deren Umwertung und Refunktionalisierung sind für die (kritische) Textbedeutung von La Religieuse daher gleichermaßen konstitutiv. Gemeinsam bilden sie eine diskrepante Textstruktur aus, die einen mehrstufigen Bedeutungsbildungsprozess begründet.

395 So etwa Cotoni, Marie-Hélène, „Du dramatique au tragique: La scène des vœux monastiques interrompus dans Les Illustres Françaises de Robert Challe et La Religieuse de Diderot“, in: Revue d’Histoire Littéraire de la France 93 (1993), S. 62–72; sowie Traore, François B., Récit romanesque et univers religieux au temps des Lumières françaises entre 1760 et 1789, d’après La Religieuse (1760–1796) de Diderot, La Nouvelle Héloïse (1761) de Jean-Jacques Rousseau, Les Liaisons Dangeureuses (1782) de Choderlos de Laclos et Paul et Virginie (1788) de Bernadin de Saint-Pierre, Villeneuve d’Ascq 2001. 396 Etwa Pomeau, René, „Sur la religion de La Religieuse“, in: Travaux de Linguistique et de Littérature publiés par le Centre de Philologie et de Littératures romanes de l’université de Strasbourg 13 (1975), S. 557–567; sowie Jullien, Dominique, „Locus hystericus: l’image du couvent dans La Religieuse de Diderot“, in: French Forum 15/2 (1990), S. 133–148. 397 Mauzi vermeidet eine Antwort auf die zentrale Frage des Werkes: „[U]ne œuvre qui reconnaît l’authenticité de la vie spirituelle, mais qui refuse comme contraire à l’homme le style de spiritualité le plus pur que le christianisme ait élaboré, n’est-ce pas là justement une œuvre antichrétienne?“ („Préface“ von Mauzi in Diderot, La Religieuse, Paris 1972, S. 37 f.)

Die drei Ebenen der Bedeutungskonstitution in La Religieuse

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Konkret konstituiert sich die Textbedeutung in La Religieuse auf drei zu unterscheidenden Ebenen, zu denen das empfindsame Erzählen und dessen Dekonstruktion in jeweils unterschiedlicher Weise einen Beitrag leisten. Das erste Bedeutungsniveau ist hinsichtlich der Sozialkritik an der gesellschaftlichen Praxis der vocation forcée, d. h. dem zumeist finanziell begründeten Zwang junger Mädchen und Frauen zum Klostereintritt, auszumachen. Diese kritische Textbedeutung konstituiert sich in La Religieuse maßgeblich im ersten Teil des Romans mittels eines als Leidnarrativ strukturierten Erzählaktes, der auf Strukturen der Empfindsamkeit rekurriert. Als tendenziell empfindsam ist dieser Erzählakt insofern zu bezeichnen, als die drastische Darstellung von Suzannes körperlicher Qual, die den moralischen Konflikt ihres Freiheitsentzuges kodiert, geeignet ist, die emotionale Anteilnahme des Lesers und letztlich seine moralische Entrüstung über einen gesellschaftlichen Zustand hervorzurufen. In gleicher Weise richten sich die empfindsamen Erzählverfahren in diesem Teil des Textes an den fiktionsinternen Adressaten wie auch an einen anonymen Leser, deren jeweilige empfindsame Prädisposition vorausgesetzt wird. Die zweite Ebene umfasst eine religionskritische Textbedeutung, welche die Kritik an der katholischen Institution des Klosters in den Wissensbeständen der zeitgenössischen Physiologie fundiert. Auch diese Facette der Textbedeutung wird mittels empfindsamer Textstrukturen, Topoi und Begriffe kommuniziert; doch werden diese nicht einfach aktualisiert, sondern auf ihre Voraussetzungen hin reflektiert und dekonstruiert. Der Text beruft sich hierfür auf die Mehrdeutigkeit des Terminus sensibilité in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die neben dem moralisch-affektiven Begriff der Empfindsamkeit auch den im physiologischen Diskurs der Aufklärung auf der Basis der empirisch-induktiven Methode entwickelten einschließt. Dieser physiologische sensibilité-Begriff, der auf ein bestimmtes Körpermodell und diagnostisches Ideal der aufklärerischen Medizin verweist, durchzieht den gesamten Text unterschwellig, er gelangt jedoch vor allem in den Szenen sexueller Begegnung im zweiten Romanteil zu besonderer Prägnanz. Indem der Text das physiologische sensibilité-Verständnis an dem Leser bekannte Begriffe der empfindsamen Literatur anschließbar macht, werden geläufige literarische Konzepte der Empfindsamkeit (sensibilité, Unschuld, Opferbegriff) überlagert und eine Bedeutungsverschiebung im und durch den Text performiert. Auf diese Art weist Diderot die katholische Religion und deren klösterliche Institution als widernatürliche, dem Funktionsprinzip der organischen sensibilité widersprechende Praxis aus. In dieser Perspektive werden die dargestellten Deviationen – Sadismus, Homosexualität, Hysterie – als notwendige Folgen einer an ihrer Ausübung gehinderten sozialen und sexuellen Natur des Menschen und das Kloster als pathogenes Milieu markiert. Im Unterschied zur erstgenannten Bedeutungsebene ist mit der hier benannten Textbedeutung eine Differenzierung der Kommunikationsinstanzen in eine fiktive Erzählstimme und deren fiktiven Adressaten einerseits sowie einen realen Autor und einen von diesem implizit vorausgesetzten Rezipienten andererseits angezeigt. Im

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Sinne dieser Unterscheidung konnten die vielfältigen Diskrepanzen des Erzählaktes beschrieben werden als eine auktoriale Appellstruktur an einen impliziten Leser, der anhand der Diskrepanzen des Textes die physiologisch begründete kloster- bzw. religionskritische Erkenntnisbildung zu vollziehen in der Lage ist. Aus der religionskritischen Tendenz des Romans folgt daher eine weitere Schicht der Bedeutungskonstitution in La Religieuse, welche die erkenntnisbildende Funktion der Erzählung betrifft. Die Diskrepanzen des Textes bergen insofern ein epistemologisches Potential, als sie den Leser im Hinblick auf eine Erkenntnisbildung aktivieren, die im Zeichen des Denkens der Aufklärung steht: Zum einen beruft sich diese Erkenntnisbildung auf ein physiologisches Wissen, das auf der Grundlage des Denkstils der Aufklärung generiert wurde; zum anderen imitiert die dem Leser aufgegebene Tätigkeit ein in der aufklärerischen Medizin entwickeltes diagnostisches Ideal, das dem Vorgehen von empirischer Beobachtung und induktivem Schluss folgt. Der kritische Impetus des Textes folgt aus einer spezifischen epistemologischen Haltung, die dem Leser mittels der diskrepanten Textstruktur als eine dem empirisch-induktiven Denken der Aufklärung entsprechende aufgegeben wird. Zur Kommunikation dieser Haltung bedient sich Diderot eines Gerüstes, das die empfindsame Literatur seiner Zeit ihm in Hinblick auf die Erzählgenera wie auch die Erzählthemen und -topoi bereitstellt, um diese gleichsam aus ihrem bekannten Kontext zu lösen und zu refunktionalisieren. Zwanzig Jahre nach dem Entwurf einer empfindsamen Poetik im Éloge de Richardson verschiebt Diderot mit den finalen Überarbeitungen von La Religieuse die Perspektive von der Illusionierung und emotionalen Affizierung des Lesers für die Ausbildung der Moral auf das epistemologische Potential von Erzählungen. Die in der Richardson-Lobschrift hervorgehobenen empfindsamen Strukturen erfüllen dabei einen in ihrem affektiven Potential begründeten Beitrag zu einer thematischen Kritik, während die auf subtile Weise vollzogene Dekonstruktion derselben Strukturen eine höhere Ebene der Erkenntnisbildung erschließen.

3. Die Empfindsamkeit im Dienst der politischen Satire der Aufklärung: Voltaires L’Ingénu

Vor dem Hintergrund seines wohl bekanntesten conte, dem 1759 erschienenen Candide, ou l’Optimisme, mag es überraschen, Voltaires Prosawerk auf sein Verhältnis zur Empfindsamkeit hin zu befragen. Wenngleich entsprechende Verortungen für Voltaires Dramenproduktion, in geringerem Ausmaß auch für seine Narrativik, bereits vorgenommen worden sind,398 scheint das Empfindsame samt seiner wirkungsästhetischen Präsuppositionen den für Voltaires Erzählwerk typischen contes geradezu diametral gegenüberzustehen: Wo der Leser der Geschichte des Candide in der ironischen Distanz des Erzählers folgt und so dessen Urteil hinsichtlich der optimistischen Weltsicht des Leibniz’schen Systems reproduziert, verlangt die empfindsame Literatur sein affektives Nachempfinden der moralischen Konfliktsituation. Wer könnte sich die von Diderot im Éloge de Richardson angesichts der bedrängten Tugend der Clarissa Harlowe beschriebenen Tränen für das nicht minder schlimme Schicksal von Candides Geliebter Cunégonde vorstellen? Deren histoire ließe es wohl zu, die narration jedoch verhindert die emotionale Anteilnahme stets durch ironische Brechung. Die von Diderot gepriesene, durch emotionale Anteilnahme erzeugte Illusionsbildung des empfindsamen Erzählens wird durch die in Voltaires Narrativik bevorzugte ironische Kommunikation tendenziell verhindert. Innerhalb Voltaires Prosawerk bezieht der 1767 in Genf anonym publizierte Roman L’Ingénu daher eine Sonderstellung. Es ist ein Leitmotiv der Forschung zu diesem Text, seine fehlende ‚Einheit‘ zu betonen, die darin besteht, dass die für Voltaire typische, durch Ironie erzeugte Komik durch Passagen aufgewogen wird, die einer tendenziell empfindsamen Strukturierung folgen. Dabei wird die Frage nach der Funktion dieser

398 Siehe für eine Herleitung der Voltaire’schen Tragödie aus dem zärtlichen Drama zuletzt MeyerSickendiek 2016, S. 154–164; für die Einflüsse der englischen – auch empfindsamen – Literatur auf Voltaires literarische Produktion im allgemeinen siehe Gunny, Ahmad, Voltaire and English Literature: A Study on English Literary Influences on Voltaire, Oxford 1979. Einem biographistischen Ansatz folgt Ridgway, Ronald S., Voltaire and Sensibility, Montreal/London 1973.

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Passagen, die in die Nähe des empfindsamen Romans englischer Prägung gerückt worden sind,399 regelhaft mit dem Verweis auf einen Brief Voltaires an den Genfer Pastor Paul Claude Moultou beantwortet. Voltaire dankt Moultou in diesem Brief für die Zusendung eines Buches, welches der aktuellen Verfolgung protestantischer Gläubiger gewidmet ist, und formuliert die Notwendigkeit, die breite Öffentlichkeit mit literarischen Mitteln über die andauernde Protestantenverfolgung aufzuklären: Cela rend honteux d’être catholique. Je voudrais que de tels livres fussent en France dans les mains de tout le monde; mais l’opéra-comique l’emporte, et presque tout le monde ignore que les galères sont pleines de malheureux condamnés pour avoir chanté de mauvais psaumes. Ne pourrait-on faire quelque livre qui pût se faire lire avec quelque plaisir, par les gens qui n’aiment point à lire, et qui portât les cœurs à la compassion? Plus j’y pense, plus il me paraît difficile d’avertir que les fruits d’un arbre sont mortels, sans faire sentir aux esprits exercés que l’arbre est d’une bien mauvaise nature. […] Ce n’est pas assez de prouver que l’intolérance est horrible, il faut montrer à des Français qu’il est ridicule.400

Zusammengefasst müsse der in diesem Brief anvisierte Text folglich geeignet sein, sowohl das Mitgefühl der Leser mit den Opfern der religiösen Intoleranz zu stimulieren, als auch diese Intoleranz der Lächerlichkeit preiszugeben. Obwohl offen ist, ob Voltaire mit dem hier lediglich hypothetisch skizzierten Text seinen nur kurze Zeit später redigierten Roman beschreibt, bot die auf diese Beschreibung passende Verbindung aus komischen und (tendenziell) empfindsamen Passagen der Forschung hinreichenden Anlass, in L’Ingénu ebendiese Ausarbeitung zu erkennen.401 Ausgehend von diesem Beleg aus Voltaires Korrespondenz konnte die Hybridität des Textes als eine intentional erzeugte und als eine innerhalb einer Kommunikationsstrategie in Voltaires Kampf gegen religiöse Intoleranz eingesetzte gedeutet werden. Voltaires Œuvre der 1760er Jahre ist von den religionspolitischen Affären der Prozesse der Protestantenfamilien Calas und Sirven sowie des Prozesses des wegen Häresie angeklagten und hingerichteten jungen Chevalier de la Barre geprägt. Seine schriftstellerischen Aktivitäten der Jahre 1766/1767 konvergieren in einer Reflexion über religiöse Toleranz und das Justizsystem402 und auch die in L’Ingénu erzählte Ge-

399 Van den Heuvel, Jacques, Voltaire dans ses contes: de Micromégas à L’Ingénu, Genf 1998, S. 313. Siehe zu der Feststellung der Hybridität näher Abschnitt 3.1. 400 Voltaire an Moultou, Oktober – November 1766, Inventarnummer D13641, in: Voltaire, Correspondence and related documents, hg. v. T. Besterman, OCV, Bd. 85–135, 1968–1977, Bd. 115. 401 Gegen diese Schlussfolgerung argumentiert Gargett, Graham, „Some Reflections on Voltaire’s L’Ingénu and a Hitherto Neglected Source: the Questions sur les Miracles“, in: The Secular City: Studies in the Enlightenment presented to Haydn Mason, hg. v. T. D. Hemming, E. Freeman u. D. Meakin, Exeter 1994, S. 85–101. 402 Voltaires Relation de la Mort du Chevalier de la Barre etwa erscheint 1766 in der Form eines Briefes an Cesare Beccaria, dessen strafrechtsreformatorisches Werk Dei Delitti e delle Pene Voltaire wahrscheinlich am Ende des Jahres 1765 im Original rezipierte.

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schichte des kanadischen Ureinwohners, der nach seiner Ankunft in Frankreich wegen seiner Sympathie mit den verfolgten Hugenotten in der Bastille inhaftiert wird, lässt sich innerhalb dieser Beschäftigung verorten. In seiner umfangreichen Einleitung des Textes in der Oxforder Gesamtausgabe bezeichnet Richard Francis L’Ingénu daher als ein „combative pamphlet“,403 das sich einreihe in Voltaires „ambitious campaign against Christianity that was reaching its climax in 1767“.404 Vor dem Hintergrund dieser Einordnung wird L’Ingénu gemeinhin als ein satirischer Text verstanden, wobei hinsichtlich des Objektes der Satire Uneinigkeit besteht. Als Gegenstand der satirischen Kommunikation wurde die katholische Kirche405 ebenso genannt wie die Jesuiten,406 die Jansenisten407 sowie die für die Verfolgung der Protestanten und des jungen La Barre verantwortlichen parlements als Institution des Justiz- und Verwaltungssystems des Ancien Régime.408 Dass alle diese Interpretationen eine gewisse Berechtigung haben, wenngleich sie jeweils nur einen Ausschnitt des satirischen Gegenstandes abbilden, ist in der folgenden Textanalyse zu zeigen. Entgegen der Feststellung Gargetts, der angesichts der Vielzahl der in L’Ingénu verwendeten Themen und Motiven eine „apparent absence of a clear theme“ beklagt,409 werde ich darlegen, dass Thema und satirisches Objekt in Voltaires Text wechselseitig aufeinander verweisen: L’Ingénu thematisiert Verfolgung jedweder Art mittels der Satire auf eine Verfolgung generierende politische Situation. Obwohl die Verwendung empfindsamer Versatzstücke in fast jedem Forschungsbeitrag zu diesem Text kommentiert wird, wurde bisher übersehen, dass diese Elemente des empfindsamen Diskurses selbst eine Verfolgungsthematik bergen, die in einer funktionalen Beziehung zu dem satirischen Kommunikationsziel steht. Vor diesem Hintergrund verfolgt die nachfolgende Textanalyse das Ziel, die drei in der Forschung zu L’Ingénu wiederkehrenden Deutungsansätze – L’Ingénu als Satire, L’Ingénu als Teil von Voltaires Engagement für die Opfer der Justizaffären der 1760er Jahre, sowie L’Ingénu als Kombination von komischen und empfindsamen Passagen – in einer umfassenden Interpretation zusammenzuführen. Deutlich wird, dass sich die Verwendung von ‚Empfindsamem‘ gewissermaßen organisch aus der kritischen Thematik des Textes ergibt. Und doch gilt es, einen unironischen von jenem für Voltaire so 403 Francis, Richard A., „Introduction“, in: Voltaire, L’Ingénu, hg. v. R. A. Francis, OCV, Bd. 63C, 2006, S. 1–186, dort S. 2. 404 Ebd., S. 4. 405 So etwa Gargett 1994, S. 85. 406 Nivat, Jean, „L’Ingénu de Voltaire, les jésuites et l’affaire La Chalotais“, in: Revue des sciences humaines 66 (1952), S. 97–108; Alcover, Madeleine, „La casuistique du père Tout-à-tous et Les Provinciales“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 81 (1971), S. 127–132. 407 Gemäß Pruner, Francis, Recherches sur la création romanesque dans L’Ingénu de Voltaire, Paris 1960, richte sich die Kritik an Jesuiten und Jansenisten gleichermaßen; ähnlich auch Sareil, Jean, „Les ‚Provinciales‘ de Voltaire“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 90 (1972), S. 1417–1432. 408 Francis, „Introduction“, in: Voltaire, L’Ingénu, S. 9. 409 Gargett 1994, S. 85.

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typischen ironischen Gebrauch zu unterscheiden. In dieser Differenzierung, die sich in L’Ingénu selbst nachweisen lässt, manifestiert sich der Unterschied in der Indienstnahme empfindsamer Strukturen in den untersuchten Texten Voltaires und Diderots. 3.1 ‚Komisch‘ und ‚empfindsam‘: Hybridität als Problem der Forschung In dem Versuch, der Erzählform von Voltaires L’Ingénu gerecht zu werden, urteilt Jacques van den Heuvel in seiner Studie Voltaire dans ses contes: „[D]ébutant presque comme Candide, L’Ingénu se termine comme un roman anglais.“410 Zwei Probleme werden in dieser knappen Formel auf den Punkt gebracht, die Voltaires 1767 publizierten Text aus der schieren Menge seiner narrativen Produktion herausheben und an denen sich die mit diesem Autor befasste Dixhuitiemistik bis heute abarbeitet. Zum einen ist mit dem Platzhalter Candide einerseits sowie der generischen Behelfskategorie roman anglais andererseits eine offensichtliche formelle Uneinheitlichkeit angezeigt, welche die erzählerische Beschaffenheit des Textes betrifft. Voltaires wohl bekanntester conte und die englische sentimental novel bezeichnen hier die zwei Extreme einer Entwicklung in der Erzählstruktur von L’Ingénu, die sich von einem komisch-ironischen Verfahren zu einem nach den Modellen der Empfindsamkeit strukturierten Erzählmodus vollziehe. Zum anderen evoziert van den Heuvel mit der Empfindsamkeit des englischen Romans eine Kategorie, die für Voltaires Narrativik, wenn auch nicht unbedingt für seine Dramenproduktion, eher untypisch ist.411 Ahmad Gunny zufolge handele es sich bei L’Ingénu gar in Teilen um „basically the same type of writing“ wie in Richardsons Roman Clarissa Harlowe,412 um ein Schreiben, mithin, dass den Verfahren des Voltaire’schen Candide quasi diametral entgegen zu stehen scheint. Angesichts dieser Befunde war eine der ‚Einheit‘ des Textes verschriebene Literaturwissenschaft der 1960er und 1970er Jahre bemüht, trotz der tonalen Disparität seiner Einzelelemente die unité von L’Ingénu zu rekonstruieren.413 Spätere Ansätze ver410 Van den Heuvel 1998, S. 313. 411 Grundlegend zu Voltaires Verhältnis zur empfindsamen Narrativik seiner Zeit: Williams, David, „Voltaire on the Sentimental Novel“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 135 (1975), S. 115–134; sowie Gunny 1979. Zu Voltaires ambivalenter Position gegenüber dem Roman siehe Gunny, Ahmad, „Voltaire’s Thoughts on Prose Fiction“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 140 (1975), S. 7–20. 412 Gunny 1979, S. 273. Ähnlich urteilt Ridgway 1973, S. 242: „For L’Ingénu is not only, in many important respects, a roman sensible, but a tract in favour of sensibility.“ 413 Hierbei wurde die ‚Einheit‘ entweder in seinem ‚Ton‘ gesucht. Paradigmatisch für diese Tendenz ist das Diktum von Haydn Mason: „The polemical themes are too disparate; if there is a unity, it must be in the tone“; siehe Mason, Haydn T., „The Unity of Voltaire’s L’Ingénu“, in: The Age of Enlightenment. Studies presented to Theodore Besterman, hg. v. William H. Barber u. a., Edinburgh 1967, S. 93–106, dort S. 96. Alternativ galt bspw. die Entwicklung der Figuren als Beleg für

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schoben den Fokus im Anschluss an den wegweisenden Beitrag von Jean Starobinski414 anschließend auf die ‚binäre Dialektik‘ des Textes,415 wohingegen dieser neuerdings als Manifestation eines in Voltaires Narrativik der späten 1760er Jahre neuartigen „experimental approach to generic issues“ gelesen wird.416 An den zitierten Beiträgen lässt sich ein nach wie vor diskutiertes Interesse an dem Verhältnis von komischen und empfindsamen Passagen in L’Ingénu ablesen. Dabei ist zu beobachten, dass das ‚Komische‘ stets im Hinblick auf eine satirische Textfunktion interpretiert wird, während das ‚Empfindsame‘ als mit Satirischem unvereinbar erachtet wird, wie aus Formulierungen wie der folgenden von van den Heuvel deutlich wird: „Peu à peu, en effet, au cours du roman, la peinture emporte sur la caricature, et la sensibilité sur la satire.“417 Dieser Kurzschluss soll vor dem Hintergrund der neueren Theoriebildung zur Satire revidiert werden. Aus der Satiretheorie folgt die Differenzierung des Satirischen einerseits sowie des Empfindsamen andererseits, die auf gänzlich Unterschiedliches abheben. Die vorliegende Untersuchung widmet sich der spezifischen Funktionalisierung der empfindsamen Passagen in L’Ingénu für eine satirische Kommunikation, deren Gegenstand ebenfalls im Anschluss an die bestehende Forschung neu zu rekonstruieren ist. 3.2 Theorie der literarischen Satire: Das Satirische als negativ-implizierende Schreibweise und als Überlagerung von Kommunikationsmodi Der folgende Vorschlag nimmt die ‚tonale‘ Unterschiedlichkeit der komischen und empfindsamen Sequenzen in L’Ingénu als verschiedenartige formale Ausgestaltungen einer pragmatischen Textfunktion in den Blick, die sich näherhin als eine satirische bestimmen lässt. Komisches und Empfindsames steht somit, so die These, in L’Ingénu gleichermaßen im Dienst satirischer Kommunikation. Dass Voltaire die typische komisch-ironische Rhetorik seines conte mit sentimentalen Sequenzen kombiniert, ist zwar einerseits als pragmatisches Zugeständnis an den empfindsamen Geschmack der Zeit zu verstehen.418 Die empfindsame Dimension von L’Ingénu auf diese Weise schlicht als Modeerscheinung ‚weg‘ zu erklären, verkennt allerdings, dass der empfind-

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die ‚Einheit‘; so etwa in Highnam, David E., „L’Ingénu: flawed masterpiece or masterful innovation?“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 143 (1975), S. 71–83. Starobinski, Jean, „Le fusil à deux coups de Voltaire: La philosophie d’un style et le style d’une philosophie“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 7 (1966), S. 277–291. Z. B. Clouston, John S., Voltaire’s Binary Masterpiece: L’Ingénu Reconsidered, Bern/Frankfurt/New York 1986. Francis, Richard, „The Ingenu’s Children“, in: Voltaire and the 1760s. Essays for John Renwick, hg. v. N. Cronk, Oxford 2008, S. 217–226, dort S. 224. Van den Heuvel 1998, S. 314. So z. B. van den Heuvel 1998, S. 313.

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same Roman über ein Arsenal von Konnotationen, Topoi und wirkungsästhetischen Basispostulaten verfügt, das sich der Satiriker Voltaire für das spezifische Objekt der Satire in L’Ingénu zunutze machen kann,419 gerade weil es Affinitäten zur kritischen Thematik des Textes aufweist.420 Als Satire betrachtet, reiht sich L’Ingénu ein in Voltaires umfassendes satirisches Werk, das sich solch unterschiedlicher literarischer Gattungen wie der Tragödie (z. B. Mahommet, ou le fanatisme, 1741), des philosophischen conte (Candide, ou de l’optimisme, 1759) und der Verssatire (Les Systèmes, 1772) bedient. Dennoch nimmt L’Ingénu innerhalb dieser Reihung insofern eine Sonderstellung ein, als dieser Text weder einen antiphilosophischen oder religiösen Gegner, noch ein als überkommen erkanntes philosophisches Systemdenken, sondern ein dezidiert politisches Objekt von zeitgenössischer Aktualität anvisiert. Obwohl die Frage nach dem konkreten Gegenstand der in L’Ingénu ästhetisch vermittelten Kritik nach wie vor strittig diskutiert wird,421 herrscht doch weitestgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei diesem Text um einen satirischen handelt. Gleichwohl gelangen die meisten Forschungsbeiträge zu L’Ingénu über ein intuitives Verständnis von ‚Satire‘ nicht hinaus und bleiben eine Analyse der spezifischen Art und Weise, wie sich in diesem Text Satirisches konstituiert, geschweige denn eine theoretische Bestimmung des satirischen Kommunikationsmodus schuldig. Demgegenüber bietet eine systematische, an der neueren Gattungstheorie und Pragmasemiotik orientierte Handhabung des Begriffs ‚Satire‘ nicht nur die Möglichkeit, bestimmte Probleme, die sich aus dem Raumzeitgefüge der Fiktion ergeben, dadurch zu entkräften, dass das Fiktionale und das Satirische als Kommunikationsmodi unterschieden werden; es ließe sich auch dem Scheinproblem einer fehlenden unité de ton begegnen. Es ist also zunächst das theoretische Modell von Satire darzulegen, mit dem die anschließende Textanalyse arbeitet. Als ‚Satire‘ soll im Anschluss an Klaus W. Hempfers gattungstheoretische Differenzierung422 eine Schreibweise verstanden werden, deren historisch invariante Struktur sich folgendermaßen resümieren lässt:

419 Siehe diesbezüglich das Urteil in Francis 2008, S. 226. 420 Auf diese Beziehung ist in den Abschnitten 3.5.2. und 3.6. zurückzukommen. 421 Auf die jeweiligen Positionen der Forschung im Hinblick auf das satirische Objekt wird an den betreffenden Stellen der Textanalyse verwiesen. 422 Die von Klaus W. Hempfer vertretene konzeptuelle Unterscheidung von historisch invarianten Schreibweisen (das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw.) und deren jeweiligen historischen Konkretisierungen als Gattungen (z. B. Novelle, Tragödie, Verssatire) hat sich in der neueren Gattungstheorie inzwischen weitestgehend durchgesetzt. Zu genannter Begriffsdifferenzierung siehe Hempfer, Klaus W., Gattungstheorie: Information und Synthese, München 1973, speziell S. 141, S. 190, S. 224. ‚Satire‘ bezeichnet in den folgenden Ausführungen die satirische Schreibweise bzw. das Satirische.

Theorie der literarischen Satire

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‚Satire‘ ist funktionalisierte (mediatisierte) Ästhetik zum Ausdruck einer auf Wirkliches negativ und implizierend zielenden Tendenz. […] Das Spezifische der ‚Satire‘ im System der literarischen Schreibarten liegt nun gerade darin, daß hier die Sprache nicht nur zur Erstellung eines Ästhetischen intentional verwendet wird, sondern daß deren Intentionalität potenziert ist, indem das Ästhetische seinerseits wiederum nicht Zielpunkt, sondern über sich selbst hinausweisende Funktion ist.423

Bezeichnet ist in diesem Strukturmodell somit jener spezifische Doppelcharakter satirischer Literatur, der darin besteht, dass erstens ein ästhetisches Konstrukt erstellt wird, welches zweitens für die Kommunikation einer negativen Wertungstendenz gegenüber einem Ausschnitt der Wirklichkeit funktionalisiert ist. Ohne den potentiellen Eigenwert des Ästhetischen zu negieren, erarbeitet Hempfer folglich eine Grundstruktur des Satirischen, die sich im Kern durch eine funktionale Überlagerung der Textästhetik durch das satirische Kommunikationsziel charakterisiert. Auf dieser Überlagerungsstruktur basiert auch das theoretische Modell von Andreas Mahler, das Hempfers strukturalistischen Ansatz zwei Jahrzehnte später unter Rückgriff auf die Theoriebildung der Pragmasemiotik erweitert. Mahler bestimmt das Satirische zunächst als eine „transgenerische Gebrauchsmodalität“,424 um diesen Gebrauchsmodus sodann als ‚ungerade‘ Sprachverwendung im Sinne der Grice’schen Implikatur näher zu definieren.425 Der Aspekt der funktionalisierten Ästhetik, der im Zentrum von Hempfers Satiretheorie steht, wird in dieser pragmasemiotischen Ausrichtung folgerichtig als „sekundäre Indienstnahme vorgegebener Sprechhandlungsmuster“426 reinterpretiert. Satirisches Sprechen wird so als unaufrichtiges bzw. fingiertes Sprechen verstanden; fiktionale Sprachhandlungen können dabei ebenso

423 Hempfer, Klaus W., Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts, München 1972, S. 34. Ingrid Hantsch erweitert Hempfers Definition um eine zeichentheoretische Orientierung und formuliert ein „semiotisches Strukturmodell der satirischen Schreibweise“: „Die satirische Schreibweise definiert sich als semiotische Systemerstellung, verstehbar als kommunikativer Akt innerhalb der Dimension ‚Autorintentionalität‘ und ‚Hörerintellektualität‘, wobei die pragmatische Absichtlichkeit die semantische, syntaktische und ästhetische Information der Texte überlagert, sie funktionalisiert und mediatisiert, und dadurch subtextuell die sigmatische Beziehung zwischen Textwirklichkeit und realempirischer Wirklichkeit zeichenhaft so regelt, daß letzterer gegenüber negativ wertende kritische Energie frei wird.“ (Hantsch, Ingrid, Semiotik des Erzählens. Studien zum satirischen Roman des 20. Jahrhunderts, München 1975, S. 55) Für den vorliegenden Zusammenhang ist weniger die strukturalistische respektive semiotische Perspektivwahl der zitierten Strukturmodelle von Bedeutung als deren Gemeinsamkeit in der Betonung der die Textästhetik regierenden negativen Tendenz und des pragmatischen Impetus von Satire. 424 Mahler, Andreas, Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. Texttheorie, Epistemologie, Gattungspoetik, München 1992, S. 37. 425 Ebd., S. 42 f. 426 Ebd., S. 43.

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fingiert werden wie nicht-fiktionale.427 Begreift man das Satirische derart als parasitäre Überlagerung einer Äußerung durch eine negativ-wertende Bedeutungsimplikation, so offenbart sich der spezifische Doppelcharakter von Satire: „Das Satirische als eine gleichsam gegen den Strich zu kommunizierende Modalität der Sprachverwendung steht somit im Zeichen einer situativen Doppelung, in der sich die Situation des satirischen Sprechens und eine in ihr implizierte Situation vorgängigen Besprechens überlagern; […].“428 Kennzeichnet Satire als Implikatur folglich ein „Auseinanderfallen von Gesagtem und Gemeintem“,429 so konstituiert sich in diesem satirisch ‚Gemeinten‘ der spezifische Wirklichkeitsbezug satirischer Kommunikation. Wenngleich die beiden zitierten Theoriemodelle Hempfers und Mahlers die schreibweisenspezifische Referenz des Satirischen auf die extratextuelle Wirklichkeit betonen, geht es ihnen in Entsprechung ihres jeweiligen Erkenntnisinteresses um unterschiedliche Aspekte bzw. Dimensionen dieses Wirklichkeitsbezugs. Hempfer fokussiert mit der Formulierung eines „nennend-implizierende[n] Wirklichkeitsbezug[s]“430 die Art und Weise, wie satirische Kommunikation auf Ausschnitte der extratextuellen Umwelt referiert: Im Unterschied zu transparent-darstellenden Verfahren präsupponiert der nennend-implizierende Modus431 die Kenntnis der evozierten Wirklichkeit beim Rezipienten und schließt so mittels der (negativ bewerteten) Nennung an diesen Wissensbestand an. ‚Wirklichkeit‘ wird in Hempfers Modell daher breit gefasst und mittels der Kategorie ‚Leserwissen‘ operationalisiert. Während Mahler der Bedeutung des nennend-impli-

427 Ebd., S. 64. Auf den Aspekt des satirischen Fingierens eines fiktionalen Modus wird im folgenden Abschnitt zurückzukommen sein. 428 Ebd., S. 52. 429 Ebd., S. 47. 430 Hempfer 1972, S. 157. 431 Gegen die Erfassung des nennend-implizierenden Wirklichkeitsbezugs in der Bestimmung einer historisch invarianten satirischen Schreibweise argumentiert Schönert, Jörg, „Theorie der (literarischen) Satire: ein funktionales Modell zur Beschreibung von Textstruktur und kommunikativer Wirkung“, in: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 2 (2011), S. 25; abrufbar unter: http://www. uni-muenster.de/textpraxis/joerg-schoenert-theorie-der-literarischen-satire. Schönert entwirft ein Dreiebenenmodell, das ebenfalls eine satirische Schreibweise von deren Konkretisierung als Text unterscheidet. Differenziert wird weiters eine Tiefenstruktur „historisch invariante[r] Konstituenten der satirischen Schreibweise“ (Schönert 2011, S. 8) von einer „Strategie-Ebene“, auf der die transhistorischen Konstituenten im Hinblick auf die „Intentionalität“ (ebd., S. 17) der satirischen Schreibweise historisch realisiert werden. Auf dieser Ebene der Strategie situiert Schönert anschließend die „Gattungstypen der satirischen Schreibweise“ (ebd., S. 8). Ein drittes, „Repräsentanz-Ebene“ genanntes Niveau umfasst die individuelle sprachlich-stilistische Ausformung des Verhältnisses von Tiefenstruktur und „Strategie-Ebene“. Bei dieser Ebene handelt es sich somit, vereinfacht ausgedrückt, um die Textoberfläche, wobei die genaue Beziehung von Repräsentanz- und Strategie-Niveau im Unklaren bleibt. Trotz des Benennungsaufwandes, den Schönerts Ebenenmodell betreibt, lassen sich die drei unterschiedenen Niveaus letztlich auf die bekannte Differenzierung von historisch invarianten Schreibweisen, deren jeweiliger historischer Konkretisierung als literarische Gattung und der individuellen Vertextungsebene reduzieren.

Theorie der literarischen Satire

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zierenden Verfahrens zustimmt und folglich ebenfalls von einer leserseitigen Wissenspräsupposition ausgeht,432 ergeben sich Unterschiede hinsichtlich der Qualität dieses Wissens und damit der Dimension der implizierten Wirklichkeit: Den breiten Realitätsbegriff als „problematisch“ verabschiedend,433 schränkt er das Implizierte auf seine „vorausgegangene Mitgeteiltheit“434 ein und nimmt so eine Reduktion des Wirklichkeitsbegriffs auf dessen versprachlichten Informationscharakter vor. Im Hinblick auf das Rezeptionspotential der zu analysierenden Voltaire’schen Satire ist eine derartige Einschränkung des Wirklichkeitsbegriffes jedoch zu problematisieren. Als „Situation vorgängigen Besprechens“435 wird Wissen um Wirklichkeit nicht nur auf seinen informationellen Gehalt reduziert, sondern zudem an die sprachliche Weitergabe zwischen Kommunikationsakteuren geknüpft. Im Unterschied zu dem breiteren, sprachliche Mitgeteiltheit logisch einschließenden Realitätsbegriff in Hempfers Strukturdefinition erscheint ‚Wirklichkeit‘ in Mahlers Theoriemodell aufgrund ihrer Einschränkung auf kommunizierte Informationen als lediglich punktuelle Referenz. Nicht vorgesehen scheint in diesem Modell die Möglichkeit eines satirischen Verstehens, das über informationelles Wissen hinaus auch komplexe Wissensbestände oder situative Sachverhalte eher elusiven Charakters zu erfassen vermag. Wie sich anhand der nachfolgenden Textanalyse von L’Ingénu zeigen lässt, ist der Bezug der satirischen Kommunikation zur extratextuellen Umwelt jedoch nicht immer mittels der Kategorie ‚versprachlichte Information‘ qualifizierbar respektive quantifizierbar. Vielmehr besteht das satirische Objekt in L’Ingénu in einer politischen Konstellation, die zwar auch mittels einzelner (informationeller) Elemente aufgerufen wird, die gleichwohl die Summe dieser Einzelelemente übersteigt und sich als komplexes Beziehungsgefüge darstellt. Die als ‚Information‘ qualifizierbaren Elemente des satirischen Weltbezugs sind in L’Ingénu daher nicht selbst schon Zielpunkt der Satire. Sie stehen entweder als charakteristische Merkmale einer größeren Konstellation metonymisch für das satirische Objekt oder sie fungieren als Markierungen eines Aktualitätsbezugs,436 der Voltaires Fiktion im Sinne einer situativen Doppelung überlagert und sie allererst als Satire konstituiert. Um das in L’Ingénu zur Disposition stehende politische Gefüge als das zeitgenössisch aktuelle rekonstruieren zu können, wird leserseitig eine Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Umwelt präsupponiert, die über die informati-

432 Mahler 1992, S. 48: „Satirische Texte tun mithin nur so, als ob das, was sie mitteilen, das wäre, was sie kommunikativ übermitteln wollen; das im Text Dargestellte benutzen sie jedoch nur zur Aktivierung eines bereits als vorrätig gesetzten Wissens, mit dem sie sich wertend auseinandersetzen, ohne direkt darüber Aussagen zu machen.“ 433 Ebd., Anm. 33. 434 Vgl. ebd. folgende alternative Formulierung: „das bereits sprachliche Konzept der mitgeteilten Information“. 435 Ebd., S. 52. 436 Ein Beispiel für einen solchen Aktualitätsbezug im Sinne einer versprachlichten Information ist die sog. Bélisaire-Affäre, siehe unten S. 153–155.

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onelle Mitgeteiltheit der Einzelaspekte hinausgeht. In Abgrenzung zu der von Mahler vorgenommenen Einschränkung soll der Wissensbegriff hier daher bewusst unspezifisch gehalten werden, um alle Möglichkeiten des satirischen Wirklichkeitsbezugs in Voltaires Text abzudecken. Während nun also die satirische Kommunikationsfunktion von L’Ingénu nur für denjenigen Leser wirksam wird, der die Aktualitätsreferenzen zu erkennen und die Fiktion als negativen Kommentar auf die politische Situation im Frankreich des mittleren 18. Jahrhunderts zu lesen vermag, bleibt der generelle Problemcharakter der dargestellten politischen Konstellation hingegen auch dem weniger gut informierten oder modernen Leser nicht verschlossen. Fehlende Wissensbestände werden von den narrativen Entfaltungsmöglichkeiten des conte insofern kompensiert, als sich erzähllogische Zusammenhänge herstellen lassen, die für sich genommen bereits Bedeutung konstituieren. Aus diesem Rezeptionspotential des Textes ergibt sich hinsichtlich seiner satirischen Doppelstruktur folgende Charakterisierung: In L’Ingénu wird mit sprachlichen Mitteln eine historische Fiktion erzeugt, die von einem satirischen Modus dergestalt überlagert wird, dass die Fiktion als Mittlerin der Satire fungiert. Die satirische Bedeutungsdimension konstituiert sich dabei als negativ-implizierende Referenz auf das zeitgenössisch (d. h. um 1760) aktuelle Politikgeschehen, während der Text zugleich als ‚bloße‘ historische Fiktion rezipierbar bleibt. Das Besondere dieser satirischen Doppelung besteht in Voltaires Text nun darin, dass das in der Fiktion entfaltete Problem derjenigen Grundfrage entspricht, um die auch die Satire kreist. Fiktion und Satire bilden folglich ein Analogon. Dass dieser thematische Kern sich auch dem weniger gut informierten Leser erschließt, zeugt von der außerordentlich kongruenten Überlagerung des fiktionalen und des satirischen Sprechens in L’Ingénu.437 Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Satire war jedoch eingangs nicht das Verhältnis von Fiktionalem und Satirischem, sondern die für L’Ingénu geltende Kombination von Textsequenzen, die verschiedene literarische Gattungskonfigurationen aufrufen. Es lässt sich nun unter Berücksichtigung dieser Textstruktur die konkrete Gestaltung von fiktionalem und satirischem Sprechen noch genauer bestimmen. Bisher wurde konstatiert, dass L’Ingénu dem Leser eine historische Fiktion präsentiert, die der Vermittlung von Satire dient. Zur narrativen Ausgestaltung der Fiktion kombiniert Voltaire dabei Elemente und Strukturen aus verschiedenen Paradigmen des zeitgenössischen Literatursystems, im Einzelnen des conte comique bzw. licentieux und des roman sentimental. Da die für das Satirische konstitutiven negativ-implizierenden Wirklichkeitsreferenzen als Elemente der Fiktion figurieren, sind sie Teil der auf der Kombination der genannten Gattungskonfigurationen basierenden Vertextung. Ko437 Hempfer hat ausgehend von Voltaires Verssatiren ebenfalls auf die geringe Verständnisbarriere der Voltaire’schen Satire hingewiesen, die „trotz ihres engen Nexus an die empirische Realität […] schon durch die Relevanz ihrer Tendenz […] die gattungsspezifische besondere Geschichtlichkeit transzendiert.“ (Hempfer 1972, S. 151)

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mischer conte und empfindsame Passagen stehen somit gleichermaßen im Dienst der politischen Satire in L’Ingénu.438 Bevor wir die narrative Gestalt des Textes in Abschnitt 3.6. genauer betrachten, gilt es zunächst, das satirische Objekt und seine Konstitution in der historischen Fiktion zu konkretisieren. 3.3 Die satirische Struktur: Politische Satire als temporal kodierte Analogie Mahlers Satirebegriff, der sich des Grice’schen Konzepts der Implikatur bedient, analysiert den satirischen Kommunikationsmodus als eine im Wesentlichen fingierte Kommunikation, in der ein ‚uneigentliches‘ Sprechen intentional von einer ‚eigentlichen‘ Bedeutungsschicht überlagert wird. Stellt man in Rechnung, dass im Spektrum der satirischen Literatur naturgemäß auch Texte mit fiktionalem Status vertreten sind, so ergibt sich für diese Texte die besondere Situation, dass die von ihnen vollzogene fiktionale Sprachhandlung ihrerseits eine fingierte ist: Der Text gibt lediglich vor, dass die Erstellung der Fiktion selbst schon Zielpunkt der Sprachhandlung sei, während ebendiese Fiktion eigentlich der Übermittlung der negativen Tendenz dient. In L’Ingénu wird dieser doppelte Kommunikationsmodus durch ein der Fiktion eingeschriebenes zweifaches Temporalsystem artikuliert. Vermittelt wird einerseits eine um 1690 verortete historische Fiktion, während innerhalb dieser Fiktion ein zweites Zeigfeld kreiert wird, das einen satirischen Bezug auf das aktuelle Zeitgeschehen um 1760 – also auf die Periode der Textproduktion – herzustellen erlaubt. Um welche Aspekte der zeitgenössischen Gesellschaft es sich im Detail handelt und welche Kritik sich mit ihnen verbindet, wird Inhalt des folgenden Kapitels sein. Diese Hinleitung verfolgt zunächst das Ziel, die grundlegende Struktur der satirischen Verarbeitung von Welt in L’Ingénu als ein doppeltes Verweissystem zu beschreiben.439 Dass sich satirisches Schreiben durch seinen „unmittelbaren Zeitbezug“440 charakterisiert, ist implizites oder explizites Element der im vorigen Abschnitt zitierten Bestimmungsmodelle von Satire:441 Der Satiriker nimmt, vereinfacht ausgedrückt, Zeit-

438 Dies ist auch ein Beleg dafür, dass Komik weder notwendige noch hinreichende Bedingung für Satire sein kann. Vgl. zu dieser Frage auch Meyer-Sickendiek, Burkhardt, „Theorien des Satirischen“, in: Zymner, Rüdiger (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar 2010, S. 331–334. 439 Für die These eines zweifachen temporalen Referenzsystems siehe ebenfalls Clouston 1986 sowie Van den Heuvel 1998. 440 Hantsch 1975, S. 24. 441 Hempfer spricht in Bezug auf Voltaires Verssatiren von einem „Positionsbezug in Grundfragen der Zeit“ (Hempfer 1972, S. 151); Schönert betont den „permanenten Verweis auf ein außersprachlich Gegebenes“ (Schönert 2011, S. 6).

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kritik vor. Ingrid Hantsch insistiert zudem auf einem zeitlichen Auseinandertreten von Erzähltem und Realem: Das Ideal des Satirikers scheint sich in einer nach rückwärts gerichteten Blickrichtung zu erschließen. Das war schon in den klassischen Zeiten der Satire so, wo Zeitkritik sich durch antithetische Gegenüberstellung von negativem Jetzt zum positiven Einst vollzog. Für positive Vorausplanung scheint in der intentional augenblicksgebundenen Satire kein Platz.442

Nun ist es sicher richtig, dass sich auch für Voltaires Œuvre insgesamt eine gewisse Tendenz zur „rückwärts gerichteten Blickrichtung“ nicht gänzlich negieren lässt, insofern sein Geschichtsbild das vergangene grand siècle als ästhetischen Gipfel der künstlerischen Produktion stilisiert und somit retrospektiv ein vergangenes Zeitalter zu einem nie wieder zu erreichenden Ideal überhöht. Jedoch beschränkt sich diese Idealisierung des Vergangenen auf einzelne soziokulturelle Teilsysteme (insbes. Literatur und die Bildenden Künste), während für wiederum andere Teilsysteme (v. a. die experimentellen Wissenschaften) ein progressiver Fortschritt im gegenwärtigen Zeitalter geltend gemacht wird. Kennzeichnend für Voltaires Geschichtsbild, das seinen prägnantesten Ausdruck im Siècle de Louis XIV findet, ist also eine Diskrepanz, die sich dahingehend bestimmen lässt, dass für den Bereich der schönen Künste seit dem Tod Ludwigs XIV. eine Dekadenz benannt wird, wohingegen in epistemologischer Hinsicht ein Fortschritt des esprit éclairé geltend gemacht wird.443 Neben dieser in Voltaires historiographischen Schriften artikulierten Diskrepanz von ideengeschichtlichem progrès und ästhetischem Verfall wird im Zuge der prominenten Justizaffären der 1760er Jahre – Sirven (1761), Calas (1762), La Barre (1766), Lally-Tollendal (1766) – ein zweites Missverhältnis zum leitenden Motiv in Voltaires Werk, das die Gleichzeitigkeit von (aufklärungs-)philosophischem, d. h. qua Ideologie fortschrittlichem, Denken einerseits und der fortwährenden Verstrickung kirchlicher und weltlicher Machtansprüche sowie von religiösem ‚Fanatismus‘444 andererseits betrifft. Im Traité sur la tolérance bringt Voltaire diese wahrgenommene Ungleichzeitigkeit anlässlich der Verurteilung des Protestanten Jean Calas folgendermaßen auf den Punkt: 442 Hantsch, 1975, S. 35. Ähnlich auch Schulz-Buschhaus, Ulrich, „Voltaires Le Mondain oder die Satire der Satire“, in: Frühaufklärung, hg. v. S. Neumeister, München 1994, S. 425–467, der hinsichtlich des Gegensatzes von „sittenlose[r] Gegenwart“ und einer „verklärt sittenreinen Vergangenheit“ von einem „satirischen Gattungsapriori“ spricht (dort S. 427). 443 Mit dieser Unterscheidung nimmt Voltaire die in neueren Epochentheorien formulierte Ungleichzeitigkeit der Entwicklung soziokultureller Teilsysteme vorweg. Zur Gegenüberstellung von literarischer Dekadenz und progrès de l’esprit siehe Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, in: ders., Œuvres historiques, hg. v. R. Pomeau, Paris 1957, S. 603–1274, dort Kap. XXXII: „Des beaux-arts“, S. 1002–1018; sowie Voltaire, Précis du siècle de Louis XV, Kap. XLIII: „Des progrès de l’esprit humain dans le siècle de Louis XV“, S. 1566–1571. 444 Ich rekurriere auf Voltaires Begriffsverwendung im Eintrag ‚Fanatisme‘ des Dictionnaire philosophique, OCV, Bd. 36, S. 105–111.

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Et c’est de nos jours! et c’est dans un temps où la philosophie a fait tant de progrès! et c’est lorsque cent académies écrivent pour inspirer la douceur des mœurs! Il semble que le fanatisme, indigné depuis peu des succès de la raison, se débatte sous elle avec plus de rage.445

Voltaire konstatiert hier446 ein Missverhältnis zwischen ideengeschichtlichem Fortschritt im Sinne des siècle philosophique bei gleichzeitigem Fortbestehen religiös motivierter Verfolgung. Dabei wird der religiöse Fanatismus als transepochales Element erkannt, das Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Auch L’Ingénu partizipiert an dieser Gesellschaftskritik, indem der Text das transhistorische Moment zum leitenden Strukturprinzip seiner satirischen Darstellung der politischen Wirklichkeit erhebt. Die von Hantsch für Satire im Allgemeinen behauptete Ausrichtung auf eine als Ideal begriffene Vergangenheit kann für die Satire in L’Ingénu daher nicht nachgewiesen werden. Wie zu zeigen sein wird, beruft sich dieser Text zwar durchaus auf eine doppelte Temporalstruktur; diese dient jedoch keineswegs der Hypostasierung des Vergangenen zum Ideal. Im Gegenteil bringt sie das Verhältnis von Vergangenheit und zeitgenössischer Gegenwart als eine Ähnlichkeitsrelation zur Darstellung. Im Hinblick auf die in L’Ingénu satirisch verhandelten Aspekte gilt daher: Das Einst repräsentiert keinen Idealzustand, der als anzustrebende Alternative des gegenwärtigen Zustands begriffen wird; vielmehr ist das über die historische Fiktion vermittelte Vergangene Analogon der Gegenwart. Die doppelte Verweisstruktur des Textes als Verschränkung zweier zeitlicher Koordinatensysteme gilt es nun nachzuvollziehen. 3.3.1 „En l’année 1689, le 15 juillet au soir …“: Die Fiktion und ihr historischer Kontext Der Beginn der Handlung – „En l’année 1689, le 15 juillet au soir“447 – ist in L’Ingénu mit einer Präzision datiert, die Richard A. Francis in seiner kritischen Ausgabe des Textes als „unique in Voltaire’s fiction“ kommentiert.448 Obwohl der sagenhafte Be-

445 Voltaire, Traité sur la tolérance à l’occasion de la mort de Jean Calas, hg. v. J. Renwick, OCV, Bd. 56C, 2000, S. 127–266, hier S. 133. 446 Vgl. ähnlich anlässlich der Hinrichtung des jungen Chevalier de La Barre: Voltaire, Relation de la mort du Chevalier de La Barre, hg. v. R. Granderoute, OCV, Bd. 63Β, 2008, S. 491–581, dort S. 569 f.: „Vous vous étonnez sans doute, Monsieur, qu’il se passe tant de scènes si tragiques dans un pays qui se vante de la douceur de ses mœurs, et où les étrangers même venaient autrefois en foule chercher les agréments de la société. Mais je ne vous cacherai point que s’il y a toujours un certain nombre d’esprits indulgents et aimables, il reste encore dans plusieurs autres un ancien caractère de barbarie que rien n’a pu effacer […].“ 447 Voltaire, L’Ingénu, S. 190. 448 Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 40.

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ginn der Erzählung mit der Ankunft des von einem Berg getragenen Heiligen eine für das Märchen typische zeitenthobene Sinnzuschreibung suggeriert, wird gleich im Anschluss eine präzise historische Kontextualisierung vorgenommen, die der temporalen Universalität zuwiderläuft und eine Relationierung von Fiktion und Geschichte einfordert. Die Datierung erfüllt dabei in zweifacher Hinsicht eine bedeutungskonstitutive Funktion: Zum einen stellt sie einen internen Handlungszusammenhang her, insofern die Entfaltung der Handlung histoire-intern maßgeblich auf den historischen Konstellationen der evozierten Periode beruht. Zum anderen wird der Leser mittels dieser Koordinaten immer auch auf eine geschichtliche Realität zurückgeworfen, die ihm durch historische Referenzen präsent gehalten wird. Dabei lässt sich das Datum in mehrfacher Hinsicht als bewusste Setzung des Autors interpretieren. Dass sich die Handlung offensichtlich in den historischen Folgen der Révocation de l’édit de Nantes verortet, ist seitens der Forschung ausführlich kommentiert worden.449 Weniger häufig wurde hingegen auf die auffällige Nähe zu einem weiteren historischen Ereignis zu Beginn des Jahres 1689 hingewiesen: zu der als sac du Palatinat bekannten Zerstörung der Pfalz durch die vom Kriegsminister Louvois kommandierten französischen Truppen.450 Den beiden genannten Ereignissen der Jahre 1685 und 1689 ist gemein, dass sie sich – zumindest in Voltaires Interpretation der Ereignisse – dem Einsatz mächtiger Politiker bzw. Politiklenker verdanken: Während Voltaire für die Widerrufung der Religionsfreiheit den Jesuitenpater und königlichen Beichtvater La Chaise verantwortlich macht,451 identifiziert er als Urheber der Gewaltexzesse in der Pfalz den Kriegsminister Louvois.452 Dass dieser Louvois zudem bereits vor der offiziellen Aufhebung des Toleranzedikts für die gewaltsame Zwangskonversion von Protestanten mittels der sog. dragonnades berüchtigt war, lässt eine Verbindung von La Chaise und Louvois ziehen, die in L’Ingénu, wie wir sehen werden, noch deutlicher herausgearbeitet wird. Zentral ist, dass Voltaire seine Fiktion mittels 449 Z. B. in Taylor, Samuel S. B., „Voltaire’s L’Ingénu, the Huguenots and Choiseul“, in: The Age of the Enlightenment. Studies presented to Theodore Besterman, ed. by W. H. Barber, Edinburgh/London 1967, S. 107–136. Taylor erinnert an einen in der nachfolgenden Ingénu-Forschung häufig vernachlässigten Aspekt: Ein im Oktober 1767 verabschiedeter Beschluss stellt die Berufsfreiheit für protestantische Handwerker und Kaufleute wieder her. Über diesen Beschluss, der seit Anfang 1767, möglicherweise sogar bereits seit Ende 1766 vorbereitet wurde, war Voltaire informiert, wie Taylor anhand eines Briefes Voltaires an Moultou vom 24. April 1767 nachweisen kann (Taylor 1967, S. 126). Die Révocation de l’édit de Nantes ist zum Zeitpunkt der Textgenese daher durchaus ein aktuelles Thema in Voltaires Korrespondenz. 450 R. A. Francis erwähnt die militärische Operation in der Pfalz, jedoch ohne auf das konkrete Moment der Übereinstimmung von Fakt und Fiktion – die Jahreszahl – hinzuweisen. Somit ist der sac du Palatinat bei Francis zwar folgerichtig Metonym für das Wirken des Kriegsministers, ohne dass jedoch eine textuelle Herleitung hierfür aus L’Ingénu selbst angeboten wird; siehe Francis in L’Ingénu, S. 40–48. 451 Siehe Voltaire, Défense de Louis XIV contre l’auteur des Éphémérides, in: ders., Œuvres historiques, hg. v. R. Pomeau, Paris 1957, S. 1281–1295, dort S. 1291. 452 Zu Voltaires Beurteilung des sac du Palatinat siehe Le Siècle de Louis XIV, S. 773.

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der Datierung in einem historischen Kontext situiert, der sich nicht allein durch die staatliche Protestantenverfolgung auszeichnet, sondern den er darüber hinaus als ein politisches Gefüge interpretiert, in dessen Mittelpunkt zwei konkrete Figuren als Politiklenker agieren. Evoziert wird daher eine politische Epoche, deren Geschehen maßgeblich von den Verbindungen einzelner Akteure am Hof geprägt ist. Dabei ist zu vernachlässigen, ob die Rolle, die La Chaise und Louvois in L’Ingénu wie in Le Siècle de Louis XIV zuteilwird, den historischen Tatsachen entspricht. Wichtig ist vielmehr, dass Voltaire dies so interpretiert. Wenn Francis in seiner kritischen Ausgabe knapp kommentiert, dass „[b]y setting his story in 1689, Voltaire focuses on the critical years when the regime, in his view, began to change for the worse“,453 so lässt sich dies dahingehend konkretisieren, dass die Veränderungen ‚zum Schlechten‘ Voltaire zufolge mit der Ablösung des Einflusses Colberts nach dessen Tod durch Louvois im säkularen Bereich und La Chaise im spirituellen Bereich verbunden sind.454 3.3.2 1767 – Aktualitätsbezüge In Anbetracht der offensichtlichen Bezüge der Datierung zur historischen Wirklichkeit um 1690 ist nunmehr zu klären, inwiefern sich darüber hinaus eine Relation zur aktualen Wirklichkeit des Autors in der Mitte des 18. Jahrhunderts konstituiert, die gleichsam die Voraussetzung für die satirische Kommunikationsfunktion des Textes darstellt. Trotz der im für Voltaire typischen Stil transparent gemachten Fiktionalität der histoire suggeriert die Präzision der Datierung zunächst historiographische Korrektheit. Sowohl die mit den 1680er Jahren verbundene Révocation des Ediktes von Nantes als auch der auf dem Titelblatt als vermeintlicher Manuskriptverfasser figurierende Quesnel455 sind historisch verbürgte Entitäten, die das Geschehen gleichermaßen im Zusammenhang religiöser Unterdrückungspolitik im ausgehenden 17. Jahrhundert verorten. Über dieser Referenzebene liegt in L’Ingénu indes eine zweite Temporalschicht, die mittels Versatzstücken operiert, welche sich der historischen Referentialisierung in der evozierten Periode widersetzen. Nun ließe sich freilich zurecht einwenden, dass die literarische Fiktion die Lizenz besitzt, das historische Material zu ihrem Zweck zu verformen, und dass auch ein maximal naiver Leser des 18. Jahrhunderts Voltaires Text kaum als einen historischen Tatsachenbericht über die späte Regierungszeit Ludwigs XIV. gelesen haben wird. Problematisch ist daher nicht die Tatsache, dass ein fik453 Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 41. 454 Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 1049. 455 Als theologische Autorität der jansenistischen Fraktion steht P. Quesnel (1634–1719) und insbesondere dessen Nouveau Testament en français avec des Réflexions morales sur chaque verset (1692/93) im Zentrum des Konflikts von Jesuiten und Jansenisten, der mit der Zerstörung des jansenistischen Klosters Port-Royal des Champs (1709–1711) und der päpstlichen Bulle Unigenitus (1713) seinen Höhepunkt erreicht. Auf die Bedeutung Quesnels ist in Abschnitt 3.5.1. zurückzukommen.

