Religion und Politik: Wechselwirkungen und Dissonanzen [1 ed.] 9783428489268, 9783428089260

Jegliche Besinnung auf die Wirkkraft der Religion in der modernen Lebenswelt hat zunächst davon auszugehen, daß ihr Einf

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German Pages 213 Year 1997

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Religion und Politik: Wechselwirkungen und Dissonanzen [1 ed.]
 9783428489268, 9783428089260

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 95

Religion und Politik Wechselwirkungen und Dissonanzen Von Johann Baptist Müller

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANN BAPTIST MÜLLER

Religion und Politik

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 95

Religion und Politik Wechselwirkungen und Dissonanzen

Von Johann Baptist M ü l l e r

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Müller, Johann Baptist: Religion und Politik : Wechselwirkungen und Dissonanzen / von Johann Baptist Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 95) ISBN 3-428-08926-X brosch.

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08926-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Inhaltsverzeichnis

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung

7

II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft ...

12

1. Interdependenz von Religion und Politik in historisch-theoretischer Perspektive

12

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

31

III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

46

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung im Widerstreit von christlicher Heilserwartung und antireligiösem Impetus

46

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

56

3. Interferenz und Kongruenz von liberaler Ideologie und christlichem Glaubensbekenntnis

80

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

100

1. Der Begriff der theokratischen Konterrevolution

100

2. Geschichtspessimismus als Aufklärungskritik

103

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

109

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

119

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive ...

130

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus 1. Der Begriff des liberalen Katholizismus

140 140

2. Der politisch-kulturelle Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion 143 3. Wechselwirkung von Freiheit und Autorität

150

6

Inhaltsverzeichnis 4. Das Verhältnis von Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

154

5. Soziale Fürsorge als christlicher Imperativ

169

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe

173

Literaturverzeichnis

193

Namenregister

209

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung Jegliche Besinnung auf die Wirkkraft der Religion im modernen Gesellschaftsund Politikuniversum hat davon auszugehen, daß ihr viele Autoren jeglichen Einfluß auf die Entscheidungen der Bürger schlechtweg absprechen. Nur aus dieser Einstellung heraus erwachsen ihnen die Ariadnefaden, die aus dem Labyrinth der endlich überwundenen Vergangenheit heraushelfen. Hinter den Masken dieses Progressisme verbirgt sich jedoch die kaum zu negierende Tatsache, daß die Religion immer schon und auch heute noch eine Wirkmacht darstellt, der eine kaum in Frage zu stellende Bedeutung zukommt. Darauf hat nicht zuletzt Karl Mannheim aufmerksam gemacht. „Soziologisch gesehen bedeutet Religion nicht diese oder jene Form des Glaubens oder Bekenntnisses, sondern eine grundlegende Institution, die mit dem Begriff »Religion4 angemessen beschrieben werden kann ... Der Mensch verlangt nach einer fundamentaleren Einheit, die allen seinen verschiedenen Handlungen einen gemeinsamen Sinn verleiht" 1 .

In einer ähnlichen Weise hält Thomas Nipperdey dafür, „daß Religion ein zentrales Stück der individuellen wie der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist" 2 .

Dechiffriert man das Verhältnis zwischen Religion und Politik in der modernen Sozialwissenschaft, so kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß in ihr die beiden Bereiche in einem pointierten Spannungs- und Trennungsverhältnis stehen. Auch die Politikwissenschaft macht da keine Ausnahme. Sie gruppiert sich weitgehend um den Problemkomplex höchst irdischer Problemstellungen. Dabei wird schon am Anfang der Neuzeit der Versuch unternommen, Religion und Politik, statt miteinander zu versöhnen, dualistisch auseinanderzureißen. So schreibt Jürgen Gebhardt: 1 Karl Mannheim, Freiheit und geplante Demokratie. Aus dem Englischen. Köln/Opladen 1970, S. 25. Schon Jacob Burckhardt hatte die Religion zu den entscheidenden weltgeschichtlichen Potenzen gezählt. Vgl. dazu Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Rudolf Marx, Stuttgart 1938, S. 39 ff. 2 Thomas Nipperdey, Religion und Gesellschaft: Deutschland im 1900, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 592. In einer ähnlichen Weise wies schon Proudhon auf die Bedeutung der Religion für den Staat hin. „Es ist seltsam, daß wir als Grundlage unserer Politik immer die Theologie erblicken" (Bekenntnisse eines Revolutionärs. Aus dem Französischen, Berlin 1923, S. 243.)

8

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung „Jede Betrachtung des Religionsbegriffs in den Werken der herausragenden europäischen politischen Denker im 16. und 17. Jahrhundert wird durch den begriffs- und ideengeschichtlichen Befund an ein zentrales Problem der neuzeitlichen Politik und ihrer Theorie verwiesen: das Auseinandertreten der Temporalia, auf die allein Politik ... im modernen Sinne sich in Zukunft beziehen sollte, und der Spiritualia, für die sich die eigentümlich schillernde generische Abstraktion ,Religion' herausbildete"3.

Das Motiv für diese Trennung ist in der tief eingewurzelten Haltung begründet, daß die Wissenschaft auf die Dauer den Glauben zu ersetzen in der Lage ist. Existenzbewältigung und Daseinssicherung gründen nun nicht mehr auf angeblich utopischen Jenseitsvertröstungen, sondern haben ihren Dreh- und Angelpunkt in der Fähigkeit des wissenschaftlichen Geistes, die Lebenswelt des Menschen in einem rationalen und deswegen überaus effizienten Sinne auszugestalten. In der Vehemenz, in der das rationale Prinzip gegen das überkommene theologische ausgespielt wird, spiegelt sich die Hoffnung wider, daß nun den wahren Bedürfnissen der Menschen entsprochen werden kann. Die empirisch geprägte moderne Wissenschaft gefällt sich darin, sich einem Arbeitsverfahren zu verpflichten, in dem dem religiösen Seinsbereich kaum mehr als eine Randrolle zugewiesen werden wird. Daß sich dabei die Religionsfeindlichkeit ins Wirklichkeitsfremde verflüchtigt, verschlägt kaum. Für den vom szientistischen Geist beflügelten Wissenschaftler kann die Beschäftigung mit der Religion nur dann sinnvoll sein, wenn sie von einem klaren Bewußtsein ihrer Vernunftwidrigkeit und Unzeitgemäßheit bestimmt ist. Gebhardt zufolge rückt die „Religion im herrschenden Wissenschaftsverständnis ... kategorial und analytisch den Ort der personalen Ordnungserfahrung aus dem Zentrum der reflektiven Selbstverständigung des Menschen über seine Existenz und deren Ordnung in den peripheren Bereich des Irrationalen, indem sie der Vernunft, Kernstück jeder menschlichen Lebensordnung, jeden Transzendenzbezug ... abspricht" 4.

Diese Auffassung wird auch von Erich Voegelin geteilt: „Man war gleich zu Anfang von der neuen Wissenschaft bis zu einem Grade fasziniert, daß man die Bedeutung spiritueller Erfahrung darüber vergaß oder zu kurz kommen ließ; im Laufe der weiteren Entwicklung kam man zur Ansicht, daß die neue Wissenschaft mit ihrem Weltbild die seelisch-religiöse Ordnung ersetze"5.

Schon für John Stuart Mill konnte eine genuin an den empirischen Fakten ausgerichtete wissenschaftliche Betätigung nur dann sinnvoll sein, wenn die Religion aus dem Blickfeld verschwindet. In einem Brief an Auguste Comte setzt er sich 3 Jürgen Gebhardt, Religion und Christentum in der humanistischen Politik der frühen Neuzeit, in: Ci vitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Peter Haungs u. a., Paderborn 1992, S. 211. 4 Ebd., S. 215. 5 Erich Voegelin, Wissenschaft als Aberglaube. Die Ursprünge des Szientismus, in: Wort und Wahrheit 6 (1951), S. 341.

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung

9

dezidiert dafür ein, die Religion als einen inexistenten Tatbestand zu behandeln. Sein Imperativ heißt: „Se contenter le sujet comme si la religion n'existait pas"6.

Dabei hat sich nicht zuletzt Max Weber als gelehriger Schüler von John Stuart Mill zu erkennen gegeben. Im Prozeß der wissenschaftlichen Zivilisation kommt der Religion nur noch eine höchst marginale Nebenrolle zu. „Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird ... die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt" 7.

Wenn sich für Weber, der sich zu den „modernen, religiös ,unmusikalischen4 Menschen"8 rechnete, die „gesamte Politik ... an der sachlichen Staatsraison"9 orientiert, muß sich auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr einer rein kratologischen Ausrichtung verschreiben und sich aller religiös eingefärbten Werturteile enthalten. Die Verbannung der Religion aus dem Herrschaftsbereich der Wissenschaft geht dabei mit einer Geisteshaltung einher, die sich anmaßt, den Schlüssel zum Verständnis aller sozialen, politischen und historischen Wirkfaktoren gefunden zu haben. Die Projektion der Fakten auf den Hintergrund einer religionsnegierenden Wirklichkeitsanalyse evoziert jene Grundeinstellung, die sich im Besitze der alleinseligmachenden Erklärungswahrheit wähnt. Vor einer solchen Einstellung hat nicht zuletzt Alfred Müller-Armack gewarnt. „Man glaubte alles durchschaut zu haben und auf Interessenmotive zurückführen zu können; man sah, wie mit der Heraufkunft einer Welt des geistigen Rationalismus und der ökonomischen Rechenhaftigkeit sich die ursprünglich religiösen Haltungen auflösten und ihre frühere Herrschaft, wenn sie je bestand, an die Kräfte des Alltags, der Masse, der politischen und wirtschaftlichen Mächte preisgaben" 10.

Was sich im neuen Wissenschaftsgeist ausdrücke, verweise keineswegs auf das Bemühen, allen relevanten Wirkungsfaktoren auf die Spur zu kommen, sondern rücke eine zugleich antireligiöse und unwissenschaftliche Sichtweise in den Blick. Die von einer äußerst fragwürdigen Skepsis bestimmte Frage, „ob den religiösen Kräf-

6 John Stuart Mill, Brief an Auguste Comte vom 8. Juli 1845, in: The Earlier Letters of John Stuart Mill 1812 - 1848, ed. by Francis E. Mineka, Toronto / London 1963, S. 671. 7 Max Weber, Richtungen und Stufen religiöser Weltablehnung, in: Max Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1956, S. 473. 8 Max Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist, in: Max Weber: Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen, Politik, S. 395. 9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hrsg. von Johannes Winckelmann. Erster Halbband, Köln/Berlin 1956, S. 464. 10 Alfred Müller-Armack, Über die Macht des Glaubens in der Geschichte, in: Glaube und Forschung, hrsg. von Günter Howe. Erste Folge, Gütersloh 1949, S. 114.

10

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung

ten überhaupt noch eine geschichtliche Wirksamkeit zuzusprechen sei 4 ' 11 , offenbare eine durch und durch realitätsnegierende Sichtweise. Dabei wird der moderne, von einem szientifischen Geist beflügelte Zugriff auf die Welt sehr oft einer Zukunftsvision einverleibt, die auf einen geradezu millenaristischen Ton gestimmt ist. Im Horizont dieser Sichtweise verflüchtigt sich alles Tragische und Schuldhafte. Sie maßt sich an, der Realität Entwicklungstendenzen abzugewinnen, die auf eine stetige und unaufhaltsame Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen abzielen. Die moderne Wissenschaft erweist sich auf diese Weise als das Vehikel in eine geradezu paradiesische Zukunft. Dieser Optimismus ist nicht zuletzt auf die Kritik des protestantischen Theologen Hans Köhler gestoßen. Der „wissenschaftliche Objektivismus und Positivismus beschränkt sich nicht auf den Raum der Erkenntnis, sondern verheißt, die Welt so zu ordnen, daß in ihr alle Widersprüche verschwinden. Ist erst einmal alles Subjektive überwunden, sind alle dunklen Räume des Daseins erhellt, sind alle zwischenmenschlichen Beziehungen und alle Kräfte der Welt in der Form der Maschine geordnet, ist damit auch alles Negative, das ja nur ein Zufälliges sein kann, ausgeschaltet, dann muß sich eine vollkommene Daseinsordnung ergeben" 12.

Beim Studium des Verhältnisses zwischen Religion und Politik empfiehlt sich der Blick desjenigen, der in der flüchtigen Erscheinung das Dauernde zu erkennen vermag. Dies aber wird verhindert, wenn man sich einer allzu neuzeitlichen Sichtweise befleißigt. Eine dezidiert „aufklärerische" Attitüde, die sich der „Whig Interpretation of History" 13 verpflichtet fühlt, stößt ins heuristische Leere. Aus diesem Grunde muß auch die vormoderne Vergangenheit ohne Vorurteile in den analytischen Blick genommen werden. Unter allen Umständen ist deshalb diejenige Wissenschaftshaltung zu vermeiden, die Bedrich Loewenstein als „Präsentismus" 14 bezeichnet hat. Ihm zufolge isoliert sie „unsere Gegenwart mit ihren geistigen, politischen, moralischen Entscheidungen von ihren Voraussetzungen und Vor-Entscheidungen"15. Darüber hinaus überschätze sie die „Einzigartigkeit und Neuheit unserer Probleme" 16. So sehr vor den tief eingewurzelten Abwehrreflexen des modernen Bewußtseins vor der Tradition zu warnen ist, so sehr ist allerdings auch die Gefahr der Vergangenheitsverklärung in den Blick zu nehmen.

Ii Ebd., S. 115. ι2 Hans Köhler, Christliche Existenz in säkularer und totalitärer Welt. Ein Beitrag in der Sicht der evangelischen Theologie, München 1963, S. 192. 13 Vgl. dazu Herbert Butterfield, The Whig Interpretation of History. New York/London 1965. 14 Bedrich Loewenstein, Handel, Frieden und Aufklärung, in: Was die Wirklichkeit lehrt. Golo Mann zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. von Hartmut von Hentig / August Nitschke, Frankfurt am Main 1979, S. 107. 15 Ebd. 16 Ebd.

I. Religion und Wissenschaft: Eine methodologische Vorbemerkung

11

Dabei rückt jeglicher Versuch, dem in dieser Abhandlung gestellten Thema nachzugehen, notwendigerweise in eine ethische Perspektive. Die Einwände gegen eine sogenannte „wertneutrale" Wissenschaftshaltung summieren sich zu einer Bilanz, die eindeutig zur Revision auffordert. So haben bedeutende Gelehrte darauf aufmerksam gemacht, daß die Geistes Wissenschaften die Aufgabe haben, ethische Orientierungsmaßstäbe zu erarbeiten. Die allein auf eine positivistische Fragestellung eingeengte Forschungsanstrengung verfehlt diese Aufgabe. So schreibt Lord Elton: „Society asks for answers, society looks for help, society looks for guidance; and we must study society, tell it what it is, and therefore give it its hope for the future, its prospects, perhaps its stiffening of backbone"17.

17 Geoffrey ge 1968, S. 13.

Rudolph Lord Elton, The Future and the Past. An Inaugural Lecture, Cambrid-

II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft

Die Relation zwischen Religion und Politik weist im Verlaufe der abendländischen Geschichte die vielfältigsten Variationsmöglichkeiten auf. Die Skala reicht von der völligen Verschmelzung bis zur rigiden Trennung beider Bereiche. Darüber hinaus haben sich politische Gemeinwesen dieses Kulturkreises auch zu einer atheistischen Staatsdoktrin bekannt. Statt sich dem christlichen Bekenntnis zu verpflichten, suchten sie ihr politisches Heil darin, einer innerweltlichen Religion Sukkurs zu geben und sie mit drakonischen Mitteln zum Gestaltungsprinzip ihrer Staaten zu machen.

1. Interdependenz von Religion und Politik in historisch-theoretischer Perspektive Was die Antike anlangt, so werden in ihr Politik und Religion durch eine innige Verschmelzung zu einer höheren Einheit gebunden. Ihre Gemeinwesen stellen ein Arrangement aus den beiden Wirkbereichen dar, das sich bei genauem Hinsehen als Theokratie zu erkennen gibt. Diese ununterscheidbare Einheit zwischen Religion und Staat finden wir schon im alten Ägypten. Dieses Gemeinwesen bestimmt sich durch die radikale Ausdehnung des Religiösen in das Politische und zugleich durch die Vermengung des politischen mit dem sakralen Bereich. So schreibt Erich Voegelin: „Welt und Strom der göttlichen Kraft schafft die Welt und erhält sie wieder durch den Glanz der Sonne und die Befehle des Königs, der den göttlichen Willen kennt; und von unten steigt die Schöpfung im Dienst wieder auf zu Gott" 1 .

Mutatis mutandis gilt dasselbe auch für das Verhältnis zwischen Religion und Politik in der griechischen und römischen Antike. Fustel de Coulanges zufolge schließt sich die raison d'être ihrer politischen Gemeinwesen nur auf, wenn man sich ihres theokratischen Charakters versichert. „In der Frühzeit waren Religion und Staat eins; jedes Volk betete seinen Gott an, und jeder Gott regierte sein Volk ... Die Religion herrschte über den Staat und bestimmte seine Oberhäupter durch das Lob oder die Auspizien; der Staat seinerseits griff in den 1

Erich Voegelin, Die politischen Religionen, Stockholm 1939, S. 27.

1. Interdependenz von Religion und Politik in historisch-theoretischer Perspektive

13

Bereich des Gewissens ein und bestrafte jeden Verstoß gegen die Riten oder den Stadtkult" 2 .

Im griechischen und römischen Altertum war das politische Gemeinwesen „eine religiöse Gemeinschaft, der König ein Pontifex, der Beamte ein Priester, das Gesetz eine heilige Formel, der Patriotismus eine Frömmigkeit, das Exil eine Exkommunikation" 3 .

Dabei habe sich die herrschende Religion der damaligen Zeit dadurch ausgezeichnet, „daß jeder Gott ausschließlich eine Familie oder eine Stadt beschützte und nur für sie existierte. Das war die Zeit der häuslichen Götter und der Stadtgottheiten gewesen"4.

Mit dem Eintritt des Christentums in die abendländische Geschichte vollzog sich ein grundlegender Wandel. Das Verhältnis zwischen Religion und Politik wird nun in eine gänzlich neue Perspektive gerückt. Die einzelnen Topoi der neuen Religion runden sich zu einem Gesamtbild, in dem der sakrale Bereich und derjenige der weltlichen Herrschaft voneinander getrennt werden. „Jesus Christus ... lehrt, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei. Er trennt Religion und Herrschaft. Da die Religion nicht mehr irdisch ist, mischt sie sich in irdische Dinge so wenig wie möglich ein" 5 .

Nun werden die Kategorien des Religiösen und des Politischen nicht mehr strikt zusammengedacht, nun wird eine grundsätzliche Trennungslinie zwischen ihnen gezogen. „Es ist das erste Mal, daß man zwischen Gott und Staat so klar unterscheidet"6.

Den Bürgern der einzelnen politischen Gemeinwesen kommt es nun zum Bewußtsein, „daß es noch andere Verpflichtungen ... gab, als für die Stadt zu leben und zu sterben"7.

Indem die Hauptperspektive des Christentums auf ein außerirdisches Ziel gerichtet ist, kommt nun eine Sichtweise zu Wort, die ein für allemal Schluß macht mit der Vergöttlichung des Staates. Das Christentum gewinnt seinen kulturrevolutionären Charakter aus dem Umstand heraus, daß dem politischen Gestaltungsbereich eine Entität an die Seite gestellt wird, die sich seiner Befehlsgewalt zu verweigern anheischig macht und sich bei aller Anerkennung der staatlichen Selbstän2 Numa Denis Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms. Aus dem Französischen. München 1988, S. 509. 3 Ebd., S. 505. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 511.

14

II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft

digkeit das Recht herausnimmt, ihn auf die Einhaltung des Sittengesetzes zu verpflichten. Dieses Verhältnis zwischen Politik und Religion erweitert den Freiheitsspielraum der Menschen gegenüber dem Staat in einer bislang unbekannten Weise. So schreibt Guglielmo Ferrerò: „Une libération, une grande libération était nécessaire. C'est le christianisme qui l'a faite" 8 .

Diese in Rede stehende Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Religion und Politik schließt jedoch keineswegs aus, daß sich im Verlaufe seiner historischen Entwicklung höchst unterschiedliche Relationsverhältnisse zwischen den beiden Aktionsbereichen herausbildeten. Im alten Rom wurde das Christentum zunächst als staatsfeindliche Macht begriffen. Seine Herrscher lehnten die ethischen und politischen Prinzipien der Christen strikt ab und erblickten in ihnen eine Gefährdung ihres Staatswesens. Dieses Feindschafts Verhältnis löste sich auf, als Konstantin die christliche Religion zur Staatsdoktrin erhoben hatte. Dem Christentum wuchs auch politischer Einfluß in dem Maße zu, in dem die Kirche nach und nach den Raum auffüllte, der vom zerfallenden römischen Staat hinterlassen wurde. Darauf hat Christopher Dawson aufmerksam gemacht. „So findet man in jeder Stadt des späteren Reiches Seite an Seite mit den alten staatlichen Körperschaften das neue Volk der christlichen Kirche, die plebs Christi, und als jene ihre gesellschaftliche Sonderstellung und ihre öffentlichen Rechte verloren, kam diese, um ihren Platz einzunehmen"9.

Am Ende dieser Entwicklung avancierten die Bischöfe zu politischen Entscheidungsträgern. Dawson zufolge bot „das Bischofsamt als einzige Macht im späten Reich ein Gegengewicht und einen Widerstand gegen die alles durchdringende Herrschgier der kaiserlichen Beamtenschaft" 10. Kein Staatsdiener habe sich getraut, einen Bischof zu maßregeln, ihn unter seine Botmäßigkeit zu zwingen. Auf diese Weise sei er die „wichtigste Gestalt im Leben der Stadt und das Haupt der ganzen Gemeinschaft" 11 geworden. Zu den großen Denkern des Abendlandes, die in der spätrömischen Epoche die Verbindung zwischen dem christlichen Staat und der Kirche auf einen vernünftigen Begriff zu bringen versuchten, gehörte ohne Zweifel Augustinus. Der denkerische Prozeß steht bei ihm im Zeichen des Gegensatzes von civitas dei und civitas terrena. Es ist nicht das geringste Verdienst seines Werkes „De civitate dei", diese beiden Entitäten sowohl differenziert als auch integriert zu haben. Dabei wäre es ein 8 Guglielmo Ferrerò , La fin des aventures. Paris 1931, S. 259. Für Foustel de Coulanges war die vom Christentum bewirkte Trennung von Kirche und Staat „die Quelle gewesen ... aus der die Freiheit des Individuums hervorgehen konnte" (Der antike Staat, S. 511). 9 Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Aus dem Englischen. Leipzig 1935, S. 50. 10 Ebd., S. 51.

π Ebd.

1. Interdependenz von Religion und Politik in historisch-theoretischer Perspektive

15

grobes Mißverständnis, die civitas dei mit der Kirche zu identifizieren. Kurt Schilling zufolge besteht „die Gemeinschaft der civitas dei ... in derr fruitio dei, dem Genuß Gottes in der Anschauung. Dies gilt nicht nur für Engel, sondern auch für die erwählten Menschen, allerdings erst nach ihrem Tod. Der irdische Lebenswandel ist dafür nur Prüfung 4'12. Der Blick für das Spezifische dieser Gemeinschaft wird also verstellt, wenn man sie einseitig auf die Existenz der Kirche reduziert. Diese ist wohl Teil der civitas dei, partizipiert aber an einer umfassenderen Gemeinschaft. Armin Adam zufolge ist die „einzige Gemeinschaft, die wahrhaft politisch genannt werden kann ... die Gemeinschaft von Lebenden und Toten, die sich Gott zum Opfer bringen" 13 . Zum Grundmerkmal der christlichen Existenz gehört es Augustinus zufolge allerdings auch, daß sie nicht nur Teil der göttlichen Gemeinschaft ist. Augustinus erinnerte seine zeitgenössischen Glaubensbrüder daran, daß sie ebenso Bürger des irdischen Staates sind. Diese Unterscheidung war früheren Zeiten gänzlich unbekannt. Die epochale Umwertung der bisherigen Bestimmung des Verhältnisses zwischen der religiösen und der weltlichen Sphäre besteht darin, daß er den „heilsgeschichtlich begründeten Dualismus zweier Bürgerschaften" 14 in das politischtheologische Denken des Abendlandes einführte. Allerdings könne nur ein irregeleitetes, allein an der weltlichen Wirklichkeit orientiertes Denken annehmen, daß die Bürgerschaft im Staate dieselbe Würde beanspruchen könne wie diejenige in der civitas dei. Was ihr letzten Endes ihr Signum gibt, ist ihre inferiore Rangstellung. Recht eigentlich könne der Mensch nur im Gottesstaat zu seiner eigentlichen Bestimmung heranreifen. „Der Ort, in dem der Mensch sich vollendet, ist nicht die polis Athen, nicht die civitas Rom, sondern eine civitas, die ganz und gar unsichtbar ist: das himmlische Jerusalem, eine civitas ohne Institutionen .. die nicht von dieser Welt ist" 1 5 .

Dagegen gibt sich der Staat als ein Konglomerat zu erkennen, in dem der Kampf aller gegen alle entbrannt ist und in dem seine Bürger, statt das bonum commune anzustreben, dem amor sui ergeben sind. Die allein auf die irdische Sichtweise eingeengte Perspektive übersieht, in wie starkem Maße das weltliche Gemeinwesen all derjenigen sittlichen Qualitäten entrât, die das himmlische auszeichnen.

12 Kurt Schilling, Geschichte der sozialen Ideen. Stuttgart 1957, S. 153. ι 3 Armin Adam, Heilsgeschichtliche Soziologie. Augustinus' negative Politische Theologie, in: Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 166. 14 Ebd., S. 149. ι 5 Ebd., S. 166. Obgleich die Kirche keineswegs mit der civitas dei identifiziert werden kann, kommt ihr im göttlichen Heilsplan eine wichtige Funktion zu. Ihre Erlösungsaufgabe imputiert ihr einen Platz im irdischen Institutionengefüge, die sie weit über den Staat erhebt. Nach George H. Sabine ist die „human salvation ... bound up with the interests of the church and these interests are consequently paramount over all other interests" (A History of Political Theory, Third Edition. New York 1961, S. 191).

16

II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „The state deals with its citizens only on the level of outware, external behavior ... Its main weapon - fear of punishment - cannot make men good or virtuous, but only less harmful to their fellows" 16 .

Der tief eingewurzelte Egoismus seiner Bürger verhindert, daß der Staat seiner insuffizienten Qualität jemals verlustig gehen wird. Nach Kurt Schilling wäre „ein wirklich gemeinsamer Genuß irdischer Güter, und also der echte Staat... nur möglich, wenn die Genießenden sich dabei nicht streiten würden. Das tun sie aber, weil Jeder in seinem Egoismus gerade die gleichen und möglichst viele Güter für sich begehrt. Er neidet dem Andern jeden Besitz und Genuß. Dadurch kann der Weltstaat als solcher nie echte Gemeinschaft werden wie das Gottesreich durch den neidlosen und sozial gerechten Anteil jedes seiner Angehörigen am Genuß Gottes. Er bleibt Gesellschaft" 17. Augustinus ist allerdings i m gleichen Atemzuge weit davon entfernt, den irdischen Staat in den Orkus der Illegitimität und Bedeutungslosigkeit zu werfen. Die Vehemenz, in der er ihn gegen die civitas dei ausspielt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem weltlichen Gemeinwesen auch eine bestimmte Würde zugesprochen wird. Schließlich ist seinen Bürgern die Aufgabe zuteil geworden, als diesseitige Pilger dem Gottesreich zuzustreben. Aus diesem Grunde muß der Staat dafür sorgen, ihnen dabei behilflich zu sein. „Gleichwie der Einzelmensch die Aufgabe hat, sich ständig zu vervollkommnen, sich so Gott zu nähern, so ist es die Aufgabe des irdischen Staates der Christen, durch Streben nach vollkommener Gerechtigkeit dem Reiche Gottes zu dienen" 18 . Was den einzelnen Bürger anlangt, so ist er gehalten, die staatlichen Gesetze zu achten. Solange der himmlische Staat „Seite an Seite mit dem Erdenstaat das Gefangenenleben seiner Pilgerschaft vollbringt ... leistet der den Gesetzen des Erdenstaates, die das Zeitlich-Notwendige regeln, ohne Bedenken Gehorsam, damit, wie die Sterblichkeit selbst gemeinsam ist, auch im Lebensnotwendigen zwischen den beiden Staaten die Eintracht gewahrt bleibt" 19 . Allerdings hält Augustinus auch dafür, daß allein der den christlichen Gerechtigkeitsprinzipien verpflichtete Staat von seinen Bürgern Gehorsam verlangen kann. Er allein besitzt die ethische Würde, von seinen Untertanen Respekt und Folgsamkeit einfordern zu können. So schreibt George H. Sabine: „No state can be just since the advent of Christianity, unless it is also Christian, and a government considered apart from its relation to the church would be devoid of justice.

16

H. A. Deane, The Political und Social Ideas of St. Augustine. New York/London 1963, S. 134. 17 Kurt Schilling, Geschichte der sozialen Ideen, S. 154. is Rudolf Stanka, Die politische Philosophie des Mittelalters. Wien 1957, S. 19. 19 Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Ausgewählt von Joseph Bernhart. Stuttgart 1947, S. 322 f.

1. Interdependenz von Religion und Politik in historisch-theoretischer Perspektive

17

Thus the Christian Charakter of the state was embedded in the universally admitted principle that its purpose is to realize justice and right" 20 .

Augustinus steht mit seiner Lehre vom Staat recht eigentlich zwischen zwei Extremen. Er vermeidet nämlich sowohl seine Überhöhung als auch seine Verdammung als satanische Institution. Alois Dempf interpretiert diesen grundlegenden Sachverhalt mit den folgenden Worten : „Das ist in seiner Nüchternheit ein durchaus neuer Gedanke gegenüber dem Gottkaisertum wie gegenüber dem Staat als Teufelswerk bei den Donatisten21, die Entthronung der antiken Staatsallmacht als des höchsten Menschheitsverbandes und Mäßigung und Besonnenheit gegenüber dem Welthaß der Donatisten"22.

Allerdings wirft Dempf Augustinus auch vor, das irdische Gemeinwesen in einer unzulässigen Weise der civitas dei untergeordnet zu haben. Auf diese Weise sei die weltliche Politikordnung ihrer Eigen würde beraubt worden. Er lastet Augustinus an, sich dem Konzept „einer ausgeführten Gemeinschaftslehre, die das Miteinander oder Gegeneinander der beiden höchsten Gemeinschaften Kirche und Staat" 23 in den konzeptionellen Blick nimmt, verweigert zu haben. Letzten Endes sei ihm „die gottgeschenkte Natur ... gegenüber seinen übernatürlichen Erlebnissen" 24 gleichgültig gewesen. Dabei dürfe allerdings nicht übersehen werden, daß dieses Manko im weiteren Verlauf der Denk- und Politikgeschichte fruchtbare Ergebnisse zeitigte. Dieser „Hochflug" 25 Augustinus' habe nämlich die Scholastik gezwungen, die Natur wieder in ihr angestammtes Recht zu setzen. Im Mittelalter wird im Gegensatz zu Augustinus der Versuch unternommen, die Konturen eines christlichen Staates zu eruieren. Seine Denker verzichten im Kontrapunkt zum nordafrikanischen Kirchenlehrer auch nicht mehr darauf, die innerweltlichen Herrschaftsstrukturen tiefenscharf auszuleuchten. Während sich Augustinus die Detailanalyse des Staates erspart, um den Gegensatz zum civitas dei um so deutlicher herausarbeiten zu können, wird bei Thomas von Aquin der Pflichtenkatalog des irdischen Herrschers auf das Genaueste in den Blick genommen. Während er bei der Betonung seiner Friedensaufgabe noch in den Bahnen Augustins wandelt, geht er weit über ihn hinaus, wenn er den ökonomischen Aufgabenkreis des Königs umschreibt 26. Alles in allem ist es die Pflicht des Königs, in seinem Herrschaftsbereich „die Grundlagen für ein gutes Leben zu schaffen" 27. Die staat20 George H. Sabine, A History of Political Theory. Third Edition. New York 1981, S. 192. 21 Bei den Donatisten, die nach ihrem Oberhaupt Donatus benannt wurden, handelt es sich um Schismatiker der nordafrikanischen Kirche. 22 Alois Dempf, Sacrum Imperium. Zweite Auflage. Darmstadt 1954, S. 127. 23 Ebd., S. 132. 24 E b d .

25 Ebd. 26 Martin Grabmann, Thomas von Aquin. Fünfte Auflage. München 1926, S. 146. 27 Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, in: Ausgewählte Schriften zur Staats- und Gesellschaftslehre, hrsg. von Friedrich Schreyvogel. Jena 1923, S. 92. 2 J. B. Müller

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft

liehe Gemeinschaft muß sich aber bei Thomas von Aquin auch in eine höhere Ordnung einfügen. Martin Grabmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Es ist der letzte und höchste Zweck der staatlichen Gemeinschaft nicht bloß das tugendhafte Leben, sondern zuletzt die Erlangung des ewigen Gottesbesitzes. Wenn nun dieses letzte und höchste Ziel durch rein natürliche menschliche Kraft erreichbar wäre, dann wäre es Aufgabe des Königs, die Menschen zu diesem letzten Ziele zu führen. Es kann aber das Endziel der ewigen himmlischen Gottesvereinigung nicht bloß mit menschlicher Kraft erfaßt werden. Folglich ist es nicht Aufgabe eines menschlichen irdischen Königtums, sondern vielmehr göttlicher Herrschaft, die Menschen zu diesem Ziele zu geleiten" 28 . Die Verwaltung des auf überirdische Zwecke ausgerichteten Reiches aber ist nicht dem König, sondern „den Priestern übertragen, zuhöchst dem obersten Priester, dem Nachfolger des Petrus und Stellvertreter Christi, dem römischen Bischof' 29 . Das schließt notwendigerweise ein, daß die irdische Herrschaft dem Papste Untertan ist. A l l diejenigen, denen Thomas zufolge die „Sorge um die Vorziele" 3 0 obliegt, haben die Weisungen des Stellvertreters Christi zu befolgen. Martin Grabmann zufolge müssen „demjenigen, in dessen Hand die Sorge für das höchste Ziel gelegt ist... diejenigen Untertan sein und von ihnen sich leiten lassen, welchen die Obsorge für die diesem höchsten Ziel vorangehenden und untergeordneten Zwecke anvertraut sind" 31 . Es führte allerdings in die Irre, wollte man annehmen, daß Thomas mit der Überordnung der geistlichen Gewalt über die weltliche einer Theokratie, beziehungsweise einem Cäsaropapismus das Wort geredet hat. Für Thomas ist die weltliche Gemeinschaft nicht nur Erfüllungsgehilfin der geistlichen. Sie besitzt eine ihrer ureigensten Natur gemäße eigene Würde. „Sicut homo est pars domus, ita domus est pars civitas; civitas autem est communitas perfecta" 32. Indem das bürgerliche Gemeinwesen als vollkommene Gemeinschaft i m Sinne des Aristoteles definiert ist, weist sie einen Wirkbereich auf, den auch der Papst zu respektieren hat. Peter Tischleder zufolge ist Thomas weit davon entfernt, „der kirchlichen Gewalt eine unmittelbare Kompetenz im rein weltlichen Gebiet anzuerkennen"33. 28

Martin Grabmann, Thomas von Aquin, S. 147. 29 Ebd. 30

Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, S. 86. Martin Grabmann, Thomas von Aquin, S. 147 f. 32 Thomas von Aquin, Summa theologica Quaestio 90, 4, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe. 13. Band, Heidelberg/ Graz/ Wien /Köln 1977, S. 13. 31

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Er lehre „eine Überordnung der geistlichen Gewalt nur in Sachen des Seelenheils und auch diese nur in der Form der potestas indirecta" 34 .

Das entscheidende Kennzeichen der mittelalterlichen Herrschaftsstruktur ist eine an der Ordnungslehre des Thomas von Aquin sich orientierende antimonokratische Machtverteilung. Ihr bikephales Charakteristikum spiegelt sich in der Rivalität zwischen Kaiser und Papst wider. Kurt Schilling warnt allerdings zu Recht davor, dieses Spannungs- und KooperationsVerhältnis zwischen den beiden Gewalten in einem allzu modernen Sinne zu interpretieren. Eine derartige Sichtweise berge die Gefahr in sich, das eigentliche Wesen dieser Herrschaftsordnung zu verfehlen. Sie habe keineswegs die beiden Herrschaftsbereiche dichotomisch auseinandergerissen, und sei durchaus auch an ihrer innigen Kooperation interessiert gewesen. „Nur aus dem Ineinandergreifen dieser beiden Mächte ist die mittelalterliche Geschichte in ihrer einzigartigen Harmonie wie in ihren Konflikten verständlich" 35. Zu diesem politikgestaltenden Wechselspiel zwischen Kaiser und Papst gehöre auch, daß der Kaiser religiöse Attribute besitzt und der Papst auf weltliche Machtmittel rekurrieren kann. Was den Kaiser anlangt, so ist dieser durchaus nicht bloß weltlicher Herrscher 36. Er habe „seine Gewalt genauso unmittelbar von Gott wie der Papst, denn er ist ja jetzt christlicher Herrscher" 37. Daß es den antiken, religiös eingefärbten Kaiserkult nicht mehr gibt, sollte nicht zu dem Fehlschluß verführen, daß der mittelalterliche Kaiser jeglicher religiöser Legitimität entrât. Schließlich ist er ebenso wie der Papst „Stellvertreter Christi auf Erden, des wahren Weltkönigs" 38 . In der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, die sich durch eine tiefgreifende Interferenz zwischen weltlicher und geistlicher Macht charakterisiert, greift die päpstliche Gewalt „gleicherweise in den weltlichen Bereich wie die des Kaisers in den geistlichen"39 ein. Die allein auf die Fragen des Staates und der Kirche eingeengte Perspektive übersieht, daß imperium und sacerdotium sich in ein über ihnen stehendes Ganzes einfügen. Sie gehen keineswegs in ihren je eigenen Pflichtenkreisen auf, sondern begreifen sich als Teil eines christlichen Gesamtzusammenhanges und agieren als Vertreter eines ihren jeweiligen Herrschaftsbereich transzendierenden, religiös geprägten Universums. So schreibt Ernst-Wolfgang Böckenförde:

33 Peter Tischleder, Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule. Mönchengladbach 1923, S. 49. 34 Ebd. Vgl. dazu auch Theodor Steinbüchel, Dostojewski. Düsseldorf 1947, S. 163. 35 Kurt Schilling, Geschichte der sozialen Ideen, S. 170. 3 6 Ebd. 3

? Ebd. « Ebd., S. 171. 3 9 Ebd.

3

2*

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „Beide standen ... innerhalb der einen ecclesia als Inhaber verschiedener Ämter (ordines), der Kaiser als Vogt und Schirmherr der Christenheit ebenso eine geweihte, geheiligte Person (Novus Salomon) wie der Papst. In beiden lebte die res publica Christiana als religiös-politische Einheit" 40 .

Daß Papst und Kaiser sich gegenseitig ergänzen, schließt jedoch keineswegs aus, daß der Papst letzten Endes dem politischen Bereich übergeordnet ist. Schließlich ist ihm die Aufgabe übertragen worden, über das auch für die politische Ordnung relevante Sittengesetz zu wachen und für dessen Respektierung im weltlichen Bereich zu sorgen. Im Fall der Verletzung durch das staatliche Recht kommt ihm Jurisdiktionskompetenz zu. Wenn auch das Abendland nie einen Cäsaropapismus ausbildete, so ist das Papsttum Thedor Steinbüchel zufolge jedoch dem „,Papacäsarismus' ... auf seiner Höhe unter Innozenz III. und kurz vor seinem Abstieg unter Bonifaz VIII. bedenklich nahegekommen"41. Diese Auffassung beherrscht auch die Überlegungen Joseph Höffners zu diesem Problemkomplex. Im Fokus der Aufmerksamkeit vieler Päpste sei die Absicht gestanden, den weltlichen Bereich ihrer Machtbefugnis unterzuordnen. „Auch wenn man bei der Erklärung vieler päpstlicher Machtäußerungen berücksichtigen muß, daß der Papst der Souverän des Kirchenstaates, der Lehnherr mancher Länder, der Schiedsrichter des Abendlandes und der Vermittler der Kaiserkrone war, so läßt sich doch nicht leugnen, daß einige Päpste und vor allem gewisse Kurialisten der Auffassung waren, alle politische Gewalt werde den Fürsten und Königen und auch dem Kaiser von Gott nur durch die Vermittlung der Kirche erteilt" 42 .

Wenn den Päpsten in diesem Zusammenhang angelastet wird, weltliche Macht angestrebt und damit den Geist des Evangeliums in den Wind geschlagen zu haben, so muß im Gegenzuge auch bedacht werden, daß das aufstrebende Kaisertum nur mit höchst weltlichen Mitteln auf seine ureigensten Aufgaben hingewiesen werden konnte. In den neuen Ideen von der kaiserlichen Herrschaft vermuteten die Päpste zu Recht ausgesprochen kirchenfeindliche Tendenzen, die die Ordnungsvorstellung des Thomas von Aquin zutiefst gefährdeten. So schreibt Joseph Lortz: „Der hl. Bernhard hatte die Kirche vor der Politik gewarnt. ... Aber die Kirche konnte nicht frei wählen. Sie konnte so wenig wie eine andere Macht die mit innerer Notwen40 Emst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart u. a. 1967, S. 78. 41 Theodor Steinbüchel, F. M. Dostojewski, S. 163. 42 Joseph Höffner, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im goldenen Zeitalter. Trier 1947, S. 19. Joseph Lortz zufolge hat insbesondere Papst Gregor VII. „die ganze Welt einschließlich der politischen Gewalten und ihrer Träger als Herrschaftsgebiet Christi und Petri betrachtet" (Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung). Münster i. W. 1936, S. 128). Er gebraucht in diesem Zusammenhang das Gleichnis von den zwei Schwertern, die Vergleiche Sonne und Mond, Leib und Seele, Gold und Blei.

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digkeit sich vollziehende Entwicklung des kirchenpolitischen Lebens unterbrechen, noch durfte sie diese Entwicklung innerlich verneinen ... In Ausführung ihres ureigensten religiösen Auftrages . . . , in den seit Gregor VII. der Machtgedanke bewußt aufgenommen war, und der ihr unentbehrlichen Freiheit zuliebe mußte sie politische Macht anstreben, um mit ihr die gegnerische Gewalt, das Kaisertum, in seine Schranken zu ver«43

weisen

.