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tionaler Text, wenngleich er bestimmte Anleihen bei faktualen Diskursen vornimmt, dann doch Fiktives erzählt. Von Interesse ist vielmehr, dass diese Elemente eben keine fiktiven sind, sondern auf Ereignisse oder Debatten verweisen, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts zugetragen haben. Über dem Setting der Fiktion in den 1690er Jahren ist in L’Ingénu daher stets eine Folie des historischen Kontextes um 1760 mitzulesen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Die Schlacht von Saint-Cast (1758) Das siebte Kapitel schildert die Verwicklung des Ingénu in eine Schlacht zwischen englischen Truppen und französischen Milizen an einem Strand des Ärmelkanals, die sich im Jahr der Ankunft des Huronen in der Bretagne, also im Jahr 1689, zuträgt. Tatsächlich war Saint-Malo am Ende des 17. Jahrhunderts Schauplatz einer militärischen Auseinandersetzung zwischen englischen und französischen Truppen. Von der geringen zeitlichen Verschiebung abgesehen, dass diese realiter nicht im Jahr 1689, sondern 1693 stattfand, besteht der zentrale Unterschied zwischen dem fiktiven Ereignis in L’Ingénu und der realen Schlacht jedoch darin, dass es sich bei dem englischen Angriff auf Saint-Malo um ein Bombardement seitens der Marine und nicht um eine Schlacht an Land handelte.456 Dennoch kann sich Voltaire auf ein reales militärisches Ereignis berufen, das allerdings erst etwa 65 Jahre später dokumentiert ist: Am 1. September 1758 greifen die englischen Truppen die Küste in Saint-Cast bei Saint-Malo erneut an, werden jedoch von bretonischen Milizen zurückgedrängt. Die spezifische Beschreibung der Schlacht in L’Ingénu zeigt deutliche Parallelen zwischen diesem historisch dokumentierten militärischen Ereignis und der Fiktion.457 Neben den allgemeinen topographischen und personellen Umständen sticht hier insbesondere ein Detail des beteiligten Personals heraus: Während der Erzähler in L’Ingénu das feige Verhalten des bailli der Provinz damit beschreibt, dass dieser „s’était caché dans sa cave pendant le combat“,458 kursiert im mittleren 18. Jahrhundert eine „widespread contemporary anecdote“,459 die selbiges Verhalten dem Duc d’Aiguillon, seines Zeichens commandant en

456 Siehe das Lemma ‚Guerre de la Ligue d’Augsbourg‘, in: Dictionnaire du Grand Siècle, hg. v. F. Bluche, Paris 1990, S. 687 f. 457 Vgl. die Informationen, die der Historiker Beaurepaire in seiner Geschichte des 18. Jahrhunderts über diese Schlacht zusammenträgt: „Le 3 septembre, la flotte britannique débarque à Saint-Briac 10000 hommes dans le but d’attaquer Saint-Malo. Le 11 septembre, le duc d’Aiguillon, lieutenant général de la province, les oblige à livrer bataille à Saint-Cast. La milice de la province combat courageusement. Défaits, les Britanniques doivent rembarquer.“ (Beaurepaire 2011, S. 264.) Vgl. hierzu die Schlacht in L’Ingénu: „Les gentilshommes du voisinage accouraient de toutes parts, [l’Ingénu] se joint à eux; on avait quelques canons, il les charge, il les pointe, il les tire l’un après l’autre. Les Anglais débarquent, il court à eux, il en tue trois de sa main, il blesse même l’amiral qui s’était moqué de lui. Sa valeur anime le courage de toute la milice; les Anglais se rembarquent, et toute la côte retentissait des cris de victoire, Vive le roi, vive l’Ingénu.“ (Voltaire, L’Ingénu, S. 237) 458 Voltaire, L’Ingénu, S. 237. 459 Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 59.

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chef der Bretagne, während besagter Schlacht von 1758 unterstellt.460 Es lässt sich also davon ausgehen, dass in dem der fiktiven Figur zugeschriebenen Verhalten eine Andeutung impliziert ist, die sich auf eine reale politische Figur des mittleren 18. Jahrhunderts bezieht, sodass sich ein referentieller Verweis des fiktiven Ereignisses auf das militärische Ereignis des Jahres 1758 konstituiert.461 Die Bélisaire-Affäre Nachdem Hercule wegen seiner Sympathien für die staatlich verfolgten Hugenotten inhaftiert wurde, beginnt unter der Anleitung seines Zellenkameraden Gordon seine Ausbildung in den Bereichen der Wissenschaft, der Geschichte sowie der antiken und zeitgenössischen Literatur. Aufgrund ihrer Konzentration auf epistemische Aspekte sowie auf Fragen der formation de l’esprit wird die Bastille-Episode in der Forschung bisweilen als philosophischer Einschub – der nicht zu Unrecht als Replik auf die in den zwei Discours des Jean-Jacques Rousseau entworfene Kulturkritik verstanden wird – von geringer ästhetischer Qualität und nachrangiger Bedeutung für den weiteren Handlungsverlauf bewertet.462 In einer solchen Perspektive werden die betreffenden Kapitel als heterogene Elemente gleichsam aus dem Roman ausgegrenzt. Es lässt sich entgegen diesem Urteil jedoch nachweisen, dass die Bastille-Episode an der Konstitution der satirischen Textbedeutung partizipiert, indem sie Bezüge zu zeitgenössisch aktuellen Diskussionen und Wissensbeständen herstellt. Dabei sticht ein Aspekt durch die Konkretheit seines Aktualitätsbezugs heraus. Ich zitiere einen Ausschnitt aus dem elften Kapitel, in dem Hercule sich dem Studium der Alten Geschichte widmet: Il tomba un jour sur une histoire de l’empereur Justinien. On y lisait que les apédeutes de Constantinople avaient donné en très mauvais grec, un édit contre le plus grand capitaine du siècle, parce que ce héros avait prononcé ces paroles dans la chaleur de la conversation: La vérité luit de sa propre lumière, et on n’éclaire pas les esprits avec les flammes des bûchers. Les apédeutes assurèrent que cette proposition était hérétique, sentant l’hérésie, et que l’axiome contraire était catholique, universel et grec: On n’éclaire les esprits qu’avec la flamme 460 Dass Voltaire im Précis du siècle de Louis XV (dort S. 1509) die militärische Bravour des Duc d’Aiguillon hingegen lobt, kann wohl mit politischer Vorsicht erklärt werden sowie mit den verschiedenen Zielsetzungen der im engeren Sinne historiographischen und der fiktional-literarischen Texte Voltaires. Vgl. ähnlich Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 41. Für die komplexe Sachlage der Anspielung auf den bretonischen Kommandanten siehe ebd., S. 56–60. 461 Auch jener berühmte geographische ‚Lapsus‘, der darin besteht, dass das reale Saint-Malo eindeutig in der Haute-Bretagne lokalisiert ist, während Voltaire die Stadt in L’Ingénu stets in der Basse-Bretagne verortet, lässt sich auf die doppelte Referenzstruktur des Textes zurückführen. Es ist davon auszugehen, dass Voltaire in seiner Stellung als historiographe du roi mit der Lage Saint-Malos durchaus vertraut ist und es sich bei der Fehllokalisierung folglich um eine bewusste Setzung handelt: Der vermeintliche Lapsus arbeitet i. S. e. wirkungsästhetischen Signals der satirischen Textfunktion zu. 462 So in Levy, Zvi, „L’Ingénu ou l’Anti-Candide“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 183 (1980), S. 45–67.

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des bûchers, et la vérité ne saurait luire de sa propre lumière. Ces linostoles condamnèrent ainsi plusieurs discours du capitaine, et donnèrent un édit.463

Unter dem Deckmantel der Geschichte des oströmischen Kaisers Justinian I. verbirgt sich eine Kontroverse des Jahres 1767, in deren Mittelpunkt Marmontels im Februar desselben Jahres erschienener Roman Bélisaire steht. Der titelgebende Held des Romans ist die gleichnamige historische Figur, die als General die kaiserliche Armee befehligt. Als gleichermaßen historische wie literarische Figur verbindet Belisarius so den historiographischen Kontext der Spätantike, der Teil von Hercules Ausbildung ist, mit dem literarischen Werk des 18. Jahrhunderts und der sich an dessen Publikation anschließenden, als Bélisaire-Affäre bekannten Kontroverse.464 Dem informierten Leser wird es – auch angesichts der einleitenden Erwähnung des Kaisers Justinian, der in Bélisaire als Figur ebenfalls auftritt – nicht schwerfallen, den im Original kursiv hervorgehobenen Satz: „La vérité luit de sa propre lumière, et on n’éclaire pas les esprits avec les flammes des bûchers“ als intertextuellen Verweis auf Marmontels Roman zu identifizieren, handelt es sich hierbei doch um ein direktes Zitat aus dessen 15. Kapitel, auf das die Sorbonne mit einem Zensurversuch reagierte. Der zitierte Satz ist eine von 37 als häretisch interpretierten Passagen des Bélisaire, welche die Zensoren der Universität im Mai 1767 in einem Indiculus auflisten. Indem Voltaire ein direktes Zitat aus dem seitens der Zensoren als besonders problematisch empfundenen 15. Kapitel integriert, problematisiert er nicht nur den römisch-katholischen Wahrheitsanspruch, der in dem zitierten Satz auf dem Spiel steht, sondern er verarbeitet zudem den Zensurversuch der Sorbonne, die ebendiesen Satz in ihrem Indiculus aufführt. Der intertextuelle Verweis in L’Ingénu bezieht sich so gleichermaßen auf den Text Bélisaire wie auf den Zensurkatalog der Sorbonne, und ruft damit die Positionen der um Fragen der religiösen Toleranz kreisenden Affäre auf. Voltaire ist mit den zwei von ihm verfassten Anecdotes sur Bélisaire selbst aktiv in die Kontroverse involviert. Mit der Bélisaire-Affäre, die John Renwick als „véritable point culminant de la philosophie militante“ bezeichnet,465 stellt L’Ingénu einen eindeutigen Bezug auf in höchstem Maße aktuelle Zeitgeschichte her. Eine für satirisches Schreiben spezifische implizit-negative Bewertung des evozierten zeitgeschichtlichen Sachverhaltes kommt dabei in der für Voltaire typischen ironischen Sprachverwendung zum Ausdruck. Die Verwendung von griechischen Lehnwörtern ist in Hinblick auf das Byzantinische Reich historisch zwar gerechtfertigt; da die docteurs de la Sorbonne über ihre Ungelehrtheit (apédeutes) bzw. eine an-

463 Voltaire, L’Ingénu, S. 265 f., Herv. i. O. 464 Die Details der Affäre sind nachzulesen in Renwick, John, Marmontel, Voltaire and the Bélisaire affair, Oxford 1974. 465 Renwick, John, „L’affaire de Bélisaire: une phrase de manuel“, in: De l’Encyclopédie à la Contre-Révolution: Jean-François Marmontel (1723–1799), hg. v. J. Ehrard, Clermont-Ferrand 1970, S. 249–271, dort S. 250.

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tike Kleidungspraxis (linostoles) metonymisch benannt werden, sind die gewählten griechischen Bezeichnungen doch unmissverständlich ironischer Natur. Der Kontrast einer in der Gelehrtenpraxis des 18. Jahrhundert mit antiker Autorität konnotierten Sprache mit der spezifischen Konkretisierung dieser Sprache in banalen (linostoles) und zum Gelehrtentum semantisch oppositiven (apédeutes) Termini bereitet ironisch eine argumentative Praxis vor, die das zitierte Argument des Bélisaire-Textes in einer der Logik wie dem bon sens widersprechenden Weise umkehrt. Da die Argumentation der apédeutes darin besteht, die Aussage des capitaine schlicht in ihr Gegenteil zu verkehren, wird die rhetorische Praxis der Sorbonne-Zensoren ad absurdum geführt.466 Durch diese ironische Abwertung der argumentativen Praxis der Sorbonne erfährt das in Bélisaire formulierte Plädoyer für religiöse Toleranz automatisch eine Aufwertung. Indem Voltaire die Bélisaire-Affäre als eine Episode der spätantiken Geschichte fiktionalisiert, verarbeitet er nicht nur aktuelles Zeitgeschehen, sondern er bindet das Thema der kollektiven Verfolgung, das in L’Ingénu, wie wir noch sehen werden, in unterschiedlicher Weise aktualisiert wird, zusätzlich auf einer intertextuellen Ebene ein, wobei die Art dieser intertextuellen Bezugnahme selbst satirisch wirksam wird. Aufgrund der impliziten Natur der Bezugnahme, die nur von einem mit der Debatte vertrauten Leser zu verstehen ist, stellt die Bélisaire-Referenz eine paradigmatische Ausgestaltung der Struktur von Satire dar. Für den nicht informierten Leser bleibt die das Zitat beinhaltende Textstelle hingegen als fiktive Ausgestaltung von Hercules historischen Studien rezipierbar. Die angeführten punktuellen Referenzen repräsentieren jenen satirischen Wirklichkeitsbezug, den Mahler als Bezugnahme auf eine „Situation vorgängigen Besprechens“467 bezeichnet hat und tragen zur Konstruktion der temporalen Doppelstruktur des Textes bei. Als Verweise auf versprachlichte Zusammenhänge von hoher Konkretheit, die zudem in der zeitgenössischen Gesellschaft einige Bekanntheit erlangt haben,468 fungieren sie als Markierungen einer Bedeutungsschicht, die über der historischen Fiktion liegt und die sich in der Auseinandersetzung mit zeitgenössisch Aktuellem konstituiert. Neben diesen punktuellen Bezügen gründet das Verweissystem in L’Ingénu jedoch in stärkerem Maße auf komplexeren Referenzkonstellationen,

466 Siehe ebd., S. 257: „[…] si la proposition était hérétique, le contraire seul pouvait être catholique et universel, savoir: la vérité ne luit pas de sa propre lumière, et on peut éclairer les esprits avec la flamme des bûchers!“. Der argumentative Fehlschluss wird durch die ne … que-Konstruktion bei Voltaire zusätzlich verstärkt. 467 Mahler 1992, S. 52. 468 Dass die philosophes persönlich für die relative Bekanntheit der Bélisaire-Affäre verantwortlich zeichnen, indem sie z. B. den aus der Sorbonne entwendeten Zensurkatalog verbreiten, ergibt sich aus der Rekonstruktion der Affäre in Renwick 1974, S. 238–248. Für die Bekanntheit der Anekdote um das Verhalten des duc d’Aiguillon in Saint-Cast siehe Nivat 1952, S. 106. Auch Marmontel greift in Akt II, Szene 2 seiner komischen Oper Le Huron (Uraufführung 1768), die wiederum auf Voltaires L’Ingénu basiert, auf diese Anekdote zurück.

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deren Referenten sich nicht als konkrete „Situation[en] vorgängigen Besprechens“ darstellen lassen. Es handelt sich hier zum einen um die repräsentativen Bestandteile der zeitgenössischen Politikkonstellation, zum anderen um die politische Situation in ihrer Gesamtheit, deren Bild sich aus den Einzelelementen zusammensetzt. Dabei wird das Operieren der doppelten Verweisstruktur dadurch gewährleistet, dass das erzählte Geschehen in beiden temporalen Systemen gleichermaßen plausibel erscheint. Entgegen der Auffassung einer ‚Rückwärtsgewandtheit‘ der satirischen Schreibweise, die ein idealisiertes Einst einer als defizitär wahrgenommenen Gegenwart gegenüberstellt, entfaltet sich das Satirische in L’Ingénu so als Spiel von Analogien: Indem die Darstellung der politischen Situation um 1690, die als ausgewiesene historische Folie der Fiktion dient, immer auch auf die 1760er Jahre beziehbar ist, wird eine Ähnlichkeit zwischen den historischen Konstellationen präsupponiert. Anhand der Merkmalskomplexion der fiktionalen politischen Situation in L’Ingénu und deren Referenzen in der aktualen Wirklichkeit soll diese satirische Textstruktur nun genauer beschrieben werden. 3.4 Das satirische Objekt: Die politische Konstellation um 1760 In seiner Einführung zu L’Ingénu in den Oxforder Œuvres complètes de Voltaire beschreibt Richard Francis Voltaires Faszination mit der Ära Ludwigs XIV. als ein Verhältnis der ambivalenten Wertschätzung: Einerseits handele es sich bei dem sog. grand siècle um ein Zeitalter, „whose merits highlighted the deficiencies of the present“, wenngleich es andererseits „nonetheless contained the seeds of those deficiencies“.469 Berücksichtigt man, dass Voltaire während der Redaktion von L’Ingénu auch an einer Revision des Siècle de Louis XIV arbeitete,470 lässt sich L’Ingénu als Teil einer historischen Ursachenforschung über die zeitgenössische Gegenwart verstehen. Dennoch formuliert Francis trotz der erkannten genetischen Beziehung der beiden Texte das Urteil, dass „L’Ingénu’s roots lie in Voltaire’s polemic activitiy rather than his historiography“.471 Unsere Textanalyse gelangt jedoch zu einem anderen Ergebnis: Die kategorische Trennung von Polemik und Historiographie verstellt den Blick auf die historiographische Fundierung des polemischen Impetus’ von L’Ingénu. Da sich die Satire für die Kommunikation der Polemik einer historischen Analogiebildung bedient, stellt Voltaires historiographische Tätigkeit letztlich ihre Voraussetzung dar.472

469 470 471 472

Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 48. Ebd., S. 40. Ebd. Auch Clouston 1986, S. 81 f., plädiert dafür, die historische Dimension des Textes zu berücksichtigen und nicht als bloße „camouflage“ für eine Gegenwartssatire abzutun.

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Die inhaltlichen Elemente der genannten Analogiebildung und ihre textstrukturelle Konstitution sollen in den folgenden Abschnitten konkret beleuchtet werden. Ausgehend von den Einzelelementen der Satire wird sich das generelle satirische Objekt des Textes als ein politisches Relationengefüge herausstellen, das implizit mit der Regierung Ludwigs XV. assoziiert wird, dessen Ursprünge aber in der ausgehenden Regierungsperiode seines Vorgängers gesucht werden. Es gilt nun also, die der Fiktion implizite Satire auf die politische Realität um 1760 als Überlagerung von zeitlichen Referenzsystemen sichtbar zu machen. 3.4.1 Bürokratie und Absolutismus Der in L’Ingénu satirisch zur Darstellung gebrachte politische Komplex wird durch einen bürokratischen Apparat repräsentiert, mit dem Hercule bei seiner Ankunft am Hof von Versailles unverzüglich konfrontiert wird. Bekanntlich war der Ingénu nach Versailles aufgebrochen, um eine Belohnung für seine militärische Bravour an der Seite der bretonischen Truppen und im selben Zuge eine hoheitliche Entbindung von dem katholischen Inzestverbot zu ersuchen, das einer Heirat mit seiner Taufpatin im Wege steht. Anstatt jedoch wie erhofft sein Anliegen dem König persönlich vortragen zu können, wird er von Instanz zu nächstniederer Instanz verwiesen: Le garde ravi de trouver un brave de sa province qui ne paraissait pas au fait des usages de la cour, lui apprit qu’on ne parlait pas ainsi au roi, et qu’il fallait être présenté par Monseigneur de Louvois. – Eh bien, menez-moi donc chez ce Monseigneur de Louvois, qui sans doute me conduira chez Sa Majesté. Il est encore plus difficile, répliqua le garde, de parler à Monseigneur de Louvois qu’à Sa Majesté. Mais je vais vous conduire chez M. Aléxandre le premier commis de la guerre, c’est comme si vous parliez au ministre. Ils vont donc chez ce M. Aléxandre premier commis, et ils ne purent être introduits; il était en affaire avec une dame de la cour, et il y avait ordre de ne laisser entrer personne. Eh bien, dit le garde, il n’y a rien de perdu; allons chez le premier commis de M. Aléxandre: c’est comme si vous parliez à M. Aléxandre lui-même.473

Die Unerreichbarkeit des Königs für Hercules Anliegen ist aufgrund der gleichzeitigen Abwesenheit des zuständigen Kriegsministers Louvois sowie von dessen Stellvertreter dreifach potenziert, was in der wiederholten Versicherung „c’est comme si vous parliez à … lui-même“ formelhaft zum Ausdruck gebracht wird. Dabei steht die lapidare Antwort des Gardisten, „qu’on ne parlait pas ainsi au roi“, im Widerspruch zum Selbstverständnis Ludwigs XIV., auf dem auch Hercules anfängliche Gesprächserwartung basierte. Dieses Verständnis eines für die Anliegen seines Volkes zugänglichen roi soleil

473 Voltaire, L’Ingénu, S. 245 f.

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wird auch von Voltaire im Siècle de Louis XIV kultiviert, das Ludwig XIV. als präsenten und geschäftigen Monarchen darstellt: Non seulement il s’imposa la loi de travailler régulièrement avec chacun de ses ministres, mais tout homme connu pouvait obtenir de lui une audience particulière, et tout citoyen avait la liberté de lui présenter des requêtes et des projets.474

Im Gegensatz zu dem Bild des präsenten Königs in Le Siècle de Louis XIV ist die Herrscherfigur in L’Ingénu eine abwesende und unerreichbare, die sich durch einen unpersönlichen Apparat repräsentieren lässt. Im Angesicht dieses Apparats kommentiert der enttäuschte Hurone, der eine persönliche Audienz erwartet hatte, denn auch: „[E]st-ce que tout le monde est invisible dans ce pays-ci? il est bien plus aisé de se battre en Basse-Bretagne contre des Anglais que de rencontrer à Versailles les gens à qui on a affaire.“475 Das Adjektiv invisible ist hinsichtlich der Erwartung an den König durchaus wörtlich zu verstehen. Visible ist für Hercule allein der premier commis476 des premier commis des Kriegsministers. Dieser Beamte avant la lettre,477 der bezeichnenderweise namenlos bleibt, wird im anonymen Verwaltungsapparat von Versailles zum eigentlichen Entscheidungsträger. Die Entscheidungskompetenz wird in L’Ingénu vom König an den Minister Louvois, von diesem an seinen premier commis und von Letzte-

474 Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 963 f. Wie sehr sich die Perspektiven auf die vermeintliche Zugänglichkeit des Königs unterscheiden, belegt das Zeugnis Saint-Simons: „De là encore la jalousie si précautionnée des ministres, qui rendit le Roi si difficile à écouter tout autre qu’eux, tandis qu’il s’applaudissoit d’un accès facile, et qu’il croyoit qu’il y alloit de sa grandeur, de la vénération et de la crainte dont ils se complaisoit d’accabler les plus grands, de se laisser approcher autrement qu’en passant. Ainsi le grand seigneur comme le plus subalterne de tous états parloit librement au roi en allant ou revenant de la messe, en passant d’un appartement à un autre, ou allant monter en carrosse; les plus distingués, même quelques autres, à la porte de son cabinet, mais sans oser l’y suivre. C’est à quoi se bornoit la facilité de son accès. Ainsi on ne pouvoit s’expliquer qu’en deux mots, d’une manière fort incommode, et toujours entendu de plusieurs qui environnoient le Roi, ou, si on étoit plus connu de lui, dans sa perruque, ce qui n’étoit guères plus avantageux. La réponse sûre étoit un ‚je verrai‘, utile à la vérité pour s’en donner le temps, mais souvent bien peu satisfaisante, moyennant quoi tout passoit nécessairement par les ministres, sans qu’il pût y avoir jamais d’éclaircissement, ce qui les rendoit les maîtres de tout, et le Roi le vouloit bien, ou ne s’en apercevoit pas.“ (Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon, Mémoires, hg. v. G. Truc, 7 Bde, Paris 1947–1961, Bd. 4, S. 955 f.) Der in Saint-Simons Zeugnis reflektierten Stellung der Minister kommt auch in L’Ingénu Bedeutung zu. Wenngleich Voltaire und Saint-Simon sich also in ihrer Bewertung der Offenheit des Königs unterscheiden, so treffen sie sich doch in diesem entscheidenden Punkt. 475 Voltaire, L’Ingénu, S. 246. 476 Barbiche, Bernard, Les Institutions de la monarchie française à l’époque moderne, Paris 1999, S. 125, definiert den premier commis als „à la fois chef de bureau et l’équivalent d’un actuel directeur de cabinet, coordonnant l’activité administrative aussi bien que politique“. 477 Die Geschichte des französischen Beamtentums ist nachzulesen in der ausführlichen Aufarbeitung von Pinet, Marcel (Hg.), Histoire de la fonction publique en France, 3 Bde., Paris 1993. Der uns interessierende Zeitraum des Ancien Régime wird dort abgedeckt in Bd. 2: Imbert, Jean (Hg.), Du XVIe au XVIIIe siècle, Paris 1993, auf den ich mich für die folgenden Ausführungen beziehe.

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rem schließlich an dessen eigenen premier commis delegiert. Dieser steht zeichenhaft für den bürokratischen Apparat, dessen Teil er ist. Um die volle Bedeutung dieser Figur zu erfassen, sind nun einige Erläuterungen zur Position des premier commis und deren historischer Entwicklung angebracht. Die im 16. Jahrhundert entstandene Institution des premier commis bildet im 17. und – „surtout“, wie Barbiche betont478 – im 18. Jahrhundert das Standbein der Regierungsverwaltung des Ancien Régime. Die in der zitierten Ingénu-Passage thematisierte Entscheidungskompetenz und die mir ihr einhergehende Machtposition wird von Imbert bestätigt: „[…] si l’on a l’accord du premier commis, celui du Secrétaire d’État ou du Contrôle Général est pratiquement acquis. Mieux encore: la majeure partie, et souvent la totalité de ce qui est adressé au ministre est renvoyé directement au premier commis.“479 Mehr noch: „En définitive, dans l’immense majorité des cas, ce sont les solutions proposées par les premiers commis qui sont acceptées.“480 Nachdem der premier commis im 16. Jahrhundert zunächst als persönlicher Vertrauter des jeweiligen Ministers auftrat, wird diese enge Beziehung im späten 17. Jahrhundert aufgelöst, indem die Zahl der premiers commis in den Ministerien erhöht wird. Neben der resultierenden Depersonalisierung der Beziehung zwischen Minister und Stellvertreter repräsentiert diese „multiplication des premiers commis“481 symptomatisch eine quantitative Vergrößerung des Administrationsapparats im 18. Jahrhundert, die in der historischen Verwaltungsforschung als Beginn der Bürokratisierung beschrieben wird. Unter Ludwig XV. wird diese ursprünglich in der Regierungszeit seines Vorgängers begründete Bürokratisierungstendenz weiter vorangetrieben.482 Die Auswirkungen dieser Restrukturierung sind außer in einer neu organisierten Ämtervergabe und der Entstehung eines neuartigen ‚Beamtentums‘ vor allem im Volumen des Regierungsapparats spürbar.483 Aufgrund ihrer erreichten Größe gelten die ministeriellen bureaux in der Mitte des 18. Jahrhunderts als „désormais pléthoriques“.484 Für die uns interessierende Periode 1758–1789 liefert der Almanach Royal hinsichtlich der relativen Verteilung der Ämter in den bureaux

478 479 480 481 482

Barbiche 1999, S. 85. Pinet/Imbert 1993, S. 280. Ebd., S. 281. Barbiche 1999, S. 85. Für die Regierungsperiode 1743–1764 kommentiert De Viguerie, Jean, Histoire et dictionnaire du temps des Lumières, 1715–1789, Paris 1995, S. 178: „Le système commence à se bureaucratiser. Dans les ministères les commis prennent de plus en plus d’importance. Un premier commis de ministère est désormais un personnage considérable. […] A côté des commis, simples délégués sans statut, apparaît une nouvelle race de serviteurs de l’Etat, des employés qui ne sont ni délégués ni officiers, mais salariés par l’Etat et recrutés par concours.“ 483 Pinet/Imbert 1993, S. 285. 484 Ebd., S. 281. Diese Entwicklung lässt sich quantitativ rekonstruieren: Während die Administration der Monarchie im Jahr 1610 einen personellen Anteil von 0,1 % der Bevölkerung ausmachte, erreicht sie am Ende des 17. Jahrhunderts bereits eine Größe von 0,4 %, i. e. 80 000 Personen; siehe ebd., S. 272.

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konkrete Zahlen: „[…] il y a exactement, autour de chaque ministre et chef de grand service 5,66 premiers commis.“485 Die Entwicklung des Verwaltungsumfangs, die indes nicht nur in der Instanz des premier commis, sondern in allen Bereichen der Administration spürbar wird, fasst Barbiche mit Blick auf die Zeitachse wie folgt zusammen: „Les effectifs, en augmentation jusqu’à la fin du règne de Louis XV, diminuèrent sous Louis XVI […].“486 Für die politische Konfiguration des absolutistischen Staates, der die Bündelung der Gewalt in der Person des Monarchen vorsieht, bleibt die Vergrößerung des Staatsapparats nicht ohne Folgen, sodass sich mit De Viguerie von einem tendenziell ‚kontra-absolutistischen‘ „accroissement de l’État au détriment de la royauté“ sprechen lässt.487 Das absolutistische Herrschaftsprinzip wird zugunsten einer bürokratischen Struktur, an die Entscheidungskompetenz delegiert wird, ausgehöhlt. Dass Voltaire in Le Siècle de Louis XIV die Regierungsperiode Ludwigs XIV. ausgerechnet auf der Basis des absolutistischen Prinzips und den König aufgrund seiner idealen Verkörperung dieses Prinzips aus dem Lauf der Geschichte heraushebt, stellt den Leser von L’Ingénu vor ein Problem. Denn im Gegensatz zu seiner Darstellung in L’Ingénu erscheint Ludwig XIV. in Voltaires Historiographie als alle Staatsgeschäfte überblickender, ebenso instruierter wie ambitionierter Monarch: Il est certain que les magistrats n’eussent pas réformé les lois, que l’ordre n’eût pas été remis dans les finances, la discipline introduite dans les armées, la police générale dans le royaume, qu’on n’eût point eut des flottes, que les arts n’eussent point été encouragés, tout cela de concert, et en même temps, et avec persévérance, s’il ne se fût trouvé un maître qui eût en général toutes ces grandes vues avec une volonté ferme de les remplir.488

Das politische Ideal des Siècle de Louis XIV, in dem ein omnipräsenter Louis le Grand die sinnstiftende Linie sämtlicher Staatsgeschäfte vorgibt, unterscheidet sich in offensichtlicher Weise von der fiktionalen Darstellung in L’Ingénu, in der ein unsichtbarer König seine Entscheidungen nunmehr an ein aus Ministern und premiers commis bestehendes Regierungskonstrukt delegiert zu haben scheint. Dennoch beziehen sich beide Texte – vorgeblich – auf dieselbe historische Periode. Auch der Ingénu-Herausgeber Francis sieht sich daher mit der Frage nach der Motivation dieser Darstellungsdiskrepanz konfrontiert und führt diese auf die verschiedene Zielsetzung der beiden Texte sowie die Lizenzen des fiktionalen Modus zurück. Unterschiede in der Darstellung der Periode – i. e. der letzten Dekade des 17. Jahrhun485 Ebd., S. 401. Über das Büro des lieutenant général de police schreibt Barbiche 1999, S. 120 f. beispielhaft, dass es „employait plus de personnel que le secrétaire d’État de la maison du roi dont il dépendait“. 486 Barbiche 1999, S. 126. 487 De Viguerie 1995, S.178. 488 Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 977. Zur Frage der Aufrichtigkeit des Lobs im Siècle de Louis XIV siehe Campbell, John, „Entre le Siècle de Louis XIV et le siècle des Lumières: la rhétorique voltairienne à l’œuvre“, in: Littératures classiques 76 (2011), S. 85–97.

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derts – ergäben sich folglich als Resultate einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung: Während der Historiograph Voltaire auf der Basis von „documentary accuracy“ eine positive „grand panoramic vision“ der Regierungszeit Ludwigs XIV. anstrebe, verfolge der Romancier Voltaire in L’Ingénu das Ziel, die „darker side to the period“ aus der Perspektive des betroffenen Individuums abzubilden, wobei er sich auf die Lizenzen der Fiktion gegenüber der historischen Dokumentation berufen könne.489 Dennoch greift diese auf der Basis von generischen Merkmalen und hypothetischem Intentionalismus argumentierende Erklärung letztlich zu kurz. Verknüpft Francis den fiktionalen Modus und seine Figurenkonstellation mit einer Autorintention, die darin bestehe, die vernachlässigten Seiten des grand siècle ans Licht zu holen, trägt er der zentralen Verschiedenheit der politischen Situation in den zwei betreffenden Texten nicht hinreichend Rechnung. Denn die zwischen Le Siècle de Louis XIV und L’Ingénu konstatierte Diskrepanz des Dargestellten beruht nicht auf einer perspektivisch verschobenen Sicht auf dasselbe Phänomen, sondern auf einer grundlegenden strukturellen Verschiedenheit der Situation, die sich anhand der Repräsentation des Königs paradigmatisch nachvollziehen lässt: Wo sich der König dort allgegenwärtig und in sämtliche Staatsgeschäfte involviert präsentiert, glänzt er hier durch desinteressiertes Delegieren; dreht sich in Le Siècle de Louis XIV alles um die staatsbildende Person des Monarchen, so dreht sich in L’Ingénu das Staatskonstrukt auch ohne ihn weiter. Während also in nomineller Hinsicht zwar in beiden Fällen ein absolutistisches Herrschaftssystem abgebildet wird, handelt es sich nicht um einen im selben Maße absolutistisch regierten Staat. Angesichts dieser strukturellen Verschiedenheit lässt sich der Referent für den in L’Ingénu repräsentierten Staat nicht plausiblermaßen in jenem politischen System suchen, das im Fokus von Voltaires historiographischem Werk steht. Theoretisch denkbar wäre die Möglichkeit, dass Voltaire in seinem fiktionalen Text dem historischen Ideal eine politische Dystopie entgegensetzt. Die in den vorangehenden Abschnitten identifizierten Aktualitätsreferenzen legen allerdings einen anderen Schluss nahe, der sich erhärtet, wenn man mit der Figur des premier commis ein in der bestehenden Forschung bisher vernachlässigtes Detail berücksichtigt: Als Symptom jenes bürokratischen Auswuchses, der unter Ludwig XV. kulminiert, verweist der premier commis auf einen konkreten Aspekt der zeitgenössisch – d. h. um 1760 – aktuellen politischen Wirklichkeit. Ein satirischer Wirklichkeitsbezug konstituiert sich, indem Voltaire eine reale Situation anhand der Figur des premier commis zusätzlich überzeichnet und mittels dieser Steigerung implizit eine negative Bewertung des administrativen Apparats vornimmt. Dass es sich bei Hercules Gesprächspartner nicht eigentlich um den Obersekretär des Kriegsministers, sondern lediglich um dessen eigenen premier commis, folglich um ei-

489 Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 41.

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nen premier commis zweiten Grades handelt, ist daher nicht nur ein komisches Detail, welches das Attribut premier ad absurdum führt. Vielmehr konstituiert sich in der semantischen Doppelung eine satirische Bezugnahme auf den institutionellen Kontext der Regierungsverwaltung, der sich mittels ebendieser für die Verwaltungsvergrößerung symptomatischen Figur als die zeitgenössische zu erkennen gibt. Die zitierten Referenzen aus der historischen Verwaltungsforschung machen das Versailles in L’Ingénu somit als das Zerrbild einer administrativen Situation lesbar, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Folge der Bürokratisierungstendenzen des vorangehenden Regimes herausgebildet hat. Reflektiert werden mithin auch die sich aus der Bürokratisierung ergebenden politischen Implikationen: Dass ausgerechnet eine Instanz mit Entscheidungsfunktion („c’est comme si vous parliez à …“) namenlos bleibt, impliziert die Kritik des ‚pragmatischen Absolutisten‘ Voltaire490 an einer Schwächung des absoluten – ergo: persönlichen – Herrschaftsprinzips, mit der die bürokratische Struktur de facto einhergeht. In seinem Essai sur les mœurs (Kap. CII) formuliert Voltaire ein Plädoyer für die absolute Monarchie, das die Bedeutung des ‚großen Mannes‘ für den Fortschritt der Gemeinschaft unterstreicht: „Il ne s’est presque jamais rien fait de grand dans le monde que par le génie et la fermeté d’un seul homme qui lutte contre les préjugés de la multitude, ou qui lui en donne.“491 Wird die Präsenz des Königs in L’Ingénu hingegen durch eine in der Figur des anonymen premier commis personifizierte Amtskette substituiert, so kommt dies einer Pluralisierung der Herrschaft und damit einer Schwächung des Absolutismus gleich. Die von De Viguerie so bezeichnete ‚Sklerose‘492 des aufgeblähten Regierungsapparats im 18. Jahrhundert wird bei Voltaire so rückübersetzt in die Abwesenheit des Monarchen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Relevanz der für die fiktive histoire gewählten historischen Periode ab, die in der Forschung bisher nicht erkannt worden ist: Indem Voltaire seine Fiktion in einem Zeitraum verortet, der administrationsgeschichtlich mit dem Beginn der Bürokratie im Ancien Régime und der daraus resultierenden Verschiebung des politischen Machtgefüges verbunden ist, kann die Vergangenheit ursächlich mit der zeitgenössischen Gegenwart verbunden werden, auf die die Fiktion sich in satirischer Überzeichnung bezieht.493 Die Fiktion einer bürokratisch

490 Für diese Einschätzung siehe den Eintrag ‚Politique‘ des Dictionnaire général de Voltaire, hg. v. R. Trousson u. J. Vercruysse, Paris 2003, S. 963–968. Siehe ebenso Taylor 1967, S. 131 f. 491 Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, 2 Bde., hg. v. R. Pomeau, Paris 1963, Bd. 2, S. 60. 492 De Viguerie 1995, S. 178. 493 Folgt man Lucien Goldmanns Thesen hinsichtlich der Genese des französischen Absolutismus, so gewann Ludwig XIV. mittels der aus dem Tiers État rekrutierten commissaires die für seine absolute Herrschaft notwendige Unabhängigkeit gegenüber der noblesse; vgl. Goldmann, Lucien, Le Dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris 1959, S. 118–120. War die Institution des commis im 17. Jahrhundert folglich Stütze der absoluten

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strukturierten Administration erlaubt es dem Autor folglich, zugleich auf eine vergangene Situation zu referieren und deren aktuelle Entwicklung satirisch als Exzess zu markieren. Die in der Satire implizite Kritik betrifft demnach ein politisches System, in dem ein ‚abwesender‘ König Ludwig XV. die Regierungsgeschäfte einem bürokratischen Apparat überträgt.494 In dieser von Voltaire als Schwächung des absoluten Herrschaftsprinzips empfundenen Situation liegt das enjeu des Textes. Die textanalytische Berücksichtigung der Figur des premier commis und ihrer historischen Kontextualisierung wirft ein neues Licht auf das bereits 1967 von Taylor formulierte Fazit, das zentrale Thema von L’Ingénu bestehe in einer „insufficient central control“.495 3.4.2 Die Lettre de cachet Die Instanz des premier commis konnte in den vorangehenden Ausführungen als Markierung eines doppelten Zeitbezugs in L’Ingénu benannt werden, die eine in der Vergangenheit originäre Bürokratisierungstendenz als zeitgenössischen Exzess ausweist und gleichsam eine negative Bewertung einer mangelnden Präsenz des Monarchen impliziert. Diese Strategie lässt sich auch anhand der Thematisierung einer weiteren Institution des Ancien Régime in Voltaires Roman nachweisen: der sog. lettre de cachet. Selbiger Institution verdankt der Ingénu seine überraschende und ohne Gerichtsprozess vollzogene Inhaftierung in der Bastille. Kennzeichen eines solchen hoheitlichen Verhaftungserlasses, dessen Opfer auch Hercules Zellengefährte Gordon geworden ist, ist neben der fehlenden formellen Anklage die potentielle Anonymität seines Initiators, weshalb der Inhaftierte weder den Grund seiner Haft noch deren Urheber kennt: „Nous sommes tous deux dans les fers, sans savoir qui nous y a mis, sans pouvoir même le demander.“496 Während jedoch in Gordons497 Fall politische, d. h. antijansenistische,

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Monarchie und der Position des Königs, so wird sie für Voltaire im mittleren 18. Jahrhundert im Gegenteil zur Chiffre für die Schwächung dieser Monarchie. Indes hat die personelle Vergrößerung der Administration vor dem Hintergrund der Staatsschulden im 18. Jahrhundert auch ganz praktische Gründe, sind die Ämter (insbesondere innerhalb des Richterstands und des Militärs) doch käuflich. In L’Ingénu wird dem Huronen als Belohnung für seine militärische Bravour gegen die Briten ebenfalls die Möglichkeit des Ämterkaufs angeboten. Vgl. Taylor 1967, S. 133. Dabei wird die implizite Kritik an einem abwesenden Monarchen von der Historiographie des 19. Jahrhunderts geteilt. Lacroix, Paul, XVIIIme siècle. Institutions, usages et costumes, France 1700–1789. Ouvrage illustré de 21 chromolithographies et de 350 gravures sur bois, Paris 1875, S. 26, urteilt folgendermaßen über den Regierungsstil Ludwigs XV.: „[…] car le roi ne se soucie pas de gouverner et se décharge de tout le fardeau des affaires sur ses ministres, qui obéissent aux influences de la cour.“ Taylor 1967, S. 133. Voltaire, L’Ingénu, S. 284. Zur Figur des Gordon siehe näher Sgard, Jean, „Réflexions sur le personnage de Gordon dans L’Ingénu“, in: Rivista di letterature moderne e comparate 49 (1996), S. 285–292.

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Motive vorliegen,498 sind in Hercules Verhaftung politische und persönliche Intrigenfäden verworren: Ce même jour, le révérend père de La Chaise, confesseur de Louis XIV, avait reçu la lettre de son espion, qui accusait le Breton Kerkabon de favoriser dans son cœur les huguenots, et de condamner la conduite des jésuites. Monsieur de Louvois, de son côté, avait reçu une lettre de l’interrogant bailli, qui dépeignait l’Ingénu comme un garnement qui voulait brûler les couvents et enlever les filles.499

Sowohl der von seinem Spion über Hercules Sympathie für die verfolgten Hugenotten informierte Jesuit La Chaise als auch der Kriegsminister Louvois, den eine Warnung des bretonischen bailli über die von dem Huronen ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung erreicht, kommen als Auftraggeber von dessen Verhaftung in Betracht. Insofern besagter Vogt allerdings ebenfalls ein persönliches Interesse daran verfolgt, den mit seinem Sohn um die Hand der Mademoiselle de Saint-Yves konkurrierenden Fremden auszuschalten, verbergen sich hinter seiner Sorge um die öffentliche Sicherheit insgeheim persönliche Motive. Der Text nimmt keine eindeutige Verantwortungszuweisung vor; die zwei Alternativen bleiben äquivalent nebeneinander stehen. Was auf den ersten Blick als lediglich handlungsintern motivierte Verkomplizierung der Intrige erscheint, besitzt jedoch eine zweifache Relevanz für die satirische Funktion des Textes: Dass der Text die Frage nach dem Urheber und dem Haftgrund nicht eindeutig beantwortet, projiziert die Unwissenheit des fiktiven Opfers auf den Leser und wirkt so als literarische Reflexion auf die spezifische Anonymität der lettre de cachet. Zweitens spiegelt sich in der Überblendung von politischen und persönlichen Motiven eine historische Entwicklung, die der Gebrauch dieser Briefe im 17. und 18. Jahrhundert durchläuft. Voltaires Reflexion der Verwaltungsentwicklung des Ancien Régime, die sich bereits anhand der Figur des potenzierten premier commis nachvollziehen ließ, kennzeichnet daher auch die Handhabung der lettre de cachet in L’Ingénu: Die Verstrickung von Persönlichem und Politischem bezieht sich auf die spezifische Funktion des Verhaftungsbriefes im mittleren 18. Jahrhundert. Ein kurzer Blick in die Geschichte der lettre de cachet soll diese These erhellen. Seinem Namen entsprechend bezeichnet die lettre de cachet ursprünglich schlicht ein mit dem royalen Siegel verschlossenes, vertrauliches Schreiben des Königs, bevor sich ab dem 17. Jahrhundert die spezielle Bedeutung als königlicher Verhaftungs-, Freilassungs- oder Exilierungsbefehl durchsetzt.500 Wird die lettre de cachet unter Ludwig XIV. folglich bereits als hoheitliche Anordnung zur Inhaftierung genutzt, so bleibt diese Verwendung jedoch vorerst auf Angelegenheiten der obersten Staatssicherheit 498 Zur antijansenistischen Politik unter Ludwig XIV. und dem Verhältnis von Jesuiten und Jansenisten siehe näher Abschnitt 3.5.1. 499 Voltaire, L’Ingénu, S. 247. 500 Barbiche 1999, S. 187.

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beschränkt.501 Vor dem Hintergrund dieses engen Gebrauchs der Briefe vollzieht sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts sowohl eine Banalisierung der Verhaftungsmotive502 als auch eine Ausweitung der Ausstellungsbefugnis. Im Unterschied zur ursprünglichen Unterzeichnung durch den König persönlich oder durch den stellvertretenden ministre de la maison du roy fallen die Briefe unter Ludwig XV. zunehmend in den Zuständigkeitsbereich der Polizei und wandeln sich von einer royalen Sonderverfügung zu einer „administrative convenience“.503 Dass sich dieser qualitative Wandel auch materiell widerspiegelt, indem die übliche handschriftliche Formel des Briefes am Ende des Ancien Régime durch eine gedruckte Vorlage ersetzt wird, „montre assez que le procédé était devenu tout à fait habituel.“504 Unter Ludwig XV. dient die lettre de cachet dabei nicht mehr nur der Polizei zur Wahrung der öffentlichen Ordnung; sie wird nunmehr auch von privater Seite für die Lösung familiärer Konflikte – z. B. zur Internierung spielsüchtiger Söhne – ersucht.505 In logischer Konsequenz geht diese qualitative Entwicklung daher auch mit einer deutlichen quantitativen Zunahme einher. Barbiche erhebt für den Zeitraum 1741–1775 die Zahl von 20 000 lettres de cachet.506 Dass diese absolute Angabe im Sinne einer Wachstumstendenz zu interpretieren ist, ergibt sich aus der Einschätzung des lieutenant général de police Lenoir (im Amt 1774– 1775 sowie 1776–1785), auf den sich Arlette Farge und Michel Foucault in ihrer Dokumentensammlung aus den Bastille-Archiven berufen können: Lenoir konstatiert eine konstant steigende Tendenz der Verhaftungen mittels lettres de cachet seit der Amtszeit des lieutenant général de police d’Argenson (im Amt 1697–1718), um sodann insbesondere die Amtsperioden von Berryer (1747–1757) und de Sartine (1759–1774) für ihren beispiellosen Einsatz der Briefe hervorzuheben.507 Ein – wenngleich angesichts seiner eigenen wiederholten Inhaftierung zweifelsohne subjektiv eingefärbtes – Zeugnis über diese Entwicklung legt seinerseits der Comte de Mirabeau (1749–1791) ab, der in seinem gegen die Verhaftungspraxis und die Staatsgefängnisse des Ancien Régime gerichteten Pamphlet den Gebrauch der lettre de cachet als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kulminierenden Exzess markiert.508 Entscheidend ist, dass sowohl das

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Als Beispiele einer derart eingesetzten lettre de cachet seien der Frondeur Condé oder der der privaten Bereicherung bezichtigte Finanzminister Fouquet genannt. s. v. ‚Lettres de cachet‘, in: Bluche 1990, S. 868. Taylor 1967, S. 133. s. v. ‚Lettres de cachet‘, in: Bluche 1990, S. 867. Zeichen für die Banalisierung der Prozedur ist dabei nicht nur der Umstand, dass die familiären Gesuche zunehmen, sondern auch, dass nunmehr „familles d’un rang de plus en plus moyen“ auf lettres de cachet zurückgreifen können; siehe ebd., S. 868. Barbiche 1999, S. 53. Farge, Arlette / Foucault, Michel (Hgg.), Le Désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982, S. 18. Vgl. Honoré-Gabriel de Riqueti, comte de Mirabeau, „Des lettres de cachet et des prisons d’état“, in: Œuvres de Mirabeau: précédées d’une notice sur sa vie et ses ouvrages, 8 Bde., Paris 1834–1835, Bd. 7, S. 33: „L’implacable Richelieu, l’astucieux Mazarin, l’impérieux Louis XIV, et le doux et pacifique

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Quellenmaterial als auch die historiographischen Aufarbeitungen den qualitativen wie quantitativen Höhepunkt im Gebrauch der lettre de cachet mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts korrelieren, in dem auch die Redaktion und Publikation von L’Ingénu zu situieren ist. In L’Ingénu ist die lettre de cachet Symbol einer Willkürjustiz, in der die Freiheit des Individuums ohne formelle Anklage oder mögliche Verteidigung den Interessen Einzelner untergeordnet wird. Doch mehr als die Funktion dieser Briefe innerhalb des erzählten Geschehens ist ihre Funktion für die Konstitution des Satirischen von Interesse. Denn im Anschluss an unsere Analyse des premier commis lässt sich auch anhand der lettre de cachet jene Überblendung zweier temporaler Referenzsysteme rekonstruieren, die in L’Ingénu die Überlagerung der fiktionalen und der satirischen Kommunikation strukturiert. Als in seinen wesentlichen Grundzügen bereits unter Ludwig XIV. geläufiges Instrument bewegt sich dessen Repräsentation in L’Ingénu durchaus im Rahmen der historischen vraisemblance. Zugleich wird diese Ebene der historisch wahrscheinlichen Fiktion durch eine satirische Referenz überlagert, die auf die aktuale Verwendungsrealität der lettre de cachet im mittleren 18. Jahrhundert abhebt. Voraussetzung für das Funktionieren dieser situativen Doppelung ist dabei der Umstand, dass sich die Briefe um 1690 und 1760 nicht wesentlich, sondern in ihren jeweiligen Gebrauchsbedingungen lediglich graduell unterscheiden. Wie sich die Aktualitätsreferenz in der Handhabung der lettre de cachet in L’Ingénu konkret konstituiert, offenbart eine Untersuchung ihrer fiktiven Verwendungssituationen. Neben den bereits thematisierten Inhaftierungen Hercules und Gordons wird eine lettre de cachet ebenfalls gegen Mademoiselle de Saint-Yves bemüht, deren Bruder hofft, die heimlich nach Paris Gereiste in Gewahrsam nehmen lassen zu können. Schon in dieser oberflächlichen Charakterisierung der Situation treten die fundamentalen Unterschiede der Problemkomplexe hervor, als deren ‚Lösung‘ die lettre de cachet jeweils erachtet wird: Lassen sich die Inhaftierungen Hercules und Gordons aufgrund ihrer jeweiligen Integration in die Religionspolitik Ludwigs XIV. noch im Sinne des ‚traditionellen‘ staatssichernden bzw. staatsstabilisierenden Gebrauchs der lettre de cachet begreifen, so sind im Fall der Mademoiselle de Saint-Yves privat-familiäre Motive maßgeblich:509 Hintergrund des lettre de cachet-Gesuchs ihres Bruders ist dessen Bestreben, die Saint-Yves mit dem Sohn des bailli zu verheiraten. Die privat-familiäre Natur des Konfliktes sowie der Umstand, dass das Gesuch von einem Privatmann gestellt wird, lassen auf jene qualitative Ausweitung der lettre de cachet schließen, die in Abgrenzung zur engeren Verwendungsbestimmung der Briefe in der vorausgehenden

Fleuri […] furent les premiers qui se servirent des ordres arbitraires avec l’excès dont nous voyons le dernier période.“ 509 Da in Hercules Fall, wie gesehen, politische und private Motive aufeinandertreffen, erscheint seine Inhaftierung in der doppelten Temporalstruktur des Textes als Scharnier, das die Verwendung der lettre de cachet um 1690 mit deren Gebrauch um 1760 verbindet.

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Periode für die Regierungszeit Ludwigs XV. charakteristisch ist.510 In der Fiktion ist die Ausstellung der Verhaftungsbriefe gänzlich von der Autorität des Königs gelöst und unterliegt keinerlei zentralen Kontrolle; die ursprünglich hoheitsgebundene Prozedur hat sich gegenüber dem Monarchen verselbständigt. Neben diesem qualitativen Aspekt wird auch die quantitative Ausweitung des Justizinstruments in L’Ingénu reflektiert. Denn Saint-Pouange, bei dem das Gesuch gegen Mademoiselle de Saint-Yves vorgetragen wird, entscheidet zwar letztlich gegen den Antrag ihres Bruders. Indem er gegenüber der jungen Frau jedoch unumwunden zugibt: „En vérité j’en expédierais plutôt une pour le [i. e. votre frère; Anm. d. Vf.in] renvoyer en Basse-Bretagne“,511 stellt er die Freizügigkeit unter Beweis, mit der lettres de cachet in seinem Büro ausgestellt werden. Der sich anschließende Kommentar der Saint-Yves zielt denn auch auf die quantitative Dimension der Verhaftungserlasse ab: „Hélas! monsieur, on est donc bien libéral de lettres de cachet dans vos bureaux, puisqu’on en vient solliciter du fond du royaume comme des pensions.“512 Wird der Umgang des Saint-Pouange mit den lettres de cachet als „bien libéral“ charakterisiert, so verbirgt sich hinter dem Liberalitätsurteil mehr als nur die Bewertung einer fiktiven Praxis im Handlungskontext von L’Ingénu. Vielmehr wird diese fiktionale Sprechsituation überlagert von der satirischen Bedeutung, die sich in dem Attribut libéral im Hinblick auf die reale Zunahme der erteilten lettres de cachet in der Mitte des 18. Jahrhunderts konstituiert. Die von der Figur Saint-Yves getätigte Charakterisierung lässt sich folglich in satirischer Weise auf jenen Gebrauchswandel der lettre de cachet ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert beziehen, dessen aktuale Ausprägung im Jahr 1767 mittels der Verknüpfung mit dem Adjektiv libéral als übermäßig markiert wird. Der satirische Bezug von L’Ingénu auf die von der lettre de cachet repräsentierte zeitgenössische Justizsituation bestätigt sich im direkten Vergleich des Romans mit Voltaires historiographischen Beschäftigungen mit der Regierungszeit Ludwigs XV. Es lohnt sich hier, auf die oben bereits zitierte Klage des Protagonisten über die fehlende formelle Begründung seiner Haft zurückzukommen. In seiner Beschwerde über das französische Rechtssystem tätigt der Ingénu einen Vergleich mit dem englischen Nachbarstaat: „Nous sommes tous deux dans les fers, sans savoir qui nous y a mis, sans pouvoir même le demander. […] Il n’y a donc point de lois dans ce pays! on condamne les hommes sans les entendre! Il n’en est pas ainsi en Angleterre.“513 Dasselbe Problem fehlender Rechtssicherheit thematisiert Voltaire ebenfalls im Précis du siècle de Louis XV, und auch hier wird England als positive Vergleichsreferenz bemüht:

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In seiner nach Ausstellungsgründen differenzierenden Typologie von lettres de cachet im 18. Jahrhundert identifiziert de Viguerie 1995, S. 1115, die „affaires de police“ als häufigstes Motiv in der Hauptstadt, während in der Provinz die „affaires de famille“ dominierten. Voltaire, L’Ingénu, S. 287. Ebd. Ebd., S. 284.

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En Angleterre, un simple emprisonnement fait mal à propos est réparé par le ministre qui l’a ordonné: mais en France, l’innocent qui a été plongé dans les cachots, qui a été appliqué à la torture, n’a nulle consolation à espérer, nul dommage à répéter contre personne, quand c’est le ministère public qui l’a poursuivi; il reste flétri pour jamais dans la société. L’innocent flétri!514

Wie auch L’Ingénu thematisiert das mit „Des lois“ überschriebene 42. Kapitel des Précis sur le siècle de Louis XV die staatliche Willkür im Hinblick auf den Freiheitsentzug Unschuldiger. Dass sich Voltaire in diesem Kapitel ebenfalls des Englandvergleichs bedient, erhellt die Relation der Zeitschichten in L’Ingénu, auf der die satirische Kommunikation beruht: Referiert Voltaire in seiner historiographischen Schrift mittels des besagten Vergleichs auf das Justizsystem der zeitgenössischen Regierung Ludwigs XV., so ist davon auszugehen, dass derselbe Vergleich in seinem fiktionalen Text auf dieselbe zeitgenössische Situation bezogen ist. Sind L’Ingénu und Précis sur le siècle de Louis XV folglich mittels des Vergleichs eines französischen mit einem englischen Rechtssystem thematisch verbunden, so stehen sie außerdem in einer genetischen Beziehung, die unsere These von der Aktualitätsbezogenheit der lettre de cachet-Thematik, wie auch des Romans im Allgemeinen, zusätzlich erhärtet. Dieser Exkurs über die textuellen Verflechtungen in Voltaires Werk sei gestattet, um den soziopolitischen Entstehungskontext von L’Ingénu näher zu umreißen. Der Précis sur le siècle de Louis XV wird erstmals 1768, das 42. Kapitel, welches die zitierte Textstelle enthält, gar erst in der Ausgabe von 1769 und damit zwei Jahre nach L’Ingénu publiziert.515 Den oben zitieren Englandvergleich entnimmt Voltaire jedoch einem Text, der bereits im September 1766 erschienen war: seinem Commentaire sur le livre des délits et des peines. Hier findet sich die Textstelle des Précis in fast identischer Form im 22. Kapitel.516 Dass der Englandvergleich also in Voltaires Kommentar zu Beccarias Analyse der herrschenden strafrechtlichen Prinzipien517 figuriert, gibt einen ersten Hinweis auf seinen Entstehungskontext. Denn im Jahr 1766 kulminiert Voltaires Engagement in den Justizaffären um die Protestanten Calas und Sirven sowie um den jungen Chevalier de La Barre und den General Lally-Tollendal. Grundsätzlich kennzeichnet Voltaires Schaffen in den Jahren 1766/1767, dass er sich wiederholt an denselben genannten Ereignissen abarbeitet, indem er in seiner Korrespondenz, in eher historiographisch orientierten Texten wie auch in seiner fiktionalen 514 515 516

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Voltaire, Précis du siècle de Louis XV, S. 1560 f. Siehe die Bibliographie zum Précis du siècle de Louis XV, in: Voltaire, Œuvres historiques, S. 1664. Vgl. Voltaire, Commentaire sur le livre des délits et des peines, hg. v. G. Francioni u. A. Gurrado, OCV, Bd. 61A, 2012, S. 1–168, dort S. 154 f. Von der Interpunktion abgesehen, beschränken sich die im Précis vorgenommenen Änderungen auf die Hinzufügung des Nebensatzes „quand c’est le ministère public qui l’a poursuivi“. Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene erscheint erstmals 1764. Voltaire liest das italienische Original im Oktober 1765; vgl. Voltaire, Commentaire sur le livre des délits et des peines, S. 6.