Der päpstliche Machtanspruch wurde allerdings von einer Interpretation der kaiserlichen Rolle konterkariert, die den weltlichen Statthalter Gottes in eine ausgesprochen mystisch-religiöse Perspektive rückte. Die Kaiser bemühten sich mit Nachdruck, ihre Herrschaftswürde in einer religiösen Einfärbung sichtbar werden zu lassen, um auf diese Weise die päpstlichen Herrschaftsaspirationen zurückweisen zu können. So schreibt Eberhard Straub: „Dem Corpus Christi Mysticum stellten die Kaiser, von Barbarossa bis Friedrich II., alte Überlieferungen systematisierend, Bilder ordnend, den anderen Coipus Christi mysticum entgegen die Rechtsgemeinschaft unter der Führung des Repräsentanten des Imperators Jesus Christus, des Kaisers" 44.

Diese Interpretation legt es nahe, den Kaiser als Statthalter Gottes zu begreifen, der seine Machtfülle keineswegs der päpstlichen Oberhoheit verdankt, sondern ganz aus sich selbst heraus legitimiert. Auf ihrem Boden eröffnet sich die Möglichkeit, die Machtansprüche des Papstes zurückzuweisen. „Wenn alle Macht von Gott und kaiserliche Macht nur ein Abbild göttlicher Machtvollkommenheit ist, dann bedarf es keiner päpstlichen Vermittlung, um das Reich zu heiligen, es steht als Verheißung, als Vor-Bild des göttlichen Reiches unmittelbar zu Gott, ist aus sich selbst heraus heilig, weil die Strahlen der göttlichen Sonne der Gerechtigkeit auf dessen Spiegel fallen, der sie wohltätig als Kaiser auf die übrige Welt reflektiert" 45 .

Auf diese Weise wird das Kaisertum zum Inbegriff einer von Gott vermittelten Institution, die ihre Legitimationskraft nicht mehr von der päpstlichen Machtfülle ableitet. Es avanciert zu einem entscheidenden Baustein der göttlichen Weltordnung, dessen Herrschaftsanspruch in Frage zu stellen sich als Würde wider sie entpuppt. Die Päpste versuchten diese Kaisermystik mit der Behauptung abzuweisen, es handele sich bei dieser Selbstüberhöhung um das illegitime Produkt staufischer Machtarroganz. Wer mit dem Absolutheitsanspruch einer derartigen Machtversessenheit antrete, laufe Gefahr, sich an der gottgegebenen Herrschaftswürde des Pontifax maximus zu vergreifen. Straub zufolge wehrten „die Päpste, auf die Freiheit der Kirche bedacht ... sich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln gegen diese Kaisermystik. Sie verfolgten die Staufer als eine Schlangen43

Joseph Lortz, Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung. 11. bis 14. Auflage. Münster (Westfalen) 1948, S. 169. 44 Eberhard Straub, Weltliche Macht und göttliche Herrlichkeit, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 24 (1995), S. 330. Ebd.

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft brut, weil sie in der Heiligung des Reiches eine Selbstheiligung des Staates, eine Selbstermächtigung im Namen des Allmächtigen fürchteten. Es gelang der Kirche, die Stauf er zu vernichten, aber es gelang ihr nicht, deren Ideen zu unterdrücken" 46.

Die Machtrivalität zwischen Kaiser und Papst führte im weiteren Verlauf der historischen Entwicklung dazu, daß die Kirche sich aus der Umklammerung durch den weltlichen Bereich löste und darauf pochte, die Sphäre des Heiligen allein zu repräsentieren. So schreibt Böckenförde: „Die Träger des geistlichen Amtes beanspruchten alles Geistliche, Sakrale, Heilige für sich und die von ihnen gebildete ,ecclesia'. Diese ecclesia löste sich als eigene, sich juristisch verfassende, sakramental-hierarchische Institution aus der umfassenden Einheit des orbis christianus - der alten ecclesia"47.

Die Bestimmtheit, mit der nun die Kirche gegenüber dem vom Kaiser repräsentierten Gemeinwesen Distanz hält, bildet den entscheidenden Beginn der späteren Verweltlichung des Staates. Er weiß sich nun in immer stärkerem Maße im Dienste einer Politikidee, deren religiös bestimmte Konturen kaum mehr aufzuspüren sind. Indem er seiner religiösen Würden verlustig geht, wird sein politischer Verband autonom. Böckenförde zufolge wurde mit dem Kaiser „zugleich die politische Ordnung als solche aus der sakralen und sakramentalen Sphäre entlassen; sie wurde in einem wörtlichen Sinne entsakralisiert und säkularisiert, und damit freigesetzt auf ihre eigene Bahn, zu ihrer eigenen Entfaltung als weltliches Geschäft" 48 .

Diese Entsakralisierung der kaiserlichen Herrschaftsgewalt ist allerdings ein historischer Prozeß, der sich keineswegs in Quantensprüngen vollzieht. Bis in die Neuzeit hinein verstanden sich die weltlichen Herrscher immer noch als Diener der christlichen Ordnungsidee. Obgleich ihre Regierungspraxen immer weltlichere Züge annahmen, waren sie keineswegs gewillt, die Bindung an das christliche Sittengesetz aufzugeben. Sie haben ihre politische Stimme niemals zum Sprachrohr einer dezidiert antichristlichen Doktrin gemacht. Dabei war ihnen aus machtpolitischen Gründen auch daran gelegen, daß der irreligiöse Geist nicht vom Volke Besitz ergriff. Noch in der Zeit des Absolutismus leitete die religiös-patriarchalische Staatsdoktrin der Landesfürsten ihre Machtfülle immer noch von der Allgewalt Gottes ab. Hugo Hantsch zufolge fühlte sich der jeweilige Monarch „allein Gott verantwortlich, von dem ihm das Herrscheramt als Pflicht und Gnade auferlegt ist" 4 9 .

46 Ebd., S. 331. 47 Ernst-Wolfgang on, S. 79. 48 Ebd.

Böckenförde,

Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisati-

49 Hugo Hantsch, Absolutismus, in: Staatslexikon. Sechste Auflage. Erster Band. Freiburg 1957, Spalte 33.

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Dieser Rekurs auf die göttliche Quelle fürstlicher Herrschaft wurde durch die Reformation und die Gegenreformation noch verstärkt. Nach Friedrich Heer halten „die Nationalstaaten ... ,ihre' Kirche, ihre Bischöfe und Prälaten, straff unter ihrer Herrschaft und bilden ... die Staatskirchen und Nationalkirchen des Zeitalters der Reformation und Gegenreformation vor" 5 0 . Sowohl die protestantischen als auch die katholischen absolutistischen Regenten fühlten sich als Repräsentanten der göttlichen Herrschaft über die Welt. Dabei weisen sie einen geschulten Blick für die pragmatische Notwendigkeit ihrer Machtlegitimierung auf. Daß diese mit einem theologisch-christlichen Vorzeichen versehen wird, damit finden sie sich in nahtloser Übereinstimmung mit vielen christlich argumentierenden Autoren. In Frankreich war es vor allem Bossuet, der dem Absolutismus seines Landes eine religiöse Würde verlieh. „Nous avons vu que les rois tiennent la place de Dieu, qui est le vrai père du genre humain. Nous avons vu aussi que la première idée de puissance qui ait été parmi les hommes est celle de la puissance paternelle; et que l'on a fait les rois sur le modèle des pères" 51 . Die mit dem religiös eingefärbten Absolutismus einhergehende rigide Unterordnung der Kirche unter den Staat läßt sich vor allem am englischen Beispiel paradigmatisch exemplifizieren. Als entscheidender Theoretiker dieser Ordnungsvorstellung hat sich vor allem Richard Hooker zu erkennen gegeben. „When therefore Christian Kings are said to have spiritual dominion or supreme power in Ecclesiastical affairs and causes, the meaning is, that within their own precincts and territories they have authority and power to command even in matters of Christian Religion, and that there is no higher, nor greater, that can in those causes over-command them, where they are placed to reign as Kings" 52 .

50

Friedrich Heer, Mittelalter. Zürich 1961, S. 15. Dieser konfessionell geprägte Absolutismus wurde von Friedrich dem Großen aufgegeben. „Ich bin neutral zwischen Rom und Genf. Will Rom in Genfs Rechte eingreifen, hat es unrecht; wenn Genf Rom unterdrücken will, wird Genf verurteilt. Auf diese Weise kann ich den religiösen Haß abbauen, indem ich allen Parteien Mäßigung predige" (Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), in: Politische Testamente der Hohenzollern, hrsg. von Richard Dietrich. München 1981, S. 168). Der protestantische Preußenkönig legte nicht zuletzt auch Wert darauf, jegliche Entfremdung seiner katholischen Untertanen von seinem Staatswesen zu verhindern. „Ich suche gute Freundschaft mit dem Papst zu halten, um dadurch die Katholiken zu gewinnen und ihnen begreiflich zu machen, daß die Politik der Fürsten die gleiche ist, wenn selbst die Religion, deren Namen sie tragen, verschieden ist" (ebd.). 51

Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l'écriture sainte, in: Oeuvres Choisies de Bossuet. Tome deuxième. Paris 1865, S. 42. Über den christlich eingefärbten Paternalismus des Absolutismus vgl. Johann Baptist Müller, Herrschaftsintensität und politische Ordnung, Berlin 1986, S. 13 ff. 52 Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity (1953), ed. by Arthur Stephen McGrade. Cambridge 1989, S. 139 f.

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Um nachdrücklich unter Beweis zu stellen, daß ihre Herrschaftsausübung das politische Pendant zu Gottes Allmacht über das Universum ist, entwickelten die englischen Herrscher das „Divine Right of Kings" 53 . So ließ vor allem Jakob I. keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er als Statthalter Gottes fungiert und daß seiner Herrschaftsposition eine genuin göttliche Würde eignet. In einer Parlamentsrede des Jahres 1609 gab er eindeutig zu verstehen, in wie starkem Maße seine Machtstellung göttlichen Geist atmet. Seiner Ansicht nach sind Könige „justly called Gods, for that they exercise a manner of resemblance of Divine power upon earth" 54 .

Die Zweifel an der göttlichen Qualität der königlichen Herrschaft werden in dem Maße zurückgewiesen, in dem sie mit derjenigen des Weltenlenkers verglichen wird. „For if you will consider the Attributes of God, you shall see how they agree in the person of a King. God hath power to create, or destroy, make, or unmake at his pleasure, to give life, or send to death, to judge all, and to be judged nor accomptable to none: To raise low things, and to make high things low at his pleasure, and to God are both soule and body due. And the like power have Kings" 55 .

Nicht nur der König selber, auch viele Staatstheoretiker Englands bemühten sich um den Nachweis, daß die royalistische Würde sakralen Geist atmet. Ihrer Ansicht nach war die königliche Gewalt keineswegs aus den weltlichen Herrschaftsbedürfnissen heraus allein zu erklären. Sie hielten dafür, daß sie einen gottähnlichen Rang einnimmt. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt der als Barockdichter bekannt gewordene John Donne. Die Besinnung darauf, wie die Doktrin des „Divine Right of Kings" zu konzipieren ist, führte ihn zu der Auffassung, daß diese schon in der mittelalterlichen Staatslehre angelegt ist. Dabei ließ er sich auch vom Cäsaropapismus von Byzanz und dem Beispiel der israelitischen Könige inspirieren. Wie Jakob I., so war auch John Donne der Auffassung, daß es sich bei den englischen Königen seiner Zeit um gottähnliche Wesen handelt. Weltliche Intelligenz und göttliche Inspiration steigern und durchdringen sich bei ihnen auf das Glücklichste und Vorbildlichste. Ihm zufolge sind sie „faire and glorious resemblances of the King of heaven; they are beames of that Sun, Tapers of that Torch, they are like gods, they are gods" 56 .

53 Vgl. dazu J. Ν. Figgis , The Divine Right of Kings, Cambridge 1896; G. J. Schocket, Patriarchalism in Political Thought, Oxford 1975. 54 A Speach to the Lords and Commons of the Parliament at White-Hall. On Wednesday the XXI. of March. Anno 1609, in: The Political Works of James I. Reprinted from the Edition of 1616. With an Introduction by Charles Howard Mcllwain. New York 1965, S. 307. 55 Ebd., S. 307 f. 56 The Sermons of John Donne, eds. by George R. Potter/Evelyn M. Simpson. Volume V. Berkeley, Los Angeles /London 1962, S. 85; vgl. dazu auch John Donne, Essays in Divinity, ed. by Evelyn M. Simpson. Oxford 1952.

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Ganz im Gegensatz zu Augustinus und Thomas von Aquin geht John Donne auch davon aus, daß der gottähnliche König auf gar keinen Fall unter die Botmäßigkeit der Kirche kommen darf. Zum Grundmerkmal seiner Machtausübung gehört, daß sie keinerlei Fremdbestimmung unterliegt, also autonom ist. John Donne bewegt sich also in den Dimensionen eines Politikkonzeptes, das der Kirche jegliches Einspruchsrecht gegenüber königlichen Handlungen verweigert. So schreibt David Nicholls: „Civil authority cannot be dispensed with or subsumed under ecclesiastical. Political authority, as such, is immediately from God and a civil ruler derives his authority from this divine origin" 57 .

Mit dem „Divine Right of Kings" verwandte protestantische Herrschaftslegitimationen sind nicht nur in England aufzuspüren. Auf dem Kontinent war es nicht zuletzt Calvin, der sich für eine theokratische Ordnung und damit die rigide Unterwerfung des Staates unter die Kirche aussprach. Für ihn wird diese Ordnungskonzeption zur Bedingung, unter der sich ein christlicher Gemein willen überhaupt sinnvoll kreieren läßt. Seine Begeisterung für die Einheit von religiöser und weltlicher Gewalt wälzt bei diesem Reformator alle Bedenken nieder, die in seiner Epoche gegenüber dieser Politikkonzeption formuliert wurden. Sein politisches Denken wird von der Überlegung bestimmt, daß die kirchliche Oberherrschaft sowohl der weltlichen als auch der geistlichen Gesetzestafel Respekt zu verschaffen in der Lage sein muß. Seiner durch und durch theokratisehen Ordnungsvorstellung hat Calvin mit folgenden Worten Ausdruck verliehen : „Nun haben w i r . . . noch kurz darzulegen, was für eine Amtspflicht die Obrigkeit... hat und in welchen Dingen diese besteht. Daß sich diese Amtspflicht auf beide Tafeln des Gesetzes erstreckt, das könnte man, wenn es die Schrift nicht lehrte, bei den weltlichen Schriftstellern erfahren. Denn keiner hat über die Amtspflicht der Obrigkeiten, über die Gesetzgebung und die öffentliche Ordnung Erörterungen angestellt, der nicht mit der Religion und der Gottesverehrung den Anfang machte. Und so haben sie alle bekannt, daß keine bürgerliche Ordnung glücklich eingerichtet werden kann, wenn nicht an erster Stelle die Sorge für die Frömmigkeit steht, und daß alle Gesetze verkehrt sind, die Gottes Recht beiseite lassen und allein für die Menschen sorgen" 58.

Calvin ruft die Fürsten dazu auf, „die Ehre dessen zu schützen und zu verteidigen, dessen Statthalter sie sind und durch dessen Wohltat sie ihre Herrschaft innehaben"59. 57

David Nicholls, Divine Analogy: The Theological Politics of John Donne, in: Political Studies 32 (1984), S. 579. 58 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, hrsg. von Otto Weber. Zweite Auflage. Neukirchen-Vluyn 1963, S. 1039. 59 Ebd. Vgl. dazu auch Hans Scholl, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten. Stuttgart 1976, S. 48 ff.; Lord Acton, The Protestant Theory of Persecution, in: The History of Freedom and Other Essays, ed. bei John Neville Figgis. London 1907, S. 180 ff.

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Dabei gehört es auch zu der vornehmsten Pflicht des Herrschers, alle Verstöße gegen die Gebote der Religion drakonisch zu ahnden. Er ist also nicht nur für die weltliche, sondern auch für die geistliche Gerichtsbarkeit zuständig. Calvin wendet sich mit Verve gegen diejenigen, „die da wünschen, die Obrigkeit sollte unter Vernachlässigung der Sorge für Gott allein darin tätig sein, unter den Menschen Recht zu sprechen. Als ob Gott in seinem Namen Obere eingesetzt hätte, um irdische Streitigkeiten zu schlichten, dabei aber ausgelassen hätte, was doch von weit ernsterer Bedeutung ist, nämlich, daß er selbst auf Grund der Vorschrift seines Gesetzes rein verehrt werde. Aber die Begierde, alles ungestraft neu zu machen, treibt unruhesüchtige Menschen so weit, daß sie wohl möchten, es würden alle Rächer der geschändeten Frömmigkeit aus dem Wege geräumt werden" 60 .

Was Wunder, wenn Calvins Genfer Herrschaft eine rigide Intoleranz gegenüber all denjenigen an den Tag legte, die von seinem Glaubensbekenntnis abwichen. Seine Machtausübung übte sich Herbert L. Osgood zufolge in „the punishment of nonconformity" 61 . Der in Rede stehende protestantisch-absolutistische Ordnungsgedanke ist allerdings nicht nur auf dem europäischen Kontinent anzutreffen. Zu seiner Physiognomie gehört auch, daß ihm die Puritaner des „early America" Sukkurs verliehen. In den frühen theokratischen Gemeinwesen der amerikanischen Jünger Calvins bildeten wie im Genf des Reformators Religion und Politik eine unauflösliche Einheit. Herbert Osgood schreibt dazu: „We find, as in Geneva, a merely formal distinction between the functions of the church and those of the state, which amid the stress of circumstances is quickly lost sight of, and in its place appears an identification of the two" 6 2 .

Dabei geht Osgood davon aus, daß die puritanischen Gemeinwesen das „Frühe Amerika" bis zum Jahre 1600 dominierten 63. Bis zu dieser Zeit war es üblich, die Geistlichkeit die Politik bestimmen zu lassen. Sowohl im Magistrat als auch im Gerichtssaal habe sie das letzte Wort gehabt64. Dabei habe sie hinter ihrem christlichen Kolorit ihren eisernen Willen kundgetan, allen Ketzern mit drakonischer Strenge zu begegnen. Auf diese Weise wurden die religiöse Toleranz in den Bereich des Illegitimen und Strafwürdigen verwiesen. M. Searle Bearles zufolge waren die Puritaner dieser Zeit die „einzige Gruppe innerhalb der amerikanischen Gemeinschaft, die gegen Ketzer und Dissenter mit der Todesstrafe vorgingen" 65 . 60 Ebd., S. 1040. 61 Herbert L. Osgood , The Political Ideas of the Puritans, in: The Political Science Quarterly 6 (1891), S. 7. Vgl. dazu auch G. P. Gooch, English Democratic Ideas, New York 1959, S. 6. 62 Ebd., S. 22. 63 Ebd. 64 Ebd. Nach Gottfried W. Locher führte „das Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes" auch bei Zwingli zu einem „theokratischen Ideal" (Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte. Göttingen / Zürich 1979, S. 224).

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Wenn die Bürger es wagten, abweichende religiöse Auffassungen zu artikulieren, „war die Verbannung das Günstigste, was sie treffen konnte" 66 . In dieser geheiligten Einheit von Staat und Kirche waren die Geistlichen jedoch keine Staatsbeamten. Obgleich ihr Einfluß auf die politischen Entscheidungen kaum größer sein konnte, entschied letzten Endes die staatliche Bürokratie über kirchliche Organisationsfragen. Von einer Theokratie im eigentlichen Sinne kann also nur bedingt gesprochen werden, da die weltliche Macht in einem entscheidenden Maße in die Kirche hineinregierte. „Die Geistlichen waren nicht Beamte des Staates, jedoch wurde ihren Meinungen ... großes Gewicht beigelegt. Der Statthalter und sein Stab entschieden über Fragen der Kirchenpolitik und der Doktrin, kümmerten sich um die Befähigung der Geistlichen, wiesen neuen Geistlichen ihre Stellen an und beriefen Synoden, falls wichtige kirchliche Fragen zu regeln waren" 67 .

In der Frühzeit der amerikanischen Republik haben die einzelnen Gemeinwesen den urpuritanischen Covenant-Gedanken in einem genuin theokratischen Horizont ausgelegt. Die Zustimmung des einzelnen Bürgers zu den Entscheidungen der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit emanierte nicht in einem demokratischen Gemeinwesen, sondern stützte im Gegenteil eine politische Ordnung, die ausgesprochen antiindividualistisch und repressiv ausgerichtet war. Der „covenant" wurde mit anderen Worten in den Dienst einer autoritären Staatspraxis gestellt. Darryl Baskin schreibt über diesen Sachverhalt: „By consenting, Congregationalist man gave up the negative individualist freedom to act in the absence of external restraints and acquired in its place the corporative liberty to serve the purposes of the community and thereby to do good" 68 .

In dieser vom Geist des staatlichen und kirchlichen Autoritarismus bestimmten Zeit war der Zustimmungsgedanke in eine Ordnung eingefugt, in der auf die Unabhängigkeit des Individuums und die Freiheit seines Gewissens kein allzu gesteigerter Wert gelegt wurde. „As long as the authority mobilized by the covenant was God's, not man's, the act of covenanting was the act of submitting ... The Congregationalist covenant ... did not recognize explicitly that individual liberty existed prior to the creation of civil and religious society" 69 .

65 M. Searle Bates, Glaubensfreiheit. Eine Untersuchung. Aus dem Amerikanischen. New York 1947, S. 270. 66 Ebd., S. 272. 67 Ebd., S. 271. 68 Darryl Baskin, American Pluralist Democracy: A Critique. New York 1971, S. 105; vgl. dazu auch Christopher Dawson, The Birth of Democracy, in: The Review of Politics. January 1957, S. 53 f. Ebd.

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Im Laufe der historischen Entwicklung haben die liberalen und demokratischen Bestimmungsmomente des Calvinismus über seine autoritären obsiegt. Der Gedanke der liberalen Demokratie brach sich Bahn und sagte der innigen Verschmelzung von kirchlicher und staatlicher Herrschaft den unnachsichtigen Kampf an. Das puritanische Zustimmungsprinzip wurde nun in einem freiheitlichen Horizont definiert. „The Congregational order carried another significant legacy to the New World: nascent individualism. Once the process of secularizing change had purges New England of its corporative an authoritarian character, the tendencies inhering in this opposing tradition would emerge to organize and dominate American experience" 70.

Die Zeit der puritanischen Theokratie wurde nun durch die der religiös fundierten Demokratie abgelöst. Nun hielten die amerikanischen Puritaner dafür, daß der staatliche Versuch, die Menschen zu einem moralischen Leben zu zwingen, ihrem Denken zutiefst widerspricht. Der Staat habe nicht als eine moralische, sondern als eine juristische Anstalt zu fungieren. Jetzt brach sich in Amerika ein Denken Bahn, das schon die englischen Puritaner beflügelt hatte. Der führende Repräsentant dieser demokratisch-puritanischen Denkrichtung war Roger Williams. Ihm zufolge leidet die Theokratie seiner Glaubensgenossen daran, daß sie sich nicht nur die Gerichtsbarkeit über die Körper der Menschen anmaßt, sondern auch die über ihre Seelen. Diese illegitime Usurpation müsse als eine Blasphemie sondergleichen angeprangert werden. Dabei plädierte Williams auch für die Freiheit des Bürgers, seiner höchst eigenen Religion gemäß leben zu dürfen. Ralph Barton Perry schreibt dazu: „Während Williams die Hegemonie irgendeiner Religion verneinte, bejahte er die Autonomie jeder Religion, ja sogar des Unglaubens"71.

Dem Staate spricht er dezidiert das Recht ab, in den Bereich des Religiösen zu intervenieren, den Bürgern ihren Glauben vorzuschreiben. „Glaube und Religionsausübung gehören zu jenen reservaten Rechten, die der Staat weder erteilt noch abspricht, sondern schätzt"72.

Diese Interventionsabstinenz des Staates resultiere keineswegs aus einer Geringschätzung des religiösen Bereichs. Sie habe ihren Wurzelgrund ganz im Gegenteil in der Tatsache, daß er zu den wichtigsten Aktionssektoren des Bürgers gehört. „Der Staat muß von jeder Einmischung absehen, nicht weil die Religion unwichtig oder fragwürdig ist, sondern weil sich ihre über alles wichtige Wahrheit nur durch Freiheit offenbaren und verbreiten kann" 73 . 70 Ebd., S. 105 f. 71 Ralph Barton Perry, Amerikanische Ideale. Puritanismus und Demokratie. Band I. Aus dem Amerikanischen. Nürnberg 1947, S. 415. Vgl. dazu auch Karl Dietrich Erdmann, Roger Williams - Das Abenteuer der Freiheit, in: Geschichte, Politik und Pädagogik. Stuttgart 1970, S. 355 ff. 2 Ebd.

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Die in Amerika zuerst praktizierte Trennung von Staat und Kirche führte allerdings zu keinem Machgleichgewicht zwischen den beide Entitäten. Der säkulare Staat, der stolz darauf war, das „Divine Right of Kings" überwunden zu haben, ließ nie einen Zweifel darüber aufkommen, daß er allein die Kompetenzkompetenz besitzt. Das trifft nicht zuletzt auch für England zu. Nach der „Glorious Revolution" war der Staat in pointierter Weise auf seine Unabhängigkeit gegenüber den Kirchen bedacht. Basil Williams zufolge hatte sich insbesondere die anglikanische Kirche den Machtansprüchen des Staates zu fügen. „At no time in our history was the Anglican church, both in England and Ireland, so completely Erastian and so subservient to the purpose of civil government as in the eighteenth century" 74 .

In einer ähnlichen Weise weist David Lindsay Kerr darauf hin, in wie starkem Maße diese Glaubensgemeinschaft zur tragenden Stütze des politischen Gemeinwesens avancierte und auf diese Weise ihrer Selbständigkeit gegenüber dem Staate verlustig ging. „So harmonous a blending of the spiritual estate with the government or real had hardly been since Elizabethan days, and to a far greater degree than in that age was the Church content to accept subordination to the state"75.

Auch die kontinentalen Liberalen waren nicht mehr gewillt, dem König göttliche Würde zu attestieren und auf diese Weise dem Gemeinwesen einen theokratischen Charakter zu verschaffen. In einer ausgesprochen pointierten Diktion erklärte der Franzose Edouard Laboulaye : „L'esprit du gouvernement est un esprit laïque" 76 .

Die Zeit, in der der französische König „un personnage sacré" 77 gewesen sei, sei nun endgültig vorüber. In gleicher Weise votierten die deutschen Liberalen für eine Politikordnung, die die Souveränität ihres Staates betonte und auf diese Weise jegliches politische Eigenrecht der Kirchen negierte. In der Frankfurter Nationalversammlung hat sich vor allem Theodor Welcker zum Sprecher dieser Ordnungsvorstellung gemacht. „Wir müssen ein Staatsgebäude haben, wo es nur eine souveräne höchste Gewalt gibt. Soll das Mittelalter sich wieder herstellen, soll die Kirche über den Staat souverän werden? Wollen sie das - und ich glaube, es gibt Welche, die das wollen, die den alten Zustand wieder herstellen möchten - , wollen sie die Freiheit an die Stelle der Unabhängigkeit in diesem Sinne stellen?"78. 73

Ebd. Vgl. dazu auch Gunter Zimmermann, Religionsgeschichtliche Grundlagen des modernen Konstitutionalismus, in: Der Staat 30 (1991), S. 393. ™ Basil Williams, The Whig Supremacy 1774 - 1760. Second Edition. Oxford 1962, S. 68. 75 David Lindsay Kerr, The Constitutional History of Modern Britain since 1485. London 1961, S. 428. 76 Edouard Laboulaye, L'état et ses limites suivi d'essais politiques. Paris 1863, S. 83. 77 Ebd.

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft

W i l l man den ganzen Abstand ermessen, der die neue, vom Liberalismus bestimmte Staatsauffassung von der alten trennt, so empfiehlt sich die Lektüre eines Briefes von Karl Rotteck und Adam Heinrich Müller. In ihm wendet sich der liberale Rechtsgelehrte gegen die von Müller vertretene Meinung, daß nur ein genuin christliches Staatswesen das gute Leben der Bürger gewährleistet. Heute werde die Gesellschaft allein durch die säkulare Rechtsordnung und nicht durch das Bekenntnis zum Christentum zusammengehalten. „Das Recht also, und nicht die Religion, ist das erste und wesentliche Band der Gesellschaft; es kann äußerlich gehandhabt werden und sichert alle, denn die äußerliche Tat und die Allgemeinheit der Regel machen seine Grundbegriff aus, während die Religion, abermals nach ihrem Wesen, nur das Princip der individuellen Veredlung, nicht aber der geordneten Wechselbeziehung Aller ist" 7 9 . Religion ist nun, um ein Schlagwort zu gebrauchen, Privatsache. Ihre Ausdehnung von der privaten Sphäre in die staatlich-kollektive widerspricht dem Glaubensbekenntnis des Liberalen zutiefst. „Die fromme Gesinnung ist etwas bloß persönliches und inneres, kein äußeres Gemeingut" 8 0 Auch nach F. C. Dahlmann gehört es zu den unabdinglichen Wesensmerkmalen des säkularen Staates, daß er sich von den religiösen Bestimmungsdeterminanten losgesagt hat. Seine Konzentration auf die souveräne, gleichwohl gewaltengeteilte Machtausübung, ist in keiner Weise erkauft mit den fragwürdigen Attributen überholter Staatskonzeptionen. Das moderne Gemeinwesen hat seine Sache auf sich selbst gestellt. „Weil die Menschheit in jedem Zeitalter neue Zustände gebiert, so läßt sich kein Staat grundfest darstellen, außer mit den Mitteln und unter den Bedingungen irgend eines Zeitalters, außer gebunden an die Verhältnisse irgend einer unmittelbaren Gegenwart" 81.

78 Rede des Abgeordneten Karl Theodor Welcker über das Verhältnis von Staat und Kirche am 21. August 1848 in der Nationalversammlung, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung in Frankfurt am Main, hrsg. von Franz Wigard, Dritter Band, Nr. 62 - 89. Frankfurt am Main 1848, S. 1651. 79 Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller. 1800 - 1829. Stuttgart 1807, S. 305. 8 0 Ebd. 81 F. C. Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Zweite Auflage. Leipzig 1847, S. 9. Dabei weist Gustav E. Kafka darauf hin, daß das liberale Staatswesen keinerlei Glaubensauffassungen dulden kann, die seine Existenz gefährden. Aus diesem Grunde unterdrücke es völlig zu Recht den religiösen Fanatismus. So hätten die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1882 zu Recht das Verbot der Vielweiberei ausgesprochen, das sich eindeutig gegen die Religionsgemeinschaft der Mormonen richtete (Freiheit und Anarchie. München 1949, S. 65).

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe Während es bei den bislang abgehandelten Denkern und politischen Bewegungen darum ging, das Verhältnis von Staat und Kirche zu regeln, kommt nun eine Denkfamilie zu Wort, die das Christentum als staatszerstörend ansieht und deshalb den antikirchlichen Staat als alleinige Regierungsinstanz akzeptiert. Bei ihr wird der christlichen Religion der unnachsichtige Kampf angesagt und einem ganz und gar unchristlichen Gemeinwesen das Wort geredet. Nun kommt der schleichende Prozeß der Staatssäkularisierung, der von John Bossy als „Migration of the Holy" 8 2 bezeichnet wird, zu seinem logischen Abschluß. Diese epochale Wertetransformation soll vor allem am Beispiel von Hobbes, Rousseau und Feuerbach exemplifiziert werden. Zu den einflußreichsten Autoren, die die vormals bestehende spannungsreiche Einheit von Kirche und Staat in einer höchst folgenreichen Weise sprengten, gehörte ohne Zweifel Thomas Hobbes. Seine politische Theorie verdankt sich der Anstrengung, in einem scheinbar vom Christentum geprägten Denkhorizont eine Staatslehre zu konzipieren, die letzten Endes alle Brücken zu dieser Religion abgebrochen hat. Wenn Leo Strauss die Schriften von Thomas Hobbes als „theologisch-politische Traktate" 83 bezeichnet, so sollte erkannt sein, daß diese durchaus ein Doppelgesicht aufweisen. Einerseits ist es Hobbes darum zu tun, seinen Staatsentwurf im Horizonte des Alten Testaments zu konzipieren. Andererseits geht es ihm aber darum, dieses in einem ausgesprochen kritischen Lichte zu interpretieren, und damit die „Autorität der Schrift selbst zu erschüttern" 84. Die Klammer, die seine Interpretation der Bibel zusammenhält, ist seine rigorose Kampfansage an das Christentum. Das trifft Leo Strauss zufolge schon für Hobbes' früheste Veröffentlichungen zu. Er sei „damals so wenig wie später ein gläubiger Christ" 85 gewesen. Daß sich hinter der Fassade des kenntnisreichen Bibelinterpreten ein politischer Denker verbirgt, der das Christentum radikal ablehnt, dies ist auch die Auffassung von G. R Gooch: „Behind the elaborate parade of scriptural texts it is easy to detect not only an indignant repudiation of ecclesiastical pretensions, but something like contempt for the dogmas of Churches" 86.

Der antiklerikale und antichristliche Impetus von Hobbes' Theorie wurde nicht zuletzt von all denjenigen begrüßt, die sich einer radikal antikirchlichen Politik verschrieben hatten. Zu ihnen gehört nicht zuletzt Thomas Buckle. 82 John Bossy, Christianity in the West. 1400 - 1700. Oxford/New York 1985, S. 153 ff. 83 Leo Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft. Aus dem Amerikanischen. Neuwied/ Berlin 1965, S. 75. 84 Ebd., 85 E b d . , S. 78. 86 G. P. Gooch, Political Thought in England. From Bacon to Halifax. London 1937, S. 46.

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „Der gefährlichste Gegner des Klerus im 17. Jahrhundert war ohne Zweifel Thomas Hobbes, der feinste Dialektiker seiner Zeit... Dieser tiefe Denker veröffentlichte mehrere Untersuchungen, die stark gegen die Kirche gingen und entschieden den Principien, welche zur geistlichen Autorität notwendig sind, widerstritten" 87.

Was Wunder, wenn dieser aufgeklärte Geist in das Schußfeld „reaktionärer" Kräfte geriet. „Natürlich wurde er von der Priesterschaft gehaßt; man erklärte seine Lehren für höchst verderblich und klagte ihn subversiver Absichten gegen die Nationalreligion und verderblicher Angriffe gegen die öffentliche Sittlichkeit an" 88 .

Hobbes, „dessen atheistische Meinungen wohl unfraglich sind" 89 , verneint vor allem auch den Anspruch der christlichen Glaubensgemeinschaften, über Gut und Böse urteilen zu können. Sein Bemühen, den Staat als endgültigen Normgeber zu etablieren, führt notwendigerweise zu einer Ablehnung der christlichen Tugendlehre. An die Stelle der überkommenen Ethik wird eine Moraldoktrin gesetzt, die allein von kratologischen Gesichtspunkten bestimmt ist. Die Machterhaltung des Staates ist die einzige Richtschnur, die dem politischen Handeln sein Gepräge gibt. Nach Koselleck sind bei Hobbes „die Gesetze moralisch, nicht weil sie einer ewigen Gesetzlichkeit der Moral entsprechen ... sondern weil sie einem unmittelbar aus der politischen Situation abgeleiteten Gebot entsprungen sind" 90 . Jeglicher Versuch, sich an der überkommenen christlichen Ethik zu orientieren, wird als zutiefst antietatistisch und aufrührerisch gebrandmarkt. Ein Bürger, der das göttliche Recht dem staatlichen entgegensetzt, ist notwendigerweise ein illegitimer Widerständler. Um die Bürger davor zu bewahren, die Bibel in einer staatsgefährdenden Weise auszulegen, ist es Hobbes' zufolge notwendig, daß die Interpretation der Heiligen Schrift in die Hände des Staatsoberhaupts gelegt wird. Ihr haben die Untertanen unter allen Umständen zu gehorchen. „Für den Fall, daß eine jener unnötigen Lehren durch die Gesetze des Königs oder eines anderen Staates autorisiert werden, so sage ich, ist es die Pflicht eines jeden Untertanen, nicht dagegen zu sprechen, ebenso wie es auch jedermanns Pflicht ist, dem oder denen, die die höchste Macht haben, zu gehorchen, und wie die Weisheit aller solchen Mächte darin besteht, diejenigen zu bestrafen, die ihre eigene private Auslegung veröffentlichen 87

Thomas Buckle, Geschichte der Civilisation in England. Deutsch von Arnold Rüge. Vierte Auflage. Erster Band. Leipzig / Heidelberg 1870, S. 337. 88 Ebd. Die antichristliche Position von Hobbes traf schon sehr früh auf den heftigen Widerstand des Earl of Clarendon. Vgl. dazu seinen Essai: „A Brief View and Survey of the Dangerous and Pernicious Errors of Church and State in Mr. Hobbes' Book Entitled Leviathan", London 1676. Abgedruckt in: William Ebenstein. Political Thought in Perspective. New York 1957, S. 257 ff. 89 Eric Weil, Die Säkularisierung der Politik und des politischen Denkens in der Neuzeit. In: Marxismusstudien. Vierte Folge, hrsg. von Iring Fetscher. Tübingen 1962, S. 156. 90 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main 1973, S. 29.

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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oder lehren, wenn sie gegen das Gesetz sind und dazu dienen, die Menschen zum Aufruhr zu bringen oder gegen das Gesetz zu streiten reizen" 91 .

Den Geistlichen könne in diesem Zusammenhang nicht scharf genug ins Gewissen geredet werden. Gerade sie müssen wissen, „daß sie keine Autorität außer der haben, die ihnen die oberste zivile Gewalt gibt" 9 2 . Bei Hobbes wird die Kirche in ein Bezugssystem eingebettet, in der sie G. P. Gooch zufolge zur „branch of politics" 93 verkommt. Im sicheren Bewußtsein ihres destruktiven Einflusses plädiert er dafür, dem Einfluß religiöser Institutionen auf die staatlichen Entscheidungen ein Ende zu machen. Letzten Endes muß die Politik den Fesseln des Christentums entrissen werden. Was einer vernünftigen Politik ihr Signum gibt, ist Ferdinand Toennies zufolge die „Befreiung von der Kirche" 94 . Sie hat im politischen System von Thomas Hobbes als willfährige Helfer in der staatlichen Exekutive zu fungieren, ihre Unterordnung unter den Willen des Staatsoberhauptes ist ihre heiligste Pflicht. Nur auf diese Weise kann die politische Führung ihrer Aufgabe nachkommen, den Frieden zu erhalten. Kurz und treffend hat René Capitani die Ordnungsvorstellung von Thomas Hobbes zum Ausdruck gebracht: „C'est n'est pas le prêtre qui gouverne l'État, mais le prince qui préside à l'Eglise" 95 .

Weit davon entfernt, die Bedeutung der Religion in einem vernünftigen Staatswesen als unbedeutend anzusehen, hält Hobbes dafür, daß es ihre vornehmste Aufgabe ist, die Machtausübung des Staates zu garantieren und zu legitimieren. So schreibt G. P. Gooch: „Religion was of value when it was employed not to challenge the decisions of the State but to teach men to live in peace"96.

Sie hat sich aller Versuche zu enthalten, die Wirkkraft des Staates zu schmälern und dem gefährlichen Pluralismus außerstaatlicher Mächte Raum zu geben. Dabei ist Hobbes im Hinblick auf die Rollenbestimmung der Kirche ungleich staatsinterventionistischer gesinnt als in bezug auf die Gestaltung des Systems der Bedürfnisse. Während er jeglichen Gedanken an ihre Autonomie weit von sich weist, gewährt er bei der Gestaltung des ökonomischen Kosmos einen erstaunlich breiten Spielraum.

91 Thomas Hobbes, Behemoth oder das lange Parlament, hrsg. von Herfried Münkler. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1991, S. 61 f. 92 Ebd., S. 65. 93

G. Ρ Gooch, Political Thought in England from Bacon to Halifax, S. 47. Ferdinand Toennies, Thomas Hobbes, der Mann und der Denker. Osterwieck (Harz) / Leipzig 1912, S. 182. 95 René Capitani, Hobbes et l'État. In: Revue de Philosophie du droit et de sociologie juridique 6 (1936), S. 67. 96 G. P. Gooch, Political Thought in England from Bacon to Halifax, S. 46. 94

3 J. B. Müller

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „L'absolutisme de Hobbes va donc plus loin dans le domaine religieux que dans le domaine économique"97.

Die Frage, welches Modell des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat demjenigen von Hobbes am radikalsten widerspricht, kann mit dem Hinweis darauf beantwortet werden, daß es dasjenige des Thomas von Aquin ist. Erich Voegelin zufolge bricht bei Hobbes die „hoch-scholastische Konstruktion des Thomas, in der die temporale der spiritualen Ordnung im Rang unterstellt und von ihr organisatorisch geschieden war ... auseinander" 98. Nun füllt sich die „weltliche Ordnung ... mit den nationalen Gehalten zu einer eigenpersönlichen Einheit" 99 . Die „Gegensätze von temporal und spiritual" 100 werden jetzt gegenstandslos. Der von Hobbes konstruierte staatliche Leviathan gibt sich nach Voegelin als „heidnisch-sakrales Symbol" 101 zu erkennen. Nun geht die „Hierarchie nach unten nicht mehr zu Personen, welche die Ränge der Ekklesia besetzt halten, sondern zu der Gemeinschaft als einer Kollektivperson" 102 . In der Staatskonstruktion des Thomas Hobbes ist nun „jedes Commonwealth ... für sich eine christliche Ekklesia" 103 . Der Staat wird auf diese Weise zur Kirche, „mit dem Souverän als Kirchenhaupt, unmittelbar unter Gott, ohne Vermittlung des Vicarius Christi" 104 . Dabei läßt es sich Hobbes durchaus nicht nehmen, bei seinen ideologischen Angriffen auf die christlichen Kirchen sich eines Vokabulars zu bedienen, das er der Bibel verdankt. Wer nämlich als Gegner seiner rein weltlich bestimmten Ekklesia auftritt, verrichtet ihm zufolge das Werk des Teufels. Insbesondere die Katholische Kirche avanciert „mit ihrem Anspruch auf spirituelle Hoheit über alle Christen" 105 zum „Reich der Finsternis" 1 0 6 . Mag man darüber streiten, ob und in welcher Weise es im politischen System Hobbes' noch klassisch-religiöse Bestimmungsmerkmale gibt, bei Rousseau erübrigt sich eine derartige Diskussion. Der radikale Abschied von einer wie immer gearteten christlichen Auffassung vom Staat ist bei ihm unübersehbar. Bei seinen politischen Überlegungen bleibt er ganz und gar der Erde treu. Rousseaus radikale Ablehnung des Christentums gründet in seiner Auffassung, daß es die antike Einheit von Religion und Staat zerstört habe 107 . Diese Religion 97 René Capitani, Hobbes et l'Etat, S. 70. 98 Erich Voegelin, Die politischen Religionen. Stockholm 1939, S. 45. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 43. ιοί 102 103 104

Ebd., S. 45. Ebd., S. 44. Ebd., S. 46. Ebd.

los Ebd., S. 48. 106 Ebd. 107 Dieser Auffassung stimmte nicht zuletzt auch David Hume zu. Er schreibt: „In modern times parties of religion are more furious and enraged than the most cruel factions that ever

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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kultiviere seit jeher einen Antietatismus, der früheren Zeiten gänzlich unbekannt gewesen sei. Dieser unheilvolle politische Tatbestand sei vor allem ihrem Gründer anzulasten. Rousseau zufolge „gründete Jesus ein geistiges Reich auf Erden, das durch die Trennung des theologischen Systems vom politischen die Einheit des Staates aufhob, und jene inneren Spannungen hervorrief, die nie aufgehört haben, die christlichen Völker zu beunruhigen" 108.