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Prosa, in Pamphleten, Broschüren oder in Form von Ablaufrekonstruktionen in ganz verschiedener Weise, mal direkt, mal indirekt, auf sie referiert. So publiziert er neben dem Commentaire sur le livre des délits et des peines im selben Jahr 1766 auch einen Avis au public sur les parricides imputés aux Calas et aux Sirven und verfasst die Relation de la mort du chevalier de La Barre. War sein Interesse an Angelegenheiten der Justiz bis zum Prozess von Calas „limité et occasionnel“,518 so findet Voltaire in Beccarias Werk das Material, um seine reifenden Gedanken zum herrschenden Strafrecht zu fundieren: „Dans le sillage de la lecture de Beccaria, la réflexion de Voltaire sur la justice avait alors pris plus d’ampleur.“519 Dass die Relation de la mort du chevalier de La Barre zudem bekanntlich eine Widmung an Beccaria trägt,520 lässt eine Verbindung zwischen dessen Buch, Voltaires Commentaire und dem aktualen Justizgeschehen ziehen. Dieser kursorische Ausblick auf einige genetische Zusammenhänge von L’Ingénu, Voltaires Beccaria-Kommentar und seinem Précis sur le siècle de Louis XV erhellt, dass der Vergleich mit dem englischen Rechtsstaat, den Voltaires Hurone anlässlich seiner Inhaftierung anstellt, in einem spezifischen soziokulturellen – und innerhalb des Voltaire’schen Œuvre intertextuell rekurrenten – Kontext des Jahres 1766 verankert ist. In seinem Entstehungszusammenhang betrachtet, erweist sich L’Ingénu als Teil einer umfassenden und von aktuellen Umständen der 1760er Jahre ausgelösten Reflexion auf das Justizsystem, wobei die lettre de cachet lediglich einen ausgewählten Aspekt einer allgemeineren strukturellen Problematik repräsentiert. Einem weiteren Teil von Voltaires Reflexion auf das zeitgenössische Justizsystem wollen wir uns nun widmen. Es handelt sich hier um jene strukturelle Vermengung von religiösen und weltlichen Machtansprüchen, die nicht zuletzt im Prozess um La Barre augenscheinlich wird. 3.4.3 Die Verstrickung weltlicher und religiöser Machtansprüche Betrachtet man die Handlungsstruktur von L’Ingénu in Relation zu ihren Akteuren, so sticht eine Figurengruppe dadurch heraus, dass sie direkt oder indirekt in sämtliche Handlungskonflikte, Nebenhandlungen sowie das erzählte Hintergrundgeschehen involviert ist. Die Rede ist von den Repräsentanten der Gesellschaft Jesu. Da Vertreter der Jesuiten an Hercules Verhaftung ebenso beteiligt sind wie an der zu ihrem Tod führenden Erpressung der Mademoiselle de Saint-Yves, befördern sie in der Funktion

Francioni, Gianni / Gurrado, Antonio, „Préface“ zu Voltaires Commentaire sur le livre des délits et des peines, S. xvii–xxvi, dort S. xx. 519 Ebd. 520 Voltaire, Relation de la mort du Chevalier de La Barre, S. 539. 518

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von ‚Aggressoren‘521 die Handlung der histoire. Gleichzeitig wird ihnen die politische Verantwortung für die systematische Verfolgung der Hugenotten und Jansenisten angelastet. Voltaire interpretiert das politische Ereignis der Révocation de l’édit de Nantes in L’Ingénu somit als Beleg einer von den Jesuiten betriebenen Ausweitung ihres Einflusses von der religiösen Sphäre auf die weltliche Politik. Angesichts ihrer Bedeutung für die Handlung des Romans und der Kritik, die sich gegen ihre politische Stellung richtet, hat die jesuitische Präsenz in Voltaires Text der Ingénu-Forschung allerdings einige Probleme bereitet.522 Stein des Anstoßes ist dabei eine dem Kritikbegriff inhärente Aktualitätspräsupposition, die von der Augenblicksgebundenheit der Kritik ausgeht. Anders ausgedrückt: Der Rezipient einer kritischen Äußerung hat zunächst anzunehmen, dass das Objekt der Kritik zum Zeitpunkt der Äußerung eine bestimmte – gesellschaftliche oder für den Kritiker individuelle – Relevanz besitzt. Vor diesem Hintergrund der präsupponierten Aktualität von Kritik steht die mit L’Ingénu und seinem historischen Kontext befasste Literaturwissenschaft hinsichtlich der (vermeintlichen) Jesuitenkritik des Textes vor einem Problem des Anachronismus. Denn das parlement de Paris hatte die Compagnie de Jésus bereits 1762 für „inadmissible par sa nature dans tout État policé“523 erklärt, bevor sie im November 1764 per königlichem Dekret verboten und ihr Eigentum konfisziert wurde.524 Bereits drei Jahre vor der Publikation von L’Ingénu ist von einer politischen Stellung der Jesuiten daher nicht mehr auszugehen. Die in Forschungsbeiträgen regelmäßig formulierte Frage, weshalb Voltaire einen ‚Angriff ‘ auf die Jesuiten auch nach ihrer Ausweisung noch für relevant erachtet haben mag,525 stellt sich jedoch nur als Folge einer fehlenden Differenzierung des fiktionalen und des satirischen Kommunikationsmodus. Anders gewendet: Anachronismusprobleme ergeben sich nur dann, wenn das fiktional Dargestellte bereits selbst als Objekt der satirisch vermittelten Kritik interpretiert wird, ohne dass der notwendige Transfer von der Fiktion als Mittlerin der Satire zum zeitgenössisch aktualen Satireobjekt ausreichend vollzogen wird. Im Umkehrschluss und in Bezug auf die Societas Jesu bedeutet dies, dass ihre Präsenz in der satirischen Fiktion nicht zwangsläufig eine identische reale Situation um 1766 präsupponiert, die der Text dann schlicht spiegelte. Vielmehr ist die Figurengruppe der Jesuiten nach ihrer Funktion innerhalb der Fiktion zu befragen,

521

Siehe für Begriff des ‚Aggressors‘ die an Wladimir Propps Aktantenmodell angelehnte Studie von Heinein, Eglal, „Hercule ou le pessimisme. Analyse de L’Ingénu“, in: Romanic Review 72 (1981), S. 149–165. 522 Folgende Beiträge beschäftigen sich ausschließlich oder maßgeblich mit der jesuitischen Figurengruppe: Nivat 1952; Pruner 1960; Alcover 1971; Sareil 1972; Lévy, David, „L’ironie de Voltaire dans le chapitre 16 de L’Ingénu“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 342 (1996), S. 127–138. 523 Arrêt du parlement de Paris du 6 août 1762, zitiert nach Beaurepaire 2011, S. 447. 524 Für einen knappen Überblick über die Geschichte der Compagnie de Jésus in Frankreich siehe den Eintrag ‚Jésuites‘ im Dictionnaire européen des Lumières, hg. v. M. Delon, Paris 1997, S. 625–628. 525 Diese Frage liegt z. B. Nivat 1952 und Pruner 1960 zugrunde.

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um ausgehend von dieser Konstellation eine Wertung auf eine möglicherweise analoge zeitgenössische Situation abzuleiten. Auf diese Weise betrachtet, ist die Präsenz der Jesuiten in L’Ingénu zunächst einmal über den vraisemblance-Anspruch der historischen Fiktion legitimiert. Erst vor der Folie dieser historischen Fiktion eröffnet sich die Möglichkeit, den Jesuitenorden als Element innerhalb eines komplexen Spiels von Analogiebildungen zu betrachten, über das die Satire in diesem Text operiert. 3.4.3.1 Jesuiten in der Fiktion und als satirisches Objekt Anhand der spezifischen Funktion der jesuitischen Figuren innerhalb der Fiktion gilt es nun also, die über diese Figurengruppe kommunizierte satirische Textfunktion zu rekonstruieren. Erstmalig tritt ein Vertreter der Jesuiten in L’Ingénu bereits im dritten Kapitel anlässlich der Taufe des Ingénu auf: Ein jésuite bas-breton wird eigens einbestellt, um die Fragen des Huronen in Bezug auf die katholische Theologie vor dessen Taufe zu beantworten. Damit erweist sich die Analyse von Francis, wonach dieser erste jesuitische Geistliche die „Jesuit omnipresence“ symbolisiere,526 zwar nicht als unzutreffend. Vernachlässigt wird in Francis’ knapper Formulierung jedoch, dass sich die markierte Omnipräsenz nicht schon in der personalen Allgegenwart der Jesuiten erschöpft. Dass die Präsenz des namenlosen jésuite bas-breton mit der Taufe des Ingénu motiviert wird („pour achever la conversion du Huron“527), markiert vielmehr die Ubiquität dessen, womit der Jesuitenorden im antijesuitischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts assoziiert wird: seine missionarischen Aktivitäten,528 theologische Spitzfindigkeit und moralischer Laxismus.529 So kommt dem fiktiven Jesuitenpater nicht nur die Aufgabe zu, Hercules Fragen bezüglich der christlichen Dogmen zu entkräften, er klärt die bei der Taufe Anwesenden auch über die Bedeutung von dessen Taufnamen auf: Indem der Pater Herkules kurzerhand zu einem „saint qui avait fait douze miracles“530 verklärt, wobei er die notorische 13. Tat freilich ausspart, wird die antik-pagane Überlieferung kurzerhand christianisiert und in opportunistischer Weise in den Dienst der missionarischen Ambitionen gestellt. Die Herleitung des Taufnamens ist

526 Voltaire, L’Ingénu, S. 212, Anm. 7. 527 Ebd., S. 212. 528 Vgl. den Artikel ‚Jésuite‘ der Encyclopédie, Bd. 8, 1765, S. 512. Obwohl unsigniert, gilt heute als gesichert, dass dieser Eintrag von Diderot verfasst wurde; vgl. hierzu Ferrer Benimeli, José A., „Diderot entre les jésuites et les franc-maçons“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 4 (1988), S. 60–80. 529 Vgl. für die antijesuitische Kritik an den beiden letztgenannten Punkten paradigmatisch Blaise Pascals Les Provinciales, in: ders., Oeuvres complètes, hg. v. M. Le Guern, 2 Bde., Paris 1998–2000, Bd. 1, 1998, S. 577–816, dort insbes. Lettres 5 bis 10. Zum Verhältnis von L’Ingénu und Les Provinciales siehe Alcover 1971 sowie Sareil 1972. 530 Voltaire, L’Ingénu, S. 222.

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daher mehr als nur ein komisches Detail; das Ausmaß der Komik ergibt sich allererst aus dem impliziten Wissen um die verbreitete Kritik an den Auslegungspraktiken der Jesuiten, die nicht nur in Pascals Les Provinciales im Fokus der antijesuitischen Polemik stehen.531 Der bretonische Jesuitenpater repräsentiert daher weniger die Allgegenwart des jesuitischen Personals als die Unumgänglichkeit eines jesuitischen Systems, das sich auch in der Figurenkonstellation des Textes widerspiegelt: Mit fünf Figuren532 sind die Jesuiten nicht nur überproportional vertreten; sie bilden zudem ein politisches Beziehungsgeflecht, in dessen Zentrum der königliche Beichtvater, der père de La Chaise steht. Auf dessen privilegierter Position an der Seite des Königs beruht in Voltaires Fiktion – wie auch in seiner Historiographie – die enge Verbindung des Jesuitenordens mit den staatlichen Strukturen. In Anbetracht der von Voltaire unterstellten Einflussnahme von La Chaise auf den politischen Akt der Révocation de l’édit de Nantes ist es denn auch konsequent, dass dessen Name in L’Ingénu erstmals bei der Unterredung Hercules mit den fliehenden Hugenotten Erwähnung findet und er dort als Urheber der Révocation eingeführt wird. Interpretieren die protestantischen Sprecher die Aufhebung der Religionsfreiheit und deren ökonomische Folgen als Ergebnis einer mutwilligen Täuschung vonseiten des confesseur du roi, so formulieren sie ein Argument, das Voltaire auch in seinen historiographischen Schriften zur Exkulpierung Ludwigs XIV. dient: „Il paraît donc évident qu’on a trompé ce grand roi sur ses intérêts comme sur l’étendue de son pouvoir“.533 Impliziert wird mittels des Verbs tromper unmissverständlich, dass La Chaise die Position des confesseur dazu genutzt habe, politische Entscheidungen zulasten der königlichen Interessen und zu eigenem Vorteil zu beeinflussen. Dass La Chaise dabei im selben Atemzug genannt wird wie der Kriegsminister Louvois, der die Révocation mithilfe seines berüchtigten Dragon-Regiments durchsetzte,534 verdeutlicht die enge Verbindung von religiös-jesuitischer und politischer Sphäre.

Vgl. Pascal, Les Provinciales, S. 627: „Ainsi ils en ont [i. e. de directeurs; Anm. d. Vf.in] pour toutes sortes de personnes, et répondent si bien selon ce qu’on leur demande, que, quand ils se trouvent en des pays où un Dieu crucifié passe pour folie, ils suppriment le scandale de la Croix, et ne prêchent que Jésus-Christ glorieux, et non pas Jésus-Christ souffrant: comme ils ont fait dans les Indes et dans la Chine, où ils ont permis aux chrétiens l’idolâtrie même par cette subtile invention, de leur faire cacher sous leurs habits une image de Jésus-Christ, à laquelle ils leur enseignent de rapporter mentalement les adorations publiques qu’ils rendent à l’idole Chacimchoan et à leur Keumfucum, […].“ 532 In der Reihenfolge ihres Auftritts: jésuite bas-breton, jesuitischer Spion in Saumur, père de La Chaise, Tout-à-tous, Vadbled. 533 Voltaire, L’Ingénu, S. 243. Vgl. für den Vorwurf der tromperie im Zusammenhang mit der Révocation de l’édit de Nantes auch Voltaire, Défense de Louis XIV contre l’auteur des Éphémérides, S. 1291, sowie ders., Le Siècle de Louis XIV, S. 1049. 534 Voltaire, L’Ingénu, S. 243: „Mons de Louvois nous envoie de tous côtés des jésuites et des dragons.“ Vgl. ebenfalls ebd., S. 296: „[…] Mons de Louvois et le révérend père de La Chaise pourraient vous enterrer dans le fond d’un couvent pour le reste de vos jours.“ 531

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Die fiktionale Überblendung der Zuständigkeitsbereiche von La Chaise und Louvois markiert den politischen Einfluss, der mit dem königlichen Beichtprivileg des Jesuitenordens in Voltaires Interpretation einhergeht. Voltaire steht dem jesuitischen Vorrecht aus einer pro-absolutistischen Perspektive vor allem deshalb kritisch gegenüber, weil es eine inoffizielle politische Position außerhalb des Organigramms des Ancien Régime eröffnet. So schreibt er über das Einflusspotential des Beichtvaters in Le Siècle de Louis XIV: Les jésuites étaient en possession de donner un confesseur au roi, comme à presque tous les princes catholiques. Cette prérogative était le fruit de leur institut, par lequel ils renoncent aux dignités ecclésiastiques. Ce que leur fondateur établit par humilité était devenu un principe de grandeur. Plus Louis XIV vieillissait, plus la place de confesseur devenait un ministère considérable.535

Die jesuitische Konstellation um La Chaise präsentiert sich in L’Ingénu als Fiktionalisierung der politikgeschichtlichen Analysen, die Voltaire in seinen historiographischen Schriften über die Regierungszeit Ludwigs XIV. tätigt. Zu der bereits im Siècle de Louis XIV geäußerten Kritik an dem jesuitischen Beichtprivileg kommt jedoch in der Fiktion ein zentraler Aspekt hinzu: Während der König durchweg abwesend ist, sind die Jesuiten in der Ökonomie des Textes übermäßig präsent. (Politische) Entscheidungen werden in der von L’Ingénu entworfenen Fiktion nur unter Beteiligung der Jesuiten getroffen. Dabei steht die Präsenz der Jesuiten in der Ökonomie des Romans in direktem Verhältnis zu ihrer Unhintergehbarkeit am Hof des fiktiven Versailles. Denn die Relation des obersten Beichtvaters zum König wird im Kleinen auf jeder Hierarchieebene des Hofes repliziert: [La belle Saint-Yves] imagina de s’adresser à un jésuite du bas étage; il y en avait pour toutes les conditions de la vie, comme Dieu, disaient-ils, a donné différentes nourritures aux diverses espèces d’animaux. Il avait donné au roi son confesseur, que toutes les solliciteurs de bénéfices appelaient le chef de l’Eglise gallicane. Ensuite venaient les confesseurs des princesses; les ministres n’en avaient point, ils n’étaient pas si sots. Il y avait les jésuites du grand commun, et surtout les jésuites des femmes de chambres par lesquelles on savait les secrets des maîtresses, et ce n’était pas un petit emploi.536

Das hier gezeichnete jesuitische System von Versailles charakterisiert sich im Wesentlichen durch zwei Aspekte: Zum einen entsteht der Eindruck eines flächendeckenden Spionagenetzwerkes, das sich der Beichte als taktisches Späh- und Kontrollinstrument bedient. Der zunächst komisch, da unwahrscheinlich, wirkende Umstand, dass selbst in einer unbedeutenden Schenke im fast verlassenen Saumur ein jesuitischer Spion die

535 Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 1078. 536 Voltaire, L’Ingénu, S. 279.

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Unterhaltung Hercules mit den Hugenotten verfolgt, gewinnt durch das Bild einer systematischen Infiltrierung aller gesellschaftlichen Hierarchieebenen an Plausibilität.537 Zum anderen kommentiert dieser Ausschnitt mit dem Hinweis auf die „différentes nourritures aux diverses espèces d’animaux“ die mit der Compagnie de Jésus assoziierte laxistische Beichtpraxis und wirkt dabei wie ein Echo der bereits zitierten Worte Pascals. Den Kern dieser Kritik bildet hier der Vorwurf, dass die theologisch-moralische Verpflichtung des confesseur den politischen Ambitionen der Compagnie untergeordnet werde, indem die moralischen Maßstäbe in opportunistischer Weise der Person und dem Rang des Beichtenden angepasst würden. Insofern das Ziel der Jesuiten in diesem Narrativ als bedingungslose Ausweitung ihrer weltlichen Machtposition identifiziert wird, erhebt etwa Diderot den Vorwurf des Machiavellismus,538 während D’Alembert die Leitlinie des Ordens in polemischer Zuspitzung als „Gouverner l’univers par la religion“ formuliert.539 L’Ingénu situiert sich so innerhalb des bekannten antijesuitischen Diskurses seiner Zeit, der noch nach dem offiziellen Verbot des Ordens weiter geführt wird, wenn auch nunmehr in retrospektiver Bezugnahme auf das Verbot: Der achte, den Artikel ‚Jésuite‘ beinhaltende Band der Encyclopédie sowie d’Alemberts Sur la destruction des Jésuites en France erscheinen noch 1765. In L’Ingénu wird indes nicht nur abstrakt auf den jesuitischen Laxismus verwiesen; dieser wird anhand des moralischen Dilemmas der Mademoiselle de Saint-Yves und der Kasuistik des père Tout-à-tous auch konkret vorgeführt.540 Nicht eingegangen werden soll hier auf die argumentative Struktur des formulierten Kasus.541 Entscheidend ist, dass der Fall der Saint-Yves für den Jesuitenpater mit dem sprechenden Namen542 erst zu einem moralischen Kasus wird, als der Pater über die Identität ihres Erpressers aufgeklärt ist. Hatte er das Handeln des Unbekannten vorher noch mit den Worten: „Voilà un abominable pécheur!“543 kategorisch verurteilt, so relativiert er sein Urteil, sobald der Name Saint-Pouange genannt wird: „ah! ma fille, c’est tout autre chose; il est cousin du plus grand ministre que nous ayons jamais eu, homme de bien, protecteur de la bonne cause, bon chrétien; il ne peut avoir eu une telle pensée; […].“544 Die anschließende pseudotheologische Argumentation, die im Wesentlichen auf terminologischer Haarspalterei (S. 291 f.) sowie auf einer verkürzten Augustinus-Lektüre 537 538 539 540 541 542 543 544

Vgl. hierzu erneut Diderots Jesuiten-Artikel in der Encyclopédie, Bd. 8, S. 512: „Ils disent que cette derniere classe [i. e. die sog. jésuites de robe-courte; Anm. d. Vf.in] est nombreuse, qu’elle est incorporée dans tous les états de la société, qu’elle se déguise sous toutes sortes de vêtements.“ Ebd., S. 513. Diderot akzentuiert dabei auch eine den Regizid befürwortende Haltung der Jesuiten. D’Alembert, Jean le Rond, Sur la destruction des Jésuites en France, in: Œuvres de d’Alembert, 5 Bde., Paris 1821–1822, Reprint Genf 1967, Bd. 2, S. 11–118, dort S. 18. Siehe Voltaire, L’Ingénu, S. 290–294. Siehe hierzu die Analysen in Alcover 1971 und Sareil 1972. Vgl. als mögliche Inspirationsquelle für Voltaires Namensgebung D’Alembert, Sur la destruction des Jésuites en France, S. 30. Voltaire, L’Ingénu, S. 290. Ebd., S. 290 f.

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(S. 292 f.) basiert, dient dazu, den Kasus zugunsten des Erpressers aufzulösen und das für die Befreiung des Huronen notwendige Handeln der Saint-Yves – d. h. ihr Nachgeben gegenüber dem erpresserischen Angebot – gleichsam zu exkulpieren. Das Beispiel Tout-à-tous demonstriert, wie die laxistische Handhabung eines augenscheinlich wenig ambivalenten moralischen Falls – eine sexuelle Erpressung – den fiktiven Jesuiten zur Festigung ihrer Position innerhalb der Versailler Hofgesellschaft dient: Indem Tout-à-tous als Ausführungsgehilfe des Saint-Pouange handelt, der als „cousin et favori“545 des Kriegsministers Louvois wiederum Teil der höfischen Elite ist, sichern sich die Jesuiten ihren Einfluss auf ebendiese Elite. Die über Saint-Pouange vermittelte Nähe zu Louvois kompensiert damit zugleich die Lücke, die im jesuitischen Netzwerk durch die fehlenden Beichtväter für die Minister entsteht.546 D’Alemberts polemische Überspitzung des jesuitischen Auftrags als „Gouverner l’univers par la religion“ wird in L’Ingénu so in einen fiktiven Handlungszusammenhang übersetzt. Vor dem Hintergrund der identifizierten antijesuitischen Elemente lässt sich die eingangs gestellte Frage nach der Funktion der Jesuiten in der von L’Ingénu entworfenen Fiktion folgendermaßen beantworten: Voltaire führt die Gesellschaft Jesu der 1690er Jahre als System religiöser Einflussnahme auf die politischen Strukturen des Ancien Régime vor und kann sich dazu auf seine historiographischen Analysen und die Argumente des antijesuitischen Diskurses berufen. Da sich Voltaire zur Abbildung einer religiös infiltrierten politischen Struktur Diskursfragmenten bedient, die in spezifischer Weise mit den Jesuiten assoziiert sind, lässt sich eine auf diese religiöse Fraktion projizierte satirische Textfunktion kaum verleugnen. Obwohl L’Ingénu nicht nur auf Jesuitenkritik reduziert werden kann, so handelt es sich dennoch zweifelsohne auch um eine Satire auf die spezifischen Praktiken der Compagnie de Jésus. Für das Gelingen der Satire wird leserseitig die Vertrautheit mit den Argumenten des antijesuitischen Diskurses vorausgesetzt. ‚Fiktionales‘ und satirisches Verstehen unterscheidet sich im Hinblick auf das jesuitische Figurenpersonal in der Fähigkeit des Lesers, von dem individuellen Verhalten der fiktiven Figuren auf überindividuelle Merkmale zu schließen, die in einem bestimmten – negativen – Diskurs mit einer realgesellschaftlichen Gruppierung verbunden werden. Während die Fiktion also bei der individuellen Funktion der Figuren für die histoire stehenbleibt, visiert die Satire ein Personenkollektiv der Wirklichkeit an, das durch die implizite Referenz auf den antijesuitischen Diskurs abgewertet wird. Anhand des von Tout-à-tous vorgeführten Laxismus lässt sich dies veranschaulichen: Dass seine Argumentation einem laxistischen Prinzip folgt, erschließt sich auch dem nicht in Pascal-Lektüren vorgebildeten Leser. Weiß der Leser hingegen um die Funktion des Laxismus als Merkmal jesuitischer Moralpraxis im antijesuitischen Diskurs, findet er dieses Element im Namen des Tout-à-tous be545 Ebd., S. 280. 546 Vgl. erneut ebd., S. 279: „[…] les ministres n’en avaient point [i. e. de confesseurs; Anm. d. Vf.in], ils n’étaient pas si sots.“

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reits vorfiguriert und ist zudem in der Lage, von dem Verhalten der individuellen Figur auf die reale Compagnie zu schließen. Lässt sich folglich anhand der Jesuitenthematik in L’Ingénu die schreibweisenspezifische Referenzdoppelung von Satire anschaulich machen, so leistet sie in Voltaires Roman jedoch noch mehr: Der Text macht sein satirisches Strukturprinzip selbst transparent, indem er die zeitgeschichtliche Entwicklung des Jesuitenordens in die Temporallogik der Fiktion integriert. In seiner Klage über die von La Chaise und den Jesuiten reinitiierte Hugenottenverfolgung formuliert der fiktive protestantische Sprecher von Saumur nämlich die Hoffnung: „Il faut espérer que Dieu les en punira un jour, et qu’ils seront chassés comme ils nous chassent.“547 Ohne Schwierigkeiten erkennt der informierte Leser in dieser aus der Not des fiktiven Hugenotten geborenen Hoffnung einen Verweis auf das 1764 realiter ausgesprochene Verbot der Jesuiten. Die fiktive Proposition mit ihrem hypothetischen, da auf die Zukunft gerichteten, Wahrheitswert hat sich in der zeitgenössischen Wirklichkeit bereits bewahrheitet. Als „Medienereignis von europäischen Ausmaßen“548 ist von der Bekanntheit des Jesuitenverbots in der breiten Öffentlichkeit549 auszugehen. Indem der Text das politische Großereignis der jüngsten Zeitgeschichte auf proleptische Weise in die Temporallogik der Fiktion integriert, stellt er sein satirisches Strukturprinzip als Überlagerung einer fiktional-historischen und einer real-aktualen Zeit- bzw. Bedeutungsschicht aus. Dass Voltaire auf diese Weise die für Satire typische ‚Abschaffungsforderung‘550 gegenüber dem evozierten Wirklichkeitsausschnitt – hier: den Praktiken der Gesellschaft Jesu – als bereits realiter erwirktes Faktum in der histoire verarbeitet, macht jedoch deutlich, dass sein kritisches Ziel nicht in diesen Praktiken bestehen kann. Es gilt also nun zu zeigen, dass sich das anhand der fiktiven Jesuiten artikulierte satirische Sprechen nicht auf die Jesuiten-Satire beschränkt. Vielmehr ist die jesuitische Praxis selbst nur ein Element einer umfassenderen Strukturanalyse, die sich dem machtstrategischen Einsatz religiöser Fraktionen im Ancien Régime widmet. In dieser Perspektive soll die Jesuitenkritik in L’Ingénu als Vehikel einer Kritik an einer strukturell ähnlichen Situation der 1760er Jahre betrachtet werden. Mag es auch zunächst paradox erscheinen, so wird doch über die Jesuitensatire erst die Satire auf etwas anderes wirk547 Voltaire, L’Ingénu, S. 243. 548 Vogel, Christine, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758–1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung, Mainz 2006, S. 6. 549 Vogel 2006 arbeitet die außerordentliche Aktivität der von jansenistischer Seite in den parlements geführten antijesuitischen Publizistik heraus, die ein „verhältnismäßig breit gefächerte[s] Publikum“ (ebd., S. 6) erreichte. Die von den parlements durch öffentliche Aufrufe, Anschläge und Flugblätter bekannt gemachten Verordnungen hinsichtlich der jesuitischen Ordensverwaltung gereichten zu teilweise internationaler Resonanz; vgl. ebd., S. 224. Die zitierte Klage des Mailänder Jesuiten Zaccaria darüber, dass das antijesuitische Schrifttum „in der Muttersprache herausgegeben [wird], damit auch der Pöbel und die unwissendsten Wäscherinnen darüber ihr Urtheil sprechen“ (ebd., S. 314) spiegelt den Erfolg dieser publizistischen Strategie wider. 550 Vgl. Meyer-Sickendiek 2010, S. 332.

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sam. Eine Warnung D’Alemberts aus seinem bereits zitierten Text Sur la destruction des jésuites en France soll uns als erster Anhaltspunkt einer möglichen Strukturanalogie dienen: Il est certain que l’anéantissement de la société peut procurer à la raison de grands avantages, pourvu que l’intolérance jansénienne ne succède pas en crédit à l’intolérance jésuitique; car, on ne craint point de l’avancer, entre ces deux sectes, l’une et l’autre méchantes et pernicieuses, si on était forcé de choisir, en leur supposant le même degré de pouvoir, la société qu’on vient d’expulser serait la moins tyrannique.551

Dass Voltaire D’Alemberts Wahrnehmung einer fundamentalen Ähnlichkeit zwischen der „intolérance jésuitique“ und der „intolérance jansénienne“ teilt und dass diese Analogie in L’Ingénu satirisch kommuniziert wird, soll nun erörtert werden. 3.4.3.2 Von Füchsen und Wölfen I: Jesuiten und Jansenisten als Analogie Am 7. August 1767 schreibt Voltaire in einem Brief an d’Argental: „On nous a défaits des renards, mais on nous laisse en proie aux loups.“552 Der Brief greift das Verbot der Societas Jesu auf und benennt im selben Zuge die Bedrohung durch eine andere religiöse Gruppierung. Während mit den Füchsen, derer man sich entledigt habe, die Jesuiten gemeint sind, bezeichnet Voltaire mit der Metapher der Wölfe, denen man nun schutzlos ausgeliefert sei, die jansenistische Fraktion.553 Mittels der gewählten Tiermetaphern und ihrer Referenten kreiert Voltaire ein Geflecht wechselseitiger Analogien: Die taxonomische Ähnlichkeitsbeziehung, in der Füchse und Wölfe zueinander stehen, wird qua Analogie auf die Relation von Jesuiten und Jansenisten übertragen, während gleichzeitig eine Ähnlichkeit von Füchsen und Jesuiten einerseits sowie Wölfen und Jansenisten andererseits postuliert wird. Voltaire interpretiert die katholischen Fraktionen so zwar gleichermaßen als ‚hündische‘ Raubtiere; er bedient sich aber den mit der gewählten Tiersymbolik konnotierten Zuschreibungen, um sie hinsichtlich ihres Bedrohungspotentials zugleich zu unterscheiden. Während der Fuchs gemeinhin listige Verschlagenheit, Habgier und Heuchelei symbolisiert554 – einen Merkmalskomplex also, der von den jesuitischen Akteuren in L’Ingénu idealtypisch repräsentiert wird –, setzt der Wolf der Doppelzüngigkeit des Fuchses seine mit Stärke konnotierte D’Alembert, Sur la destruction des jésuites en France, S. 67, Herv. d. Vf.in. Voltaire an d’Argental, 7. August 1767, Inventarnummer D14339, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 116. 553 Das Bild der die jesuitischen Füchse ablösenden jansenistischen Wölfe durchzieht Voltaires Korrespondenz der Jahre 1766/1767; siehe z. B. Voltaire an d’Alembert am 12. März 1766, Inventarnummer D13205, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 114. 554 Vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. G. Butzer u. J. Jacob, Stuttgart/Weimar 2008, S. 118.

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körperliche Präsenz entgegen und steht als Symbol der Grausamkeit für das wahrhaft Böse.555 Vor dem Hintergrund dieser Symbolik sind nun zwei Fragen zu beantworten: Erstens gilt es herauszuarbeiten, worin die in Analogie zur biologisch-taxonomischen Verwandtschaft von Füchsen und Wölfen gedachte präsupponierte Ähnlichkeit von Jesuiten und Jansenisten besteht. Zweitens ist Voltaires Wahrnehmung des Jansenismus dahingehend zu befragen, wie sich die Übertragung der wölfischen Negativkonnotationen auf dessen Anhänger und die damit einhergehende Einschätzung ihres Bedrohungspotentials begründen lassen. Die Untersuchung folgt der Annahme, dass die Metapher von den jesuitischen Füchsen und den jansenistischen Wölfen, wenngleich sie in L’Ingénu nicht explizit zur Sprache gebracht wird, der politischen Satire in diesem Text als Referenzhorizont zugrunde liegt. So operiert auch L’Ingénu mit einer jesuitisch-jansenistischen Analogiebildung,556 die von einer funktionalen Ähnlichkeit der fiktiven Jesuiten und der realen zeitgenössischen Jansenisten innerhalb der jeweiligen politischen Konstellationen ausgeht. Indem mithilfe dieser Analogie die machtpolitische Konstellierung des Ancien Régime problematisiert wird, steht sie im Dienst der thèse royale. Unter Rückgriff auf verschiedene Texte aus Voltaires Feder – Le Siècle de Louis XIV, Précis du siècle de Louis XV, Histoire du parlement de Paris sowie seiner Korrespondenz – soll nun also die in folgender Gleichung bestehende These vertreten werden: Im Hinblick auf eine Kompromittierung des absoluten Machtgefüges verhalten sich die Jesuiten um 1690, anhand derer Voltaire seine Fiktion modelliert, wie die Jansenisten der zeitgenössischen Wirklichkeit um 1760. Die politische Verstrickung der Jesuiten, die in besonderem Maße auf den Privilegien des confesseur du roi beruht, war Inhalt des vorangehenden Abschnittes. Dass auch die Jansenisten abseits einer rein spirituellen Betätigung aktiven Einfluss auf das politische Geschehen des Ancien Régime ausüben konnten, darauf gibt uns Voltaires Korrespondenz einen ersten Hinweis. Am deutlichsten wird Voltaires Wahrnehmung einer Einflussnahme in seinem berühmten Brief an d’Alembert anlässlich der Hinrichtung des Chevalier de la Barre: „L’inquisition n’aurait pas osé faire ce que des juges jansénistes viennent d’exécuter.“557 Bereits 1761 hatte Voltaire die Präsenz der Jansenisten in den als Berufungsgerichten fungierenden parlements beklagt: „Les jansénistes et les convulsionnaires triomphent au parlement […].“558 Angesichts der Funktion der parlements im Ancien Régime ist ihre personelle Besetzung nicht nur für die Recht555

Vgl. ebd., S. 426. Von der Symbolhaftigkeit des Wolfes in Bezug auf Mütterlichkeit, die im römischen Gründungsmythos offensichtlich wird, sehen wir im vorliegenden Zusammenhang ab. 556 Auch Van den Heuvel 1998 geht von einer Analogie der jesuitischen und der jansenistischen Konstellation aus; vgl. dort insbes. S. 306–308. 557 Brief vom 18. Juli 1766, Inventarnummer D13428, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 114. Voltaires rhetorische Stilisierung der jansenistischen Richter als Inquisitoren und die Hinrichtung La Barres sind Inhalt des nächsten Abschnittes. 558 Brief an Marie-Élisabeth de Dompierre de Fontaine vom 31. Mai 1761, Inventarnummer D9796, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 107.

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sprechung von Bedeutung. Als cours souveraines stellen die parlements neben einer rechtsprechenden Instanz auch ein relatives Gegengewicht zum königlichen Gesetzgebungsprivileg dar, das in ihrem historischen droit de remontrance begründet liegt. Voltaires Charakterisierung der involvierten Personen deckt sich mit der Einschätzung des Historikers Beaurepaire, der für das 18. Jahrhundert, und insbesondere seit der Bulle Unigenitus, eine „jansénisation“ der parlements konstatiert,559 womit neben der personellen Besetzung durch Anhänger oder Sympathisanten des Jansenismus560 auch eine jansenistenfreundliche Politik bezeichnet ist. Von einer institutionellen ‚Jansenisierung‘ oder zumindest einer Interessensgemeinschaft von Jansenismus und Gerichten kann folglich ausgegangen werden. Dass Voltaire diesem Aktivismus in gemeinsamer Sache kritisch gegenüberstand, bezeugt außer der Korrespondenz auch seine 1769 anonym publizierte Histoire du parlement de Paris. Dabei zeigt sich, dass seine Ablehnung eines juristisch vertretenen Jansenismus nicht allein seinem Misstrauen gegenüber religiösen Gemeinschaften geschuldet ist. Vielmehr verbindet sich in dieser Ablehnung eine Kampagne gegen religiösen Fanatismus mit einer pro-absolutistisch fundierten Kritik an den Gerichtshöfen selbst. Politischer Hintergrund von Voltaires Abrechnung mit den parlements ist deren im droit de remontrance legitimierte Oppositionshaltung, die im Laufe des Jahrhunderts wiederholt zur temporären Einstellung des Gerichtswesens führt und von Voltaire als offene Rebellion gegen die Krone interpretiert wird. Bereits 1713 trennt ein politischer Graben Krone und parlements, als diese anlässlich der Bulle Unigenitus von ihrem Einspruchsrecht (remontrance) Gebrauch machen. Dieser pro-jansenistische Widerstand gegen die päpstliche Bulle folgt gleichzeitig einer radikal gallikanischen Agenda.561 Auch während der folgenden 40 Jahre ist die Oppositionshaltung der parlements, die sich königlicher Beschlüsse mit teils äußerster Vehemenz widersetzen, und das aus ihr resultierende Zerwürfnis mit dem König eng mit dem Jansenismuskonflikt verknüpft. Der politische Widerstand der parlementaires gegenüber königlichen Dekreten mündet dabei wiederholt in eine Pattsituation, die das Justizsystem praktisch lahmlegt.562 Beaurepaire beschreibt die Situation folgendermaßen: „Pour l’heure, la surenchère est de mise, grèves de parlement et démonstrations d’autorité de Louis XV se répondent: menaces de confiscation de charges, de déchéance de la noblesse, actes royaux enregistrés aussitôt exécutoires, limitation du droit de remontrances. L’impasse politique 559 Beaurepaire 2011, S. 131. 560 Bereits Goldmann 1959 trägt im Hinblick auf das 17. Jahrhundert Argumente für eine soziologisch wie ideologisch fundierte Verbindung von Jansenismus und frondierenden parlements vor. So kontrovers seine These über die Ursachen dieser Relation in der Folge auch diskutiert wurde, so herrscht doch für den Zeitraum des mittleren 18. Jahrhunderts Konsens über die personelle Überlappung bzw. politische Annäherung von Jansenismus und parlements. 561 Beaurepaire 2011, S. 92. 562 Vgl. Voltaires Zusammenfassung in: Voltaire, Histoire du parlement de Paris, hg. v. J. Renwick, OCV, Bd. 68, 2005, S. 494–530. Siehe ebenfalls s. v. ‚Jansénisme‘, in: Delon 1997, S. 614.

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est réelle.“563 Dabei wird Unigenitus seitens der Richter zunehmend nicht mehr nur als Bedrohung für die Autonomie der gallikanischen Kirche, sondern als grundsätzliche Gefahr für patrie und citoyens interpretiert.564 Als jesuitische Priester zudem Sterbenden, die den Schwur auf die Bulle verweigern, die Sakramente verwehren, erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt:565 Während das parlement de Paris juristisch gegen die Jesuitenpater vorgeht, befiehlt Ludwig XV. den Richtern, sich aus religiösen Belangen herauszuhalten.566 Was folgt, ist ein Spiel gegenseitiger Machtdemonstrationen; remontrances wechseln sich ab mit königlichen Befehlen, Streiks mit Exilierungen.567 Als „espèce d’anarchie“568 kommentiert Voltaire diesen Ungehorsam, der sich in den 1760er Jahren fortsetzt, wenngleich das Motiv der Opposition angesichts der vom Minister Choiseul geplanten Reformen nunmehr finanzpolitischer Natur ist.569 Indes richtet sich die Verachtung, die Voltaire mit der die Blockadehaltung der Gerichte diskreditierenden Vokabel ‚Anarchie‘ zum Ausdruck bringt, weniger gegen die spezifischen Inhalte der jeweiligen remontrances, als gegen die politischen Ambitionen, die das Handeln der Magistraten nähren. Als Reaktion auf die wiederholten Exilierungen des parlement de Paris erklären sich die Regionalgerichte solidarisch und entwickeln unter dem Stichwort der union des classes ein von einer geteilten Mission getragenes Gemeinschaftsbewusstsein.570 Unter Berufung auf die ungeschriebenen lois fondamentales du royaume571 inszenieren sie sich nunmehr als Stimme der Nation, als tuteurs des rois und souveränes Korrektiv zum königlichen ‚Despotismus‘.572 Der Nation nachgeordnet, wird die absolute Autorität des Königs dabei implizit negiert.573 In der für das französische 18. Jahrhundert charakteristischen Verquickung von Jansenismus und Gerichten dienen den Magistraten als Argumentationsgrundlage dabei auch staatstheoretische Schriften aus der Feder jansenistischer Juristen.574 Da in diesen Schriften die Daseinsberechtigung der parlements gegenüber der französischen Krone in Analogie zur Bestimmung des Jansenismus gegenüber der römischen Kurie konzipiert wird, sind die Magistraten und die jansenistischen Gläubigen über dasselbe Ar563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574

Beaurepaire 2011, S. 139. Vgl. auch das Lemma ‚Parlements‘, in: De Viguerie 1995, S. 1265. Beaurepaire 2011, S. 131. Ebd., S. 242–244. Vgl. Voltaire, Histoire du parlement de Paris, S. 525. Ein guter Eindruck der Situation ergibt sich aus Voltaires Schilderungen im Précis sur le siècle de Louis XV, S. 1515–1518. Voltaire, Histoire du parlement de Paris, S. 522. „La fronde est général“, lautet das Résumée der Analyse von Beaurepaire 2011, S. 461. Anlass für die Solidaritätsbekundung der Regionalgerichte ist insbesondere die Exilierung des parlement de Paris von Dezember 1756 bis August 1757. Siehe ‚Lois fondamentales‘, in: Bluche 1990, S. 889 f. Gay, Peter, Voltaire’s Politics. The Poet as Realist, Princeton 1959, S. 312–314. Renwick in Voltaire, Histoire du parlement de Paris, S. 14. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Lettres historiques sur les fonctions essentielles du Parlement, sur le droit des Pairs et sur les lois fondamentales du royaume (Amsterdam 1753–1754) des Louis-Adrien Le Paige.

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gumentationsprinzip verbunden: „Wie die Jansenisten das wahre Interesse der Kirche notfalls gegen deren höchste Amtsgewalt vertraten, so hatte das Parlement das Interesse der ‚Nation‘ auch gegen einen fehlgeleiteten König durchzusetzen.“575 Vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Frontstellung einerseits sowie der Personalstruktur der beteiligten Akteure andererseits wird zeitgenössisch die Existenz eines parti janséniste in den parlements wahrgenommen, der sich jedoch, wie Christine Vogel insistiert, nicht auf die Anhänger der jansenistischen Frömmigkeitsideale i. e. S. reduzieren lässt, sondern als Oberbegriff für eine heterogene Gruppe von Magistraten zu betrachten ist, die durch ihre Oppositionspolitik geeint sind.576 Auch hinsichtlich der von Voltaire benannten „juges jansénistes“ ist demnach davon auszugehen, dass es sich weniger um eine wörtlich zu nehmende Charakterisierung einzelner Magistrate handelt als um einen Terminus, der auf den gemeinsamen Argumentationshorizont der Oppositionsaktivitäten von Jansenisten und Magistraten abstellt. Voltaire kann hier an den Verständnishorizont des Begriffs parti janséniste anknüpfen, in dem sich die öffentliche Wahrnehmung der Magistraten als politisches Organ des Jansenismus niederschlägt. Das staatstheoretische Fundament von Voltaires Kritik an dem Oppositionsgebaren der ‚jansenistischen Magistraten‘ offenbart sich vollends in seiner Reaktion auf die als discours de flagellation bekannte Rede Ludwigs XV. am 3. März 1766 vor dem Pariser parlement. Als die Autonomiebestrebungen der Gerichtshöfe gegenüber der Krone in der sog. affaire de Bretagne577 ihren konfrontativen Höhepunkt erreichen, versucht der König, mit einem Plädoyer für die absolute Souveränität seine Autorität durchzusetzen. Voltaire, der die Rede mit Begeisterung aufnimmt, kommentiert in einem Brief an Damilaville emphatisch: „Vous m’avez fait un très beau présent en m’envoyant la réponse du roi au parlement. Il y a longtemps que je n’ai rien lu de si sage, de si noble et de si bien écrit.“578 Sein Lob zielt dabei weniger auf die rhetorischen Qualitäten der Rede als auf ihr pro-absolutistisches Argument ab, das seine persönliche monarchistische Einstellung579 abbildet. Denn wo der König die anti-absolutistische Tendenz der union 575 Vogel 2006, S. 205 f. 576 Ebd., S. 209. 577 Hintergrund dieser ‚Affäre‘ ist die bereits erwähnte von Choiseul initiierte Reform des Finanzund Steuersystems, die von den Gerichten vehement blockiert wird. Obwohl Ludwig XV. dem Widerstand 1763 nachgibt und die Reformpläne deutlich abmildert, setzt das bretonische parlement mit besonderer Hartnäckigkeit seinen Widerstand fort: Im Mai 1765 legt die Mehrheit seiner Richter ihr Amt nieder, weshalb das Gericht seine Arbeit faktisch einstellen muss. Dessen Präsident, La Chalotais, wird daraufhin inhaftiert. Angesichts der verhärteten Fronten wird die anschließende Rede des Königs in der Politikgeschichte als Appeasement wahrgenommen. Für eine ausführliche Darstellung siehe Beaurepaire 2011, S. 473–482. 578 Brief vom 12. März 1766, Inventarnummer D13206, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 114. 579 Diese Überzeugung wird im Folgenden mit dem Begriff der thèse royale bezeichnet. Lassen sich unter diesem Oberbegriff im 17. und 18. Jahrhundert verschiedene pro-monarchistische Herrschaftstheorien gruppieren, entspricht Voltaires Position am ehesten der eines „constitutional absolutism“ (Gay 1959, S. 315) und ist das Resultat seines politischen Pragmatismus. Siehe näherhin

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des classes mit der den ordre public garantierenden Autorität seiner Person kontert,580 trifft sein Plädoyer die Überzeugung Voltaires – wenngleich dessen Befürwortung der thèse royale, die in der Forschung als pragmatischer Ausweg interpretiert worden ist,581 nicht zuletzt auf seiner pessimistischen Einschätzung gegenüber dem peuple beruht.582 Voltaires Hoffnungen auf eine Stärkung der königlichen Autorität bleiben indes unerfüllt. Bei Beaurepaire findet sich die Einschätzung, dass die Rede gar einen gegenteiligen Effekt produziert habe, indem sie die oppositionellen Ambitionen zusätzlich befeuert habe: „Le pouvoir royal finit toujours par reculer.“583 Angesichts einer schwächelnden Position der Krone gegenüber den in ihrer Oppositionshaltung vereinten parlements erscheint Voltaires Metapher der jansenistischen Richter-Wölfe in einem Licht, das über den Verwendungskontext des La Barre-Prozesses hinaus scheint. Der Kampf gegen die Einflussnahme religiöser Entitäten auf das Strafrecht, auf den sich Voltaires Engagement für La Barre in nuce reduzieren lässt, fügt sich ein in eine umfassende staatstheoretische Reflexion, die im Zeichen der thèse royale steht. Sind für den ‚konstitutionellen Absolutisten‘ die parlements im 18. Jahrhundert Synonym für eine anti-absolutistische Opposition und werden sie zudem als Betätigungsfeld des parti janséniste wahrgenommen, so wird der Jansenismus selbst für Voltaire zum Symbol einer Gefährdung der absolutistischen Ordnung. Dies ist der politikgeschichtliche Kontext, auf den Voltaire anhand der jesuitischen Figurengruppe in L’Ingénu satirisch Bezug nimmt. Dass mittels der fiktionalen Jesuitendarstellung auch den Eintrag ‚Monarchie‘ in: Trousson/Vercruysse 2003, S. 830 f. Zu einigen Argumenten der thèse royale siehe ebenfalls Spitz, Jean-Fabien, „Une archéologie du jacobinisme: quelques remarques sur la ‚thèse royale‘ dans la seconde moitié du 18e siècle“, in: Dix-huitième siècle 39 (2007), S. 385–414. 580 „Je ne souffrirai pas qu’il se forme dans mon royaume une association qui ferait dégénérer en une confédération de résistance le lien naturel des mêmes devoirs et des obligations communes; ni qu’il s’introduise dans une monarchie un corps imaginaire, qui ne pourrait qu’en troubler l’harmonie. […] Comme s’il était permis d’oublier, que c’est en ma personne seule, que réside la puissance souveraine dont le caractère propre est l’esprit de conseil, de justice et de raison; que c’est de moi seul que mes cours tiennent leur existence et leur autorité; que la plénitude de cette autorité, qu’elles n’exercent qu’en mon nom, demeure toujours en moi, et que l’usage n’en peut jamais être tourné contre moi; que c’est à moi seul qu’appartient le pouvoir législatif sans dépendance et sans partage; […]; que l’ordre public, tout entier, émane de moi; que j’en suis le gardien suprême; que mon peuple n’est qu’un avec moi; et que les droits et intérêts de la nation, dont on ose faire un corps séparé du monarque, sont nécessairement unis avec les miens et ne reposent qu’en mes mains.“ (Discours dit de la Flagellation prononcé au nom de Louis XV devant toutes les chambres du parlement de Paris assemblées le 3 mars 1766, zitiert nach Beaurepaire 2011, S. 480 f.) 581 Siehe neben Gay 1959, S. 309–340, auch Taylor 1967, S. 131–133. 582 Vgl. hierzu den Eintrag ‚Patrie‘ in Voltaire, Dictionnaire philosophique, OCV, Bd. 36, S. 411–415, dort insbes. S. 415: „Comment donc est-il possible que presque toute la terre soit gouvernée par des monarques? demandez-le aux rats qui proposèrent de pendre une sonnette au cou du chat. Mais en vérité, la véritable raison est, comme on l’a dit, que les hommes sont très rarement dignes de se gouverner eux-mêmes.“ 583 Beaurepaire 2011, S. 481. Tatsächlich lenkt der König auch in der bretonischen Angelegenheit ein: 1769 werden die zurückgetretenen Magistraten begnadigt und erhalten ihr Amt zurück.

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ein Zusammenhang des aktualen Politikgeschehens kommuniziert wird, der zudem staatstheoretische Implikationen besitzt, setzt leserseitig einen zweigliedrigen Verstehensprozess voraus, der im Folgenden skizziert werden soll. Primäre Grundlage des jesuitisch-jansenistischen Kommunikationszusammenhangs in L’Ingénu ist zunächst der obsolete Charakter der dargestellten jesuitischen Konstellation. In Anbetracht der zeitlichen Nähe der Textpublikation zum Verbot des Jesuitenordens sowie des durch Letzteres verursachten Medienechos ist von einem Bewusstsein des zeitgenössischen Lesers für die fehlende Aktualität des Dargestellten auszugehen. Da der genannte Leser jedoch bereits anhand anderer Elemente der fiktionalen Welt Facetten seiner zeitgenössischen Wirklichkeit identifizieren konnte, ist er auch im Fall der Jesuiten angehalten, einen Bezug zu einer strukturäquivalenten Situation der aktuellen Realität herzustellen. Diese Strukturanalogie ergibt sich im Hinblick auf die Funktion der religiösen Gruppierungen innerhalb der jeweiligen (fiktiven respektive realen) politischen Konstellation. In der Fiktion kristallisiert sich anhand der durch die Abwesenheit des Königs buchstäblich entstandenen Leerstelle in der Machtkonfiguration der Monarchie, die durch die Position der fiktiven Jesuiten funktional gefüllt wird, eine Situation der geschwächten Souveränität des Monarchen heraus. Die Absenz des Herrschers wird durch die überproportionale Präsenz einer religiösen Fraktion substituiert. Steht in der Fiktion folglich die Souveränität des (nominell) absoluten Herrschers auf dem Prüfstand, so findet sich der Leser inmitten einer staatstheoretischen Debatte wieder, die vonseiten der realen parlements aktuell unter dem Schlagwort der union des classes geführt wird. Als Wortführer dieses Diskurses treten wiederum jansenistische Juristen auf, die ihre Argumente einer als parti janséniste wahrgenommenen oppositionellen Gruppierung in den Gerichten überlassen. In beiden Fällen – in der Fiktion wie auch in der politischen Wirklichkeit – verbindet sich daher eine religiöse Fraktion mit einem politischen Diskurs über den Absolutismus. Der Transfer von der fiktionalen Jesuitenkonstellation auf diese reale jansenistische Interessensgemeinschaft wird dabei dadurch erleichtert, dass Jesuiten und Jansenisten im religionspolitischen Kontext des 17. und 18. Jahrhunderts bevorzugt in agonaler Abgrenzung auftreten und dadurch untrennbar verbunden erscheinen.584 Hinsichtlich ihrer staatstheoretischen Implikationen erscheinen die fiktiven Jesuiten um 1690 sowie der reale parti janséniste der 1750–1760er Jahre als zwei Seiten einer Analogiebildung,585 die sich bildhaft in der Fuchs-Wolf-Metapher niederschlägt. Als ‚hündische‘ Verwandte repräsentieren beide religiösen Gruppierungen in unterschied584 Vogel 2006, S. 35, betont etwa, dass sich der ‚zweite‘ Jansenismus im 18. Jahrhundert über ein identitätsstiftendes Erinnerungsnarrativ konstituierte, das seine Geschichte als Verfolgung der ‚ersten‘ Jansenisten durch die Jesuiten rekonstruierte. 585 Für eine Analogie der Jesuiten um 1690 und der Jansenisten um 1760 argumentiert auch Pruner 1960, S. 36–38. Es fehlt jedoch eine Differenzierung ihres jeweiligen ontologischen Status (als Element der Fiktion respektive der realen Welt) bzw. der ihnen jeweils unterliegenden kommunikativen Handlung.