Aus diesem Grunde sei es den Heiden kaum vorzuwerfen, wenn sie die christliche Religion als staatsgefährdende Kraft interpretiert haben. Sie hätten allen Grund zu der Vermutung gehabt, daß sich die Christen zunächst nur deshalb so unterwürfig gäben, weil sie insgeheim auf die Möglichkeit lauerten, den alten Staat in ihrem Sinne radikal umgestalten zu können. „Da der Gedanke von einem überirdischen Reich niemals in die Köpfe von Heiden eingehen konnte, so sahen sie die Christen immer als echte Empörer an, die unter einer erheuchelten Unterwürfigkeit nur auf den Augenblick warteten, sich unabhängig und zu Gebietern zu machen und die Gewalt, die sie in ihrer Schwäche scheinbar achteten, an sich zu reißen." 109

Dies sei ohne Zweifel die wahre „Ursache der Christenverfolgungen' 4110 gewesen. Rousseau zufolge sollten die Heiden mit ihrem Argwohn gegenüber den Christen Recht behalten. „Alles bekam damals ein anderes Gesicht, die demütigen Christen führten plötzlich eine andere Sprache, und das vorgeblich überirdische Reich sah man sich in kurzer Zeit unter einem sichtbaren Oberhaupt in das despotischste Reich dieser Welt verwandeln" 111 .

Rousseau zufolge wurde erst am Beginn der Neuzeit erkannt, daß die bislang in den christlichen Staaten vorherrschende staatsgefährdende Spannung zwischen Religion und Politik überwunden werden muß. Dabei gehörte es zu den beispielhaften Denkanstrengungen Hobbes', dieses Problem in seiner ganzen Schärfe erkannt und einer beeindruckenden Lösung zugeführt zu haben. Jeder vernünftigen Regelung des Verhältnisses von Religion und Politik habe sich an diesem englischen Denker auszurichten. arose from interest and ambition" (Of Parties in General. In: David Hume's Politicas Essays. Edited by Charles W. Hendel, New York 1953, S. 84). 108 Jean Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Aus dem Französischen. Hrsg. von Heinrich Weinstock, Stuttgart 1958, S. 184. Peter Meinhold führt Rousseaus antipluralistisches Einheitsstreben auf den Neuplatonismus zurück. Vgl. dazu Peter Meinhold: Rousseau's Geschichtsphilosophie. Tübingen 1936, S. 7. 109 Ebd. Vgl. dazu Karl Dietrich Erdmann, Das Verhältnis von Staat und Religion nach der Sozialphilosophie Rousseaus. Der Begriff der ,religion civile'. Berlin 1935 (Historische Studien, Heft 271). Heinz Kleger/Alois Müller, Bürgerreligion und politische Verpflichtung. Rousseaus Konzept einer „religion civile". In: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 47 ff. h o Ebd. m Ebd. 3=

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „Unter allen christlichen Schriftstellern ist der Philosoph Hobbes der einzige, der sowohl das Übel wie das Heilmittel richtig erkannte und sich den Vorschlag zu machen getraute, die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen und alles zur politischen Einheit zurückzuführen, ohne die es dem Staate wie der Regierung immer an einer guten Verfassung fehlen wird" 1 1 2 .

Das Verdienst von Hobbes bestehe nicht zuletzt auch darin, die jegliche staatliche Stabilität gefährdende Qualität des Christentums erkannt zu haben. In der Vehemenz, in der er diese Religion gegen sein Staatsideal ausspiele, dokumentiere sich sein überlegenes politisches Denken. „Er hat ... einsehen müssen, daß sich der herrschsüchtige Geist des Christentums mit seinem Systeme nicht in Einklang bringen ließ und der Vorteil des Priesters stets den des Staates überwiegen würde" 113 . I m Gegensatz zur staatszerstörenden Religion des Christentums gibt sich die „religion civile" Rousseaus als eine Doktrin zu erkennen, die dem politischen Gemeinwesen Homogenität und Stabilität verleiht. In seinem Ordnungssystem ist es ihre Aufgabe, die weltanschaulichen Einstellungen der Bürger auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dabei wird keinerlei ideologische Abweichung erlaubt. Die Glaubensgrundsätze der Zivilreligion müssen von allen Bürgern minuziös beachtet werden. Ohne ihre Respektierung verharrt jeder Staatsangehörige i m Status eines unzuverlässigen und devianten Bürgers. „Es gibt demnach ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, und die Festsetzung seiner Artikel ist lediglich Sache des Staatsoberhauptes. Es handelt sich hierbei also nicht eigentlich um Religionslehren, sondern um allgemeine Ansichten, ohne deren Befolgung man weder ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein kann" 114 . Der Rousseausche Staat ist also von genau jenem intoleranten Geiste beseelt, den dieser dem Christentum vorwarf. Die Freiheit der Religionsübung ist in ihm unbekannt. M i t denjenigen Bürgern, die sich der vom Staate verordneten Bürgerreligion verweigern, macht der Staat i m wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozeß: „Ohne jemand zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt, verbannen, und zwar nicht als einen Gottlosen, wohl aber als einen, der unfähig ist, Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfalle sein Leben seiner Pflicht zu opfern. Sobald sich jemand nach öffentlicher Anerkennung dieser bürgerlichen Glaubensartikel doch als Ungläubiger aufführt, verdient er den Tod; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen falsch geschworen" 115. ι· 2 Ebd., S. 186. "3 Ebd. 114 Ebd., S. 193. Vgl. dazu auch: „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und bestimmt ausgedrückt sein und keiner Auslegungen und Erklärungen bedürfen. Das Dasein eines allmächtigen, weisen, wohltätigen Gottes, einer alles umfassenden Vorsehung; ein zukünftiges Leben, die Belohnung der Gerechten und Bestrafung der Gottlosen ... das sind die positiven Glaubenssätze" (ebd.). 1Ebd.

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Indem sich Rousseau dem Gedanken einer eher innerweltlichen Religiosität annähert und damit die Idee eines dem Christentum verpflichteten Staates aufgibt, gibt er sich als Denker zu erkennen, der der Demokratie den Charakter eines immanentistischen Gottesreiches verleiht. Aus einer rein irdischen Position heraus bekennt er sich zu einem vom allgemeinen Willen bestimmten Staatswesen, das auf einen diesseitig-religiösen Ton gestimmt ist. Diese Auffassung wird auch von Christopher Dawson geteilt: „It was he who first fired men's minds with the ideal of democracy not as a mere system of government but as a new way of life, a vision of social justice and fraternity which is nothing else than the kingdom of God on earth" 116 .

Dabei ist Rousseau eindeutig darauf aus, seiner Demokratie jene Würde zu verleihen, die früher dem absolutistischen Staat zukam. Das Devine Right of Kings mutiert zum göttlichen Recht der Demokratie. Aus diesem Grunde kann er als „the founder and prophet of a new faith - the religion of democracy" 117 - angesehen werden. Rousseaus Konzeption einer „Bürgerreligion" sollte in der Französischen Revolution auf fruchtbaren Boden fallen. Vor allem den Jakobinern war es darum zu tun, an die Stelle des christlichen Bekenntnisses eine Weltanschauung zu setzen, die Hippolyte Taine als „Laienreligion" 118 bezeichnet. „Man will einer Bevölkerung von sechsundzwanzig Millionen den Kultus und die Dogmen der jakobinischen Lehre aufdrängen, das Christentum mit seinem Gottesdienst und seinen Priestern aber ausrotten" 119.

Die Jakobiner erweisen sich auch im Umgang mit ihren weltanschauliche Feinden als gelehrige Schüler Rousseaus. Es kommt zu abscheulichen Priesterverfolgungen. „Viele der Bedrohten fliehen ins Ausland oder verstecken sich daheim; wem keines von beiden gelingt, der wird unnachsichtig abgefaßt, in den verhängnisvollen Karren gesetzt und nach den Kasematten von Ré oder den Sümpfen von Sinnamari gebracht, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach recht bald vom Tode ereilt wird" 1 2 0 .

116

Christopher Dawson, The Birth of Democracy, in: Review of Politics. January 1957, S. 51. Vgl. dazu auch Henri Gohier, Les méditations métaphysiques de Jean-Jacques Rousseau. Paris 1984. 117 Ebd., S. 50. us Hippolyte Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich. Band II. Aus dem Französischen. Meersburg o. J., S. 570. h 9 Ebd. Den Geist radikalen AntiChristentums atmet nicht zuletzt auch der von den Jakobinern eingeführte Revolutionskalender. Er galt vom 24. 11. 1793 bis zum 31. 12. 1805. Es ging seinen Urhebern vor allem darum, den gregorianischen Kalender durch einen durch und durch antichristlichen zu ersetzen. Vgl. dazu Hans Maier, Die christliche Zeitrechnung. Freiburg, Basel/Wien 1991, S. 100. 120 Ebd., S. 571.

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft

Taine zufolge machen die „erleuchteten Deisten vom Fruktidor ... ihre mittelbaren und unmittelbaren Mordtaten zur Grundlage ihrer Anbetung der Vernunft" 121 . Dabei ließen es einzelne städtische Milizen sich auch nicht nehmen, „den Goltesdienst zu stören, die Andächtigen auseinanderzutreiben, die Priester am Kragen zu packen, sie aus der Stadt zu jagen und ihnen für den Fall der Rückkehr mit dem Stricke zu drohen" 122 . War Rousseau noch der Auffassung, daß ein vernünftiger Staat keineswegs auf die innerweltliche „Zivilreligion" verzichten könne, so gibt sich Ludwig Feuerbach sowohl als Gegner einer überirdischen als auch einer irdischen Religion zu erkennen. Zum entscheidenden Bestimmungsfaktor seiner Philosophie gehört seine These, daß der Mensch Gott nach seinem Bilde schuf. Gott kann kein als vom Menschen abgesondertes Individuum betrachtet werden. Jegliche Gottesvorstellung emaniert aus seinen Wünschen und Bedürfnissen. In scharfem Gegensat;: zu Hegel 123 sucht Feuerbach sie auf die menschliche Triebstruktur zu reduzieren 124. Die Besinnung auf die atheistische Philosophie Feuerbachs fördert notwendigerweise die Erkenntnis zutage, daß dieser auch politisch bedeutsame Aspekte eignen. So schreibt Wilfried Löwenhaupt: „Weil und soweit sich bislang christliche Theologie ... auch in Begriffen und Einrichtungen der äußeren Welt niedergeschlagen hat, Theologie zur Politik mindestens politisch geworden ist, wird Religionskritik notwendig auch Kritik an der politischen und sozial verkehrten Welt 1 2 5 .

Da sich im Gottesgnadentum der christlichen Herrscher eine höchst illegitime Politische Theologie widerspiegelt, muß Feuerbach zufolge alles darangesetzt werden, republikanisch-atheistische Zustände anzustreben. „In der christlichen Religion hast Du Deine Republik im Himmel, Du brauchst also hier keine. Im Gegenteil: hier muß Du Knecht sein, sonst ist der Himmel überflüssig" 126 . In dem Maße, 121 Ebd. 122 Hippolyte Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Band I, S. 558 f. 123 Feuerbach lehnt Hegels Behauptung rigoros ab, daß in der „christlichen Religion ... das Recht der Subjectivität aufgegangen" ist (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 185, Zusatz). 124 Vgl. dazu Simon Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie, Berlin 1931; Karl Löwith, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Logos 17 (1928), S. 323 ff. 125 Wilfried Löwenhaupt, Republik ohne Gott-Revolution ohne Gewalt. Zum Verhä tnis von Religions- und Staatsphilosophie bei Ludwig Feuerbach, in: Der Staat 14 (1975), S. f 23. 126 Ludwig Feuerbach, Philosophische Kritiken und Grundsätze, hrsg. von Friedrich Jodl, in: Sämtliche Werke, Band II. Zweite Auflage. Stuttgart-Bad Cannstatt 1959, S. 222. Ähnlich heißt es bei Bakunin: „Solange wir im Himmel einen Herrn haben, wir auf der Erde Skh.ven sind. Unsere Vernunft und unser Wille würden gleichfalls vernichtet sein. Solange wir glauben, im absoluten Gehorsam schuldig zu sein ... müßten wir uns notwendig der Autorität seiner Mittler und Auserwählten ohne Widerstand und ohne die geringste Kritik unterwerfen." (Michail Bakunin, Gott und der Staat und andere Schriften, hrsg. von Susanne Hillmann, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 141.)

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in dem bei Feuerbach Theologie in Anthropologie aufgelöst wird, muß die auf ihre göttliche Legitimität pochende Monarchie durch eine atheistische Republik abgelöst werden. Feuerbachs religionsfeindlicher Ordnungsentwurf enthält auch die Forderung, mit allen von der christlichen Religion konzipierten hierarchischen Strukturen Schluß zu machen, weil nur auf diese Weise dem Prinzip der Gleichheit Genüge getan werden kann. Die atheistische Republik erblickt erst dann das Licht der Welt, wenn sich die Menschen als „ein Resultat sich gegenseitig bedürfender und erzeugender, zusammenwirkender, aber gleichberechtigter Wesen oder Kräfte" 127 verhalten. Nur unter diesen egalitären Umständen könne man nicht mehr erkennen, „wer Koch oder Kellner ist, weil Alles gleich wichtig, gleich wesentlich ist" 1 2 8 . Um zu einer egalitär-fortschrittlichen Republik zu gelangen, muß alles darangesetzt werden, der überkommenen Religion den Garaus zu machen. Christlich geprägte Daseins- und Staatsinterpretationen erweisen sich Feuerbach zufolge als ein gravierendes Hindernis auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die vom Gedanken der menschlichen Autonomie und Gleichheit bestimmt ist. Erst wenn aus „religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie 129 emanzipierte Menschen wurden, „wenn sie zu freien, selbstbewußten Bürgern der Erde" 1 3 0 avancieren, kann man von einer wahrhaft humanen und fortschrittlichen Gesellschaft sprechen. Der Feuerbachsche Atheismus übte einen kaum zu unterschätzenden Einfluß auf das Denken von Friedrich Engels und Karl Marx aus. So schreibt Engels: „Wir waren alle momentan Feuerbachianer. Wie enthusiastisch Marx die neue Auffassung begrüßte ... kann man in der,Heiligen Familie' nachlesen"131.

Marx zufolge hat der atheistische Philosoph „den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet" 132 , den Menschen an die „Stelle des alten Plunders" 133 gesetzt. Ihm sei die „Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft" 134 zu verdanken. Allerdings habe Feuerbach übersehen, „daß das ,religiöse Gemüth' selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individu127

Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, hrsg. von Friedrich Jodl, in: Sämtliche Werke, Band VIII. Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 171. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 29. 130 Ebd. 131 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx und Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Band II. Berlin 1952, S. 342. 132 Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Die Heilige Familie und andere philosophische Frühschriften. Berlin 1955, S. 211. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 75.

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um, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört" 1 3 5 . In den Dimensionen einer christentumsfeindlichen Geschichtsdeutung und Gesellschaftslehre bewegt sich auch Auguste Comte. Sein Dreistadiengesetz, demzufolge das religiöse Zeitalter vom philosophischen und dieses vom soziologischtechnokratischen abgelöst wird, atmet nicht gerade den Geist der überkommenen Religion. Allerdings entrât sein Denken nur vordergründig aller religiösen Besrimmungsmerkmale. Da eine dem Geist des Positivismus verpflichtete Gesellschaft jenes Zusammenhaltes entbehrt, die für ihre Fortexistenz vonnöten ist, entschloß sich der französische Soziologie zu dem überaus merkwürdigen Vorhaben, eine antichristliche Kirche zu gründen. Die Besinnung darauf, wie eine auf den Erkenntnissen der Wissenschaft basierende Sozietät dauerhaft begründet werden kann, läßt Comte zu dem Schluß kommen, daß diese einer kirchenähnlichen Institution bedarf. „On ne détruit que ce qu'on remplace" 136 . Sein ausgeprägtes Sensorium für religiöse Ordnungsformen sollte allerdings keineswegs darüber hinwegtäuschen, daß die Religion seiner positivistischen Ecclesia der christlichen radikal widerspricht. Comte spricht in diesem Zusammenhang von der „Religion de l'Humanité" 1 3 7 , und der „religion positive" 138 . Comtes „foi positive" 139 weist also mit der christlichen Religion kaum Übereinstimmungen auf. Seine Prinzipien sind ganz und gar auf einen innerweltlichen Ton gestimmt. Sie lauten: „L'amour pour principe, l'Ordre pour base et le Progrès pour but" 1 4 0 .

Diese „formule sacrée du positivisme" 141 schließt auch die Verehrung des „Grand Être" 1 4 2 mit ein. Der Gott Comtes ist jedoch keineswegs mit dem christlichen Gott identisch. Ihm zufolge birgt die christliche Gottesidee die Gefahr in sich, daß der nur seinem Schöpfer verantwortliche Gläubige sich letzten Endes als latenter Staatsgegner zu erkennen gibt. Er entzieht sich durch den Rekurs auf sein Gewis-

135 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx und Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften, Band II, S. 378. Dabei geben sich Marx und Engels auch als dankbare Schüler Pierre Bayles zu erkennen. Ihnen zufolge bereitete er „nicht nur dem Materialismus und der Philosophie des gesunden Menschenverstandes ihre Aufnahme in Frankreich ... vor. Er kündete die atheistische Gesellschaft, welche bald zu existieren beginnen sollte, durch den Beweis an, daß eine Gesellschaft von Atheisten existieren, daß ein Atheist ein ehrbarer Mensch sein könne, daß sich der Mensch nicht durch den Atheismus, sondern durch den Aberglauben und Götzendienst herabwürdige" (Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik, in: Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, S. 256 f.) 136

«37 138 139 140

Auguste Comte, Catéchisme positiviste, édité par P.-F. Pecaut. Paris o. J., S. 3. Ebd., S. 12. Ebd., S. 61. Ebd., S. 54. Ebd., S. 58.

141 Ebd. 142 Ebd.

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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sen jeglicher sozialer Kontrolle und tendiert auf diese Weise zum Antietatismus. Robert Spaemann schreibt in diesem Zusammenhang : „Die Gottesidee als solche ist für Comte gefährlich, weil sie durch die alle äußere Macht überschreitende Beziehung des einzelnen Gewissens zu Gott das Individuum als freies und darum die Gefahr der Anarchie bestehen läßt" 1 4 3 .

So wenig sich die Gottesidee Comtes mit derjenigen des Christentums auf einen Nenner bringen läßt, so sehr atmet das Comtesche Kirchengebäude den administrativen Geist des Katholizismus. Bei aller Ablehnung der römischen Religion akzeptiert er deren Strukturprinzipien. Seinem mit großem Aufwand gezimmerten antichristlichen Kirchenprojekt fügt er Partikel ein, die dem institutionellen Gebäude der Katholischen Kirche entstammen. Seine kaum verhüllte Bewunderung für ihre Organisation erschließt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß auch Comtes Kirche einen Priesterstand kennt. Seine Funktion hat Henri de Lubac genau skizziert: „Wenn der Katholizismus seine Aufgabe einst, wenn auch nur beschränkt und durchaus vorläufig, erfüllt hat, konnte er das nur dank der Institution seines Priestertums ... die neue »moralische Gewalt' wird also nicht diffus, ohne beamtete Vertreter bleiben dürfen. Ein neues Priestertum wird sie ausüben" 144 .

Dabei verblaßt in Comtes von Priestern geleitetem Kirchensystem jegliche Berufung auf das individuelle Gewissen zur Kompensation emanzipationswütiger Staatsfeinde. Sie maßen sich an, gegen die Wahrheit der positivistischen Wissenschaft anzukämpfen und sich an den Lehren der modernen Soziologie zu versündigen. Fernab aller liberalen Versuchungen ist der Comtesche Klerus darauf aus, derartige, in höchstem Maße illegitime psychische Verirrungen zu unterdrücken. Henri de Lubac zufolge bestimmt dieser mit nachdrücklicher Strenge, „was in jedem einzelnen Gegenstand gedacht zu werden hat: der Verstand des Menschen wird ihm Untertan sein" 145 . Unter seinem „positiven Regiment wird demnach keine Rede von ,freier Prüfung' oder »Gewissensfreiheit' mehr sein" 146 . Comtes höchst eigentümliche Kirchenkonstruktion ist notwendigerweise in das kritische Visier derjenigen geraten, die in ihr eine Institution erblicken, welche die Menschen nicht befreit, sondern in die mentale und soziale Sklaverei führt. So erscheint sie Otwin Massing zufolge keineswegs als Chiffre menschlicher Emanzipation, sondern als Symbol für eine rigide Unterdrückung des Menschen. Mag Comtes Kirche auch noch so innerweltlich-progressiv einherkommen, an ihrem übergroßen Repressionspotential könne keinerlei Zweifel bestehen.

143

Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geiste der Restauration. München 1959, S. 183. 144 Henri de Lubac, Die Tragödie des Humanismus ohne Gott. Feuerbach - Nietzsche Comte und Dostojewskij als Prophet. Aus dem Französischen. Salzburg 1950, S. 187. ι « Ebd., S. 191. •46 Ebd.

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II. Politik im Spannungsfeld von Religionsbejahung und Christentumsfeindschaft „Ist ein Zerfall der Autorität zu konstatieren, wie Comte zugeben muß, so soll er doch gleich wieder rückgängig gemacht werden durch deren erneute Inthronisation. Reumütig kehren die temporären Vatermörder zurück, unterwerfen sich, in noch verzweifelterem Masochismus, von neuem der Autorität, der sie, wenngleich zwiespältigen Sinnes, entronnen sich wähnten" 147 .

Hinter den Aporien der Comteschen Kirchenkonstruktion verbirgt sich für viele Autoren auch die unabwendbare Erkenntnis, daß sich keine Sozietät ohne den Rekurs auf die Religion auf Dauer stellen läßt. Er habe uns diesen kaum zu leugnenden Tatbestand mit aller Deutlichkeit ins Bewußtsein gehoben. Diese Auffassung wird nicht zuletzt von dem Jesuiten Hermann Gruber geteilt. „Eine wichtige Wahrheit hat die Comte'sche Menschheitskirche ins Licht gestellt, nämlich die Unmöglichkeit, eine Lehrgewalt, welche allerdings für das Bestehen und clie Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft von höchster Bedeutung ist, auf rein menschliche Grundlagen zu gründen" 148 . In ähnlicher Weise attestiert Henri de Lubac Comte, die metaphysischen Bedürfnisse des Menschen ernst genommen zu haben. Allerdings versuche er, dem Posi :ivismus mit höchst unzulänglichen Mitteln zu entfliehen. Statt sein religiöses Gebäude auf ein christliches Fundament zu setzen, stelle er es auf den Boden einer durch und durch irdischen Gesellschafts- und Weltinterpretation. „Der Positivismus legt in seiner Art ... Zeugnis ab für eine Berufung, die der Mensch nicht in sich zu ersticken vermag. Der geistige Lebensweg ... Comtes ist der der Menschheit. Der verlorene Glaube kann nicht lange ohne Ersatz bleiben. Und so nimmt die Lehre, die die gesamte religiöse Vergangenheit im Namen der Wissenschaft liquidierte, selbst mehr und mehr religiöse Züge an, und die Religion des ,Großen Wesens', in der sie gipfelt, erlaubt einigen Seelen, die Wüste der Epoche, die die Wissenschaft zu ihrem Götzen gemacht hat, zu durchqueren, indem sie über ihren Durst hinwegtäuscht. Dem Selbstbetrug ist indes eine Grenze gesetzt. Die Lebenskraft einer Religion ohne Transzendenz, einer Mystik ohne Übernatur wird bald erschöpft sein" 149 . Genauso kritisch urteilt Otwin Massing: „Als sei die Ewigkeitshoffnung nicht zu ersticken, kann auch der diesseitige Comte nicht auf den jenseitigen Trost verzichten; unausrottbar, sucht sich die Hoffnung den seltsamsten Ausweg ... Die entzauberte Welt bedarf des neuen Zaubers, ohne den nicht zu leben ist, sei es nun Mythos, Religion oder bloßes Ritual" 1 5 0 . In einem äußerst schwierig zu definierenden Bereich zwischen Religion und Politik siedeln sich auch alle diejenigen an, die einer irdischen Heilserwartung d;is 147

Otwin Massing, Fortschritt und Gegenrevolution. Die Gesellschaftslehre Comtes in ihrer sozialen Funktion. Stuttgart 1966, S. 170. 148 Hermann Gruber S. J., Der Positivismus vom Tode Auguste Comte's bis auf unsere Tage (1857 - 1891). Freiburg im Breisgau 1891, S. 103. 149 Henri de Lubac, Die Tragödie des Humanismus ohne Gott, S. 215. 150 Otwin Massing, Fortschritt und Gegenrevolution, S. 169.

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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Wort reden. Sie streben das Ziel an, auf der Erde paradiesische Zustände zu schaffen, und verschreiben sich im Sinne von Eric Voegelin einer „immanentistischen Eschatologie"151. Die millenarisch ausgerichteten totalitären Bewegungen unserer Zeit sind darauf aus, in ihrem quasireligiösen Eifer den Menschen zu erlösen. Dabei gewinnt ihre innerweltliche Religion ihre Bedeutungsmaßstäbe keineswegs durch einen Rekurs auf die christliche Botschaft, ihr geht es vielmehr darum, trotz ihrer an der sakralen Begriffswelt orientierten Terminologie einer höchst irdischen Soteriologie das Wort zu reden. „Der »Auftrag Gottes' ist synonym mit innerweltlichen Formeln wie ,Auftrag der Geschichte', ,geschichtliche Sendung', ,Befehl des Blutes'" 1 5 2 . Dabei sind Bolschewismus und Nationalsozialismus in gleicher Weise pseudoreligiös ausgerichtet. Was den sowjetischen Kommunismus anlangt, so war es insbesondere Waldemar Gurian, der auf die chiliastischen Bestimmungsmerkmale seiner Politik hingewiesen hat. „Es kommt darauf an, den grundsätzlichen Charakter des Bolschewismus als einer neuen Religion zu erkennen, die mit der modernen Wendung der Politik und Wirtschaft als den Mächten, die dem Leben Sinn verleihen, Ernst macht, und diese Wendung mit ethischen Forderungen und Zukunftsversprechungen verbindet" 153 .

Nicht nur das ideologische System des sowjetischen Kommunismus verdankt sich der Anstrengung, Endzeiterwartung und Staatspraxis miteinander zu verbinden, auch der Nationalsozialismus war darauf aus, die Politikszene des 20. Jahrhunderts mit eschatologisch bestimmten Regierungsmaßnahmen zu gestalten. Seine Führer haben mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, in wie starkem Maße ihre Politikintentionen aus quasi-religiösen Quellen stammen. So schreibt Alfred Rosenbeg: „Es beginnt heute mitten im Zusammenbruch einer ganzen Welt eine neue Epoche ... Als eines der Vorzeichen dieses kommenden Kampfes um eine neue Weltgestaltung steht die Erkenntnis vom Wesen des Dämons unseres heutigen Verfalls. Dann wird der Weg frei für eine neue Zeit" 1 5 4 .

Dabei sind es hauptsächlich die Juden, denen der Niedergang der Welt zur Last gelegt wird. Adolf Hitler schreibt dazu: „Somit geht er (d. h. der Jude, J. Β. M.) seinen verhängnisvollen Weg weiter, solange, bis ihm eine andere Kraft entgegentritt und in gewaltigem Ringen den Himmelsstürmer wieder zum Luzifer zurückwirft" 155 . 151 Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft von der Politik. Aus dem Amerikanischen. München 1959, S. 176. 152 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, S. 49. 153 Waldemar Gurian, Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre. Freiburg im Breisgau 1931, S. 191. 154 Alfred Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik. München 1933, S. 133.

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Jegliche Reflexion über die antikirchlichen und atheistischen Staatsentwürfe hat auch diejenigen Autoren zu berücksichtigen, die einer areligiösen Politikgestaltung vorwerfen, das politische Gemeinwesen zu destabilisieren. Richtet man sein Interesse Montesquieu zufolge auf diejenigen Wirkkräfte, die allein ein menschliches und freiheitliches Leben verbürgen, so wird man zu der Feststellung gelangen müssen, daß eine atheistische Ordnung dem Bösen Tür und Tor öffne. Allein eine Politik, die in ein bindende Kraft besitzendes religiöses Denksystem eingefügt ist, verhindert die Auswüchse der staatlichen Herrschaftsgestaltung, schont die Bürger vor repressiven Übergriffen der Politik. „Ein Fürst, der gar keine Religion hat, ist jenes schreckliche Ungeheuer, das seine Freiheit nur fühlt, wenn es zerreißt und verschlingt" 156 . Aus diesem Grunde muß alles daran gesetzt werden den „Greueln des Atheismus" 157 zu wehren, dafür zu sorgen, daß der Staat nicht dem Ansturm der Gottlosen zum Opfer fällt. Dabei läßt Montesquieu auch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß nicht jede Religion eine unterdrückungsfreie Politik verbürgt. „Zum Christentum paßt eine gemäßigte, zum Islam eine despotische Regierung" 1 5 8 . Im Gegensatz zur mohammedanischen Religion ist der Geist des Christentums auf eine Politikgestaltung ausgerichtet, die die staatliche Repression weitgehend inhibiert. „Die christliche Religion steht dem reinen Despotismus fern. Denn da die Sanftmut im Evangelium empfohlen ist, so widerspricht sie dem despotischen Zorn, mit dem der Fürst sich Recht verschaffen und seine Grausamkeiten ausführen würde" 159 . Montesquieu zufolge verdanken wir dem Christentum „ein sicheres bürgerliches Recht, im Kriege ein sicheres Völkerrecht" 160 . Die Auffassung, daß ein atheistisches Gemeinwesen kaum in der Lage ist, für das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen, wurde schon von Voltaire vertreten. Ausgerechnet dieser unnachsichtige und wohl auch ungerechte Kritiker der Kirche hielt dafür, daß ein antireligiöser Staat unabsehbare Gefahren für seine Mitglieder in sich birgt. So unausgemacht es für Voltaire ist, ob gottesgläubige Bürger immer in der Lage sind, eine gemeinwohlorientierte Politik zu kreieren, so sinnlos und falsch erscheint ihm die Idee, allein eine atheistische Regierung verbürge deren Freiheit und Wohlergehen. Hinter ihren Gesetzen verbirgt sich ihm zufolge eme 155 Adolf Hitler, Mein Kampf. 220/224. Auflage. München 1936, S. 751. Vgl. dazu François Bédarida, Kérygme nazi et religion séculière, in: Esprit Nr. 218. Januar /Februar 1996. 156 Montesquieu, Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. von E. Meyer. Stuttgart o. J., S. 247. 15V Ebd. 158 Ebd. 159 E b d .

160 Ebd., S. 248. Man wird allerdings kaum behaupten können, daß Montesquieu gegenüber der Katholischen Kirche allzu freundlich eingestellt ist. In seinen „Persischen Briefen" befleißigt er sich eines Tones, den man durchaus als despektierlich bezeichnen kann. So schreibt er: „Der Papst ist das Oberhaupt der Christen. Er ist ein alter Götze, dem man aus Gewohnheit Weihrauch streut. Ehemals war er selbst den Fürsten furchtbar; denn er setzte sie so leicht ab, wie unsere großmächtigen Sultane die Könige von Irimetta und Georgien absetzen. Aber jetzt fürchtet man sich nicht mehr vor ihm" (Montesquieus Persische Briefe. Aus dem Französischen. Berlin 1866, S. 56).

2. Atheistische und antikirchliche Staatsentwürfe

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Auffassung, die den Prinzipien einer vernünftigen Staatsführung diametral widerspricht. In der Vehemenz, in der er sich gegen Pierre Bayle 161 richtet, scheint seine Auffassung durch, daß Atheisten kaum in der Lage sind, der politischen Führung jene Loyalität zu zollen, die als sine qua non eines humanen Gemeinwesens zu gelten hat. Da der Atheist keinerlei ethische Instanz über sich anerkennt, ist er zu jeder Schandtat bereit. „Ich möchte nichts mit einem atheistischen Fürsten zu tun haben, dem daran gelegen sein könnte, mich in einem Mörser zerstampfen zu lassen. Ich bin sicher, daß ich zerstampft würde. Wenn ich Landesherr wäre, wollte ich nichts mit atheistischen Höflingen zu tun haben, denen daran gelegen sein könnte, mich zu vergiften: Ich müßte alle Tage auf gut Glück ein Gegengift nehmen" 162 .

Die Gefährlichkeit der Atheisten rührt vor allem daher, daß sie nicht zwischen guten und bösen Taten unterscheiden können. Sie suchen diese dichotomische Grenzziehung zu hintertreiben und reden in unverantwortlicher Weise einem ethischen Relativismus das Wort. Da sie die moralische Indifferenz dem herzhaften Rekurs auf ein für alle verbindliches Sittengesetz vorziehen, gerät jeder atheistische Staat in Gefahr, der Verantwortungslosigkeit anheimzufallen. „Die Atheisten sind meistens kühne Gelehrte, aber sie sind vom rechten Weg abgekommen, ziehen falsche Schlüsse, nehmen ihre Zuflucht zur Hypothese der Ewigkeit der Welt und der Notwendigkeit, weil sie Probleme wie die Schöpfung, den Ursprung des Bösen und andere Schwierigkeiten nicht bewältigen können" 163 .

Um zu gewährleisten, daß im Staate gute Taten belohnt und böse bestraft werden, ist also die Annahme einer göttlichen Richtinstanz von dringendem politischen Interesse. Auf diese Weise wird an die Stelle des atheistischen Relativismus die Überzeugung gesetzt, derzufolge jegliches Vergehen gegen das Gemeinwohl sittenwidrig ist und eine von einem übermenschlichen Wesen befohlene gerechte Strafe verdient. Will man sich nicht in die Gefahr der staatlichen Auflösung und der individuellen Willkür begeben, muß dem Atheismus der unnachsichtige Kampf angesagt werden. „Es ist also für die Fürsten und die Völker unbedingt nötig, daß die Idee eines schöpferischen, lenkenden, belohnenden und rächenden höchsten Wesens sich dem Gehirn tief eingeprägt hat" 1 6 4 . Voltaire hält sogar dafür, „daß für eine gesittete Gemeinschaft selbst eine schlechte Religion sehr viel nützlicher ist als gar keine" 165 .

161

Vgl. dazu Pierre Bayle , Pensées diverses sur la comète. Tome II. Edité par A. Prat. Paris 1939, S. 103 und passim . 162 Voltaire, Atheismus. Aus dem Philosophischen Wörterbuch, hrsg. von Karlheinz Stierle. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1967, S. 47. •63 Ebd. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 46.

III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum Das Verhältnis zwischen dem Christentum einerseits und der Aufklärung und dem Liberalismus andererseits gehorcht keiner eindimensionalen Dynamik, läßt sich kaum auf das Prokrustesbett einfacher Alternativen legen. Zwischen den beiden weltanschaulichen Lagern bestehen sowohl gravierende Differenzen als ai.ch mitunter verblüffende Übereinstimmungen. Ihre tiefenscharfe Analyse setzt also ein klares Bewußtsein ihres äußerst intrikaten Wechselspiels voraus. Sowohl diejenigen, die sich darin gefallen, als aufklärerische Liberale das Schreckbild des Christentums zu zeichnen als auch diejenigen, die die Denkhaltung der Moderne als Generalangriff auf christliche Grundüberzeugungen aufzufassen, sind sich der Simplizität ihres Standpunktes zu wenig bewußt.

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung im Widerstreit von christlicher Heilserwartung und antireligiösem Impetus Für die einen atmet die progressive Botschaft der Aufklärung eindeutig den Geist des Christentums, andere wiederum sind der Ansicht, daß diese auf einen ganz und gar antireligiösen Ton gestimmt ist. Ihr radikal antichristlicher Gestus lasse keinen Zweifel darüber aufkommen, in wie starkem Maße sie den Grundlehren dieser Religion widerspricht. Sie sei keineswegs zufällig zum Hoffnungsstandort all derjenigen geworden, die die christliche Lehre weit hinter sich gelassen haben und auf ihre glücksverheißende rationale und sensualistische Doktrin setzen Diese oft mit provozierender Entschiedenheit vorgetragene Denkposition muß um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen genau auf ihre Validität überprüft werden. Sie läßt sich zunächst mit dem Hinweis relativieren, daß insbesondere die französische Aufklärung weitaus stärker antichristlich ausgerichtet war als beispielsweise die englische. Einige Autoren gehen sogar so weit, ihre britische Aasprägung dem Denkgebäude des Christentums einzufügen. So bezeichnet sie Kaspar von Greyerz als „eine im wesentlichen christliche Bewegung"1. Was die deutsche Aufklärung anlangt, so ist auch sie eindeutig weniger christentumsfeindlich als die französische 2. In diesem Zusammenhang muß vor allem ;iuf 1 Kaspar von Greyerz, Wider religiösen Enthusiasmus. Säkularisierung im frühneuzeitlichen England, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 203, 2. September 1994. 2 Vgl. dazu Gottfried Hornig, Religion, in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Buropa, hrsg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 348; Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg / München 1974.

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung

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Kant verwiesen werden, der einer Verbindung von Aufklärung und Gottesglauben das Wort sprach. Seiner Ansicht nach ist es die Aufgabe eines geglückten Religionsunterrichtes, den Kindern die Allmacht und die Güte Gottes zu vermitteln 3. Dabei sei vor allem von der Schönheit seiner Schöpfung auszugehen, die sich durch ihre Harmonie und ihre Ordnung auszeichne. Kants Hoffnung bestand darin, die Kinder würden auf diese Weise eine Gottesvorstellung ausbilden, die sich durch Ehrfurcht und Liebe auszeichnet4. In wie starkem Maße dagegen die französische Aufklärung auf einen radikal atheistischen Ton gestimmt war, beweist nicht zuletzt der anonym erschienene „Traité des trois imposteurs". Dieses Trio, das aus Moses, Christus und Mohammed besteht, sei darauf aus gewesen, die Existenzängste der Menschen in der schamlosesten Weise auszubeuten. Dabei hätten alle drei ihre irrationale Religion an die Stelle der Vernunft gesetzt, die Menschen verdummt. „Wäre das Volk imstande zu begreifen, in welchen Abgrund die Unwissenheit es stürzt, würde es das Joch seiner nichtswürdigen Führer abschütteln, da die Vernunft, wenn man ihren Gebrauch zuläßt, unvermeidlich die Wahrheit aufdeckt. Diese Betrüger hatten dafür ein so gutes Gespür, daß sie, um die unausweichlichen nützlichen Wirkungen der Vernunft zu unterbinden, darauf verfielen, uns die Vernunft als eine Mißgeburt darzustellen, die uns keinen vernünftigen Gedanken eingeben kann. ... Wenn es aber zutrifft, daß die rechte Vernunft allein das Licht ist, dem der Mensch folgen soll, und wenn das Volk nicht so unfähig zu denken ist, wie man ihm einreden will, müssen diejenigen, die es belehren wollen, sich um die Korrektur der falschen Meinungen und die Beseitigung seiner Vorurteile kümmern. Dann wird man sehen, daß das Volk allmählich die Augen öffnet und zu der Überzeugung gelangt, daß die landläufigen Vorstellungen von Gott falsch sind" 5 .

Dabei trage insbesondere die christliche Religion alle Züge einer Weltanschauung, die auf die Stabilisierung despotischer Regime aus sei und das natürliche Freiheitsstreben der Menschen unterdrücke. Sie lasse Wertungsgrundsätze erkennen, die ihrem Emanzipationsstreben diametral entgegengesetzt sind. In ihr sei der repressive Gedanke dominant geworden, der Sinn für eine freie Gesellschaft und einen herrschaftsarmen Staat geschwunden. So schreibt Baron Thiry d'Holbach: 3 Immanuel Kant, Pädagogik, in: Kant's Werke. Band IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik. Berlin / Leipzig 1923, S. 496 ff.; vgl. dazu auch Kurt Rossmann, Über die Begrenzung von Glauben und Wissen in der Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants, in: Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie. Heidelberg 1948, S. 56 ff. 4

Vgl. dazu Rüdiger Steinlein, ,Aufgeklärte Gottesfurcht' - das Gott-Vater-Paradigma als religionspädagogisches und wirkungsästhetisches Prinzip erzählender Kinder- und Jugendliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 1 (1994), S. 7 ff. 5 Anonymus, Traktat über die drei Betrüger. Traité des trois imposteurs (1768). Aus dem Französischen, hrsg. von Winfried Schröder. Hamburg 1992, S. 7 f. Voll des Lobes über dieses Werk ist Condorcet. „Schon allein der Titel dieses Buches bezeugte, daß hier eine Ansicht vorlag, die das ganz natürliche Ergebnis einer Nachprüfung jener drei Glaubensrichtungen war" (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Aus dem Französischen, hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt am Main Ί963, S. 191).

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum „Les prêtres se sont montrés en tout temps les fauteurs du despotisme et les ennemis de la liberté publique; leur métier exige des esclaves avilis et soumis qui jamais n'aient l'audace de raisonner" 6.