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licher Weise eine das ideale absolutistische Ordnungsgefüge schwächende Tendenz. Dass Voltaires Metaphernspiel die Jansenisten im Vergleich mit ihren jesuitischen Pendants dennoch als größere Bedrohung markiert, erklärt sich aus ihrer jeweiligen Position im Organigramm des Ancien Régime. Während Voltaire die politische Macht der Jesuiten ursächlich an ihr bloßes – und theoretisch widerrufbares – Privileg der königlichen Beichtabnahme bindet, ist die Möglichkeit der politischen Einflussnahme im Fall der jansenistischen Magistraten kraft ihres Amtes sanktioniert. Nicht zuletzt steht ihnen hierdurch der Zugang zu ebenjenem droit de remontrance offen, auf dem der Konflikt der Krone mit den parlements ausgetragen wird. Gleichzeitig ergibt sich aus der offiziell sanktionierten Position der jansenistischen Richter neben der eher abstrakten Gefahr für die absolutistische Ordnung auch eine konkrete Bedrohung für den citoyen. Es soll nun im Folgenden gezeigt werden, dass auch diese Dimension der Wolfsmetapher in L’Ingénu entfaltet wird, und zwar anhand des zentralen Handlungsthemas: der Verfolgung. 3.5 Verfolgung als Resultat der politischen Konstellation Mit der staatlichen Verfolgung der Hugenotten in der Folge der Révocation de l’édit de Nantes sowie der Inhaftierung der Jansenisten wurde bereits das Leitmotiv von L’Ingénu gestreift. Dass neben den protestantischen und jansenistischen Kollektiva auch sämtliche Protagonisten in L’Ingénu – Hercule, Mademoiselle de Saint-Yves, Gordon – in eine Situation der politischen oder persönlichen Verfolgung involviert sind, lässt ‚Verfolgung‘ als handlungsstrukturierende Konstante des Romans erscheinen. Ausgehend von unserer Analyse der in L’Ingénu präsentierten politischen Konstellation soll diese Handlungsstruktur nun auf ihre Bedeutung für das politische enjeu des Textes – die thèse royale – hin befragt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass zwischen der politischen Struktur und dem Handlungsmotiv ‚Verfolgung‘ eine kausale Relation besteht – und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine staatlich orchestrierte Kollektivverfolgung ( Jansenisten, Hugenotten) oder um eine individuelle Situation (die sexuelle Erpressung der Mademoiselle de Saint-Yves) handelt. Die leitende These lautet daher, dass Voltaire die strukturelle Natur der Verfolgung markiert und auf diese Weise neben den Einzelelementen der gezeichneten politischen Verhältnisse auch die Handlung von L’Ingénu in den Dienst einer Apologie auf das absolutistische Staatsprinzip stellt. In dieser Perspektive fungieren die bereits analysierten Einzelaspekte der politischen Situation – Beamtenapparat, lettre de cachet, säkulare Machtansprüche religiöser Institutionen –, die zeichenhaft auf einen abwesenden Monarchen verweisen, als Ermöglichungsstrukturen der jeweiligen Konstellationen von Verfolgung. Doch der Komplex ‚Verfolgung‘ ermöglicht in L’Ingénu nicht nur die Verschränkung einer Handlungsstruktur mit einer Staatstheorie; als topisches Element des empfindsamen Diskurses wirft das Motiv ‚Verfolgung‘ auch ein neues Licht auf die viel disku-

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tierte narrative Gestalt des Textes. Empfindsame Strukturen dienen in L’Ingénu der Diskursivierung einer politischen Parteinahme. Auf die spezifische Perspektivierung von ‚Verfolgung‘ im empfindsamen Diskurs und die Verwendung in Voltaires Roman ist in Abschnitt 3.5.2. zurückzukommen. Zunächst sind die politischen Implikationen des Themas näher in den Blick zu nehmen und hierzu in einem ersten Schritt darzulegen, wie der Text in rezeptionslenkender Weise auf einen historischen Fall von politischer Verfolgung Bezug nimmt. 3.5.1 Der Fall Quesnel als Rezeptionslenkung Bereits das Titelblatt der Originalausgabe von 1767586 erhebt das Verfolgungsthema zum Programm. In seinem Untertitel – Histoire véritable, Tirée des Manuscrits du Père Quesnel –, dem in Textanalysen bisher wenig Interesse zuteilgeworden ist, stellt Voltaires Roman mit der Person Pasquier Quesnels (1634–1719) einen Bezug zu einer konkreten Situation religionspolitischer Verfolgung her, die prominent für eine antijansenistische Tendenz der Politik im Ancien Régime steht. Der jansenistischen Doktrin verdächtigt, ist die 1692 publizierte Schrift Le Nouveau Testament en français avec des Réflexions morales sur chaque verset des Oratorianers Quesnel Anlass der seither zum Synonym des Jansenismuskonflikts avancierten päpstlichen Bulle Unigenitus (1713).587 Aufgrund der Kausalbeziehung von Quesnels Schrift und der berühmten Bulle, mittels derer die Repressionen gegenüber jansenistischen Priestern und Gläubigen höchstoffiziell legitimiert werden, ist von der Bekanntheit Quesnels in Voltaires informierter Leserschaft auszugehen. So sehr der Verweismodus im Untertitel des Romans sowie der Hinweis auf etwaige Verfassermanuskripte auch Ähnlichkeiten zu den in der Narrativik des 18. Jahrhunderts verbreiteten Beglaubigungsstrategien aufweisen, so geht die Quesnel-Referenz in seiner thematischen wie ideologischen Bedeutung doch weit über diese Funktion hinaus. Vielmehr fungiert sie als programmatische Einleitung, die das erzählte Geschehen bereits auf einer peritextuellen Ebene in einen historischen Kontext institutioneller Verfolgung einschreibt. Dass Quesnel für Voltaire jedoch noch mehr ist als lediglich ein prominenter Repräsentant der kollektiv verfolgten Jansenisten innerhalb des jesuitisch-jansenistischen Konflikts, ergibt sich aus seiner Interpretation der politischen Hintergründe der Bulle Unigenitus. In Le Siècle de Louis XIV beurteilt Voltaire den jansenistischen Theologen vornehmlich als Opfer der jesuitischen Machenschaften am Hof und speziell des seit 1709 amtierenden königlichen Seelsorgers Le Tellier. Quesnel erscheint hier als bloßes Bauernopfer einer politischen Intrige, deren eigentliches Ziel der Pariser Erzbischof de

586 Siehe Voltaire, L’Ingénu, S. 158. 587 s. v. ‚Quesnel‘, in: Bluche 1990, S. 1288 f.

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Noailles gewesen sei. Dieser hatte Quesnels später verbotene Réflexions morales nach deren Erscheinen zunächst offiziell gelobt.588 Da de Noailles seinerseits die Verurteilung einer Schrift aus der Feder Le Telliers vorangetrieben habe, stelle das durch Le Tellier erwirkte Verbot der von de Noailles empfohlenen Réflexions morales de facto eine Infragestellung des erzbischöflichen Urteils und letztlich eine persönliche Erniedrigung dar.589 In Voltaires Interpretation der Zusammenhänge wird Quesnel folglich als Opfer einer persönlichen Fehde innerhalb der höfischen und kirchlichen Machtpolitik präsentiert.590 In seinem Namen bündeln sich daher zwei Aspekte: Zum einen repräsentiert Quesnel als Jansenist eine Situation der kollektiven Verfolgung; seine individuellen Repressionen werden jedoch als Ergebnis einer persönliche Intrigen begünstigenden machtpolitischen Konstellation ausgewiesen. Mit dem programmatisch vorangestellten Jansenisten fokussiert Voltaire in L’Ingénu, so die These, eine spezifische Ermöglichungsstruktur von Verfolgung, die sich systemisch aus der politischen Gesamtlage herleitet. Diese bereits in der Verfasserfiktion des Untertitels angelegte Grundstruktur lässt sich anhand der verschiedenen Situationen von Verfolgung in L’Ingénu nachvollziehen, die nun im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Satire separat erörtert werden sollen. 3.5.2 Von Füchsen und Wölfen II: Jesuiten und Jansenisten als Verfolger und Verfolgte L’Ingénu greift mit den Figurengruppen ‚Hugenotten‘ und ‚Jansenisten‘ zwei historische Situationen kollektiver politischer Verfolgung im 17. und 18. Jahrhundert auf. Gemeinsam sind diesen Kollektiva in der Fiktion zwei Aspekte ihrer erzählerischen Repräsentation. Zum einen beruht ihre Einführung in die erzählte Welt maßgeblich auf ihrem Status als Verfolgte, wobei dieser Status jeweils das erste dem Leser kommunizierte Merkmal darstellt. In beiden Fällen findet die Begegnung des Protagonisten Hercule mit Vertretern dieser Gruppen in einem Kontext statt, der sich aus ihrer staatlichen Verfolgung ergibt: Das Bild der Hugenotten wird zunächst von dem verlassenen Eindruck der protestantischen Traditionsstadt Saumur sowie den von dort fliehenden

588 Vgl. Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 1077 f.: „Les jésuites engagèrent le roi lui-même à faire demander à Rome la condamnation du livre. C’était en effet faire condamner le cardinal de Noailles, qui en avait été le protecteur le plus zélé. On se flattait avec raison que le pape Clément XI mortifierait l’archevêque de Paris.“ 589 Vgl. ebd., S. 1078: „Il [Le Tellier] avait à venger ses injures particulières: les jansénistes avaient fait condamner à Rome un de ses livres sur les cérémonies chinoises, il était mal personnellement avec le cardinal de Noailles, et il ne savait rien ménager.“ 590 Diese Einschätzung deckt sich teilweise mit dem Handbucheintrag zu Michel Le Tellier im Dictionnaire du Grand Siècle, in dem Quesnels Anklage und die mit ihr verbundene Forderung nach einem hoheitlichen Verbot der Jansenisten ebenfalls auf das ausgeprägte Engagement des königlichen Beichtvaters zurückgeführt wird; siehe Bluche 1990, S. 863–866.

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protestantischen Familien regiert;591 der „vieux solitaire de Port-Royal“592 wiederum erwartet Hercule in seiner Zelle in der Bastille. Obwohl es sich um Gruppierungen religiöser Ordnung handelt, erfolgt ihre theologische Charakterisierung erst in einem zweiten Schritt, nachdem ihr Verfolgungsstatus etabliert wurde. In L’Ingénu sind Protestanten und Jansenisten daher in erster Linie Verfolgte. Die zweite Gemeinsamkeit liegt in der erzählerisch konstruierten Ursächlichkeit dieser Verfolgungssituationen. Wie bereits gesehen, erhebt Hercules hugenottischer Gesprächspartner den Vorwurf gegen den Jesuiten La Chaise, für die Aufhebung der Religionsfreiheit verantwortlich zu zeichnen,593 und unterstellt ihm dabei, das Interesse von König und Nation seinem persönlichen Interesse bzw. der Politik des Jesuitenordens unterzuordnen. Auf ebendiesen La Chaise referiert auch der Jansenist Gordon, als er den Grund seiner Inhaftierung rekonstruiert: „Nous croyons que le pape n’est qu’un évêque comme un autre, et c’est pour cela que le père de La Chaise a obtenu du roi son pénitent un ordre de me ravir, sans aucune formalité de justice, le bien le plus précieux des hommes, la liberté.“594 Das schon von dem Hugenotten vorgetragene Argument wird hier reproduziert: Seine Position an der Seite des Königs ermöglicht es La Chaise, theologischen – und d. h. hier: den Prinzipien der Jesuiten widerstrebenden – Nonkonformismus mit politischen Repressionen zu bestrafen. Religiöse und politische Sphäre verbinden sich in der Person des confesseur du roi. Dass die fiktiven Vertreter des Protestantismus und des Jansenismus denselben Vorwurf gegen den in Versailles repräsentierten Jesuitenorden erheben, bindet die Situationen staatlicher Verfolgung ursächlich an eine politische Konstellation, die in der institutionellen Verflechtung einer religiösen Fraktion (hier: der Gesellschaft Jesu) mit dem politischen Apparat des Ancien Régime besteht. Ohne die politische Einflussnahme des jesuitischen Interessensvertreters an der Seite des Königs, so die implizite Schlussfolgerung, wäre das Toleranzedikt weiterhin in Kraft und die theologischen Differenzen zwischen Jesuiten und Jansenisten blieben auf ihren theoretischen Ursprungsdiskurs beschränkt. Die Relation von Jesuiten und dem Herrschaftsapparat in L’Ingénu, die bereits Gegenstand des Abschnittes 3.4.3. war, lässt sich nun im Hinblick auf die Konstellationen politischer Verfolgung konkretisieren. Nicht nur hinsichtlich ihrer Präsenz – als Element der Textoberfläche wie auch im Personal des fiktionalen Versailles – ersetzen die Jesuiten den König. Dass die einzigen in der histoire evozierten innenpolitischen Maßnahmen dem religionspolitischen Einfluss des La Chaise zugesprochen werden, wohingegen die Entscheidungsbeteiligung des Königs gewissermaßen negiert wird, lässt in L’Ingénu auch eine politische Substitution der königlichen Souveränität durch 591 592 593 594

Voltaire, L’Ingénu, S. 240. Ebd., S. 249. Ebd., S. 243. Ebd., S. 255.

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den religiösen Vertreter konstatieren. Verfolgung resultiert in Voltaires Roman nicht allein aus der bloßen politischen Involvierung religiöser Fraktionen, sondern daraus, dass diese ein durch die Absenz des Königs entstehendes Machtvakuum substituieren. Verfolgungsthematik und thèse royale sind daher logisch miteinander verbunden: Die Verfolgung von Glaubensgemeinschaften wird in L’Ingénu unmittelbar aus einer politischen Situation abgeleitet, die als Negativexemplum für die schädlichen Entwicklungen eines nur noch nominell absolutistischen Staatssystems steht. Paradoxerweise erscheinen somit ausgerechnet die Konstellationen von Verfolgung als Rechtfertigung für eine zentral-absolutistische Staatsführung. Dass die Machtposition des La Chaise bezeichnenderweise dort zum ersten Mal Erwähnung findet, wo auch erstmalig eine Situation politischer Verfolgung – hier: der Hugenotten – evoziert wird, trägt diesem Konnex von pro-absolutistischer Staatstheorie und Verfolgungsthematik Rechnung. Ausgehend von dem Zusammenhang von fiktionaler Jesuitenkonstellation und thèse royale konnten wir in den vorangehenden Abschnitten eine satirische Analogiebildung rekonstruieren, die auf einer funktionalen Ähnlichkeit der politischen Repräsentationsformen der fiktionalen Jesuiten einerseits sowie der realen zeitgenössischen Jansenisten andererseits beruht. Es gilt nun darzulegen, dass auch die Verfolgungsthematik in L’Ingénu dieser Analogiebildung zuarbeitet. Hierfür ist das Verhältnis der Parteien ‚jesuitische Verfolger‘ und ‚jansenistische Verfolgte‘ genauer in den Blick zu nehmen. Die in L’Ingénu kreierte Fiktion gibt zunächst vor, am Beispiel eines Einzelschicksals – des inhaftierten Jansenisten Gordon – eine historisch dokumentierte Situation des ausgehenden 17. Jahrhunderts nachzubilden. L’Ingénu gibt sich mit seiner Datierung (siehe oben 3.3.1.) den Anschein einer historisch wahrscheinlichen Fiktion und präsupponiert auf diese Weise, dass um 1690 realiter eine staatliche Verfolgung der Jansenisten stattgefunden habe. Bekanntlich bilden Jesuiten und Jansenisten die zwei Parteien einer historischen Oppositionsbeziehung, welche die Gesellschaft des Ancien Régime in changierender Rollenverteilung bis weit in das 18. Jahrhundert hinein prägte. Und fraglos ist auch die von Voltaire abgebildete Periode am Ende des 17. Jahrhunderts von diesem agonalen Stellungskrieg nicht ausgenommen. Dennoch lohnt es sich hier, einen genaueren Blick auf diesen Zeitabschnitt zu richten. Die (politisch motivierte) Verhaftung des Abbé de Saint-Cyran durch Richelieu im Jahr 1638 markiert den Beginn der Repressionen jansenistischer Glaubensanhänger, die im Prinzip bis zur Mitte des nachfolgenden Jahrhunderts andauern und in der Zerstörung des Klosters Port-Royal des Champs (1709–1711) sowie der Bulle Unigenitus (1713) kulminieren.595 Sicherlich haben die jansenistische Tendenz zur Individualisierung des 595 Ich beziehe mich für das Resümee des innerkatholischen Konflikts im 17. und 18. Jahrhundert auf folgende Überblickswerke: Lemma ‚Jansénisme‘, in: Dictionnaire de l’Ancien Régime. Royaume de France XVIe–XVIIIe siècle, hg. v. L. Bély, Paris 1996, S. 684–686; ‚Jansénisme‘, in: Dictionnaire de l’Histoire de France, hg. v. J.-F. Sirinelli u. D. Couty, 2 Bde., Paris 1999, Bd. 1, S. 815–817; ‚Jansénisme‘, in: Bluche 1990, S. 778–782; sowie Beaurepaire 2011.

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Gläubigen596 sowie die personelle Überlappung von Jansenismus und Fronde597 zur repressiven Politik der Regierung gegenüber dem Jansenismus beigetragen. Zweifelsohne verbindet sich für den König mit der neuen Glaubensfraktion nicht zuletzt eine oppositionelle Bedrohung. Noch 1730, als Ludwig XV. die jansenismusfeindliche Bulle Unigenitus zur loi du royaume erklärt, bestimmt der innerkatholische Konflikt das Politikgeschehen und stellt so seine staatstragende Dimension unter Beweis. In Anbetracht dieser augenscheinlichen Kontinuität antijansenistischer Maßnahmen zwischen 1638 und 1730 ist nun allerdings ein Detail zu berücksichtigen, das in der Forschung zu L’Ingénu bisher vernachlässigt worden ist: Ausgerechnet der von Voltaire gewählte Zeitausschnitt stellt in der Jansenismuspolitik Ludwigs XIV. eine Ausnahme dar. Denn angesichts eines drohenden Schismas der katholischen Kirche hatte Papst Clemens IX. 1668 den sog. Kirchenfrieden verkündet, der offiziell bis 1701/1702 Bestand hat. Zwar ist dieser Frieden ab 1679 in gewissem Maße zu relativieren.598 Dennoch ist die historische Wirklichkeit antijansenistischer Politik im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts offensichtlich komplexer, als die fiktionale Darstellung dieses Zeitraumes in L’Ingénu es vermuten lässt. Eine systematische Inhaftierungspolitik, wie sie von Gordons lapidarer Antwort auf die Frage nach dem Grund seines embastillement suggeriert wird – „Je passe pour janséniste“599 – und die auf das Jahr 1687 zu datieren wäre,600 erscheint vor dem Hintergrund der päpstlichen Friedensvorgabe mindestens unwahrscheinlich. Indes belegt Voltaires Le Siècle de Louis XIV, dass der historiographe du roi mit den komplexen Einzelheiten des Katholikenstreits während der betreffen-

596 Für eine Zusammenfassung der jansenistischen Gnadenlehre, der aus ihr resultierenden Moralphilosophie sowie ihrer Wahrnehmung seitens der Staatsgewalt siehe Deregnaucourt, Gilles / Poton, Didier, La Vie religieuse en France au XVIe, XVIIe, XVIIIe siècles, Paris 1995, S. 113–117. 597 Vgl. Beaurepaire 2011, S. 40: „De fait, le jansénisme capte l’ancienne clientèle de la Ligue et de la Fronde religieuse.“ Auch Lucien Goldmann konstatiert in seiner bekannten These eine ideologische Nähe der jansenistischen Individualisierungstendenz, wie sie idealtypisch in der spirituellen retraite der sog. solitaires de Port-Royal zum Ausdruck kommt, einerseits und der politischen Fronde andererseits. Goldmann situiert das Aufkommen der jansenistischen Lehre im Rahmen der von Ludwig XIV. vorangetriebenen administrativen Restrukturierung, im Zuge derer die Funktionen des alten Schwertadels durch eine neuartige noblesse de robe ersetzt werden. Die seitens des frühen Jansenismus gepriesene retraite wird dabei als spirituelle Alternative zur politischen Opposition der Fronde interpretiert. Für eine Zusammenfassung der These siehe Goldmann 1959, S. 155 f. Ohne auf Goldmanns oftmals kritisierte marxistische Orientierung näher einzugehen, bleibt für den vorliegenden Zusammenhang doch festzuhalten, dass er den Jansenismus erstens mit der politischen Opposition der Fronde assoziiert und diese Beziehung zweitens mit genau jenem Entstehen eines bürokratischen Staatskonstrukts begründet, das auch in L’Ingénu Objekt satirischer Darstellung ist. Dass auch für Voltaires Text ein Konnex aus Bürokratieentwicklung, Jansenismus und Opposition der Magistraten mitzudenken ist, wenn auch unter anderen Vorzeichen, wurde in den vorangehenden Abschnitten dargelegt. 598 Deregnaucourt/Poton 1995, S. 172; sowie s. v. ‚Paix de l’Église‘, in: Bluche 1990, S. 1139. 599 Voltaire, L’Ingénu, S. 255. 600 Diese approximative Datierung ergibt sich aus Gordons Angabe, seit zwei Jahren inhaftiert zu sein (siehe ebd.).

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den Periode durchaus vertraut war. Nicht nur wird die paix clémentine in Voltaires Zusammenfassung der Ereignisse explizit erwähnt,601 es wird zudem auf die Freilassung der bis dato inhaftierten Jansenisten als unmittelbare Folge der päpstlichen Befriedung hingewiesen.602 Voltaires Fiktion unterscheidet sich in diesem Punkt merklich von seiner eigenen historiographischen Einschätzung. Wie ist der anachronistische Verweis auf eine antijansenistische Politik in L’Ingénu also zu erklären? Es lohnt hier ein Blick in den Entstehungsprozess des Textes. Ein Unikum603 innerhalb seines Werkes ist eine in St. Petersburg entdeckte Skizze, die über Voltaires Arbeit an L’Ingénu Aufschluss gibt. Diese Skizze unterscheidet sich nicht nur thematisch von der finalen Version, sie verortet die Handlung zudem in einer späteren Dekade. Ich zitiere den kurzen St. Petersburger Text zur Verdeutlichung in seiner Gesamtheit: Histoire de l’ingénu, élevé chez les sauvages, puis chez les anglais, instruit dans la rellig en basse bretagne [,] tonsuré, confessé, se battant avec son confesseur [.] Son voyage a versailles chez le frere letellier son parent [.] volontaire deux campagnes sa force incroiable [.] son courage [,] veut etre cap de cav [,] etonné du refus. Se marie, ne veut pas que le m soit un sacrement, trouve tres bon que sa femme soit infidele parce qu’il l’a eté. Meurt en deffendant son pays, un capitaine anglais lassiste ala mort avec un jesuite et un janseniste, il les instruit en mourant.604

Thematisch wie zeitlich wurde der Text sichtbar neu perspektiviert: René Pomeau weist zurecht darauf hin, dass die in dem Fragment skizzierte Handlung dem zeitgenössisch beliebten Schema eines „voyage en Europe d’étrangers plus ou moins primitifs“605 folgt, während der politische Akzent der Finalversion fehlt. Die Erwähnung von Michel Le Tellier, der 1709 die Nachfolge von La Chaise in der Position des confesseur du roi antritt, verortet die Handlung zudem im Zeitraum 1709–1715, folglich in der Zeit von Unigenitus und der vorausgehenden Zerstörung von Port-Royal des Champs. Handelt es sich bei der Periode 1709–1715 also um die Hochphase der jansenistischen Verfolgung im Ancien Régime, so scheint sie für die Fiktion eines wegen seiner Glaubenszugehörigkeit inhaftierten Jansenisten objektiv besser geeignet als der gewählte Zeitraum der Finalversion. Die Möglichkeit, Voltaire könnte bei der Neuorientierung

601 Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, S. 1072–1074. 602 Ebd., S. 1073. Zwar formuliert auch Voltaire hinsichtlich der tatsächlichen Durchsetzung des offiziellen Friedensgebots vorsichtig: „La paix de Clément IX ayant été donné à des esprits peu pacifiques, qui étaient tous en mouvement, ne fut qu’une trêve passagère. Les cabales sourdes, les intrigues et les injures continuèrent des deux côtés.“ (Ebd.) Beschrieben werden hier jedoch mehr inoffizielle Intrigen denn systematische Verhaftungen. Im Einklang mit der modernen Geschichtsschreibung betrachtet Voltaire daher erst den cas de conscience von 1702 als Ende der Friedensperiode (vgl. ebd., S. 1074). 603 Francis in Voltaire, L’Ingénu, S. 2. 604 Zitiert nach Voltaire, L’Ingénu, S. 3; Orthographie wie im Original. 605 Siehe die Einleitung zu L’Ingénu, in: Voltaire, Romans et contes, hg. v. R. Pomeau, Paris 1966, S. 318.

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des Textes schlicht ein Lapsus unterlaufen sein, wobei er Fiktion und historischen Kontext hinsichtlich der paix clémentine ungenügend aufeinander abgestimmt hätte, ist daher nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Ebenso könnte er den Anachronismus gegenüber der priorisierten zeitlichen Neuverortung billigend in Kauf genommen haben oder ihn sogar in bewusster Absicht platziert haben. Ohne eine abschließende Entscheidung über die Intentionalität der anachronistischen Darstellung zu fällen, lassen sich dennoch die generellen Vorteile bzw. die Eignung des final gewählten Zeitraumes innerhalb der satirischen Kommunikationsstrategie benennen. Die zeitliche Neuverortung des Textes lässt sich nicht unabhängig von der thematischen Verschiebung betrachten. Im Gegenteil: Der politische Akzent der Finalversion gibt die Wahl des Referenzzeitraums gleichsam vor. Wie zu Beginn unserer Textanalyse bereits betont, besteht das für die Kontextualisierung der Fiktion maßgebliche Datum in der Jahreszahl 1685, dem Jahr der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes. Dass Voltaire sich gegen die Periode Le Telliers und für diejenige seines Vorgängers La Chaise entscheidet, ermöglicht es ihm daher, auf einen Kontext zu referieren, der von der erst jüngst wiedererstarken Protestantenverfolgung geprägt ist. Es lässt sich diese für das Jahr 1689 hochaktuelle Verfolgungspolitik zudem mit seiner Interpretation einer historischen politischen Konstellation verbinden, die als für diese Situation verantwortlich ausgewiesen wird. Indem Voltaire die Namen La Chaise und Louvois mit dem politischen Ereignis der Révocation und ihren Folgen verbindet, repräsentieren sie in idealtypischer Weise die Verwobenheit von religiöser und politischer Sphäre im Versailles des Ancien Régime. Allein aufgrund der von Voltaire – in Fiktion und Historiographie – interpretierten Urheberschaft der Révocation verweist diese in seinen Schriften stets ideologisch auf eine pro-absolutistische Staatstheorie. Aus diesem staatstheoretischen Fundament haben wir in vorigen Abschnitten eine Analogiebildung hergeleitet, welche die öffentlich als parti janséniste wahrgenommene Opposition der parlements der 1760er Jahre in ein Ähnlichkeitsverhältnis zum politischen Engagement des La Chaise und der Jesuiten setzt. Festhalten lässt sich folglich, dass die satirische Analogiebildung in L’Ingénu maßgeblich auf der politischen Konstellation der für die Fiktion final gewählten Periode gründet. Eine historisch korrekte Darstellung der Jansenistenverfolgung ist dem Primat dieser Analogiebildung nachgeordnet. Weil L’Ingénu eben kein historiographischer, sondern ein fiktionaler Text ist, ist der entstehende Anachronismus zum einen durch die komplexitätsreduzierenden Freiheiten der Fiktion legitimiert. Zum anderen ist er aber auch kommunikativ relevant, indem er den historisch informierten Leser auf die temporale (A-)Logik des Textes aufmerksam macht und so als Satiresignal wirksam wird. Der anachronistische Zusammenhang lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers dabei nicht nur auf die allgemeine Zeitstruktur des Textes, sondern insbesondere auch auf das involvierte Figurenpersonal, die Jansenisten. Denn Voltaires zeitgenössischer Leser vollzieht auf der Grundlage der fiktionalen Kombination von Jansenismus und Verfolgung gewissermaßen zwangsläufig eine

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Sinnbildung, die sich auf die hochaktuelle Relevanz der jansenistischen Fraktion im gesellschaftlichen Kontext der 1760er Jahre beruft – eine Relevanz, mithin, die in Voltaires Metapher der jansenistischen Wölfe transportiert wird. Die satirische Analogie des Textes lässt sich an dieser Stelle erweitern: Nicht nur hinsichtlich ihrer Inanspruchnahme der politischen Sphäre und ihrer Schwächung des absolutistischen Herrschaftsprinzips ähneln sich die jesuitischen Füchse und die jansenistischen Wölfe. Der parti janséniste begründet, so Voltaire, ebenfalls eine Rechtsprechungspraxis, die in Analogie zur Verfolgung der Hugenotten durch ‚die Jesuiten‘ zu denken ist. Doch im Unterschied zu Letzteren seien die Jansenisten gar „devenus plus persécuteurs et plus insolents“.606 Nonkonformistische Tendenzen werden von den Richtern – jenen „assassins en robes“607 – mitunter mit dem Tode bestraft. Neben den berühmten protestantischen Opfern dieser religiös-‚fanatischen‘ Rechtsprechungspraxis (Calas, Sirven) geraten vermeintliche Häretiker aller Art (wie La Barre) und Freidenker (die philosophes) ins Visier der parlements. Voltaires Engagement liegt somit auch in seinem persönlichen Bedrohungsgefühl angesichts einer Politik des Justizapparats begründet, deren Zielscheibe zunehmend auch die philosophische Fraktion ist.608 Mittels einer Annäherung von Jansenismus und Fanatismus609 deklariert Voltaire die juristische Praxis der Gerichte als ‚fanatisch‘. Mittels einer fiktionalen Konstellation, die dem Leser eine politische Verfolgung der Jansenisten und Hugenotten durch die Jesuiten vorführt, kommuniziert Voltaire somit eine satirische Referenz auf eine strukturanaloge Situation der 1760er Jahre, die durch Voltaires bekanntes Engagement für die angeklagten Protestanten Calas und Sirven und den der Häresie bezichtigten Chevalier de la Barre geprägt sind. Dass Voltaires Einsatz auch staatstheoretischen Überzeugungen geschuldet ist, ist weniger bekannt und wird von Peter Gay umso nachdrücklicher betont: „He said again and again that he hated the ‚assassins of Calas‘, but his enmity to the parlements antedated the execution of Jean Calas and was political opposition more than abhorrence.“610 In einem anlässlich der kürzlich vollstreckten Hinrichtung La Barres verfassten Brief an Damilaville

606 Brief an d’Argental, 7. August 1767, Inventarnummer D14339, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 116. 607 Brief an Damilaville, 18. August 1766, Inventarnummer D13500, in: ebd., Bd. 114. Hintergrund dieses Schreibens ist die Hinrichtung des Chevalier de La Barre. Vgl. zu dessen Gerichtsprozess auch Voltaires Urteil in einem Brief an d’Alembert: „L’inquisition n’aurait pas osé faire ce que des juges jansénistes viennent d’exécuter.“ (18. Juli 1766, Inventarnummer D13428, in: ebd.) 608 Voltaires berühmter Brief an Diderot vom 23. Juli 1766 (Inventarnummer D13442, in: ebd.) sowie dessen Antwort vom 10. Oktober 1766 (Inventarnummer D13605, in: ebd., Bd. 115) legen Zeugnis darüber ab, wie ernst beide die Bedrohung durch die parlements einschätzen. 609 Vgl. s. v. ‚Fanatisme‘, in: Voltaire, Dictionnaire philosophique, OCV, Bd. 36, S. 108. Vgl. ebenfalls D’Alembert, Sur la destruction des jésuites en France, S. 67: „Les jansénistes, sans égard comme sans lumières, veulent qu’on pense comme eux; s’ils étaient les maîtres, ils exerceraient sur les ouvrages, sur les esprits, sur les discours, sur les mœurs, l’inquisition la plus violente.“ 610 Gay 1959, S. 315, Herv. d. Vf.in.

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macht Voltaire dieses politische Fundament explizit, indem er die verantwortlichen Gerichte mit der Person des Königs konfrontiert: „Je suis persuadé que si Sa Majesté eût été informée du fond de l’affaire, elle aurait donné grâce.“611 Dass Voltaire den König hier als vernünftigen Gegenpol zum ‚fanatischen‘ Handeln der parlements konzipiert,612 nimmt diesen von der Verfolgung generierenden Struktur aus. Oder anders herum formuliert: Der Prozess des La Barre situiert sich in einem Bereich des Regierungsapparats, der abseits königlicher Kontrolle operiert. In dieser genetischen Struktur von Verfolgung liegt der Gegenstand der politischen Satire in L’Ingénu.613 3.5.3 Verfolgung empfindsam: Mademoiselle de Saint-Yves Nachdem im vorigen Abschnitt anhand der Situationen politischer Verfolgung der ideologische Kern dieses Themas in L’Ingénu als Verbindung aus Staatstheorie und Zeitkritik herausgearbeitet wurde, wollen wir uns nun einer Situation widmen, die zunächst gänzlich anders gelagert erscheint. Neben den Formen kollektiver bzw. politischer Verfolgung repräsentiert die sexuelle Erpressung der Mademoiselle de SaintYves in Voltaires Roman die zweite prominente Ausgestaltung von ‚Verfolgung‘. Doch nur auf den ersten Blick handelt es sich hier um eine individuelle und apolitische Situation. Bei genauerer Analyse erweist sich auch der Konflikt der Saint-Yves als das Ergebnis der politischen Konstellation, weshalb auch er an der in L’Ingénu kommunizierten Zeitkritik partizipiert. Die betreffende Situation ist in wenigen Worten resümiert: Auf der Suche nach ihrem verschollenen Geliebten nach Paris gereist, wendet sich die Saint-Yves auf Empfehlung des Jesuiten Tout-à-tous an den Höfling M. de Saint-Pouange, den Cousin des Kriegsministers, um von diesem die Freilassung des Huronen zu erbitten. Doch der vermeintliche Retter schlägt aus der Not der Verzweifelten Profit und macht eine Liebesnacht mit ihr zur Bedingung für Hercules Freilassung. Dass ich für diese explizite sexuelle Erpressung dennoch den Begriff ‚Verfolgung‘ verwende, ist durch das literarische Konzept der innocence persécutée – deutsch: ‚verfolgte Unschuld‘, englisch: virtue in distress – terminologisch legitimiert. Die erpresserische Nötigung der SaintYves folgt im Prinzip dieser in der empfindsamen Literatur vorgeprägten Konflikt-

611 612 613

Brief an Damilaville vom 14. Juli 1766, Inventarnummer D13409, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 114. Für das Konzept des souverain éclairé und dessen Bedeutung für die religiöse Toleranz siehe Voltaire, Traité sur la tolérance, S. 154. Zum Toleranzbegriff der Aufklärung siehe allgemein Schlüter 1992. Die Satire basiert daher auf der Analyse einer konkreten historischen Konstellation und nicht auf einer zeitlos gültigen Kritik an der „interversion des persécuteurs et des persécutés“ (Van den Heuvel 1998, S. 308).

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struktur.614 Mit der innocence persécutée verfügt das zeitgenössische Literatursystem im Diskurs der Empfindsamkeit bereits über ein Konzept von Verfolgung, dessen sich Voltaire bedienen kann. Anhand von Diderots La Religieuse ließ sich nachvollziehen, wie das Motiv der ‚verfolgten Unschuld‘ als rezeptionslenkende Vorgabe den Bericht der Ich-Erzählerin strukturiert und wirkungsästhetisch einem empfindsamen Erwartungshorizont zuarbeitet. Während sich Diderots Roman jedoch einer Reflexion des der empfindsamen Verfolgung zugrundeliegenden Unschuldstopos verschreibt, sind ihre ideologischen Prämissen in L’Ingénu höchstens nebensächlich. Voltaires Interesse an dem empfindsamen Topos ist vielmehr pragmatischer Natur: Indem er die sexuelle Verfolgung der Mademoiselle de Saint-Yves als gleichberechtigtes Paradigma in eine Reihe mit den anderen Verfolgungssituationen stellt, kann er die empfindsamen Strukturen der persécution für die Kommunikation seines politischen Anliegens funktionalisieren. Die Erpressung der Saint-Yves wird im 15. Kapitel von L’Ingénu geschildert, und schon die ersten Worte bereiten den Leser auf eine typische Ausgestaltung der unschuldig Verfolgten vor: „La belle Saint-Yves plus tendre encore que son amant […].“615 Die Schlüsselqualitäten der empfindsamen Opferfigur, beauté und tendresse, werden im Folgenden durch ihre Jugend, ihre Schüchternheit ob der unbekannten Hofsituation sowie ihre emotionale Ergriffenheit komplettiert: „Sa jeunesse, ses charmes, ses yeux tendres mouillés de quelques pleurs attirèrent tous les regards.“616 Erst ihre tränenbenetzten Augen, die Zeichen ihrer Empfindsamkeit, konstituieren die Saint-Yves für die sie umgebenden Betrachter als erotisches Objekt.617 Wie im Fall von Diderots Suzanne – und dies gilt im Übrigen auch für Richardsons berühmte Heldinnen Pamela und Clarissa –, gehen Leid und Eros auch bei Voltaire Hand in Hand. Voltaire bedient sich für diese Erotik eines Zusammenhangs von Gefühl und Moralbegriff, der für den empfindsamen Diskurs konstitutiv ist: Da die sensibilité im empfindsamen Diskurs gleichermaßen als Grundlage, Maßstab und Summe moralischer Tugend gedacht wird,618 fungieren die sensiblen Tränen der Saint-Yves gleichsam als Markierung ihrer tugendhaften Reinheit. Als erotischer Stimulus wider Willen wird die empfindsam stilisierte weibliche Unschuld so zum Movens der persécution durch einen männlichen Widersacher.

614 Die Einschränkung „im Prinzip“ ist notwendig, weil sich im Hinblick auf die narrative Ausgestaltung des Konflikts in L’Ingénu signifikante Unterschiede zu den literarischen Modellen der Empfindsamkeit ergeben. Hier soll jedoch zunächst lediglich die generelle Konfliktstruktur interessieren, bevor im Abschnitt 3.6. eine Untersuchung ihrer erzählerischen Handhabung vorgenommen wird. 615 Voltaire, L’Ingénu, S. 286. 616 Ebd. 617 Francis interpretiert den zitierten Satz hingegen als einen Beleg für den zum Ende des Romans zunehmenden „use of theatrical pathetic scenes“, ohne auf den empfindsamen Akzent der Szene einzugehen; siehe Voltaire, L’Ingénu, S. 286, Anm. 3. 618 Baasner 1988, S. 124.

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Gemäß der typischen Oppositionsstruktur der innocence persécutée wird der SaintYves mit Saint-Pouange ein Verfolger gegenübergestellt, dem sie in gesellschaftlichem Rang und Einfluss nachsteht.619 Dabei beruht der Einfluss des Saint-Pouange auf seiner Position innerhalb des Versailler Beziehungsgeflechts, dessen privilegiertes Mitglied er als „cousin et favori de Mgr de Louvois“620 ist. Wird er der Saint-Yves zudem als eine der „zwei Seelen“ des Kriegsministers Louvois vorgestellt, die „fait le bien et le mal“,621 so wird hier eine Position von Einfluss abseits des offiziellen politischen Organigramms geltend gemacht. Dass Saint-Pouange sich in seiner Unterredung mit Mademoiselle de Saint-Yves auf diesen Einfluss beruft, um die Notlage der Protagonistin zu verschärfen, – wobei sich sein anfänglich noch zögerlich formuliertes pikantes Angebot zunehmend in ein insistierendes Drängen622 und schließlich in eine genuine Erpressung623 wandelt – legitimiert es, hier von einer persécution zu sprechen. In Entsprechung des empfindsamen Modells einer ‚verfolgten Unschuld‘, wie es von Richardsons Clarissa verkörpert wird, geht Mademoiselle de Saint-Yves letztlich an dem Verlust ihrer moralischen Integrität zugrunde und stirbt. Ungeachtet der zweifelhaften Aufrichtigkeit von Voltaires Handhabung der empfindsamen Todesszene, auf die noch zurückzukommen ist, bleibt doch festzuhalten, dass das generelle Ablaufmuster der Handlungsstruktur deutlich an der empfindsamen Vorgabe orientiert ist: Nachdem die Unschuldsprämisse über die Sensibilität der Figur etabliert wurde, wird sie als erotisches Movens inszeniert, um sodann auf der Basis einer Rangdifferenz von Opfer und Verfolger die tugendhafte Unschuld unter Druck zu setzen. In Respektierung der empfindsamen Logik folgt auf den Verlust der Unschuld folgerichtig der Tod. So klar sich diese empfindsame persécution auf den ersten Blick von den deutlicher politischen Verfolgungssituationen in L’Ingénu zu unterscheiden scheint, so liegt all diesen Konstellationen doch eine gemeinsame Strukturanalyse zugrunde. Denn dass auch die Erpressung der Saint-Yves aus einem politischen Geflecht resultiert, das in Versailles lokal gebündelt ist, muss die Protagonistin mit der aufklärenden Hilfe ihrer Pariser Vertrauten lernen. Diese setzt sie darüber in Kenntnis, dass das Verhalten des Saint-Pouange für die Funktionsweisen des Versailler Apparats nicht nur typisch, sondern ganz und gar regelhaft ist: „[L]es affaires ne se font guère autrement dans cette cour si aimable, si galante et si renommée.“624 Konsequenterweise richtet sich denn auch die Empörung der Saint-Yves nicht gegen die alleinige moralische Niederträch619 Diese Struktur kennzeichnet auch in Richardsons Pamela or Virtue rewarded (1740) das Verhältnis der Hausangestellten Pamela zu ihrem Verfolger, dem Gutsherrn Mr. B. 620 Voltaire, L’Ingénu, S. 280. 621 Ebd. 622 Siehe ebd., S. 288: „Un mot lâché d’abord avec retenue en produisait un plus fort, suivi d’un autre plus expressif.“ 623 Siehe ebd., S. 289: „Enfin, la tête lui tourna au point qu’il lui déclara que c’était le seul moyen de tirer de sa prison l’homme auquel elle prenait un intérêt si violent et si tendre.“ 624 Ebd., S. 295.

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tigkeit ihres Verfolgers. Im Gegenteil bewahrt der Erzähler für Saint-Pouange sogar gewisse Sympathien.625 Nicht in der Person des Saint-Pouange, sondern in dem System, dessen Teil er lediglich ist, erkennt die Saint-Yves die Wurzel ihrer Zwangslage: [Q]uel labyrinthe d’iniquités, quel pays, et que j’apprends à connaître les hommes! Un père de La Chaise, et un bailli ridicule font mettre mon amant en prison; ma famille me persécute, on ne me tend la main dans mon désastre que pour me déshonorer. Un jésuite a perdu un brave homme, un autre jésuite veut me perdre; je ne suis entourée que de pièges, et je touche au moment de tomber dans la misère! Il faut que je me tue ou que je parle au roi; je me jetterai à ses pieds sur son passage, quand il ira à la messe ou à la comédie.626

Dass Mademoiselle de Saint-Yves angesichts eines übermächtigen politischen Systems in der persönlichen Intervention des Königs den einzigen Ausweg zu erkennen glaubt, wirft uns auf das bereits mehrfach hervorgehobene politische Ideologem des Textes zurück. Als einzige positiv markierte Entität erscheint der Monarch von der Analyse des Versailler „labyrinthe d’iniquités“ ausgenommen. Die korrupte Hofmaschine läuft gewissermaßen ohne ihn. Paradoxerweise ist der König ausgerechnet dadurch, dass er kein Teil des Hofapparats ist, Saint-Yves’ einzige Hoffnung. Doch der Weg über den König wird sogleich als unpassierbar ausgewiesen: „On ne vous laissera pas approcher, lui dit sa bonne amie, et si vous aviez le malheur de parler, Mons de Louvois et le révérend père de La Chaise pourraient vous enterrer dans le fond d’un couvent pour le reste de vos jours.“627 Die Einsicht, dass die korrupte Macht der königlichen Satelliten La Chaise und Louvois stets größer wäre als ein Wort des Königs selbst, zwingt Mademoiselle de Saint-Yves schließlich zur Aufgabe ihres Widerstands. Saint-Yves’ Desillusionierung ob der fehlenden königlichen Souveränität wird so ex negativo zum Argument für die thèse royale. Auch die empfindsame persécution partizipiert in L’Ingénu folglich an der narrativen Konstruktion eines Strukturzusammenhangs von Verfolgung, politischer Konstellation und pro-absolutistischer Staatstheorie. Dabei besteht zwischen aufklärerischer res (dem Engagement gegen eine Verfolgung generierende politische Struktur) und empfindsamer verba (dem Motiv der innocence persécutée) eine organische Beziehung: Weil die Empfindsamkeit erstens ein Repertoire zur Diskursivierung von ‚Verfolgung‘ bereitstellt und diese Motivik zweitens mit einer empathiebetonten Wirkungsästhetik assoziiert ist, deren Ziel es ist, den sensiblen Rezipienten für das verfolgte Opfer einzunehmen, ergibt sich die Verwendung der empfindsamen Strukturen konsequent 625 Vgl. ebd., S. 288: „Il n’était pas sans agréments, et aurait pu ne pas effaroucher un cœur moins prévenu.“ Sowie nach dem Tod der Saint-Yves, S. 325: „Saint-Pouange n’était pas né méchant; le torrent des affaires et des amusements avait emporté son âme qui ne se connaissait pas encore. Il ne touchait point à la vieillesse qui endurcit d’ordinaire le cœur des ministres, il écoutait Gordon les yeux baissés, et il en essuyait quelques pleurs qu’il était étonné de répandre; il connut le repentir.“ 626 Voltaire, L’Ingénu, S. 296. 627 Ebd.

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aus dem politischen Objekt. Gleichwohl bleibt zu klären, in wie fern der Text mit der Übernahme eines empfindsamen Motivs auch einer empfindsamen Wirkungsästhetik verpflichtet ist. Diese Frage wird uns im letzten Abschnitt der Textanalyse beschäftigen, der sich dem Verhältnis von Komik und Empfindsamkeit und deren Funktion für die satirische Kommunikation in L’Ingénu widmet. 3.6 Empfindsame Strukturen und Satire in L’Ingénu Vor dem Hintergrund unserer Analyse der in L’Ingénu vorgenommenen Politiksatire sind nun abschließend die empfindsamen Textelemente auf ihre Zweckhaftigkeit für die satirische Textfunktion zu befragen. Die Untersuchung der sexuellen Erpressung der Saint-Yves konnte bereits als Referenz auf ein empfindsames Verfolgungsmotiv beschrieben werden, das durch seine thematische Verwandtschaft mit der eher politischen Verfolgungsthematik des Textes motiviert ist. Da in der spezifischen Ausgestaltung dieses empfindsamen Elements zudem ein Bezug zum staatstheoretischen Argument des Textes hergestellt wird, steht Empfindsames hier deutlich in der Funktion der Satire. Bereits dieser erste Zusammenhang von empfindsamer Verfolgungsmotivik und politischer Kritik belegt, dass sich ‚Empfindsames‘ und ‚Satirisches‘ entgegen eines verbreiteten Postulats in Forschungsbeiträgen keineswegs ausschließen. Diese postulierte Unvereinbarkeit beruht auf einem Missverständnis, das darin besteht, dass ‚Satire‘ exklusiv mit ‚Komik‘ verschränkt und folglich als mit Empfindsamem inkompatibel erklärt wird. Welch irreführende Konsequenzen dieser enge Satirebegriff und die Begriffsvermischung mitunter haben können, führt ein Satz aus der Studie von Jacques van den Heuvel vor: „Peu à peu, en effet, au cours du roman, la peinture l’emporte sur la caricature, et la sensibilité sur la satire.“628 Anders herum gereicht Mason das Argument, dass die Satire in L’Ingénu weniger ‚beißend‘ sei als in anderen contes Voltaires, als hinreichender Beleg dafür, dass der Text von Beginn an ein tendenziell sentimentaler sei.629 Eine systematische Differenzierung der fiktionalen und satirischen Kommunikationsmodi entzieht Urteilen dieser Art die Grundlage, indem sie ‚Komisches‘ und ‚Empfindsames‘ als narrative Ausgestaltungen der Fiktion auf einem von der satirischen Kommunikationsebene unterschiedenen Abstraktionsniveau verortet. Es soll daher in dieser Untersuchung auch keine abschließende generische Zuordnung des Textes (conte vs. roman sentimental) vorgenommen werden. Ist von ‚Empfindsamkeit‘ oder ‚Empfindsamem‘ die Rede, so sind damit lediglich Versatzstücke, Elemente, Strukturen u. ä. bezeichnet, die für das literarische Paradigma Empfindsamkeit typisch sind. Die unterschiedlichen Ausprägungen und Verwendungen dieser 628 Van den Heuvel 1998, S. 314. Ähnlich konstatiert auch Highnam 1975, S. 75, dass der empfindsame ‚Ton‘ in den Finalkapiteln nicht mehr von einem satirischen ‚Ton‘ unterbrochen werde. 629 Mason 1967, S. 100.

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empfindsamen Elemente werden auf ihre etwaige funktionale Relation zur satirischen Kommunikation befragt. Es lassen sich in L’Ingénu ironische und ernsthafte Verwendungsweisen empfindsamer Versatzstücke unterscheiden. Dass diese Gebrauchsmodi zudem in den ersten (tendenziell ironische Verwendung) bzw. den letzten (tendenziell unironische Verwendung) Kapiteln gebündelt sind, bestätigt die in den oben und in Abschnitt 3.1. zitierten Beiträgen – trotz ihrer terminologischen Unschärfe – konstatierte Zweiteilung des Romans. Diese Teilung wird jedoch nicht auf der Basis einer generischen Opposition zwischen einem als ‚komisch‘ und einem als ‚empfindsam‘ deklarierten Teil vorgenommen. Sie basiert vielmehr auf der Beobachtung, dass Empfindsames in beiden Teilen gleichermaßen figuriert und dass sich diese Elemente hinsichtlich ihrer Wertigkeit unterscheiden lassen. An einem Punkt, der sich zeilengenau bestimmen lässt, findet eine Verschiebung von einer ironischen zu einer unironischen Valenz statt, mit der sich auch die satirische Funktion der empfindsamen Elemente ändert. Anhand aussagekräftiger Textbeispiele soll diese Verschiebung nun nachvollzogen werden. 3.6.1 Ironisierte Empfindsamkeit Versatzstücke des empfindsamen Paradigmas finden sich bereits auf den ersten Seiten von L’Ingénu. Kennzeichnend für ihre Verwendung ist bis zu dem bereits angesprochenen Wendepunkt jedoch, dass diese empfindsamen Strukturen stets durch gegenläufige Strukturen konterkariert und gebrochen werden. Drei Beispiele sollen dies veranschaulichen. Bei seiner Ankunft in der Bretagne wird der huronische Protagonist von den Bewohnern der Gemeinde zu seiner Herkunft befragt. Als er auf die Frage nach seinen Eltern antwortet, er habe „jamais connu ni père ni mère“,630 reagiert seine Zuhörerschaft mit bestürztem Mitleid: „La compagnie s’attendrit, et tout le monde répétait: Ni père ni mère!“631 Dem zeitgenössischen Leser ist das Waisenmotiv nicht zuletzt aus Marivaux’ empfindsamem Roman La Vie de Marianne (1731–1742) bekannt. Doch wo das wirkungsästhetische Ziel von Marivaux’ Text im Mitgefühl des Rezipienten mit der als Kind verwaisten Erzählerin besteht, wird eine empathische Reaktion des Lesers bei Voltaire verunmöglicht: Eine von dem Waisenmotiv potentiell aufgerufene empfindsame Wirkungsästhetik wird sogleich abgeschnitten, indem das kollektive Echo „Ni père ni mère!“ die von Hercules Zuhörern bezeugte Rührung leserseitig komisch aufhebt. Dass der Hurone seinerseits keinerlei Zeichen von Trauer und kein Interesse daran zeigt, das Objekt von Mitleidsbekundungen zu sein, setzt der sensiblen Szenen-

630 Voltaire, L’Ingénu, S. 196. 631 Ebd., Herv. i. O.

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gestaltung ein Ende, bevor sie überhaupt erst begonnen hat. Die allgemeine Bestürzung kontert er stattdessen mit der Versicherung, „qu’il n’avait besoin de rien“,632 und erteilt so dem empfindsamen Konzept der intimen Familiengemeinschaft überhaupt eine Absage. Dass er in der Folge mit dem Gemeindepfarrer und dessen Schwester gewissermaßen eine Ersatzfamilie erhält, hebt diese Entwertung des empfindsamen Familienbegriffs dabei keineswegs auf. Sie wird vielmehr noch dadurch verstärkt, dass Hercule ausgerechnet gegenüber seiner Taufpatin erotische Gefühle hegt und so eine inzestuöse Konstellation kreiert wird. Die Konfrontation der natürlichen Gefühle mit dem als artifiziell markierten Regelkanon der Kirche wirft zugleich einen ironischen Schatten auf das Konzept der empfindsamen Liebe. Auf den Familienbegriff des roman sentimental rekurriert auch die in der empfindsamen Erzähllogik fast schon obligatorische Wiedererkennungsszene, die den Huronen mit seiner vermeintlichen bretonischen Familie zusammenführt. Während das Waisenmotiv wegen der Verweigerung des Protagonisten gar nicht erst zur Entfaltung gebracht werden konnte, wird in dieser Szene der typische Gefühlskanon der empfindsamen reconnaissance durchgespielt: Nachdem der Prior in einem ihm von dem Huronen überreichten Porträt seinen verschollenen Bruder wiederzuerkennen glaubt, „il changea de couleur, il s’émut, ses mains tremblèrent“.633 Obwohl ein vergleichsweise weites Spektrum von Gefühlsausdrücken zitiert wird, wird ihrer Exploration kein Raum gegeben. Die Darstellung bleibt auf die parataktische Nennung äußerer Manifestationen von Emotionszuständen beschränkt:634 „Tous deux étaient saisis d’étonnement et d’une joie mêlée de douleur, tous deux s’attendrissaient, tous deux pleuraient, leur cœur palpitait, ils poussaient des cris […].“635 Lässt sich in dieser Repräsentation der Gefühlszustände zumindest noch ein entferntes Echo empfindsamer Erzähltechniken erkennen, so erweist sich diese Nähe bei genauerem Besehen jedoch als eine bereits dekonstruierte. Denn die Authentizität der Wiedererkennung erscheint von Beginn an in einem zweifelhaften Licht: Der Ingénu erhielt die Porträts über mehrere Umwege und besitzt nur wenig spezifische Informationen über ihren Ursprung. Da sie zudem „assez mal faits“636 sind, kann der Prior lediglich vermuten, dass es sich bei dem Abgebildeten um seinen Bruder handelt: „je crois que voilà le visage de mon frère le capitaine et de sa femme.“637 Dass der vermeintliche Onkel die verbleibende Unsicherheit nur über eine Reihe von Kalkulationen und kruden 632 Ebd. 633 Ebd., S. 204. 634 Auf dieses Verfahren der Repräsentation von Emotionalität, das für den gesamten Roman gilt, wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. 635 Voltaire, L’Ingénu, S. 204 f. 636 Ebd. 637 Ebd., Herv. d. Vf.in. Francis weist auch auf die historische Unplausibilität eines Krieges zwischen Franzosen und Huronen hin, im Zuge dessen die vermeintlichen Eltern des Ingénu umgekommen seien; vgl. ebd., Anm. 6.

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Wahrscheinlichkeitskombinationen638 ausräumen kann, die Echtheit der Verwandtschaftsbeziehung folglich auf mehreren Ebenen spekulativ bleibt, wirkt als ironische Verkehrung der empfindsamen scène de reconnaissance. Das implizite Urteil über das unwahrscheinliche Arrangement dieser Szenen spiegelt sich sodann auch in der Reaktion des Huronen wider: „[E]t l’Ingénu riait, ne pouvant s’imaginer qu’un Huron fût neveu d’un prieur bas-breton.“639 Das dritte Beispiel betrifft ein empfindsames Tugendideal, das einerseits in der Figur der Mademoiselle de Saint-Yves implizit transportiert wird, andererseits durch gegenläufige Strukturen nach dem Vorbild des conte licencieux bzw. conte érotique dekonstruiert wird. Mit Hercule und Mademoiselle de Saint-Yves treffen nicht nur Natur und Kultur aufeinander, auch die empfindsame Frauenfigur steht im Widerspruch mit den deutlichen erotischen Einschlägen der Erzählung. Als die Protagonistin den Huronen etwa auf sein Taufritual wartend unbekleidet im Fluss findet, wendet sie lediglich reflexhaft kurz den Blick ab, nur um sogleich eine bessere Sicht zu erhaschen.640 Nachdem sie zunächst erahnen ließ, dass sie den Anblick gern länger genießen würde,641 akzeptiert sie ohne zu zögern die Rolle der Diplomatin, um den nackten Hercule aus dem Wasser zu bewegen: „Mlle de Saint-Yves rougit du plaisir secret qu’elle sentait d’être chargée d’une si importante commission.“642 Der Gedanke an die Konfrontation mit dem unbekleideten Hercule bereitet ihr keineswegs schamhaftes Unbehagen, sondern im Gegenteil ein „plaisir secret“. Ganz im Gegensatz zum empfindsamen Moralkodex sucht sie auch körperlich seine Nähe: „Elle s’approcha modestement de l’Ingénu, et lui serrant la main d’une manière tout à fait noble, […].“643 Die Adverbien modestement und d’une manière tout à fait noble können nicht über die erotische Bildlichkeit dieser Szene hinwegtäuschen, in der die junge Frau immerhin die Hand eines unbekleidet vor ihr stehenden Mannes hält. Dass auch Hercule ihre kokett niedergeschlagenen Augen644 nicht als tugendhafte Scheu, sondern als erotisches Interesse interpretiert, zeigt sich in der Folge, als er in der Absicht, den Liebesakt zu vollziehen, in ihr Zimmer eindringt. Mittels dieser Angleichung einer vertu des empfindsamen Fräuleins mit einer sexuell konnotierten „vertu mâle et intrépide, digne de son patron Hercule“645 wird die empfindsame Moral in einer dem conte licencieux entlehnten Handlungsstruktur aufgehoben.

638 Vgl. etwa ebd., S. 206: „Le prieur qui était homme de sens, remarqua que l’Ingénu avait un peu de barbe; il savait très bien que les Hurons n’en avaient point. Son menton est cotonné, il est donc fils d’un homme d’Europe.“ 639 Ebd., S. 207. 640 Ebd., S. 215 f. 641 Ebd., S. 217. 642 Ebd., S. 219. 643 Ebd. 644 Ebd. 645 Ebd., S. 229.

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Aus diesem letzten Beispiel lässt sich die spezifische zweifache Funktionalisierung der ironisch verkehrten Empfindsamkeit im ersten Teil von L’Ingénu ableiten. Erstens dienen die empfindsamen Versatzstücke in ihrer ironischen Verkehrung einer Satire auf allgemeine kulturelle und speziell religiöse Praktiken. Indem die Darstellung des Taufritus mit einer Aufhebung der empfindsamen Moral verbunden wird, wird der Reinigungsaspekt der Taufe ironisch mit ihrem Gegenteil, dem Verlust von Unschuld, verschränkt. Ähnliches gilt für das Inzestverbot zwischen Täufling und Patin, dem ein in der Kultur des 18. Jahrhunderts wirkmächtiges empfindsames Liebeskonzept opponiert wird. Der entstehende Konflikt zwischen kultureller (religiöser) Regulierung und als natürlich konzipiertem (d. h. empfindsamem) Gefühl wird in L’Ingénu zugunsten Letzterem entschieden. Denn dass Hercule auszieht, um für seine Liebe eine Ausnahme von dem kirchlichen Verbot zu beantragen, stellt das Gefühl letztlich über das kirchliche Regularium. In ihrer für den Voltaire’schen Stil typischen ironischen Verwendung stehen die empfindsamen Versatzstücke hier folglich im Dienst einer allgemeinen Gesellschafts- bzw. Religionssatire. Die Empfindsamkeit wird hier jedoch nicht nur verwendet, um eine Satire auf kulturelle Praktiken zu kommunizieren, sie wird, zweitens, selbst Gegenstand von Satire – und zwar hinsichtlich ihrer literarischen Strukturen und Elemente wie auch hinsichtlich ihrer generellen Moral. Indem die empfindsame Moral nicht nur durch ein gegenläufiges Konzept des erotischen conte durchkreuzt wird, sondern beides in ein und derselben Figur (Mademoiselle de Saint-Yves) gebündelt wird, wird der Moralkodex der Empfindsamkeit parodiert und die dadurch erzeugte Komik satirisch funktionalisiert. Am Beispiel der zweifelhaften Authentizität der scène de reconnaissance ließ sich nachvollziehen, wie sich in der parodistischen Verwendung eines typischen Elements des empfindsamen Kanons eine Kritik am exzessiven Gebrauch dieser Strukturen im zeitgenössischen Literatursystem manifestiert. In Voltaires Einsatz von Versatzstücken des sensibilité-Diskurses geht eine im engeren Sinne literarische Kritik einher mit einer Satire auf gesellschaftliche Vorstellungen und Praktiken. Im Hinblick auf die nachfolgende Untersuchung des zweiten Romanteils gilt es hier jedoch festzuhalten, dass diese Satire in den ersten Kapiteln von L’Ingénu noch unpolitisch bleibt. Der bis hierhin untersuchte ironische Einsatz der Empfindsamkeit besitzt daher keine Funktion für die politische Satire und den mit ihr verbundenen ideologischen Kern des Textes. Erst mit der Konfrontation Hercules mit den Folgen der Révocation de l’édit de Nantes im 8. Kapitel verschiebt sich der Akzent der satirischen Kommunikation auf ein dezidiert politisches Ziel der zeitgenössischen Wirklichkeit. Diese thematische Orientierung der zweiten Romanhälfte geht einher mit einer Verschiebung in der Wertigkeit der empfindsamen Textstrukturen. Obwohl die Empfindsamkeit also im ersten Teil selbst Gegenstand der Satire ist, arbeitet sie im zweiten Teil der satirischen Kommunikation zu.