Auf einen genuin antichristlichen Ton gestimmt ist nicht zuletzt auch der Geschichtsprogressismus der Aufklärer. Sie setzten ihre ganze Hoffnung darein, daß der kulturelle und historische Fortschritt die Menschheit zu den lichten Höhen einer Zukunft führt, in der sie der Religion nicht mehr bedürfen. Die Entgrenzung und Befriedigung der irdischen Bedürfnisse 7 führe notwendigerweise zu einem Absterben der religiösen. Dabei kommt dem in der christlichen Geschichtsphilosophie so bedeutenden Topos des Bösen in der Fortschrittslehre der Aufklärung nur eine dysfunktionale Bedeutung zu. Den Fluchtpunkt ihrer Denkanstrengung bildet der Versuch, die Kategorie der Sünde als Relikt einer geschichtlich überholten Zeit zu charakterisieren. Im modernen Zeitalter, in dem die schiere Vernunft waltet, sei es die Aufgabe der Menschen, das was früher als Sündhaftigkeit der Erdenbürger erkannt wurde, ein für allemal zu überwinden. Irene Collins hat darauf hingewiesen, daß diese Auffassung den Grundlehren des Christentums diametral widerspricht. „The belief that man is born good ... is ... contrary to the Church's teaching on Original Sin, on salvation through Christ, and the sovereignty of God over earth and heaven"}!.

Ähnlich argumentiert Crane Brinton. „Dieser Glaube an die natürliche Güte des Menschen vor allem ist das, was für den überlieferungsgetreuen Christen der Grundirrtum der Aufklärung ist. Seine logische Folgerung ist der Anarchismus, das Bestreben, alle äußeren Beschränkungen, denen das natürliche Handeln unterliegt, aufzuheben" 9.

Die Spannung zwischen dem christlichen Glauben und dem Fortschrittspaihos der Aufklärung hat nicht zuletzt auch Nikolaus Lobkowicz in ein erhellendes Licht gerückt. Seiner Auffassung zufolge ist der Christ keineswegs willens, die Geschichte seines Glaubens als inferiore Vorstufe zum lichten Zeitalter der Aufklä6 Baron Thiry d'Holbach, Le bon sens ou idées naturelles opposées aux idées surnaturelles (1772). Paris 1971, S. 159. 7 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus. Stuttgart 1971, S. 13 ff. Dabei wäre es falsch, wenn man der gesamten Aufklärung eine uneingeschränkte Fortschrittsgläubigkeit imputierte. So gehört Voltaire sicherlich nicht zu denjenigen, die Geschichtsprogressismus die Lösung aller Probleme zutraute. So schreibt Friedrich Meinecke: „Zum vollen Optimismus und Zukunftsglauben der späteren Aufklärer war Voltaire schon deswegen nicht imstande, weil in ihm das Erbe des 17. Jahrhunderts, der nüchterne Wirklichkeitssinn, noch zu mächtig nachwirkte" (Die Entstehung des Historismus. Zweite Auflage. München 1946, S. 99). Letzten Endes habe er nie einem progressus in infinitum das Wort geredet (ebd.). Vgl. dazu auch Bernhard Irrgang, Skepsis in der Aufklärung. Frankfurt am Main 1982. 8

Irene Collins, Liberalism in Nineteenth-Century Europe. London 1971, S. 15. Crane Brinton, Ideen und Menschen. Geschichte der abendländischen Weltanschauungen. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1954, S. 356. 9

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung

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rung aufzufassen. Wenn ihre Anwälte behaupten, daß die Menschen insbesondere im Mittelalter im Dickicht ihrer Vorurteile und abergläubischen Überzeugungen umherirrten, wird der christlich gesinnte Mensch darauf verweisen, daß diese Epoche eine vorurteilsfreiere Bewertung verdient hätte. „Er kann sich nicht, ohne sich selbst aufzugeben, zu einem Fortschritt bekennen, der sein Credo zu einer höheren Vorstufe von etwas Höherem degradieren" 10 würde. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die Aufklärung in den vormodernen Epochen nur inferiore Zeitalter erblickt hat, dann genügt ein Blick in die Schriften Condorcets. Dieser einflußreiche Geschichtsphilosoph läßt auch nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen, daß sich für ihn das Mittelalter zum Befund einer geistfeindlichen und menschenunwürdigen Zeit verfestigt. In dieser Zeit hätten insbesondere die Priester in kaum verhüllter Absicht danach gestrebt, einen äußerst illegitimen Einfluß auf die Seelen und Körper der Menschen zu gewinnen. „Mönche, die bald Wunder erfanden, die früher geschehen sein sollten, bald neue fabrizierten, die das in seineTUnwissenheit stumpfe Volk mit Märchen und Ungeheuerlichkeiten abspeisten ... , Kirchenlehrer, die all ihre Phantasie aufboten, um ihren Glauben mit irgendwelchem neuen Unsinn noch zu übertrumpfen ... das sind in dieser Epoche die einzigen Züge, welche die Sitten Westeuropas zum damaligen Bilde der Menschheit beizusteuern vermögen" 1

Wie Condorcet, so ist auch Emmanuel Joseph Sieyès der Auffassung, daß sich der Geist der progressistischen Aufklärung kaum mit demjenigen des christlichen Mittelalters vereinbaren lasse. Seine antifortschrittlichen Koordinaten stehen ihm zufolge in einem unaufhebbaren Gegensatz zur fortschrittsorientierten Neuzeit. Scharf wendet er sich gegen die Auffassung, daß diese Epoche auch positiv zu Buche schlagende Bestimmungsmomente aufweise. „Es gibt genug Leute, die glauben, daß man Gesetze für zivilisierte Menschen im finsteren Mittelalter suchen müsse. Wir werden uns nicht in der ungewissen Suche nach altvaterischen Einrichtungen und Irrtümern verlieren" 12 .

Diese Zeit der illegitimen Autoritäten sei weit davon entfernt, der Moderne als kulturelles und politisches Vorbild zu dienen. „In der langen Nacht des finsteren Mittelalters ist es möglich gewesen, die wahren Beziehungen der Menschen untereinander zu zerstören, alle Begriffe zu verkehren und jede 10

Nikolaus Lobkowicz, Ist der Christ verpflichtet, konservativ zu sein? In: Die Kirche des Westens und der geistige Auftrag Europas, in: Dokumentation VI. Studienzentrum Weikersheim. Stuttgart 1981, S. 84; vgl. dazu auch Hans Graf Huyn, Ihr werdet sein wie Gott. Der Irrtum des modernen Menschen von der Französischen Revolution bis heute, München 1988, S. 67 ff. und passim. 11 Condorcet, Entwurf zu einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Aus dem Französischen, hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt am Main 1993, S. 179. 12 Immanuel Joseph Sieyès, Überblick über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung standen, in: Politische Schriften 1788 - 1790, hrsg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt. Darmstadt / Neuwied 1975, S. 22. 4 J. B. Müller

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum Gerechtigkeit zu korrumpieren; aber beim Anbruch der Aufklärung müssen die mittelalterlichen Absonderlichkeiten sich auflösen, die Überreste der alten Grausamkeit in sich zusammenfallen und verschwinden" 13.

Das „alte Elend" 14 muß durch eine Epoche abgelöst werden, die radikal mit dem mittelalterlichen Ungeist gebrochen hat. Fassungslos stehen viele Aufklärer in ihrem progressistischen Erlösungseifer auch der Tatsache gegenüber, daß sich immer noch viele Menschen zum angeblich antiquierten Christentum bekennen. Ihre vom Fortschrittsgeist inspirierte Intoleranz weigert sich, diese Tatsache als legitime Gleichzeitigkeit des Nichtgleichze: tigen zu interpretieren. Wer sich Georg Forster zufolge heute noch zum Christentum bekenne, stellt seine kulturelle Rückständigkeit und seinen Widerwillen gegen die Idee des Fortschritts überhaupt unter Beweis. Sein überholtes Weltbild diene ihm zur nostalgischen Verklärung überholter Epochen und zur prinzipiellen Kampfansage an den Geist der fortschrittlichen Aufklärung. In einem Brief an seine Frau dokumentiert er seinen intoleranten Unmut über die am Christentum festhaltenden Mitbürger in besonders augenfälliger Weise: „Und dann sinds diese Menschen wieder, die noch glauben an Gott, Christentum, weise Lenkung des Schicksals der Menschheit haben wollen" 15 .

Sie maßen sich an, sich allen Anstrengungen zu widersetzen, mit den Relikten der alten Zeit endgültig aufzuräumen und das Tor in die beglückende Neuzeit aufzustoßen. Skeptisch stehen sie der Neuzeit gegenüber, widerstreben „allen Versuchen der Vernunft, das Joch des Vorurteils abzuschütteln"16. Auch Lord Macaulay mag sich nicht mit der Tatsache abfinden, daß der Geist des Christentums noch nicht das Zeitliche gesegnet hat. Vor allem die Katholische Kirche stelle ihre erstaunliche Lebenskraft unter Beweis. Dabei habe diese sich der Neuzeit besonders hartnäckig widersetzende Institution recht eigentlich jegliches Daseinsrecht verloren. Wie in einem Brennglas bündele sich in ihr der despotische Geist endlich überwundener Zeiten. Was sich bei ihr als Sorge um den Menschen ausgebe, erscheint bei diesem einflußreichen whiggistischen Historiker 17 als ein ausgeklügeltes System von Unterdrückung und geistiger Verblendung. Dabei bestehe leider keine allzu große Hoffnung, sich dieses historischen Relikts in absehbarer Zeit entledigen zu können. 13

Immanuel Joseph Sieyès , Was ist der Dritte Stand, in: Politische Schriften, S. 150. 14 Ebd. 15 Brief Georg Forsters an seine Frau vom 28. Januar 1793, in: Georg Forsters sämtliche Schriften, hrsg. von dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster's von G. G. Gervinus. Achter Band: Briefwechsel. Leipzig 1843, S. 317. 16 Ebd.

ι 7 Vgl. dazu G. P. Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1964, S. 315 ff. und passim; Owen Chadwick, The Secularization of the European Mind in the 19th Century. Cambridge 1993, S. 209.

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung

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„We cannot... feel confident that the progress of knowledge will necessarily be fatal to a system which has, to say the least, stood its ground in spite of the immense progress made by the human race in knowledge since the days of Queen Elizabeth" 18 . Nicht nur die Bewertung der Vergangenheit trennt den Christen vom Aufklärer. Auch in der Beurteilung der menschlichen Zukunft unterscheiden sie sich grundlegend. So war es ein höchst irdisches Paradies, das die Aufklärung den Menschen versprach. Es weist mit dem christlichen ziemlich wenig Gemeinsamkeiten auf. Während die religiöse Jenseitsvorstellung von den Parteigängern der Aufklärung rigoros abgelehnt wurde, sprachen sie sich für eine Vervollkommnung des Menschen aus, die ausschließlich im irdischen Bereich ihrer Verwirklichung entgegenharrt. Carl L. Becker hat diese in Rede stehende Differenz besonders augenfällig in den Blick gehoben: „Der neue Himmel mußte irgendwo innerhalb der Grenzen des irdischen Lebens zu finden sein, denn es war ein Artikel des philosophischen Glaubensbekenntnisses, daß das Ende des Lebens das Leben selber war, und zwar das vervollkommnete Leben der Menschen"19. Dabei ist es sinnlos, bei der Verwirklichung des irdischen Paradieses auf die Hilfe Gottes zu vertrauen. Die Menschen haben diese Aufgabe in die eigene Hand zu nehmen. „Wenn aber das himmlische Reich abgebaut werden sollte, um auf dieser Welt neu aufgestellt zu werden, dann mußte wohl die Erlösung der Menschheit nicht durch irgendein außer der Welt befindliches, wundertätiges oder katastrophenartiges Agens ... kommen, sondern durch den Menschen selbst, und zwar durch die fortschreitende Verbesserung des Lebens auf Grund der Bemühungen der aufeinanderfolgenden Geschlechter der Menschen"20. Daß die Menschheit einem wahrhaft paradiesischen Zustand entgegenstrebt, dieser Auffassung hat sich nicht zuletzt Joseph Priestley 21 verschrieben. Er schreibt: „Thus whatever was the beginning of this world, the end will be glorious and paradisical beyond what our imaginations can now conceive"22. 18 Lord Macaulay, Historical Essays. London 1936, S. 477. Auch Thomas Jefferson gibt sich als dem Geist des Progressismus verpflichteter Antikatholik zu erkennen. „ I dislike ... the restauration; because it marks a retrograde step from light toward darkness. We shall have our follies without doubt... But ours will be the follies of enthusiasm, not of bigotry, not of Jesuitism. Bigotry is the disease of ignorance, of morbid minds" (Thomas Jefferson to John Adams, in: The Adams-Jefferson Letters, ed. by Lester J. Cappon. Vol. II. Chapel Hill 1959, S. 484). 19 Carl L. Becker, Der Gottesstaat der Philosophen. Aus dem Amerikanischen. Würzburg 1946, S. 87. 20 Ebd. 21 Joseph Priestley, don 1771. 22 Ebd., S. 9.

4*

An Essay on the First Principles of Government. Second Edition. Lon-

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Dieser glücksverheißende Endzustand zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß aus den egoistischen Menschen Bürger werden, die nur noch das Wohl der anderen im Auge haben. „Men will make their situation in this world abundantly more easy and comfortable; they will probably prolong their existence in it, and will grow daily more happy, each in himself, and more able ... to communicate happiness to others" 23 .

Dabei wurde nicht zuletzt auch die christliche Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tode von der Aufklärung in einem höchst irdischen Bedeutungshorizonte interpretiert. Ihre Perspektive ist auf jene Form der Unsterblichkeit gerichtet, die sich im Andenken der Lebenden an die Toten manifestiert. Sie setzt ihre ganze Hoffnung darein, daß die Menschen „im Andenken der künftigen Geschlechter weiterleben ... können" 24 . Allerdings kann nur derjenigen gedacht werden, die einen entsprechenden Nachweis an humaner und revolutionärer Einstellung liefern können. So schreibt Martin Papenheim: „Die Elogen ab 1789 betonen, daß sie die Unsterblichkeit setzend schaffen. Diese Setzung versteht sich als exklusiv und nicht überholbar. Nur wer dem Urteil der revolutionären Gemeinschaft standhält, wird unsterblich. Die Elogen auf die Märtyrer der Revolution 1793 betonen, daß die Nachwelt sich auf das Urteil der versammelten memorierenden Gemeinschaft verlassen kann, da diese von ihresgleichen beurteilt worden seien" 25 .

Bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Aufklärung und Christentum dürfen allerdings nicht nur die weltanschaulichen Differenzen in den Blick genickt werden. Es muß auch danach gefragt werden, ob es nicht auch Übereinstimmungen und Interferenzen zwischen den beiden Denklagern gibt. Was insbesondere die progressistische Geschichtsinterpretation der Aufklärung anlangt, so haben bedeutende Gelehrte darauf aufmerksam gemacht, daß sich diese recht eigentlich dem Christentum verdankt. Nicht zuletzt der analytische Blick Karl Löwiths hat diesen keineswegs unwichtigen Tatbestand aufgedeckt. Er hat uns darüber belehrt, daß vom historischen Fortschritt erstmals im Christentum die Rede ist. Dabei sei der Antike diese Notion völlig fremd gewesen. Wenn die klassischen Schriftsteller den Verfall von Athen und Rom schildern, so „findet sich ... keine ... Verzweiflung und Zuversicht" 26 . Im Gegensatz dazu kenne das Christentum einen eindeutigen historischen Fortschritt, nämlich denjenigen vom Alten zum Neuen Testament27. 23 Ebd. Vgl. dazu auch Lord Macaulay, „First come hints, then fragments of systems, then defective systems, then complete and harmonous systems" (Historical Essays, S. 287). 24 Carl L. Becker, Der Gottesstaat der Philosophen, S. 87. 25 Martin Papenheim, Die Dialektik der Unsterblichkeit im Frankreich des 18. Jahnunderts, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 72 (1988), S. 41. 26 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Aus dem Englischen. Fünfte Auflage. Stuttgart u. a. 1953, S. 62. 27 Ebd. Gegen diese Auffassung wendet sich Hans Blumenberg. Seiner Meinung nach bestehen „zwischen Eschatologie und Fortschrittsidee ... entscheidende, die Umsetzung t lok-

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A u f diese Weise kommt die Fortschrittsidee in die abendländische Geschichtsbetrachtung. „Wie das Alte Testament für die Kirchenväter eine praeparatio evangelica und ein Versprechen der Zukunft war, das sich erst in einem Neuen Testament erfüllt hat, so wird nun überhaupt die Ausdeutung der Vergangenheit zu einer rückwärts gewandten prophétie: man versteht das Vergangene als eine sinnvolle Vorbereitung der Zukunft" 28 . Auch wenn der heutige Fortschrittsoptimismus nichts mehr von seinem Ursprung weiß, so verdankt er sich doch entscheidend der christlichen Geschichtsinterpretation. „Die christliche Zuversicht auf eine künftige Erfüllung ist zwar dem modernen Geschichtsbewußtsein abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Erfüllung ist herrschend geblieben"29. Wie Karl Löwith, so ist auch J. B. Bury der Auffassung, daß das Christentum zum ersten M a l alle historischen Ereignisse auf einen heilsbringenden Endpunkt ausgerichtet hat. Im christlichen Denken werde den historischen Ereignissen ein Sinn unterlegt, dem eindeutig eine progressistisch zu definierende Zielvorstellung eignet. „Christian theology constructed a synthesis which for the first time attempted to give a definite meaning to the whole course of human events, a synthesis which represents the past as leading up to a definite and desirable goal in the future" 30 . Dabei ist es nicht nur die allgemeine Idee des Fortschrittes, die sich einer christlichen Herkunft verdankt. Charles Norris Cochrane zufolge wurzelt auch die immanentistische Eschatologie in einem christlichen Nährboden. „As originally put forward in the apocalyptic literature, it took shape as the vision of a millenium" 31 . Offensichtlich war es die Besinnung auf den christlichen Ursprung des Fortschrittsgedankens, daß sich nicht alle Autoren der Aufklärung bereit fanden, frühere Zeitalter in Bausch und Bogen zu verdammen. So wird das Mittelalter in ihrer kierende Differenzen, die das Kriterium der Identifizierbarkeit des theologischen Moments in der Geschichtsidee problematisch machen" (Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 1966, S. 23). Der formale Unterschied liege darin, „daß die Eschatologie von einem in die Geschichte einbrechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur auf die Zukunft extrapoliert" (ebd.). 28 Karl Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, in: die Idee des Fortschritts, hrsg. von Erich Burck. München 1963, S. 23. 29 Ebd. 30

J. B. Bury, The Idea of Progress. New York 1955, S. 22. Diese Auffassung wird auch von Charles Norris Cochrane geteilt. Vgl. dazu seine Abhandlung: Christianity and Classical Culture. New York 1957, S. 243. 31 Charles Norris Cochrane, Christianity and Classical Culture. New York 1957, S. 243.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Literatur keineswegs durchgehend denunziert, ihm jegliche Legitimität und Würde abgesprochen. Zu den bedeutendsten Ausnahmen gehört ohne Zweifel Turgot. Seine progressistische Geschichtslehre schließt die Auffassung ein, daß sich der historische Fortschritt in entscheidendem Maße den kulturellen Leistungen des Christentums verdankt. Zu seinen bedeutendsten Errungenschaften gehöre zweifellos die Kampfansage an jegliche Form des Aberglaubens. „Welch seltsames Bild bietet die Welt vor der Entstehung des Christentums! Alle Nationen waren in die tollsten Arten von Aberglauben versenkt, die Kunstwerke, die niedrigsten Tiere, selbst die Leidenschaft und Laster wurden vergöttert" 32.

Darüber hinaus sieht Turgot die christliche Brüderlichkeitsethik als eine moralische Lehre an, die eine tiefe Wesens Verwandtschaft mit dem aufklärerischen Menschheitsideal besitzt. Trotz gelegentlich gegenläufiger Ansätze bleibe sie einer Blickrichtung verpflichtet, die eindeutig progressistischen Charakter aufweise. Was ihr ihr Signum gibt, sei mit den Kategorien einer radikal antichristlichen Geschichtsinterpretation kaum aufzuschließen. „Diese Religion, deren erster Schritt darin bestand, die Schranken umzustürzen, die die Juden von den Heiden trennten, diese Religion, die die Menschen lehrte, daß sie alle Brüder sind, Kinder desselben Gottes, daß sie nur eine große Familie bilden, unter einem gemeinsamen Vater und die in diese erhabene Idee die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen und - in diese beiden Lieben - alle Pflichten eingeschlossen hat" 33 .

Entledigt man sich aller Vorurteile, wird man Turgot zufolge zu der Feststell ung gelangen müssen, daß das Christentum zum ersten Mal in der Geschichte den Mühseligen und Beladenen entscheidende Hilfe zuteil werden ließ. Allein sein Geist habe es vermocht, karitative Wohltaten im großen Maßstab zu praktizieren. Auf diese Weise habe diese Religion sogar „größere Wohltaten verbreitet als es die Güte jener... vermocht hätte, die von ihrem Licht ausgeschlossen waren" 34 . Von Turgot wird nicht nur der Anteil des Christentums am humanen Fortschritt der Menschheit ins rechte Licht gerückt. In seiner Geschichtslehre wird auch se ner Philosophie Reverenz erwiesen. Insbesondere die Scholastik wird von ihm in e.ner Weise interpretiert, die man kaum als antichristlich bezeichnen kann. Turgot zufolge verdanken wir ihren Theologen „in gewisser Weise den Fortschritt der philosophischen Wissenschaften" 35.

32

Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. von Johannes Rohbeck/ Lieselotte Steinbrügge. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1990, S. 119. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 126. Wenn die „Großherzigkeit, die Tugenden und die sanften Gefühle sich immer mehr ausbreiten und die Herrschaft der Rache und des Nationalhasses verdrängen", so habe das Christentum einen entscheidenden Anteil an dieser begrüßenswerten Entwick ung (ebd., S. 177). 3 5 Ebd., S. 121.

1. Der Geschichtsoptimismus der Aufklärung

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Eine Interferenz zwischen christlichen Grundauffassungen und dem fortschrittlichen Geschichtsdenkens haben wir auch bei all denjenigen Denkern des deutschen Idealismus vor uns, die sich um eine religiöse Vertiefung des progressistischen Gedankens bemühen. Ihrer Auffassung nach offenbart sich Gott in den Anstrengungen des Menschen, sich eine vernünftige Welt einzurichten. Auf diese Weise erscheint die Geschichte als „Explikation des göttlichen Geistes im menschlichen Leben" 36 . Vor allem Schleiermacher war darum bemüht, den Geist der Aufklärung mit der christlichen Botschaft zu versöhnen 37. Dabei haben diese Autoren weniger die ökonomische und die technische Höherentwicklung der Menschheit im Blick als deren sittlich-moralische Vervollkommung. Wie immer man ihre Denkanstrengungen einschätzen mag, wie groß auch immer der Abstand zwischen ihrer hoffnungsfreudigen Zukunftsvision und der christlichen Erbsündenlehre auch sein mag, fest steht, daß sie meilenweit vom antichristlichen Fortschrittsgedanken entfernt sind. Letzten Endes wird man also davon auszugehen haben, daß eine Geschichtsphilosophie, die auf die sittliche Höherentwicklung der Menschheit hofft, keineswegs zur Gänze der Lehre des Christentums widersprechen kann. Nach Nikolaus Lobkowicz offenbart sie sich als der Versuch, den Grundüberzeugungen dieser Religion zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Christ habe sich immer darüber bewußt zu sein, „daß ihm aus dem Progressismus ... genuin christliche Anliegen entgegentreten können, die er selbst und vielleicht auch seine Kirche übersehen, vergessen oder verdrängt haben" 38 . Nur ein manichäisches, dem Progressismus a priori feindlich gegenüberstehendes Denken könne leichtfertig über diese Tatsache hinwegsehen39. Wie wenig der christliche Glaube grundsätzlich dem Fortschrittsdenken entgegensteht, darauf hat auch der evangelische Theologe Hans Köhler hingewiesen. Allerdings werde der Christ dem Gedanken einer stetigen Höherentwicklung skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn sein Glaube keineswegs die Möglichkeit eines wirklichen Fortschritts in der Geschichte leugne, so weiß er doch auch, daß diese auch gegenläufige Epochen und Ereignisse kennt. „Der Fortschritt geht weder automatisch vor sich noch besteht die Geschichte nur aus einem Fortschritt. Jeder Fortschritt will in Glauben, Hoffnung und Liebe errungen werden. Aber der Glaube weiß auch, daß es Rückschritte geben kann, ja, daß oft dem Fortschritt auf der einen ein Rückschritt auf der anderen Seite entspricht. Er rühmt sich nicht des Fortschritts, sondern preist in Demut Gottes Gnade, die eine Verbesserung der Welt ermöglichte" 40. 36 Martin Redeker, Der moderne Fortschrittsglaube im Lichte christlicher Geschichtsdeutung, in: Die Idee des Fortschritts, S. 43. 37 Friedrich Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hrsg. von O. Braun. Leipzig 1927. 38 Nikolaus Lobkowicz, Ist der Christ verpflichtet, konservativ zu sein?, in: Die Krise des Westens und der geistige Auftrag Europas, S. 90 f. 3 * Ebd., S. 93. 40 Hans Köhler, Christliche Existenz in säkularer und totalitärer Welt, S. 160 f.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum Wie immer man das Verhältnis zwischen dem Liberalismus und dem Christentum auch bewerten mag, fest steht, daß dieses keineswegs ohne Spannungen und Idiosynkrasien ist. So viele Persönlichkeiten sich auch als Brückenbauer zwischen den beiden Lagern betätigt haben mögen, man wird kaum behaupten können, daß ihre Bemühungen immer von Erfolg gekrönt waren. Dabei verrät derjenige ein höchst borniertes Verständnis dieser iir> ikaten Problematik, dem vorschnelle und einseitige Schuldzuweisungen von den Lippen gehen. Die Abstinenz von einer eindimensionalen Schuldbilanz schließt jedoch keineswegs die Einsicht aus, daß das liberale Autonomiepathos immer in einem bestimmten Spannungsverhältnis zur christlichen Bestimmung von Person und Gesellschaft stehen wird. Auf diesen kaum aus der Welt zu schaffenden Grundgegensatz zwischen dem Liberalismus und dem Christentum hat eine Vielzahl von Autoren aufmerksam gemacht. So weist dem protestantischen Theologen Hans Heinrich Schmid zufolge die liberale Ideologie den Makel auf, den Autonomieansprüchen des Menschen eine zu große Bedeutung beizumessen und darüber die göttlichen Gebote in den Wind zu schlagen. Er schreibt: „Zur Kirche hat der Liberalismus seit jeher ein nicht ganz unbelastetes Verhältnis. Daß dem Selbstbewußtsein des Menschen in seiner Autonomie durch Gott Grenzen gesetzt werden könnten, war (und ist) ein nicht allen Liberalen lieber Gedanke. So war der Weg vom Liberalismus in den Säkularismus nie weit" 4 1 .

In wie starkem Maße viele Repräsentanten des Liberalismus ein handfestes Vorurteil gegenüber beiden christlichen Konfessionen hegen, darauf weist auch Carlton J. H. Hayes hin. Beide entpuppten sich bei näherem Hinsehen als ausgeklügelte Systeme der Freiheitsberaubung. Strukturiert vom alten Grundmuster des Patriarchalismus, weise das Christentum seit seinem Beginn die Tendenz auf, theokratische Regime zu errichten und allen Freiheitsbestrebungen der Bürger den Garaus zu machen. „To some, the churches, and especially the Catholic Church, loomed as an ,obscurant ist' and pecularly intransigent foe of individual liberty, and such liberals were impelled to move against the tyranny of ,priestcraft' and ,theocracy' as they had previously moved against divine-right monarchy, and at least to offer to the rising generation a secular schooling which would emancipate their minds" 42 .

41 Hans Heinrich Schmid, Kirchlicher und politischer Liberalismus, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 66, 20./21. März 1988. 42 Carlton J. H Hayes, A Generation of Materialism. 1871 - 1900. New York / Evanston / London 1963, S. 48. Vgl. dazu auch Oscar Stillich, „Von einer Strenggläubigkeit, wie wir sie bei den Konservativen finden, kann keine Rede sein. Der politische Liberalismus verträgt sich ... logisch nicht mit dem religiösen Konservatismus, d. h. mit der orthodoxen Kirchenlehre des Christentums" (Die politischen Parteien in Deutschland. Band II: Liberalismus. Leipzig 1911, S. 39).

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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Auf die weltanschaulichen Spannungen zwischen dem Liberalismus und dem Christentum wird nicht nur im 20., sondern auch im 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Auch in dieser Zeit weisen zahlreiche Autoren auf diesen kaum zu leugnenden Tatbestand hin. So hält Georg Fabri sogar dafür, daß die antichristliche Ausrichtung des liberalen Ordnungsgedankens die Tendenz zum Atheismus in sich berge. „Wo aber ist.. ein ... Princip der Bindung der inneren Selbstzucht, der höheren Autorität auf dem Boden des modernen Liberalismus zu finden? ... Ist diese Richtung nicht notwendig atheistisch? Dekretiert sie nicht Gott wie aus dem Gewissen, so aus der Geschichte und macht den Atheismus zur Voraussetzung und zur Grundlage des modernen Staates? Hat in diesem Sinne es nicht schon im Jahre 1830 klar und deutlich geheißen: ,L'etat est athée et doit l'être', d. h. Religion ist forthin lediglich Privatsache der Individuen, der Staat hat keinerlei Beziehungen mehr zu derselben" 43.

Dabei haben nicht zuletzt auch die Päpste immer wieder ihre Vorbehalte gegenüber dem Liberalismus zum Ausdruck gebracht. So hält es Pius IX. für eine ganz und gar illegitime Forderung, daß „der römische Papst... sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Bildung aussöhnen und verständigen" 44 kann und soll. Es war nicht zuletzt Papst Leo XIII., der die Vorbehalte der Katholischen Kirche gegenüber dem Liberalismus auf den Begriff gebracht hat. In seiner Enzyklika Liberias praestantissimum vom 20. Juni 1888 definierte er die Grenzen zwischen der katholischen Lehre und dem liberalen Credo. Ihm zufolge „leugnen die Anhänger des Liberalismus jede göttliche Gewalt, der wir im Leben zu gehorchen haben, indem sie behaupten, ein jeder sei sich selbst Gesetz"45. Die Liberalen verkündeten „eine unabhängige Moral, die unter dem Scheine der Freiheit den Willen von der Unterwerfung unter die göttlichen Gebote entbindet und eine grenzenlose Zügellosigkeit mit sich im Gefolge" 46 hat. Ehe man die liberalismusfeindlichen päpstlichen Enzykliken unter dem Rubrum einer durch und durch illegitimen Einstellung abbucht, muß erkannt sein, daß sie im Horizonte der Revolutionsereignisse in Frankreich formuliert wurden. Bevor man sich darin gefällt, in den gegen den Liberalismus gerichteten Rundschreiben das Schreckbild einer hoffnungslos veralteten und dogmatisch verhärteten Sichtweise zu zeichnen, muß der genuin christentumsfeindliche Geist von 1789 in den Blick genommen werden. Was Wunder, wenn sich Päpste in der Französischen Revolution eine Bedrohung der Kirche erblickten. Ihre Perspektive war eindeutig auf

43 Georg Fabri, Staat und Kirche. Betrachtungen zur Lage Deutschlands in der Gegenwart. Gotha 1872, S. 26. 44 Pius XI., Enzyklika Quanta cura. 8. Dezember 1864. Anhang Syllabus (Verzeichnis der hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit. Abgedruckt in: Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, hrsg. von Helmut Schnatz, Darmstadt 1973, S. 45. 45 Papst Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum, in: Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, S. 159. 4 Ebd.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

jene Politikgestaltung gerichtet, die derartige Ereignisse ausschließt. So schreibt Josef Isensee: „Die Ideen der Revolution, die politischen Bewegungen, die sie ausgelöst hatte, die Institutionen, die aus ihr hervorgegangen waren: all dies mußte als Gefahr für den katholischen Glauben und für den kirchlichen Gehorsam erscheinen" 47. Letzten Endes hätten die Anwälte der Französischen Revolution hartnäckig das Ziel verfolgt, „die katholische Religion zu vernichten" 48.

Bei der Diskussion über die Beziehung zwischen den christlichen Kirchen und dem Liberalismus muß auch bedacht werden, in wie starkem Maße dessen Entschlossenheit, unabänderliche Leitsätze zu verkünden, selber auf einen dogmatischen Ton gestimmt ist. In der Vehemenz, in der er sein Credo verkündet, steht er den Kirchen in keiner Weise nach. Es war nicht zuletzt der englische Tory Carthill, der auf die weltanschauliche Rigidität des Liberalismus hinwies. Er sei „tatsächlich eine Religion. Eine falsche vielleicht, und meines Erachtens wenigstens, eine mit Irrtümern stark durchsetzte. Doch aber eine Religion. Er muß daher mit Ehrfurcht genannt werden. Und er hat wirklich nur, weil er eine Religion war, geleistet, was er zuwege brachte" 49. Die Ähnlichkeit mit den etablierten Kirchen werde vor allem dann augenfällig, wenn man die Rolle der liberalen Intellektuellen in den Blick nimmt. Sie leisten letzten Endes dieselbe Arbeit, der sich auch die Theologen der Religionsgemeinschaften widmen. Ihre Hauptaufgabe sei es, über die Reinheit der liberalen Lehre zu wachen, sie vor systemwidrigen Einflüssen zu schützen. Aus diesem Grunde >ei die Behauptung keineswegs abwegig, daß auch der Liberalismus seine „Päpste, Priester und Gesetzeskundigen ... seine Formeln und Dogmen" 50 habe. Darüber hinaus gebe es im Liberalismus auch Märtyrer, die für ihre Glaubens Wahrheit Verfolgung und Tod auf sich nehmen. Seine „Blutzeugen und Bekenner" 51 seien so opferbereit wie die der christlichen Religion.

47 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 110 (1987), S. 303. 4 8 Ebd. 49 Al. Carthill, Die Erbschaft des Liberalismus. Aus dem Englischen. Berlin-Grunewald 1926, S. 23. so Ebd., S. 23 f. 51

Ebd., S. 23. In ähnlicher Weise spricht Erik v. Kuehnelt-Leddihn vom Liberalismus als einem „organisierten ,Ismus', der sich von seinen geistigen Hochburgen gegen alle Andersdenkenden, besonders gegen das ,organisierte Christentum', d. h. gegen die Kirchen wendet" (Katholischer Glaube und liberale Haltung, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 10 (1958), S. 341). Dabei begibt sich der Liberalismus v. KuehneltLeddihn zufolge aller Waffen, die er in der Auseinandersetzung mit dem modernen Kollektivismus so dringend benötigt. „Er sägte den Ast ab, auf dem er selber saß, denn der Agnostizismus und der philosophische Relativismus ... sind keine archimedischen Punkte, von denen aus man eine feste Verteidigungsstellung gegen die kollektivistische Sklaverei führen ... kann" (ebd.).

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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Der kirchenähnliche Charakter des Liberalismus wird nicht nur von seinen ideologischen Gegnern betont. Auch Parteigänger dieser Weltanschauung wiesen darauf hin, daß ihr genuin religiöse Züge eignen. Unter ihnen tat sich besonders Benedetto Croce hervor. „Betrachtet man die Gesamtheit dieser Züge des freiheitlichen Ideals, so kann man nicht umhin, es als eine Religion zu bezeichnen ... Das Wirklichkeitsbewußtsein und die entsprechende Ethik des Liberalismus war ... aus den dialektischen und historischen Denken hervorgegangen, und das genügte, um ihnen den Charakter einer Religion zu verleihen" 52 .

Um die in Rede stehende ideologische Spannung zwischen dem Liberalismus einerseits und dem Christentum andererseits unter Beweis zu stellen, sollen zunächst die Lehren einiger klassischer Theoretiker des Liberalismus auf ihr Verhältnis zu dieser Religion untersucht werden: Darüber hinaus wird auch ein Blick auf das Verhältnis zwischen dem Parteiliberalismus und der christlichen Religion geworfen. Zu den einflußreichsten und bedeutendsten Denkern des liberalen Ideenkreises zählt sicherlich John Locke. Wie immer man sein Verhältnis zum Christentum bestimmen mag, fest steht, daß er keineswegs dem Deismus oder gar dem Atheismus das Wort redet. Trotz gegenläufiger Ansätze bleibt er einer Blickrichtung verpflichtet, die kaum als antichristlich bezeichnet werden kann. So weist Paul Hazard darauf hin, daß Locke „an die Offenbarung, an die göttliche Mission Jesu Christi, an die Autorität des Evangeliums, an die Wunder 4 ' 53 glaubte. Allerdings habe der englische Philosoph es abgelehnt, alle Grundlagen des Christentums zu akzeptieren, sich mit einem moralischen Minimalprogramm 54 zufriedengegeben. Ihm zufolge sei „die einzige Bedingung für unsere Rettung ... die Anerkennung Christi und ein guter Lebenswandel"55. Gegenüber dem institutionalisierten Christentum und seinen Riten habe er zeit seines Lebens eine gehörige Portion an Mißtrauen gehabt. Viele seiner Dogmen habe er als „Spitzfindigkeit" 56 interpretiert.

52 Benedetto Croce , Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert. Aus dem Italienischen. Zürich/Wien 1947, S. 20 f. Croce geht sogar so weit, dem Liberalismus eschatologische Bestimmungsmerkmale zu imputieren. Nicht zuletzt die dem Liberalismus zugrunde liegende Geschichtsauffassung der Aufklärung atme millenaristischen Geist. Auf diese Weise könne diese Weltanschauung das Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen, die Brücken zum illegitimen Gestern abgebrochen und der Menschheit den Weg in eine lichte Zukunft gewiesen zu haben. „Das Wort der Wiedergeburt und Erneuerung der Zeiten klang überall aus ihr (d. h. der Aufklärung, J. Β. M.) hervor, wie ein Gruß des Dritten Weltalters, des geistigen, das im 12. Jahrhundert Gioacchino da Fiore verkündet hatte und das jetzt für die menschliche Gesellschaft, die es so lange erwartet und vorbereitet hatte, begann" (ebd., S. 22). 53 Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. Aus dem Französischen. Fünfte Auflage. Hamburg o. J., S. 290 f. 54 Ebd., S. 291. 55 Ebd. 6 Ebd.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Zum entscheidenden Charakteristikum Lockes gehört allerdings auch, dai.) er sich bei seinen Überlegungen von der mittelalterlichen Denktradition in entscheidendem Maße losgesagt hat. Was seinen Werken ihr unverwechselbares Sigrium gibt, ist ihre weltliche Qualität. Die Kluft zwischen der Scholastik und seinem auf das irdische Dasein ausgerichteten Denken wird bei ihm zur Bedingung, unter der er seinen genuin säkularen Gesellschafts- und Politikentwurf konzipiert. Er war sich sehr darüber bewußt, daß eine der Neuzeit angepaßte Ordnungskonzeption nur um den Preis der radikalen Aufgabe der mittelalterlichen Denkstrukturen zu haben ist. Diese Ansicht wird von George H. Sabine geteilt. „The whole intellectual temper o f . . . Locke ... was secular to a degree that would have been practically impossible fifty years before" 57 .

Während Hobbes ausführlich über das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht reflektiert, ist diese Problematik bei Locke weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Er bleibt im Sinne von Friedrich Nietzsche der Erde treu und kümmert sich nur um genuin irdische Politikprobleme. Wohl berührt er in seinem „Essay concerning Toleration" religiöse Fragen. Dies geschieht aber allein unter der Fragestellung, wie die Stabilität des bürgerlichen Staates auf Dauer gestellt werden kann. Letzten Endes bestrafte John Locke alle diejenigen mit Verachtung, die sich mit der theologischen Dimension der Politik überhaupt abgaben58. Das gilt nicht zuletzt für die Beurteilung seines Landsmannes Richard Hooker 59 . Locke lehnte vor allem seine theologisch eingefärbte Naturrechtslehre ab. So schreibt Leo Strauss: „In dem Augenblick aber da wir uns bemühen, Lockes Lehre als ganze der Lehre Hookers gegenüberzustellen, werden wir trotz einer gewissen Übereinstimmung zwischen Locke und Hooker gewahr, daß sich Lockes naturrechtliche Konzeption grundsätzlich von derjenigen Hookers unterscheidet" 60.

In Lockes politischer Theorie stehe nicht mehr das Verhältnis, zwischen Pflichten und Rechten der Einzelperson und der Gemeinschaft im Vordergrund, seine Per57 George H. Sabine, A History of Political Theory, S. 518. Das ist deshalb keineswegs verwunderlich, daß Lockes Philosophie ein uneingeschränktes Lob von Karl Marx erhält. Lockes Größe und Bedeutung bestehe darin, der überkommenen metaphysischen Doktrin endgültig den Boden entzogen zu haben. „Außer der negativen Widerlegung der Theologie und der Metaphysik des 17. Jahrhunderts bedurfte man eines positiven, antimetaphysischen Systems. Man bedurfte eines Buches, welche die damalige Lebenspraxis in ein Sys:em brachte und theoretisch begründete" (Die heilige Familie. Berlin 1953, S. 257). Marx zufolge kam Lockes Abhandlung „An Essay Concerning Human Understanding" „wie gerufen von jenseits des Kanals. Es wurde enthusiastisch als ein sehnlichst erwarteter Gast empfangen" (ebd.). s» Ebd. 59 Vgl. dazu: Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, ed. by Arthur Step tien McGrade. Cambridge 1989. 60 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1953, S. 171.

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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spektive richte sich ausschließlich auf die Ansprüche des Individuums. Sein analytischer Blick nehme nur noch seine Rechte wahr, die Imperative der Gemeinschaft würden dagegen weitgehend negiert. „Durch die Verlagerung des Akzents von den natürlichen Pflichten oder Verpflichtungen auf die natürlichen Rechte war das Individuum, das Ego, zum Mittelpunkt und Ursprung der sittlichen Welt geworden, da der Mensch ... dieser Mittelpunkt oder Ursprung geworden war" 61 .

Die gravierende Differenz zwischen dem alten, theologisch beeinflußten Denken und dem modernen von John Locke, zeigt sich nicht zuletzt in dessen Sittenlehre. Kaum einem Repräsentanten der alten Denkschule wäre es in den Sinn gekommen, die Begriffe Gut und Böse im Rekurs auf das Lustprinzip zu bestimmen. Ein Sozialphilosoph, der sich einer an Gottes Gebot und den Ansprüchen der Gemeinschaft ausgerichteten Moral verpflichtet fühlt, hätte kaum den folgenden Satz aufs Papier gebracht: „Things ... are good or evil, only in reference to pleasure or pain. That we call good, which is apt to cause or increase pleasure, or diminish pain in us... And on the contrary, we name that evil, which is apt to produce or increase any pain, of diminish any pleasure in us" 62 .

Letzten Endes bleibt es also der Lustbilanz eines jeden Einzelnen überlassen, über das moralische Vorzeichen einer bestimmten Tat zu bestimmen. Bei der Bewertung des ethischen Handelns muß allerdings auch der Wille des Gesetzgebers berücksichtigt werden. Schließlich ist John Locke kein Anarchist, der es den Menschen gestattet, ihre ethischen Urteile in einem radikal solipsistischen Sinne zu fällen. „Moral good or evil then is only the conformity or disagreement of our voluntary actions to some law, whereby good or evil is drawn on us by the will and power of the lawmaker" 63 .