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3.6.2 Empfindsamkeit und politische Satire Mit Hercules Ortswechsel von der bretonischen Provinz in die Hauptstadt fokussiert L’Ingénu erstmals die in den vorangehenden Abschnitten der Textanalyse dargelegte politische Dimension. Im Unterschied zu den untersuchten Vorkommnissen der ersten Texthälfte erfolgt die Verwendung empfindsamer Versatzstücke nunmehr in unironischer Weise. Diese generelle Neuausrichtung des Textes vollzieht sich in einer thematischen wie wirkungsästhetischen Schlüsselszene. Als Hercule in Saumur die Vertreter der hugenottischen Minderheit kennenlernt und von ihnen über die Révocation de l’édit de Nantes aufgeklärt wird, folgt er dem historischen Referat des Pastors mit empfindsamer Betroffenheit: Alors un petit homme noir prit la parole et exposa très savamment les griefs de la compagnie. Il parla de la révocation de l’édit de Nantes avec tant d’énergie, il déplora d’une manière si pathétique le sort de cinquante mille familles fugitives, et de cinquante mille autres converties par les dragons, que l’Ingénu à son tour versa des larmes.646

Während die vergossenen Tränen der scène de reconnaissance im zweiten Kapitel Teil eines empfindsamen Programms waren, in dem die von einem Motiv geforderten Gefühlsäußerungen topisch vorstrukturiert sind, sind Hercules Tränen nun durch seine aufrichtige Empathie mit dem Leid der hugenottischen Familien motiviert. Erstmals in der Narration von L’Ingénu ist das empfindsame Element hier in seiner wirkungsästhetischen Bedeutung ernst zu nehmen. Weder die referierte Situation der Repressionen an den Hugenotten noch Hercules emotionale Reaktion werden ins Komische gewendet. Indem das empfindsame Mitleid des Protagonisten und die Situation politischer Verfolgung kausal aufeinander verweisen und sie die neue – politische – Orientierung des Romans einleiten, sind Voltaires Rekurs auf die Empfindsamkeit und das Verfolgungsmotiv textstrukturell miteinander verbunden. Die Idee, das Thema der staatlichen Verfolgung der Hugenotten über eine empfindsame Erzählweise zu vermitteln, lässt sich mindestens bis zu dem bereits erwähnten Brief Voltaires an den Genfer Pastor Paul Claude Moultou zurückverfolgen. Nur zehn Monate vor der Publikation von L’Ingénu betont Voltaire in diesem Schreiben das wirkungsästhetische Potential einer Narration, „qui portât les cœurs à la compassion“, um mit publizistischen Mitteln auf das von den Protestanten erlittene Unrecht aufmerksam zu machen: J’ai avec vous, Monsieur, la conformité d’un très grand mal aux yeux, mais les vôtres sont jeunes, et je perdrai bientôt les miens. Ils lisent, en pleurant, cet amas d’horreurs, rapportées dans le livre que vous m’envoyez; en vérité, cela rend honteux d’être catholique. Je voudrais que de tels livres fussent en France dans les mains de tout le monde; mais 646 Voltaire, L’Ingénu, S. 241.

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l’opéra-comique l’emporte, et presque tout le monde ignore que les galères sont pleines de malheureux condamnés pour avoir chanté de mauvais psaumes. Ne pourrait-on point faire quelque livre qui pût se faire lire avec quelque plaisir, par les gens mêmes qui n’aiment point à lire, et qui portât les cœurs à la compassion?647

Obwohl dieser Brief freilich noch keinen Beweis dafür liefert, dass es sich bei L’Ingénu um die hier geforderte empfindsam strukturierte Erzählung im Dienst der Protestanten handelt, so ist er doch zumindest ein Beleg für eine pragmatische Assoziation von literarischer Empfindsamkeit und Verfolgungsthematik in Voltaires Denken in den Jahren 1766/1767. Einen textinternen Nachweis dieser Verbindung konnten wir anhand des empfindsamen Motivs der ‚verfolgen Unschuld‘ erbringen. Hier ließ sich nachvollziehen, wie das politische Programm des Romans, das anhand einer komplexen Analogiebildung rekonstruiert werden konnte, auch mittels der Strukturen der empfindsamen Verfolgungsthematik ‚vertextet‘ wird. Indes bedeutet dieser Rekurs auf das literarische System der Empfindsamkeit nicht, dass sich der zweite Teil von L’Ingénu all deren Voraussetzungen zu eigen macht. Weder auf die Erkundung des fühlenden Ichs noch auf eine Analyse der verschiedenen Gefühlszustände legt Voltaires Text großen Wert. Stattdessen werden die Gefühlsregungen stets nur kurz anzitiert und die emotionale Entwicklung als parataktische Reihung der Einzelzustände verkürzt. Über Saint-Yves’ Gefühlsprozess bei ihrem fatalen Treffen mit Saint-Pouange heißt es in entsprechender Verkürzung: „Enfin, après une longue résistance, après des sanglots, des cris, des larmes, affaiblie du combat, éperdue, languissante, il fallut se rendre.“648 Von einer Ironisierung des Konzepts der ‚verfolgten Unschuld‘ ist in Anbetracht von dessen Funktion für die politische Satire dennoch nicht auszugehen. Da Voltaires Behandlung von Gefühlsregungen vor dem Hintergrund der eher typischen Handhabungen dieses Motivs vergleichsweise oberflächlich erscheint, handelt es sich nicht im engeren Sinne um eine empfindsame Darstellung, wohl aber um ein genuin empfindsames Motiv in ernsthafter Verwendung. Empfindsam ist in L’Ingénu daher eher das Thema als seine Narration.649 Nicht um die moralisch fundierte Analyse des Dilemmas, sondern um eine ideologisch motivierte Analyse der Genese von Verfolgung geht es Voltaire. Einer pragmatischen Ausrichtung entsprechend, verwendet er hier gerade nur so viel ‚Empfindsames‘ wie nötig, um die Entrüstung seines Lesers zu provozieren. Das aus der empfindsamen Literatur hinrei-

647 Voltaire an Moultou, Oktober–November 1766, Inventarnummer D13641, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 115, Herv. d. Vf.in. 648 Voltaire, L’Ingénu, S. 297. 649 L’Ingénu unterscheidet sich hier in mehrfacher Hinsicht von Diderots Roman La Religieuse, der sich thematisch wie auch in seiner narrativen Anlage stärker an dem empfindsamen Paradigma orientiert.

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chend bekannte Motiv der verfolgten Unschuld sorgt dabei auch leserseitig für einen Anschluss an das empfindsame Paradigma. Der Einsatz empfindsamer Versatzstücke erfolgt daher immer nur als Ergebnis einer Reflexion auf ihr Wirkungspotential und die Schwächen ihrer typischen Verwendung. Die Sterbeszene ist für diesen reflektierten Umgang und die entstehenden Umwertungen paradigmatisch. Genau betrachtet ist der Tod der Saint-Yves zwar das Resultat ihrer ‚empfindsamen‘ Verfolgung, seine Darstellung unterscheidet sich jedoch von den Modellen der empfindsamen Sterbeszene. Denn im Gegensatz zu den empfindsamen Vorbildern Clarissa und Julie, die ihren Tod mit einer bemerkenswerten Besonnenheit erwarten,650 empfindet Voltaires junge Protagonistin „toute l’horreur de son état“ und trauert um ihr verlorenes Leben.651 Angesichts des offensichtlichen Seitenhiebs auf die Heldinnen Richardsons und Rousseaus652 kommentiert René Pomeau zutreffend: „[L]’agonie de Mlle de Saint-Yves corrige celle de Julie.“653 Dieses Urteil lässt sich noch konkretisieren. Tatsächlich findet eine ‚Korrektur‘ der empfindsamen Sterbeszene nicht nur anhand einer vergleichsweise wahrscheinlicheren Einstellung der Sterbenden zu ihrem bevorstehenden Tod statt. Indem außerdem eine plausiblere Todesursache angeboten wird, bringt Voltaire sein Misstrauen gegenüber der in der Empfindsamkeit postulierten Kausalverkettung von moralischem Unschuldsverlust und Tod zum Ausdruck. Im Fall der Saint-Yves wechseln sich moralische und physiologisch argumentierende Erklärungsmodelle zunächst ab: Anfangs liefert Mademoiselle de Saint-Yves selbst eine Interpretation im Sinne des empfindsamen Modells, als sie als Reaktion auf den unerwarteten Besuch ihrer Vertrauten aus Versailles ihren eigenen Tod beschwört: „Ah! madame, dit-elle à la fatale amie, vous m’avez perdue! Vous me donnez la mort“.654 Diese Deutung wird im Anschluss durch den Auftritt eines inkompetenten Mediziners wieder aufgehoben und nunmehr eine medizinische Erklärung angeboten: „[Le médecin] redoubla le mal par sa précipitation à prescrire un remède alors à la mode“,655 nur um anschließend zur moralischen Ursachenforschung zurückzukehren: „La triste Saint-Yves contribuait encore plus que son médecin à rendre sa maladie dangereuse. Son âme tuait son corps.“656 Indem der Erzähler die medizinische Erklärung schließlich als letztes Wort stehen lässt, fällt er eine Entscheidung zugunsten der physiologischen Ursache: „On appela un autre médecin; celui-ci au lieu d’ai-

650 Vgl. zu diesem Zweck den elften Brief im sechsten Teil von Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse. 651 Voltaire, L’Ingénu, S. 320. 652 Siehe ebd.: „Elle ne se parait pas d’une vaine fermeté; elle ne concevait pas cette misérable gloire de faire dire à quelques voisins, elle est morte avec courage.“ 653 Pomeau, René, „Note sur L’Ingénu“, in: Voltaire, Romans et contes, hg. v. R. Pomeau, Paris 1966, S. 317–322, dort S. 321, Herv. i. O. 654 Voltaire, L’Ingénu, S. 305. 655 Ebd., S. 313 f. 656 Ebd., S. 314.

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der la nature et de la laisser agir dans une jeune personne dans qui tous les organes rappelaient la vie, ne fut occupé que de contrecarrer son confrère. La maladie devint mortelle en deux jours.“657 Dass ihre Erkrankung so als dem Konkurrenzwahn zweier Mediziner geschuldet erscheint, weist den Tod der Mademoiselle de Saint-Yves letztlich als unnötig und verhinderbar aus, wodurch die moralische Kausalitätsrelation der Empfindsamkeit außer Kraft gesetzt wird. Diese Markierung des empfindsamen Todes als eines unnötig gestorbenen, wirft den Leser auf die politische Dimension der Satire – und nicht zuletzt auf die Hinrichtungen des Jean Calas und des Chevalier de la Barre – zurück. Der Text selbst verknüpft den Tod der Mademoiselle de Saint-Yves mit einer zynischen Einlassung zu dem politischen System. Während die Protagonistin bereits im Sterben liegt, erreicht den durch ihr Opfer befreiten Hercule ein Schreiben des Vadbled, seines Zeichens valet de chambre von La Chaise. Ohne ein Wort der Entschuldigung zu verlieren, verkündet der Brief, dass die Inhaftierung des Ingénu „n’était qu’une méprise, que ces petites disgrâces arrivaient fréquemment, qu’il ne fallait pas y faire attention“.658 In dem Apparat von Versailles ist das Individuum wertlos, der unrechtmäßige jahrelange Freiheitsentzug wird als Lappalie abgetan. Außer diesem Kommentar auf das Menschenbild des Regierungsapparats ergibt sich aus dem Schreiben jedoch auch eine Implikation für das von Mademoiselle de Saint-Yves erbrachte Opfer. Dieses erweist sich nämlich im Nachhinein als für die Freilassung ihres Geliebten nicht notwendige Handlung: Wäre der Brief einen Tag früher eingetroffen, wäre Hercule auch ohne den Preis ihrer Unschuld aus der Haft entlassen worden. Nicht nur aus einer medizinischen Perspektive, sondern auch aus der internen Handlungslogik der histoire heraus wird der mit dem Unschuldsverlust assoziierte Tod der Saint-Yves folglich retrospektiv als unnötig markiert. Die Kritik an der Willkür des ( Justiz-)Systems konstituiert sich auf diese Weise auch mittels einer Reflexion auf eine spezifische Struktur des empfindsamen Erzählsystems. Zwei Bereiche, die auf den ersten Blick unvermittelt erscheinen – Voltaires Kritik an der typischen empfindsamen Sterbeszene einerseits sowie eine Stellungnahme zur zeitgenössischen Justiz – interagieren in der satirischen Kommunikationsstruktur des Textes. Nachgewiesen wurde, dass die empfindsamen Versatzstücke im zweiten, politisch orientierten Teil von L’Ingénu maßgeblich an der Konstitution der Satire partizipieren. In keinem Fall handelt es sich bei diesen Elementen jedoch um bloße Kopien der empfindsamen Modelle. Sie präsentieren sich vielmehr immer in einer bereits reflektierten, umgewerteten Form. Empfindsames lässt sich in Voltaires Text daher nie vollständig mit dem empfindsamen Paradigma verrechnen; es handelt sich, bewusst überspitzt formuliert, nicht um die Empfindsamkeit, sondern stets um eine spezifi-

657 Ebd., S. 315. 658 Ebd., S. 318.

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sche Interpretation von Empfindsamkeit. L’Ingénu ist damit nicht zuletzt ein Beleg für Voltaires Virtuosität in der Verwendung ganz unterschiedlicher Elemente des zeitgenössischen Literatursystems, die gezielt für eine Kampagne im Sinne der Aufklärung eingesetzt werden.659 3.7 Zusammenfassung In L’Ingénu lassen sich unterschiedliche Verwendungen empfindsamer Strukturen und Motive unterscheiden, die sich im Wesentlichen als ein ironischer und ein ernsthafter Gebrauch differenzieren lassen. Diesen beiden Verwendungsmodi sind wiederum jeweils unterschiedliche Funktionen zuzuordnen. Den ersten Teil des Textes zeichnet eine durchgängig ironische Verwendung von Versatzstücken des empfindsamen Paradigmas aus, innerhalb derer zwei kommunikative Funktionen beschrieben wurden: Zum einen kodiert dieser ironische Gebrauch eine Satire auf allgemeine gesellschaftliche und religiöse Praktiken bzw. Konventionen, deren Prämissen (etwa das Inzestverbot zwischen Taufpatin und Täufling) der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Zum anderen wird mittels eines parodistischen Umgangs mit den Themen der Empfindsamkeit in diesem Teil des Textes eine Satire auf die der Empfindsamkeit maßgeblich zugrundeliegenden Moralvorstellungen umgesetzt. Im zweiten Teil von L’Ingénu wendet sich der Gebrauch der empfindsamen Strukturen zu einer Ernsthaftigkeit, die in Dienst des politischen Themas des Textes steht und auf das zentrale Motiv der Empfindsamkeit, die verfolgte Unschuld, fokussiert. Während die politische Satire, die das kommunikative Ziel des Textes darstellt, im ersten Textteil allenfalls in Form subtiler Aktualitätsreferenzen zur Geltung gebracht wird, wird sie ab der erstmaligen Thematisierung der Hugenottenverfolgung zu dem tragenden Gegenstand des Romans ausgestaltet. Mit der Begegnung Hercules mit der protestantischen Minderheit ist in der Narration von L’Ingénu erstmals ein ernsthafter Verwendungsmodus der Empfindsamkeit zu erkennen. In seiner Problematisierung der politisch orchestrierten Verfolgung, die Voltaire als das Resultat einer das absolutistische Machtgefüge schwächenden politischen Konstellation ausweist, beruft sich der Text auf das empfindsame Motiv der ‚verfolgten Unschuld‘, um auch den indivi659 Dieser Umgang ist zwar ein pragmatischer, wohl kaum jedoch ein opportunistischer, wie Highnams Interpretation von L’Ingénu nahelegt. Vgl. für dessen recht undifferenziertes Urteil Highnam 1975, S. 78 f.: „It seems apparent therefore, that Voltaire – an avowed literary opportunist – did no more than borrow the conventions of a currently popular genre, and exploited them for provisional advantage in the construction of his plot and the development of his characters. The melodramatic tone of this phase of the novel is not introduced for its absolute value as the determining character of the work, but rather as a means of deepening the impact and the intensity of the author’s indignation at the abuses of power and the terrible examples of man’s inhumanity which had personally touched him or come to his attention during this period.“

Zusammenfassung

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duellen Konflikt der Mademoiselle de Saint-Yves aus den politischen Begebenheiten herzuleiten. Folglich ist der ernsthafte Gebrauchsmodus der Empfindsamkeit auf das generelle Verfolgungsthema des Romans und die politische Satire hin funktionalisiert. Hiermit sei jedoch keineswegs suggeriert, dass Voltaire die Vorgaben des empfindsamen Paradigmas nunmehr unreflektiert aktualisierte. Am Beispiel der Sterbeszene der Saint-Yves ließ sich vielmehr zeigen, wie ein Motiv der empfindsamen Literatur – der Tod der empfindsamen Heldin – reflektiert und diese Reflexion als Mittel der Kommunikation der politischen Satire eingesetzt wird. Eindrücklich stellt diese reflexive Verwendung eines Motivs des empfindsamen Diskurses Voltaires virtuosen und strategischen Umgang mit den Strömungen des zeitgenössischen Literatursystems unter Beweis. Vor dem Hintergrund dieser Refunktionalisierung empfindsamer Strukturen erscheint ein von Voltaire im Juli 1767 an Gabriel Cramer adressierter Vergleich in einem neuen Licht. Über die Differenz von L’Ingénu und Candide schreibt Voltaire: „L’Ingénu vaut mieux que Candide, en ce qu’il est infiniment plus vraisemblable.“660 Diese Wahrscheinlichkeit, die L’Ingénu von dem früher verfassten Candide abzugrenzen erlaube, ist im Anschluss an die Ergebnisse der Textanalyse auf zwei Aspekte des Romans zu beziehen: Sie benennt zum einen den Realitätsbezug des Textes, der sich mittels des satirischen Verweises auf eine konkrete zeitgenössische Situation konstituiert und das erzählte Geschehen als plausibles Ergebnis der historischen Konstellation erscheinen lässt. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen der Gestaltung der histoire und einem literarischen Paradigma hergestellt, das zeitgenössisch – prominent von Diderot – über sein in dem emotionalen Engagement des Lesers begründeten Illusionspotential beschrieben wird. Entgegen der verbreiteten Engführung des Satirischen mit dem Komischen konnte auf der Grundlage neuerer Theorien zur literarischen Satire gezeigt werden, dass sich satirische Kommunikation auch empfindsamer Strukturen bedient. Dass diese politische Satire zudem ein Ausdruck desjenigen epistemischen Modus ist, der in der Einleitung als der spezifische Denkstil der Aufklärung beschrieben wurde, ergibt sich aus Voltaires Engagement für die Opfer der religiösen Intoleranz, die vor dem in L’Ingénu gezeichneten Horizont als Opfer eines Verfolgung generierenden politischen Systems zu verstehen sind. An Voltaires Roman ist das Verhältnis von aufklärerischer Kritik und aufklärerischer Epistemologie ablesbar: Der in L’Ingénu umgesetzten Kritik an der politischen Position der kirchlichen Institutionen liegt die Ablehnung von Religionen zugrunde, die ausgehend von spekulativen Hypothesen (bzw. Mythen) Dogmen generieren, aus diesen Dogmen einen weltlichen Machtanspruch ableiten und diesen mit Gewalt durchsetzen. Es ist dieser erkenntnistheoreti-

660 Voltaire an Gabriel Cramer im Juli 1767, Inventarnummer D14279, in: Voltaire, Correspondence and related documents, OCV, Bd. 116.

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sche Horizont, vor dem Voltaire mit der berühmten Formel „Écrasez l’Infâme“ zum Widerstand gegen den herrschenden Katholizismus aufruft.661 Die in L’Ingénu von den Jesuiten am Hofe repräsentierte und qua Analogie auf die jansenistische Fraktion in der Mitte des 18. Jahrhunderts übertragbare Situation stellt den Inbegriff des Infâme dar, dessen Kampf Voltaire sich insbesondere in den 1760er Jahren verschrieben hat. In dieser Kampagne, die sich nicht nur, aber vor allem gegen den Katholizismus richtet, gelangt das epistemologische Fundament der Aufklärung als konkretes Engagement an die Oberfläche. Als Teil von Voltaires umfassender politischer Kampagne erfüllen die empfindsamen Versatzstücke in L’Ingénu so eine Funktion in der Diskursivierung von Aufklärung.

661 s. v. ‚Infâme (l’)‘, in: Trousson/Vercruysse 2003, S. 652 f.

4. Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus: Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut Der wohl bekannteste Roman des Abbé Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, erzählt die Liebesgeschichte des titelgebenden Paares als steten Wechsel von Höhe- und Tiefpunkten. Noch vor Erscheinen seines vierteiligen Romans Cleveland, der Prévost nicht zuletzt bei Diderot den zweifelhaften Ruf eines Schreibers von Abenteuerromanen einbrachte, nimmt Manon Lescaut zahlreiche Merkmale des roman d’aventures vorweg: Der für die leidenschaftliche Liebe seine aussichtsreiche Zukunft opfernde Protagonist wird im Laufe seiner unrühmlichen Karriere nicht nur Duelle, Armut und Vermögen, sondern auch Betrug, Mord und Totschlag, einen Gefängnisaufenthalt sowie die Übersiedlung in die nordamerikanischen Kolonien erleben, am Ende seine Geliebte verlieren und geläutert in die Heimat zurückkehren. Und doch gilt der Autor seinen Zeitgenossen wie auch seiner späteren Leserschaft als Wegbereiter der Empfindsamkeit in Frankreich. Das französische Publikum verdankt Prévost jene Übersetzung der empfindsamen Romane Richardsons, die dessen Bekanntheit in Frankreich maßgeblich begründet haben. Auch für die Redaktionsgeschichte von Manon Lescaut ist diese Übersetzungstätigkeit von Bedeutung, da sie die verschiedenen Versionen des Textes prägt. Wie so viele literarische Texte des 18. Jahrhunderts unterliegt auch Prévosts Roman einer mehrfachen Überarbeitung mit anschließender (Wieder-)Veröffentlichung. Einer ersten Fassung von 1731 folgt 1753 eine überarbeitete Version. In diesem Intervall von mehr als zwanzig Jahren publiziert Prévost nicht nur zahlreiche weitere Romane und nichtliterarische Schriften, sondern auch eine freie Übersetzung von Richardsons Clarissa. Das englische Original erscheint 1748, die ersten Bände von Prévosts Übersetzung wiederum 1751.662

662 Moerman, Ellen R., „Traduire l’image: les portraits de Clarissa chez Richardson et Prévost“, in: L’Abbé Prévost au tournant du siècle, hg. v. R. A. Francis u. J. Mainil, Oxford 2000, S. 243–258, dort S. 255.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Für die Verortung von Manon Lescaut innerhalb der französischen Empfindsamkeit ist Prévosts Auseinandersetzung mit den Romanen Richardsons insofern höchst relevant, als sich die Textfassungen von 1731 und 1753 im Hinblick auf die Ausarbeitung ihrer jeweiligen empfindsamen Gestaltung unterscheiden: Die zunächst allenfalls ‚proto-empfindsame‘ Tendenz wird akzentuiert. Von dieser Überarbeitung bleibt jedoch eine weitere Tendenz des Romans unberührt, die in der vorliegenden Untersuchung erstmals in die Nähe der empirischen Epistemologie der neueren Naturwissenschaften gerückt werden soll. Zu zeigen ist, dass die (proto-)empfindsame Prägung des Textes die Inszenierung eines empirischen Denkmodus betreibt, der auch der Aufklärung zugrunde liegt. Im Unterschied zu den vorherrschenden Richtungen der Forschung zu diesem Roman strebt die vorliegende Textanalyse daher weder dessen Einordnung in das übrige Œuvre Prévosts an,663 noch soll der Text als Ausdruck eines frühen ‚Realismus‘664 oder als Sittenbild der Régence-Zeit665 interpretiert werden. Eher schließt die Interpretation an frühere Beiträge an, welche die Funktion der Figuren- und Handlungskonstellation sowie der Erzählstruktur für eine Moralphilosophie Prévosts untersuchen.666 Während die zitierten Beiträge jedoch eine moralphilosophische Bedeutung des Textes aus dem ihm zugrunde liegenden Gefühlsbegriff ableiten, wird auf den folgenden Seiten dargelegt, dass sich die Beschäftigung mit Phänomenen der Moral in Manon Lescaut als Ergebnis einer epistemologischen Grundhaltung darstellt, die den Text in einer Nähe zum Denken der Aufklärung situieren lässt. 4.1 Das Klassifikationsproblem: Prévost zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit Viel Tinte ist geflossen über die literarhistorische Einordnung von Prévosts Œuvre im Allgemeinen und seines Romans Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut im Besonderen. Wenngleich mittlerweile mehr als 40 Jahre alt, vermittelt der in Sgard 1975 zusammengetragene Forschungsstand einen Eindruck von der Epochisierungsproblematik, die sich anhand von Manon Lescaut stellvertretend für einen großen Teil der Literaturproduktion des frühen 18. Jahrhunderts in Frankreich stellt: Bemüht wird

663 So etwa Sgard, Jean, Prévost romancier, Paris 1968; sowie Piva, Franco, Sulla genesi di Manon Lescaut: problemi e prospettive, Mailand 1977. 664 Coulet, Henri, Le Roman jusqu’à la Révolution. Bd. 1: Histoire du roman en France, Paris 1967, S. 358. 665 Piva, Franco, „Une clé de lecture pour Manon Lescaut“, in: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 46 (1994), S. 329–353. 666 Etwa Monty, Jeanne, Les Romans de l’abbé Prévost: procédés littéraires et pensée morale, Oxford 1970; Jones, Grahame C., „Manon Lescaut: Morality and Style“, in: Essays in French Literature 9 (1972), S. 30–45; Winandy, Rita, „Prévost and the Morality of Sentiment“, in: L’Esprit créateur 12 (1972), S. 94–102; sowie Singerman, Alan J., L’Abbé Prévost, l’amour et la morale, Genf 1987.

Das Klassifikationsproblem: Prévost zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit

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neben den mehr oder weniger etablierten Epochenkonzepten classique, romantique, rococo, baroque und Lumières auch der hybride Terminus post-classique,667 um dem Verhältnis von Kontinuität und Innovation einerseits sowie von literarischer Formsprache und epistemischer Konfiguration andererseits, das sich im 18. Jahrhundert als ein besonders intrikates darstellt, Rechnung zu tragen. Richard Francis bescheinigt Prévost eine ‚unbequeme Zwischenstellung‘ zwischen zwei ‚Generationen‘,668 wobei als Vertreter einer ‚neuen‘ Generation Prévosts Zeitgenossen Montesquieu und Voltaire genannt werden. ‚Unbequem‘ ist dieser Status zwar freilich weniger für Prévost selbst als für den nach eindeutiger Klassifizierung strebenden Literarhistoriker. Dennoch ist das in diesem Versuch einer intergenerationellen Verortung implizierte Problem für eine Epochisierungshypothese für den Zeitraum des 18. Jahrhunderts von höchster Relevanz: Dass Francis die Namen Montesquieu und Voltaire als emblematische Repräsentanten eines kulturhistorisch ‚Neuen‘ nennt, welches das Paradigma Aufklärung darstellt, provoziert die Frage nach Prévosts Relation zu den Lumières.669 Obwohl diese Frage in Prévost gewidmeten Forschungsbeiträgen fast schon regelhaft gestellt wird, beschränkt sich ihre Beantwortung ebenso regelmäßig auf eine Auflistung von als ‚aufklärerisch‘ deklarierten thematischen Aspekten seines Werks oder auf die Darstellung der von Prévost unterhaltenen persönlichen Beziehungen zu Vertretern der Aufklärung.670 Angesichts der bekannten Problematik, die sich im Hinblick auf die Definition des Aufklärungsbegriffs und aus einer oftmals naiven Begriffsverwendung ergibt, bemängelt Jean Sgard das Fehlen eines konkreten Textzugangs, der die Relation des Werkes zu den Lumières zu erhellen vermag: „Faute de ces approches concrètes, la place de Cleveland ou de Manon Lescaut dans la civilisation des Lumières

667 Sgard, Jean, „État présent des études sur A.-F. Prévost“, in: L’Information littéraire 27/2 (1975), S. 57–61, insbes. S. 61: „En 1930, on voulait savoir si Manon était classique ou romantique; en 1960, on parle plus volontiers de rococo. C.-E. Engel voyait en Prévost un baroque („L’abbé Prévost romancier baroque“, Revue des sciences humaines, 1960), mais hésitait sur le cas de Manon Lescaut. R. Laufer a définitivement opté pour le rococo, défini par l’unité organique, le déséquilibre et le décentrement du récit, mais sans rapports bien précis avec l’esthétique des beaux-arts (Style rococo, style des Lumières, 1963). P. Brady nie la présence du rococo dans Manon Lescaut, qu’il voit plutôt post-classique („Manon Lescaut, classical, romantic or rococo?“, Studies on Voltaire, vol. LIII, 1967). Robert S. Tate conclut abruptement sur le débat, et voit simplement dans Manon Lescaut l’expression de l’esthétique de la Régence: culte du plaisir et du sentiment, définition du ‚sixième sens‘, critique ironique et rêveries utopiques („Manon Lescaut and the Enlightenment“, Studies on Voltaire, vol. LXX, 1970). On constatera comme lui que le débat a fait long feu.“ 668 Francis, Richard A., The Abbé Prévost’s First Person Narrators, Oxford 1993, S. 322 f. Wörtlich heißt es dort: „A contemporary of Voltaire and Montesquieu but with less of the intellectual rigor which might have helped him break away from his past, he falls uncomfortably between generations and schools.“ 669 Siehe für diese Frage exemplarisch Sgard, Jean, „Prévost: de l’ombre aux lumières“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 27 (1963), S. 1479–1487. 670 Ein Beispiel für beide Tendenzen liefert Tate, Robert S., „Manon Lescaut and the Enlightenment“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 70 (1970), S. 15–25.

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n’a pas encore été bien définie, et l’on est resté à des débats académiques.“671 Dieses Defizit stellt sich bis heute. So zutreffend das Desiderat einer systematischen Verortung von Prévosts Roman innerhalb der Epoche Aufklärung auch ist, so verbirgt sich in Sgards Formulierung doch ein noch für die heutige Dixhuitiemistik typisches Paradoxon: Während zwar das Fehlen einer „approche concrète“ zur Situierung eines literarischen Einzeltextes innerhalb eines Epochenkonzepts Aufklärung als Forschungsproblem benannt wird, wird die notwendige wissenschaftliche Konstruktion eines derartigen Epochenbegriffs nicht als solches erkannt. Im Ergebnis werden die Lumières, wie in dem von Sgard 1975 gelieferten Beispiel, in gänzlich unkonkreter Weise zu einem epochalen Globalterminus für alle zivilisatorischen Erscheinungen im Zeitraum ‚18. Jahrhundert‘ erhoben. Dass ein Epochenbegriff, soll er, mit Sgard gesprochen, die gesamte ‚Zivilisation‘ eines Zeitraumes abdecken, in seiner notwendigen breiten Formulierung jedwede Unterscheidungsqualität verliert, liegt indes auf der Hand und wurde bereits erörtert. Damit tritt Sgard jedoch hinter einen Begriff von ‚Aufklärung‘ zurück, den er implicite bereits 1963 seiner literarhistorischen Einordnung von Prévosts Œuvre zugrunde gelegt hatte. Denn indem er in Prévost aufgrund von dessen Histoire générale des voyages (publiziert ab 1747) sowie des Manuel lexique, ou dictionnaire portatif (1750) einen „précurseur de l’esprit encyclopédique“ erkennt, beruft sich Sgard in seinem Aufsatz von 1963672 mit dem enzyklopädischen Ordnungsprinzip im Kern auf einen epistemologischen Ansatz zur Bestimmung des aufklärerischen Schreibens. Die Untersuchung der sich naturgemäß stellenden Forschungsfrage, ob und in wie fern auch Prévosts Romane einem enzyklopädischen Prinzip unterlägen und auf welche Weise sich demzufolge ‚Aufklärerisches‘ konstituierte, bleibt Sgard dem Leser jedoch schuldig, sodass auch dieser epistemologische Ansatz letztlich nicht operationalisiert wird. Vor dem Hintergrund des erkannten Defizits liefert die vorliegende Arbeit eine neue Interpretation der Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut. Im Anschluss an den in der Einleitung (siehe Abschnitt 1.2.1.) entwickelten Aufklärungsbegriff werde ich argumentieren, dass Manon Lescaut auf Strukturen beruht, die der empiristisch fundierten Epistemologie der Lumières denkverwandt sind – und dies obwohl Prévost in seinem Journal Le Pour et contre gegen die empiristische Erkenntnistheorie polemisiert. Das Werk des Abbé kennzeichnet daher eine ideologische Grundspannung, die sich in seinem journalistischen Werk ebenso nachweisen lässt wie in seinem Roman. Dass den für Manon Lescaut charakteristischen Ambivalenzen selbst ein spezifischer, empiristisch fundierter, Wirklichkeitsbegriff zugrunde liegt, gilt es ebenso zu zeigen wie darzulegen ist, wie bestimmte Strukturen der frühen Empfindsamkeit diesem ‚Empirismus‘ in wirkungsästhetischer Weise zuarbeiten. Erst mittels der (proto-)emp-

671 Sgard 1975, S. 61. 672 Sgard 1963, S. 1479.

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findsamen Textstrukturen konstituiert sich eine empiristisch begründete Sicht auf die Phänomene der moralischen Wirklichkeit. 4.2 Ambivalenzen im „Avis de l’auteur“ In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Prévosts Roman findet dessen als „Avis de l’auteur“ überschriebener Paratext nur selten eingehendere Berücksichtigung, obwohl er für die Struktur des Gesamttextes sogar exemplarisch ist: Die für den Roman charakteristischen moralischen Ambivalenzen und Widersprüche finden sich in seinem Paratext bereits vorgezeichnet.673 Vordergründig folgt der „Avis“ jedoch einer gegenläufigen und im 18. Jahrhundert gängigen Argumentationspraxis, die darin besteht, die nachfolgende Erzählung zum Zweck der moralischen Rechtfertigung zu disambiguieren. So ist es vermutlich der weiten Verbreitung674 dieses Argumentschemas in Paratexten des 18. Jahrhunderts und einem gewissen Gewöhnungsprozess unter Dixhuitiémisten geschuldet, dass die Ambivalenzen in Prévosts „Avis de l’auteur“ bisher nur selten erkannt und Gegenstand von Forschungsbeiträgen geworden sind.675 Tatsächlich lassen sich im „Avis de l’auteur“ anstatt einer geglückten Vereindeutigung der Textmoral konfligierende Argumente unterscheiden, die an jeweils verschiedene Textfunktionen bzw. Erkenntnisinteressen gebunden sind. Dieses diskrepante Argumentationsschema des Paratextes ist im Folgenden zu rekonstruieren.

673 Die existierenden Forschungsbeiträge untersuchen den „Avis de l’auteur“ zumeist als Beleg für das von Georges May beschriebene ‚Dilemma‘ des Romans im 18. Jahrhundert; siehe exemplarisch Dornier, Carole, „Préfaces et intentions d’auteur: L’Avis de l’Auteur des Mémoires d’un homme de qualité (1731) et la Préface des Égarements du cœur et de l’esprit (1736)“, in: Le Roman des années trente. La génération de Prévost et de Marivaux. Journées d’études, Saint-Étienne, 27 et 28 septembre 1996, hg. v. A. Rivara, Saint-Étienne 1998, S. 87–101. In dieser Perspektive erfolgt die Analyse des Paratextes in der Regel unabhängig von einer Untersuchung des Haupttextes. Demgegenüber wird auf den nachfolgenden Seiten dargelegt werden, dass sich aus der Struktur des Paratextes, den ihm zugrundeliegenden Begrifflichkeiten und Widersprüchen, eine neue Perspektive auf Prévosts Roman ergibt. 674 Für die Vielfalt der paratextuellen Legitimationspraktiken sowie die für das 18. Jahrhundert typische Spannung zwischen versuchter Disambiguierung und persistierender Ambivalenz siehe Kuhn, Roman, Wahre Geschichten, frei erfunden. Verhandlungen und Markierungen von Fiktion im Peritext, Berlin/Boston 2018. 675 Eine Ausnahme stellen hier die Arbeiten von Jean-Paul Sermain dar, denen ich die Anregung für die folgenden Ausführungen verdanke, wenngleich sich meine Schlussfolgerungen in wesentlichen Punkten von denen Sermains unterscheiden. Siehe insbes. Sermain, Jean-Paul, „L’Éloge de Richardson et l’Avis de Renoncour en tête de l’Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut: Diderot s’est-il laissé prendre au double jeu de Prévost?“, in: Cahiers Prévost d’Exiles 1 (1984), S. 85–98; sowie ders., Rhétorique et roman au dix-huitième siècle. L’exemple de Prévost et de Marivaux (1728–1742), Oxford 1985.

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4.2.1 Exemple und bizarrerie: Begriffliche, moralische und epistemologische Ambivalenzen Sprecher der Vorrede ist der fiktive Verfasser der Mémoires d’un homme de qualité, als deren siebten und letzten Band Prévost die Liebesgeschichte des Chevalier des Grieux verfasst. Einer kurzen Rechtfertigung für das gesonderte Erscheinen der als Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut betitelten Episode aus dem Leben des Erzählers folgt die Ankündigung, die genannte Histoire berge ebenso viel ‚Angenehmes‘ („agréable“) und ‚Interessantes‘ („intéressant“)676 wie die ihr vorausgehenden Bände der Mémoires. Mittels der auf Form wie Inhalt der Erzählung bezogenen Attribute agréable und intéressant beruft sich der Paratext zunächst sichtlich auf eine Funktionsbestimmung von Literatur, die im Zeichen des klassischen plaire et instruire steht.677 Konkretisiert wird anschließend die moralische Zielsetzung dieser instruction sowie das zugrunde gelegte didaktische Mittel: „[Le public] verra dans la conduite de M. des Grieux, un exemple terrible de la force des passions.“678 Mittels eines Exempels soll dem Leser folglich die Schädlichkeit extremer Leidenschaften vorgeführt werden. In Furetières Dictionnaire universel (1727) definiert als „[c]e qui est proposé pour imiter ou pour éviter“,679 erfüllt das exemple eine Schlüsselfunktion im Rahmen der moraldidaktischen Anlage des Textes. Als Exemplum konzipiert, soll die Liebesgeschichte des Chevalier des Grieux dem Leser ex negativo zur moralischen Instruktion gereichen, wodurch die Erzählung als Vehikel dieser Instruktion gleichsam legitimiert wird.680 Präsupponiert wird somit die Allgemeingültigkeit bzw. Generalisierbarkeit des Erzählten – zumindest im Hinblick auf eine als „personnes de bon sens“681 und „âmes bien nées“682 spezifizierte Zielleserschaft. Diesen Zusammenhang zwischen einer klassizistisch-moralischen Textfunktion und der modellbildenden Rolle des exemple pointiert der Paratext mittels eines klassischen Formulariums: Les personnes de bon sens ne regarderont point un ouvrage de cette nature comme un travail inutile. Outre le plaisir d’une lecture agréable, on y trouvera peu d’événements qui

676 Prévost, „Avis de l’auteur“, in: Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, hg. v. F. Deloffre u. R. Picard, Paris 1965, S. 3–8, dort S. 4. 677 Dass der ‚Autor‘ des „Avis de l’auteur“ die separate Nachlieferung der Episode bereits vorher im Text anhand zweier Verse aus Horaz’ Ars poetica gerechtfertigt hatte, stärkt die Anbindung des Paratextes an die klassische Poetik ebenfalls. 678 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 4. 679 s. v. ‚Exemple‘, in: Dictionnaire universel, contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, & les termes des sciences et des arts, Den Haag 1727. 680 Zur Notwendigkeit der Romanautoren des 18. Jahrhunderts, ihre Texte mit moralpädagogischen Argumenten zu legitimieren, siehe May 1963. 681 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 5. 682 Ebd., S. 6.

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ne puissent servir à l’instruction des mœurs; et c’est rendre, à mon avis, un service considérable au public, que de l’instruire en l’amusant.683

Seine didaktische Stärke bezieht der exemple-Begriff aus seiner Konfrontation mit einem zweiten Genus der Moraldidaxe, dem moralischen précepte, dem es aufgrund seines Ursprungs in der realen Lebenspraxis überlegen sei: [C]’est que, tous les préceptes de la morale n’étant que des principes vagues et généraux, il est très difficile d’en faire une application particulière au détail des mœurs et des actions. […] Dans cette incertitude, il n’y a que l’expérience ou l’exemple qui puisse déterminer raisonnablement le penchant du cœur. Or l’expérience n’est point un avantage qu’il soit libre à tout le monde de se donner; elle dépend des situations différentes où l’on se trouve placé par la fortune. Il ne reste donc que l’exemple qui puisse servir de règle à quantité de personnes dans l’exercice de la vertu.684

Wenngleich beide moraldidaktischen Formen – das theoretische Gebot wie auch das praktische Exempel – einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben, liegt ihre Differenz, aus der die didaktische Überlegenheit des Letzteren abgeleitet wird, in dem Status des von ihnen jeweils vermittelten Wissens. Dem in Maximen gebundenen theoretischen Wissen der préceptes de la morale stellt der Paratext in Form des exemple ein aus der Lebenspraxis gewonnenes Handlungswissen gegenüber. Im Unterschied zur Vagheit des Gebots sei das Exempel, eben weil es als Ersatz für die eigene Erfahrung an die Wirklichkeit gebunden sei, auf konkrete Situationen der Realität applizierbar. Dass der ‚Autor‘ des „Avis“ die Geschichte des Chevalier des Grieux in dieser Hinsicht als ein didaktisch wirksames exemple ausweist, präsupponiert daher zweierlei: dass sie erstens eine praktisch anwendbare Lektion der Moral enthalte und dass diese Lektion zweitens im Hinblick auf den anvisierten Leser verallgemeinerbar sei. Die Grundlage der präsupponierten (negativen) Modellhaftigkeit des Chevalier bildet dabei ein Moralkonzept, das, so der ‚Autor‘, in der Figur des Protagonisten in paradigmatischer Weise zur Ausprägung komme. Die Rede ist von einer ‚bizarr‘ genannten Disposition der menschlichen Natur, die der Paratext als écart von moralischer Theorie und Praxis bestimmt:

683 Ebd., S. 5. 684 Ebd., S. 6. Dieses didaktische Argument findet sich, stärker sensualistisch gewendet, noch zwei Dekaden später in dem von Jaucourt verantworteten Eintrag ‚Exemple‘ der Encyclopédie: „L’exemple est d’une grande efficace, parce qu’il frappe plus promptement & plus vivement que toutes les raisons & les préceptes; car la règle ne s’exprime qu’en termes vagues, au lieu que l’exemple fait naître des idées déterminées, & met la chose sous les yeux, que les hommes croyent beaucoup plus que leurs oreilles.“ (Encyclopédie, Bd. 6, 1756, S. 235)

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On ne peut réfléchir sur les préceptes de la morale, sans être étonné de les voir tout à la fois estimés et négligés; et l’on se demande la raison de cette bizarrerie du cœur humain, qui lui fait goûter des idées de bien et de perfection, dont il s’éloigne dans la pratique.685

Prévost bezeichnet mit dem Begriff der bizarrerie folglich eine für den Menschen typische („du cœur humain“) Verhaltensdisposition, die in einer grundsätzlichen Differenz zwischen seiner theoretischen Kenntnis und Akzeptanz der Moralmaximen einerseits sowie seiner realen Moralausübung andererseits bestehe. Mit der ontologischen Trennung von moralischer Theorie und Praxis schließt er gleichzeitig an die wissenstheoretische Unterscheidung von précepte und exemple an. Die anhand des exemple-Begriffs kommunizierte Insistenz auf einem praktischen Moralwissen wird ausgehend von dieser menschlichen Universalie plausibel: Weil sich der Mensch typischerweise in der realen Praxis anders verhalte als in den préceptes gefordert, seien diese für seine moralische Ausbildung letztlich unwirksam.686 In dem Maße, wie die Maximen als ineffektive didaktische Methode verabschiedet werden, gewinnt das lebenspraktische Exempel an Bedeutung, wodurch das Risiko des moralischen Nihilismus eingeholt wird. In dieser logischen Beziehung zwischen einer sog. bizarrerie der allgemein-menschlichen Moralpraxis und einer moraldidaktischen Methode, die anhand von praktischen Exempla verfährt, offenbart sich jedoch auch eine begriffliche und argumentative Diskrepanz des Paratextes. Zwar wird der Einsatz des moraldidaktischen exemple durch die beschriebene bizarrerie du cœur humain gerechtfertigt. Bestehen bleibt jedoch das Problem, dass auch das Exempel als eine didaktische Methode zur Vermittlung moralischen Wissens letztlich mit dem Umstand konfrontiert ist, dass sich der Mensch in der Praxis wider sein besseres Wissen verhalte. Der literarische Text kann folglich stets nur eine Vorführung der bizarrerie, nie aber deren Heilung leisten. Konterkariert wird die präsupponierte Exemplarität darüber hinaus durch den Begriff des Bizarren selbst. Dass Prévost mit dem Terminus bizarrerie eine menschliche Verhaltensuniversalie zu kennzeichnen sucht, birgt nämlich insofern ein begriffliches Problem, als sich ‚das Bizarre‘ definitionsgemäß für ein solches Verständnis gerade nicht anbietet. Denn ge-

685 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 6, Herv. d. Vf.in. 686 Da Sermain die im exemple-Konzept virulente Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen um Moralisches nicht mit vollzieht, kommt er zu dem Schluss, der „Avis de l’auteur“ erteile einer moralischen Funktion der Romanlektüre grundsätzlich eine Absage (Sermain 1984, S. 91). Die im Paratext vorgenommenen positiven Zuschreibungen an das exemple und die auf ihm basierende moralische Funktion der Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut interpretiert er als an die Zensoren gerichtete „leurre“ (ebd., S. 94). Im Unterschied zu dieser Interpretation, welche die Zweideutigkeiten des Paratextes als Ergebnis einer publikationspolitischen Strategie zu plausibilisieren versucht, sollen die (moralischen) Widersprüche und Diskrepanzen in Roman und Paratext in der vorliegenden Arbeit als Ausdruck eines genuin ambivalenten Erkenntnisinteresses ernst genommen werden.

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mäß der Begriffsbestimmung des Dictionnaire universel bezeichnet le bizarre einen sich durch seine „manieres inégales“687 auszeichnenden „caprice“,688 der als solcher außerhalb moralischer Kategorien situiert ist. Vorgenommen wird zudem eine Vereinzelung des ‚Bizarren‘: „[qui a] des opinions extraordinaires et particulieres“.689 Prévosts Begriffsverwendung konfligiert daher in zweifacher Weise mit dem in zeitgenössischen Wörterbüchern dokumentierten Verständnis. Zum einen benennt er mit diesem Begriff eine überindividuelle Konstante des menschlichen Daseins, obwohl das Bizarre per definitionem als eine nicht verallgemeinerbare, singuläre Erscheinung gilt. Zum anderen ist ausgerechnet die normabbildende bzw. normaffirmierende Funktion, die das Exempel im Hinblick auf das Moralische erfüllt und auf die der Paratext sich beruft, für das Bizarre suspendiert. Le bizarre bezieht seine Faszination690 typischerweise aus seiner Position außerhalb der moralischen Skala. Für den „Avis de l’auteur“ ergibt sich damit die spezielle Situation, dass der Text nicht nur explizit einen Begriff des Bizarren gebraucht, welcher der Definition im Dictionnaire universel gewissermaßen diametral entgegensteht. Vielmehr wird das terminologische Problem dadurch noch verschärft, dass der Paratext an wiederum anderer Stelle implizit auf die dort dokumentierte Begriffsbestimmung rekurriert, weshalb sich zwei Verwendungen überlagern. In der Wendung bizarrerie du cœur humain bezeichnet das Bizarre zum einen jenen ‚Abstand‘ von moralischer Theorie und Praxis, in dem Prévost die universelle Tendenz des Menschentums erkennt. Repräsentiert wird diese Universalie zum anderen allerdings durch eine besonders eigentümliche – individuelle – Charakterausprägung des Chevalier des Grieux, auf die sich mit einigem Recht die engere Begriffsverwendung des Dictionnaire universel anwenden lässt. Die allgemein-menschliche bizarrerie, d. h. der „constraste perpétuel de bons sentiments et d’actions mauvaises“,691 manifestiert sich in dieser Figur in einer verschärften, singulär-bizarren Form. Im engeren Sinne ‚bizarr‘ ist der Fall Des Grieux, weil die universelle Diskrepanz von moralischer Theorie und Praxis in ihm als eine explizit bewusste und willentliche ausgeprägt ist. Vgl. hierzu die emphatische Hervorhebung des Entscheidungsaspektes in folgendem Porträt des Chevalier: J’ai à peindre un jeune aveugle, qui refuse d’être heureux, pour se précipiter volontairement dans les dernières infortunes; qui, avec toutes les qualités dont se forme le plus brillant mérite, préfère, par choix, une vie obscure et vagabonde, à tous les avantages de la fortune 687 s. v. ‚Bizarre‘, in: Dictionnaire universel, contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, & les termes des sciences & des arts, Den Haag 1727. 688 Ebd., s. v. ‚Bizarrerie‘. 689 Ebd., s. v. ‚Bizarre‘. 690 Vgl. für die ästhetische Qualität des Bizarren bereits zeitgenössisch die im Dictionnaire universel, s. v. ‚Bizarrerie‘, angebotene etymologische Herleitung des Begriffs: „Ces mots viennent apparemment de l’Espagnol bizarro, qui signifie beau, agréable, parce que la diversité des couleurs a quelque agrément, sur tout quand elles sont bien ménagées“ (Herv. i. O.). 691 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 5.

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et de la nature; qui prévoit ses malheurs, sans vouloir les éviter; qui les sent et qui en est accablé, sans profiter des remèdes qu’on lui offre sans cesse et qui peuvent à tous moments les finir; […].692

Diese Charakterisierung markiert den deutlichen Abstand des Chevalier zum commun des hommes. Obwohl seine Geschichte als ein exemple deklariert wird und sie ihn daher eigentlich als typischen Beleg für die bizarrerie du cœur humain präsentieren sollte, betreibt das Porträt einigen rhetorischen Aufwand, um stattdessen die Singularität des Falles Des Grieux herauszustellen.693 Seine außerordentliche Veranlagung für Tugend und Ehre („avec toutes les qualités dont se forme le plus brillant mérite“) sowie seine privilegierte ökonomische wie gesellschaftliche Position („tous les avantages de la fortune et de la nature“) werden konterkariert durch den Aspekt bewusster Nonkonformität. In diesem markanten Kontrast einer Veranlagung, die ihn eigentlich für die herrschende Moral prädestiniert, und einer Entscheidung gegen diese Moral liegt das singulär-bizarre Moment seines Falles. Handelt es sich bei Des Grieux also gewissermaßen um eine besonders ‚bizarre‘ Manifestation der universellen bizarrerie du cœur humain, so stellt sich in dieser Figur nicht nur das Problem des Verhältnisses des Allgemeinen zum Individuellen, sondern in letzter Konsequenz auch jenes der Modellwertigkeit des erzählten Falles. Hinter dem Allgemeinen – der universellen bizarrerie des Menschen – und dem Individuellen – der singulären bizarrerie des Protagonisten – steht ein jeweils anderes Erkenntnisinteresse: Die moralische Funktion des Exempels konfligiert mit dem ‚empirischen‘694 Interesse am Einzelfall. Im Hinblick auf die typisch menschliche Diskrepanz zwischen den Vorgaben der Moraltheorie und der moralischen Praxis erfüllt Des Grieux daher zwar einerseits eine paradigmatische Funktion. Gleichzeitig eignet er sich wegen seines singulären Charakters jedoch gerade nicht zum Exempel, weil seine (im engeren Sinne) ‚bizarre‘ Disposition die Generalisierbarkeit seiner Erfahrung erheblich einschränkt. Der Text schwankt merklich zwischen einer auf dem exemple-Begriff basierenden moraldidaktischen Funktionszuschreibung und einem Erkenntnisinteresse, das dem Bizarren als Phänomen der realen moralischen Praxis gilt.695 Als bizarre

692 Ebd., S. 5 f., Herv. d. Vf.in. 693 Sermain 1984, S. 89. 694 ‚Empirisch‘/‚empiristisch‘ soll hier in heuristischer Weise verstanden werden als ein auf die Phänomene der Wirklichkeit fokussierender Erkenntnismodus. Die in den einfachen Anführungszeichen mitzudenkende Distanz zu der auf Lockes Erkenntnistheorie beruhenden Begriffsverwendung trägt Prévosts problematischem Verhältnis zum Empirismus englischer Prägung Rechnung. Siehe hierzu näher Abschnitt 4.2.3. 695 Moralisch vereindeutigende Interpretationen wie die allegorische Deutung von Picard (Picard, Raymond, „Le ‚sens allégorique‘ de Manon Lescaut“, in: L’Abbé Prévost. Actes du colloque d’Aix-en-Provence, 20–21 décembre 1963, Paris 1965, S. 119–123) sind in ihrer Reduktion auf eine der Tendenzen des Textes in ihrem Absolutheitsanspruch daher nicht aufrecht zu erhalten.

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Erscheinung wird Des Grieux als Bestandteil einer Realität in den Blick genommen, deren Komplexität sich der apriorischen Einordnung widersetzt. Anstatt eines Exempels für die (un-)moralische Tendenz des Menschentums bildet Des Grieux so ein Paradigma für die Komplexität der Realität gegenüber der apriorischen Theorie. 4.2.2 Le Pour et contre: Prévosts proto-journalistisches Interesse an den Erscheinungen des Bizarren Dass der Begriff des Bizarren in der Wendung bizarrerie du cœur humain zum einen an die menschliche Gefühlsinstanz („cœur“) gekoppelt und zudem als Diskrepanz von moralischen idées und (un-)moralischer pratique definiert wird, verdeutlicht, dass die für Prévost relevanten Erscheinungen des Bizarren im Bereich der praktischen Moral liegen. Im Paratext zu Manon Lescaut wird die in der menschlichen Moralpraxis herrschende Devianz von einem apriorischen Tugendkatalog zunächst theoretisch bestimmt, um sie anschließend als fiktionales Handlungsszenario narrativ zu entfalten. Auf der Grundlage der vorgenommenen Differenzierung von moralischen Prinzipien und realer Praxis fokussiert Prévost die Grenzfälle des Moralischen, die in den Eindeutigkeit suggerierenden Apriori der Moral nicht vorgesehen sind. Lässt sich dieses Erkenntnisinteresse an der komplexen Wirklichkeit der moralischen Lebenspraxis – mit gewissen Einschränkungen (siehe unten 4.2.3.) – als ein ‚empirisches‘ charakterisieren, so ist dieses Interesse dennoch nicht mit einem moralischen Relativismus identisch. Prévosts Roman kennzeichnet, dass er sich weder auf eine ‚empiristische‘ noch auf eine ‚moralistische‘ Textbedeutung vereindeutigen lässt: Es konstituiert sich einerseits anhand des klassizistischen Formulariums des Paratextes und weiterer noch näher zu betrachtender Elemente eine normative Bedeutungstendenz des Romans, während sich andererseits bereits in der paratextuell vorgenommenen Differenzierung von Theorie und Praxis eine ‚empiristische‘ Tendenz nachweisen lässt, deren Untersuchungsgegenstand die Vielschichtigkeit der moralischen Phänomene ist. Diese Sicht auf die Komplexität der Moralpraxis bestätigt sich in einem weiteren Element des „Avis de l’auteur“. Im Anschluss an die bereits zitierte Textstelle, in der die bizarrerie du cœur humain begrifflich eingeführt wird, erklärt der ‚Autor‘ die so bezeichnete menschliche Disposition zum bevorzugten Thema in moralischen Gesprächen unter Freunden: Si les personnes d’un certain ordre d’esprit et de politesse veulent examiner quelle est la matière la plus commune de leurs conversations, ou même de leurs rêveries solitaires, il leur sera aisé de remarquer qu’elles tournent presque toujours sur quelques considérations morales. Les plus doux moments de leur vie sont ceux qu’ils passent, ou seuls, ou avec un ami, à s’entretenir à cœur ouvert des charmes de la vertu, des douceurs de l’amitié,

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des moyens d’arriver au bonheur, des faiblesses de la nature qui nous en éloignent, et des remèdes qui peuvent les guérir.696

In zweifacher Weise arbeitet das imaginierte freundschaftliche Gespräch dem im Paratext entworfenen Begriff des Bizarren zu. In inhaltlicher Hinsicht verhandeln die im Gespräch getätigten „considérations morales“ genau jenen Aspekt der menschlichen Existenz, den der ‚Autor‘ vorher mit dem Begriff der bizarrerie du cœur humain belegt hatte: die Distanz zwischen den ideellen „charmes de la vertu“ einerseits und den mit den „faiblesses de la nature“ begründeten Handlungen andererseits. Zweitens wird die ‚bizarre‘ theoretisch-praktische Diskrepanz des Moralischen auch in struktureller Hinsicht in der Mehrstimmigkeit des entretien gespiegelt. Dass Prévost mit dem entretien auf eine Redegattung Bezug nimmt, für die Dialogizität strukturkonstitutiv ist, wiederholt die vorausgegangene Absage an die monologischen préceptes der Moral. Die plurivokale Struktur des Gesprächs markiert das Verhältnis von moralischer Norm und menschlicher Realität als ein komplexes, das nicht als eine bloße Abbildungsrelation darstellbar ist. Im entretien vollzieht sich die Konfrontation von mindestens zwei Perspektiven, die im erörternden Modus des Für und Wider ausgehandelt werden. Deutlich wird eine um Komplexität und Ausgewogenheit bemühte Sicht auf die Bewertung menschlichen Handelns, die neben den herrschenden moralischen préceptes auch der Existenz konkurrierender, das tugendhafte Handeln erschwerender Motive Rechnung trägt. Hier lässt sich eine Verbindung zu Prévosts journalistischem Schaffen ziehen. Denn Prévosts zwischen 1733 und 1740 (mit Unterbrechungen) redigiertes und bei Didot publiziertes Journal Le Pour et contre697 trägt den abwägenden Modus nicht nur im Titel. Das Für und Wider bildet auch den Kern seiner Programmatik. Prévost orientiert sich mit Le Pour et contre am Vorbild der englischen Newspapers und Moral weeklies, die sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verbreiten. Abgedeckt werden neben Neuerscheinungen aus dem Bereich der französischen Literatur und Philosophie, die

696 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 5. 697 Der vollständige Titel lautet: Le Pour et contre, ouvrage périodique d’un goût nouveau dans lequel on s’explique librement sur tout ce qui peut intéresser la curiosité du public, en matière de sciences, d’arts, de livres, d’auteurs, etc. sans prendre aucun parti, et sans offenser personne, Paris 1733–1740. Für die Publikationsgeschichte sowie eine kritische Edition der Ausgaben 1–60 siehe Prévost, Antoine François et al., Le Pour et contre (nos 1–60), hg. v. S. Larkin, 2 Bde., Oxford 1993. Eine kurze Einführung über die Bedeutung von Le Pour et contre im Kontext der Journalproduktion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liefert auch Charles, Shelly, Récit et réflexion: poétique de l’hétérogène dans Le Pour et contre de Prévost, Oxford 1992, S. 1–4. Siehe für eine Einbettung des Journals in Prévosts übrige schriftstellerische Tätigkeit auch Sgard, Jean, Le Pour et contre de Prévost. Introduction, tables et index, Paris 1969. Nachfolgend werden Verweise auf Prévosts Zeitschrift unter Angabe des Bandes, der Nummer und Seitenzahl der Originalausgabe zitiert, z. B. Le Pour et contre, Bd. 5, No. 61, S. 6. Verweise auf den von Larkin bereitgestellten kritischen Apparat erfolgen unter der Abkürzung Prévost/Larkin 1993.