Letzten Endes kann also diejenige Tat als gut bezeichnet werden, die dem Gesetz entspricht und diejenige als moralisch verwerflich gelten, die es brandmarkt. „Which good and evil, pleasure or pain, attending our observance, or breach of the law, by the degree of the law-maker, is that we call reward and punishment"64.

Mit dieser utilitaristischen Begründung des ethischen Verhaltens hat nicht zuletzt Leslie Stephen abgerechnet. Dabei ist es ihm nicht zuletzt auch darum zu tun, auf die Gefahren eines übersteigerten Egoismus hinzuweisen, der dem Lockeschen Moralsystem notwendigerweise innewohnt. 61

Ebd., S. 259. Vgl. dazu auch Walter M. Simon, John Locke: Philosophy and political Theory, in: The American Political Science Review XLV (1951), S. 388. 62 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding. Volume I. London 1793, S. 216. 63 Ebd., S. 370. 64 Ebd.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum „Virtue is approved because visibly conducive to happiness, and conscience is merely our opinion of the conformity of actions to certain moral rules, the utility of which has been proved by experience. It is no mysterious judge laying down absolute decisions for inscrutable reasons. This, the fundamental doctrine of Locke and of all his disciples, is in fact a first form of the primary axiom, upon which depends the possibility of reducing morality within the sphere of scientific observation ... Its essence consists in banring mystery from the origin of our moral instincts. If it too easily degenerated into an assertion of the absolute selfishness of human nature, the assertion that the moral sense is derivative was a necessary preliminary to all fruitful investigation of the phenomena'65.

Daß Locke in seiner ethischen Konzeption insbesondere die Belange der Gemeinschaft aus dem Blick verdrängt, dies ist auch die Auffassung von Leo Strauss. Ihm zufolge ist die das abendländische Ethos seit altersher bestimmende Problematik des bonum commune dem Lockeschen Denken an der Wurzel fremd. Das moralische Denken des englischen Hedonisten 6 6 habe nicht mehr das gesellschaftliche Ganze i m Visier; er richte seine gesamte Denkenergie stattdessen auf die Ansprüche des Individuums. „Die Lebensnotwendigkeiten werden nicht mehr als für das vollständige und gute Leben notwendig, sondern als bloße Unvermeidlichkeit angesehen. Die Befriedigung der Bedürfnisse wird ... nicht mehr durch die Forderung des guten Lebens beschränkt" 67. Was wunder, wenn sich John Locke im Gegensatz etwa zur Scholastik nicht mehr um diejenigen kümmerte, die aufgrund ihrer miserablen sozialen Lage auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Während noch Bossuet von der ,..dignité des pauvres" 6 8 sprach, geht Locke das Schicksal der Mühseligen und Beladenen ziemlich wenig an. Ihm, dem es vorbehalten blieb, den Knecht auf eine Stufe mit dem Pferd zu stellen 6 9 , hielt es eher mit den wirtschaftlich Erfolgreichen, den beati possidentes. Diese Auffassung wird auch von Irene Collins geteilt. „There is almost nowhere in the Treatises any indication of interest in the ,dregs of society'" 7 0 Daß das ethische Denkgefüge Lockes durch und durch von einem individuali mischen Geiste bestimmt ist, hat nicht zuletzt die Kritik derjenigen Denker hervorge65

Leslie Stephen, History of English Thought in the Eighteenth Century. Volume II. London 1962, S. 69. 66 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 260. 67 Ebd., S. 261. 68 Bossuet, Sermon sur l'eminente dignité des pauvres, in: Sermons choisis de Boss jet. Paris o. J., S. 325 ff. 69 John Locke, Über die Regierung. Aus dem Englischen, hrsg. von Cornelius MayerTasch. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 28. Vgl. dazu auch C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1967, S. 242 70 Caroline Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthman. Cambridge Miss. 1959, S. 64. Locke schlug auch eine Rückkehr zu den elisabethanischen Armengesetzen vor. „Locke ... would put the poor to profitable work, and reorganize the century-old Elizabethan poor Law" (ebd.)

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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rufen, die sich dem Geiste der Scholastik verpflichtet fühlen. So schließt sich Heinrich Rommen zufolge sein moralischen Denken nur auf, wenn man sich seiner antitheologischen und antigemeinschaftlichen Grundhaltung versichere. „Locke ersetzt das traditionelle Naturrecht als einen moralischen Reflex der metaphysischen Ordnung des Seins, der Vernunft, geoffenbart in der Schöpfung, durch einen Begriff des Naturrechts als eines Kataloges oder Bündels von Individualrechten, entspringend dem individuellen Selbstinteresse"71.

So orientiere sich das staatliche Recht ausschließlich am Willen derjenigen, die den Gesellschaftsvertrag eingingen. Andere Normquellen suche man in seinem System vergebens. Lockes individualistische Theorie sei das Produkt einer Auffassung, die auf den klassischen Begriff des Gemeinwohls glaubt verzichten zu können. Aus einer Position heraus, die ihren radikalen Individualismus mit dem Rekurs auf das Naturrecht verbrämt, komme er auf Grund seines nominalistischen Denkansatzes zu einer radikalen Ablehnung der Ansprüche des sozialen Ganzen. „Die verborgene Wurzel dieser Lehre ist natürlicherweise ein allzu optimistisches Vertrauen auf den typisch individualistischen Grundsatz, daß das Gemeinwohl im Gegensatz zur Lehre des Thomas von Aquin kein realer eigenständiger Wert ist, sondern lediglich ein nominalistischer Begriff für die Summe des Eigenwohles und Eigennutzes der Individuen" 72 . Dabei habe Locke Angst vor der eigenen Courage gehabt. Die Spannung, die sein Oeuvre durchzieht, rühre aus dem Gegensatz zwischen einem radikal individualistischen Denkansatz und seiner Weigerung, die letzten Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Sein Werk verfestige sich auf diese Weise zum objektiven Befund einer durchaus widersprüchlichen und halbherzigen Doktrin. „Seine Moralphilosophie, hätte er sie systematisch ausgearbeitet, würde wohl auf den sterilen Benthamschen Utilitarismus hinausgelaufen sein. Locke jedoch, wohl ungewiß der Folgen seines erkenntnistheoretischen Empirizismus und seines Skeptizismus gegenüber der Metaphysik als der Grundlage einer gültigen Theorie des Naturrechts, begnügte sich mit einem überlieferten Vertrauen auf das Naturrecht als einen Ausfluß des common sense. Sein Gefühl für politische Realitäten sowie die Tatsache, daß das englische Common Law manche naturrechtlichen Gedanken beibehielt, hielt ihn davon ab, die Folgerungen zu ziehen, die später Hume's zersetzende Kritik zog" 73 .

Alles in allem gibt sich Locke Kurt Schilling zufolge als ein Denker zu erkennen, der sich der überkommenen, am Gemeinwohl orientierten Tradition nachhaltig und folgenreich versagt hat. Locke noch viel mehr als Machiavelli habe „den endgültigen Bruch mit der Sozialidee des Christentums und ihrer Gerechtigkeitsvorstellung vollzogen" 74 . 71 Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts. Zweite Auflage. München 1947, S. 91. 72 Ebd. 7 3 Ebd. 74

Kurt Schilling, Geschichte der sozialen Ideen, S. 264.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Lockes individualistisch eingefärbte Abkehr von der scholastischen Gemeinwohllehre entspricht auch eine Beurteilung der Kirchen, die ausgesprochen antipluralistischen Geist atmet. Offensichtlich ist dieser Chefideologe des Whiggismus an diesem Punkt bei seinem ideologischen Gegner Thomas Hobbes in die Schule gegangen. Schließlich redet auch er der Intervention des Staates in die innersten Angelegenheiten der christlichen Glaubensgemeinschaften das Wort. „Man verwehre nur der Macht des Herrschers den Zutritt zum Altarraum, und er wird sich sofort als Freistatt der schlimmsten Frevel erweisen, der Zehnte wird für genauso unstatthaft erklärt werden wie das Opfern, die Ehrerbietung von einem Mann im Amt wird man als Götzenanbetung verketzern, und der trotzige Bedienstete wird seinem Herrn mit einem von Paulus eigenhändig unterschriebenen Freiheitsbegehren die Stirn bieten: ,Werdet nicht der Menschen Knechte' ... Schließlich wird man meinen ... daß das Amt der Obrigkeit überhaupt gegen das Christentum verstoße"75. Während man bei John Locke von einem ambivalenten Verhältnis zum Christentum sprechen kann, ist dies bei John Stuart Mill kaum mehr möglich. Seine Relation zu ihm zeichnet sich durch eine unmißverständliche Ablehnung aus. Hütet sich Locke noch beharrlich, einer radikal antichristlichen Einstellung Tribut zu zollen, so stilisiert sich John Stuart Mill zu einer wichtigen und höchst einflußreichen antichristlichen Bastion. Er sprengt bewußt die höchst artifizielle Einheit von Modernität und Tradition, wie sie noch bei Locke anzutreffen ist, um eine Haltung an den Tag zu legen, die ganz und gar auf einen antireligiösen Ton gestimmt ist. Wie in einem Brennglas bündeln sich in seinem Denken alle Einwände gegen die überkommene Religion. So schreibt er in seiner Autobiographie: „ I am thus one of the very few examples ,in this country, of one who has, not thrown off religious belief, but never had it! I grew up in a negative state with regard to it. I looked upon ... as something which in no way concerned me" 76 .

Dabei führen ihn die verengten Kategorien der „Whig Interpretation of History" zu dem Schluß, daß das Christentum recht eigentlich der Vergangenheit angehört. Seiner Auffassung nach hat uns diese Religion, die sich erkühnt, allen Menschen und allen Zeitaltern ihre göttliche Botschaft zu verkündigen, zu lange betrogen. Letzten Endes stehe sie der Emanzipation des Menschen im Wege, verhindere sein uneingeschränktes Bekenntnis zur liberalen Ordnungsvorstellung.

75 John Locke, Zur Frage: Ob die staatliche Obrigkeit von Rechts wegen den Gebrauch unwesentlicher Dinge im Rahmen von Gottesdiensten vorschreiben und festlegen darf. Brief vom 11. Dezember 1660, in: John Locke. Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt. Sczialphilosophische Schriften, hrsg. von Hermann Klenner. Berlin 1986, S. 49. Erich Voegelin zufolge hat John Locke den „Status der Kirchen und Sekten ... auf den privater Vereinigungen reduziert" (Die industrielle Gesellschaft auf der Suche nach der Vernunft, in: Die industrielle Gesellschaft und die drei Welten. Aus dem Französischen. Zürich 1961, S. 53). 76 John Stuart Mill, Autobiography, ed. by Harold J. Laski. London 1969, S. 36.

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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„And the position assigned to Christianity or Theism by the more instructed of those who reject the supernatural, is that of things once of great value but which can now be done without; rather than, as formerly, of things misleading and noxious ab initio" 7 7 .

Die Menschheit könne heute auf ihrem Weg zu einer humaneren Gesellschaftsordnung recht eigentlich auf die jenseitigen Heilsversprechungen des Christentums verzichten. Im Horizonte der progressistischen Geschichtsauffassung erscheine die christliche Religion als ein Gedankengebäude der schlichtesten Observanz: „History, so far as we know it, bears out the opinion, that mankind can perfectly well do without the belief in a heaven"78.

Leider habe es der fortschrittliche Geist der Neuzeit noch nicht vermocht, die illegitime und historisch überholte Macht der klerikal-feudalen Gewalten zu brechen. Hinter dem, was sich als aufgeklärte Gesellschaft ausgibt, steckten noch immer Institutionen und Denkweisen, denen das Kainsmal des Nichtgleichzeitigen anhaftet. „We are still subject to a constitution which is at best a shattered fragment of the feudal system; we are still subject to a priesthood who do whatever is yet in their power to excite a spirit of religious intolerance and to support the domination of a despotic aristocracy

Um das Schicksal der zukünftigen Menschheit von Grund auf verbessern zu können, bedarf es einer radikalen Abkehr von den alten und auch veralteten religiösen Überzeugungen. Denkt man an die Kategorien des humanen und des Fortschrittlichen zusammen, bleibt in der Zukunftsgesellschaft kein Raum mehr für ein Bekenntnis zum Christentum. „ I am now convinced, that no great improvements in the lot of mankind are possible, until a great change takes place in the fundamental constitution of their modes of thought. The old opinions in religion, morals, and politics, are so much descredited in the intellectual minds as to have lost the greater part of their efficacy for good, while they have still vitality enough left to be an obstacle to the rising up of better opinions on the same subjects"80.

Da das religiöse Bedürfnis der Menschen keineswegs auf einen Schlag aus dem Bewußtsein der Menschen verschwinden wird, gewährt John Stuart Mill dem Christentum noch eine gewisse Gnadenfrist. Auf die Dauer wird allerdings eine im Irdischen verankerte Humanitätsreligion den überkommenen Glauben für immer ablösen. 77 John Stuart Mill, Theism, in: Essays on Ethics, Religion and Society, ed. by J. M. Robson. Toronto/London 1969, S. 429.

™ Ebd., S. 427. 79 John Stuart Mill, Autobiography, S. 274. Vgl. dazu auch die Kritik Owen Chadwicks: „Mill has too naive a faith in civilization ... The dangerous consequence of Mill's theory is to destroy all trust in authority" (The Secularization of the European Mind in the 19th Century. Cambridge 1993, S. 35). 80 John Stuart Mill, Autobiography. Early draft, in: Autobiography and Literary Essays, ed. by John M. Robson/Jack Stillinger. Toronto / London 1981, S. 245 f.

5 J. B. Müller

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum „The religions of the world will continue standing, if even as mere shells or husks, until high-minded devotion to the ideal of humanity shall have acquired the twofold character of religion, viz., as the ultimate basis of thought and the animating and controlling power over action" 81 .

Was sich in der Hoffnung Mills auf eine religiönsfreie Gesellschaft der Zukunft ausdrückt, verweist nicht zuletzt auch auf seine Kampfansage an die Kirchen. Er rückt seine antireligiöse Einstellung in eine Perspektive, in der die Kirchen als Institutionen angesehen werden, denen in der Moderne kein Lebensrecht mehr zugestanden werden kann. Dabei ist es neben der anglikanischen Staatskirche 82 insbesondere die römische, der sein Haß und seine Verachtung gilt. Bis heute verfoige diese ausgesprochen unzeitgemäße Institution das Ziel, die Menschen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen und ihnen auch die unscheinbarste Freiheitsregung auszutreiben. Jede Ausflucht in das selbständige Denken werde von ihr systematisch versperrt. Gerade der Liberale müsse diesen Musterfall an Intoleranz und Repression auf das nachhaltigste bekämpfen. Dabei ist es nicht zuletzt die Ohrenbeichte, die Mill zufolge auf einen zutiefst illiberalen Ton gestimmt ist. Letzten Endes dient sie dem Klerus als ein besonders effizientes Herrschaftsinstrument. Er spricht in diesem Zusammenhang von den „terrific engines of auricular confession and absolution, the concentration of which ... in the hands of the clergy, make it astonishing that mankind should ever have emancbated themselves from the terrific sway of priests" 83.

Ausgesprochen dichotomisch setzt auch Herbert Spencer ideologische Zäsuren, markiert weltanschauliche Grundpositionen, in denen sein Liberalismus genaueste antikirchliche und antireligiöse Konturen gewinnt. Seine Konzentration auf einen uneingeschränkten Fortschrittsglauben geht bei ihm mit einer radikalen Kampfansage an die überkommenen christlichen Vorstellungen einher. Jeder Versuch, die religiöse Vergangenheit vor dem modernen Richterstuhl der Vernunft zu verteidigen, müsse notwendigerweise in die Irre gehen. Aus diesem Grunde habe die heutige Wissenschaft mit all denjenigen Ideen aufzuräumen, die die überwundenen Zeiten bestimmten. Sie kämpfe unaufhörlich „gegen all den Aberglauben, der unter dem Namen der Religion mit unterläuft" 84. Während früher die Kirchen sich um die Bildung und die Erziehung der Menschen kümmerten, komme diese Aufgabe heute der Wissenschaft zu. Im Gegensatz zur Religion sei sie allein in der Lage, gesellschaftstüchtige und lebensbejahende Menschen hervorzubringen. „Für die Zwecke der Zucht und Bildung in geistiger, sittlicher ... Hinsicht ist das wirksamste Studium ... Wissenschaft" 85. 81

John Stuart Mill , Diary, in: Journals and Debating Speeches, ed. by John M. Robson. Toronto /London 1988, S. 654. S2 John Stuart Mill, Autobiography, S. 320. 83

Ebd., S. 273. Herbert Spencer, Erziehungslehre. Aus dem Englischen, hrsg. von Fritz Schultze. Jena 1874, S. 65. 84

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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Die Fabula docet seiner antireligiösen Lehre wird polemisch bekräftigt durch die Behauptung, daß das Christentum auch deswegen das Zeitliche segnen müsse, weil es den Menschen mehr geschadet als genützt habe. Letzten Endes stehe es als krasses Skandalon für Inhumanität und Menschenverachtung. „Während der verbreitete Glaube auf die große Masse der Menschen nur in einem sehr geringen Grade, wenn überhaupt, in wohltuender Weise wirksam zu sein scheint, gibt es nicht Wenige, auf die er in unglückbringender Weise einwirkt und durch seine Drohungen großes Elend hervorruft" 86.

Vor allem bei denjenigen, „die empfindlicher Natur sind und eine lebhafte Einbildungskraft haben, tritt die Aussicht auf ewige Qualen mit fürchterlicher Wirkung vor die Seele"87. Gegen einen derartigen Aberglauben könne nicht intensiv genug angekämpft werden. Zur begrüßenswerten Eigenart des modernen Zeitalters gehöre es, daß seine ideologische Grundtendenz endgültig mit dem Glauben an ein Leben im Jenseits aufgeräumt habe. Kein aufgeklärter und vernünftiger Mensch könne abstreiten, in wie starkem Maße die Annahme einer unsterblichen Seele in das Reich der Fabel verwiesen zu werden verdient. „Mit seinem letzten Atemzuge tritt für einen Jeden der nämliche Zustand ein, als ob er niemals gelebt hätte" 88 .

Wenn dem Christentum endlich der Todesstoß versetzt wird, ist es vor allem nicht mehr in der Lage, seine dem modernen Bewußtsein widersprechende Leidensphilosophie zu verbreiten. Es sei vor allem das Verdient der modernen Wissenschaft, die Beschwernisse des Lebens als ein Übel gebrandmarkt zu haben, die erfolgreich aus der Welt geschafft werden können. Letzten Endes sei die Gesellschaft für die Probleme der Menschen verantwortlich zu machen. Dabei könne kein Zweifel daran bestehen, daß man durch soziale Reformen Verhältnisse zu schaffen imstande ist, in denen die Menschen von ihrem leidvollen Dasein erlöst werden. „This particular tenet of their religion which science so manifestly justifies, is the one which Christians seem least inclined to accept. The current assumption is that there should be no suffering, and that society is to blame for that which exists" 89 .

Spencers durch und durch antichristliche Einstellung ist nicht unwidersprochen geblieben. Es war nicht zuletzt Victor Cathrein, der den antireligiösen Impetus des englischen Soziologen aufspürte und kritisierte. Er spricht von den „bitteren, sar85 Ebd., S. 69. 86 Herbert Spencer, Erfahrungen und Betrachtungen aus der Zeit. Aus dem Englischen. Stuttgart 1904, S. 169. 87 Ebd., S. 170. 88 Ebd., S. 173. 89 Herbert Spencer, The Man versus the State, ed. by Donald Macrae, Harmondsworth, Middlesex 1969, S. 83. Vgl. dazu auch F. J. C. Hearnshaw, Herbert Spencer and the Individualists, in: The Social & Political Ideas of Some Representative Thinkers of the Victorian Age. London 1933, S. 77. 5*

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

kastischen, haßerfüllten Invectiven, mit denen Spencer in schlecht verhüllter V/eise gegen die Christen und ihren Gott zu Felde zieht" 90 . Dabei lastet er ihm auch an, Gott durch eine Divinisierung des Entwicklungsgeschehens zu ersetzen. „Den Gott der Christen lästert er, um sich anbetend vor der Allmacht der Atome niederzuwerfen. Mit dem Entwicklungsprozeß treibt er einen solchen Cultus, daß man ihn dreist einen Entwicklungsanbeter nennen kann" 91 . Hand in Hand mit seinem Evolutionismus gehe eine ethische Grundhaltung einher, die sich radikal vom Sittengesetz des Christentums gelöst habe und allein dem individualistischen Hedonismus Reverenz erweise. Ebenso finden sich auch in den Werken von W. Ε. H. Lecky so ziemlich alle Vorurteile versammelt, die Liberale seit altersher gegen das Christentum und seine Kirchen pflegen. Dabei stellt sich vor allem die katholische Glaubensgemeinde als ein autoritärer Zwangsapparat dar, der sich als genuin antiliberale Institution zu erkennen gibt. In ihr tue sich ein Zug submissiver Gesinnung kund; in ihr gelange der Gegensatz zum freiheitlichen Credo zu seiner schärfsten Ausprägung. „The Church has in very parish one or more priests entirely devoted to ist service; it exercises an enormous influence over the whole female population, over the education of the young, over the periods of weakness, sickness, enfeebled faculties, and approaching death. It neddles persistently in domestic life, dictating the conditions of marriage

·

Dabei seien alle Strukturprinzipien dieser Kirche darauf ausgerichtet, in einem liberalen Politiksystem als dysfunktionales Bestimmungsmoment zu wirken. „When a large proportion of the electors in a nation submit to such dictation, that nation is very unfit for representative institutions" 93 .

Auch die Doktrin vieler liberaler Sozial- und Politiktheoretiker des 20. Jahrhunderts ist keineswegs auf einen Ton gestimmt, den man als christentumsbejahend bezeichnen kann. So steht es für den Spanier Salvador de Madariaga außer Zweifel, daß der liberalen Freiheitsvorstellung ein genuin antichristliches Bestimmungsmoment eignet. Sie widerspreche vor allem dem christlichen Liebesgebot, das immer schon auf die vehemente Abneigung freiheitlich gesinnter Menschen gestoßer sei. Altruismus und Egoismus stünden im Leben eines jeden Menschen so unvermittelt nebeneinander, daß die christliche Ethik ausgesprochen weltfremden Geist atme. „Was sagt uns schließlich die Kirche? Sie sagt: liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist zweifellos der schönste Ratschlag, der sich ersinnen läßt. Aber ist er für das Leben tauglich?" 94 90

Victor Cathrein S. J., Die Sittenlehre des Darwinismus. Eine Kritik der Ethik Herbert Spencers. Freiburg im Breisgau 1885, S. 136. 91 Ebd. 92 William Edward Hartpole Lecky, Democracy and Liberty. Volume I. Second Ed tion. London 1896, S. 23. Ebd., S. 2 .

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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Schon ein tiefenscharfer Blick auf die Natur zeige, in wie starkem Maße das christliche Liebespostulat weltfremd sei. „Wirklich: die Natur ist grauenerregend. Im Pflanzenreich mag es noch hingehen; aber sobald tierisches Leben zu keimen beginnt, herrscht eine abscheuliche Lebensordnung, das unerbittliche Gesetz des Stärkeren" 95.

Wie die Naturwelt, so sei auch der Aktionsbereich des Menschen von Gewalt und Terror bestimmt. Daran könne auch die wohlmeinendste kirchliche Morallehre kaum etwas ändern. Aus diesem Grunde bleibe einem vernünftigen Menschen nur übrig, mit den Wölfen zu heulen und die Bergpredigt in den Wind zu schlagen. Madagiara stößt sich nicht nur an der christlichen Aufforderung, den anderen zu lieben und ihm zu helfen. Er hält es mit seinen liberalen Grundsätzen auch unvereinbar, daß die Kirchen einem historisch überholten Paternalismus Sukkurs geben. Dieser manifestiere sich nicht zuletzt in der christlichen Verkündigungssprache. Seinen antipatriarchalistisehen Grundüberzeugungen widerspricht es zutiefst, wenn Gott als Vater tituliert wird. „Die Kirchen würden viel Gelände gewinnen, wenn sie ihre Ausdrucksweise erneuerten, sie dem Zeitgeschmack anpaßten ... ,Herr' ist eine beklagenswerte Hinterlassenschaft längstvergangener Zeiten, die zu bewundern die Mehrzahl der Menschen keinen Anlaß hat" 9 6

Madariagas liberale Kritik richtet sich auch gegen die kirchlichen Formen der Liturgie. Vor allem das Gebet will nicht in sein antiautoritäres Weltbild passen. Es bringt Verhaltensmuster ans Licht, die nicht mehr in eine Zeit passen, die allen paternalistischen Topoi den Kampf angesagt hat. „Das Gebet spiegelt die Demütigung und Schmeichelei des Hörigen gegenüber seinem Herrn wider. Alles was vom Herrn kommt, ist gut; alles was vom Hörigen kommt, ist böse" 97 .

Durch das Gebet wird der seinen Gott anflehende Mensch auf eine kindliche Stufe zurückversetzt. Da aber die Emanzipation des Menschen aus seinen ihn versklavenden Verhältnissen das vorrangigste Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist, muß dieses als Relikt einer zu Recht überwundenen Zeit angesehen werden. Vor allem das „Pater noster" sei ganz einfach nicht mehr zeitgemäß. „Was das Symbol,Vater' betrifft, so erzeugt es bei den Gläubigen leicht eine einigermaßen infantile Haltung, ja sogar eine gewisse Verantwortungslosigkeit. ,Der Vater wird dafür sorgen'" 98 . 94

Salvador de Madariaga, Von der Angst zur Freiheit. Bekenntnisse eines revolutionären Liberalen. Aus dem Französischen. Bern, Stuttgart / Wien 1959, S. 84. 9 5 Ebd., S. 85. 96 Ebd., S. 81. Vgl. dazu auch: „Die Gläubigen werden Leibeigenen gleichgesetzt" (ebd., S. 80). Ebd., S. .

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Unter den christlichen Kirchen, die Madariagas Mißtrauen und Ablehnung in besonderer Weise evozieren, steht die katholische an erster Stelle. Bei ihr paart sich ihm zufolge ein überholter Machtanspruch mit einer zutiefst illiberalen Grundhaltung. Letzten Endes müsse man davon ausgehen, daß sie „dem gesunden Menschenverstand'4" widerspricht. Aus diesem Grunde seien all diejenigen kontinentalen Liberalen zu verstehen, die „ihren Antiklerikalismus zu einer wilden Opposition gegen die römische Kirche" 1 0 0 verschärften. Zu den Liberalen, die die Katholische Kirche in eine äußerst ablehnende und feindselige Perspektive rücken, gehört auch der Italiener Guido de Ruggiero. In Übereinstimmung mit Salvador de Madariaga ist auch er der Auffassung, daß sie allen Grundprinzipien einer liberalen Gesellschaftsinterpretation diametral widerspricht. Ihr repressiver Geist sei mit dem freiheitlichen Credo kaum auf einen Nenner zu bringen. „Es zeigt sich ... deutlich genug, daß die Freiheit, die sich die Kirche zuschreibt, ir bezug auf das Individuum auf Knechtschaft hinausläuft" 101 .

Die Katholische Kirche ist nicht zuletzt auch deswegen als Hauptgefahr für die Freiheit der Menschen anzusehen, weil sie einen übermächtigen Einfluß auf das Erziehungswesen ausübt. Aus diesem Grunde müsse mit allem Nachdruck ihren Versuchen widerstanden werden, das Schulsystem unter ihre Obhut zu bringen. Nicht zuletzt Ludwig von Mises 102 hat sich zum Anwalt dieser pointiert liberalen Auffassung gemacht. Ihm zufolge ist „in einer auf friedliche Kooperation beruhenden Gesellschaftsordnung ... kein Raum für den Anspruch der Kirchen, den Unterricht und die Erziehung der Jugend an sici zu reißen" 103 .

Die Kirchenfeindschaft vieler Vertreter des heutigen Liberalismus hat ihren Grund nicht zuletzt auch darin, daß sie sich einer nominalistischen Sichtweise von Staat und Gesellschaft befleißigen. Von dieser heuristischen Warte aus erscheint die Kirche als eine Entität, die sich gegenüber dem Individuum in höchst illegiti98 Ebd., S. 81. Madariaga kann auch mit den christlichen Mystikern wenig anfangen. „Was soll man zum Beispiel von den Mystikern denken? Fast alle, bisweilen sogar die bewunderungswürdigsten, treiben Kinderpossen, begehen Geschmacksfehler und verwickeln sich in Widersprüche, sind unerfahren, bleiben dem Wissensstand und den Vorurteilen ihrer Zeit verhaftet. Darf man leugnen, sie hätten in seltenen Augenblicken der Gnade die Vereinigung mit Gott vollzogen?" (Ebd., S. 83 f.) 99 Ebd., S. 79. 100 Ebd., S. 17. 101 Guido de Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa. Aus dem Italienischen. München 1930, S. 388. Es könne keinerlei Zweifel daran bestehen, daß jegliche Befolgung kirchlicher Verhaltensvorschriften „eine im höchsten Maße ertötende Unterdrückung für das menschliche Gewissen mit sich" (ebd.) bringt. 102 Ludwig Mises, Liberalismus. Stuttgart / Jena 1927. 1 Ebd.

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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mer Weise zu viele Rechte herausnimmt 1 0 4 . In wie starkem Maße der liberale Nominalismus antikirchlichen Geist atmet, hat nicht zuletzt Ludwig Mises unter Beweis gestellt. „Der Nominalismus ist die ... Kraft, die nie ruht und immer weiter will. Wie er in der Philosophie die alten Begriffe der metaphysischen Spekulation auflöst, so zerschlägt er auch die Metaphysik des soziologischen Kollektivismus" 105 . Was wunder, wenn auch heute noch einflußreiche Repräsentanten des katholischen Ordnungsgedankens den Nominalismus rigoros ablehnen. So ist Ε. E. Nawroth der Auffassung, daß „zwischen dem nominalistischen Begriffssubjektivismus und der realobjektiven Schöpfungsordnung eine unüberbrückbare K l u f t " 1 0 6 besteht. Ihm zufolge wird nicht zuletzt die neoliberale Gesellschaftsdoktrin vom Nominalismus bestimmt. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „Begriffsnominalismus der neo-liberalen Ordo-Idee" 1 0 7 . Nicht nur viele Persönlichkeiten, die sich als Gelehrte um die Konstruktion des liberalen Ideengebäudes bemühten, sondern auch nicht wenige liberale Parteipolitiker haben dem Christentum und seinen Kirchen ein abgrundtiefes Mißtrauen und eine ebenso heftige Abneigung entgegengebracht. Schon viele liberale Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 gaben ihre antireligiöse Einstellung zum Besten. Dabei sollen vor allem Karl Vogt und Johann Jacoby Berücksichtigung finden. Was Karl Vogt anlangt, der wegen seiner evolutionistischen Einstellung von vielen Vertretern der Kirchen als „Affenvogt" bezeichnet wurde, so kann man kaum 104 F. A. Hayek zufolge lehnt der liberale Nominalismus alle sozialphilosophischen Positionen ab, die „soziale Ganzheiten wie die Gesellschaft oder dergleichen ... als Wesensheiten sui generis" ansehen (Individualismus und wirtschaftliche Ordnung. Aus dem Englischen. Erlenbach-Zürich 1952, S. 16). 105 Ludwig Mises, Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus. Zweite Auflage. Jena 1932, S. 38. Vgl. dazu auch Lothar Bily, „Zu den Wurzeln und Ursprüngen des weltanschaulichen Liberalismus gehörten freilich geistige Strömungen, die dem Katholizismus seit je als Irrlehren galten oder zumindest nur mit Vorbehalten betrachtet wurden: Der philosophische Nominalismus, in besonderem Maße der Protestantismus, sodann Aufklärung und Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert mit ihrem Individualismus, Vernunftprinzip, Fortschrittsglauben und Rationalismus" (Ein schwieriges Verhältnis: Katholizismus und Liberalismus, in: liberal 32 (1990), S. 100). 106 Egon Edgar Nawroth O. P, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Zweite Auflage. Heidelberg 1962, S. 45. Vgl. dazu auch Karl Pribram, Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie. Leipzig 1912, S. 15. 107 Ebd., S. 381. Letzten Endes sei die Marktwirtschaftskonzeption der neoliberalen Schule allein aus der „ordnungspolitisch modifizierten Renaissance des nominalistischen Gleichgewichts- und Harmonieoptimismus" (ebd., S. 344) zu verstehen. Der Rekurs des Neoliberalismus auf den Nominalismus habe dazu geführt, daß dieser „kein metaphysisch begründetes normatives Ordnungsbild von Wirtschaft und Gesellschaft" (ebd., S. 303) aufweise. In der neoliberalen Schule würden „individualistische Freiheit und Spontaneität als Inbegriff der neuen Sittlichkeit" (ebd.) aufgefaßt.

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umhin, von einem tief eingewurzelten Kirchenhaß zu sprechen. Für ihn, der die „unbeschränkte Freiheit in allen Dingen" 108 fordert, ist „jede Kirche ... schon deßhalb, weil sie Glaubenssätze aufstellt und aufstellen muß, eine Zwangsanstalt"109. Aus diesem Grunde kann sie „niemals wahre Freiheit geben" 110 . Die dieser Repressionsinstitution angemessene Form des Reflektierens hat davon auszugehen, daß jede religiöse Gemeinschaft sich als „Hemmschuh der Civilisation" 111 zu erkennen gibt. Da jeglicher kirchliche Dogmatismus auch noch die letzten Reste einer freiheitlichen Lebensweise zerstöre, ergibt sich für Vogt notwendigerweise die Forderung, das Lebenslicht der Kirchen auszublasen. Er stimmt der Trennung von Kirche und Staat nur unter der Bedingung zu, „daß das, was man Kirche nennt, überhaupt spurlos verschwinde von der Erde, und sich dahin zurückziehe, wo es seine Heimat hat, in den Himmel, und zwar in den Himmel, von dem wir erfahren werden nach unserem Tode, von dem wir aber vielleicht nichts wissen wollen, so lange wir auf Erden sind" 112 .

Eine genauso kirchen- und christentumsfeindliche Gesinnung legt auch Johann Jacoby an den Tag. In jeder Religionsgemeinschaft blicke einen das uralte Antlitz des Aberglaubens mit abstoßenden Zügen an. Ihre Existenz gehorche keineswegs dem Diktat der Vernunft, sondern gründe eindeutig in einer irrationalen Denkverwirrung der Gläubigen. „Die Religion ist das Gebiet, auf welchem die ... Geislestäuschungen sich vorzugsweise geltend" 113 macht. Letzten Endes bleibe ihr auf Grund ihrer vernunftfeindlichen Grundstruktur nur übrig, „sich selbst entbehrlich zu machen" 114 . Nicht nur Abgeordnete des Frankfurter Parlamentes, sondern auch Deputierte des Deutschen Reichstages schleuderten dem Christentum ihre rigide Kampfansage ins Gesicht. In seinem antireligiösen Eifer hat sich nicht zuletzt Eugen Richter hervorgetan. Dabei gab sich für ihn vor allem die Katholische Kirche als ein ideologischer Erzfeind zu erkennen. Er begriff sie als unzeitgemäßes Indiz der Antimoderne. „Ich am allerwenigstens unterschätze die kulturfeindliche Richtung, welche die römische Hierarchie nimmt" 1 1 5 . Bei ihr sei immer schon die Wissenschaïtsfeindlichkeit dominant gewesen. Jeglicher Sinn für den modernen Rationalismus 108

Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg. von Franz Wigard. Frankfurt am Main 1848, S. 1669. '09 Ebd., S. 1668. ίο

Ebd.

" i Ebd. "2 Ebd. 113 Nachträge zu Dr. Johann Jacoby's gesammelten Schriften und Reden. Hamburg 1877, S. 163. "4 Ebd., S. 169. 115

Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislatur-Periode. 31. Sitzung am Sonnabend, dem 25. November 1871. Erster Band. Berlin 1871, S. 518.

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werde von ihr im Keime erstickt. Ihre Theologie und ihr Religionsunterricht stehe „in schneidendem Widerspruche mit der wissenschaftlichen Erkenntniß unserer Zeit" 1 1 6 . Dabei hofft Richter auf den Tag, an dem „die schwarzen Gespenster, von denen viele der Herren sich so zu fürchten scheinen ... verschwinden" 117. Auch Rudolf von Virchow ließ in einer Rede vor dem preußischen Landtag keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er die Katholische Kirche in Bausch und Bogen ablehnt. Von der Warte eines an Voltaire geschulten Intellekts aus warf er ihr seinen Fehdehandschuh hin. Seine Rede gewinnt ihre Bedeutungsmaßstäbe nicht zuletzt auch aus dem Umstand heraus, daß er der Katholischen Kirche bescheinigte, durch und durch antipatriotischen Geist zu atmen. „Diesem undeutschen, römischen, ultramontanen Wesen müssen wir entgegentreten, wir müssen ihm entgegentreten in jeder gesetzlich zulässigen Form" 1 1 8 .

Dabei läßt von Virchow auch nicht den mindesten Zweifel darüber aufkommen, daß er ein katholikenfreies Deutschland wünscht. „In dieser Richtung, meine Herren, kenne ich gar keine Zurückhaltung, ich habe gar kein Hehl, ich betrachte das als die eigentliche Aufgabe, welche die neue Zeit hat, dieses fremdartige Wesen, welches sich in uns hineindrängt, welches zu Form dieser Fraktion als gesonderter Körper sich zwischen die verschiedenen Bestandtheile des Hauses schiebt, zu überwinden" 119 .

Zu derartigen kirchenfeindlichen Äußerungen paßt auch die radikale Ablehnung des Jesuitenordens. In der Vehemenz, in der Johann Caspar Bluntschli seinen Liberalismus gegen die Jünger des Ignatius von Loyola ausspielt, kommt sein tief eingewurzeltes Vorurteil gegenüber der Katholischen Kirche überhaupt zum Vorschein. „Der Jesuitenorden gibt vor, höchste ideale Zwecke zu verfolgen, die religiöse Reinigung und Heiligung der Seelen, die Ausbreitung und Macht des Christentums, die Hingebung an den göttlichen Willen ... Aber in Wahrheit ist all sein Streben auf absolute Herrschaft über die Menschen und Ausbeutung ihrer Kräfte in seinem Dienste gerichtet, und die Selbstsucht der einzelnen Glieder verwandelt sich lediglich in einen Anteil an der unersättlichen Selbstsucht des ganzen Ordens, welche die Geister zu Sklaven macht und die Reichtümer der Welt sich aneignet" 120 .

Ebd. in Ebd. 118 Rede des Abgeordneten Rudolf von Virchow am 31. Januar 1872. In: Stenographische Berichte der Verhandlungen vor dem Haus der Abgeordneten. Erster Band. Berlin 1872, S. 560. • 1 9 Ebd. Vgl. dazu auch Heinrich Bornkamm, Die Staatsidee im Kulturkampf, in: Historische Zeitschrift 170 (1950), S. 49 und passim. ι20 Johann Caspar Bluntschli, Charakter und Geist der politischen Parteien. Nördlingen 1869, S. 156.

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Was sich bei den Jesuiten als Dienst am Menschen und an der Kirche ausgebe, sei nicht mehr als eine unzureichende Verhüllung der eigenen Machtaspirationen. Immer schon habe dieser Orden das repressive Aktionsmuster dem freiheitlichen vorgezogen und damit sich am Geiste des Liberalismus versündigt. „Niemals handeln die Jesuiten wie echte, freie Männer. Statt der Grundsätze haben sie Maximen, statt der ordnenden Gesetze eine rücksichtsvolle gewandte Casuistik, statt der offenen Tat die heimliche Intrigue. Die List und die Ränke sind ihre besten Waffen" 121 .

Letzten Endes atme der Jesuitenorden den Geist einer zu Recht überwundenen Zeit. Seine Konturen zeichnen sich da ab, wo ein progressiv eingestellter Liberaler nichts als Ungleichzeitigkeit erblicken könne. „Es ist charakteristisch, daß der Jesuitenorden eben in der Zeit entstanden ist, als das alt gewordene und durch die Reformation erschütterte Mittelalter in seine letzte absolutistische Periode eintrat, und dann während der absolutistischen Jahrhunderte sich ausgebreitet und in vielen katholischen Staaten geherrscht hat, dagegen bald untergegangen ist, nachdem das Licht der neuen Zeit mit ihren modernen Ideen an dem Horizonte Europas aufgestiegen war" 1 2 2 .

Bluntschli weitet seine radikale Ablehnung des Jesuitenordens ins Manichäische aus, wenn er seinen Mitgliedern vorwirft, „Feinde des Menschengeschlechtes"123 zu sein. Die Aggressivität, mit der führende liberale Pesönlichkeiten gegen die Katholische Kirche zu Felde zogen, stieß auf die geharnischte Kritik vieler ihrer Mitglieder. Es war nicht zuletzt Johannes B. Kißling, der diesen in Rede stehenden Kirchenhaß brandmarkte. „Diese Art von Liberalismus konnte von Religion und Kirche nur reden in Verbindi ng mit Begriffen wie »Ammenmärchen', ,Pfaffenbetrug', ,geistestötende Abhängigkeit vom Klerus'. Ein beliebtes Mittel ... im Kampfe gegen die Katholiken war die verhetzende Bezeichnung der letzteren als ,schwarze Internationale', gegen die ein ebenso rücksichtsloses Vorgehen der Staatsgewalt geboten sei wie gegen die kommunistische und zum Teil anarchistische ,rote Internationale'" 124 .

Es gehört zu den Ausdrucksformen dieses Protestes, daß selbst Repräsentanten des Liberalismus Verwahrung gegen diese Kirchenhetze einlegten. Selbst einem Heinrich von Treitschke, den man kaum als warmherzigen Freund der Katholischen Kirche bezeichnen kann, erschien die antikirchliche Propaganda als zutiefst würdelos und letzten Endes auch gegen die Prinzipien des Liberalismus gerichtet. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 155. 123 Ebd. Der katholische Klerus habe bislang überhaupt „die Laien wie eine Herde Schare" betrachtet, „welche von den geistlichen Hirten zu führen und zu scheren sei" (7. C. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, Sechste Auflage. Stuttgart 1886, S. 73). 124 Johannes B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im deutschen Reiche. Erster Band, Freiburg im Breisgau 1911, S. 321.

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„Allmählich entstand eine krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutsche Parteileben verfälscht. Man begann zu glauben, das unmittelbar nach dem Kriege noch niemand zu behaupten gewagt hatte, daß rationalistische oder gar kirchenfeindliche Gesinnung das untrügliche Kennzeichen des politischen Liberalismus sei. ... Noch verderblicher wirkte das arge Beispiel eines aufgeklärten Gesinnungsterrorismus, der überall nur Pfaffenherrschsucht, Adelsstolz oder Liebedienerei suchte und nachher in der Gehässigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand" 125 .

Diese in Rede stehende Verhöhnung von Christentum und Kirche, der sich viele liberale Parteiführer befleißigten, stieß nicht zuletzt auch auf die Ablehnung des Publizisten Julius von Eckardt. Ihm zufolge überschreite sie eindeutig den Punkt des moralisch Zulässigen. Letzten Endes ziele sie darauf ab, die Kirche ihrer Würde zu berauben und ihre Legitimität grundsätzlich in Frage zu stellen. Über seine Erfahrungen mit dem liberalen Parteimilieu schreibt er: „Die Stelle ernsthafter Erörterungen vertraten stundenlang fortgesetzte Kneipengespräche und Kneipenwitze schlechtesten Tons. Besonders verletzend berührten mich die Roheiten, in welchen diese Männer einander überboten, sobald auf Kirche und Religion die Rede kam und zu Schaustellungen des abgeschmacktesten ,Aufklärichts' Veranlassung genommen werden konnte" 126 .

Auch noch im deutschen Parteiliberalismus des 20. Jahrhunderts sind antikatholische Töne zu vernehmen. So wird im „Politischen Handbuch der Nationalliberalen Partei" aus dem Jahre 1907 der Liberalismus als „energischer Gegner ... des Klerus, der Hierarchie und des Papsttums"127 bezeichnet. Die Hauptaufgabe eines jeden Liberalen bestehe darin, im Kontrapunkt zur Kirche die „Selbständigkeit der modernen Gesellschaft und ihrer Kultur" 1 2 8 auf seine Fahnen zu schreiben. Den „klerikalen Gelüsten nach Beherrschung der Welt durch die Kirche" 1 2 9 stelle der Liberalismus ein Gesellschaftskonzept entgegen, dessen Legitimität auf die Dauer von keinem freiheitlich gesinnten Zeitgenossen angezweifelt werden könne. Antikirchliche Töne sind selbst noch im Parteiliberalismus der Bundesrepublik aufzuspüren. Das gilt vor allem für den Jugendverband der FDP, die „Deutschen Jungdemokraten". Für sie gibt sich jegliche Religionsgemeinschaft als Institution 125 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Teil. Leipzig 1927, S. 97. 126 Julius v. Eckardt, Lebenserinnerungen. Erster Band. Leipzig 1910, S. 147. Besonders indigniert gibt sich W. Kulemann nach einem Gespräch mit Johannes v. Miquel zu erkennen. „Unsere Unterhaltung berührte mehrfach das philosophische Gebiet und die Fragen der Weltanschauung. Aber hier fand ich eine völlige Öde und Leere, einen Agnostizismus, der ja allerdings heute in weiten Kreisen der Gebildeten die Regel ist, der aber doch nach meiner Ansicht ausschließt, eine wirklich bedeutende Persönlichkeit zu sein" (Lebenserinnerungen. Erster Band. Berlin 1911, S. 127). 127 Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei. Herausgegeben vom Centraibüro der Nationalliberalen Partei Deutschlands. Berlin 1907, S. 561. i 2 » Ebd. ™ Ebd.

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zu erkennen, die auf eine antiemanzipatorische Politik aus ist. Aus diesem Grunde fordern sie: „Schaffung der bewußtseins- und verhaltensmäßigen Voraussetzungen für Demokratie in Staat und Gesellschaft, vor allem durch Einschränkung der auf autoritäre Verhaltensweisen zielenden Wirkung der „,Ideologiefabriken' Familie, Kirche, Schule, Bundeswehr, Massenmedien usw." 130 .

Wie dem deutschen Liberalismus, so kann man auch dem französischen kaum nachsagen, allzu kirchenfreundlich gewesen zu sein. Waldemar Gurian zufolge mag manchem die Kirchenpolitik der französischen Spielart dieser Ideologie als Ausweis einer freiheitlichen Geisteshaltung erscheinen. Eine tiefenscharfe Analyse fördere jedoch die Erkenntnis zutage, daß es bei ihr darum ging, den Einfluß der Katholischen Kirche auf Staat und Gesellschaft rigoros zu beschneiden. Was sich insbesondere in der Forderung nach der weltanschaulichen Neutralität des Staates ausdrücke, verweise keineswegs auf eine wie immer geartete Toleranz, sondern rücke die aggressive Ablehnung alles Katholischen in ein besonderes Licht. Die laizistische Toleranz „ist von dem Willen bestimmt, das Volk gegen die Aktivität und den Einfluß des Aberglaubens und seiner Organisationen zu sichern, und führt praktisch zu dem Versuch, eine positive bürgerliche Religion zur Staatsreligion zu machen" 131 . Zur Physiognomie dieser antikirchlichen Politik gehört auch, daß die Revolutionskulte wieder aufleben 132 . Dabei erwies sich nicht zuletzt die mit den französischen Liberalen eng verschwisterte Freimaurerei als eine politische Kraft, die in einem besonderen Maße einer antikatholischen Politik das Wort redete. Sie sei ausgesprochen antikirchlich eingestellt gewesen, habe sich als „Vorkämpferin der freien Menschheit und der natürlichen Gesellschaft gegen die Theokratie und die Priestertyrannen" 133 betrachtet. Was die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der Juli-Monarchie anlargt, so waren sie vom gegenseitigen Mißtrauen bestimmt. Nur vordergründig war die staatliche Kirchenpolitik neutral. In Wirklichkeit ist sie von einem kaum verhohlenen Mißtrauen gegenüber den Katholiken bestimmt. Letzten Endes wurde ihre Kirche als das Relikt einer überwundenen Epoche betrachtet. Was wunder, wenn bis zum Jahre 1836 das Kultusbudget ständig schrumpfte 134. Trotzdem gelang es den 130

Manifest für eine liberale Politik. Deutsche Jungdemokraten. Sechste Auflage. Bonn Bad Godesberg 1980, S. 27. 131 Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus. 1789/1914. Mönchengladbach 1929, S. 252. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 253. Vgl. dazu auch J. P. Parry, „Continental liberals ... viewed the Church as the willig ally of intolerant autocrats, and saw clerics as opponents of free expression and as agents of corruption" (Democracy and Religion. Gladstone and the Liberal Party, 1867 1875. Cambridge 1986, S. 57). Dieser kirchenfeindlichen Ansicht hätten sich auch die englischen Liberalen angeschlossen. „The ,whig-liberals' ... shared many of the religious views generally attributed to mid-century continental liberals" (ebd.). 134 Philippe Vigier, La monarchie de Juillet. Sixième édition. Paris 1962, S. 66.

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Katholiken, in zunehmendem Maße Reputation und Überzeugungskraft zu gewinnen. Für immer mehr Franzosen bildete nicht mehr das laizistisch-liberale Credo die ideologische Richtschnur, sondern das Glaubensbekenntnis der Kirche. Immer mehr Bürger wiesen dem laizistischen Staat seine weltanschauliche Starrheit nach und forderten ihn auf, sein Verhältnis zum katholischen Bevölkerungsteil einer Revision zu unterziehen. Diesem Appell wollte sich Louis Philippe nicht verschließen 135 . Dabei spielte nicht zuletzt die Überzeugung eine Rolle, daß die Soziallehre der Kirche als Abwehrschild gegen die sozialistische Agitation zu dienen in der Lage ist. Er unterstützte diejenigen Bischöfe, die sich jeglicher legitimistischer Äußerungen enthielten und das Bürgerkönigtum akzeptierten 136. Ausgesprochen antikirchlich hat sich vor allem die Dritte Republik gegeben. Ein Gesetz aus dem Jahre 1884 gewährte den Bürgermeistern die Möglichkeit, Aufsichtsrechte über die Religionspraxis auszuüben137. Darüber hinaus wurden katholische Ordensschwestern aus den Hospitälern entfernt und der Religionsunterricht aus dem Curriculum der Volksschulen gestrichen. An seine Stelle trat ein angeblich neutraler Moralunterricht 138 . Die Kirchenpolitik der französischen Radikalsozialisten folgte in dieser Zeit einer Maxime, der insbesondere Emile Faguet beredten Ausdruck gegeben hat. Er schrieb: „Au fond, tout gouvernement est antireligieux" 139 . Das Ziel des liberalen Staates sei, den Einfluß der Kirche zu begrenzen und sie in ihre Schranken zu verweisen. „II ne l'administre que pour la supprimer comme religion véritable" 140 .

Die Analyse des feindlichen Verhaltens vieler Liberaler gegenüber dem Christentum und seinen Kirchen kann nur dann vollständig sein, wenn sie von einem klaren Bewußtsein darüber bestimmt ist, daß sich in ihre Geisteshaltung ausgesprochen freiheitswidrige Bestimmungsmerkmale eingeschlichen haben. Auf diese Weise versündigen sie sich an ihren eigenen Prinzipien. Sie begehen genau denselben Fehler, den sie ihrem ideologischen Gegner anlasten. Diese Ansicht hat insbesondere Owen Chadwick nachhaltig zum Ausdruck gebracht. Er schreibt: „In their attitude to conservative churches, liberals found it hard to stick to their principles ... Liberal principles were liable, in this way, to fade when confronted with reali-

135 Ebd. S. 56. 137 Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus, S. 263. 138 Ebd. 139 Emile Faguet, Le Libéralisme. Paris 1903, S. 111. 136 E b d . ,

140

Ebd., S. 113. Dabei hat auch Jules Ferry, einer der führenden Politiker der Dritten Republik, aus seiner Abneigung gegen die Religion keinen Hehl gemacht. Für ihn widersprachen sich das republikanische Credo und der christliche Glaube. „Mein Ziel ist es, die Humanität ohne Gott und ohne König zu organisieren" (Adrien Dansette, Histoire religieuse de la France contemporaine sous la Illème République. Tome 2. Paris 1951, S. 62).

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Diese Auffassung wird selbst von Parteigängern des Liberalismus geteilt. So gibt Guido de Ruggiero zu, daß bei der liberalen Beurteilung insbesondere der Katholischen Kirche oft ein durch und durch illiberaler Geist Pate gestanden habe. So hätten die Liberalen in ihrem ideologischen Übereifer übersehen, daß auch die Kirche ein Daseinsrecht für sich beanspruchen könne. „Die Liberalen (und noch viel mehr die Demokraten) haben diese Warnungen für die Beziehungen zur Kirche dann und wann vergessen, wenn sie sich angemaßt haben, ihr das Recht des freien Bürgertums im Staat abzusprechen, ohne zu merken, daß ihr Liberalismus durch dieses Vorgehen in eine Form dogmatischen Absolutismus ausartete"1' 2 . Der liberalen Prinzipien verpflichtete Staat, der sich die Unterdrückung der Katholischen Kirche zum Ziele gesetzt habe, versündige sich an seinen Grundsätzen. In ihm sei der Geist des Illiberalismus dominant geworden, jeglicher Sinn für die freiheitliche Werte weit geschwunden. „Die Liberalen, die der Kirche im Namen einer höheren Freiheitsauffassung die offe ne Verkündigung dieser Lehre verbieten und sie einer staatlichen Aufsicht unterstellen möchten, ... erniedrigen sich durch dieses Vorgehen zur Stufe der gegnerischen Auffassung, denn sie kehren ihren Liberalismus in ein Dogma um, das nicht weniger unerträglich und drückend wirkt" 1 4 3 . In ihrem antichristlichen Übereifer hätten die Liberalen übersehen, daß auch die Kirche ein Daseinsrecht beanspruchen k ö n n e 1 4 4 . Nicht zuletzt auch die Katholische Kirche selber hat den Liberalen vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen. Indem sie nämlich die Freiheit, die sie für sich selber fordern, der Kirche verwehren, redeten sie mit gespaltener Zunge. Schon Papst Leo X I I I . hat ihnen auf diese Weise ins Gewissen geredet. So schreibt er in seiner Enzyklika „Liberias praestantissimum":

141

Owen Chadwick: The Secularization of the European Mind in the 19th Century. Cambridge 1993, S. 45. 142 Guido de Ruggiero: Geschichte des Liberalismus in Europa, S. 385. Ruggiero ist der Auffassung, daß die Gewährung kirchlicher Freiheitsspielräume der liberalen Sache durchaus nützt. „Gewährt man der Kirche Freiheit in ihrer Lehre und ihrem Amt, so wird die Knechtung der Gläubigen gegenüber dem Dogma, die in einer theokratischen und irgendwie zwangsmäßigen Ordnung unerträglich und erniedrigend wäre, durch die bloße Tatsache der freien Wahl und des freiwilligen Gehorchens veredelt und in den Bereich des Geistigen erhoben" (Ebd., S. 388). Auf diese Weise „tauchen die positiven Werte des Christentums in einem liberalen Staat aus eigner Kraft auf, zum Wohle der politischen Gesellschaft veredeln sich die Sitten" (Ebd.) 143 Ebd., S. 388. Dabei dürfe auch nicht übersehen werden, daß der Widerstand der Kirche gegen die Allmachtsansprüche des liberalen Staates genuin freiheitliche Momente enthalt. „Und wer den trotzig eigenmächtigen Charakter der heutigen demokratischen Kultur überdenkt, kann nicht bestreiten, daß der Widerstand der Kirche gegen die ,Tyrannis' des Staates, auch wenn sie vom Innern aus ganz anders als liberal handelt, tatsächlich eine Verteidigung und einen Schutz der Freiheit darstellt" (Ebd., S. 389). 4 Ebd., S. 3 .

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Christentum

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„Aus dem Gesagten ergibt sich, was von der Art von Freiheit zu halten ist, welche die Anhänger des Liberalismus mit gleichem Eifer anstreben und preisen. Auf der einen Seite dehnen sie zwar dieselbe für sich und das Staatswesen so weit aus, daß sie keine Bedenken tragen, jeder verkehrten Meinung Tür und Tor zu öffnen; auf der anderen Seite legen sie der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg und schränken so viel als nur möglich ihre Freiheit ein, obgleich die Lehre der Kirche keineswegs Anlaß bietet, einen Nachteil zu befürchten, vielmehr nur große Vorteile von ihr zu erwarten sind" 1 4 5 .

Im Liberalismus begegne uns jene Variante einer Ideologie, die bei ihren Forderungen aus höchst durchsichtigen Gründen auf halbem Wege stehen bleibe. Sein Freiheitspostulat sei also keineswegs jener ideologische Fixstern, an dem er sich unablässig orientiere. Es endet für Leo XIII. genau an dem Punkte, wo auch die Katholische Kirche an ihm partizipieren könne 146 . Auf die Versündigung des Liberalismus an seinen eigenen Grundsätzen hat nicht zuletzt auch Bischof von Ketteier hingewiesen. Seiner Auffassung nach liquidiere diese Ideologie die freiheitlichen Politikprinzipien in dem Maße, in dem sie sich zu den Topoi der Französischen Revolution bekenne. Zu den repressivsten gehöre dabei dasjenige der Staatsomnipotenz. „Diesem Liberalismus ist der Staat und sein Gesetz die einzige Quelle des Rechts und der Freiheit. Der Staatsgewalt gegenüber verschwindet nicht nur jedes persönliche und Privatrecht, sondern sogar die Persönlichkeit und ihr innerstes Heiligtum; denn selbst das Gewissen hat nicht mehr das Recht, nach Gottes Gesetz frei zu urteilen, sondern es muß sein Urteil nach dem Staatsgesetze richten. Der Mensch hat nur die Rechte, nur die Freiheiten, welche ihm das Staatsgesetz zuerkennt" 147 .

Im Deutschen Reich von 1871 seien es vor allem die Nationalliberalen gewesen, die gegenüber den Katholischen Kirche ein durch und durch freiheitswidriges Exempel statuierten. Sie hätten sich beharrlich geweigert, ihren Gläubigen den ihnen zukommenden Aktionsspielraum zu gewähren. „Die französischen Waffen haben unterlegen - und die französisch-revolutionären Grundsätze unterjochen uns. Wer sich nicht knechtisch allen Konsequenzen dieses Reichsliberalismus unterwerfen will, wer noch ein christliches Deutschland mit christlichen Institutionen fordert, wird als Reichsfeind, Ultramontaner etc. verfehmt. Möge Gott unser deutsches Vaterland davor bewahren, daß es nicht-ebenso wie Frankreich durch die Prinzipien der Revolution in Mark und Bein vergiftet werde" 148 .

Der moderne Nationalliberale weist Ketteier zufolge absolutistische Züge auf. Hinter den Masken seiner Liberalität verberge sich eine Einstellung, die ihm widerstrebende Weltanschauungen und Institutionen mit äußerster Hartnäckigkeit verfolge. 145

Papst Leo XIII, Enzyklika Liberias praestantissimum, S. 175. Vgl. dazu auch Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, S. 304. 147 Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteier, Die Katholiken im Deutschen Reiche. Mainz 1873, S. 32. 146

i « Ebd., S. 154 f.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Die durch und durch illiberale Haltung des Nationalliberalismus schließe sich besonders dann auf, wenn man auf seine repressive Natur verweise, darauf aufmerksam mache, daß grundlegende Freiheiten von ihm mit Füßen getreten werden. Ketteier zufolge gehört zur „wahren Freiheit ... auch Freiheit der Familie und der Erziehung, Freiheit des L nterrichtes, Freiheit der Gemeinde, überhaupt Freiheit für alle Genossenschaften, in welchen der Mensch lebt und leben muß, um seine geistigen und materiellen Bedürfnisse z\ befriedigen" 149 .

3. Interferenz und Kongruenz von liberaler Ideologie und christlichem Glaubensbekenntnis Die ostentative Verachtung und Zurückweisung christlicher Ordnungsvorstelungen durch einflußreiche Repräsentanten des Liberalismus sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese politische Doktrin selber auf genuin religiösen Grundlagen basiert. Der freiheitliche Grundgedanke deszendiert keineswegs aus den Reflexionen der liberalen Denkschule allein. Nicht wenige Autoren haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die zentralen Ordnungsideen des Liberalismus keineswegs als sein ureigenstes Produkt angesehen werden könne. John H. Hallowell zufolge verdeckt der oft dogmatische Gestus des liberalen Schrifttums die Herkunft vieler seiner Topoi aus vormodernen Denkanstrengungen. Das gilt besonders für die urliberale Auffassung vom Wert und der Würde des Individuums. „The beliefs, for example, in the absolute moral worth of the individual, in the spiritual equality of individuals, and in the essential reationality of man were a heritage from the Middle Ages and have their roots deep in Christian and Greek thought" 150 .

Auch Arnold J. Toynbee legt großen Wert auf die Feststellung, daß der Individualismus des Liberalismus in vormodernen Denkanstrengungen wurzelt. Eine Sichtweise, die diesen kaum zu leugnenden Tatbestand negiere, verfehle ihren Erkenntnisgegenstand und mache sich der wissenschaftlichen Sünde der selektiven Wahrnehmung schuldig. „Soviel ich weiß, ist dieser Glaube an die weltlichen Rechte des Individuums christlichen und jüdischen Ursprungs. Er leitet sich aus dem Glauben an die Unantastbcjkeit der menschlichen Persönlichkeit her, und dieser Glaube hat offensichtlich christliche Wurzeln. Er stammt aus der jüdischen Auffassung, daß die Seelen vor Gott einen Wert 149 Ebd., S. 33. 1 50 John H. Hallowell: The Moral Foundations of Democracy. Chicago and London 965, S. 80. Über die mittelalterlichen Ursprünge des modernen Individualismus vgl. Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart 1992; Aaron J. Gurjewitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter. Aus dem Russischen. München 1994; Hans Bayer: Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 115 ff.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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besitzen, und aus dem christlichen Glauben, daß Gott einen tatkräftigen Beweis seiner Liebe zu den Seelen der Menschen dadurch gab, daß er selbst Mensch wurde und den Kreuzestod erlitt, um ihre Seelen zu retten. Daher kann man wohl mit Recht sagen, daß das Emanzipationsideal des Westens für den einzelnen trotz seiner Verweltlichung und obwohl sein religiöser Ursprung bei seinen heutigen Anhängern in Vergessenheit geriet, dennoch ein echtes Vermächtnis an die nachchristliche weltliche Zivilisation des Westens ist" 1 5 1 .

Die individuumszentrierte christliche Lehre hat nicht zuletzt auch dazu beigetragen, den antiken Staatsmythos zu zerstören. Es waren nicht zuletzt liberale Autoren, die auf diesen historischen Tatbestand aufmerksam gemacht haben. Zu ihnen gehört vor allem Wilhelm Röpke. „Erst das Christentum hat die revolutionäre Tat vollbracht, die Menschen als Kinder Gottes aus der Umklammerung des Staates zu lösen 4 ' 152 . Die christliche Lehre hat diesem bedeutenden neoliberalen Denker zufolge „im Gegensatz zur Gesellschaftsauffassung der heidnischen Antike den einzelnen Menschen mit seiner unsterblichen und nach ihrem Heil strebenden Seele in den Mittelpunkt" 153 gerückt. In diesem Zusammenhang weist Gerhard Krüger darauf hin, welche entscheidende Bedeutung Augustinus bei diesem Transformationsprozeß zukommt. Höchst pointiert und durchaus interpretationsbedürftig behauptet er, daß Augustinus „das Ich entdeckt" 154 hat. Dabei verdankt sich auch der Solidaritätsgedanke, der im Linksliberalismus eine entscheidende Rolle spielt, dem Christentum. Es war nicht zuletzt Georges Sorel, der mit allem Nachdruck auf diese ideologische Herkunft aufmerksam gemacht hat. Kein ernsthafter Denker könne übersehen, daß die moderne Kapitalismuskritik und ihr Rekurs auf die Notion der Gemeinschaft „aus den Grundlehren des Christentums" stamme. „La pensée juive, conservée par le christianisme, donne une force irréstible au grand mouvement des protestation ... contre la société moderne" 155 .

Die vom Christentum inspirierte Kritik an der kapitalistischen Tauggesellschaft sei besonders in England auf fruchtbaren Boden gefallen 156 . Jegliche Reflexion auf die christlichen Ursprünge des modernen Freiheitsgedankens muß sich auch der Tatsache versichern, daß dieser tief in der mittelalterlichen 151

Arnold J. Toynbee, Das Christentum und die Religionen der Welt. Aus dem Englischen. Gütersloh 1959, S. 59 f. Vgl. dazu auch Franz-Xaver Kaufmann, Wie weit reichen die christlichen Wurzeln des Rechts- und Sozialstaates? Ein Beitrag zum Verstehen der Moderne, in: Herder-Korrespondenz 43 (1989), S. 319. 152 Wilhelm Röpke, Das Kulturideal des Liberalismus. Frankfurt am Main 1947, S. 12. 153 Wilhelm Röpke, Civitas Humana. Erlenbach-Zürich 1946, S. 197. Vgl. dazu auch Christopher Dawson, Bericht über die Völker. Aus dem Englischen. Einsiedeln /Zürich 1945, S. 60 und passim. 154 Gerhard Krüger, Grundlagen der Philosophie. Frankfurt am Main 1958, S. 123. 155 Georges Sorel, La ruine du monde antique. Troisième édition. Paris 1933, S. 289. •56 Ebd. 6 J. B. Müller

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Philosophie wurzelt. Gerade diese Schule leistete einen entscheidenden Beitrag zur Ausgestaltung dieses für die Neuzeit so entscheidenden Topos. Dabei kommt nicht zuletzt William von Ockham in diesem Punkte eine überragende Bedeutung zu. So schreibt Hermann Krings: „Dieser Umbruch von dem Festhalten an der ewigen und unveränderlichen Ordnung zur Möglichkeit des ,Neuen' aus reiner Freiheit war eine Quelle jenes Prozesses des europäischen Geistes, den man in einem weiten Sinn als den Prozeß der Freiheit bezeichnen kann und der die folgenden Jahrhunderte - das halbe Jahrtausend bis Kant - in Anspruch nehmen sollte. In einer frühen Form hat Ockham die Grundzüge dessen gedacht, was in den folgenden Jahrhunderten im Bereich der Logik und der Theorie des Wissens, im Bereich der Theologie und der Sozialpohilosophie, vor allem aber im Bereich der Freiheitslehre als neue Struktur hervorgetreten ist und was den vieldeutigen Namen ,Neuzeit' mitbegründet hat... Es klingt seltsam, daß die Wiege der neuzeitlichen Freiheitsidee im ,finsteren Mittelalter' gestanden haben soll" 1 5 7 .

Auch Thomas von Aquin ordnet seine Denkmotive zu überraschend freiheitlich eingefärbten Denkkonstellationen. Indem er sich dezidiert auf die menschliche Willensfreiheit beruft, streicht er seine Modernität heraus 158. Er hat in sein christliches Grundmuster einen Zug eingeprägt, der ihn als einen ausgesprochen modern anmutenden Denker ausweist. Ein genuin liberal-individualistisches Moment ist auch in der rationalen Untersuchungs- und Diskussionsmethode der Scholastik zu respektieren. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das ihre Gelehrsamkeit bestimmt, dann ist es der in immer neuen Anläufen erprobte Versuch, die Vernunft des Individuums sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie zu respektieren und in Anwendung zu bringen. In wie starkem Maße sich der rationale Geist des modernen Liberalismus auf diese Weise in der Scholastik vorfindet, darauf hat nicht zuletzt Jacques LeGoff hingewiesen. „Mit den Gesetzen der Nachahmung verknüpft die Scholastik die Gesetze der Vernunft, mit den Vorschriften der Autoritäten die Argumente der Wissenschaft. Mehr noch, und dies ist ein entscheidender Fortschritt des Jahrhunderts, die Theologie beruft sich auf die Vernunft, sie wird zur Wissenschaft" 159.

Man verzichtet auch auf einen wichtigen intellektuellen Zugang zur modernen Demokratie- und Vertragslehre, wenn man ihre scholastischen Ursprünge außer 157

Hermann Krings, Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Freiheitsidee bei Wilhelm von Ockham, in: Otl Aicher/Gabriele Greindl/ Wilhelm Vossenkuhl, Wilhelm von Ockham. Das Risiko modern zu denken. Zweite Auflage. München 1987, S. 18. Vgl. dazu auch Jürgen Miethke, Ockhams Wege zur Sozialphilosophie. Berlin 1969. 158 Vgl. dazu Johannes Auer, Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus. München 1938; Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung. München/Paderboiη / Wien 1974. 159 Jacques LeGoff, Die Intellektuellen im Mittelalter. Zweite Auflage. Aus dem Französischen. Stuttgart 1987, S. 96.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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acht läßt. So wird das gesamte Spektrum ihrer Denkmöglichkeiten schon von Thomas von Aquin thematisiert. Es war vor allem Gaetano Mosca darum zu tun, ihn als einen genuin antiabsolutistischen Staatsphilosophen zu porträtieren. Vor allem der Vergleich mit Bossuet zeige, daß zwischen den beiden Autoren ein Gegensatz bestehe, der kaum größer sein könne. Während der Franzose zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts eine Lehre vom Gottesgnadentum vorgetragen habe, derzufolge die Völker sich niemals gegen ihre Fürsten erheben dürfen, gebe sich Thomas als Denker zu erkennen, dem derlei Ordnungsvorstellungen völlig fremd sind. „Der hl. Thomas ... anerkennt in seiner Summa in gewissen Fällen den Aufstand und vertritt das Recht der Völker, sich ihre Regierungsformen nach ihrem Gutdünken zu wählen" 160 .

Darüber hinaus habe er „für eine Verschmelzung der drei aristotelischen Staatsformen, der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie" 161 das Wort geredet. Dabei war es nicht zuletzt auch Peter Tischleder, der auf die Bedeutung des Aquinaten für die Ausgestaltung des modernen Demokratiegedankens aufmerksam gemacht hat. Thomas sehe „das die Staatsgemeinschaft bildende Volksganze als natürlichen Träger der Staatsgewalt"162 an. Er habe der „tota multitudo als vernunftbegabter Einzelperson" 163 das Recht zugesprochen, sich im politischen Bereich selbst zu bestimmen. Damit sei ohne Einschränkung „die Gesamtperson der staatlichen Gemeinschaft nicht nur als Objekt, sondern als das naturrechtliche Subjekt der Staatsgewalt"164 konstituiert worden. Christopher Morris geht in diesem Zusammenhang sogar so weit, die Scholastik als ideologische Vorläufer des Whiggismus zu interpretieren. „In a sense the schoolmen were Whigs" 1 6 5 . Diese Behauptung entbehrt keineswegs jeglicher Relevanz, wenn man die Widerstandslehre der Scholastik in den Blick nimmt. Das Recht, dem Staate gegenüber den Gehorsam zu versagen, ist in ihrer Naturrechtsdoktrin unmittelbar angelegt. Nach Tischleder erklärt Thomas „mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheit ... den aktiven Widerstand des Volkes gegen einen ... Tyrannen für erlaubt; weil er eben als invasor kein wahrer Vorgesetzter der Bürger ist, hat er keinerlei Recht auf ihren Gehorsam" 166 . 160

Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft. Aus dem Italienischen. München 1950, S. 309. 161 Ebd. 162

Peter Tischleder: Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule. Mönchengladbach 1923, S. 86. 163 Ebd., S. 89. 164 Ebd. 165 Christopher Morris: Political Thought in England. London, New York and Toronto 1953, S. 7. 166 Peter Tischleder: Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, S. 104. Auf die Modernität von Thomas von Aquin weist auch Lord Acton hin. „A very liberal modern might be composed of St. Thomas and his antipode Marsilius,

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Die Widerstandslehre von Thomas von Aquin hat George H. Sabine zufolge auch das Denken von John Locke inspiriert. An diesem Punkte sei zwischen den beiden Staatsphilosophen kaum ein Unterschied auszumachen. „It speaks volumes for the persistence and the pervasiveness of this moral conception of law and government, that John Locke, writing four centuries later, could still find no argument more convincing with which to defend the fundamental right of a people to depose a tyrannous ruler" 167 .

Bei der Untersuchung des Einflusses der Scholastik auf die Ausgestaltung des modernen Demokratiegedankens darf vor allem auch die Spätscholastik nicht aus dem Blick gelassen werden. Darauf hat Franz-Xaver Kaufmann zu Recht aufmerksam gemacht. „Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die Lehren der spanischen Spätscholastik, welche neben dem englischen Common Law vielleicht die wichtigste Brücke zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Rechtsdenken bilden" 168 .

Wie modern-liberal beispielsweise schon Franz Suarez dachte, hat nicht zuletzt Alois Dempf unter augenfälligen Beweis gestellt. Dieser spanische Jesuit vertrete unzweideutig „die Lehre von der Übertragung der Staatsgewalt vom Volke auf die Regierung" 169 . Dabei habe er sich in eine eindeutige Kampfstellung gegen die englischen Repräsentanten des „Divine Right of Kings" 1 7 0 begeben. Im Visier seiner demokratisch eingefärbten Kritik stand dabei vor allem die „legitimistische Staatslehre König Jakobs" 171 . Ganz im Gegensatz zu Thomas Hobbes weise die politische Doktrin von Suarez keinerlei Submissionselemente auf. „Es liegt kein Unterwerfungsvertrag vor, kein servitus, kein Verlust der Freiheit, wie sie nach der Theorie des Thomas Hobbes der Sinn des Gesellschaftsvertrages ist" 1 7 2 .

Darüber hinaus weist Heinrich Rommen darauf hin, daß es entscheidende Denkparallelen zwischen der Demokratielehre von Suarez und derjenigen von Rousseau gibt. Bei beiden ruhe die Staatsgewalt, die mit dem staatlichen Zusammenschluß der Volksgenossen sofort da war „ . . . rechtlich im staatlich geeinten Volksganzen, das also naturrechtlicher Träger der Staatsgewalt"173 ist. taken in equal quantities" (Selections from the Acton Legacy. In: Selected Writings of Lord Acton. Volume III. Ed. by J. Rufus Fears. Indianapolis 1988, S 529). 167 George H Sabine, A History of Political Theory, S. 255. 168 Franz-Xaver Kaufmann, Wie weit reichen die christlichen Wurzeln des Rechts- und Sozialstaats?, S. 318. 169

Alois Dempf, Christliche Sozialphilosophie in Spanien. Salzburg 1937, S. 78. 170 Vgl. dazu diese Abhandlung, S. 24 ff. 171 Alois Dempf, Christliche Sozialphilosophie in Spanien, S. 78. '72 Ebd., S. 81. 173 Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S. J., Mönchengladbach : 926, S. 167. Vgl. dazu auch Leopold von Ranke, Die Idee der Volkssouveränität in der Schriften der Jesuiten. In: Abhandlungen und Versuche. Leipzig 1872, S. 225 ff.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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Dabei verwundert es auch keineswegs, daß die Staatslehre von Suarez von allen denjenigen vehement abgelehnt wurde, die im Denkhorizonte eines patriarchalischen Politikentwurfes alle demokratischen Überlegungen verwarfen. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt John Filmer. In einem ausgesprochen gereizten Ton schreibt er: „Father Suarez the Jesuit riseth up against the royal authority of Adam in defence of the freedom and liberty of the people" 174 .

Einen entscheidenden Einfluß auf die Ausgestaltung des liberalen Ideenkreises hat nicht zuletzt auch der Protestantismus ausgeübt. Mit G. P. Gooch sind sich alle Gelehrten darüber einig, daß insbesondere die Forderung nach einer autoritätsunabhängigen Auslegung der Bibel genuin liberale Tendenzen in sich birgt. „Free inquiry... led straight from theological to political criticism" 175 .

Auch das protestantische Prinzip der allgemeinen Priesterschaft enthält liberale und demokratische Bestimmungsmomente. Ihr wohnt nicht nur die Vorstellung der Gleichheit aller Gläubigen, sondern auch diejenige der Staatsbürger inne. Dabei ist es nicht zuletzt Martin Luther, der dem subjektivistischen Bestimmungsfaktor in seinem theologischen Denken einen entscheidenden Einfluß gewährte. Das ist die Konsequenz einer Auffassung, die auf die institutionelle Absicherung religiöser Aussagen glaubt verzichten zu können und dem Individuum die Aufgabe überträgt, sein Verhältnis zu Gott ohne Mittlerinstanzen zu bestimmen. In wie starkem Maße Luther eine ausgesprochen subjektivistische Theologie vertrat, darauf hat Joseph Lortz hingewiesen. „Aus allem, was wir von Luther wissen, bezeugt sich jene Geisteshaltung, die nicht weniger als das Schicksal der modernen Welt wurde, und dies weithin durch Luther: der Subjektivismus. Nicht Luther hat den Subjektivismus als allgemein wirkende Potenz in das Abendland eingeführt. Aber er tat - trotz seinen dogmatischen Bindungen - für seinen Triumph mehr als irgend ein anderer. Denn er führte ihn zum Sieg im Bereich des Unantastbarsten, das es gab. Wenn auch gegen seinen Willen" 1 7 6 .

Dabei ist Lortz keineswegs der Auffassung, daß Luther deswegen besonders zu loben sei. „Luthers Mitschuld an der verhängnisvollen Herrschaft des Subjektivismus in der neuen und neuesten Geschichte zu erkennen, ist die Hälfte seiner Erkenntnis und seiner Bewertung" 1 7 7 . 174 Robert Filmer, Patriarcha and Other Writings, ed. by Johann P. Sommerville. Cambridge 1991, S. 15. 175 G. Ρ: Gooch, English Democratic Ideas in the Seventeenth Century. Second edition. New York 1959, S. 8. Schon Montesquieu war der Auffassung, daß sich die „katholische Religion ... mehr für eine Monarchie" eignet und die „protestantische ... besser zu einer Republik" passe. (Vom Geist der Gesetze. Eine Auswahl, hrsg. von Friedrich August Freiherr von derHeydte. Berlin 1950, S. 164.) 176 Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland. Erster Band: Voraussetzungen / Aufbruch. Erste Entscheidung. Freiburg im Breisgau 1939, S. 408.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß auch die calvi nistische Ausprägung des Protestantismus liberal-demokratischen Geist atmet. Auch wenn sich bei ihrem Gründer noch so viele autoritäre Topoi finden, letzten Endes hat der Genfer Theologe doch dem freiheitlichen Politikgedanken den Weg gewiesen. Darauf hat vor allem G. P. Gooch mit allem Nachdruck hingewiesen. Letzten Endes war es seine Betonung des einzelnen Gewissens, die Calvins Lehre einen genuin freiheitlichen Charakter verlieh. „Calvin only refrains from saying that the Bible was to decide when the duties of the Christian conflicted with the duties of the subject because his meaning was too obvious to need stating. But when politica and theology were inseparable, and when each individual found in the Bible what he desired to find, Calvin's authorisation made each man the judge in his own case of conscience"178.

Auf diese Weise habe Calvin dem modernen Freiheitsgedanken in nachhaltiger Weise Sukkurs erwiesen. „The teaching of Calvin ... made steadily for popular right" 1 7 9 .

Dabei gehört es zu den keineswegs zu vernachässigenden Besonderheiten der Geschichte der politischen Ideen, daß es im England des 17. Jahrhunderts zu einer hochinteressanten ideologischen Wechselwirkung zwischen den Calvinisten und der spanischen Spätscholastik kam. Es waren die demokratischen Ordnungsvorstellungen der beiden Denklager, die die Basis für diese Interaktion abgaben. So schreibt der englische Historiker Mark Goldie: „The crucial element in the whole account was the linkage between the Catholic and Calvinist traditions: the radical Calvinists were the inheritors of Catholic scholasticism. It was the Catholic neo-Thomists of the Counter-Reformation ... who had been the lïrst to articulate that most dreadfull of doctrines, that political power lay with the people, who had a right to revolt against their Prince- a doctrine which, in Calvinist guise, had ultimately embroiled England in civil war. Catholicism had made revolutionary Calvinism possible" 180 .

Dabei waren viele Torys darüber entsetzt, daß sich ihre liberalen Gegenspieler von den spanischen Spätscholastikern beeinflussen ließen. „A powerful part of Tory polemic was the insistence that Whig doctrines were derivative of Roman Catholic theory" 181 .

In ihren Augen wurde auf diese Weise die Krone delegitimiert und den beiden smistren Mächten „Pope or People 4 ' 182 ausgeliefert. 177

Ebd., S. 409. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller (Hrsg.): Luther und die Deutschen. Texte zur Geschichte und Wirkung. Stuttgart 1996. 178 G. Ρ Gooch, English Democratic Ideas, S. 5. ι™ Ebd., S. 7. Mark Goldie, John Locke and Anglican Royalism, in: Political Studies 31 (1933), S. 72. lei Ebd., S. 71. 180

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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Eine enge Verbindung von modernem Demokratiegedanken und Christentum ergibt sich auch aus dem keineswegs unwichtigen Tatbestand, daß im calvinistischen Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts die Vertragsidee aus dem Bunde Gottes mit dem Volke Israels abgeleitet wurde. Darauf hat nicht zuletzt Gerhard Oestreich hingewiesen. Die Anhänger der „Idee des religiösen Bundes" 183 verknüpften ihm zufolge diese mit dem demokratischen Staatsgedanken. Nach ihrer Auffassung sollte jedes christliche Gemeinwesen „ein Bund vor Gott sein in Analogie zur religiösen Gemeinde, die ein Bund Gottes mit den Menschen ist" 1 8 4 . Dieser Ordnungsvorstellung stimmten nicht nur die europäischen Calvinisten, sondern auch die amerikanischen zu 1 8 5 . Dabei weist Gerhard Oestreich darauf hin, daß diese Form der religiösen Begründung des demokratischen Staatsgedankens im Laufe der Zeit aufgegeben wurde. Die fortschreitende „Enttheologisierung des Daseins" 186 habe die „Verbindung von religiösem und politischem Covenant" 187 durchschnitten. Insbesondere auf dem Kontinent sei diese genuin religiöse Legitimierung der Demokratiekonzeption als rückschrittlich empfunden worden 188 . Auch ein Blick auf die französische Revolutionsgeschichte zeigt, in wie starkem Maße sich christliche Ordnungsvorstellungen und demokratische Ideale miteinander verschwistern können. Dabei waren es nicht zuletzt am Vorabend der Ereignisse von 1789 viele Priester, die sich für die revolutionären Ziele begeisterten und diese im Horizonte ihrer Glaubensüberzeugung interpretierten und legitimierten. Hans Maier zufolge fiel nicht zuletzt dem „schlichten, uneigennützigen Landpfarrer... die natürliche Vermittlungsrolle" 189 zwischen der Kirche und den Umsturzkräften zu. Dieser Aufgabe nachzukommen sei um so leichter gewesen, als viele Repräsentanten der revolutionären Idee zunächst keinerlei Vorurteile gegenüber der Kirche hegten. „Wo immer sich die maßgebenden Wortführer der Revolution über kirchliche Probleme äußerten ... da betonen sie ihre Anhänglichkeit an die römische Kirche und brachten ihren Willen zum Ausdruck, dieser Kirche auch in dem neuen Staatsbau einen würdigen Platz zu schaffen" 190.