Ambivalenzen im „Avis de l’auteur“

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Gegenstand von Besprechungen werden, vor allem die englische Literatur- und Theaterproduktion sowie Ereignisse und Neuigkeiten der Londoner Gesellschaft. Für den Zusammenhang des Konflikts zwischen einer ideellen und einer praktischen Moral ist jedoch eine weitere Rubrik von Interesse, in der Prévost sich Begebenheiten von moralischer Tragweite widmet. In merklicher Analogie zu der Argumentation im „Avis de l’auteur“ werden diese Sonderfälle und Kasus moralischer Grenzüberschreitung in Le Pour et contre als „évenemens singuliers“,698 ‚bizarres‘, ‚extraordinaires‘ o. ä. angekündigt. Hier bedient Prévost sich in der Regel an in der englischen Presse dokumentierten – realen – Fällen, gestaltet diese jedoch literarisch aus699 und modifiziert sie dabei auch inhaltlich in teils erheblichem Maße.700 Dieser Arbeit am Fallmaterial701 – wie im Übrigen auch dem gesamten Inhalt des Journals – liegt dabei eine Programmatik zugrunde, die sich im Anschluss an den Titel Le Pour et contre auf eine Position der

698 So z. B. jener Kasus einer Kindstötung, von dem Prévost in Le Pour et contre, Bd. 1, No. 9, S. 214– 216, berichtet und auf den noch zurückzukommen ist. 699 In der Folge wurden die auf diese Weise entstandenen literarischen Prosatexte in Sammlungen moralischer Erzählungen aufgenommen, wie etwa die 1763 von Mlle Uncy edierten Contes moraux dans le goût de ceux de M. Marmontel recueillis de divers auteurs. Als solche wurden sie auch wiederholt Gegenstand der Novellenforschung. Zu welch problematischen Urteilen die Übertragung von Gattungsbegriffen und die unzureichende Berücksichtigung des ursprünglichen Publikationskontextes jedoch mitunter führen, demonstriert Pierre Berthiaume in seinem Aufsatz „L’esthétique des Contes singuliers“, in: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 46 (1994), S. 387–402. Ausgehend von einem präskriptiven Gattungsverständnis bewertet Berthiaume Prévosts ‚contes‘ als „échec“ (ebd., S. 387), weil der erzählerische discours zu „distant, objectif et neutre“ (ebd., S. 390 f.), kurzum: zu journalistisch sei: „Présentés à travers le regard analytique du narrateur, les personnages deviennent des cas soumis à un examen qui éclaire la totalité de leur être. Mais ils perdent alors tout mystère.“ (ebd., S. 391) Dass es sich bei den untersuchten Erzählungen durchaus um im Kontext einer journalistischen Publikation entstandene Produktionen handelt, die in diesem Sinne als ‚proto-journalistische‘ Erzählform mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse zu gelten haben, wird seitens des Verfassers jedoch nicht reflektiert. In ungleich nuancierterer Weise beleuchtet Astbury, Katherine, „Les ‚contes moraux‘ de Prévost“, in: L’Abbé Prévost au tournant du siècle, hg. v. R. A. Francis u. J. Mainil, Oxford 2000, S. 325–331, das in doppeltem Sinne moralistische Erkenntnisinteresse der ‚contes‘, das außer in der zeitgemäßen instruction des mœurs auch darin bestehe „à explorer les bizarreries de la condition humaine et à en montrer les faiblesses, même la réalité“ (dort S. 326). Astburys unscheinbare Formulierung beinhaltet im Kern bereits die im vorliegenden Kapitel vertretene These einer fundamentalen Ambivalenz im Hinblick auf die Funktion des literarischen Textes. 700 Siehe für dieses Verfahren und einige typische Beispiele Berthiaume, Pierre, „Les contes de Prévost et leurs ‚sources‘“, in: Canadian Revue of Comparative Literature 8/1 (1981), S. 61–78. 701 Freilich liegt dieses ‚Material‘ aufgrund seiner vorgängigen Publikation in englischen Journalen selbst schon in einer Form und inhaltlichen Gestaltung vor, die einem spezifischen Erkenntnisund Publikationsinteresse geschuldet ist. Mir geht es jedoch weder um das grundsätzliche Problem, dass Information immer schon in diskursivierter Form und, mit Ausnahme numerischer Daten, niemals ‚roh‘ vorliegt, noch um die Frage der Faktizität der dokumentierten Fälle. Von Interesse ist vielmehr eine moralische Konfliktstruktur, die sich in den von Prévost literarisch bearbeiteten Fällen nachweisen lässt und die in einer engen Verweisrelation mit dem Programm der Zeitschrift steht.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Unparteilichkeit beruft. Die erste Ausgabe des Journals, die im Juni 1733 erscheint,702 formuliert dieses Programm folgendermaßen: J’intitule cet Ouvrage, LE POUR ET CONTRE, c’est-à-dire, que voulant éviter tout ce qui peut sentir la faveur, la haine, le mépris, l’ironie même, en un mot toute ombre de partialité & de passion; voulant observer toutes les bienséances, remplir tous les devoirs, & ne sortir jamais des bornes de la liberté Françoise, je me propose de remarquer avec le même soin, ce que je croirai appercevoir de bien & de mal dans chaque sujet sur lequel j’entreprendrai de m’expliquer. Si je parle d’un Ouvrage d’esprit, je tâcherai d’en faire l’Eloge avec la même sincérité que la Critique. Si je rapporte un fait, général ou particulier, je le représenterai du bon côté aussi soigneusement que du mauvais.703

In die Kategorie der letztgenannten „faits“ fallen die oben bereits erwähnten moralpraktischen Kasus. Wird die unparteiliche Haltung des Sprechers hinsichtlich der Darstellung dieser Fälle folglich als ausgewogene Untersuchung von deren ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Aspekten konkretisiert, so wird Raum geschaffen für die Komplexität und mögliche Ambivalenz moralischer Bewertungen. Dabei ist dieser Anspruch insofern zu hinterfragen, als er trotz seines Insistierens auf eine der Komplexität des Realen angemessenen Darstellung nach wie vor der normativen Scheidung in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ verhaftet bleibt. Auf diesen latenten Widerspruch, der sich als Pendelbewegung zwischen dem Drängen auf moralische Normativität einerseits und einer auf objektive Bestandsaufnahme der realen Phänomene bedachten Tendenz andererseits bemerkbar macht, wird im Hinblick auf den Avis de l’auteur noch zurückzukommen sein. Festhalten lässt sich für die in Le Pour et contre publizierten Kasus dennoch ein für das moralistische Genus im frühen 18. Jahrhundert bemerkenswertes Erkenntnisinteresse, das der Komplexität der moralpraktischen Phänomene gilt. In ihrer objektiven Vermittlung, die auf Verurteilungen weitestgehend verzichtet, werden eindimensionale Wertungsvornahmen reduziert. In Prévosts modifizierendem Umgang mit dem Material der englischen Presse tritt dieses Erkenntnisinteresse besonders prägnant hervor. Anhand der Konfliktstruktur eines Fallbeispiels aus Le Pour et contre und dem Vergleich mit seinem englischen Hypotext lässt sich eine ‚empiristische‘ Orientierung rekonstruieren. Am Ende der neunten Ausgabe von Le Pour et contre findet sich die Darstellung eines Falls von Kindstötung, der sich jüngst im englischen Buckinghamshire zugetragen habe und der als „événement singulier“ angekündigt wird.704 Da es sich um einen verhältnismäßig kurzen Text handelt, zitiere ich ihn in voller Länge:

702 Larkin, Steve, „Introduction“, in: Prévost/Larkin 1993, Bd. 1, S. 1–41, dort S. 4. 703 Le Pour et contre, Bd. 1, No. 1, S. 8. 704 Le Pour et contre, Bd. 1, No. 9, S. 214.

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On écrit d’une ville de Buckinghamshire, nommée Brill, qu’il y arriva la semaine passée une avanture des plus Tragiques. Un homme de la Ville, qui nourrit un grand nombre de Lapins domestiques, étant sorti le matin pour en aller porter quelques-uns à un Gentilhomme des environs, traversoit un petit bois qui se trouve sur le chemin. Quelques branches d’arbres renverserent une grande cage d’osier qu’il avoit sur son cheval, & les Lapins qui y étoient renfermés trouverent le moien de s’échapper. Il en poursuivit quelquesuns qu’il esperoit de saisir plus facilement. S’étant enfoncé pour cela dans le bois, il s’apperçut, en passant sous un grand arbre, que la terre y avoit été remuée tout nouvellement. La curiosité le porta à l’ouvrir de nouveau, ce qui lui fut facile avec son bâton. Il y trouva à deux ou trois pieds de profondeur, un panier bien couvert dans lequel étoit un enfant nouveau né, qui paroissoit y avoir été mis le même jour. L’enfant étoit mort, mais il lui restoit encore un peu de chaleur. Il ne paroissoit point qu’on l’eût fait mourir avec violence, de sorte qu’il devoit avoir été enterré tout vivant. Le bruit de cet avanture qui ne tarda point à se répandre, fit qu’on examina de fort près toutes les filles des environs. On découvrit sans peine que la mere de l’enfant étoit la femme de Chambre d’une Dame de la premiere distinction, qui a son Château dans le voisinage. Elle fut arrêtée, & l’on a sçu par sa déposition qu’aiant eû ce malheureux fruit du fils aîné de sa Maîtresse, elle s’étoit déterminée, pour sauver son honneur, à l’enterrer elle-même dans le lieu où on l’avoit trouvé. C’étoit au même endroit, ajoûte-t-on, qu’elle avoit eu la foiblesse de ceder à l’amour, & au même aussi, qu’elle étoit accouchée. La crainte a fait disparaître le jeune homme, qui est d’une des premieres Maisons de la Province.705

Angesichts der höchsten ethischen Grenzüberschreitung, die eine von der Mutter ausgeübte Kindstötung im kollektiven Bewusstsein darstellt, sind zwei Aspekte dieser Fallschilderung besonders hervorzuheben: erstens ihre bemerkenswert urteilsfrei und nüchtern berichtende Narration; sowie zweitens der Umstand, dass der zu erwartende Gerichtsprozess und die anschließende Bestrafung der Mörderin ausgespart werden. Auf zweifache Weise verzichtet Prévost daher auf eine offene moraldidaktisch funktionalisierte Wertungsvornahme – und dies obwohl sich der Fall in geradezu paradigmatischer Weise für ein Moralurteil anböte. Das Fehlen eines Urteilsspruchs bedeutet indes nicht, dass die Drastik der Tat relativiert würde. Dass Prévost sie durchaus als im Dienst einer instruction morale stehendes Exempel verstanden wissen will, ergibt sich deutlich aus der Einleitung des Falles: Les évenemens singuliers, dans quelque genre qu’ils soient, ont toûjours quelque chose d’utile & d’interessant. L’imagination en est plus frappée que de ce qui se passe ordinairement sous nos yeux, dans une âme bien disposée ils produisent toûjours quelque chose en faveur de la vertu, ou contre le vice.706

705 Ebd., S. 214–216. 706 Ebd., S. 214.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Dass die anschließende narrative Präsentation des Kasus trotz dieser eindeutig moraldidaktisch ausgerichteten Vorrede eine moralische Wertvornahme des Erzählers vermissen lässt, wirft uns auf die Zweischneidigkeit des Paratextes von Manon Lescaut zurück. Hier wie dort wird eine normativ-didaktische Textfunktion von gegenläufigen Textstrukturen durchkreuzt: Die normative Tendenz konfligiert mit einer Faszination für die Singularität der moralischen Realität und einem Bewusstsein für die Konkurrenz ethischer Normen in der konkreten Praxis. Dieses spezifische Bewusstsein wird von den Änderungen bezeugt, die Prévost an der englischen Pressemeldung über den Kindsmord vornimmt. Als englischen Hypotext zitiert Larkin in seinem kritischen Apparat die in The Bee, No. 20 (7.–14. Juli 1733), abgedruckte Fallversion,707 von der sich die Darstellung in Le Pour et contre aufgrund einer zentralen inhaltlichen Modifikation markant absetzt: Prévost verlegt die Täterschaft kurzerhand von dem Kindsvater auf die Kindesmutter. Angesichts eines derart massiven Eingriffs in die Konstellation des Falls spekuliert Larkin über die misogyne Einstellung des Autors: „Was the notion that a gentleman’s son should be charged with murder in such circumstances unpalatable to Prévost, or to his French readers? Was he, were they, male chauvinists at heart?“708 Der hier demonstrierte biographistisch spekulierende Intentionalismus mutet seltsam anachronistisch an, führt er doch bei Fehlen der entsprechenden Dokumentation in eine hermeneutische Sackgasse.709 Anstatt Vermutungen über die Gesinnung des Autors anzustellen, die einer materialbasierten Argumentation entbehren, soll die Perspektive daher verschoben und nach den produktiven Effekten der am Material vorgenommenen Modifikationen gefragt werden: Was ändert sich dadurch, dass Prévosts Tatszenario nicht mehr auf den Vater, sondern auf die Kindesmutter fokussiert? In 707 Anm. dd. in Prévost/Larkin 1993, Bd. 2, S. 699 f. Der einfacheren Nachvollziehbarkeit halber sei auch dieser Text aus The Bee in Gänze zitiert: „They write from Brill in Buckinghamshire, of a very inhuman Murder discovered there last Week, and which happened in the following Manner: A Man who keeps tame Rabbits in that Town, having occasion to carry some of them to a neighbouring Village, and being obliged to pass through a Wood in his Way thither, one of the Rabbits found means to get from him, and made directly into a large Declivity hard by, surrounded and almost covered up with Nettles; the Person pursuing his Rabbit, was surprized to observe the Nettles so much trampled upon, and suspecting that a Sheep might have been killed and hid there, he turned up the Nettles, and found that a Hole had been lately made there and filled up again; which encreasing his Curiosity, he went back and got a Spade and Assistance, and digging about two Feet deep, came to a Basket, wherein was a new-born Child, having no Marks of Violence upon it beside what the Pressure of the Earth had occasioned; there was with it a Quantity of proper Linnen, and upon the Enquiry that ensued, a Maid-Servant in a neighbouring Family of Distinction readily owned the Child, and charged the Gentleman’s eldest Son both with being the Father of it, and that he had prevailed with her to trust him with it, under Pretence of carrying it out of the House to a Nurse at some Distance; upon which the Coroner’s Inquest have brought in their Verdict Wilful Murder against the young Gentleman, and he has thought proper to leave the Country thereupon.“ 708 Ebd., S. 700. 709 Siehe zum Stellenwert der Autorintention für die Interpretation literarischer Texte grundsätzlich: Spoerhase, Carlos, Autorschaft und Interpretation: methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin/New York 2007.

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dieser Frage ist mehr impliziert als nur die moralische Dimension des Falles; es lassen sich von der durch die inhaltliche Änderung transformierten Perspektive auf die Moral auch Rückschlüsse epistemologischer Art ziehen. Im Vergleich der beiden Fallvarianten zeichnet sich der von Prévost vorgenommene Transfer bereits in den einleitenden Zeilen ab. Als événement singulier wird der Fall aus dem Spektrum des Gewöhnlichen ausgegrenzt, ohne dass sich aus dieser Vereinzelung zwangsläufig eine moralische Wertung ergäbe. Die Qualifikation singulier verortet das Geschehen daher zunächst als Sonder- bzw. Extremfall außerhalb der moralischen Skala und erlaubt dabei ebenso positive wie negative Konkretisierungen. Eine negative Tendenz ergibt sich erst aus dem angeschlossenen Zusatz, dass es sich um „une avanture des plus Tragiques“ handele. Allerdings bleibt auch diese Charakterisierung sonderbar urteilsoffen, verbindet sich doch mit dem Tragischen seit der Antike typischerweise eine ambivalente Bewertung der persönlichen Schuld.710 Dass Prévost ausgerechnet das Epitheton tragique wählt, das die Frage nach der Schuld des Individuums unter den Vorzeichen der Uneindeutigkeit bzw. Komplexität stellt, spiegelt die programmatische Ausrichtung von Le Pour et contre wider. Dem gegenüber steht in The Bee die moralisch eindeutige Bewertung des Falles als „a very inhuman Murder“. Wo der englische Text folglich ein moralisches Urteil (‚unmenschlich‘) fällt, fokussiert Prévost die Eigentümlichkeit (singulier) und moralische Ambivalenz (tragique) des Konflikts. Mehr noch: Mit seinem Eingriff in die Geschlechterkonstellation des Falles verschärft Prévost dessen moralische Komplexität und kreiert so allererst einen ambivalenten Kasus. Gemäß Rainer Warning, der wiederum an André Jolles anschließt, ergibt sich ein Kasus „immer dann, wenn die Gültigkeit absoluter Normen in Frage gestellt ist und stattdessen verschiedene Normen gegeneinander abgewogen werden.“711 Ambivalenz ist dem Kasus daher immer schon inhärentes Wesensmerkmal. Zieht Prévosts Fall zwar nicht die grundsätzliche Validität moralischer Normen in Zweifel, so wird gleichwohl die Exklusivität und Eindeutigkeit der gültigen Norm hinterfragt. In ungleich stärkerem Maße als die Ausgangskonstellation reflektiert Prévosts Version die Situation konkurrierender Moralvorgaben. Vor dem Hintergrund einer vormodernen Sexualmoral, die voreheliche Verbindungen für Frauen stärker sanktioniert als für Männer, steht Prévosts Kindsmörderin vor einem existentiellen Konflikt, der sich dem Kindsvater in dieser Drastik nicht stellt. Streng genommen konstituiert sich ihr Konflikt überhaupt erst in dem Moment, in dem verschiedene – dezidiert geschlechterspezifische – Wertmaßstäbe simultane Gültigkeit beanspruchen. Mindestens drei

710 Zipfel verwendet im Hinblick auf den tragischen Helden dementsprechend das Oxymoron des „schuldlos Schuldige[n]“; Zipfel, Frank, „Theorien des Tragischen“, in: Handbuch Gattungstheorie, hg. v. R. Zymner, Stuttgart/Weimar 2010, S. 338–341, dort S. 339. 711 Warning, Rainer, Illusion und Wirklichkeit in Tristam Shandy und Jacques le fataliste, München 1965, S. 112.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Werteordnungen treffen in der Tatkonstellation von Le Pour et contre aufeinander: Erstens ein auf dem weiblichen honneur-Begriff basiertes Sexualitätsdispositiv, das, im Unterschied zum männlichen Ehrbegriff, wesentlich auf dem sexualmoralischen Gebot vorehelicher Jungfräulichkeit beruht. Weiblicher und männlicher Ehrbegriff unterscheiden sich hier sowohl in qualitativer Hinsicht, als auch im Hinblick auf das Ausmaß der zu erwartenden gesellschaftlichen Sanktionen bei seiner Verletzung. Es handelt sich bei dem honneur-Gebot daher um ein wesentlich durch die Gesellschaft kontrolliertes und sanktioniertes Normkonzept. In der von Prévosts Fall präsupponierten Situation, in der das Keuschheitsgebot mit sichtbaren Folgen verletzt worden ist, steht die Täterin daher vor der Entscheidung, entweder das Primat der Ehre aufzugeben oder es durch Verschleierung der Schwangerschaft und Tötung des Kindes zu bedienen. Die Tugenden der weiblichen Sexualmoral konkurrieren so unmittelbar mit dem (nicht nur) biblischen Tötungsverbot, das durch die Mutter-Kind-Relation zusätzlich erhöht wird. Mit dieser Verwandtschaftsbeziehung verbindet sich drittens die emotionale Werteordnung einer mütterlichen Liebe gegenüber dem Neugeborenen. Dass Prévosts Text an juristischen und moralischen Verurteilungen spart, gibt den Blick frei für die Motivation der Tat selbst und die in ihr zum Ausdruck gebrachte Pluralität gültiger Normen. Während das Mordmotiv in The Bee unberücksichtigt bleibt, wird es in Le Pour et contre in einem Satz zusammengefasst, der das Dilemma der Täterin pointiert: „pour sauver son honneur“, heißt es dort lapidar. In dem Kernbegriff honneur bricht sich die Komplexität des Moralkonfliktes Bahn. Die Ehre als höchstes (sexual-)moralisches Ideal triumphiert letztlich über den emotionalen Wert der Mutterliebe und das fünfte biblische Gebot. Den Kasus in einer späteren Ausgabe von Le Pour et contre erneut aufgreifend, macht Prévost dieses Konkurrenzverhältnis der Werteordnungen gar explizit: Considerez une fille tendre & timide qui tuë volontairement le fruit de sa faute, pour éviter l’infamie. Est-ce haine ou cruauté qui lui met le couteau à la main? Manque-t-elle même d’amour & de pitié pour un malheureux enfant qui ne fait que sortir de son sein? Non; mais elle aime l’honneur plus que lui.712

Erst Prévosts Modellierung des englischen Falles lässt die Konkurrenz kopräsenter Normen und Regeln hervortreten,713 indem mit der gesteigerten Drastik des Kasus implizit die Exklusivität gültiger moralischer Gebote hinterfragt wird. Trotz seiner

712 713

Le Pour et contre, Bd. 4, No. 55, S. 225. Die These, dass Prévost in den moralischen Geschichten in Le Pour et contre die Konkurrenz simultan gültiger Normen sichtbar macht, bestätigt sich, gleichwohl in zumeist weniger drastischer Weise, in weiteren Kasus; so z. B. in der „Histoire d’un caprice sans exemple“ (Le Pour et contre, Bd. 13, No. 180, S. 49–62), die mittels des Begriffs caprice bereits im Titel einen terminologischen Bezug zum Konzept des Bizarren evoziert.

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literarischen Modellierung bleibt der Fall als „événement singulier“714 mimetisch an die Wirklichkeit gebunden. Der ‚bizarre‘ Einzelfall verweist auf die unreduzierbare Komplexität einer moralischen Wirklichkeit, die scharf mit der ideellen Eindeutigkeit der Norm kontrastiert. Als Moment der moralpraktischen Realität ist die individuelle expérience nicht mittels der apriorischen préceptes de la morale abbildbar. 4.2.3 Prévost zwischen Empirismus und moralischer Normativität Wir haben diese Art des anti-aprioristischen Blickes auf eine komplexe Wirklichkeit der Moral in heuristischer Annäherung als einen ‚empiristischen‘ bezeichnet. Die Anwendung des Empirismusbegriffs auf Prévosts Werks bedarf derweil ebenso einer Erläuterung wie auch einer Präzisierung. Deutlich geworden ist, dass Prévosts Interesse an Konstellationen moralischer Ausnahmesituationen eine Gegenüberstellung der individuellen expérience mit den préceptes de la morale zugrunde liegt, die Letztere gegenüber Ersterer als unterkomplex erscheinen lassen. Im expérience-Begriff vollzieht sich folglich eine Aufwertung der Phänomene der moralpraktischen Realität. Dass Prévost in den moralischen Fällen in Le Pour et contre die dokumentierten Vorkommnisse der Wirklichkeit literarisch ummodelliert, ist indes noch kein Argument gegen eine Orientierung an der Empirie. Wie im vorigen Abschnitt demonstriert, besteht der produktive Effekt der Modellierung im Gegenteil darin, dass die Komplexität des Wirklichen gegenüber der präsupponierten Eindeutigkeit der Moral in prononcierter Weise herausgestellt wird. Obwohl sich daher streng genommen nicht von einer realitätsgetreuen Abbildung von Einzelsituationen sprechen lässt, faltet doch erst die literarische Modellierung jene Merkmale der praktischen Moral auf, welche die empirische Wirklichkeit von der apriorischen Theorie unterscheiden. Wenn Prévost in seiner „Introduction à des évenemens extraordinaires“715 deren Reproduktion „tels

714 Dass es sich bei dem Interesse an der singulären expérience, die sich der Abbildung durch vorgefasste Kategorien des Moralischen entzieht, um ein Charakteristikum der von Prévost redigierten Ausgaben von Le Pour et contre handelt, wird von der statistischen Häufung der Adjektive singulier, bizarre (bzw. des von ihm abgeleiteten Substantivs bizarrerie) und extraordinaire nahegelegt. Von der statistischen Auswertung ausgenommen ist der 16. Band von Le Pour et contre (Nos. 223–237, 1738), der zur Zeit der Redaktion dieser Arbeit als einziger nicht in digitalem Format zugänglich war. Für die digitalisierten Bände 1–15 und 17–20 ergeben sich 231 Okkurrenzen von extraordinaire, 69 Okkurrenzen von singulier sowie 45 Okkurrenzen von bizarre/bizarrerie. Zieht man von diesen Ergebnissen jene Seiten des Journals ab, die nicht von Prévost redigiert worden sind (i. e. Bd. 2, S. 84–360; Bd. 3, S. 1–48; Bd. 17, S. 49–360; der gesamte Band 18), so verbleiben jeweils 225/60/42 Okkurrenzen der gesuchten Adjektive. Der quantitative Umstand, dass sich nahezu alle Vorkommen den von Prévost verantworten Ausgaben zuordnen lassen, lässt auf die qualitative Bedeutung dieser Konzepte für Prévosts Denken schließen. Siehe zum Problem der Autorschaft von Le Pour et contre näher Prévost/Larkin 1993, S. 6–8. 715 Le Pour et contre, Bd. 4, No. 59, S. 313.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

qu’ils sont“716 mit der programmatischen Ausrichtung seiner Zeitschrift rechtfertigt, so bezieht sich dieser mimetische Anspruch daher weniger auf die etwaigen situativen Details der Ereignisse als auf eine Nachbildung jener der moralischen Praxis zugrundeliegenden Struktur der Wirklichkeit im Sinne konkurrierender Werteordnungen. Die in dieser Nachahmungspoetik zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber der vollständigen Abbildbarkeit der moralischen Phänomene durch apriorische Erklärungen verbindet Prévost mit den Vertretern des (naturwissenschaftlichen) Empirismus im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Dennoch trennt Prévost von den Empiristen eine maßgebliche, vor allem erkenntnistheoretisch begründete Distanz, die es zwingend zu berücksichtigen gilt, will man die Manon Lescaut und Le Pour et contre zugrundeliegende – und keineswegs konfliktfreie – Verbindung von neuzeitlicher Beobachtungsepisteme und Moralphilosophie angemessen beschreiben. Prévosts Nachahmungsästhetik als ‚empiristisch‘ zu charakterisieren, soll über diese Unterschiede nicht hinwegtäuschen. Als heuristischer Ausgangspunkt eröffnet der Empirismusbegriff jedoch einen Zugang zu einer moralphilosophischen Anschauung, die sich durch die für sie konstitutive kategorische Differenzierung der moralpraktischen Phänomene einerseits und der apriorischen Theorie andererseits auszeichnet. ‚Empiristisch‘ ist Prévosts Nachahmungspoetik daher lediglich im Hinblick auf bestimmte Aspekte des frühneuzeitlichen Empirismus, während andere Elemente dezidiert abgelehnt werden. Diese Annäherung und Abgrenzung gilt es im Folgenden anhand von in Le Pour et contre veröffentlichten Besprechungen epistemischer Texte (ouvrages d’esprit) zu rekonstruieren. Auf der einen Seite der Bilanz steht eine erkennbare Wertschätzung von Texten und Autoren, die mit der Propagierung und Durchsetzung der empirisch-experimentellen Episteme in den Naturwissenschaften assoziiert sind. Wegweisend für die rhetorische Durchsetzung eines epistemologischen Wandels im frühneuzeitlichen Wissenssystems ist bekanntlich das Novum Organum (1620) des Francis Bacon, den Prévost im Kontext seiner Besprechung des 12. Kapitels aus Voltaires Lettres philosophiques als ‚Begründer‘ der experimentellen Methode würdigt.717 Voltaire in weiten Teilen paraphrasierend, bewertet Prévost Bacons Beitrag zu den Naturwissenschaften anerkennend:

716

717

Ebd., S. 314: „Le Pour & Contre n’est point un Ouvrage d’imagination. Je me suis lié par les engagemens que j’ai pris dans ma premiere Feüille. Si l’on se rappelle les douze Articles dont j’ai promis de le composer, on pourra peut-être blâmer mon projet; mais aussi longtems qu’il me sera permis de croire qu’on l’approuve, mon devoir ne consiste qu’à l’exécuter. Or en promettant de rapporter les évenemens extraordinaires, je n’ai pû garantir qu’ils fussent toûjours agréables de leur nature, & propres à flatter le goût par la beauté du sujet. Je les dois au Public tels qu’ils sont, & je n’ai que les graces du stile à leur prêter.“ Im Hinblick auf die von Voltaire demonstrierte und bis heute verbreitete Fehleinschätzung, dass erst Bacon die experimentellen Wissenschaften begründet habe, vgl. die Klarstellung in s. v. ‚Physikalische Wissenschaften‘, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. v. F. Jaeger, 16 Bde., Stuttgart/Weimar 2005–2012, Bd. 9, S. 1147–1175, dort insbes. S. 1152: „Zutreffender wäre zu sagen, dass das schon viel

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C’est lui qui a reconnu le premier tout ce qu’il y a de puéril dans la Philosophie des Anciens, & qui a fait les premiers pas vers les connoissances solides par la voye des expériences. A la vérité l’on avoit fait avant lui des découvertes admirables; mais on ne les avoit dûës qu’au hazard. […] Mais avec la connoissance de tant de merveilles, on n’étoit pas plus avancé dans celles de la nature. Un certain instinct méchanique avoit été le seul guide des hommes dans toutes ces recherches; & c’est une chose fort remarquable, que les plus belles inventions soient venuës des siecles les plus grossiers & les plus barbares. Bacon a commencé à mettre de l’ordre & de la clarté dans les connoissances physiques.718

Obwohl es sich hier erkennbar um eine Reproduktion der in den Lettres philosophiques vorgebrachten Argumente handelt, so lässt sich doch annehmen, dass Prévost die von Voltaire zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung für die metonymisch mit Bacon verbundene induktive Methode teilt. Seine intellektuelle Freiheit gegenüber vorformulierten und von den philosophes sanktionierten Urteilen beweist Prévost nicht zuletzt mit seiner deutlichen Absage an Lockes Erkenntnistheorie, auf die gleich zurückzukommen ist. Dass es sich bei seinem Lob auf die induktiv-experimentelle Methode daher nicht lediglich um eine à contre-cœur erfolgende, strategische Zustimmung handelt, sondern um eine das journalistische Werk durchziehende epistemologische Konstante, wird durch die Besprechungen einer Vielzahl anderer Schriften aus dem Bereich der Naturphilosophie belegt. So formuliert Prévost anlässlich der Veröffentlichung von François Quesnays Essai phisique sur l’œconomie animale (1736) folgenden Vergleich der von Quesnay repräsentierten zeitgenössischen anatomischen Forschung mit der antiken und fernöstlichen Medizin: Ceux qui sont trop prévenus en faveur de l’Antiquité ou des Païs étrangers, n’ont qu’à comparer le dernier Chapitre de l’Essai physique de M. Quesnay sur l’œconomie animale, avec la doctrine de Houangchouho sur le Poulx; non seulement ils y verront, comme dans l’Ouvrage Chinois, les observations les plus délicates & les détails les plus variez, mais s’ils sont capables de sentir combien les discussions d’une raison sage & éclairée, qui remonte au principe naturel des choses, & qui les explique autant par leurs causes que par leurs effets, l’emportent sur une pratique aveugle & méchanique dont l’exercice se borne à l’étendue sensible de son objet, ils auront peu d’embarras à décider sur le mérite des deux Ouvrages, & par conséquent sur les lumieres des deux Auteurs.719

Die Überlegenheit der zeitgenössischen (französischen) Wissenschaften gegenüber der unsystematischen „pratique aveugle & méchanique“ ihrer antiken Vorläufer wie auch ihrer außereuropäischen Pendants bestehe demgemäß in einem Denkmodus, der

718 719

länger bekannte Vorgehen nun mit allen rhetorischen Mitteln zum Königsweg der Naturforschung erklärt wurde.“ Le Pour et contre, Bd. 1, No. 12, S. 275 f., Herv. i. O. Le Pour et contre, Bd. 9, No. 134, S. 317 f.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

ausgehend von der akribischen Beobachtung der empirischen Phänomene in systematischer und induktiver Weise zum „principe naturel des choses“ vordringe. Prévost nutzt das journalistische Publikationsmedium zur Propagierung jener Episteme der experimentierenden Beobachtung, die seit der sog. Scientific Revolution den Diskurs über die Generierung von Wissen dominiert.720 Dieser popularisierende Aspekt der frühen Aufklärung im Hinblick auf einen induktiven Erkenntnismodus, der sich des wissenschaftlichen Experiments bedient, wird auch in Prévosts lobender Würdigung auf die von Jean-Antoine Nollet seit 1734 öffentlich ausgerichteten Cours de Physique expérimentale in zweifacher Weise zum Ausdruck gebracht:721 Gewürdigt wird zum einen eine Publikationsform (die öffentliche Vorführung zu Bildungszwecken), die sich des Experiments bedient, um Erkenntnisse aus dem Bereich der Naturphilosophie dem Publikum nicht nur theoretisch zu erläutern, sondern praktisch zu demonstrieren, und auf diese Weise an der Verbreitung des experimentellen Verfahrens selbst partizipiert. Indem Prévost mittels der positiven Besprechung in Le Pour et contre gewissermaßen Werbung für die Veranstaltungen des Abbé Nollet macht, wird sein Journal darüber hinaus selbst Popularisierungsmedium für die experimentellen Wissenschaften und das ihnen zugrundeliegende empirische Denken. Obwohl Prévost sich deutlich für einen Modus der Beobachtung und ein induktives naturphilosophisches Verfahren ausspricht, erstreckt sich diese ideologische Nähe keineswegs auch auf die im engeren Sinne erkenntnistheoretische Facette des Empirismus. Im Gegenteil ist Le Pour et contre nicht nur das Medium, in dem Prévost seinen Zuspruch zur wissenschaftstheoretischen Seite des Empirismus publiziert, sondern im selben Maße auch jenes, in dem er seine Ablehnung gegenüber der empiristischen Erkenntnistheorie zum Ausdruck bringt. Für diese Kritik bedient er sich zweier Argumente, die sich hinsichtlich ihrer argumentationslogischen Gültigkeit allerdings erheblich unterscheiden. Die Kritik zielt erstens auf das logische Fundament der empiristischen Erkenntnistheorie, die in Lockes tabula rasa-Metapher zusammengefasst wird. Der von der tabula rasa verbildlichten Absage an eingeborene Ideen stellt Prévost die besonderen Eigentümlichkeiten des englischen Volkes gegenüber, wobei er die Möglichkeit, dass es sich um erworbene Merkmale handeln könnte, grundsätzlich negiert: [C]e Peuple, où l’on établit en dogme que l’homme se trouve à sa naissance comme une Table rase, est de tous les pays du monde celui qui se conduit le plus généralement par les

720 Der Zusammenhang der experimentellen Methode und einer sich mit ihrer Durchsetzung vollziehenden Revolution in den Wissenschaften von der Natur wird auch von d’Alembert im Artikel ‚Expérimental‘ der Encyclopédie formuliert; siehe Enyclopédie, Bd. 6, 1756, S. 298–301, dort explizit auf S. 299. Vgl. ebenfalls s. v. ‚Wissenschaftliche Revolution‘, in: Jaeger 2005–212, Bd. 15, S. 73–76, sowie s. v. ‚Experiment‘, in: ebd., Bd. 3, S. 722–728, insbes. 724–726. 721 Le Pour et contre, Bd. 8, No. 119, S. 326–332.

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premieres impressions de la nature. A peine sont-ils sortis de l’enfance que vous les voyez fiers de leur raison. Ils rejettent avec mépris l’esclavage de l’exemple & le joug de l’autorité. Où prennent-ils donc les principes sur lesquels ils se conduisent, s’ils n’en ont point reçu quelques-uns de la nature? Ont-ils eu le tems dès leur premier âge d’examiner avec tant de soin les connoissances qu’ils ont sitôt acquises, & de les comparer avec tant de justesse & de fidélité, qu’ils puissent les regarder comme autant de fondemens certains sur lesquels ils ayent le droit de se regler eux-mêmes, & celui de condamner les autres? Ajoûtez que pour les sentimens, il y a peu de Nations qui en soient aussi capables qu’eux. Les Peres & les Epoux y sont tendres, ardens, fideles. En Angleterre la tendresse de cœur est la vertu de tous les états &, c’est ce qu’ils expriment si bien par le mot de goodnatur’d. Je leur demande si ce qui seroit un effet de l’habitude, ou des préjugez de l’enfance, ou de la force de l’éducation, peut devenir si universel & se soutenir si constamment? Ainsi c’est de leur caractere même que je conclus la fausseté de leur doctrine.722

Um die Locke’sche Erkenntnistheorie zu entkräften, die alle Ideen auf Sinneseindrücke (sensations) oder deren mentale Betrachtung (reflection) zurückführt, beruft Prévost sich auf die vermeintlich eingeborenen „sentimens primitifs“ und „lumieres indépendantes“723 des englischen Volkes: ihre Neigung zum autonomen Gebrauch des Verstandes sowie ihre ausgeprägte Sentimentalität. Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit, die verschiedene Arten der aufklärerischen Funktionalisierung der empfindsamen Tendenz untersucht, erscheint dabei besonders aufschlussreich, dass Prévost für diese anti-empiristische Positionierung auf einen Gefühlsbegriff rekurriert, der in seiner Konzeption als naturgegebenes Gefühlsprinzip in deutlicher Nähe zum Begriff des common sense (Shaftesbury) bzw. moral sense (Hutcheson) steht.724 Der Verweis auf den treuen englischen Familienvater und Ehemann sowie dessen Charakterisierung als „goodnatur’d“ transportiert zudem latent die für die englische bzw. schottische Begriffsbildung konstitutive moralische Komponente. Wenngleich Prévost noch am Anfang der empfindsamen Strömung in Frankreich steht, lässt sich in seiner Kritik an der empiristischen Erkenntnistheorie somit bereits eine ihrer Kernkomponenten nachweisen. Neben dieser im engeren Sinne argumentationslogisch vorgehenden Kritik ist in Prévosts Ablehnung des erkenntnistheoretischen Empirismus englischer Prägung eine weniger logisch als vielmehr emotional begründete Tendenz rekonstruierbar, die sich als ‚metaphysisches Unbehagen‘ darstellt. In diesem zweiten Argumentations-

722 Le Pour et contre, Bd. 4, No. 55, S. 226 f., Herv. i. O. Nicht untersucht werden kann an dieser Stelle die naheliegende Möglichkeit, dass Prévost das von Locke entworfene erkenntnistheoretische Modell schlicht falsch verstanden hat. 723 Ebd., S. 228. 724 Siehe den Abschnitt „Neuzeit“ des Eintrags ‚Sensus communis‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 639–662, insbes. S. 644 f.

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strang zieht Prévost die Aufrichtigkeit der von den „Philosophes Anglois“ proklamierten natürlichen Religion in Zweifel und unterstellt ihnen eine materialistisch fundierte Zerstörungsintention: Quand ces Philosophes Anglais font ouvertement leurs efforts pour rétablir la Religion naturelle sur les ruines du Christianisme, n’est-ce pas encore une contradiction visible avec leur principe? Car sur quoi peuvent-ils fonder leurs raisonnements, si ce n’est sur ces sentimens primitifs & sur ces lumieres indépendantes qui se trouvent dans tous les hommes, & qu’il est facile de développer avec une médiocre attention? […] Mais, pour nous expliquer sans détour, s’il est visible, que les ennemis des sentimens naturels se contredisent, il ne faut pas croire qu’ils le fassent en aveugles. Ils connoissent le terme auquel ils tendent. C’est leur route qu’ils tâchent de déguiser. Religion naturelle & révélée, ils regardent l’une & l’autre à peu près du même œil, & rapportant toutes leurs vûës à l’établissement de leur Idole, qui n’est que le matérialisme, ils commencent seulement par se défaire du Christianisme comme de l’obstacle le plus importun; & déjà ils attaquent l’autre de loin par le principe dont nous parlons, quoiqu’ils affectent de la prêcher par un reste de bienséance & de ménagement. En un mot, c’est à l’existence de l’âme, & de toutes sortes de substances immaterielles, qu’ils en veulent depuis trente ou quarante ans.725

Bei den selbsternannten englischen Deisten – genannt werden neben Locke auch Collins, Toland, Tindal, Wollaston und Woolston726 – handele es sich gemäß Prévosts Einschätzung folglich um Vertreter eines expandierenden atheistischen Materialismus. Dass Prévost hier einen erkenntnistheoretischen Empirismus undifferenziert mit einer deistischen Gottesauffassung verbindet und diese letztlich mit der materialistischen Philosophie identifiziert, legt nahe, dass es ihm in Le Pour et contre nicht darum geht, die feinen Unterschiede zwischen philosophischen Strömungen, geschweige denn individuellen Positionen zu ergründen und diese seinen Lesern näherzubringen. Bezeugt wird vielmehr ein ideologischer ‚Rest‘, der dem journalistischen Programm trotz anderslautender Beteuerungen anhaftet und der auf einen moralischen Normativismus christlicher Prägung hinweist. Im Hinblick auf die ‚empiristische‘ Tendenz von Prévosts mimetischer Ästhetik lässt sich nun ein Zwischenfazit ziehen. Empiristisch ist diese Ästhetik insofern, als sie ein Erkenntnisinteresse an den Phänomenen der empirischen Realität bezeugt und diese mit theoretischen Prinzipien kontrastiert, welche die Phänomene in wesentlich unangemessener Weise abbilden. Mit den Vertretern des Empirismus des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts teilt Prévost daher eine fundamentale Skepsis gegenüber der Adäquatheit apriorisch und deduktiv verfahrender Systeme. Nicht auszuschließen 725 Le Pour et contre, Bd. 4, No. 55, S. 228 f., Herv. i. O. Vgl. hier auch die in Le Pour et contre, Bd. 1, No. 3, S. 58 anlässlich der englischen Übersetzung von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique geäußerte Warnung vor dem „poison du Pirrhonisme“ für die christliche Moral. 726 Le Pour et contre, Bd. 4, No. 55, S. 229.

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ist, dass Prévost die Opposition zwischen den Phänomenen der moralischen Wirklichkeit und den ihnen im Wesentlichen inadäquaten Moralprinzipien jener Polemik verdankt, die von den Verfechtern der neuen Wissenschaftsepisteme gegen die hypothetisch-deduktiv arbeitende ‚alte‘ Naturphilosophie angestrengt wird. In Analogie zum wissenschaftlichen Beobachter sammelt Prévost in Le Pour et contre außergewöhnliche Vorkommnisse von moralischer Tragweite, die als Erscheinungen einer komplexen Wirklichkeit ernst genommen werden, obwohl sie den apriorischen Moralprinzipien widersprechen. ‚Empiristisch‘ ist hier folglich ein Darstellungsmodus, der sich aus der Übertragung einer im Kontext der Naturphilosophie entstandenen induktiven Beobachtungsepisteme auf die moralischen Kasus in Le Pour et contre konstituiert. Die Erkenntnistheorie Locke’scher Prägung soll aus diesem Empirismusbegriff ausdrücklich ausgeklammert werden, wenngleich sich trotz Prévosts vehementer Ablehnungsrhetorik auch in diesem Bereich Annäherungen aufzeigen ließen. So steht etwa der Umstand, dass Prévost moralisches Lernen in Le Pour et contre und nicht zuletzt im „Avis de l’auteur“ zu Manon Lescaut an Erfahrung bindet, zumindest partiell im Einfluss der empiristischen Erkenntnistheorie. Zusammengefasst lassen sich im Werk Prévosts Denkverwandtschaften zu verschiedenen Facetten der empiristischen Epistemologie rekonstruieren, die von gegenläufigen Tendenzen und Affirmationen konterkariert werden. Obwohl er einzelne Denkmodi und Theoreme von den Empiristen, die er rezensiert, übernimmt, gilt es Prévosts kritische Distanznahme ernst zu nehmen, selbst wenn es sich u. U. ‚lediglich‘ um eine religiös begründete emotionale Abwehr handeln sollte. Vor diesem Hintergrund wird die These formuliert, dass neben den Kasus in Le Pour et contre auch die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut einen empiristischen Darstellungsmodus erprobt. Gleichzeitig steht dieser Text ebenfalls im Zeichen jener in Le Pour et contre latenten epistemologisch-ideologischen Grundspannung zwischen einer Dokumentation des moralisch Bizarren727 einerseits und einer Distanzierung von einem moralischen Relativismus andererseits. Von dieser die empiristische Anlage des Textes konterkarierenden normativen Tendenz zeugt u. a. die peritextuelle Bildbeigabe, welche die zweite Romanausgabe von 1753 schmückt. Gegenstand der Darstellung ist die Quintessenz des sechsten Buches von Fénelons Aventures de Télémaque, in dem der Sohn des Odysseus auf der Insel der Calypso gestrandet ist, wo er bekanntlich der Nymphe Eucharis verfällt. Weigert der Verliebte sich nun, die Suche nach seinem Vater fortzusetzen, so erinnert ihn die Göttin Minerva in der Gestalt des Begleiters Mentor an seine Pflicht und bewegt ihn mit einer List zum Verlassen der Insel. Die Vignette zu Manon Lescaut macht die Rückbesinnung des Telemachos auf seine Pflicht zu ihrem Thema und berücksichtigt dabei auch die im 17. Jahrhundert geläufige allegorische Deutung der Episode. Denn wie zu erkennen ist,

727 Vgl. hier auch den Terminus ‚Monstre de la Morale‘ in Le Pour et contre, Bd. 4, No. 59, S. 335.

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führt Mentor seinen Schützling nicht nur fort von der Nymphe Eucharis, die im Hintergrund mit sehnsüchtiger Geste abgebildet ist, sondern zudem einen Kreuzesweg hinauf. Telemachos‘ Rückbesinnung auf die Pflicht wird auf diese Weise interpretiert als Rückkehr zum Pfad der religiösen Tugend, als Sieg des amour sacré über den irdischen amour profane.728

Titelvignette in Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, Ausgabe von 1753; Gallica/Bibliothèque nationale de France

Gemäß Picard gilt es als gesichert, dass Prévost das Motiv der Vignette persönlich in Auftrag gegeben hat.729 Hieraus leitet der Herausgeber der kritischen Manon Lescaut-Edition ab, dass „[Prévost] a voulu mettre en scène de façon dramatique un jeune aveugle, […], qui est pris entre les séductions d’un amour indigne et l’attrait de la vie religieuse ou en tout cas pieusement vertueuse, où le poussent Tiberge et son bon naturel.“730 Prévost wolle seinen Roman demnach im Sinne der allegorischen Interpre728 Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 8, Anm. 4. 729 Siehe auch ebd., „Introduction“, S. CLIII, sowie Picard 1965. 730 Picard 1965, S. 123, Herv. i. O.

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tation des sechsten Buches von Fénelons Télémaque verstanden wissen als im Dienst einer religiös-moralischen Instruktion stehendes Exempel. Die von Mentor ausgeübte anleitende Funktion werde dabei der Figur des Tiberge zuteil. Zwar verkennt diese Deutung, dass es Tiberge wiederholt nicht gelingt, den Sinneswandel seines Freundes zu bewirken, und dass er erst in Nouvel Orléans eintrifft, als mit Manons Tod das zentrale Hindernis für ein Leben nach den Vorgaben der honnêteté bereits beseitigt ist. Dennoch ist es richtig, dass die Vignette einer moralischen Disambiguierung des Romans zuarbeitet. Die von dem Motiv vorgenommene Analogiebildung präsupponiert eine strukturelle und moralische Ähnlichkeit der Liebesgeschichten des Télémaque und des Chevalier des Grieux, die darin besteht, dass beide Protagonisten sich auf einem tugendhaften Weg befanden, von dem sie von Eucharis bzw. Manon lediglich abgelenkt worden sind. Wird Eucharis/Manon in dieser Deutung aus dem Bereich der Tugend ausgegrenzt, so kehrt der Held mit der Trennung von ihr in diesen Bereich zurück. Diese moralische Deutung des Romans wird durch zwei der Vignette beigefügte Verse aus den Oden des Horaz zusätzlich gestärkt, die zum einen auf die moralische Statusdifferenz der Liebenden, zum anderen auf die etwaige Läuterung des Chevalier des Grieux abstellen: „Quanta laboras in Charybdi / Digne Puer meliore flâmma.“731 Dass Prévost die in 1753 revidierte Fassung von Manon Lescaut mit der Vignette versieht, lässt insofern auf einen Versuch der moralischen Disambiguierung seines Textes schließen, als das gewählte Motiv zweifellos an einer moralischen Textfunktion partizipiert. Diesem Desambiguisierungsversuch zum Trotz werden die Ambivalenzen des Romans durch die weiteren, neben der bildlichen Zugabe vorgenommenen, textuellen Revisionen und Zusätze noch akzentuiert, indem sie auf die bizarre Charakterdisposition der Protagonisten fokussieren. Dass die Vorrede ausgerechnet ein als bizarrerie ausgewiesenes Verhalten als ein moraldidaktisches Exempel deklariert, offenbart eine fundamentale Spannung zwischen den Streben nach moralischer Normativität einerseits bei gleichzeitiger Faszination für die Grenzfälle der moralischen Realität andererseits. Die entstehenden und durch die Revision teilweise noch gestärkten Ambivalenzen tangieren daher eine klassizistisch-moralisierende Textfunktion, die durch ein Erkenntnisinteresse an einer sich der apriorischen Modellhaftigkeit entziehenden Wirklichkeit konterkariert wird. Diese für die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut konstitutive Spannung bildet die leitende These der folgenden Textanalyse.

731

Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 9.

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4.3 Eine bizarre Konstellation: Die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut als Kasus Ließ sich aus der Konfrontation des „Avis de l’auteur“ mit den in Le Pour et contre publizierten Besprechungen und moralischen Fällen eine tendenziell empiristische Epistemologie rekonstruieren, so gilt es nun zu belegen, dass dieser Erkenntnismodus nicht allein den Paratext, sondern den Roman in seiner Gänze motiviert. An Le Pour et contre konnte ein empiristisches Erkenntnisinteresse abgeleitet werden, das im Wesentlichen in zwei Aspekten der fiktionalisierten Fallkonstellationen zur Geltung kommt: Vorgenommen wird zum einen die Vereinzelung der erzählten moralischen Handlung als individuelle Erscheinung, was sich u. a. in der Wahl des Adjektivs singulier niederschlägt. Zum anderen zeichnen sich die ausgewählten Fälle durch die Suspendierung eindimensionaler Wertvornahmen und die Komplexität der für sie gültigen Werteordnungen aus. Aus der Kombination dieser zwei Aspekte ergibt sich ein moralischer Kasus, der sich insofern in zweifacher Hinsicht als ein bizarrer darstellt, als er nicht nur die zeitgenössisch typische Begriffsverwendung i. S. v. ‚caprice extraordinaire‘ repräsentiert, sondern daneben auch die untypische, von Prévost im „Avis“ vertretene universal-menschliche Distanz von moralischer Idee und Praxis abbildet. Dass die zwei genannten Aspekte singularité und Normkonkurrenz auch den Fall Des Grieux–Manon strukturieren, ist in den nachfolgenden Abschnitten zu zeigen. Dabei ist für die Übertragung des Empirismusbegriffes von der Untersuchung der Fälle in Le Pour et contre auf die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut irrelevant, dass es sich bei Ersteren um lediglich fiktionalisierte und daher rudimentär ‚faktuale‘ Begebenheiten, im Hinblick auf die Letztere hingegen um eine gänzlich fiktive Handlungskonstellation handelt. Nicht so sehr der faktuale Charakter des erzählten Geschehens kennzeichnet schließlich Prévosts empiristischen Darstellungsmodus, als vielmehr die in den proto-journalistischen Texten herausgestellte Inadäquatheitsrelation von apriorischer Ordnung und moralischer Praxis. Dass diese durch die fiktionalisierende Modellierung noch akzentuiert wird, schmälert zudem die ontologische Differenz zwischen dem in Le Pour et contre und Manon Lescaut jeweils erzählten Geschehen. In einer die Beschaffenheit des moralischen Konflikts betreffenden Hinsicht erweisen sich die Fälle des Journals und der Fall Des Grieux–Manon daher als strukturanalog: Hier wie dort kreiert Prévost einen moralischen Kasus, in dem verschiedene Normen in plural-konkurrierender Weise Gültigkeit besitzen. Anhand der Merkmale ‚Singularität‘ und ‚Normkonkurrenz‘ wird in den nachfolgenden Abschnitten rekonstruiert, inwiefern sich die in Manon Lescaut erzählte Liebesgeschichte als ein moralischer Kasus qualifiziert. Als bizarrer Kasus, so die untersuchungsleitende These, verweigert sich die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut der eindeutigen und exklusiven Einordnung in apriorisch gesetzte moralische Kategorien und steht damit in einer Relation der Denkverwandtschaft mit dem empirisch-induktiven Denken der Aufklärung.

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4.3.1 Singularité als Wesensmerkmal des bizarren Kasus Singularität ist in Manon Lescaut auf zwei Ebenen eine relevante Kategorie: Zum einen regiert sie einen Modus der Figurenkonzeption und -darstellung, in dem die Protagonisten Des Grieux und Manon in jeweils verschiedener Hinsicht als eigentümliche Charaktere Gegenstand der Erzählung werden. Ihre singuläre Eigentümlichkeit ist dem Erzählakt ursächlich. Aus der Kombination der Figuren ergibt sich zum anderen in notwendiger und wahrscheinlicher Konsequenz eine Handlungsstruktur, die selbst eine außergewöhnliche ist. Wo in Le Pour et contre das in den moralischen Kasus involvierte Personal als „caractère extraordinaire“ o. ä. auf dem Seitenrand des Journals vorangekündigt wird, wird diese Merkmalspointierung in Manon Lescaut in den Modus der Figurendarstellung integriert, wenn auch, wie wir sehen werden, in nicht weniger plakativer Weise. Obwohl singularité somit wesentliches Merkmal sowohl Manons als auch des Chevalier ist, wird die Untersuchung doch zeigen, dass sie jeweils unterschiedliche Abstraktionsebenen der Figurenkonzeption involviert. Während die Eigentümlichkeit von Manon schon im Text ausdrücklich auf ihre spezifischen Wesensmerkmale zurückgeführt wird, ist die singularité von Des Grieux das Ergebnis seiner standesuntypischen Entscheidung für ein Leben mit Manon und somit das Resultat der Verbindung aus Figurenanlage und erzählter Geschichte. Mit dieser Unterscheidung geht eine Differenz der Funktion einher, die das jeweilige Singularitätsmerkmal der Protagonisten im Hinblick auf den empiristischen Erkenntnismodus der Narration erfüllt. Während die charakterliche bizarrerie der Manon die apriorischen Kategorien der zeitgenössischen Moral durchkreuzt, lässt sich anhand der in der Rahmenerzählung vorgenommenen ersten Beschreibung von Des Grieux ein induktives Beobachtungsverfahren ableiten. 4.3.1.1 Singularität und induktiver Erkenntnismodus am Beispiel des Des Grieux In den einleitenden Bemerkungen zur ambivalenten Struktur des „Avis de l’auteur“ wurde bereits jener inhärente Widerspruch der Argumentation konstatiert, der darin besteht, dass der Fall Des Grieux einerseits im Rahmen einer moralischen Rechtfertigung als ein allgemeingültiges Exempel gesetzt, andererseits jedoch dessen singulär-außergewöhnlicher Charakter akzentuiert wird. Seine hyperbolische Überformung als „exemple terrible“732 sondert den Fall aus der Menge des Gewöhnlichen heraus und lenkt den Blick weniger auf dessen universell gültige Merkmale als auf das Singuläre seiner Erscheinung. Vorgenommen wird daher bereits mit den ersten Zeilen des Paratextes eine Vereinzelung der Figur Des Grieux, die in der Rahmenerzählung und dem

732 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 4.

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anschließenden autodiegetischen Erzählakt diskursiv vorangetrieben wird. Dabei wird die auf Abgrenzung bedachte Eigendarstellung des Chevalier von der Außenwahrnehmung durch den Rahmenerzähler Renoncour bestätigt und gestärkt. Besonders eindrücklich zeigt sich diese vom Text betriebene Positionierung des Protagonisten in Situationen der ersten Begegnung mit anderen Figuren, da seine herausgehobene Stellung in diesen Szenen auf den ersten Blick von sämtlichen Figuren erkannt wird. Für dieses konstante Begegnungsschema der Erzählung ist Renoncours Erinnerung an sein erstes Aufeinandertreffen mit Des Grieux ein typisches Beispiel.733 Renoncour begegnet Des Grieux erstmals auf dessen Weg nach Le Havre, wohin Letzterer den Deportationszug seiner Geliebten Manon begleitet, um sich mit ihr in die amerikanischen Kolonien verschiffen zu lassen. Auf der Basis eines einzigen visuellen Eindrucks erkennt Renoncour die singularité des Chevalier in augenblicklicher, quasi instinktiver Weise: Je n’ai jamais vu de plus vive image de la douleur. Il était mis fort simplement; mais on distingue, au premier coup d’œil, un homme qui a de la naissance et de l’éducation. […]; et je découvris dans ses yeux, dans sa figure et dans tous ses mouvements, un air si fin et si noble que je me sentis porté naturellement à lui vouloir du bien.734

Aufmerksam macht Renoncour neben dem schieren Ausmaß von Des Grieux’ Emotionalität vor allem der offensichtliche Kontrast von dessen Erscheinung und der ihn umgebenden Situation. Sein augenscheinlicher sozialer Status hebt ihn nicht nur aus der Menge der in der „mauvaise hôtellerie“735 Anwesenden heraus, sondern trennt ihn auch von dem commun des hommes im Allgemeinen, während die „vive image de la douleur“ zudem zeichenhaft auf ein Erlebtes verweist, das außerhalb der alltäglichen Erfahrung steht. Aus der Intensität des Gefühlsausdrucks und der bereits visuell erkennbaren Unangemessenheit von Person und Situation schließt Renoncour unmittelbar auf den exzeptionellen Charakter des zugrundeliegenden Geschehens: „Cette aventure me parut des plus extraordinaires et des plus touchantes.“736 Der für die Figur des Chevalier konstitutive Kontrast aus nobler Erscheinung, die auf eine ebenso noble Herkunft und Erziehung verweist, und einer dieser Anlage wesentlich unangemessenen Situation ist das Ergebnis der im Paratext als „caractère ambigu“ angekündigten Figurenkomplexion. Denn in der verschachtelten Erzählstruktur des Romans bildet die Situation der ersten Begegnung von Renoncour und Des Grieux den vorläufigen Tiefpunkt in einer Reihe von Unglücken, die sich allererst aus dem sogenannten ‚ambigen Charakter‘ der Figur ergeben. Wie bereits gesehen, wird die Ambi-

Vgl. für weitere erste Eindrücke Dritter von Des Grieux Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 82, S. 100 f., S. 186. 734 Ebd., S. 13. 735 Ebd., S. 10. 736 Ebd., S. 14. 733

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guität des Chevalier im Paratext als markante Diskrepanz seiner sozioökonomisch wie moralisch vorteilhaften – und im zeitgenössischen Denken zu Glück prädestinierenden – Veranlagung einerseits und einem den Vorgaben der Moral bewusst widersprechenden Handeln andererseits präzisiert. Heißt es über Des Grieux, er „refuse d’être heureux“,737 so liegt diesem Urteil die im Frankreich des 18. Jahrhunderts vorherrschende Rückbindung des persönlichen Glücks an ein tugendhaftes Betragen zugrunde,738 die durch die privilegierte soziale Stellung des Protagonisten als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Der situative Kontrast, der die Wahrnehmung des Chevalier durch Renoncour lenkt, entspringt insofern direkt dieser ‚Glücksverweigerung‘, als sich Des Grieux allein wegen seiner Entscheidung gegen die Moral – und für Manon – überhaupt in dem Wirtshaus befindet.739 Das Diskrepante der Figur Des Grieux besteht gemäß der Analyse des „Avis de l’auteur“ daher letztlich in ihrem Kontrast zwischen einer theoretischen Prädestination zu Glück und der Konstanz des tatsächlich erlebten Unglücks, wobei Renoncour dieses Unglück als ein selbstgewähltes beurteilt. Freilich profitiert der ‚Verfasser‘ des „Avis“ für diese Charakterisierung von einer Perspektive der reflektierenden Rückschau, über die der erlebende Renoncour in der Situation der Begegnung mit dem Chevalier noch nicht verfügen kann. Es ergibt sich somit aus der narratologischen Differenz des Erzählers Renoncour in den jeweiligen Textpassagen (reflektierendes Ich im Paratext vs. wahrnehmendes Ich in der Rahmenerzählung) zwar eine unterschiedliche Erzählhaltung im Hinblick auf die Figur Des Grieux. Deren Alleinstellungsmerkmal, die Diskrepanz von charakterlicher Anlage und Situation, wird in beiden Perspektiven dennoch unverändert erkannt. Während der informierte Renoncour des „Avis“ in seiner reflektierenden Rückschau die den Chevalier auszeichnende Ambiguität als ein Merkmal seines Charakters und seine Misere als eine selbstgewählte analysieren kann, zeigt sich dem erlebenden Renoncour die inhärente Ambiguität der Figur lediglich als eine visuell erfahrbare Diskrepanz von Erscheinung und Situation. In beiden Perspektiven ergibt sich diese Diskrepanz jedoch allererst aus der spezifischen sozioökomischen Fallhöhe, die in der ersten Begegnung durch den optischen Kontrast, im analysierenden Paratext durch die Nichteinlösung des Glücksversprechens angezeigt wird. Besteht die singularité des Chevalier folglich auf einer der Figur inhärenten Diskrepanz, die nicht zuletzt auf ihrer Fallhöhe beruht, so wird dieses Missverhältnis dem 737 Prévost, „Avis de l’auteur“, S. 4. 738 Siehe zur Verbindung von Glück und Moral in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts das Standardwerk von Mauzi 1960, dort insbes. S. 580–634. 739 Die Differenz einer auf dem Liebesgefühl basierten Glücksauffassung und dem von Renoncour bezeugten, nicht zuletzt in einem ständischen Ehrbegriff fundierten Glückskonzept wird uns in Abschnitt 4.3.2.1. weiter beschäftigen. Zentral ist, dass sich in Prévosts Roman konkurrierende Glücksbegriffe nachweisen lassen, die sich mit jeweils unterschiedlichen Werteordnungen verbinden. Bei Renoncours Analyse handelt es sich daher um ein Beispiel für die die Textmoral disambiguierende Tendenz innerhalb der ambivalenten Struktur des Romans.

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Leser bereits in Paratext und Rahmenerzählung in rezeptionsleitender Weise vorgegeben. Insofern spiegelt die in der Rahmenerzählung vorgenommene Vereinzelung zwar das auf Abgrenzung bedachte Autoporträt des Protagonisten wider,740 doch Renoncours Figurencharakterisierung besitzt neben der Funktion einer unparteiischen Gewährleistungsinstanz noch eine weitere, grundlegendere Funktion. Diese liegt im Modus der Außenwahrnehmung begründet. Um diese Funktion zu erläutern, ist es hilfreich, den Beginn der Erzählung noch einmal näher zu betrachten. Die Rahmenerzählung dient nicht nur dazu, die Begebenheiten der Bekanntschaft Renoncours mit dem Protagonisten der nachfolgenden Geschichte zu rekapitulieren und so das Zustandekommen der Erzählung zu plausibilisieren. Vielmehr liefert sie, indem sie die moralische Bedeutsamkeit der zu erzählenden Geschichte mit dem ersten Wahrnehmungsakt begründet, eine ursächliche Herleitung des Erzählaktes. Renoncour trifft Des Grieux zu einem Zeitpunkt, als dessen Geschichte, die er dem Rahmenerzähler zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung vollständig erzählen wird, mit der Exilierung nach Amerika ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Auf seinem Weg nach Le Havre macht der Deportationszug, dem sich Des Grieux angeschlossen hat, in jener „mauvaise hôtellerie“ halt, in der Renoncour den Protagonisten erstmals erblickt. Auslösendes Moment der Begegnung ist erklärtermaßen die „populace curieuse“,741 die sich vor der Wirtschaft versammelt hat, um einen Blick auf die wegen Prostitution deportierten Frauen zu erhaschen, und die wiederum die Aufmerksamkeit des zufällig vorbeireitenden Renoncour erregt. Verstärkt wird seine eigene Neugier durch die pathetischen Exklamationen einer aus der Wirtschaft tretenden Frau, derzufolge sich in der hôtellerie „une chose barbare, une chose qui faisait horreur et compassion“742 ereigne. Im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne ist die Neugier das movens von Renoncours Erkenntnisprozess. Die von der curiosité motivierte Erkenntnisbewegung wird mit einer räumlichen Bewegung parallelisiert, indem sie Renoncour von seinem Pferd absteigen – „La curiosité me fit descendre de mon cheval“743 – und den das Rätsel beherbergenden Ort betreten lässt. Renoncours Bewegung von außen nach innen korrespondiert mit seinem Erkenntnisprozess, der von dem beobachtbaren Phänomen zu seinem ursächlichen Kern vordringt. Führt ihn die Neugier in das Wirtshaus hinein,

740 Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 17: „J’avais dix-sept ans, et j’achevais mes études de philosophie à Amiens, où mes parents, qui sont d’une des meilleures maisons de P., m’avaient envoyé. Je menais une vie si sage et réglée, que mes maîtres me proposaient pour l’exemple du collège. Non que je fisse des efforts extraordinaires pour mériter cet éloge, mais j’ai l’humeur naturellement douce et tranquille: je m’appliquais à l’étude par inclination, et l’on me comptait pour des vertus quelques marques d’aversion naturelle pour le vice. Ma naissance, le succès de mes études et quelques agréments extérieurs m’avaient fait connaître et estimer de tous les honnêtes gens de la ville.“ 741 Ebd., S. 10. 742 Ebd., S. 11 743 Ebd.

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so wird sie mit dem Bild, das sich ihm dort präsentiert, zusätzlich stimuliert. Denn neben der augenscheinlichen Differenz, die Manon von den übrigen Frauen trennt, fällt Renoncour vor allem der von der Figur des Chevalier verkörperte Gegensatz ins Auge. Die visuelle Wahrnehmung eines Phänomens, das aufgrund seiner Kontraste von Situation und involviertem Personal als ein außergewöhnliches erscheint, weckt den Drang, die hinter dieser optischen Diskrepanz liegende Geschichte zu erfahren.744 Der optisch wahrgenommene singuläre Kontrast, den die Erscheinung auszeichnet, wird so zum genetischen Ursprung, zur raison d’être des Erzählaktes. Dabei bildet die curiosité das leitende Prinzip eines epistemischen Modus, der von der empirischen Erscheinung zu ihrer Erklärung vorstößt. In der Begegnung des Rahmenerzählers mit dem Protagonisten inszeniert Prévost somit ein induktives Erkenntnisverfahren, das sich über die Singularität der Erscheinung zu ihrem Entstehungsprinzip, d. h. zu ihrer histoire bewegt. Zusammenfassend lässt sich anhand der Figur Des Grieux in zweifacher Weise ein empiristisches Erkenntnisinteresse rekonstruieren. Der Text nimmt mit dem Chevalier nicht nur eine ausgewiesenermaßen singuläre Erscheinung ins Visier, die zeichenhaft für eine Geschichte außerhalb der gewöhnlichen moralischen Praxis steht. Er performiert darüber hinaus eine induktive Erkenntnisrichtung, die über die visuell erfahrbare Singularität des Phänomens zu dessen Ursache vorstößt und auf diese Weise zum genetischen Prinzip des Erzählaktes wird. 4.3.1.2 Manon Lescaut als caractère extraordinaire: Vergnügungssucht und ‚bizarrer‘ Liebesbegriff Im Unterschied zu Des Grieux, dessen Singularität weniger in charakterlichen Merkmalen als in dem spezifischen Kontrast seiner vorteilhaften Veranlagung mit den unglücklichen Ereignissen seiner Geschichte besteht, steht mit der Figur der Manon explizit ein „caractère extraordinaire“745 im Zentrum des narrativen Interesses. Diese Bezeichnung gründet auf zwei Facetten ihres Charakters, die kausal aufeinander verweisen. Zeichnet sich Manon zum einen durch ihr quasi existenzielles Bedürfnis aus, sich zu vergnügen, so ist es diese in Forschungsbeiträgen häufig als ‚Vergnügungssucht‘746 abgewertete Besonderheit, der sie das von Des Grieux verwendete Epitheton extraordinaire und das folgende Porträt verdankt:

744 Vgl. ebenso ebd., S. 16. 745 Ebd., S. 61. 746 So z. B. in Wolfzettel, Friedrich, Der französische Roman der Aufklärung: Vatermacht und Emanzipation, Tübingen 2009, S. 136

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Manon était une créature d’un caractère extraordinaire. Jamais fille n’eut moins d’attachement qu’elle pour l’argent, mais elle ne pouvait être tranquille un moment, avec la crainte d’en manquer. C’était du plaisir et des passe-temps qu’il lui fallait. Elle n’eût jamais voulu toucher un sou, si l’on pouvait se divertir sans qu’il en coûte. […] Mais c’était une chose si nécessaire pour elle, d’être ainsi occupée par le plaisir, qu’il n’y avait pas le moindre fond à faire, sans cela, sur son humeur et sur ses inclinations. Quoiqu’elle m’aimât tendrement, et que je fusse le seul, comme elle en convenait volontiers, qui pût lui faire goûter parfaitement les douceurs de l’amour, j’étais presque certain que sa tendresse ne tiendrait point contre de certaines craintes. Elle m’aurait préféré à toute la terre avec une fortune médiocre; mais je ne doutais nullement qu’elle ne m’abandonnât pour quelque nouveau B … lorsqu’il ne me resterait que de la constance et de la fidélité à lui offrir.747

Mit der „étrange fille“748 Manon präsentiert der Text dem Leser eine Figur, die explizitermaßen außerhalb des Gewöhnlichen verortet wird und deren Eigentümlichkeit sie in eine Analogiebeziehung zu den moralischen Fällen und Charakterstudien in Le Pour et contre749 stellen lässt. Deutlich wird, welch schädlichen Einfluss Des Grieux Manons eigenartigem Vergnügungsbedürfnis für ihre Liebesbeziehung beimisst, ist es doch dafür verantwortlich, dass Manon ihren Chevalier wiederholt zugunsten anderer Männer verlässt, sobald finanzielle Not herrscht. Diese Eigenart ist für die Struktur der Romanhandlung insofern konstitutiv, als sie die Beziehung Des Grieux–Manon von dem finanziellen Wohlstand des Ersteren abhängig macht. Auf diesen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem als sonderbar bzw. singulär markierten Charakter und der Handlung der histoire ist im nächsten Abschnitt zurückzukommen. Dass das zitierte Porträt daneben auch die Liebe der Protagonistin für Des Grieux betont, verweist auf die andere, ebenso charakterkonstitutive Facette der Manon. Gemeinsam bilden die zwei Aspekte das Bizarre der Figur. Denn obwohl Manon die Treue zu Des Grieux wiederholt zugunsten ihrer kostspieligen Vorliebe für divertissements opfert, betont der Text die Intensität ihrer Gefühle für ihn. Das Fehlen von Manons Perspektive in der autodiegetischen Narration lässt den Leser anfangs zwar an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln. Sie findet ihren Ausdruck jedoch in objektiven Handlungen, die in der zweiten Textversion an zusätzlicher Prägnanz gewinnen. Ein Vergleich der Textfassungen von 1731 und 1753 bestätigt die Bedeutung dieser emotionalen Komponente der Figur. Das in dem Porträt vorgebrachte Argument, dass in Phasen der stabilen, wenn auch sicherlich nur mittelmäßigen Finanzlage nichts Manon dazu bewegen könnte, Des Grieux zu verlassen, wird eingelöst, als ein italienischer Prinz ihr

747 Prévost. Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 61 f. 748 Ebd., S. 140. 749 Vgl. für die Thematisierung eines „caractère extraordinaire“ etwa Le Pour et contre, Bd. 1, No. 2, S. 28; Bd.4, No. 58, S. 293; Bd. 5, No. 73, S. 291.

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ein Leben in Luxus verspricht, Manon ihn jedoch abweist.750 Aufschlussreich ist diese berühmte Passage, weil sie in ihrer Gänze erst in der modifizierten Neuauflage von 1753 erscheint. Mit ihrer Länge von sechs Seiten handelt es sich in quantitativer Hinsicht um die gewichtigste Modifikation, die Prévost an seinem Text vornimmt. Besteht der produktive Effekt dieses Zusatzes verglichen mit der ursprünglichen Version darin, dass sie die Konstanz von Manons Gefühlen für Des Grieux akzentuiert, so wird die emotionale Facette der Figur in der Gesamtökonomie des Textes gestärkt. Im Unterschied zur ersten Textfassung ist die Figur der Manon in der Zweitfassung daher von größerer moralischer Komplexität. Wie schon die in Abschnitt 4.2.2. untersuchte Remodellierung des englischen Pressefalls in Le Pour et contre bezeugt Prévosts Bearbeitung von Manon Lescaut ein Interesse an der Kreation einer multidimensionalen moralischen Konstellation. Manon auf ihre ‚Vergnügungssucht‘ zu reduzieren, verkennt somit die Bedeutung jener zweiten Facette der Figur, die durch den Prozess der Textbearbeitung an Kontur gewinnt. Erst vor dem Hintergrund von Manons Fähigkeit, dem Luxus Des Grieux zuliebe zu entsagen, um diesen in Zeiten der finanziellen Not dann doch wieder zu verlassen, manifestiert sich ihre bizarrerie. Aus der figurenspezifischen Kombination eines existenziellen Vergnügungsbedürfnisses und der Konstanz ihrer Gefühle ergibt sich Manons eigentliche Singularität, die in einer konzeptuellen Trennung von aufrichtigem Liebesgefühl und dem für die Finanzierung des divertissement notwendigen körperlichen Liebesakt besteht. Ein moralischer Konflikt ergibt sich daher stets nur für den einem klassischen constantiaIdeal verhafteten Des Grieux, der die genannte Differenzierung nicht mit zu vollziehen in der Lage ist. In aller Deutlichkeit offenbart sich dieser handlungsstrukturierende Grundkonflikt in jenem Brief Manons, mit dem sie sich nach einem Vermögensverlust vorübergehend in die Arme eines reichen Gönners verabschiedet: Je te jure, mon cher Chevalier, que tu es l’idole de mon cœur, et qu’il n’y a que toi au monde que je puisse aimer de la façon dont je t’aime; mais ne vois-tu pas, ma pauvre chère âme, que, dans l’état où nous sommes réduits, c’est une sotte vertu que la fidélité? Crois-tu qu’on puisse être bien tendre lorsqu’on manque de pain? La faim me causerait quelque méprise fatale; je rendrais quelque jour le dernier soupir, en croyant pousser un d’amour. Je t’adore, compte là-dessus; mais laisse-moi, pour quelque temps, le ménagement de notre fortune.751

In weiterer Zuspitzung formuliert Manon an anderer Stelle gar die Forderung: „[L]a fidélité que je souhaite de vous est celle du cœur.“752 In radikaler Abkehr von den Vorgaben der zeitgenössischen (weiblichen) Sexualmoral löst Manon den Konflikt von ökonomischem Bedürfnis und emotionaler Treue, indem sie beide Kategorien 750 Siehe Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 118–124. 751 Ebd., S. 68 f. 752 Ebd., S. 147.

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konsequent voneinander scheidet und die geforderte constantia auf das Liebesgefühl beschränkt. Aus der normenorientierten Perspektive der Zeit erscheinen Manons Erkenntnis, dass die Apriori der Sexualmoral ihrer Bedürfnissituation nicht angemessen sind, und ihre Entscheidung für eine flexiblere Handhabung der ideellen Vorgaben notwendigerweise singulär und bizarr. Dass sich hinter Manons ‚bizarrem‘ Verhalten dennoch eine auf Konstanz der Gefühle angelegte Logik verbirgt, auch wenn sich ihr Gefühlsausdruck markant von der herrschenden Moral absetzt, erkennt denn auch der sich dieser Logik widersetzende Chevalier selbst: Mais il me semblait que si j’eusse pu me procurer le moindre entretien avec elle, j’aurais gagné infailliblement quelque chose sur son cœur. J’en connais si bien tous les endroits sensibles! J’étais si sûr d’être aimé d’elle! Cette bizarrerie même de m’avoir envoyé une jolie fille pour me consoler, j’aurais parié qu’elle venait de son invention, et que c’était un effet de sa compassion pour mes peines.753

Indem Des Grieux Manons Verhalten als bizarrerie aus dem Spektrum des Gewöhnlichen ausgrenzt, belegt er die Unmöglichkeit, es mittels der apriorischen Kategorien der zeitgenössischen Moral abzubilden. In ihrem jeweiligen Verhältnis zu den moralischen Maximen liegt denn auch der zentrale Unterschied der zwei Protagonisten: Besteht die Eigentümlichkeit des Chevalier laut dem „Avis de l’auteur“ darin, sich trotz besseren Wissens gegen die moralischen Normen zu entscheiden, so dienen diese ihm nach wie vor als akzeptierte, wenn auch nicht respektierte Vorgaben, während Manon die Gültigkeit der Normen bereits verabschiedet hat. 4.3.1.3 Die Singularität der histoire als erzählerisches Experiment Aus der Relation der Protagonisten Des Grieux und Manon zueinander, aus der spezifischen Kombination ihrer jeweiligen singularité erwächst in notwendiger Konsequenz die Handlungsstruktur des Romans als steter Wechsel von Phasen der Harmonie und Stabilität einerseits und Phasen der Trennung andererseits. Harmonische Zweisamkeit und Trennung sind gleichermaßen direkt auf Manons Vergnügungsbedürfnis zurückzuführen, da beide Zustände einem ökonomischen Grundprinzip verpflichtet sind. Ein etwaiges Unvermögen des Chevalier, die notwendigen divertissements zu finanzieren, führt stets zu jenen physischen Trennungen, die Des Grieux als emotionale Untreue, Manon jedoch schlicht als notwendige Ökonomisierung ihres Körperkapitals begreift. In diesem Sinne werden die Trennungsphasen, die Des Grieux wegen seiner Inakzeptanz von Manons Liebesbegriff zwangsläufig als Unglücksphasen wahrnimmt, in wiederkehrender Konstanz durch Ereignisse provoziert, die sein finanzielles Ver-

753

Ebd., S. 138, Herv. d. Vf.in.

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mögen vernichten und die der Chevalier in seinem Wissen um die sich anschließende Trennung als „verhängnisvolle“ (funeste) Katastrophen vorankündigt.754 Der schematische Abriss der Handlungsstruktur macht deutlich, in welchem Ausmaß Manon die Funktion des agens, Des Grieux jene des patiens erfüllt. Erkannt wird diese Rollenverteilung von Des Grieux selbst: „Manon était passionnée pour le plaisir; je l’étais pour elle.“755 Hiermit korrespondiert, dass Des Grieux seine Liebe zu Manon als schicksalhaften „amour fatal“756 begreift und er auf seine Geliebte von dem Moment ihrer Begegnung an als „maîtresse“757 bzw. „souveraine de [s]on cœur“758 referiert. Ist die Struktur der Handlung somit maßgeblich von Manons Eigentümlichkeit abhängig, so ist auch die Des Grieux von Renoncour attestierte singularité, die von ihm verkörperte Diskrepanz von Person und Situation, letztlich das Ergebnis seiner Beziehung zu Manon samt der ihr eigenen bizarren Charakterkomplexion. Wie in einem empirisch geleiteten Experiment untersucht Prévosts Roman, wie aus der Verbindung des leidenschaftlich verliebten und passiv konzipierten Des Grieux und der mit einem singulären Merkmalskomplex ausgestatteten, aktiven Figur der Manon zwangsläufig jene Konflikte entstehen (müssen), in denen die Protagonisten sich befinden. 4.3.2 Die Konkurrenz moralischer Ordnungen Anhand der Figur der Manon wurde bereits ersichtlich, dass Prévost einen Charakter kreiert, der sich aufgrund seiner Novation der Einordnung in fixe und apriorische Kategorien des Moralischen entzieht. Aus der Gesamtheit von Figurenkomplexion und histoire-Struktur lässt sich nun nachweisen, wie Prévost in Manon Lescaut die konkurrierende Validität kopräsenter Werteordnungen (‚Codes‘) inszeniert und auf diese Weise einen Kasus erzeugt, welcher der Definition Warnings bzw. Jolles gerecht wird (s. o. S. 227). Da der moralische Konflikt des Ich-Erzählers aus einem Geflecht konkurrierender Normen erwächst, wird der Anspruch, moralisches Handeln an exklusiven und eindeutigen Prinzipien zu messen, zugunsten einer der Komplexität der realen Erfahrung adäquateren – ‚empiristischen‘ – Betrachtung verabschiedet. Analog zu der in Le Pour et contre latenten Erkenntnis, dass sich die moralische Praxis monologischen Maximen bzw. apriorischen Prinzipien verweigert, fokussiert Prévosts Roman die Genese und Struktur moralischer Konflikte als „value systems in conflict“.759 754 755 756 757 758 759

Siehe etwa Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 52. Ebd., S. 50. Etwa ebd., S. 61. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Diesen Titel trägt ein Abschnitt in Francis 1993. Auf der Basis eines umfangreichen Korpus, das Prévosts gesamte Romanproduktion umfasst, bezeichnet Francis mit „sensibility“, „honour“ und „religion“ drei „codes“, deren Konfliktverhältnis er als Konstante von Prévosts Œuvre analysiert.

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Der Analyse der in Manon Lescaut konkurrierenden Ordnungen seien zwei Einschränkungen vorangestellt. Erstens bleibt die nachfolgende Untersuchung auf den autodiegetischen Erzähler Des Grieux und diejenigen Normen beschränkt, die für ihn Gültigkeit besitzen. Diese Einschränkung wird insofern von der Erzählperspektive vorgegeben, als die betreffenden Normsysteme von der Erzählstimme implizit oder explizit bemüht werden. Der Versuch, die für die weibliche Hauptfigur geltenden Ordnungen zu rekonstruieren, würde die Interpretin hingegen vor das erhebliche Problem der perspektivischen Verzerrung durch die autodiegetische Erzählinstanz stellen. Angestrebt wird daher keineswegs die erschöpfende Auflistung aller das weibliche wie das männliche Handlungssubjekt jeweils leitenden Normenkonfigurationen, sondern vielmehr die Rekonstruktion einer epistemologischen Ausrichtung des Textes, die in der Struktur des moralischen Konflikts manifest wird. Hierfür ist der exemplarische Fokus auf den Protagonisten Des Grieux hinreichend und zielführend. Zweitens wird aufgrund der Komplexität und Bedeutung des Themas Religion in Prévosts Œuvre und Denken das religiöse Wertesystem weitestgehend ausgeklammert.760 Die meine Textanalyse leitende These, wonach Prévosts Roman Ausdruck eines empirischen Erkenntnisinteresses an den Erscheinungen der menschlichen Moralpraxis ist, lässt sich anhand der zwei übrigen in Francis 1993 korrekt benannten „codes“ sensibilité und honneur bzw. noblesse verdeutlichen. Dass diese zudem in unmittelbarem Bezug zur Konstituierung einer (proto-)empfindsamen Tendenz in Manon Lescaut stehen, rechtfertigt die vorgenommene Einschränkung zusätzlich. 4.3.2.1 Honneur vs. Sentiment Als „code of honour“ und „code of sensibility“ benennt Francis jene zwei Moralordnungen, an denen Des Grieux beständig sein Handeln orientiert. Es liegt in der Figuren- und Handlungskonstellation der in Manon Lescaut erzählten Geschichte begründet, dass diese Ordnungen keineswegs harmonisch vereinbar sind, sondern gar antithetisch auseinanderstreben. Der erzählte Kasus entsteht erst aufgrund des massiven Konfliktpotentials, das der Versuch der Verbindung der genannten Ordnungen für Des Grieux birgt. Grundsätzlich ist Francis somit zuzustimmen, dass in der Geschichte des Chevalier des Grieux ein Kodex der Ehrbarkeit und ein Kodex des Gefühls konkurrierende Wertesysteme darstellen, innerhalb derer sich der Handlungskonflikt konstituiert. Dennoch ist die Benennung dieses letztgenannten Kodex des Gefühls als „code of sensibility“ insofern missverständlich, als der Begriff sensibility, bzw. dessen französische Entsprechung sensibilité, ein Konzept von Gefühlsethik aufruft, das sich erst in der Folge – und unter Mitwirkung von Prévost – herausbilden wird. Was

760 Siehe für dieses Thema die Ausführungen in Francis 1993, S. 274–317.

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Francis als „sensibility“ bezeichnet,761 hat zwar wichtige Berührungspunkte mit jener sensibilité, die den konzeptuellen Referenzpunkt der Empfindsamkeit in Frankreich darstellt, sie entspricht dieser jedoch nicht. In Absetzung von Francis werde ich daher für diejenige Werteordnung in Manon Lescaut, welche das (Liebes-)Gefühl zur moralischen Richtlinie erhebt, die bewusst allgemein gehaltene Bezeichnung ‚Gefühl‘ verwenden, um einerseits die Spezifik der sich bereits abzeichnenden empfindsamen Emotion abzudecken, andererseits jedoch Raum zu lassen für einen breiteren, noch nicht final ausdifferenzierten Gefühlsbegriff des frühen 18. Jahrhunderts. Unter ‚Gefühl‘ wird die leidenschaftliche Liebe zunächst ebenso subsumiert wie die tendenziell empfindsamere tendresse. Dass diese Nichtdifferenzierung dem von Des Grieux verwendeten Gefühlsbegriff am ehesten gerecht wird, wird in Abschnitt 4.3.2.3. gesondert thematisiert. In seiner Rahmenerzählung führt Renoncour Des Grieux bekanntlich als „homme qui a de la naissance et de l’éducation“,762 folglich als Angehörigen der Aristokratie ein. Wie Francis resümiert,763 verbindet sich mit der noblesse ein Wertekanon, der insbesondere die Werte Ehrbarkeit (honneur), Konstanz bzw. Loyalität, die Wahrung der mit dem Familiennamen verbundenen gloire sowie im Zeichen der honnêteté764 stehende soziale Umgangsformen umfasst. Verkörpert wird der Code des honneur in Prévosts Roman von Des Grieux’ Vater.765 Doch auch der Chevalier selbst beruft sich konstant auf seine noble Herkunft und die Ehre als handlungsleitende Kategorie, obwohl er sich bereits kurz nach seiner Begegnung mit Manon mit der gemeinsamen Flucht und der 761 Zwar nimmt Francis selbst folgende vorsichtige – und notwendige – Einschränkung vor: „The literary and social movement to which this name is given flourished in mid-eighteenth century, and Prévost’s heroes helped to create prototypes for it, but Prévost himself did not go as far as some of the movement’s later adherents. He did not, for instance, explicitly equate the capacity for emotion with the capacity for virtue. The word ‚sensibility‘ as I use it in this study refers less to a cultural phenomenon than to a value system emerging from the novels which has features in common with it.“ (Francis 1993, S. 151) Dennoch trifft diese begriffliche Klarstellung das Problem nur teilweise, weil nicht allein das „cultural phenomenon“ und das sich (u. a.) anhand der Romane formierende „value system“, sondern auch und vor allem das in Prévosts Romanen der 1730er Jahre entworfene sentimentale Wertesystem und das empfindsame Wertesystem der Jahrhundertmitte zu unterscheiden sind. 762 Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 13. 763 Francis 1993, S. 225–234. 764 Für die historische Entwicklung eines durch den honnête homme verkörperten Verhaltensideals und dessen Funktionswandel im 18. Jahrhundert siehe Höfer, Anette / Reichardt, Rolf, „Honnête homme, honnêteté, honnêtes gens“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, hg. v. R. Reichardt u. E. Schmitt, 21 Bde., München 1985–2017, Bd. 7, 1986, S. 7–73. 765 Vgl. folgende Anklage von Des Grieux senior an seinen Sohn, aus der sich der Typus des Edelmannes ableiten lässt: „[Mon père] continua: Qu’un père est malheureux, lorsque, après avoir aimé tendrement un fils et n’avoir rien épargné pour en faire un honnête homme, il n’y trouve, à la fin, qu’un fripon qui le déshonore! On se console d’un malheur de fortune: le temps l’efface, et le chagrin diminue; mais quel remède contre un mal qui augmente tous les jours, tel que les désordres d’un fils vicieux qui a perdu tous sentiments d’honneur?“ (Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 162, Herv. d. Vf.in.)

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Fälschung der kirchlichen Ehedokumente in eklatanter Weise über diese hinwegsetzt. Es ist bezeichnend für Des Grieux’ Verwendung des Ehrbegriffs, dass er ihn selbst dann anzitiert, wenn sein Handeln dem noblen Konzept der Ehrbarkeit diametral entgegensteht. Plausibel wird dieser performative Widerspruch erst vor dem Hintergrund des amourösen Gefühls, das im coup de foudre als zweites handlungsleitendes Motiv aktiviert wird: „Je l’assurai que, si elle voulait faire quelque fond sur mon honneur et sur la tendresse infinie qu’elle m’inspirait déjà, j’emploierais ma vie pour la délivrer de la tyrannie de ses parents, et pour la rendre heureuse.“766 Mit der gemeinsamen Nennung von honneur und tendresse dienen dem jungen Chevalier beide Konzepte gleichermaßen zur Verbürgung seiner Aufrichtigkeit. Dass die Flucht vor der elterlichen Kontrolle den Ehrbegriff entwertet, wird jedoch nicht als Widerspruch erkannt; im Gegenteil dient die Diskreditierung des elterlichen Entschlusses, Manon ins Kloster zu schicken (vgl. „tyrannie“), dazu, die handlungsleitende tendresse als ehrbares Motiv zu verklären. Indem Des Grieux sich des honneur-Begriffs bedient, um seinen von der Liebe inspirierten Fluchtplan vor Manon zu beglaubigen, strebt er eine Harmonisierung der zwei Ordnungen im Sinne eines von dem Ehrbegriff getragenen Liebeskonzeptes an. Für den Leser deutet sich hier hingegen bereits an, was sich im Laufe der Handlung mit steigender Drastik bestätigen wird: dass honneur und sentiment zwei im Hinblick auf die Beziehung Des Grieux–Manon miteinander inkompatible Wertesysteme darstellen. Gleichwohl offenbart Des Grieux’ Harmonisierungsversuch, dass sich mit dem coup de foudre ein Konkurrenzverhältnis zwischen der moralischen Ordnung seiner aristokratischen Herkunft einerseits und einer neuen Moral des Gefühls andererseits konstituiert. Diese Konkurrenz schlägt sich in zwei Tendenzen nieder, die gleichermaßen dem Streben des Protagonisten nach Harmonisierung entspringen. Neben der soeben betrachteten Tendenz, den Ehrbegriff in den Dienst des Gefühls zu stellen, lässt sich in der Narration des Chevalier auch in umgekehrter Richtung ein Versuch der Nobilitierung des leidenschaftlichen Gefühlsbegriffs erkennen. Dass sich seine Gefühlsmoral auf Werte der noblesse beruft, offenbart sich nicht zuletzt an den Reaktionen auf Manons wiederholte Untreue, die er als „noire trahison“ an dem Ideal der noblen constantia auffasst: Ah! Manon, lui dis-je en la regardant d’un œil triste, je ne m’étais pas attendu à la noire trahison dont vous avez payé mon amour. Il vous était bien facile de tromper un cœur dont vous étiez la souveraine absolue, et qui mettait toute sa félicité à vous plaire et à vous obéir. Dites-moi maintenant si vous en avez trouvé d’aussi tendres et d’aussi soumis. Non, non, la Nature n’en fait guère de la même trempe que le mien.767

766 Ebd., S. 20, Herv. d. Vf.in. 767 Ebd., S. 45.

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Gefühls- und honneur-Ordnungen inspirieren sich hier gegenseitig. Denn Manons Untreue ist nicht nur ein Verrat an dem constantia-Ideal der noblesse. Eine „noire trahison“ begeht sie vor allem an einem als herausragend stilisierten Liebesgefühl, das aufgrund seines exzeptionellen Status Treue verdiene. Beruft sich Des Grieux somit auf die sanktionierende Kraft einer Elite der fühlenden Herzen, so werden die Werte einer sozioökonomischen bzw. ständischen Elite in ein emotionsbasiertes Elitenkonzept übertragen. Im Unterschied zu Manons Gefühlsausdruck, der, so zeigte das Beispiel ihres Briefes (vgl. oben S. 243), verglichen mit demjenigen des Chevalier geradezu rational wirkt, steht Letzterer für einen leidenschaftlich-vehementen Liebesbegriff. Die Verbindung dieser leidenschaftlichen Komponente mit einem aristokratischen Wertekodex wird in Des Grieux’ Reaktion auf Manons besagten Brief manifest, in dem sie ihren vorläufigen Abschied als ökonomische Notwendigkeit dargelegt hatte: Elle m’aime, je le veux croire; mais ne faudrait-il pas, m’écriai-je, qu’elle fût un monstre pour me haïr? Quels droits eut-on jamais sur un cœur que je n’aie pas sur le sien? Que me reste-t-il à faire pour elle, après tout ce que je lui ai sacrifié? Cependant elle m’abandonne! et l’ingrate se croit à couvert de mes reproches en me disant qu’elle ne cesse pas de m’aimer! Elle appréhende la faim. Dieu d’amour! quelle grossièreté de sentiments! et que c’est répondre mal à ma délicatesse!768

Deutlich zeichnet sich ab, dass die Basis für Des Grieux’ Moral in einem kompromisslosen Liebesgefühl besteht, auf das er sich ausdrücklich beruft und das er ebenso von Manon einfordert. Mit dem Verweis auf das aufgrund der mésalliance notwendige Opfer seiner sozialen Stellung reklamiert Des Grieux dieselbe Leidensbereitschaft auch von Manon. „Ingrate“ ist die Protagonistin daher, weil sie ökonomische Basisbedürfnisse über den Wert der Treue stellt. Indem Manons Angst vor dem Hunger als ordinär und als der von Des Grieux verkörperten Gefühlselite unwürdig ausgewiesen wird, belegt dieser im selben Zuge das aristokratische Substrat seines Liebesbegriffs. Prononciert herausgestellt wird die Bedeutung des honneur in der von Des Grieux empfundenen Scham als dem Komplementärbegriff der Ehre. Obwohl seine in vollem Bewusstsein vollzogenen Handlungen in eklatanter Weise der Ehrbarkeit widersprechen, ist er für die Kehrseite der Ehrverletzung in höchstem Maße sensibel: „Je ne pouvais me consoler d’une humiliation qui allait me rendre la fable de toutes les personnes de ma connaissance, et la honte de la famille.“769 Grenzt sich Des Grieux an anderer Stelle zudem ausgerechnet über seinen Status als homme d’honneur von Manons Bruder ab, dem er das Fehlen jeglicher „principes d’honneur“ attestiert,770 so wird deutlich, dass er unfähig ist, außerhalb des Bezugsrahmens des ‚code of honour‘ zu denken. Trotz seiner die Grenzen dieses Codes überschreitenden Taten, die er wie768 Ebd., S. 69 f. 769 Ebd., S. 81. 770 Ebd., S. 51.

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derum mit seiner passion begründet, besitzt der Kodex der Ehrbarkeit für Des Grieux nach wie vor Gültigkeit. In seinem Bewusstsein, dass seine Liebe für Manon die Grundlage seiner „fautes“ und damit Ursache seines Unglücks ist,771 bei gleichzeitiger Weigerung, in die von seinem Vater repräsentierte Ordnung zurückzukehren,772 offenbart sich das moralische Dilemma von Des Grieux. Wir haben die konkurrierende Gültigkeit von moralischen Ordnungen an früherer Stelle als strukturelle Voraussetzung eines Kasus bestimmt, dem durch die Akzentuierung seiner singularité außerdem der Status des Bizarren zukommt. Diese theoretische Bestimmung bestätigt sich in Des Grieux’ eigener Bewertung seiner Situation, die er nicht nur als „bizarre“ bezeichnet, sondern deren ‚bizarren‘ Charakter er zudem explizit auf seine „partage de sentiments“ zurückführt: Je m’assis, en rêvant à cette bizarre disposition de mon sort. Je me trouvai dans un partage de sentiments, et par conséquent dans une incertitude si difficile à terminer, que je demeurai longtemps sans répondre à quantité de questions que Lescaut me faisait l’une sur l’autre. Ce fut, dans ce moment, que l’honneur et la vertu me firent sentir encore les pointes du remords, et que je jetai les yeux, en soupirant, vers Amiens, vers la maison de mon père, vers Saint-Sulpice et vers tous les lieux où j’avais vécu dans l’innocence. Par quel immense espace n’étais-je pas séparé de cet heureux état! Je ne le voyais plus que de loin, comme une ombre qui s’attirait encore mes regrets et mes désirs, mais trop faible pour exciter mes efforts. Par quelle fatalité, disais-je, suis-je devenu criminel? L’amour est une passion innocente; comment s’est-il changé, pour moi, en une source de misères et de désordres? Qui m’empêchait de vivre tranquille et vertueux avec Manon?773

In Des Grieux’ „partage de sentiments“ kommt die Ambivalenz seines Tugendbegriffs zum Ausdruck, indem er sich einerseits mit Bedauern an die unschuldige Zeit vor dem coup de foudre erinnert, andererseits die Liebe als „passion innocente“ deklariert. Nicht zuletzt der Kontext des Zitats führt die Möglichkeit des amour vertueux jedoch ad absurdum, handelt es sich doch um den offensichtlichsten Fall von Prostitution in Prévosts Roman.774 Die Unschuld erscheint nunmehr unerreichbar, der amour wandelt sich zum crime. Liebesgefühl und ehrbare Tugend können nicht zur Deckung gebracht werden, weil die Beziehung aufgrund von Manons niederer sozialer Stellung nur unter den Vorzeichen einer mésalliance geführt werden kann, die dem aristokratischen Ethos per se entgegengesetzt ist. Erst durch die Konstellation einer mésalliance entsteht für Des Grieux

771 772 773 774

Vgl. Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 162. Vgl. ebd., S. 172. Ebd., S. 72. Die Erkenntnis des Chevalier situiert sich in folgendem Zusammenhang: Des Grieux wurde soeben von Manons Bruder über deren Entscheidung informiert, das Angebot des wohlhabenden M. de G … M … anzunehmen.

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die Situation der Konkurrenz einer Ethik des Gefühls mit der Ordnung der noblesse. Dass Prévost die Inszenierung einer Normenkonkurrenz angestrebt hat, die in dem sozialen Abstand der Liebenden fundiert ist, wird durch einen erneuten Vergleich der Textversionen aus den Jahren 1731 und 1753 belegt: Während die Erstfassung von 1731 Manon noch eine „assez bonne naissance“775 bescheinigt, reduziert Prévost ihre Herkunft in der zweiten Fassung nunmehr auf eine „naissance commune“776 und verstärkt so den Standesunterschied zwischen den Liebenden. Wie sich bereits an Prévosts Nachbearbeitung der emotionalen Seite Manons zeigen ließ, gewinnt die dilemmatische Struktur von Des Grieux’ Konflikt in dem Maße an Prägnanz, wie die Standesdifferenz der Figuren geschärft wird. 4.3.2.2 Wirkungsästhetische Ambivalenzen In dem vorausgehenden Abschnitt konnte eine im Hinblick auf den Protagonisten geltende Konkurrenz eines Gefühlkodex und eines Ehrenkodex nachgewiesen werden, deren simultane Gültigkeit ein moralisches Dilemma begründet. Zu einem Kasus wird der Fall Des Grieux–Manon jedoch nicht schon aufgrund der dilemmatischen Konstellation des Konfliktes. Als Form der literarischen Kommunikation konstituiert sich ein Kasus vielmehr erst dann, wenn sich die für die Figur geltende Konkurrenz von Werteordnungen auch dem Leser als eine Situation der Wertungsambivalenz stellt. Dies provoziert freilich die Frage, wie sich diese Transposition des moralischen Konflikts einer fiktiven Figur auf den empirischen Leser vollzieht. Einen Hinweis liefern die zahlreichen zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse, für die stellvertretend jenes des La Barre de Beaumarchais zitiert sei. Nach einer nahezu wortgetreuen Wiedergabe des Porträts des Chevalier aus dem „Avis de l’auteur“, in deren Zentrum der für Des Grieux charakteristische „contraste perpétuel de bons sentiments et d’actions mauvaises“777 steht, widmet sich der Kritiker der Protagonistin: L’amante a quelque chose de plus singulier encore. Elle goûte la vertu et elle est passionnée pour le chevalier. Cependant l’amour de l’abondance et des plaisirs lui fait à tout moment trahir la vertu et le chevalier. Croirait-on qu’il pût rester de la compassion pour une personne qui déshonore de la sorte son sexe? Avec tout cela il est impossible de ne pas la plaindre, parce que M. d’Exiles a eu l’adresse de la faire paraître plus vertueuse et plus malheureuse que criminelle.778

775 Siehe die auf S. 215 aufgeführte Variante zu S. 22, in: Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut. 776 Ebd., S. 22. 777 La Barre de Beaumarchais, Antoine, Lettres sérieuses et badines, Bd. 5, Lettre XXIII, zitiert nach: „Introduction“, in: Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. CLIX. 778 Ebd., S. CLIX f.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

In diesem frühen Zeugnis der Kritik lässt sich bereits die prägende Tendenz der zeitgenössischen wie auch der späteren Rezeption von Manon Lescaut erahnen, die in der geläufigen Verkürzung des Romantitels auf den Namen der Protagonistin endgültig manifest wird. Mit der Fixierung auf Manon ist das die Leserschaft beschäftigende Thema angezeigt: Verstanden als vice und vertu, werden die zwei Seiten der Figur als komplementäre, für ihre Konzeption gleichermaßen bedeutsame Facetten erkannt. Hiermit verbindet sich eine zweite Beobachtung, die von Montesquieus polemischem Resümee779 des Romans gestützt wird: Den zeitgenössischen Rezipienten zufolge besteht Manons vertu maßgeblich in ihrer Liebe zu Des Grieux. Überliefert ist Montesquieus Diktum, in dem er der „catin“ Manon eine entscheidende zusätzliche Qualität attestiert: „Manon aime aussi, ce qui lui fait pardonner le reste de son caractère.“780 Dass Montesquieus Urteil der Erstfassung des Romans gilt, belegt, dass bereits vor der Revision des Textes beide Seiten der Figur – d. h. sowohl catin als auch amoureuse zu sein – als konstitutive Persönlichkeitsfacetten interpretiert wurden. Wie bereits mehrfach gesehen, wird Manons Liebe in der modifizierten Zweitfassung zusätzlich hervorgehoben, was die ambivalente Anlage des Textes eher akzentuiert als reduziert. Manons Liebe erscheint als das Gegengewicht zu dem „reste de son caractère“. Hieraus ergibt sich erstens, dass sich diese Figur in wirkungsästhetischer Hinsicht ebenso aus distanzierenden wie aus Sympathie erregenden Facetten zusammensetzt, sowie zweitens, dass diese letztgenannten, das Mitgefühl provozierenden Aspekte wesentlich in der Darstellung ihrer Liebe für Des Grieux bestehen. Dieser Befund ist auf Des Grieux erweiterbar. Die als „nobles Motiv“ verstandene Liebe sorgt für eine wirkungsästhetische Umkehr der figürlichen Negativität, indem sie die crimes in positiver Weise kompensiert. Der Roman „gefalle“ eben deshalb, so Montesquieu, weil „toutes les actions du héros […] ont pour motif l’amour, qui est toujours un motif noble, quoique la conduite soit basse.“781 Mit dem amour noble und der conduite basse werden die gegenläufigen Tendenzen der Figur, ihre bizarrerie, als wirkungsästhetische Mechanismen aufgeschlüsselt. Während die von den Figuren begangenen Taten – es handelt sich immerhin um Betrug, Falschspiel, Prostitution und Totschlag – eine natürliche Distanzierung des Lesers bewirken, vollzieht sich mittels des Liebesmotivs eine gegenläufige Rezeptionslenkung, indem es die Handlungen zwar nicht legitimiert, wohl aber ein leserseitiges Verständnis schafft. Die für Des Grieux geltende Konkurrenz moralischer Normen wird in dieser wirkungsästhetischen Ambivalenz von distanzierenden und sympathetischen Mechanismen leserseitig ge779 Siehe ebd. S. CLXIII f.: „J’ai lu ce 6 avril 1734 Manon Lescaut, roman composé par le P. Prévost. Je ne suis pas étonné que ce roman, dont le héros est un fripon et l’héroïne une catin qui est menée à la Salpêtrière, plaise, parce que toutes les actions du héros, le chevalier des Grieux, ont pour motif l’amour, qui est toujours un motif noble, quoique la conduite soit basse. Manon aime aussi, ce qui lui fait pardonner le reste de son caractère.“ 780 Siehe die obige Anmerkung. 781 Ebd.

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spiegelt: Wie Des Grieux gespalten ist zwischen einer Moral des honneur und einer Moral des Gefühls, bewegt sich auch der Leser zwischen einer Reaktion der identifizierenden Sympathie mit den liebenden Figuren und einer dissoziativen Ablehnung ihres Handelns. Obwohl die principes der herrschenden Moral in der Theorie die eindeutige Verurteilung einfordern, bleibt der Leser einer abwägenden Haltung verhaftet. Indem ein Kritiker des Journal de la Cour et de Paris Prévosts Neuerscheinung in Relation zu seinem Journal Le Pour et contre stellt, wird eben dieses ambivalente Wirkungsprinzip des Textes erkannt: Ce livre est écrit avec tant d’art, et d’une façon si intéressante, que l’on voit les honnêtes gens s’attendrir en faveur d’un escroc et d’une catin. Le même auteur, qui est un bénédictin réfugié en Hollande, fait un petit ouvrage intitulé le Pour et Contre, dont la première brochure se débite actuellement. Son dessein, ainsi qu’il est aisé d’en juger par le titre, est de faire voir que, chaque chose de la vie a deux faces, et qu’il n’en est point de si mauvaise que l’on ne puisse justifier.782

Das positive Urteil aller zitierten Kritiken wird auf der Basis dieser Ambivalenz gefällt. Hier gilt es jedoch zu präzisieren. Sichtbar wurde eine Urteilsformulierung, die im Zeichen der Konzession steht: Obwohl der Text in Anbetracht der erzählten Handlung eigentlich nicht gefallen dürfte, gefällt er – wegen des Liebesmotivs – eben doch. Positiv bewertet wird daher keineswegs eine etwaige Unentscheidbarkeit über die erzählte Situation und ihr Personal, sondern letztlich die Darstellung von Emotivität. Dass die Entscheidbarkeitsproblematik leserseitig in letzter Konsequenz tendenziell zugunsten der Figuren gelöst wird, liegt in der erzählerischen Vermittlung einer Gefühlsebene begründet, die als Ebene der Motivierung über dem Handlungsniveau liegt. Anders formuliert: Sympathie erzeugt nicht allein der Umstand, dass die Figuren in ihrem Handeln von ihrer Liebe motiviert sind, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese Motivation als persönlicher Gefühlsausdruck erzählerisch vermittelt wird. Erst durch das autodiegetisch vermittelte Gefühl wird dem Leser ein Wertesystem des sentiment amoureux zugänglich, das sich als eigene Moralordnung in Abgrenzung zur herrschenden Moral konstituiert. Konstatieren lässt sich zudem eine gemeinsame Progression dieses Gefühlsausdrucks und der Handlung in Richtung eines Liebesbegriffs, der sich von einer tendenziell leidenschaftlichen zu einer tendenziell ‚zärtlichen‘ Liebe entwickelt (siehe hierzu näher den nachfolgenden Abschnitt). In wirkungsästhetischer Hinsicht ist die genannte Entwicklung des Liebesbegriffs mit einer Stärkung der sympathetischen Leserbeteiligung verbunden, welche die allgemein positive Gesamtbewertung der Liebesthematik in den Rezeptionszeugnissen nachhaltig begünstigt. Und dies in zweifacher Weise:

782 Journal de la Cour et de Paris vom 21. Juni 1733, zitiert nach: Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. CLXI.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Zum einen steht die Progression hin zu einem Begriff der zärtlichen Liebe insofern in direkter Beziehung zu einer sympathetischen Wirkung des Textes, als dieses Konzept im Unterschied zum Begriff des amour passion wegen seiner Mäßigung eine leserseitige Identifikationsreaktion befördert. Zum anderen werden in dem Maße, wie die sympathetischen Tendenzen des Textes gestärkt werden, in der abschließenden Amerika-Episode des Romans auch die Distanz schaffenden Handlungselemente reduziert. Mit der Verlagerung des Handlungsortes nach Nouvel Orléans geht daher eine Stärkung der empfindsamen Tendenz des Textes einher, die neben dem Liebesbegriff auch die Ebene der Handlung und ihre moralischen Implikationen involviert. Zwar wiederholt das Handlungsschema der Amerika-Sequenz mit der Manon zuteilwerdenden männlichen Aufmerksamkeit sowie der (vermeintlichen) Tötung Synnelets durch Des Grieux in auffallender Weise die Ereignisse der Paris-Episode. Dass die Protagonisten im Unterschied zum ersten Teil des Textes auf den abschließenden Seiten jedoch nunmehr eine passive Rolle einnehmen, beeinflusst die moralische Einordnung ihrer Taten maßgeblich. Ein Vergleich der zwei Tötungsdelikte des Romans, von denen eine sich freilich nachträglich als bloße Verletzung entpuppt, mag diesen Unterschied verdeutlichen: Begeht Des Grieux bei seiner Flucht aus Saint-Lazare Totschlag an dem Pförtner, so folgt diese Handlung zwar keinem Vorsatz, sie wird gleichwohl bewusst in Kauf genommen. Die distanzierende Reaktion des Lesers auf die Tat wird durch Des Grieux’ Rechtfertigungsrhetorik verstärkt, mittels derer er seine Schuld auf Andere zu übertragen sucht. So konfrontiert er den Vorsteher von Saint-Lazare unmittelbar nach dem Schuss auf den Pförtner mit den Worten: „Voilà de quoi vous êtes cause, mon Père“,783 und macht Lescaut frère wegen der Ladung der Waffe für den Tod des Mannes verantwortlich: „C’est votre faute, lui dis-je; pourquoi me l’apportiez-vous chargé?“784 Dieser Tat steht das Duell mit Synnelet in Nouvel Orléans gegenüber,785 das mit Des Grieux’ Glauben endet, seinem Gegner das Leben genommen zu haben. Anders als in Saint-Lazare wird er in dieser Situation jedoch nicht nur zum Duell herausgefordert, er erweist sich zudem als edelmütiger Sieger, als er dem rasch unterlegenen Synnelet eine Revanche ermöglicht. Überhaupt kommt das Duell nur zustande, weil Des Grieux und Manon ihre Liebe ehelich beglaubigen lassen wollen und Synnelet in diesem Zuge von Manons unverheiratetem Status erfährt, woraufhin er Ansprüche auf ihre Hand erhebt. Mit seinen Ambitionen durchkreuzt Synnelet die (proto-)empfindsame786 783 784 785 786

Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 97. Ebd. Ebd., S. 195. Mit der Einschränkung ‚proto-‘ wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich im Jahr der Erstveröffentlichung von Manon Lescaut ein kulturelles System Empfindsamkeit noch nicht final formiert hat, weil dieses sich – unter anderem – erst mit Prévosts Romanen, unter Einbezug anderer Einflüsse wie dem amourösen Konzept der tendresse oder der Rezeption der Romane Sternes und Richardsons, bis zur Jahrhundertmitte konstituieren wird. Bekanntlich erscheint Prévosts Übersetzung von Clarissa Harlowe erst 1751, also zwanzig Jahre nach der Erstpublikation von Manon

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Idylle, die Manon und Des Grieux im amerikanischen Exil finden, und repräsentiert zudem das Hindernis für ihren moralischen ‚Aufstieg‘ in den Ehestand. Hier zeigt sich die moralische Distanz zwischen der ‚Tötung‘ Synnelets und der Tötungshandlung in Saint-Lazare. Diejenige Handlung, die im Kontext der Flucht aus Saint-Lazare leserseitig fraglos als unmoralisch bewertet wird, wird in Nouvel Orléans zu einem moralischen Akt. Wie wir in den nachfolgenden Ausführungen zum hybriden Liebesbegriff in Manon Lescaut sehen werden, beruht die sympathetische Leseraktivierung im Wesentlichen auf einer proto-empfindsamen Ästhetik, die in der Amerika-Episode an Kontur gewinnt und deren Höhepunkt die Darstellung von Manons Tod787 bildet. Die im „Avis de l’auteur“ proklamierte moralische Textfunktion wird durch diese Entwicklung des Romans indes vor ein Problem gestellt. Denn indem die Entwicklung hin zu einer tendenziell empfindsamen Situation, die sich im Wesentlichen einer Schärfung des zärtlichen Liebesbegriffs und einer Umkehrung der moralischen Wertigkeit der Handlung verdankt, eine sympathisierende Reaktion des Rezipienten befördert, wird die für die moralische Erziehung notwendige Distanz konterkariert. Die realiter entstehende Sympathie des Lesers für das Paar bezeugen die zitierten Rezensionen. Die Funktionalisierung des Romans im Sinne einer moralischen Bildung des Lesers wird durchkreuzt, weil die moralische Eindeutigkeit der erzählten Handlung durch die Empathie fördernden Strukturen der empfindsamen Tendenz in Uneindeutigkeit überführt wird.788 Erst auf der Grundlage ihrer ‚Empfindsamkeit‘ wird die Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut zu einem ambivalenten Kasus, für den sich in Anlehnung an den Titel von Diderots Drama fragen ließe: „Sont-ils bons? Sont-ils méchants?“ Die (proto-)empfindsame Wirkungsästhetik erfüllt auf diese Weise eine Funktion innerhalb der ‚empiristischen‘ Tendenz des Romans, da sich in der leserseitigen Wertungsambivalenz die antiaprioristische Sicht auf die Komplexität der Moralpraxis spiegelt. Angesichts dieses Wechselverhältnisses zwischen ambivalenter Wirkungsästhetik, empiristischem Erkenntnisinteresse und proto-empfindsamem Liebesbegriff erscheint es sinnvoll, Letzteren im Hinblick auf eine mögliche Funktion im Rahmen einer Kritik an einem aprioristischen Denken hin zu untersuchen.

Lescaut. Zur Stärkung eines tendenziell empfindsamen Liebesbegriffs in diesem Text siehe nachfolgend Abschnitt 4.3.2.3. 787 Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 199 f. 788 Die fehlende moralische Eindeutigkeit des Textes hat in der Folge auch die Zensoren beschäftigt, die Prévosts Roman am 5. Oktober 1733, zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung, mit einem Verbot belegt haben. Das Journal de la Cour et de Paris fasst die Urteilsbegründung mit dem Argument der moralischen Ambiguität folgendermaßen zusammen: „Outre que l’on y fait jouer à gens en place des rôles peu dignes d’eux, le vice et le débordement y sont peints avec des traits qui n’en donnent pas assez d’horreur.“ Siehe Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. CLXII.