>82 Ebd. 183 Gerhard Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, hrsg. von Wilhelm Berges/Carl Hinrichs. Berlin 1958, S. 30. 184 Ebd., S. 30 f. 185 Ebd., S. 30. Vgl. dazu auch den Mayflower Compact vom 11. November 1620, in: Great Political Documents of the United States in America. Leipzig 1921. 186 Ebd., S. 32. 187 Ebd. iss Ebd. 189

Hans Maier: Die Französische Revolution und die Katholiken. In: Kirche und Gesellschaft. Herausgegeben von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Nr. 161. Köln 1989, S. 4. 190 Hans Maier, Revolution und Kirche. Zweite Auflage. Freiburg im Breisgau 1965, S. 78.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Auch nach Ernst Schulin muß diese progressive Haltung des französischen Kletus erkannt sein, will man sich nicht jeglichen Verständnisses für die Genesis der Revolution von 1789 begeben. So hätten viele Pfarrer auf ihrer Kanzel die Auffassung vertreten, daß „Christus für die Demokratie der Welt gestorben" 191 sei und die „Aristokratie ... den Gottessohn gekreuzigt" 192 habe. Zu den Geistlichen, die sich aktiv für die Revolution einsetzten, gehörte nicht zuletzt Claude Fauchet 193 . Er ließ es sich nicht nehmen, die Volksmassen beim Sturm auf die Bastille anzufeuern. Die gefallenen Revolutionäre wurden von ihm sogar als christliche Märtyrer bezeichnet194. Zur Entfremdung zwischen dem aufstandsbegeiSterten Klerus und dem revolutionären Staat kam es allerdings, als dieser sich anschickte, die Kirchengüter zu verstaatlichen und sich in die inneren Angelegenheiten der Kirche einzumischen. In einem Kapitel, in dem die Interferenzen und Kongruenzen zwischen Christentum und Liberalismus aufgespürt werden, muß selbstverständlicherweise auch auf diejenigen Theoretiker des liberalen Ideenkreises eingegangen werden, die im Gegensatz zu John Stuart Mill und Herbert Spencer das Christentum nicht abgelehnt, sondern bejaht haben. Der Liberalismus würde in einer höchst verzerrten Weise gezeichnet werden, wollte man diese überaus wichtige Denkgruppe unerwähnt und unberücksichtigt lassen. Was diese christentumsbejahenden Theoretiker des liberalen Ideenkreises anlangt, so kann man sie in zwei Gruppen einteilen. Die einen akzeptieren das Christentum als stabilitätsgewährende Basis des liberalen Gemeinwesens, ohne allerdings die christlichen Dogmen zu akzeptieren. Die anderen dagegen bemühen sich, als Repräsentanten der christlichen Kirchen den Brückenschlag zwischen ihrem Credo und der liberalen Doktrin zu versuchen. Zur ersten Gruppe zählt zweifellos Benjamin Constant. Er geht zunächst davon aus, daß Religion und Liberalismus wechselseitig miteinander verschränkt sind. „Wenn ihr die Grundvorschriften aller Religionen genau erforschet; so werdet Ihr sie immer mit den ausgedehntesten Grundsätzen von Freiheit, man könnte sagen, mit so ausgedehnten Grundsätzen von Freiheit in Übereinstimmung finden, daß die Anwendung derselben in unsern politischen Vereinigungen bis auf den heutigen Tag unmöglich zu sein scheint. ... Wenn wir das religiöse Gefühl an sich, und unabhängig von allen Formen, die es annehmen kann, betrachten; so ist offenbar, daß es durchaus keinen Grundsatz, keinen Grundstoff von Sclaverei enthält. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, die nichts anders, als Freiheit ist, sind ihm vielmehr seine Lieblingsbegriffe" 195 .

191

Ernst Schulin, Die Französische Revolution. Zweite Auflage. München 1989, S. 104 . 192 Ebd. 193

Vgl. dazu Claude Fauchet, De la religion nationale. Paris 1789. Vgl. dazu Karl Dietrich Erdmann, Volkssouveränität und Kirche. Köln 1949, S. 78. 195 Benjamin Constant, Die Religion nach ihrer Quelle, ihren Gestalten und ihren Entwicklungen. Aus dem Französischen. Erster Band. Berlin 1824, S. 96 ff. 194

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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Constant zufolge gerät ein Volk, das die Religion ablehnt, in die Gefahr, despotisch regiert zu werden. Die Koordinaten des atheistischen Weltbildes tendieren zu einer Regierungsweise, die alle Freiheitsregungen der Menschen erstickt. „Der Mangel des religiösen Gefühls begünstigt ... alle Ansprüche der Tyrannei. Wenn das Los des Menschengeschlechts dem Ungefähr eines körperlichen und blinden Verhängnisses überliefert ist, ist dann zu verwundern, daß es oft von den unfähigsten, grausamsten und niederträchtigsten Sterblichen abhängt? ... Religiöse Völker haben Sklaven werden können; aber kein ungläubiges Volk blieb frei" 1 9 6 .

Seine Kritiker haben allerdings darauf hingewiesen, daß Constants Bejahung des Christentums zu sehr auf einen vom pragmatischen Geist bestimmten Ton gestimmt ist. Bei ihm begegne uns jene Variante eines liberalen Denkers, der sich zugleich christentumsbejahend und kirchenfeindlich gibt. Bei ihm würden die weltanschaulichen Linien bis zu jener Grenze ausgezogen, bei der jeglicher institutionelle und dogmatische Anspruch der christlichen Religionsgemeinschaften der Illegitimität anheimfällt 197 . So urteilt Luis Diez del Corali: „Mit strenger Konsequenz scheint dieser Autor alles auszumerzen, was im Christentum etwas mit Gemeinschaft oder Dogma zu tun hat; übrig bleibt ein rein individuelles Gefühl" 1 9 8 .

Constants zugleich bejahende und skeptische Haltung gegenüber dem Christentum kommt in derjenigen Passage seines Hauptwerkes „Über die Gewalt" zum Ausdruck, in der er die Gehorsamspflicht des gläubigen Christen mit derjenigen vergleicht, die von einer despotischen Regierung von ihren Bürgern abverlangt wird. Seiner Überzeugung zufolge sei jene dieser bei weitem vorzuziehen. „Was mich betrifft, erkläre ich, daß ich, vor die Wahl gestellt, das religiöse Joch dem politischen Despotismus vorziehe" 199 .

Der von seiner Religion geknebelte Gläubige besitze wenigstens noch jenes Mindestmaß an eigener Würde, die dem von einer Tyrannei unterdrückten Menschen weitgehend abgehe. „Unter jenem besitzen wenigstens die Sklaven eine Überzeugung und nur die Tyrannen sind verderbt; ist aber die Unterdrückung bar jeder religiösen Idee, so sind die Sklaven sittenlos und so verworfen wie ihre Herren" 200 .

Aus diese Grunde ist er auch keineswegs bereit, demjenigen, der sich einem christlichen Dogma fügt, seinen Respekt zu versagen. Auch wenn er letzten Endes diese Haltung zurückweist, akzeptiert er deren sittliche Grundsubstanz. 196 Ebd., S. 100 f. 197 Ebd., S. 116 ff. 198 Luis Diez del Corral , Doktrinärer Liberalismus. Guizot und sein Kreis. Aus dem Spanischen. Neuwied am Rhein/Berlin 1964, S. 149. 199 Benjamin Constant, Über die Gewalt. Aus dem Französischen. Bern 1942, S. 143. 200 Ebd.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum „Ein Volk, das von der Last des Aberglaubens und der Unwissenheit niedergehalten wird, müssen wir beklagen, aber wir können es achten ... Es ist noch von einem Gel uhi der Pflicht geleitet. Es kann Tugenden haben, wenn auch schlecht geführte" 201 .

Constants ideologischem Kaleidoskop aus Christentumsbejahung und Religionsskepsis steht die Geisteshaltung derjenigen liberalen Denker gegenüber, die die Lehre der christlichen Religionsgemeinschaften und die liberale OrdnungsVorstellung in nahtlose Übereinstimmung zu bringen suchen. Zu ihnen gehört zweifellos der englische Premierminister William Gladstone. Ihm zufolge erscheint ein nicht auf christlicher Grundlage basierendes politisches Gemeinwesen als eine Entität, das nur noch von einem utilitaristischen Bezugsrahmen zusammengehalten wird. Die Klammer, die seine Einheit verbürgt, ist nicht mehr der religiös-christliche Sinn für Gerechtigkeit und Menschenwürde, sondern die ausschließliche Orientierung an den höchst irdischen Zwecken der Triebbefriedigung. Es wird nicht mehr von einem Begriff beherrscht, „der hinausgeht über das Sichtbare in das Unzerstörliche, ohne Tugend, ohne Ruhm, ohne Geist, ohne Liebe" 2 0 2 . Auf diese Weise wird „just das Gebiet, welches zur Ausbildung der sittlichen Kräfte vorbestimmt und geordnet ist, der Herrschaft der Sinne und des Verstandes, der sich zum Sklaven der Sinne macht, und des Hochmutes, der nur für einen Augenblick die bitteren Früchte der Empörung verbergen kann, überlassen" 203.

Allein die christliche Religion und ihre sittlichen Vorstellungen sind imstande, das politische Gemeinwesen auf eine moralische Grundlage zu stellen und zu einem sinnvollen Ganzen zu veredeln. „Welche andere Bedeutung hat die Offenbarung oder kann sie haben, als die eine Veranstaltung, das Leben und die Handlungen der Menschen zu einem Ganzen zu verschmelzen und die Beziehungen zwischen diesem Leben in allen seinen Bestandteilen auf der einen und Gott, in dem es wurzelt, auf der anderen Seite festzustellen und zu verwirklichen?" 204

Einheitlich artikuliert sich in allen Schriften Gladstones die Kritik an denjenigen, die darauf aus seien, das Christentum seiner bisherigen gesellschaftlichen und politischen Wirkkraft zu berauben. „Setzen wir nicht gefährliche Trugbilder in den Schrein, in dem bisher die Leuchte der Wahrheit überall ... geleuchtet hat. Wenn das Licht, das in uns, Finsterniß ist, wie groß ist diese Finsternis? Wie das Auge des Leibes Licht ist, so war auch der Staat Seele und Auge des politischen Körpers, und dieses Auge sollen wir seiner Sehkraft berauben. 201 Ebd. 202 W. E. Gladstone, Der Staat in seinem Verhältnis zur Kirche. Aus dem Englischen. He lle 1843, S. 536. Vgl. dazu auch J. Ρ Parry, Democracy and Religion. Gladstone and the Liberal Party 1867 - 1875. Cambridge 1989. 2 03 Ebd., S. 536 f. 204 Ebd., S. 532.

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Wenn wir mit Überlegung das Princip, ohne Gott zu handeln, aussprechen, wie viel mehr werden wir ohne und gegen Ihn handeln, als da wir noch nicht die Lüge auf unsere Lippen gebracht hatten?" 205

Eine Gesellschaft, die auf derart antichristlichen Prinzipien basiert, gerät in Gefahr, sich endgültig aus der überkommenen Normenwelt zu lösen und der Autodestruktion anheimzufallen. „Wann auch auf dieses oder ein anderes Fundament ein vollständiges Gebäude verstockter Selbstsucht, als universaler Typus des menschlichen Charakters errichtet sein wird, so kann wohl der Tag gekommen sein für die Herrschaft des Elends und schrecklich wütender Verbrechen" 206.

Allein die Religion sei in der Lage, die Leidenschaften der Menschen zu zügeln und sie zu kooperativen Mitgliedern eines sittlichen Ganzen zu machen. „In Wahrheit fühlt man es, wie unerträglich die Tyrannei sein würde, wenn die niederen Elemente der menschlichen Natur ein Übergewicht erhielten; wenn wir plötzlich herabstiegen von der erhabenen Lehre, die nach Burke das Gemeinwesen und alles, was in ihm dient, heiligt, zu dem bloßen Sensualismus, in die die politische Ökonomie, wenn alle ihre Forderungen eingeräumt würden, auslaufen müßte" 207 .

Ohne den Geist des Christentums besteht auch die Gefahr, daß die Gesellschaft gegenüber den Mühseligen und Beladenen nicht mehr diejenige Hilfsbereitschaft entgegenbringt, die die überkommene Religion einfordert. „Werden die Ströme des Mitleids reichlicher fließen in Gemeinden, wo der Name Christi Ehre von der Masse weder fordert noch empfängt, wo es für etwas die Gesellschaft nicht berührendes gehalten wird, ob Jemand sich zum Glauben der geoffenbarten Religion bekennt oder nicht? Wir müssen der großen Tatsache eingedenk sein, daß wir allein dem Christentum die Anstalten verdanken, welche systematisch den Kranken, wie Verwundeten, den Witwen und Waisen und den Geistesschwachen Hülfe gewähren, und das Recht der Armen, vom Lande unterstützt zu werden, anerkennen und ihm willfahren" 2 0 8 .

Dabei läßt Gladstone auch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß viele Mitglieder seiner eigenen politischen Denkfamilie der Religion nicht die notwendige Hochschätzung entgegenbringen. Die „Phraseologie des modernen Liberalismus" 2 0 9 sei vielmehr darauf aus, die Menschen vom überkommenen religiösen „Joch" zu emanzipieren, um sie in eine gottferne Zukunft zu führen. Gerade unter dem sogenannten „Intellektualismus" 210 und seiner Verstandesanbetung seien die „höheren Geisteskräfte" 211 in Gefahr, der Auszehrung anheimzufallen. 205 206 207 208 209 210

Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

561. 543. 571. 540 f. 558. 572.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Was den deutschen Liberalismus anlangt, so bemühte sich vor allem Friedrich Naumann, sein Bekenntnis zum Christentum mit dem Credo seiner politischen Familie zu verbinden. Er geht davon aus, daß beide Wirkmächte sich gegenseitig weniger dementieren als vielmehr erhellen. Leider entfalte die Kirchenfeindschaft des Liberalismus bis heute ihre Ausstrahlung. „Und wir in Deutschland? Auch wir kennen den Liberalismus als Gegensatz zur Kirchlichkeit, und zwar ebensowohl auf protestantischem wie katholischem Boden. Wie heftig kirchenfeindlich war der ältere deutsche Liberalismus ! ... Und auch heute ist die Streitaxt nicht ganz begraben" 212.

Naumann wendet sich heftig gegen das Vorurteil, daß Liberalismus und Christentum notwendigerweise ein feindschaftliches Verhältnis aufweisen müssen. Seiner Auffassung nach summieren sich die Einwände gegenüber einer derartigen Po dtion zu einer Bilanz, die zur Revision auffordert. Das Argument von ihrer grundsätzlichen Wesensverschiedenheit treffe nur so lange zu, solange man sich mit ungeprüften Schlagwörtern und invektiven Kampfbegriffen begnüge. Dezidiert legt Naumann Wert auf die Feststellung, „daß mit der Gegnerschaft das Verhältnis von Religion und Freiheitssinn längst nicht erschöpft sein kann" 2 1 3 . Schließlich seien dem Gesicht des Christentums ausgesprochen liberale Züge eingeprägt. „Die Geschichte der Religion ... ist voll von Beispielen einer freiheitlichen Unbeugsamkeit, die jedem Demokraten, und nenne er sich selbst den reinen Atheisten, größte Achtung abnötigen müssen" 214 .

Als die augenfälligsten Beispiele für diese respekterheischende liberale Haitang können Naumann zufolge die christlichen Märtyrer gelten. „Ich stand in Italien auf den Stufen einer Arena, in der einst Menschen mit wilden Tieren kämpfen mußten. Darunter waren Leute, die um ihres Glaubens willen tapfer und freudig in den gräßlichen Tod hineingingen. Diese Geschichte der Märtyrer ist groß, bis hin zu den christlichen Negern, die in Uganda verbrannt wurden ... Todesverachtung aber war immer etwas, was der Freiheitsgeist entweder besaß oder wenigstens zu besitzen wünschte" 215 .

211 Ebd. 212 Friedrich Naumann, Kirche, Bibel und Freiheitsgeist (1911), in: Friedrich Naumann. Werke. Erster Band. Religiöse Schriften, hrsg. von Walter Uhsadel. Köln/Opladen 1964, S. 660. 213 Ebd., S. 661. 214 Ebd. Dabei habe nicht zuletzt der Gründer der christlichen Religion seine Freiheits liebe unter augenfälligen Beweis gestellt. Wie in einem Brennglas spiegele sich in seinem Leben und seinem Tod das Bekenntnis zur freien Entscheidung. „Jesus wäre nicht gekreuzigt worden, wenn er so fügsam gewesen wäre, wie es gute Kinder ,in christlicher Zucht' bisweilen werden. Er ist in sich selbst unaussprechlich frei und freiheitlich, geradezu das Urbild des freien Menschen an sich. Aller Zwang fesselt ihn nicht, der sich mit Gott eins weiß und der den Tod nicht fürchtet" (ebd., S. 663). 215 Ebd.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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Darüber hinaus müsse auch erkannt sein, daß sich die moderne liberale Bewegung selbst christlicher Antriebe verdanke. Sie habe sich immer im Dienste der christlichen Idee gewußt. Recht eigentlich sei der richtig verstandene Liberalismus als der Versuch zu entschlüsseln, in der Politik das christliche Glaubensprinzip zu verwirklichen. Naumann zufolge kann kaum in Abrede gestellt werden, „daß die Anfänge der neueren Freiheitsbewegungen fast überall aus religiösen Quellen kommen" 216 . Vor allem sei der englische Liberalismus „gar nicht denkbar ohne die religiösen Sekten" 217 . Darüber hinaus sei derjenige „Nordamerikas ... mit den Quäkern über das Wasser" 218 gekommen. Aus diesem Grunde könne man eine „Geschichte der Freiheit nicht erzählen, ohne tief in das Rauschen religiöser Quellen hineinzuhören" 219. Des Weiteren verkenne der kirchenfeindliche Liberalismus völlig, daß das freiheitliche Politiksystem in besonderem Maße einer christlichen Wertgrundlage bedürfe. Die Koordination des christlichen Weltbildes vermittelten ihm jene Stabilität, auf die so dringend angewiesen sei. „Die bloßen Formen des Parlamentarismus allein machen nicht frei, denn auch diese Formen können mit unfreiem Knechtsgeist gefüllt werden. Die Formen bekommen erst Wert durch das, was in den Menschen drin lebt und webt" 2 2 0 .

Eine völlig unverkrampfte und undogmatische Bewertung des Christentums legen auch einige bedeutende Repräsentanten des Neoliberalismus an den Tag. Wäh991

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rend August Friedrich von Hayek und Ludwig von Mises ein eher gespanntes Verhältnis zu dieser Religion haben, ist es vor allem Wilhelm Röpke darum zu tun, die Wesensverwandtschaft zwischen ihr und seiner liberalen Ordnungsvorstellung ins Licht zu rücken. Unter seinem Blick wird aus einem für viele Liberale durch und durch gegnerischen Bekenntnis eine Lehre, die keineswegs im Widerspruch zum freiheitlichen Credo steht. Dabei ist es vor allem erstaunlich, in wie starkem Maße er der Katholischen Kirche Reverenz als Hort des liberalen Ordnungsgedankens erweist. Ihm zufolge läßt sich nicht zuletzt aus den Summen des Thomas von Aquin „ein noch heute zu beherzigendes Kompendium des Liberalismus zusammenstellen" 223 . Alle Anhänger der liberalen Idee hätten dieser ehrwürdigen „Erbmasse aus der Soziallehre der katholischen Kirche" 2 2 4 ihren Respekt und ihre An216 Ebd., S. 662. 217 Ebd. 218 Ebd. 219 E b d .

220 Ebd., S. 663. 221 Vgl. dazu: „Man kann kaum behaupten ... daß ein Jesuit, der nach den Idealen des Gründers seines Ordens lebt... frei genannt werden kann" (Die Verfassung der Freiheit. Aus dem Englischen. Tübingen 1971, S. 19). 222 Vgl. dazu S. 71. 223 Wilhelm Röpke, Das Kulturideal des Liberalismus, S. 13. 224 Ebd.

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

erkennung zu bezeugen. Röpke steht nicht zuletzt auch den päpstlichen Sozialenzykliken wohlwollend gegenüber. Wer in ihnen den puren Illiberalismus am Werke sieht, dem sei ihre gründliche Lektüre empfohlen, um auf diese Weise sein Vorurteil revidieren zu können. Ihre vorurteilsfreie Analyse lasse die Trennungslini en zwischen Katholizismus und Liberalismus zerfließen. Insbesondere die Enzyklika „Quadragesimo Anno" sei mit „ihrem klaren und sich vollkommen mit unserem Standpunkt deckenden Programm" 225 als ein freiheitsorientiertes Manifest anzusehen. Aus diesem Grunde sei es jedem Liberalen zu empfehlen, „diese noble und inhaltsreiche Botschaft" 226 im Urtext zu studieren. In seiner Kulturanalyse legt Röpke Wert auf die Feststellung, daß sich die europäische Zivilisation entscheidend den Fundamenten des Christentums verdankt. Dabei läßt er Wertungsgrundsätze erkennen, bei denen offensichtlich christlich gesinnte Zivilisationskritiker Pate gestanden haben. In immer neuen Anläufen und mit einer für viele Liberale provozierenden Entschiedenheit beklagt er den seiner Ansicht nach falschen Emanzipationsweg des modernen Menschen. Dieser gehe zweifellos mit einer zu bedauernden Abkehr vom Christentum einher. Sein mit einem tief eingewurzelten Werterelativismus verbundener Siegeszug habe dem einzelnen jeglichen moralischen Halt genommen und überantworte ihn einer seelisch kaum zu verkraftenden mentalen Unsicherheit. „Die Emanzipation von allem Absoluten bedeutet die Tendenz zur totalen Relativierung. Damit wird allbeherrschend die Willkür und die Beliebigkeit. Kein Gedanke, keine Möglichkeit ist mehr ausgeschlossen. Keine festen Grenzen, keine unverrückbaren Punkte, kein unnachgiebiges Fundament geben mehr Halt" 2 2 7 .

In der Neuzeit sei an die Stelle Gottes der sich von allen seinen ethnischen Bindungen lösende Mensch getreten, der nun in solipsistischer Manier bestimme, was gut und böse, richtig oder falsch ist. Sein uneingeschränktes Bekenntnis zur Autonomie verdecke nur notdürftig die Zweifel an diesem grundlegenden Paradigmenwechsel. Die moderne Emanzipationsbewegung sei mit einem erschreckenden Furor darauf aus, den Willen des Individuums als sakrosankt zu erklären und sich den vom Christentum gelehrten ethischen Verpflichtungen zu versagen. „Ihr Endziel ist es, den Menschen von allen Wurzeln abzuschneiden und ihn von allen Fesseln oder äußeren Kräften zu lösen, die dem neuen Gott, dem Mensch-Gott unerträglich erscheinen" 228.

Indem Alexander Rüstow zu allen Feinden des Christentums Distanz hält, erweist sich auch dieser neoliberale Gelehrte als ein Denker, dem die christlichen Wurzeln der abendländischen Kultur durchaus bewußt sind. Diese Religion hat für 225 Wilhelm Röpke, Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschafts reform. Erlenbach-Zürich 1946, S. 96. 22 6 Ebd. 227 Wilhelm Röpke, Maß und Mitte. Erlenbach-Zürich 1950, S. 63. 228

Ebd., S. 62 f.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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ihn einen entscheidenden Anteil an der Genesis jener Gesittung, die den Okzident bis heute prägt. „Auf jeden Fall bildet das Christentum zusammen mit der von ihm rezipierten und tradierten Antike, die tragende Grundlage aller weiteren geistigen und kulturellen Entwicklung des Abendlandes, unserer gesamten Menschlichkeit und Geistigkeit bis zum heutigen Tage. Die Bibel bildet, noch vor Homer und Vergil, unsere Urliteratur" 229 .

Der Hinweis auf das gemeinsame christliche Erbe muß Rlistow zufolge mit der Einsicht verbunden werden, daß uns die nachchristlichen Ersatzreligionen keinesfalls jenen Fortschritt beschert haben, auf die ihre Anhänger so inbrünstig hoffen. „Der abgöttische Geniekult des 19. Jahrhunderts nährte die vermessene messianisch-chiliastische Hoffnung, daß eine kommende neue Religion uns aller Vergangenheits-Sorgen und -Lasten entheben und mit einem einzigen grandiosen Schwung alles Alte ersetzen könnte. Die entsetzlichen Zerstörungen und Vernichtungen, die sich vor unseren Augen vollzogen und vollziehen, waren bewußt oder unbewußt von diesem vermessenen Irrglauben beflügelt" 230 .

Auch wenn sich der Neoliberalismus gegenüber dem Christentum ungleich toleranter gibt als der Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, so halten einige Autoren dafür, daß er immer noch Restbestände des alten Mißtrauens gegenüber den Kirchen aufweist. Diese sind Erik v. Kuehnelt-Leddihn besonders gegenüber der Katholischen Kirche keineswegs gänzlich verschwunden. Seiner Auffassung zufolge würden „bei Neuliberalen gewisse Residuen eines altliberalen Verdachts der größten christlichen Gemeinschaft, der katholischen Kirche und ihrer Lehre gegenüber" 231 immer noch bestehen. Von diesem Vorwurf muß man offensichtlich Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow ausnehmen. Jegliche Besinnung auf das Verhältnis zwischen dem Liberalismus und der christlichen Religion muß auch die Frage in den Blick nehmen, ob ihr Geist in der nach freiheitlichen Prinzipien verfaßten Gesellschaft und ihrer Politik in entscheidender Weise an Wirkkraft eingebüßt hat. Dabei muß die einer dezidiert kulturpessimistischen verpflichtete Auffassung, derzufolge der Einfluß des Antichristentums allerorten Terrain gewinne, relativiert werden. Die These von seinem unaufhaltbaren Siegeszug übersieht, daß auch gegenstrebige Kulturkräfte am Werke sind. Nicht zuletzt eine tiefenscharfe Analyse des 18. und 19. Jahrhunderts fördert die Erkenntnis zutage, daß sich die beiden Epochen als ein Kaleidoskop aus antichristlichem Kultureinfluß und religiöser Rück- und Neubesinnung zu erkennen geben. Aus diesem Grunde hat nicht zuletzt Rudolf Vierhaus nachhaltig davor gewarnt, die konservativen Wirkfaktoren außer Acht zu lassen.

229 Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Zweiter Band. Weg der Freiheit. Erlenbach-Zürich 1952, S. 235. 2 30 Ebd., S. 236. 231

Erik v. Kuehnelt-Leddihn,

Katholischer Glaube und liberale Haltung, S. 342.

96

III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum „Die immer wieder gebrauchten Trendbegriffe Industrialisierung, Demokratisierung, Emanzipation, Säkularisierung erweisen sich als zu pauschale Deutungsmodelle ... Allzu leicht wird dadurch die Vorstellung eindeutiger und mit Notwendigkeit verlaufender geschichtlicher Prozesse evoziert" 232 .

Vierhaus zufolge stellen sich „Säkularisierung, Entchristlichung und Entkirchlichung" 233 als historische Trendentwicklungen dar, denen auch gegenläufige Tendenzen entsprechen. Sie waren deshalb „stets von Gegen- und Erneuerungsbewegungen begleitet" 234 . Es ist vor allem das Verdienst von J. C. D. Clark, auf die Fortexistenz überkommener gesellschaftlicher und politischer Gestaltungsstrukturen nach der Glorious Revolution hingewiesen zu haben. Er weist tiefenscharf und minuziös nach, in wie starkem Maße sich die Menschen weigerten, den Anweisungen der liberalen Lehrbücher zu folgen. Sie beharrten auf dem Recht, die Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen zu praktizieren, um auf diese Weise die „Whig Interpretation of History" zu falsifizieren. So schreibt Clark: „Men did not behave politically as Lokke's theory, to be viable, assumed they must" 2 3 5 . Die englischen Bürger weigerten sich auch im Zeitalter der „Whig Supremacy" 236 beharrlich, eine Verhaltensweise an den Tag zu legen, die dem Vertragsdenken John Lockes entsprochen hätte. Stattdessen agierten sie weiterhin im Sinne seines ideologischen Gegners John Filmer. „Patriarchical attitudes and a stress on the personal nature of government were all in full flower in the reign of Anne" 2 3 7 .

Dabei kann auch keine Rede davon sein, daß die Politik entchristlicht wurde. Clark weist daraufhin, daß der Klerus seinen Einfluß behielt. Er spricht von „strong links between dynastic allegiance and religious affiliation" 238 . Letzten Endes gab sich das englische politische Gemeinwesen der damaligen Zeit als „a hierarchic and confessional state" 239 zu erkennen. Während die Whigs dem konservativen Topos des „Divine Right of Kings" den Kampf ansagten, hielten sie sich in ihrer Regierungspraxis kaum an ihre progressiven Grundsätze. J. C. D. Clark zufolge kann das England des 18. Jahrhunderts keineswegs als eine Politie bezeichnet werden, die den monarchischen Prinzipien des übrigen Europa abgeschworen hat. 232 Rudolf Vierhaus, Die Säkularisierung schaut größer aus als sie ist, in: Frankfurtei Allgemeine Zeitung Nr. 240. 15. Oktober 1994. 233 Ebd. 234 Ebd. 23 5 J. C. D. Clark, English Society. 1688 - 1832. Cambridge 1986, S. 192. 23 6 Vgl. dazu Basil Williams, The Whig Supremacy. 1714 - 1760. Oxford 1962. 237 J. C. D. Clark, English Society, S. 192. 238

Ebd., S. 197. Ebd. Vgl. dazu auch John G. A. Pocock, Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main/New York/Paris 1993, S. 131 und passim. 239

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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„What gave the doctrine of the divine right of Kings a continued relevance to the practice of government into the eighteenth century was that England remained an hereditary monarchy in a Europe which was overwhelmingly monarchical" 240 .

Auch das Viktorianische Zeitalter erwies dem Geist des Christentums Reverenz. Darauf machte vor allem Christopher Dawson aufmerksam. „Was den fremden Beobachter ζ. B. im frühen Viktorianischen England in Erstaunen setzte, war nicht bloß die Menge religiöser Bräuche, sondern die Tatsache, daß das Christentum die öffentliche Politik beeinflußte" 241 .

Das sei vor allem auf die enge Verbindung von liberalem Geist und christlicher Tradition zurückzuführen. „Die Tatsache, daß die liberale Kultur auf christlichen sittlichen Werten aufgebaut war, machte sie religiösen Einflüssen sogar in einem weltlichen Zeitalter zugänglich" 242 .

Auch Rudolf Vierhaus zufolge schließt sich das Viktorianische Zeitalter nur dann auf, wenn man sich seiner christlich-protestantischen Bestimmungsmerkmale versichert. Seiner Auffassung gemäß wurde die Botschaft des Christentums auch in dieser Periode vernommen. „Religion besaß noch eine alle Lebensbereiche durchdringende Bedeutung, die es erlaubt, das neunzehnte Jahrhundert noch ein religiöses zu nennen" 243 .

Bei der Analyse der Gemeinsamkeiten zwischen Liberalismus und Christentum muß auch die Haltung der Päpste Berücksichtigung finden. Dabei sollte man keineswegs in den Fehler verfallen, zwischen ihren Verlautbarungen und dem liberalen Ideenkreis nur unaufhebbare Gegensätze zu konstatieren. Einerseits scheint der oft antiliberale Gestus ihrer Enzykliken keinerlei Zweifel darüber zuzulassen, daß die ideologische Distanz zwischen den beiden Denklagern unüberbrückbar ist. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, in wie starkem Maße die Meinungsäußerungen der Päpste genuin liberale Bestimmungsmomente enthalten. Sie lassen Wertungsgrundsätze erkennen, die ausgesprochen freiheitlichen Geist atmen und in keinerlei Gegensatz zu den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen des Liberalismus stehen. So wurden Josef Isensee zufolge „viele Gebote der Menschlichkeit, die heute unter der Flagge der Menschenrechte segeln, im Papsttum schon in Jahrhunderten vertreten, in denen die Menschenrechte als säkulare Kategorie noch nicht existierten" 244 . Er führt in diesem Zusammenhang „die Verwerfung der Folter und der Sklaverei, die Würde der Menschen aller Rassen, die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen, die Ablehnung von Zwangsbekehrungen" 245 an. 240 Ebd., S. 121. England sei zu dieser Zeit von einer „hegemony of nobility, gentry and clergy" (ebd., S. 197) regiert worden. 241 Christopher Dawson, Gericht über die Völker, S. 93. 242 Ebd., S. 94. 243 Rudolf Vierhaus, Die Säkularisierung schaut größer aus als sie ist. 244 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, S. 301.

7 J. B. Müller

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III. Aufklärung, Liberalismus und Christentum

Dieser Tatbestand schließt sich beispielsweise auch dann auf, wen man einen Blick auf die Enzyklika „Rerum novarum" von Papst Leo XIII. wirft. Nur ein marktdeifizierender Wirtschaftsliberaler wird ihn dafür kritisieren, daß er die Vereinigungsfreiheit der Arbeiter forderte. Nur er kann an dem folgenden Satz Kritik üben: „Das Recht, sich zu vereinigen, ist dem Menschen von Natur aus gegeben, darf durch den Staat nicht genommen werden" 246 .

Auch wenn Leo XIII. in seiner Enzyklika Sapientiae christianae auf dem Recht der Eltern besteht, ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen erziehen zu können, wird man darin kaum einen Anschlag auf liberale Grundprinzipien erkennen können. Schließlich fordert er nicht mehr und nicht weniger als „der Eltern eigenes Recht, ihre Kinder zu erziehen" 247 . In diesem Zusammenhang muß auch daran erinnert werden, daß viele Enzykliken eine ausgesprochen pragmatische Haltung an den Tag legen. Während Gregor XVI. in seiner Enzyklika Mirari vos 2 4 8 dem Liberalismus den Kampf ansagte, war er doch nicht willens, die genuin liberale Verfassung Belgiens zu verurteilen. Offensichtlich sah er im Menschenrechtskatalog dieser Konstitution eine Geistesrichtung am Werk, die zurückzuweisen er als höchst inopportun ansah. Er verweigerte sich damit all denjenigen Katholiken, die einer Verurteilung dieser Verfassung das Wort sprachen. Er wußte genau, daß jeglicher Versuch, alle Probleme am Maßstab einer dogmatischen Einstellung zu messen, einer vernünftigen Politik diametral widersprochen hätte 249 . Darüber hinaus sollte auch in Betracht gezogen werden, daß die Päpste bei ihrer Zurückweisung der liberalen Ordnungsdoktrin vor allem die politischen Ereignisse in den romanischen Ländern im Blick hatten. Dabei wird man kaum leugnen, daß ihre Ausprägung des liberalen Ideenkreises nicht gerade allzu Christentums- und kirchenfreundlich ausgefallen ist. Es bedarf also der historischen Besinnung, um die damalige Verurteilung der freiheitlichen Politikvision durch die Päpste zureichend interpretieren zu können. So schreibt Josef Isensee: „Die päpstlichen Lehrschreiben entstammten im wesentlichen dem politischen Erfahrungshorizont der romanischen Staatenwelt, vornehmlich Frankreich und Italien. Hier lag das Epizentrum der politischen Erdbeben des Zeitalters. Hier hatte der Liberalismus 245

Ebd. Vgl. dazu auch Emst-Wolfgang Böckenförde, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe 157. 11. Juli 1986. 246 Papst Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum, in: Die Rundschreiben Leos XIII. und Pius XI. über die Arbeiterfrage, hrsg. von der Verbandsleitung der katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands. Köln 1931, S. 30. 247 Papst Leo XIII., Enzyklika Sapientiae christianae, in: Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, S. 229. 248 Papst Gregor XVI., Enzyklika Mirari vos, in: Acta Gregorii Papae XVI. Volumen I. Romae MCMI, S. 169 ff. 249 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, S. 300.

3. Interferenz und Kongruenz von Ideologie und Glaubensbekenntnis

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seine antikirchlichen und ersatzreligiösen Züge angenommen. Hier war die Idee der Freiheitsrechte verstrickt in die weltanschaulichen und kirchenpolitischen Feindbeziehungen" 250 .

Dabei darf in diesem Zusammenhang auch der Umstand nicht unerwähnt bleiben, daß die Päpste die Verschränkung von Christentum und Liberalismus, die im angelsächsischen Bereich aufzuspüren ist, in ihren Enzykliken unerwähnt ließen. Da dieser sich in England und den USA keineswegs durchgängig so antichristlich gegeben hat wie auf dem Kontinent, sahen sie auch keine Veranlassung, diese Ausprägung des freiheitlichen Politikgedankens zu verurteilen 251 . Die Wechselwirkungen und die Dissonanzen zwischen Christentum und Liberalismus werden dann besonders prägnant in den Blick gerückt, wenn man einen tiefenscharfen Blick auf die Kontroverse zwischen den theokratischen Konterrevolutionären und den liberalen Katholiken im Frankreich des 19. Jahrhunderts wirft. Man verzichtet auf einen heuristisch ungemein fruchtbaren Zugang zu diesem Thema, wenn man diese grundsätzliche Auseinandersetzung außer acht läßt. Dabei zeigt dieser mit Verve ausgetragene innerkatholische Konflikt, daß es innerhalb der römischen Kirche dieselben Konfliktlinien gibt, wie sie auch andere Glaubensgemeinschaften auszeichnen.

250 Ebd., S. 304. 251 Ebd. 7=

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution 1. Der Begriff der theokratischen Konterrevolution Jegliche Besinnung auf den Topos und die Wirkkraft der Konterrevolution hat von dem kaum in Frage zu stellenden Sachverhalt auszugehen, daß es vor den großen Revolutionen der Neuzeit kaum sinnvoll war, einen derartigen Begriff Liberhaupt zu verwenden. Da vor dieser Zeit nur das begriffen und akzeptiert wurde, was auf ein statisches Ordnungsmodell zu bringen war, da die großen politischen Umwälzungen ja noch bevorstanden, war es auch wenig sinnvoll, von der Notwendigkeit einer Gegenrevolution zu sprechen. So schreibt Thomas Molnar: „Vor der Französischen Revolution gab es keine wie immer geartete gegenrevolutionäre Lehre, sondern nur die Tradition (vom heiligen Augustinus bis zu Bossuet) in ihren vielfältigen Ausgestaltungen und wechselnden Auslegungen, und mit ihr das göttliche Recht der Könige und ein festes Gesellschaftsmodell (der Königreiche)" 1.

Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffes der Konterrevolution zsigt, daß der erste, der ihn verwendete, kaum einer restaurativen und reaktionären Einstellung geziehen werden kann. Als Condorcet diesen Terminus prägte, als er von „contre-révolution" 2 sprach, ging es ihm in keiner Weise darum, dem Rad des historischen Fortschrittes in die Speichen zu greifen. Diejenigen, die gegen die überzogenen Hoffnungen der Aufklärung und der revolutionären Umbrüche des 18. und 19. Jahrhunderts zu Felde zogen, die als im wahrsten Sinne des Wortes reaktionär 3 eingestellte Politikanalytiker eine Gegenordnung konzipierten, sind keineswegs auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Jean-Jacques Langendorf zufolge sind „die Strömungen in der Gegenrevolution ... außerordentlich vielfältig. Die einen wollen die Wiederherstellung der früheren Zustände, aber unter behutsamer Verbesserung der für relativ erachteten - Mißbräuche der Vergangenheit, die anderen ... überhaupt keine Korrekturen, wieder andere verlangen ,Rache' und »Bestrafung'. Manche träumen von 1

Thomas Molnar, Metamorphosen der Gegenrevolution, in: Criticón 115. September/ Oktober 1989, S. 223. 2 Condorcet, Sur le sens du mot révolutionnaire (1793), in: Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat Marquis de Condorcet. Oeuvres Tome XII. Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 619. 3 Über die Herkunft des Begriffes Reaktion aus der Physik Newtons vgl. Jean Starobinski, La vie et les aventures du mot réaction, in: The Modern Language Review 70 (1975), S. XXI f.\

. Dereg

der theokratisen Konterrevolution

einem »monarchischen' System nach britischem Vorbild, die ,gallikanische' Tendenz strebt dagegen eine eigenständig französische Lösung vor" 4 .

Darüber hinaus stelle für „die einen ... die Revolution einen rein negativen Akt radikaler Zerstörung dar, andere erblicken darin einen Akt der Reinigung"5.

Weil der konterrevolutionäre Knüpfteppich ein so verwirrend vielfältiges Webmuster aufweist, ist es sinnvoll, sich auf eine dominierende Richtung zu beschränken. In dieser Arbeit wird das Hauptaugenmerk deshalb auf diejenigen Autoren gelegt, die als überzeugte Katholiken der Revolution den Kampf ansagten. Dominique Bagge bezeichnet diese Denkschule als „école théocratique et contre-révolutionnaire" 6. In einem ähnlichen Sinne schreibt Jean-Jacques Langendorf: „Im klassischen Sinne des Wortes ist letztlich derjenige Gegenrevolutionär, der Monarchie und Kirche, Thron und Altar als wesentliche Voraussetzungen für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft ansieht und sich ihnen verpflichtet fühlt. Für ihn stellt die Revolution eine unselige Kluft der Geschichte dar, die schnellstmöglich geschlossen werden muß, um zum Status quo ante zurückzukehren" 7.

Alexander Dru 8 zufolge handelt es sich bei dieser Denkschule um „Theokraten" 9, die der Souveränität des Volkes ein göttliches Recht 10 gegenüberstellen. Für Jacques Godechot sind de Maistre und de Bonald „Castor et Pollux de la théocratie" 1 1 . Es ist auch bemerkenswert, daß alle hier berücksichtigten Konterrevolutionäre aus Adelshäusern kommen. Nach Peter Richard Rohden sind „die Vertreter des französischen Traditionalismus ... ausnahmslos gebürtige Aristokraten" 12. Dem Landadel entstammend, hätte sich ihr Leben „fern von dem Zentrum der geistigen Mode, fern von den Einflüssen des königlichen Hofes" 13 abgespielt. Ganz im Kon4 Jean-Jacques Langendorf, Pamphletisten und Theoretiker der Gegenrevolution (1789 1799). München 1989, S. 12. 5 Ebd. Vgl. dazu auch Paul Widmer, Die »Reaktion' als Opfer der Fortschrittskrise, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 146, 28. Juni 1985. 6 Dominique Bagge, Les idées politiques en France sous la Restauration. Paris 1952, S. 187. 7 Jean-Jacques Langendorf, Laterna magica der Gegenrevolution. 1789 - 1799, in: Criticón Nr. 115. September/Oktober 1989, S. 217. 8 Alexander Dru, Erneuerung und Reaktion. Die Restauration in Frankreich 1800 - 1830. Aus dem Französischen. München 1967. 9 Ebd., S. 74.

10 Ebd. h Jacques Godechot, La contre-révolution. Doctrine et action 1789 - 1804. Paris 1961, S. 93. ι2 Peter Richard Rohden, Deutscher und französischer Konservatismus, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 3 (1924). Dritter Band. München 1924, S. 106. 1Ebd.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

trapunkt zur städtischen Aristokratie sei die ländliche in weit stärkerem Maße der feudalen Tradition verbunden, „weit fester mit seiner Vergangenheit verwachsen" 14 gewesen. Zu den erwähnenswerten Besonderheiten der theokratischen Konterrevolutionäre gehört auch, daß viele von ihnen politische Konvertitien sind. So weisen insbesondere die Lebensläufe von de Maistre und Donoso Cortés eine liberale Vergangenheit auf. Was insbesondere de Maistre anlangt, so ließ er sich in seiner ideologischen Frühphase von Rousseau inspirieren 15. Dabei ist es keineswegs ohne Pikanterie, daß es dieser engagierte Gegner der Französischen Revolution sogar zum Hochgradfreimaurer gebracht hat 16 . Auch Donoso Cortés bekannte sich in seiner Anfangszeit zu OrdnungsVorstellungen, die mit den späteren in krassem Gegensatz stehen. Er vertrat Ideen, die mit dem gemäßigten Flügel der spanischen Liberalen übereinstimmten, trat für eine konstitutionelle Monarchie ein und gab dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus Sukkurs 17. Jürgen Busche zufolge gehört Cortés „in die Reihe jener Liberalen, die, von der Wirklichkeit eingeholt, sich zu rabiaten Konservativen wandeln" 18 . Jede Analyse des Denkens der drei in Rede stehenden theokratischen KonteiTevolutionäre muß sich auch der Tatsache vergewissern, daß Cortés im Gegensatz zu de Bonald und de Maistre in einer Zeit über die bürgerliche Gesellschaft reflektierte, in der die Fragilität dieser Ordnung in besonderem Maße an Kontur gewann. Im Kontrapunkt zu den beiden Franzosen war er gezwungen, diejenigen Organisationen in den Blick zu nehmen, die auf ihre Überwindung aus waren. Darauf weist Béla Menczer hin. „Donoso spürte, was Bonald und de Maistre noch nicht gespürt hatten, die tiefe und umfassende europäische Kulturkrise, das große Thema, das wenig später Burckhardt and Nietzsche aufnahmen, die wachsende Krise, gefördert sozusagen durch natürlichen Fortschritt, den natürlichen Fortschritt häretischer Massenbewegungen, dem in Donosos Schau nur durch den Triumph übernatürlicher Kraft Einhalt geboten werden konnte" 9 .