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4.3.2.3 Die Ambivalenz des Liebesbegriffs: amour-passion und amour tendre Es ist ein Gemeinplatz der älteren wie auch der neueren Forschung zu Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, dass dieser Text als Zeugnis einer bis zur Jahrhundertmitte an Kontur gewinnenden sensibilité im Kontext der französischen Empfindsamkeit situiert wird.789 So wenig die wissenschaftliche Beschäftigung mit Prévosts Œuvre auf den Epochenbegriff Empfindsamkeit verzichten kann, so wichtig ist dennoch ein Nachweis dessen, was die einzelnen Texte des Gesamtwerkes jeweils als ‚empfindsam‘ qualifiziert.790 Dass das Ziel einer in diesem Sinne durchgeführten Textanalyse notwendigerweise die differenzierte Untersuchung des Gefühlsbegriffs des jeweiligen Romans zu sein hat, ergibt sich bereits aus dem Terminus ‚Empfindsamkeit‘ selbst. In Abschnitt 1.2.3. wurde argumentiert, dass ein moralisch aufgeladener Gefühlsbegriff der Empfindsamkeit spezifisch ist und sie hierdurch einerseits von dem klassischen Affektbegriff, andererseits von der romantischen Vereinzelung unterscheidbar macht. Allzu selten wird das der autodiegetischen Narration von Manon Lescaut zugrundeliegende Liebeskonzept jedoch auf seine Übereinstimmung mit den Idealen der Empfindsamkeit hin überprüft.791 Zu zeigen ist daher, dass sich Des Grieux’ Gefühlsverständnis und die Diskursivierung seiner Liebe zu Manon keineswegs widerspruchsfrei als ‚empfindsam‘ klassifizieren lassen, weil sie einige für die Epochenkonfiguration Empfindsamkeit konstitutive Konsequenzen, die sich aus der empfindsamen Ausdifferenzierung des sentimentalen Begriffskatalogs ergeben, nicht vollziehen. Nachweisen lässt sich vielmehr ein hybrider Liebesbegriff, dessen einzelne Komponenten hinsichtlich ihrer Dominanzverhältnisse allerdings nicht statisch sind, sondern mit Fortschritt der Narration eine Entwicklung durchlaufen. Der der autodiegetischen Narration zugrundeliegende Gefühlsbegriff beruft sich neben Merkmalen einer leidenschaftlichen Liebe (amour-passion), die der sensibilité der Jahrhundertmitte antithetisch gegenübersteht,792 ebenso auf einzelne Aspekte einer ‚zärtlichen‘ Liebe (amour

789 Siehe für diese literarhistorische Einordnung im Kontext einer Geschichte der französischen Empfindsamkeit exemplarisch Trahard 1931–1933; Winandy 1972; Warning, Rainer, „Einige Hypothesen zur Frühgeschichte der Empfindsamkeit“, in: Frühaufklärung, hg. v. S. Neumeister, München 1994, S. 415–423; Wolfzettel 2009; Sprenger, Ulrike, „Aporien der Empfindsamkeit – Einfühlung mit Verausgabung in Prévost d’Exiles’ Manon Lescaut“, in: Peripher oder polyzentrisch? Alternative Romanwelten im 18. Jahrhundert, hg. v. B. Kuhn u. L. Scherer, Berlin 2009, S. 65–78. 790 Je nach der Textanalyse zugrunde gelegtem Epochenbegriff können die Ergebnisse freilich variieren. 791 Eine lobenswerte Ausnahme stellen hier Sgard 1968; Sgard, Jean, L’Abbé Prévost: labyrinthes de la mémoire, Paris 1986; sowie Baasner 1988, dort insbes. S. 87–95, dar. 792 Robert Mauzi unterstreicht den Bedeutungswandel des Begriffs passion im 18. Jahrhundert, der sich von einem ‚klassischen‘, in breiter Weise „tous les états affectifs“ bezeichnenden Verständnis auf einen Begriff verengt habe, welcher nunmehr die obsessive Beschränkung auf ein einziges Objekt bezeichne. Die für die Empfindsamkeit konstitutive Differenz von passion und sentiment

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tendre), in der ein Konzept des empfindsamen Gefühls vorbereitet wird. Während sich die ‚zärtlichen‘ Facetten im ersten Teil des Textes (nachfolgend als ‚Paris-Episode‘ bezeichnet) noch unterentwickelt darstellen und deutlich von einem leidenschaftlichen Liebeskonzept dominiert werden, werden sie im zweiten Teil (‚Amerika-Episode‘) akzentuiert. Diese Hybridität und Entwicklung des Liebesbegriffs in Manon Lescaut gilt es im Folgenden zu beschreiben und ihre Funktion(en) im Rahmen der ambivalenten Struktur des Textes zu verorten. Bereits in der Situation der ersten Begegnung zwischen Des Grieux und Manon, die im Zeichen des coup de foudre steht, erweist sich das spontan entstehende Liebesgefühl als ein von ungezügelten Leidenschaften dominiertes. Dieses Verständnis von Liebe als Passion findet in Des Grieux’ Erinnerung an den Moment des coup de foudre seinen Ausdruck: „je me trouvai enflammé tout d’un coup jusqu’au transport“.793 Dass sich Des Grieux und Manon von dem Moment ihrer Begegnung an über jegliche gesellschaftlichen und rechtlichen Schranken hinwegsetzen, unterstreicht den unreflektierten Charakter ihrer Liebesbeziehung, die sich auf ein augenblicklich entstehendes, bedingungsloses wie ungehemmtes Gefühl beruft. Prévosts Roman bleibt hier der traditionellen Opposition von Vernunft und Leidenschaft verhaftet, die noch nicht in einem temperierten – empfindsamen794 – Gefühl aufgehoben ist.795 Des Grieux’ Liebe erscheint so als ein emotionaler Extremfall, der sich der rationalen Kontrolle entzieht. Deutlich formuliert wird diese Anti-Rationalität, als Des Grieux nach der ersten Trennungsphase, die er selbst positiv als „situation tranquille“ bewertet, ohne Zögern bereit ist, in einen von „mouvements tumultueux“ gekennzeichneten Zustand zurückzukehren.796 Nicht nur in der rückblickenden Narration analysiert der Chevalier sein Liebesgefühl derart als eine Passion,797 auch das erlebende Ich gesteht seine „insurmontable“798 bzw. „fatale passion“799 und legitimiert seine moralischen Grenzüberschreitungen auf diese Weise mit der übermächtigen Vehemenz seiner Leidenschaft.

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beruht nicht zuletzt auf dieser Begriffsverengung: „C’est ainsi qu’on opposera les passions, principe de tourments et de division intérieure, au sentiment, qui réalise, dans une douce euphorie, l’unité de la conscience“ (Mauzi 1965, S. 437). Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 19. Vgl. zur für die Empfindsamkeit wesentlichen Verbindung von raison und sensibilité Mistelet, De la sensibilité, S. 258: „L’alliage de la Raison et de la Sensibilité fait l’homme de génie, l’homme vertueux: elles se prêtent l’une à l’autre un secours mutuel; elles adoucissent et fortifient en même tems le cœur où elles se sont établies.“ Siehe zu diesem Verhältnis näher auch Baasner 1995, insbes. S. 610 f. Zu diesem Urteil kommt auch Baasner 1988, S. 89. Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 45: „Quel passage, en effet, de la situation tranquille où j’avais été, aux mouvements tumultueux que je sentais renaître.“ Siehe z. B. ebd., S. 19. Ebd., S. 86. Ebd., S. 162. Vgl. auch das Eingeständnis des Chevalier im Anschluss an den coup de foudre ebd., S. 23.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Vor dem Hintergrund dieses Leidenschaftsausdrucks erstaunt, dass Des Grieux zur Bezeichnung seines Gefühls bevorzugt auf den Terminus tendresse rekurriert.800 Um die Implikationen und Widersprüche dieser Begriffsverwendung erfassen zu können, gilt es, die historische Semantik von tendresse und deren Bedeutung im Rahmen der Liebestheorie im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert kurz zu skizzieren. In seiner Herleitung der bürgerlichen Empfindsamkeit aus dem galanten Diskurs des 17. Jahrhunderts erinnert Burkhard Meyer-Sickendiek an die diskursprägende Definition, die Mlle de Scudéry im ersten Band der Clélie (1654) von der ‚zärtlichen Liebe‘ formuliert. Indem Mlle de Scudéry tendresse bestimmt als „une certaine sensibilité de cœur, qui ne se trouve presque jamais souverainement, qu’en des personnes qui ont l’âme noble, les inclinations vertueuses, et l’esprit bien tourné“,801 erhebt sie die Befähigung zur zärtlichen Empfindung zu einem Zugehörigkeitskriterium einer moralischen Elite.802 Zärtlichkeit und Tugendbegriff sind auf diese Weise in ihrem Entstehungskontext untrennbar miteinander verwoben. Als weiblicher Gegenentwurf zum männlich konnotierten amour-passion803 bezieht der amour tendre einen gemäßigten „Mittelweg“804 zwischen unerotischer Freundschaft und amouröser Leidenschaft.805 Ausgehend von dem Konzept der ‚zärtlichen Liebe‘ konstatiert Meyer-Sickendiek ab der Mitte des 17. Jahrhunderts einen „umfassenden kulturellen Wandel, im Zuge dessen die aristokratische ‚éthique de la gloire‘ Corneille’scher Prägung durch eine stärkere Betonung individueller Glücks- und Liebeserfüllung ersetzt wird“.806 Die Bedeutung der Zärtlichkeit für die Herausbildung der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts besteht nicht zuletzt in dieser Privatisierung des Glücksbegriffs, im Rahmen derer ein auf der gesellschaftlich kontrollierten und sanktionierten gloire fußendes Glück zunehmend zugunsten der individuellen Gefühlserfüllung abgelöst wird. Diese im zärtlichen Gefühlsbegriff angelegte Entwicklung der Glückskonzeption wird im 18. Jahrhundert insofern moralisch zugespitzt, als das Gefühl – paradigmatisch repräsentiert durch die Empathie – seinen für die Empfindsamkeit spezifischen Doppelstatus erhält, sowohl „Quelle des moralischen Verhaltens“ als auch „selbst ein moralischer Wert“ zu sein.807 Ist die von Meyer-Sickendiek benannte Individualisierung des Glücks im Gefühlsbegriff des amour tendre als Relation (individuelles) Gefühl ➝ (individuelles) Glück darstellbar, so wird diese Folgebeziehung in der umfassenden Moralisierung der sensibilité nunmehr zu dem Schema Gefühl = Moral ➝ Glück erweitert. 800 In Manon Lescaut stehen 44 Okkurrenzen von passion (inkl. passionné,e) 64 Okkurrenzen von tendresse (inkl. tendre/tendrement) gegenüber. 801 Zitiert nach: Meyer-Sickendiek 2016, S. 15. 802 Baasner 1988, S. 74. 803 Meyer-Sickendiek 2016, S. 69. 804 Ebd., S. 84. 805 Ebd., S. 70. 806 Ebd., S. 84. 807 Baasner 1988, S. 124.

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Im Hinblick auf Manon Lescaut ist die Individualisierung und ‚Sentimentalisierung‘ des Glücksbegriffs in der zärtlichen Liebestheorie in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Dass auch für Des Grieux’ Glücksuche nicht länger nur eine überindividuelle Moralordnung des honneur, sondern auch sein individuelles Gefühl Gültigkeit besitzt, war bereits Gegenstand unserer Untersuchung (siehe Abschnitt 4.3.2.1). Unser Befund einer Konkurrenz von Normsystemen ist nun dahingehend zu erweitern, dass die Verschiebung hin zu einem individuellen und gefühlsbasierten Glückskonzept erstens im Zärtlichkeitsdiskurs des mittleren 17. Jahrhunderts vorgeprägt ist und dass dieser Diskurs zweitens auch terminologisch in Prévosts Roman Eingang findet. Eine Kausalverbindung von bonheur und sentiment, das Des Grieux zudem ausdrücklich als ein ‚zärtliches‘ bezeichnet, stellt der Erzähler in wiederholten Äußerungen wie der folgenden gegenüber seinem Freund Tiberge her: „Vous me revoyez tel que vous me laissâtes il y a quatre mois: toujours tendre, et toujours malheureux par cette fatale tendresse dans laquelle je ne me lasse point de chercher mon bonheur.“808 Mit dem Begriff der tendresse verbindet sich in der Narration des Chevalier daher die für dieses Konzept typische Tendenz zur Individualisierung von Gefühl und Glück – allerdings, ohne die für den amour tendre ebenso maßgebliche moralische Dimension mitzutragen. Eben derjenige Aspekt der zärtlichen Liebe, der in Form der moralischen Immanenz des sentiment zum wesentlichen Element des empfindsamen Diskurses avancieren wird, d. h. die moralische Voraussetzung des zärtlichen Liebhabers, wird von Prévost gewissermaßen abgeschnitten. Prévosts Verwendung des tendresse-Begriffs zeichnet sich durch seine Widersprüche aus, die sich gleichsam als Annäherungen und Distanzierungen zum Diskurs über Zärtlichkeit beschreiben lassen. Die Vehemenz des Gefühls wie auch dessen augenscheinliche Amoralität stehen der Scudéry’schen Definition des amour tendre markant gegenüber. In der augenblicklichen Genese einer ebenso leidenschaftlichen wie grenzüberschreitenden Liebe im coup de foudre wird das „Axiom sensibler Liebe“, die „Überzeugung, es gebe auserlesene, edle Menschen, deren spontane sich zögernd Raum verschaffende zärtliche Liebe die Grenzen der gesellschaftlichen ‚bienséances‘ nicht sprengen wird“,809 außer Kraft gesetzt. Angesichts des bei Prévost noch fehlenden optimistischen sensibilité-Begriffs, den die Empfindsamkeit als „Harmonisierung“ von amouröser Leidenschaft und Verstand denkt,810 kann Manon Lescaut daher nicht im engeren Sinne als ein Text der empfindsamen Strömung gelten. Dass die Figuren aufgrund ihrer „außerordentlichen Empfänglichkeit für Liebesgefühle“811 bei aller Differenz der Emotionskonzepte gleichwohl Merkmale tragen, die zu den Bestandteilen von sensibilité zählen, lässt das Verhältnis von Manon Lescaut zur Empfindsamkeit angemessener als eines der partiellen Vorbereitung beschreiben. 808 809 810 811

Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 90. Baasner 1988, S. 82. Ebd., S. 90. Ebd.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

In Des Grieux’ emphatischer Betonung des von ihm empfundenen emotionalen Spektrums wird jene Positivierung der sensiblen Empfänglichkeit angekündigt, die in der Literatur der Empfindsamkeit als Zeichen des moralisch hochstehenden Menschen ausgedeutet werden wird.812 Die Distanz moralischer Natur zum Konzept der ‚Zärtlichkeit‘ wird durch die semantische Kombination der Begriffsverwendung zusätzlich erhöht: Wiederholt referiert Des Grieux auf sein sentiment als „fatale tendresse“813 und verbindet damit ein üblicherweise der passion vorbehaltenes Attribut mit einem Gefühlskonzept, dem die tragische Fatalität definitorisch fremd ist. Es spiegelt sich in diesem Gebrauch eine Ambiguität des Terminus tendresse wider, die sich auch in dem ‚tendresse‘ gewidmeten Eintrag in Furetières Dictionnaire universel niederschlägt. Obwohl das Wörterbuch keine explizite Differenzierung vornimmt, lässt sich doch eine engere, eigentliche von einer weiteren, uneigentlichen Begriffsverwendung unterscheiden: Sensibilité du cœur & de l’ame. La delicatesse du siecle a refermé ce mot dans l’amour & dans l’amitié. […] Les Amans ne parlent que de tendresse & de soupirs. […] Quand on dit, J’ai de la tendresse pour vous, c’est-à-dire, J’ai beaucoup d’amour.814

Abgebildet wird einerseits jene spezifische Gefühlskonzeption, die ausgehend von Mlle de Scudéry die „delicatesse du siecle“ im Hinblick auf eine ‚zärtliche‘ Ausgestaltung von Liebe und Freundschaft formt. Hiervon abgeleitet wird tendresse in einem weiteren Sinne zu einer modischen Diskursivierungsvariante jeglicher – d. h. auch nicht zwingend ‚zärtlicher‘ – Liebesbeteuerungen. Tendresse ist damit nicht zuletzt auch eine diskursive Modeerscheinung, durch deren Verwendung zwar auch der originäre moralische Begriffsrahmen aufgerufen wird. Dieser verkommt jedoch zur bloßen Legitimationsfassade, wenn die moralischen Implikationen, wie im Fall des Chevalier des Grieux, nicht mit vollzogen werden.815 In dessen typischer Begriffsverwendung 812

Für diese „Empfindlichkeit“ (Baasner 1988, S. 95) siehe das vielzitierte Autoporträt des Chevalier in Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 81: „Il y a peu de personnes qui connaissent la force de ces mouvements particuliers du cœur. Le commun des hommes n’est sensible qu’à cinq ou six passions, dans le cercle desquelles leur vie se passe, et où toutes leurs agitations se réduisent. Otez-leur l’amour et la haine, le plaisir et la douleur, l’espérance et la crainte, et ils ne sentent plus rien. Mais les personnes d’un caractère plus noble peuvent être remuées de mille façons différentes; il semble qu’elles aient plus de cinq sens, et qu’elles puissent recevoir des idées et des sensations qui passent les bornes ordinaires de la nature; et comme elles ont un sentiment de cette grandeur qui les élève au-dessus du vulgaire, il n’y a rien dont elles soient plus jalouses.“ 813 Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 90. 814 s. v. ‚Tendresse‘, in: Dictionnaire universel, contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, & les termes des sciences & des arts, Den Haag 1727. 815 Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle auf den gesellschaftskritischen Impetus von Prévosts Roman, der mit seiner Verortung in der Régence-Zeit auf eine historische Periode referiert, deren vermeintlicher Sittenverfall zu einem Klischee der Geschichtsschreibung geworden ist. Eine gesonderte Untersuchung wert wäre etwa die These, derzufolge die Gefühlsmoral des Paares Des Grieux–Manon als positiver Wert in Opposition zu einem nur noch oberflächlich gültigen Kodex

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i. S. v. „fatale tendresse“ werden nicht nur ‚tendresse‘ und ‚passion‘ begrifflich ausgetauscht;816 in der Bindung des Gefühls an eine tragische Fatalität wird zudem der Aspekt der moralischen Verantwortung minimiert. In seinem undifferenzierten und moralisch neutralen Gefühlsbegriff ist die sog. tendresse des Chevalier daher Beleg des im Dictionnaire universel von Furetière beschriebenen uneigentlichen Gebrauchs. Angesichts dieses Befundes der historischen Semantik wäre anzunehmen, dass die moralischen Konnotationen von tendresse mit wachsendem zeitlichen Abstand zu ihrem soziohistorischen Entstehungskontext an Bedeutung verloren hätten und durch einen lediglich noch nominellen Gebrauch ersetzt worden wären. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Noch 1721 stellt das Dictionnaire universel françois et latin, vulgairement appelé Dictionnaire de Trévoux die moralische Dimension der ‚Zärtlichkeit‘ in einer die Bestimmungsversuche des 17. Jahrhunderts übertreffenden Deutlichkeit heraus. Die dort abgedruckte Definition liefert als Gebrauchsbeispiel für ‚tendre‘: „Il a l’âme tendre, & facilement émuë de compassion pour les misères de son prochain.“817 Durch die begriffliche Anbindung einer als ‚zärtlich‘ markierten Seele an die compassion, die ihrerseits auf das Ideal der bienfaisance bzw. humanité verweist, wird ein Konzept der Empfindsamkeit vorbereitet, das Empfindungsfähigkeit und moralische Tugend in einer bislang unbekannten Konsequenz zusammendenkt. Die moralischen Implikationen des amour tendre sind im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts unhintergehbare Voraussetzung des Liebesdiskurses. Es ist daher davon auszugehen, dass die Verwendung des Terminus tendresse in Manon Lescaut immer auch moralische Vorverständnisse auf Seiten des Lesers berührt, die im Hinblick auf die narrative Selbstinszenierung bzw. -positionierung Des Grieux’ zunächst zu seinen Gunsten wirken. Die positive Prädisposition des Lesers für den Protagonisten des Textes ist daher auch auf die terminologische Verwendung eines Gefühlskonzeptes zurückzuführen, das per definitionem eine tugendhafte Verfassung des fühlenden Subjekts präsupponiert. Da die erzählten Handlungen des Paares Des Grieux–Manon die moralisch fundierte positive Erwartungshaltung des Lesers in der Paris-Episode jedoch beständig konterkarieren, wandelt sich die sympathetische Haltung in Distanz. Indem der tendresse-Diskurs im ersten Teil von Manon Lescaut daher allenfalls als Negativfolie dient, vor der sich die

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des honneur in Stellung gebracht wird, der angesichts der moralischen Dekadenz der Zeit von innen bereits ausgehöhlt ist. Vgl. hierzu die Aussage des Chevalier des Grieux, der zufolge die von ihm begangenen Überschreitungen der gültigen Moral in einer Linie mit den zeitgenössisch de facto akzeptierten Verhaltensweisen ständen; Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 163. Die Herausbildung einer Moral des sentiment würde so lesbar als eine implizite Kritik an der Moral der Régence-Zeit. Für eine Abgrenzung von tendresse und passion siehe Mauzi 1965, S. 455: „L’âme tendre sait conserver toutes vives les puissances du sentiment, en les purgeant des tentations et des violences inséparables des passions. Alors que le passionné se montre injuste, anarchique, indifférent aux autres, elle est douce, sociable et bienfaisant.“ s. v. ‚tendre‘, in: Dictionnaire universel françois et latin, vulgairement appelé Dictionnaire de Trévoux, Paris 1721, Herv. i. O.

262

Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

Protagonisten markant absetzen, arbeitet er der strukturellen Ambivalenz des Textes zu. Mit der geographischen Verlagerung der Handlung von Paris in die französische Kolonie Louisiana geht allerdings eine Verschiebung moralischer Art einher, die gleichsam die Glückskonzeption der Protagonisten wie auch die affektive Beteiligung des Lesers tangiert. Die distanzierenden Mechanismen des ersten Teils werden in dieser Sequenz durch eine moralische Positivierung wieder eingeholt – mit dem Ergebnis des in den zitierten Rezensionen zu lesenden empathisch-wohlwollenden Leserurteils über die Protagonisten. Nicht trotz, sondern wegen seines scharfen Kontrastes zur französischen Hauptstadt erhält das karge und nur spärlich bewohnte Exil den Status einer Idylle: War Paris der Ort der ‚vergnügungssüchtigen‘ Gesellschaft von la cour et la ville und damit auch der Ort des moralischen Verfalls, so existiert in der Abgeschiedenheit von Nouvel Orléans kein la ville entsprechendes gesellschaftliches Pendant. Im Unterschied zu der für Paris typischen konstanten Bewegung, die der leidenschaftlich dynamischen Liebe des Paares korrespondierte, erscheint das amerikanische Exil zunächst als Ort emotionaler Stabilität und Ausgeglichenheit. Die für das Konzept des amour tendre maßgebliche Mäßigung des leidenschaftlichen Gefühls vollzieht sich für Des Grieux bereits auf der Überfahrt mit zunehmender Entfernung von der französischen Hauptstadt: „[P]lus nous avancions vers l’Amérique, plus je sentais mon cœur s’élargir et devenir tranquille.“818 Tranquillité bedeutet für Des Grieux die Abwesenheit von emotionalen Ausnahmezuständen ebenso wie die Gewissheit über Manons Liebe. So erscheint die von beiden beschworene tendresse in Nouvel Orléans weniger als in Paris als eine bloße Worthülse denn als von den Extremen gereinigtes und beständiges Gefühl. Aus Manons Liebeserklärung an Des Grieux wird ersichtlich, dass die leidenschaftliche Vereinzelung mit dem Ortswechsel einer proto-empfindsamen union des cœurs weicht: Vous serez donc la plus riche personne de l’univers, me répondit-elle, car, s’il n’y eut jamais d’amour tel que le vôtre, il est impossible aussi d’être aimé plus tendrement que vous l’êtes. Je me rends justice, continua-t-elle. Je sens bien que je n’ai jamais mérité ce prodigieux attachement que vous avez pour moi. Je vous ai causé des chagrins, que vous n’avez pu me pardonner sans une bonté extrême. J’ai été légère et volage, et même en vous aimant éperdument, comme j’ai toujours fait, je n’étais qu’une ingrate. Mais vous ne sauriez croire combien je suis changée. Mes larmes, que vous avez vues couler si souvent depuis notre départ de France, n’ont pas eu une seule fois mes malheurs pour objet. J’ai cessé de les sentir aussitôt que vous avez commencé à les partager. Je n’ai pleuré que de tendresse et de compassion pour vous.819

818 819

Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, S. 184. Ebd., S. 187 f.

Eine bizarre Konstellation

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Mit der Vergewisserung von Manons Liebe findet Des Grieux in Louisiana schließlich das in Paris vergeblich gesuchte Glück: „O Dieu! m’écriai-je, je ne vous demande plus rien. Je suis assuré du cœur de Manon. Il est tel que je l’ai souhaité pour être heureux; je ne puis plus cesser de l’être à présent. Voilà ma félicité bien établie.“820 Die durch den erzwungenen Abstand zur Hauptstadt gewonnene emotionale Ruhe macht ein tugendhaftes L(i)eben möglich.821 In ihrer Rückbesinnung auf die Werte der Religion822 werden Gefühl und Moral erstmals in Manon Lescaut in einer der Empfindsamkeit nahestehenden Weise zur Deckung gebracht. Dass diese proto-empfindsame Idylle allerdings nur außerhalb der Gesellschaft überhaupt entstehen kann, lässt sie als Utopie erscheinen: Die Zusammenführung von Gefühl, Moral und Glück vollzieht sich für Manon und Des Grieux erst dort, wo die Gesellschaft nicht ist, und bleibt zudem an die Voraussetzung der Nicht-Gesellschaftlichkeit gebunden. Mit der Reintegration in den Bereich der Moral und in eine gesellschaftliche Struktur wird schließlich ein Prozess eingeleitet, der mit Manons Tod endet. Indem sich mit Synnelets Interesse an Manon und seinem Duell mit Des Grieux das Handlungsschema der Paris-Episode wiederholt, wird die sentimental-moralische Gleichung als utopisches Konstrukt entlarvt. In höchstem Maße ironisch erscheint dabei, dass das empfindsame Glück schon durch die Voraussetzung seiner Erfüllung gefährdet ist: Während sich die Deckung von Gefühl und Moral endgültig erst vollzieht, als Des Grieux und Manon mit dem Wunsch nach einer Eheschließung und der Rückbesinnung auf die christlichen Pflichten in den moralischen Raum zurückkehren, ist derselbe Heiratswunsch die Ursache dafür, dass Manons unverheirateter Status überhaupt bekannt und sie das Objekt von Synnelets Interesse wird. Die im Kontext der histoire erstmalige Konformität von Gefühl und Moral provoziert damit allererst die zu Manons Tod führenden Ereignisse. Diese von Des Grieux als schicksalhaft bewertete ironische Wendung benennt der Erzähler auch explizit: „Il [le Ciel] m’avait souffert avec patience tandis que je marchais aveuglément dans la route du vice, et ses plus rudes châtiments m’étaient réservés lorsque je commençais à retourner à la vertu.“823 Dass das Glück des Paares einerseits an die Voraussetzung eines gesellschaftslosen Ortes gebunden wird, während andererseits selbst dieses (auch geographisch in einem ‚Außen‘ verortete) Exil mittels der wiederkehrenden Handlungselemente als gesellschaftlicher Ort markiert wird, entlarvt die proto-empfindsame Realisierung der Gleichung Gefühl = Moral ➝ Glück als Chimäre. Ist die Gesellschaftlichkeit selbst im Exil unhintergehbare Voraussetzung menschlicher Realität, so erscheint die von Des Grieux beschworene Unschuld des Gefühls824 als unerreichbare Setzung der nachpre-

820 821 822 823 824

Ebd., S. 188. Vgl. ebd.: „C’est ici qu’on s’aime sans intérêt, sans jalousie, sans inconstance.“ Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd., S. 72.

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Die Inszenierung moralischer Ambivalenz im empirischen Modus

ziösen, (proto-)empfindsamen Liebessemantik. Vor diesem Hintergrund verbirgt sich in Des Grieux’ Klage: „L’amour est une passion innocente; comment s’est-il changé, pour moi, en une source de misères et de désordres?“825 mehr als nur das fatalistische Weltbild einer fiktiven Figur. Indem die misères und désordes als das Resultat von Des Grieux’ Leidenschaft präsentiert werden, durchkreuzen sie die apriorische Annahme eines wesentlich unschuldigen Liebesgefühls. Die vermeintliche Unschuld des zärtlichen Gefühls wird angesichts der zerstörerischen Leidenschaften der gesellschaftlichen Realität als apriorische Hypothese entwertet, die das Wesen der moralischen Wirklichkeit nicht adäquat abbildet. 4.4 Zusammenfassung Die für Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut charakteristischen moralischen Ambivalenzen konnten in der Textanalyse auf eine Struktur zurückgeführt werden, die auf zwei widerstrebenden Tendenzen beruht. Einer moralischen Textfunktion, innerhalb derer der Roman als Instrument einer moralischen Erziehung funktionalisiert wird, steht eine epistemologische Funktion gegenüber, welche die Suggestion moralischer Eindeutigkeit durch die Ambivalenz und Komplexität des moralisch Realen aufhebt. In der den Text auszeichnenden Wertungspluralität spiegelt sich damit eine Epistemologie wider, die apriorische Setzungen zugunsten einer von den empirischen Phänomenen ausgehenden induktiven Methode verabschiedet. Indem Prévost mit Manon Lescaut die konkurrierende Gültigkeit von Werteordnungen inszeniert, kreiert er einen Kasus, in dem das simultane Agieren moralischer Ordnungen als mehrdeutige Struktur der moralischen Wirklichkeit erkannt wird. Dass die apriorischen, monologischen und eindeutigen préceptes de la morale ungeeignet sind, die erzählte moralische Situation abzubilden, legt neben der individuellen Konfliktkonstellation des Erzählers auch die wirkungsästhetische Anlage des Textes nahe. Obwohl die erzählten Handlungen in objektiver Betrachtung eine kategorische Ablehnung verdienen würden, belegen die Rezeptionszeugnisse die leserseitige Sympathie für die Protagonisten. Um die Situation konkurrierender Codes, mit der Des Grieux konfrontiert ist, auch leserseitig in eine Wertungsambivalenz zu überführen, bedient sich der Text eines dem zärtlichen Liebesdiskurs entstammenden Gefühlsbegriffs, der den Rezipienten aufgrund seines tradierten moralischen Fundaments positiv für die Handelnden prädisponiert. Ein die Empfindsamkeit vorbereitender Gefühlsbegriff (tendresse) wird so im Sinne der empiristischen Epistemologie funktionalisiert, indem er die erzählte Situation rezipientenseitig an moralischer Wertungskomplexität steigert.

825 Ebd.

Zusammenfassung

265

Konstituiert sich über die ambivalente wirkungsästhetische Anlage des Romans daher gleichsam indirekt eine empirische Orientierung, so partizipieren die proto-empfindsamen Strukturen des Romans auch in unmittelbarer Weise an der anti-aprioristischen Epistemologie. Vermittelt über den tendresse-Begriff wird in der Amerika-Episode eine Gleichung von individuellem Gefühl, Moral und Glück antizipiert, die zu den Grundpfeilern der Empfindsamkeit avancieren wird. Dass diese Gleichung getilgt wird, kaum dass sie sich für die Protagonisten erfüllt, entwertet sie als apriorische Hypothese, die nur in einem utopischen Setting überhaupt zur Erfüllung kommen kann. Prévost bedient sich hier also eines Konzeptes der sich derzeit formenden Empfindsamkeit, um dieses alsbald auszuhebeln – und zwar zugunsten einer ‚empiristischen‘ Epistemologie. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungsergebnisse erweist sich das Verhältnis von Manon Lescaut zu den epochalen Konfigurationen Aufklärung und Empfindsamkeit als ein vielschichtiges, das sich nicht als eine eindeutige Klassifizierung beantworten lässt: Einerseits trennt sein pessimistischer Gefühlsbegriff Prévosts Roman von den sentimentalen und moralischen Konzepten der Empfindsamkeit, wenngleich er diese antizipiert und damit zu ihrer Konstituierung beiträgt. Vereinfacht ausgedrückt zählt er damit zu den historischen Grundlagen der empfindsamen Strömung, ohne dass er sich dieser jedoch widerspruchsfrei zuordnen lässt. Andererseits partizipiert eben derjenige zärtliche Liebesbegriff, der als Voraussetzung der französischen Empfindsamkeit gilt, in seiner spezifischen Ausgestaltung in Manon Lescaut an einer Epistemologie, deren Durchsetzung die Aufklärung betreibt.

5. Schluss Die vorliegende Arbeit nahm ihren Ausgang in einer zweifachen Beobachtung: Die von der älteren Dixhuitiemistik vorgenommene und bis heute verbreitete Verengung von ‚Aufklärungsliteratur‘ auf eine narrative Gestaltung, die in der – meist ironischen – Distanz der Erzählstimme zum Erzählten bestehe, welche wiederum in einer ebenso distanzierten Rezeptionshaltung gespiegelt werde, steht im Widerspruch zu tendenziell empfindsamen Erzählformen der Aufklärung. In der Verbindung von ‚Empfindsamem‘ und ‚Aufklärerischem‘ in einigen Werken der Lumières wird das systematische Problem der Kopräsenz multipler literarischer Strömungen im Frankreich des 18. Jahrhunderts sichtbar. Diese Kopräsenz wird durch die im Französischen übliche Bezeichnung des 18. Jahrhunderts als siècle des Lumières überblendet, suggeriert sie doch eine von der Aufklärung geprägte Homogenität des Zeitalters. Wie Klaus W. Hempfer deutlich macht, liegt diesem Homogenitätspostulat die fehlende Differenzierung von historischem Zeitraum und Epochenbegriff zugrunde: Während Zeiträume i. d. R. nicht homogen sind, muss ein auf diesen Zeitraum angewandtes Epochenkonstrukt als kriterienbegründete Auswahl der Erscheinungen des Zeitraumes „notwendig homogen sein“.826 Epochenbegriffe bildeten daher nie die Gesamtheit eines Zeitraumes ab und verlören ihre spezifische Differenzqualität, sollten sie in dieser Absicht konzipiert werden. Ein Verständnis von Epochen als Konstrukte, die auf einen historischen Zeitraum Anwendung finden, indem sie aus einer kriterienbegründeten Teilmenge der Erscheinungen des Zeitraumes abstrahiert werden, ermöglicht es, multiple Epochenkonstrukte auf ein- und denselben Zeitraum anzuwenden. Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden Aufklärung und Empfindsamkeit als für den Zeitraum des 18. Jahrhunderts gleichzeitig anwendbare literarische Paradigmen abgeleitet. Im Unterschied zu insbesondere in der jüngeren Vergangenheit verbreiteten Ansätzen, welche die Empfindsamkeit in die Epoche Aufklärung eingliedern, wird in der vorliegenden Arbeit von der grundsätzlich differenten Funktion dieser literarischen Paradigmen ausgegangen. Hiermit verbindet sich ein Verständnis von Auf-

826 Hempfer 2018, S. 227.

Schluss

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klärungsliteratur, das, an unsere Ausgangsbeobachtung anschließend, nicht von einer etwaigen poetologischen Bestimmungsmöglichkeit ausgeht, sondern von einer spezifischen Funktionalisierung der unter ‚Aufklärungsliteratur‘ zusammengefassten Texte. Grundannahme dieser Definition ist ein Wandel in den Strukturen des Denkens, der als „Ablösung eines hypothetisch-deduktiven durch ein empirisch-induktives Denken“827 beschrieben wurde, wobei davon ausgegangen wird, dass die Aufklärung diesen Wandel zu ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage erhebt und seiner Durchsetzung verpflichtet ist. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die genannte empirisch-induktive Episteme ihrerseits auf Entwicklungen in den experimentellen Wissenschaften zurückgeht, die in Verkürzung des historischen Sachverhalts gemeinhin als Scientific Revolution Beachtung findet, wurde dieser epistemologische Ansatz in Kap. 1.2.1.3. um den Aspekt einer neuartigen Funktion, die dem empirisch-induktiven Modus in der Aufklärung zukommt, erweitert. ‚Aufklärungsliteratur‘ wurde sodann genauer über ihre Funktion in der Durchsetzung der aufklärerischen Episteme definiert. Hieraus ergaben sich zwei Schlussfolgerungen: Erstens ist die Literatur der Aufklärung sowohl Mittel als auch Ergebnis jener für die Aufklärung spezifischen Ausweitung des philosophischen Raumes. Zweitens ergibt sich für den dieser Textgruppe zuzuordnenden Einzeltext die epochenspezifische Situation, dass er das Produkt der Verbindung zweier Konstitutionsebenen ist: Eine funktionale Ebene, die im Dienst der Durchsetzung von Aufklärung als epistemologischer Konfiguration steht, liegt stets über dem Niveau der literarischen Strukturierung. Auf dieser Ebene, die Textgestalt, generische Traditionen, Erzähl- und Darstellungsmodi, Themen und Motive u. a. m. einschließt, lässt sich für einen Text der Aufklärungsliteratur eine zweite Zuordnung zu einem Epochenkonstrukt bzw. zu einem Paradigma oder einer Strömung vornehmen. Die spezifische Doppelstruktur von Aufklärungsliteratur konkretisiert sich somit für jeden Einzeltext in individueller Weise in Abhängigkeit von dem jeweils refunktionalisierten literarischen Paradigma. Anhand des Paradigmas Empfindsamkeit wurde diese funktionale Relation in drei Textanalysen detailliert herausgearbeitet. Im Ergebnis zeichnet die untersuchten Texte eine jeweils unterschiedliche Diskursivierung der Aufklärung mittels empfindsamer Strukturen aus. Unter den Texten der Aufklärungsliteratur sind nur wenige dem empfindsamen Paradigma so eng verbunden wie Diderots Klosterroman La Religieuse.828 ‚Empfindsames‘ entfaltet sich in diesem Roman zunächst als literarische Umsetzung der poetologischen Argumente, die Diderot nur kurz nach der Erstredaktion von La Religieuse im Éloge de Richardson formuliert. Mit Fortschreiten des autodiegetischen Erzählaktes unterliegt die empfindsame Narration jedoch einer Dekonstruktion. 827 Hempfer 2007, S. 255 828 Ein eigenes Forschungsprojekt wert wäre die besondere Stellung der Werke Jean-Jacques Rousseaus sowohl im Hinblick auf den in dieser Arbeit verwendeten Aufklärungsbegriff als auch hinsichtlich ihrer Relation zur Empfindsamkeit.

268

Schluss

Diese vollzieht sich zum einen vermittels eines neuartigen sensibilité-Begriffs, der dem physiologischen Diskurs der Aufklärung entstammt, sowie zum anderen durch die zunehmenden Diskrepanzen der Erzählsituation, die als bedeutungskonstitutive Elemente interpretiert wurden: Die Diskrepanzen kodieren eine Appellstruktur, die über der empfindsamen Erzählebene des Textes liegt. Damit bleibt der Roman als ein (tendenziell) empfindsamer rezipierbar; er birgt darüber hinaus jedoch insofern ein epistemologisches Potential, als er eine Erkenntnisbildung kodiert, die der empirisch-induktiven Diagnostik der aufklärerischen Medizin verpflichtet ist. Da diese Erkenntnisbildung allerdings maßgeblich auf der Eigenschaft des Terminus sensibilité als Kontaktpunkt zwischen den Paradigmen Aufklärung und Empfindsamkeit beruht, arbeitet die empfindsame Tendenz des Textes auch dem ‚epistemologischen‘ Bedeutungsniveau zu. Verglichen mit der komplexen metareflexiven Dekonstruktion in Diderots Roman ließ sich in Voltaires L’Ingénu eine pragmatischere Inanspruchnahme der Empfindsamkeit analysieren, die mit der konkreten Funktion des Textes innerhalb eines satirischen Kommunikationszusammenhanges verbunden ist. Daher weist der Text nicht so sehr wie La Religieuse eine grundsätzliche Ähnlichkeit zum empfindsamen Paradigma auf, sondern verwendet lediglich Versatzstücke empfindsamen Erzählens. Zudem lässt sich eine ironische Verwendung im ersten Textteil von einem ernsthaften Gebrauch im zweiten Teil differenzieren. Mit der erstmaligen Thematisierung einer Situation der politischen Verfolgung wandelt sich nicht nur der Verwendungsmodus; auch die politische Satire auf das aktuelle Zeitgeschehen konstituiert sich von dieser Textstelle an. Vor dem Hintergrund von Voltaires politischem Engagement für die Opfer religiöser Verfolgung, das sich in den 1760er Jahren konzentriert, erscheint L’Ingénu als ein Mosaikstein in einer umfassenden Kommunikationsstrategie und der Rückgriff auf Elemente der gefragten empfindsamen Literatur der Zeit als Mittel ihrer Diskursivierung. So greift Voltaire den Verfolgungstopos der Empfindsamkeit auf, um eine Konstellation politischer Verfolgung qua Analogiebildung dem Leser auch aus einer individuellen und ihm aus der Literatur bekannten Perspektive vorzuführen. Über ein zentrales Handlungselement der empfindsamen Literatur, die vertu persécutée, wird die politische Satire so an den literarischen Erfahrungshorizont des Rezipienten anschließbar. Mit Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut wurde die Untersuchungsperspektive abschließend umgekehrt, indem ein Text ins Zentrum der Analyse gestellt wurde, der – anders als die Romane Diderots und Voltaires – gemeinhin nicht als Vertreter der Aufklärung, sondern als einer der Gründungstexte der französischen Empfindsamkeit gehandelt wird. Die Textanalyse hat hingegen offenbart, dass beide Einordnungen zumindest in ihrer Absolutheit zu relativieren sind. Auf mehreren Ebenen kreiert der Text eine Situation der moralischen Ambiguität, die deutliche Parallelen zu Prévosts journalistischem Schaffen in Le Pour et contre aufweist. Wo Prévost in dem Journal Grenzfälle des Moralischen modelliert, die sich apriorischen Vorurtei-

Schluss

269

len entziehen, wird auch die Liebesgeschichte der Manon und des Chevalier trotz aller unstrittigen rechtlichen und moralischen Grenzüberschreitungen in eine Situation der Unentscheidbarkeit überführt. Obwohl sich die Liebesthematik noch nicht im engeren Sinne als jene amour sensible darstellt, die sich ab der Jahrhundertmitte – auch dank Prévosts Mitwirken – in der empfindsamen Literatur durchsetzen wird, ist es doch die Darstellung von Liebe selbst, die den Leser für das Paar einnimmt und sein Handeln entschuldigen lässt. Insofern das wirkungsästhetische Prinzip der emotionalen Teilhabe der Rezipienten am Schicksal des Paares in Manon Lescaut Anwendung findet, noch bevor sich die empfindsame Tendenz in Frankreich final ausgebildet hat, ist in dieser Hinsicht von einer proto-empfindsamen Strukturierung des Textes auszugehen. Die proto-empfindsame Wirkungsästhetik liegt dem ambivalenten moralischen Urteil der Leserschaft wesentlich zugrunde. Die moralische Realität, so ließe sich unter Rückgriff auf den Titel von Prévosts Journal formulieren, wird als ein Für und Wider, ein Abwägen durchsichtig, das nicht in apriorischen Prinzipien abzubilden ist. In diesem Punkt der Konfrontation eines anhand gesetzter Urteile deduzierenden moralischen Systems mit der Komplexität der moralischen Realität konvergiert Prévosts Roman mit den epistemologischen Grundpfeilern der Aufklärung. Als apriorische Setzung wird jedoch auch jenes Basispostulat der Empfindsamkeit verabschiedet, das in dem Glücksversprechen einer tugendhaften Lebensführung besteht. Während von einer eindeutigen Aktualisierung des empfindsamen Paradigmas in Manon Lescaut daher nicht ausgegangen werden kann, ist die Denkverwandtschaft mit dem empirisch-induktiven Stil der Aufklärung deutlich erkennbar. Vermittelt über diese Affinität lässt sich die Frage der Relation von Prévosts Roman zu den Lumières abseits rein thematischer Auflistungen nun als eine der epistemologischen Nähe beantworten. Indem der Text den empirischen Modus in Form einer moralischen Konstellation durch den Erzählakt nachempfindet, wirkt er an der Verbreitung und Durchsetzung dieses Modus mit. Deutlich geworden ist das Spektrum der Diskursivierungsmöglichkeiten von Aufklärung in den Strukturen der Empfindsamkeit. Gleichwohl soll hiermit keinem Konzept der „empfindsamen Aufklärung“ der Boden bereitet werden, wie sich beispielsweise aus dem Titel eines Sammelbandes zu Christian Fürchtegott Gellert829 ableiten ließe. Zumindest für den französischen Bereich handelt es sich nicht um eine grundsätzliche empfindsame Orientierung der Lumières, sondern allenfalls um eine Relation der punktuellen und funktionalen Vermittlung, die dem für die Literatur der Aufklärung maßgeblichen zweifachen Strukturprinzip entspricht. Eine von diesem fundamentalen Doppelcharakter ausgehende Bestimmung von Aufklärungsliteratur lässt deren Spektrum weiter und enger zugleich erscheinen: Weiter erscheint es, weil

829 Schönborn, Sibylle / Viehöfer, Vera (Hgg.), Gellert und die empfindsame Aufklärung: Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur, Berlin 2009.

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Schluss

es neben den in der Aufklärungsforschung präferierten ‚distanzierenden‘ Erzählweisen eines Candide oder Jacques le fataliste auch gänzlich andere, z. B. empfindsame Briefromane oder klassizistische Epen, berücksichtigt. Enger gefasst wird der Begriff von Aufklärungsliteratur hingegen, weil ‚Aufklärung‘ in der in dieser Arbeit vorgenommenen epistemologischen Bestimmung auf literarische Texte beschränkt bleibt, die unmittelbar oder indirekt in einer Funktion für die Durchsetzung dieser Epistemologie stehen. Dies abseits der ausgetretenen Pfade der Aufklärungsforschung mit den Methoden der literarischen Textinterpretation für den jeweiligen Einzeltext nachzuweisen – oder eben zu widerlegen –, ist die Aufgabe einer historisch und systematisch arbeitenden Literaturwissenschaft.

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Index nominum Baasner, Frank 42–44, 46 f., 50 f., 54, 60 (Anm. 188), 98 (Anm. 298), 100 (Anm. 305), 194 (Anm. 618), 256 (Anm. 791), 257 (Anm. 794 f.), 258–260 Bacon, Francis 24 (Anm. 51), 228 f. Barbiche, Bernard 158–160, 164 f. Beaurepaire, Pierre-Yves 14 (Anm. 8), 152 (Anm. 457), 170 (Anm. 523), 179–182, 188 f. (Anm. 595, 597) Beccaria, Cesare 138 (Anm. 402), 168 f. Beisel, Inge 84 (Anm. 251), 108 (Anm. 333), 111 (Anm. 343), 117 (Anm. 356), 122 (Anm. 367) Berryer, Nicolas-René 165 Berthiaume, Pierre 95, 221 (Anm. 699 f.) Bordeu, Théophile de 52 f., 99, 209 (Anm. 337) Buffon, Georges-Louis Leclerc, comte de 19 (Anm. 31), 60 Calas, Jean 32, 138, 148 f., 168 f., 192, 205 Cassirer, Ernst 14 (Anm. 11), 19–22, 24, 26 f. Chartier, Roger 36 (Anm. 101), 69 f. Choiseul, Étienne-François de 150 (Anm. 449), 180 f. Clemens IX. 186 (Anm. 588), 189–191 Colbert, Jean-Baptiste 151 Collins, Anthony 232 Condillac, Étienne Bonnot de 19 (Anm. 31), 34 (Anm. 96) Coudreuse, Anne 77, 94 f., 110 (Anm. 341) Coulet, Henri 12 f., 27 (Anm. 65), 41 f., 210 (Anm. 664) Cramer, Gabriel 207 Croismare, Marc-Antoine-Nicolas de 72–75, 77–81

Damilaville, Étienne Noël 181, 192 f. D’Alembert, Jean le Rond 18 f., 22, 52 f., 99 (Anm. 303), 101 f. (Anm. 311 f.), 107 (Anm. 329), 174 f., 177 f., 192 (Anm. 607, 609), 230 (Anm. 720) D’Argenson, Marc René de Voyer de Paulmy 165 D’Argental, Charles-Augustin de Ferriol 177, 192 (Anm. 606) Darnton, Robert 15 (Anm. 18), 37 (Anm. 102) Descartes, René 18–21, 24 f., 34 De Viguerie, Jean 159 f., 162, 167 (Anm. 510), 180 (Anm. 563) D’Holbach, Paul Thiry 22, 60 Diderot, Denis 12–14, 19 (Anm. 31), 23, 32, 34, 37–41, 45 f., 48, 51–54, 60, 62, 65–137, 140, 171 (Anm. 528), 174, 192 (Anm. 608), 194, 203 (Anm. 649), 207, 209, 255, 267 f. Dieckmann, Herbert 20 (Anm. 34), 25, 27 (Anm. 66), 36 (Anm. 98), 74 (Anm. 227), 120 (Anm. 365) Dubos, Jean-Baptiste 44 f. Duflo, Colas 53 (Anm. 163), 105 (Anm. 321), 107 (Anm. 331), 109 (Anm. 336), 133 Du Plessis-Richelieu, Emmanuel-Armand de Vignerot, duc d’Aiguillon 152 f., 155 (Anm. 468) Edelstein, Dan 25 (Anm. 56) Edmiston, William 118 (Anm. 358), 129 (Anm. 379) Fénelon, François Armand de Salignac de La Mothe 233–235 Fouquet, Henri 52 (Anm. 156), 99 (Anm. 303), 100 Fouquet, Nicolas 165 (Anm. 501)

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Index nominum

Fowler, James 69 (Anm. 207), 72 (Anm. 213), 118 (Anm. 357) Francis, Richard A. 139, 141 f., 149–153, 156, 160 f., 171, 190 (Anm. 603), 194 (Anm. 617), 199 (Anm. 637), 211, 245–247 Gay, Peter 180 f. (Anm. 572, 579), 182 (Anm. 581), 192 Geißler, Rolf 41 f. Göbel, Walter 56 Göderle, Wolfgang 29 f. Goldmann, Lucien 162 (Anm. 493), 179 (Anm. 560), 189 (Anm. 597) Goodman, Dena 14 f. (Anm. 14), 78 Grimm, Friedrich Melchior 73 f., 80 Gusdorf, Georges 12 (Anm. 4), 20 (Anm. 34), 22, 36 (Anm. 98) Hantsch, Ingrid 143 (Anm. 423), 147–149 Helvétius, Claude-Adrien 60, 101 (Anm. 311) Hempfer, Klaus W. 16 (Anm. 21 f.), 19 f. (Anm. 32, 36, 39), 26 (Anm. 58), 28 (Anm. 67), 34, 36 f., 39, 54, 56–63, 114 (Anm. 349), 128 (Anm. 377), 142–147, 266 f. Highnam, David E. 140 f. (Anm. 413), 197 (Anm. 628), 206 (Anm. 659) Horaz 214 (Anm. 677), 235 Hutcheson, Francis 231 Imbert, Jean 158 f. Israel, Jonathan 30–35 Jacob, Margaret C. 30, 32 f. (Anm. 84, 92) Jaucourt, Louis, chevalier de 100, 215 (Anm. 684) Jolles, André 225, 245 Klueting, Harm 29 Kuhn, Roman 38 f., 61 (Anm. 191), 213 (Anm. 674) La Barre, François-Jean Lefebvre de 32, 138 f., 148, 168 f., 178, 182, 192 f., 205 La Chaise, François d’Aix, père de 150 f., 164, 172–176, 186–188, 190 f., 196, 205 La Chalotais, Louis-René de Caradeuc de 181 (Anm. 577) Lally-Tollendal, Thomas Arthur de 148, 168 La Mettrie, Julien Offray de 23 Lannoy, Cyprien 101 f. (Anm. 311 f.) Leibniz, Gottfried Wilhelm 20, 24, 34, 137 Lenoir, Jean Charles Pierre 165 Le Paige, Louis-Adrien 180 (Anm. 574)

Le Tellier, Michel 185 f., 190 f. Locke, John 24 (Anm. 51), 25, 218 (Anm. 694), 229–233 Louis XIV 148, 158, 160 f., 162 (Anm. 493), 164–166, 172 f., 186 (Anm. 588), 189 (Anm. 597) Louis XV 17, 157, 159–163, 165, 167 f., 179–181, 189 Louvois, François Michel Le Tellier de 150 f., 157 f., 164, 172 f., 175, 191, 195 f. Lüsebrink, Hans-Jürgen 14 (Anm. 10), 84 f. Mahler, Andreas 143–147, 155 Malebranche, Nicolas 24 f. Marmontel, Jean-François 154 f. Mason, Haydn 140 (Anm. 413), 197 Mauzi, Robert 14 (Anm. 15), 118 (Anm. 357), 134 (Anm. 397), 239 (Anm. 738), 256 f. (Anm. 792), 261 (Anm. 816) May, Georges 40 (Anm. 111), 67 (Anm. 203), 71 (Anm. 214), 74 f., 87 f., 95 (Anm. 289), 108 (Anm. 332), 118, 213 f. Meister, Jacques-Henri 74, 87, 96 Ménuret de Chambaud, Jean-Joseph 99 (Anm. 303) Meyer-Sickendiek, Burkhardt 42 f. (Anm. 118, 120), 55 (Anm. 171), 137 (Anm. 398), 147 (Anm. 438), 176 (Anm. 550), 258 Mirabeau, Honoré-Gabriel de Riqueti, comte de 165 f. Mistelet 44 (Anm. 126), 47–50, 257 (Anm. 794) Mittelstraß, Jürgen 20 (Anm. 34), 24 Montesquieu, Charles Louis de Secondat, baron de 12, 38, 211, 252 Mortier, Roland 14 f. (Anm. 12, 20), 60 Moultou, Paul Claude 138, 150 (Anm. 449), 202 f. Mylne, Vivienne 120 Newton, Isaac 21–27 Noailles, Louis-Antoine de 185 f. Nollet, Jean-Antoine 230 Overhoff, Jürgen 28 f. Parrish, Jean 73 f., 77 (Anm. 235), 104 (Anm. 318), 116 (Anm. 352), 119 f. Pascal, Blaise 171 f., 174 f. Picard, Raymond 218 (Anm. 695), 234 f.

Index nominum

Pomeau, René 134 (Anm. 396), 190, 204 Prévost d’Exiles, Antoine-François 14, 65, 72, 209–265, 268 f. Pruner, Francis 139 (Anm. 407), 170 (Anm. 522, 525), 183 (Anm. 585) Quesnay, François 229 Quesnel, Pasquier 151, 185 f. Renwick, John 154 f., 180 (Anm. 573) Richardson, Samuel 40 f., 45 f., 48, 66–72, 75 f., 79–81, 85 f., 93 f., 123, 136 f., 140, 194 f., 204, 209 f., 254 (Anm. 786), 267 Richelieu, Armand Jean du Plessis de 165 (Anm. 508), 188 Roger, Jacques 97 (Anm. 296), 99–102, 105 Rousseau, Jean-Jacques 72, 153, 204, 267 (Anm. 828) Sade Donatien Alphonse François de 13, 60 Saint-Cyran Jean-Ambroise Duvergier de Hauranne, abbé de 188 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, duc de 158 (Anm. 474) Sartine, Antoine Raymond Juan Gualbert Gabriel de 165 Sauder, Gerhardt 12 (Anm. 7), 42–45, 55 f., 80 (Anm. 243) Schönert, Jörg 144 (Anm. 431), 147 (Anm. 441) Scudéry, Madeleine de 43, 258–260 Sermain, Jean-Paul 213 (Anm. 675), 216 (Anm. 685), 218 (Anm. 693) Sgard, Jean 68 (Anm. 205), 70 (Anm. 210), 72, 163 (Anm. 497), 210–212, 220 (Anm. 697), 256 (Anm. 791)

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Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of 231 Sirven, Pierre-Paul 32, 138, 148, 168 f., 192 Spinoza, Baruch 20, 31 f., 34 f. Spitzer, Leo 99 (Anm. 301) Stollberg-Rillinger, Barbara 62 f. Taylor, Samuel S. B. 150 (Anm. 449), 162 f., 165 (Anm. 503), 182 (Anm. 581) Tindal, Matthew 232 Titzmann, Michael 44 (Anm. 128), 57–62 Toland, John 232 Trahard, Pierre 59 (Anm. 187), 256 (Anm. 789) Van den Heuvel, Jacques 138 (Anm. 399), 140 f., 147 (Anm. 439), 178 (Anm. 556), 193 (Anm. 613), 197 Van Tieghem, Paul Pierre 59 (Anm. 187) Vila, Anne 50 (Anm. 150), 52 (Anm. 158), 100 (Anm. 305), 103 f., 108–110, 113, 129 (Anm. 379) Vogel, Christine 176, 181, 183 Voltaire 11–14, 17–24, 31–35, 37–39, 65, 137– 208, 211, 228 f., 268 Wallnig, Thomas 29 f., Warning, Rainer 225, 245, 256 (Anm. 789) Wegmann, Nikolaus 12 (Anm. 7), 55 (Anm. 168) Wenger, Alexandre 103 (Anm. 315), 108 (Anm. 332), 111 (Anm. 344) Wollaston, William 232 Woolston, Thomas 232

In welchem Verhältnis steht die im 18. Jahrhundert aufkommende Empfind­ samkeit zur Aufklärung? Angesichts der Kopräsenz literarischer Tendenzen im Siècle des Lumières beantwortet die Dixhuitiemistik diese Frage, indem sie die Empfindsamkeit im Sinne einer sentimentalen Variante in die Aufklä­ rung eingliedert. Als Prototyp aufkläre­ rischen Schreibens gilt wiederum ein ironisch distanzierter Erzählmodus Voltaire’scher Prägung, der mit der empfindsamen Tendenz unvereinbar scheint. Dieses zweifache Vorurteil verstellt jedoch den Blick auf die Varietäten aufklärerischen Erzählens einerseits und die Differenz der Para­ digmen Aufklärung und Empfindsam­

ISBN 978-3-515-13279-4

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keit andererseits. Ausgehend von einem Aufklärungsbegriff, der selbige als die hegemoniale Durchsetzung eines in den empirischen Wissenschaften entwickel­ ten Denkens definiert, bestimmt Anna Cordes Aufklärungsliteratur über ihre Zweiebenenstruktur einer poetologisch­ en und einer funktional­epistemologi­ schen Ebene. Aufklärung und Empfind­ samkeit werden so in einer funktionalen Relation analysierbar. Mit Diderots Roman La Religieuse, Voltaires L’Ingénu und Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut zeigt Cordes ein Spektrum der Diskursivierung von Aufklärung in empfindsamen Erzählstrukturen auf.

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