14 Ebd. 15 Vgl. dazu Joseph de Maistre, Discours sur la vertu. Paris 1775. ι 6 Vgl. dazu Joseph de Maistre, Die Freimaurerei. Aus dem Frnzösischen. Wien 1988. 17 Vgl. dazu José Maria Beneyto, Apokalypse der Moderne. Die Diktaturtheorie von Donoso Cortés. Stuttgart 1988, S. 53. 18 Jürgen Busche, Donoso Cortés' katholische Staatsphilosophie, in: Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 37 (1990), S. 572. Busche zufolge fügt diese Art von Konservatismus „dem intellektuellen Ansehen konservativer Politik" mehr Schaden zu, als es auch noch die brillantesten progressiven Pamphlete vermögen" (ebd.). 19 Béla Menczer, Propheten des Leviathan. Die katholischen Gegenspieler der Ideologie von 1789, in: Wort und Wahrheit 5 (1950), S. 108. Vgl. dazu auch José Maria Beneyto, Apokalypse der Moderne. Die Diktaturtheorie von Donoso Cortés, S. 48 und passim.

2. Geschichtspessimismus als Aufklärungskritik

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2. Geschichtspessimismus als Aufklärungskritik Jegliche Besinnung auf die entscheidenden Bestimmungsmerkmale der theokratischen Konterrevolution hat zunächst davon auszugehen, daß sie die progressistische Geschichtsinterpretation der Aufklärung und des Liberalismus radikal ablehnt. Sie verrate ein höchst borniertes Verständnis der Geschichte. Aus ihr sei unschwer die Verdrängung der Wirklichkeit herauszupräparieren. Die Kluft zwischen den Zukunftshoffnungen der Progressisten und der Realität sei so augenfällig, daß nur ein der selektiven Wahrnehmung verfallener Geschichtsdiagnostiker fortschrittlich denken könne. In ihrem letzten Endes zum Scheitern verurteilten Bemühen, die gesamte Geschichte der Menschheit auf ein progressistisches Prokustesbett zu legen, dokumentiere sich nicht zuletzt ein völlig falsche Einschätzung der Möglichkeiten des Menschen. Die einem fortschrittlichen GeschichtsVerständnis zugrundeliegende Anthropologie kranke vor allem daran, ihn in einem zu wohlwollenden Lichte zu interpretieren. Im Gegensatz dazu ist es den Konterrevolutionären darum zu tun, die mitleidslosen Seinsgesetze der Schöpfung zu enthüllen. Nirgends lenken sie ihren Blick von ihrem radikal negativen Menschenbild ab, nirgends unterliegen sie der Versuchung, dem Menschen auch positiv zu Buche schlagende Charaktereigenschaften zu imputieren. Für sie ist jede sinnvolle anthropologische Frage untrennbar mit der Antwort verknüpft, daß der Mensch im Sinne von Thomas Hobbes dem Menschen ein Wolf ist. Insbesondere Joseph de Maistre ist der Ansicht, daß die gesamte Natur dem Gesetz eines gnadenlosen Kampfes unterworfen ist. Die menschliche Daseinswelt macht da keine Ausnahme. „In dem weiten Reiche der lebenden Natur herrscht eine offenbare Gewaltsamkeit, eine Art vorgeschriebener Wuth, die alle Wesen zum wechselseitigen Untergang (in mutua funera) gegeneinander waffnet" 20 .

Die gegenseitige Grausamkeit unter den Lebewesen offenbart sich sogar im Bereich der Pflanzen. „Schon in dem Pflanzenreiche fängt man das Gesetz an zu fühlen: von der ungeheuren Catalpa bis zum niedrigsten Grase, wie viele Pflanzen sterben, und wie viele werden getötet!" 21

Im Tierreich geht es nicht weniger grausam zu. „In jeder der großen Abteilungen des Tierreiches hat sie (die Natur; J. B. M.) eine gewisse Anzahl von Tieren ausgewählt und beauftragt, die anderen aufzufressen: so gibt es Raubinsekten, Raubwürmer, Raubvögel, Raubfische ... Es gibt keinen Augenblick 20 Joseph de Maistre, Abendstunden zu St. Petersburg. Zweiter Teil. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1825, S. 29. 21 Ebd.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution seines Daseins, in dem das lebende Wesen nicht von einem anderen aufgezehrt würde" 2 2 .

Einen besonders grausamen und rücksichtslosen Charakter legt nicht zuletzt der Mensch an den Tag. „Über alle die zahlreichen Gattungen von Tieren ist der Mensch gesetzt, dessen zerstörende Hand nichts verschont von alledem, was da lebt; er tötet um sich zu kleiden, er tötet um sich zu schmücken, er tötet um anzugreifen, er tötet um sich zu verteidigen, er tötet um sich zu unterrichten, er tötet um sich zu vergnügen, er tötet um zu töten: ein stolzer und furchtbarer König, braucht er alles, und nichts widersteht ihm" 2 3 .

Letzten Endes ist der Mensch in seiner abgrundtiefen Bösartigkeit darauf aus, „den Menschen zu erwürgen" 24. Seine moralische Defizienz erheischt es auch, das Phänomen des Krieges im Lichte einer pessimistischen Anthropologie zu interpretieren. Jegliche bellizistische Auseinandersetzung entspricht den Gesetzen der Natur und damit auch dem Willen Gottes. „Der Krieg ist also göttlich an sich, weil er ein Weltgesetz ist" 2 5 . Schon die Bibel beweise, daß der Krieg zu den entscheidenden Bestimmungsmerkmalen der göttlichen Schöpfung gehöre. Schließlich sei in der Heiligen Schrift immer wieder vom „Gott der Heerscharen" 26 die Rede. De Maistre legt auch großen Wert auf die Feststellung, daß seine pessimistische Anthropologie auf nachprüfbaren Tatsachen beruht. Die Menschen handelten niemals im Sinne der optimistischen Annahmen der Aufklärung und des Liberalismus. „Die Erfahrung widerspricht immer den Theorien ... Für mich spricht die Geschichte"27. Joseph de Maistre verachtet alle diejenigen aus tiefster Seele, die die Losungen der progressiven Geschichts- und Sozialphilosophie auf ihre Fahnen geheftet haben. Ihnen gilt sein abgrundtiefer Haß, sie trifft seine uneingeschränkte Kritik. Unter seinem mitleidslosen Blick avancieren sie zu einer politisch-ideologischen Sekte, die den Umsturz der natürlichen Weltordnung im Schilde führen. So schreibt Isaiah Berlin völlig zu Recht: „Neben den Protestanten und Jansenisten nennt er die Deisten und Atheisten, Freimaurer und Juden, Naturwissenschaftler und Demokraten, Liberale, Utilitaristen, Anti-Kleri22 Ebd., S. 30. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 31. Vgl. dazu auch die von de Maistre abweichende Schrift von Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, hrsg. von Gustav Landauer. Leipzig 1910. 25 Ebd., S. 34. 26 Ebd., S. 28. 27 Joseph de Maistre, Brief vom 24. August 1813, in: Joseph de Maistre et Blacas, Leur correspondance inédite et l'histoire de leur amitié. 1804 - 1820, ed. par Ernest Daudet. Paris 1908, S. 277. Vgl. dazu auch Paul H. Beik, The French Revolution seen from the Right. Social Theories in Motion, in: Transactions of the American Philosophical Society. New Series 46 (1956), S. 63 ff.

2. Geschichtspessimismus als Aufklärungskritik

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kale, Egalitaristen und jene, die an die Vervollkommnungsfähigkeit der Welt und des Menschen glauben, Materialisten, Idealisten, Rechtsanwälte, Journalisten, säkulare Reformer und Intellektuelle jeder Art; alle jene, die an abstrakte Prinzipien appellieren, die der Vernunft und dem Gewissen des Individuums Vertrauen schenken, diejenigen, die auf die Freiheit des Einzelnen oder eine rationale Gestaltung der Gesellschaft setzen"28.

Dabei werfen die antiprogressistisehen Konterrevolutionäre den fortschrittsorientierten Geschichtspropheten auch vor, die vergangenen Zeitalter in einem radikal illegitimen Lichte zu interpretieren. Louis de Bonald zufolge verliere man sich im Unendlichen utopischer Irrwege, wenn man allein auf das Heute setzt und sich vagen Zukunftshoffnungen anheimgibt. In der Vehemenz, in der de Bonald diesem Gedanken Ausdruck verleiht, kommt seine wahrhaft traditionalistische Geschichtsauffassung zum Vorschein. „Man darf nicht nur mit einem Jahrhundert, man muß mit allen marschieren" 29. Deshalb wäre es grundfalsch, nur auf die Denker der Neuzeit zu setzen und die Weisheit der alten Autoren in den Wind zu schlagen. Ihre Schriften seien keineswegs so unzeitgemäß, wie es die fortschrittliche Geschichtsinterpretation darzustellen beliebt. Ein der Tradition verpflichteter Denker habe „die geistreichen Autoren aller Zeiten" 30 in seinen Überlegungen zu berücksichtigen. Von ihnen könne man mindestens so viel lernen wie von den realitätsnegierenden Repräsentanten der Aufklärung 31 . Sich gegen dieses heuristische Prinzip versündigt zu haben, sei vor allem die Hauptdefizienz Condorcets. Die Besinnung darauf, wie eine progressistische Geschichtsphilosophie zu gestalten sei, führte ihn zu einer Geschichtsinterpretation, die weitgehend aller wirklichkeitsadäquaten Aspekte entrate. Er spüre nur diejenigen historischen Fakten auf, die seinem dogmatischen Erklärungsmodell entsprechen und negiere alle gegenläufigen Tatsachen. De Bonald bezeichnet das Hauptwerk Condorcets sogar als „Apokalypse des neuen Evangeliums"32. Wie de Bonald und de Maistre, so gibt sich auch Donoso Cortés einem kaum gezügelten Zukunftspessimismus hin. Die historische Entwicklung vollziehe sich eindeutig im Zeichen eines Kulturverfalls, der ohne jedes geschichtliche Beispiel sei. In einem Brief schreibt er: „Wir beide glauben und bekennen, daß die größte Katastrophe der Weltgeschichte im Anzug ist. Wir wagen sogar zu vermuten, daß sie bereits in greifbare und bedrohliche Nähe gerückt ist" 3 3 . 28

Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1992, S. 155. 29 Louis de Bonald, Pensées, in: Bonald: Préface par le Comte Léon de Montesquiou. Paris 1907, S. 292. 30 E b d . 31 E b d . 32 Louis de Bonald, Théorie du pouvoir politique et religieux, in: Oeuvres complètes. Tome deuxième, ed. par l'Abbé Migne. Paris 1859, S. 721. 33 Donoso Cortés, Brief vom 24. August 1849 an Monsieur Gaume, Generalvikar in Nevers, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte aus den letzten Jahren seines Lebens (1849 - 53), hrsg. und eingeleitet von Albert Maier. Köln 1950, S. 89.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

In absehbarer Zukunft würden wir „die Barbarisierung Europas, die Verwüstung und Entvölkerung seiner Länder" 34 erleben. Die Leichtfertigkeit, mit der die Repräsentanten der Aufklärung auf immer bessere Zeiten hofften und einen kulturellen Rückschritt in das Reich der historischen Fabel verwiesen, sei endgültig der Illegitimität anheimgefallen. Werfe man einen vorurteilsfreien Blick auf unsere Zeit, so erkenne man, „daß es Epochen gibt, in denen alle Ideen verbogen, alle Gefühle verfälscht und alle erstrebenswerten Ziele in ihr Gegenteil verkehrt sind" 35 . Nur ein Realitätsblinder könne leugnen, „daß eine dieser furchtbaren Epochen bereits angebrochen ist" 3 6 . Nur ein an den billigen Phrasen des illegitimen Geschichtsoptimismus sich orientierender Zeitanalytiker könne übersehen, daß die positiv zu bewertenden Aspekte in immer stärkerem Maße unter die Räder derjenigen kommen, denen ein negatives Vorzeichen eignet. „Die Behauptung, daß es die Wahrheit sei, die immer siege oder daß das Gute immer stärker sei als das Böse, ist für mich nicht viel mehr als eine billige Phrase und beweist nichts anderes als eine unheilbare Vernarrtheit in optimistische Zukunftsbilder" 37.

An dieser Fehlentwicklung sei nicht zuletzt die Aufklärung schuld. Ihr sei es hauptsächlich zuzuschreiben, daß sich der europäische Kontinent im kulturellen Niedergang befinde. „Die Lehre, die Spinoza und Voltaire, die Kant, Hegel und Cousin vorgetragen haben und die ausnahmslos als verderblich bezeichnet werden müsse, ist damit und sonders auf die Grundideen des Rationalismus zurückzuführen. Auf politischem, religiösem und sozialem Gebiet bedeuten sie für Europa ganz dasselbe, was das Opium der Engländer in der physischen Ordnung für das Himmlische Reich 38 geworden ist" 3 9 .

Der Verfall Europas ist also die Konsequenz von Ordnungsvorstellungen, die im Namen einer utopischen Fortschrittssehnsucht dem Menschen sittenwidrige und gemeinschaftszerstörende Ideen vermittelte. „Europa liegt im Sterben, weil es das tödliche Gift des Irrtums zum beherrschenden Element seiner geistigen Nahrung gemacht hat" 40 .

Das illegitime Bekenntnis zu dem in die Irre führenden Geschichtsprogressismus der Aufklärung ist der Auffassung von Cortés zufolge unmittelbar mit dem

34 Ebd. 35 Donoso Cortés, Brief vom 10. Juni 1851 an den Direktor der spanischen Zeitung „El Orden" in Madrid, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 122. 36 Ebd. 37

Donoso Cortés, Brief an Graf Raczynski vom 8. Juli 1849, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 63. 38 Gemeint ist China. 39 Donoso Cortés , Brief vom 16. Juli 1849 an die Direktoren der Madrider Zeitungen „Pais" und „Heraldo", in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 77. Ebd., S. 8.

2. Geschichtspessimismus als Aufklärungskritik

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Abfall vom katholischen Glauben verknüpft. Dieser führe notwendigerweise in die Sackgasse des allgemeinen Verfalls. „Wissen Sie, weshalb Europa im Sterben liegt? Es liegt im Sterben, weil es vergiftet worden ist. Es liegt im Sterben, weil es die heilkräftigen Vorschriften nicht beachtet hat, die Gott ihm gegeben hatte, weil es die nährende Substanz des katholischen Glaubens mißachtet und die verderblichen Rezepte der rationalistischen Quacksalber vorgezogen hat" 41 .

In dem Maße also, in dem das katholische Grundmuster Europas durch aufklärerische Phantastereien überlagert wurde, sei sein kulturelles Schicksal besiegelt gewesen. „Die Gesellschaft ist dem Untergang geweiht, weil der katholische Geist, der einzige Geist, der Kraft und Leben spendet, die Einrichtungen unseres öffentlichen Lebens nicht mehr durchdringt, weder den Unterricht noch die Regierung, weder unsere Gesetze noch unsere Sitten und Gebräuche" 42.

Europa würde nicht dem allgemeinen Kulturverfall entgegeneilen, wenn es seinen ursprünglichen Wertvorstellungen treu geblieben wäre. „Das also ist das Ergebnis der menschlichen Zivilisation, die vor drei Jahrhunderten begonnen hat und heute zu Ende geht Die Zivilisation göttlichen Ursprungs und katholischen Charakters hätte unserem Erdteil diesen frühen und schmachlosen Tod erspart und den Völkern Europas statt dessen eine ewige Jugend geschenkt"43.

Bei der Beurteilung des aufklärerischen Fortschrittsdenkens durch die theokratischen Konterrevolutionäre hat man auch das Faktum in den Blick zu nehmen, daß es in ihrer Geschichtsphilosophie durchaus auch progressive Bestimmungsmomente gibt. Allerdings ist dieses Fortschrittsdenken kaum mit demjenigen der Aufklärung auf einen Nenner zu bringen. So gehört de Maistre zufolge die Religion zu den wichtigsten fortschrittserzeugenden Bestimmungsfaktoren der Geschichte. „Das religiöse Prinzip ... löst... erstaunliche Kräfte aus" 44 . Es könne niemand in Abrede stellen, daß es der christlichen Missionierung gelungen ist, die Menschen auf eine höhere Kulturstufe zu heben. „Welchem Philosophen ist es je eingefallen, die Heimat mit ihren Freunden zu verlassen und in den Wäldern Amerikas den Wilden nachzujagen, um sie den Lastern der Barbarei zu entreißen und ihnen Sitten beizubringen?" 45

Ganz im Gegensatz zu Condorcet ist de Maistre der Auffassung, daß diese zivilisatorische Arbeit nur positiv zu Buche schlagende Früchte getragen hat. Ihr sei es zu 41 Ebd. 42 Ebd., S. 79. 43

Donoso Cortés, Brief vom 23. Mai 1849 an das Ministerium des Auswärtigen in Madrid, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 271. 44 Joseph de Maistre, Über den schöpferischen Urgrund der Verfassungen. Aus dem Französischen, hrsg. von Peter Richard Rohden. Berlin 1924, S. 169. 4 5 Ebd., S. 151.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratisen Konterrevolution

verdanken, den Menschen dieser Erdteile die befreiende und zivilisierende Botschaft des Christentums gebracht zu haben46. Dagegen haben Condorcet zufolge die Missionare nur „schmählichen Aberglauben" verbreitet 47. In diesem Zusammenhang müsse auch daran erinnert werden, daß nicht zuletzt „Europa seine Gesittung dem Christentum verdankt" 48 . Dabei bewegt sich de Maistre in den Dimensionen einer Geschichtsauffassung, die dem Bösen die Wirkkraft imputiert, nicht nur zu zerstören, sondern auch im Sinne des Positiven aufbauend zu wirken. So sind die destruktiven Mächte der Geschichte für ihn zum Standort einer Hoffnung geworden, die dem Guten durchaus auch Chancen in der historischen Entwicklung einräumt. Seiner Auffassung nach evoziert der geschichtliche „Mißbrauch das Gegenmittel"49. So unausgemacht es bleiben muß, wie lange das Übel seine Wirksamkeit entfalten kann, so ausgemacht ist es doch auch, daß nach seinem Verschwinden neue Hoffnungskeime sprießen. „Dann aber erhebt sich an Stelle des Verschwundenen notwendig etwas Neues, denn die Natur hat einem Abscheu vor allem Leeren" 50 . De Maistre ist also kein rigider Verfallstheoretiker. Er versichert sich auch der historischen Wendepunkte, die Anlaß zur Hoffnung geben. „Ich weiß sehr gut, daß alles nur zu Ende geht, um einem Neubeginn Platz zu machen"51. In wie starkem Maße auch negativ zu bewertenden historischen Ereignissen und philosophischen Grundpositionen positive Bedeutungsaspekte innewohnen, darauf hat auch Donoso Cortés hingewiesen. Er macht in ihnen Züge des Progressiven sichtbar, die der rigoros auf eine Verfallslehre orientierte Zeitanalytiker leicht übersieht. Das gilt für ihn vor allem für die revolutionären Erhebungen der Neuzeit. „Wie die Häresien sind auch die Revolutionen nicht unbedingt schädlich. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt und bis zu einem gewissen Grade sind sie sogar als gut zu bezeichnen. Sie lassen das Licht des Glaubens mit größerer Klarheit hervortreten und stärken uns in dem freudigen und zuversichtlichen Bekenntnis zu unserem Glauben. Nie zuvor habe ich die gigantische Empörung Luzifers begriffen, bis ich den wahnsinnigen Hochmut Proudhons mit eigenen Augen gesehen habe" 52 .

Wenn trotz aller gegenläufigen historischen Ansätze trotzdem ein allgemeiner kultureller Rückschritt zu beklagen ist, dann sollte dies Cortés zufolge kein Anlaß 46

Joseph de Maistre, Über den schöpferischen Urgrund der Verfassungen, S. 169. Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, S. 353. 48 Joseph de Maistre, Über den schöpferischen Urgrund der Verfassungen, S. 172. 4 9 Ebd., S. 158. so Ebd. 47

51

Joseph de Maistre, Brief an den König Viktor-Emmanuel. 5. März 1810, in: Oeuvres complètes. Tome onzième. Lyon 1885, S. 399. Er fügt jedoch hinzu: „Es ist sehr schmerzhaft, in den tristen Intervallen zu leben" (ebd.). 52 Donoso Cortés, Brief vom 26. Mai 1849 an Graf Montalembert, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 57. Vgl. dazu auch Béla Menczer, Propheten des Leviathan. Die katholischen Gegenspieler der Ideologie von 1789, S. 103.

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

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sein, sich in Jerimiaden zu ergehen. Was sich als modernes Verfallsphänomen zu erkennen gibt, verweist keineswegs auf den unheilvollen Niedergang der menschlichen Kultur, sondern rückt den Willen Gottes in ein besonderes Licht. Er entfaltet in der Geschichte eine so erstaunliche Fruchtbarkeit, daß der gläubige Christ alle Niedergangszeichen letzten Endes mit einer gelasseneren Haltung zu ertragen in der Lage ist. „Dieser Rückschritt, den wir erlebt haben, entsprach übrigens den weisen und geheimnisvollen Plänen der Vorsehung, dem Willen Gottes, der das menschliche Geschlecht lenkt und leitet. Hätte die katholische Kultur immer nur Fortschritte gemacht, dann wäre diese Erde ja am Ende das Paradies des Menschen geworden. Doch Gott hat gewollt, daß diese Erde ein Tal der Tränen sei. Wäre Gott schließlich Sozialist geworden, was wäre dann bloß aus Proudhon geworden?" 53

Daß sich die Konterrevolutionäre keineswegs gänzlich einer durch und durch pressimistischen Geschichtsbetrachtung anheimgaben, beweist auch ihre Absicht, das revolutionäre Zeitalter zu überwinden. Sie hoffen, daß seine destruktive Potenz eines Tages der Vergangenheit angehört und politische und kulturelle Zustände das Gesicht Europas bestimmen, die als Fortschritt gegenüber dem überwundenen liberalen Zeitalter bezeichnet werden können54.

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie Im Lichte ihrer antiprogressistischen Geschichtsphilosophie setzen die Repräsentanten der theokratischen Konterrevolution zu einer geharnischten Kritik an derjenigen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung an, die der Aufklärung zutiefst verpflichtet ist. Ihrer Auffassung nach ist es der Liberalismus, der als Katalysator aller destruktiven Tendenzen der Neuzeit interpretiert werden muß. Wie in der Aufklärung, so tritt auch in dieser Ideologie der Bezug zur Realität hinter geschichtswidrige und utopische Korrespondenzen zurück. Ein nüchterner und vorurteilsloser Blick auf die Geschichte der Menschheit zeige augenfällig, daß alle erfolgreichen Staaten dem Gesetze rigider Machtausübung folgten und daß jeder Versuch, das Gemeinwesen von den Freiheitsansprüchen des Individuums her zu konstruieren, in die Irre führen muß. Die Gewährung politischer Freiheiten mache jedes Gemeinwesen unregierbar. Hinter dieser egoistischen Hybris verberge sich eine Politikauffassung, der ausgesprochen utopische Züge eignen. So behauptet de Maistre: „Die Wahrheit liegt gerade in dem Gegenteil von dieser tollen Behauptung, der Mensch sei frei geboren" 55. 53 Donoso Cortés, Brief an Graf Montalembert. 4. Juni 1849, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 61. 54 Ebd.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratisen Konterrevolution

Er ist ein von Natur aus soziales Wesen, für Donoso Cortés eindeutig mehr als „bloß ein Atom im Raum" 56 . Wie wenig die individuumszentrierte Interpretation von Staat und Gesellschaft zutreffe, beweist Louis de Bonald zufolge schon die Schöpfungsgeschichte. Sie lehre eindeutig, daß „das menschliche Geschlecht mit einer Familie begonnen habe" 57 . Dabei ist das familiär gebundene Gemeinschaftswesen Mensch sowohl mit seinen Zeitgenossen als auch mit seinen Raumgenossen liiert. Cortés hat mit besonders eindrucksvollen Sätzen auf diesen Tatbestand hingewiesen. „Durch seine Vorfahren steht der Mensch mit seiner Vergangenheit in solidarischer Verbindung. Durch seine Nachkommen und durch die fortwährende Wirksamkeit seiner eigenen Handlungen tritt er in Gemeinschaft mit der Zukunft. Als Glied der häuslic hen Gesellschaft untersteht er dem Gesetze der Solidarität der Familie. Als Priester oder Beamter tritt er in den Kreis der Priesterschaft oder des Beamtentums und damit in eine Gemeinschaft von Rechten und Pflichten ... Als Mitglied einer politischen Vereinigung fällt er unter das Gesetz der Solidarität der Nation" 58 .

Im Namen einer falsch verstandenen Gleichheitsauffassung und aufgrund seines solipsistischen Menschenbildes bewerte der Liberalismus jegliche ethische Verpflichtung gegenüber dem Anderen und der Gemeinschaft als lästige Fessel. Ganz auf die Bedürfnisse des Individuums eingeschworen, verliert er diese in sträflicher Weise aus dem Auge. „Diese Solidarität wird aber gerade vom Liberalismus als die ewige Quelle der Ungleichheit der Menschen bekämpft" 59 .

Wolle man den ganzen Abstand ermessen, der den Konservatismus von der liberalen Ideologie trennt, so müsse die ins Extrem gesteigerte Bedeutung des Einzelnen in dieser illegitimen Ideologie erkannt sein. „Von allen Schulen ist die liberale die unfruchtbarste ... Schuld daran ist ihr Egoismus: Sie ist von allen Systemen das selbstsüchtigste"60.

Cortés beurteilt die individuumszentrierte Ordnungsvorstellung des Liberalismus nicht zuletzt auch in einem theologischen Horizont. Nur wenn man die Kategorien des Politischen und des Religiösen zusammendenke, könne man die in den 55

Joseph de Maistre, Vom Papste. Zweiter Band. Aus dem Französischen, hrsg. von Joseph Bernhart, München 1923, S. 19. 56 Donoso Cortés, Der Staat Gottes. Eine katholische Geschichtsphilosophie. Aus c.em Spanischen, hrsg. von Ludwig Fischer, Karlsruhe 1933, S. 278. 57 Louis de Bonald, Demonstration philosophique du principe constitutif de la société. Paris 1830, S. 91. 58 Ebd., S. 282. 59 Ebd., S. 289. 60

Ebd., S. 193. Dabei ist Henri de Bonald zufolge der „Liberalismus nichts anderes als der ... Jakobinismus in einem anständigen Kleide" (Von den Strafgerichten Gottes über Frankreich. Aus dem Französischen. Luzern 1835, S. 94.)

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

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Augen eines Katholiken gänzlich illegitime Ichverherrlichung dieser Ideologie erkennen. Dabei werde der Zenit ihrer gesellschaftszerstörenden Kraft besonders da erreicht, wo dem ethischen Indifferentismus das Wort geredet wird. „Die materielle Welt gehorcht in alle Ewigkeit treu und unverbrüchlich den physischen Gesetzen, die Gott gleichzeitig mit der Schöpfung erlassen hat. Deshalb existiert ja für den Liberalismus im Bereich des Universums der Begriff,bös' nicht" 61 .

Ihm könne letzten Endes der Vorwurf nicht erspart werden, „vom Wesen des Bösen und des Guten" 62 keinerlei Ahnung zu haben. Die moralische Blindheit des Liberalismus und seine Ichverherrlichung atmen bei Lichte besehen satanischen Geist. Seine Defizienzen entsprechen dem Geist jenes Engels, der von Gott abgefallen ist. Bis in den Sprachgebrauch hinein weise die Irrlehre des Liberalismus ihre luziferischen Ursprünge auf. „In der Hölle ist kein anderes persönliches Fürwort zu hören als das Fürwort Ich, im Himmel dagegen kein anderes als das Fürwort Du" 6 3 . Wie im Herrschaftsbereich des Satans, so findet man auch in demjenigen des Liberalismus „nur verblendeten, bis zum Wahnsinn verzerrten Hochmut, dem jedes Mitgefühl, jede wärmere Teilnahme für andere verloren gegangen ist" 6 4 . Was wunder, wenn es mit denjenigen Völkern bergab geht, die „dieses Ich gebrauchen und mißbrauchen" 65. Letzten Endes ist es Cortés zufolge das non serviam des Erzengels Luzifer, das den Liberalismus in so hohem Maße auszeichnet. Für die theokratischen Konterrevolutionäre schließt der Dienst an der Gemeinschaft auch den Opfertod ein. Die allein auf das Individuum eingeengte Perspektive des Liberalismus übersehe geflissentlich, daß die Gemeinschaft diesen ehrenvollen Dienst zu fordern in der Lage ist. So schreibt Louis de Bonald: „Alle Menschen haben gegenüber der Gesellschaft die Verpflichtung, ihr Leben zu opfern ... Alle Soldaten sind verpflichtet, zu töten und getötet zu werden" 66 . 61 Donoso Cortés, Der Staat Gottes, S. 193. 62 Ebd. 63 Donoso Cortés, Brief vom 10. Juni 1851 an den Direktor der spanischen Zeitung „El Orden" in Madrid, S. 121. 64 Ebd. Dem liberalen Freiheitsbegriff setzt Cortés denjenigen entgegen, der seiner Ansicht nach als katholisch bezeichnet werden kann. „Katholische Freiheit ist das, was die Gesundheit im Gesamtorganismus eines Lebewesens darstellt, also nicht nur die Gesundheit einzelner, für den höheren Organismus arbeitender Organe. Sie ist das, was sich im Ganzen der Gesellschaft und im Ganzen des Staates lebendigen Ausdruck verschafft, d. h. in Dingen und Werten, die kostbarer sind als das Leben einer einzelnen, noch so blühenden Einrichtung ... Die katholische Freiheit ist so heilig, daß sie durch jede Ungerechtigkeit verletzt wird" (Brief vom 15. April 1852 an den Direktor des Heraldo, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 149 f.) 65 Ebd. Vgl. dazu auch: „Diese Menschenfreunde empfinden es fast als eine persönliche Beleidigung, wenn sie auf der Straße einem armen Menschen begegnen. Sie können so gar nicht verstehen, daß ein armer Mensch, der doch so häßlich ist, überhaupt noch zur Gattung Mensch gerechnet werden soll" (Brief an Kardinal Fornari vom 19. Juni 1852, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 170.)

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Dieser Auffassung schließt sich auch Donoso Cortés an „Der Soldat hat die Aufgabe, die Unabhängigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu beschützen ... Der Soldat hat die Pflicht, in Not und Gefahr für seine Kameraden einzustehen und wenn nötig, für sie das eigene Leben in die Schanze zu schlagen"67.

Der Liberalismus weist sich auch dadurch als Feind der ewig gültigen Seins Ordnung aus, weil er sich erkühnt, über alles und jedes diskutieren zu wollen. Daß die Wahrheitsfindung als das Ergebnis Von Debatten angesehen werden kann, dieser Gedanke wird von Donoso Cortés heftig zurückgewiesen. „Mit Hilfe der Diskussion verwirrt die liberale Schule alle Begriffe und leistet dac.urch dem Skeptizismus Vorschub. Sie ist sich ja dessen wohl bewußt, daß ein Volk, das bei allem und jedem aus dem Munde seiner Sophisten stets ein Für und Wider zu hören bekommt, schließlich nicht mehr weiß, ob denn Wahrheit und Irrtum, Recht und Unrecht, Ehrenhaftigkeit und Schande wirklich Gegensätze sind, oder ob sie nicht vielmehr ein und dasselbe sind, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet" 68.

Die Bereitschaft des Liberalen, sich auf ideologische Auseinandersetzungen über die Probleme des Gemeinwesens einzulassen, trage eindeutig das Kainsmal der Entscheidungsflucht auf der Stirn. „Da läßt sich die Gesellschaft gern von einer Schule leiten, die niemals ,ja' oder ,nein', niemals ,affirmo' oder ,nego\ sondern immer nur »distinguo' sagt und für alles eir Für und Wider hat. Ihr oberstes Interesse sieht daher diese Schule darin, zu verhindern, daß jemals der Tag komme, wo die radikale Negation oder die volle Affirmation die Oberhand gewinnt. Das erreicht sie mittels der Diskussion".

Auf die Dauer könne aber niemand der Frage ausweichen, ob man es „mit Barrabas oder Jesus"69 halten soll. Dabei sind es nicht zuletzt die aufgewühlten Massen, die zu einer derartigen Entscheidung drängen. Sie werden sich nicht mehr mit den Ergebnissen von entscheidungsarmen Parlamentsdebatten zufriedengeben. Sie werden „auf die Straßen und Plätze hinausstürzen" 70 und die „Katheder der Sophisten ... im Straßenkot herumzerren" 71. Dabei müsse dem Sozialismus zugestanden werden, daß er im Gegensatz zum Liberalismus mit einer „peremptorischen und entschiedenen Lösung aufwartet" 71. Cortés läßt allerdings keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Sozialisten einer „satanischen Theologie" 72 verpflichtet sind. Den untrüglichen Beweis dafür, daß der „Grundsatz der freien Diskussion jeglicher Legitimität entbehrt, liefert Cortés zufolge schon die Bibel. Hätten die ersten 66

Louis de Bonald, Pensées, in: Bonald, S. 276. Donoso Cortés, Rede vom 4. Januar 1849 über die politischen Grundsätze der Gegenwart und Diktatur, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 232. 68 Ebd., S. 194. 69 Ebd. 67

70 Ebd. 72

Ebd., S. 195. Ebd.

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

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Menschen weniger ihrer Diskussionslust gefrönt, wäre ihren Nachkommen vieles erspart geblieben. „Nach meiner Ansicht stürzte Adam nur deshalb ins Verderben, weil er sich mit dem Weib in eine Diskussion einließ, und das Weib nur deshalb, weil es mit dem Teufel diskutierte" 73 . Dagegen habe Jesus Christus ein vorbildliches Beispiel gegeben, als er sich weigerte, sich mit dem Satan zu unterhalten. „Dieser Diskussionsteufel erschien ... in der Mitte der Weltzeit ... Jesus in der Wüste und forderte ihn zu einer Paradediskussion. Aber da bekam er es anscheinend mit einem Klügeren zu tun, der ihm das Wort entgegenschleuderte ,Weiche Satan' und mit diesem energischen Wort der Diskussion und dem Blendwerk des Teufels mit einem Schlage ein Ende machte"74. Auch die Antike habe es in einer vorbildlichen Weise abgelehnt, die Grundlagen von Staat und Gesellschaft zerdiskutieren zu lassen. „Wäre im Altertum einer so töricht gewesen, und hätte es gewagt, solche Fragen, die Gottes und der Menschen höchste Interessen betreffen, wie ζ. B. die religiösen und sozialen Einrichtungen, die Existenzberechtigung der Obrigkeit oder der Götter, zur öffentlichen Diskussion zu stellen, die gesamte Antike hätte ihm einstimmig das Todesurteil gesprochen" 75. Die allgemeine Diskussion über politische Fragen ist für die theokratischen Konterrevolutionäre nicht zuletzt deshalb ein so verabscheuungswürdiges Postulat, weil es zu den Grundprinzipien der Demokratie zählt. Wenn Krethi und Plethi über die Probleme des Gemeinwesens diskutieren, bedeutet das noch lange nicht, daß dabei ein vernünftiges und überzeugendes Ergebnis herauskommt. Aus diesem Grunde bedauert es Cortés zutiefst, in wie starkem Maße in den liberalen Staaten „Herr Jedermann . . . die Aufmerksamkeit eines ganzen Volkes für seine Reden und Aufsätze in Anspruch nehmen d a r f ' 7 6 . Diese Ansicht wird auch von de Maistre geteilt. „Heutzutage, Dank sei es dem System allgemeiner Unabhängigkeit und dem unermeßlichen Hochmut, der sich aller Stände bemächtigt hat, will jeder den Degen führen, Richter, Schriftsteller, Staatsmann, Regent sein ... Die halbe Welt ist angestellt, um die andere Hälfte zu regieren, ohne daß es ihr doch gelingen wollte" 77 .

73 Ebd., S. 197. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Donoso Cortés, Brief vom 16. Juli 1849 an die Direktoren der Madrider Zeitungen „Pais" und „Heraldo", S. 79. Besonders die Zeitungsschreiber maßten sich ein Recht an, das ihnen recht eigentlich nicht zukommt. „Hat doch die moderne Gesellschaft allen Bürgern das Recht verliehen, Journalisten zu werden, den Journalisten aber die furchtbare Aufgabe übertragen, die Völker zu belehren, also gerade die Aufgabe, die Jesus Christus seinen Aposteln anvertraut hatte" (ebd.). 8 J. B. Müller

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Zu derartigen Vorstellungen über die negativen Auswirkungen der demokratischen Partizipations- und Debattenwut paßt natürlich auch die Forderung, die Publikationen einer Zensur zu unterwerfen. Wenn der allgemeine Gedankenaustausch das Gemeinwesen in seinen Grundlagen erschüttert, dann ist es überaus konsequent, den Bereich der zur Diskussion stehenden Topoi einzuschränken. Staatliche Zensurmaßnahmen leisten dann einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung des politischen Gemeinwesens. Aus diesem Grunde spricht sich Louis de Bonald für eine „surveillance continuelle" 78 aller Presseorgane aus. De Maistre propagiert sogar die Etablierung eines Gerichtshofes, dem die Aufgabe obliegt, alle politischen Abweichler zu überwachen und zu bestrafen. „Man könnte allen Völkern ohne Unterschied sagen, daß ein Tribunal, welches eingesetzt ist, um vorzüglich auf die gegen die Sitten und die Nationalreligion gehenden Verbrechen ein wachsames Auge zu haben, zu allen Zeiten und allen Orten eine höchst nützliche Einrichtung sei" 79 .

Es verrate überhaupt ein gestörtes Verhältnis zu den Grundprinzipien einer vernünftigen, d. h. funktionierenden politischen Ordnung, wenn man die Staatsbürger mit unverlierbaren Grundrechten ausstatte. Auf diese Weise würden die Emanzioationsforderungen des Individuums in höchst illegitimer Weise über die berechtigten Ansprüche der Res publica gestellt. In diesem Sinne schreibt Donoso Cortés: „Der moderne Mensch redet zwar gerne von seinen unverjährbaren Rechten, die er gewinnt, wenn andere ihre Pflichten erfüllen" 80 . Der liberale Rekurs auf die Menschenrechte gefährdet jedoch, statt die Stabilität des Staates zu erhöhen, den Fortbestand jedes Gemeinwesens. „Mit dem Wort,Recht' auf den Lippen sucht er viele zu erreichen, die mit dem vielgerühmten ,Recht' nicht mehr viel zu tun haben. Sobald er daher seine üblichen und iiTeführenden Redensarten in eine klare Theorie verwandeln will, kommt er zu Ergebnissen, die den Kampf aller gegen alle entfesseln" 81.

Dabei basiert de Maistre zufolge die Annahme eines allgemeinen Menschenrechtes auf einem grundlegenden Irrtum. Ausgesprochen nominalistisch argumentierend, behauptet er, daß die Mitglieder der einzelnen Nationen sich nie und nimmer zu einer einheitlichen Menschheit zusammenfügen. „Die Verfassung von 1795 ist, wie ihre Vorgängerinnen, für den Menschen bestimmt. Nun aber gibt es auf Erden keinen Menschen schlechthin. Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen usw. gesehen. Dank Montesquieu weiß ich sogar, daß man

77

Joseph de Maistre, Vom Papste. Zweiter Band, S. 29. Louis de Bonald, Considérations sur la révolution, in: Bonald, S. 79. 79 Joseph de Maistre, Die spanische Inquisition. Aus dem Französischen. Wien/Leipzig 1992, S. 87. 80 Donoso Cortés, Brief vom 15. April 1852 an den Direktor des Heraldo in Madrid, S. 146. Ebd. 78

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

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Perser sein kann. Einen Menschen aber erkläre ich, nie im Leben gesehen zu haben, er müßte denn ohne mein Wissen vorhanden sein" 82 .

Der Liberalismus müsse sich überhaupt seinen Kardinalirrtum vorwerfen lassen, dem Begriff der Volkssouveränität Sukkurs gegeben zu haben. Auch diese Forderung werde sich notwendigerweise im Dämmerlicht einer politischen Wunschvorstellung verlieren. Schließlich steht de Maistre zufolge jegliche Herrschaftsbestellung unter dem ewig gültigen antidemokratischen Prinzip. Wohl „empfängt das Volk seinen Herrscher stets, aber es wählt ihn nie" 83 . Die Anwälte der liberalen Ordnungsvorstellung irrten auch, wenn sie die Forderung nach Gewaltenteilung erheben. Mit ihr sei jegliche Regierungsunfähigkeit unmittelbar gegeben, der Staat dem Chaos ausgeliefert. Donoso Cortés zufolge grenzt es an „Tollwut ... wenn man glaubt, ... daß man zwischen den getrennten und selbständig gemachten Staatsbehörden ein klug errechnetes Gleichgewicht" 84 herstellen könne. Wie für Cortés, so stellt sich auch Louis de Bonald zufolge die Forderung nach der Teilung der politischen Gewalten als das Denkergebnis utopischer Wunschvorstellungen dar. So unausgemacht es bleiben muß, ob der Staatschef alle Entscheidungen selber fällt, in wie starkem Maße er seine Berater an seinen Dezisionen beteiligt, so ausgemacht erscheint es ihm, daß jegliche Gewaltenteilung eine effiziente Regierung inhibiert. „Jeder aufgeklärte Europäer weiß, daß die Trennung der staatlichen Macht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ein Irrtum ist" 8 5 .

In wie starkem Maße derlei realitätsfremde Ordnungsvorstellungen in die politische Irre führen, beweise vor allem das abschreckende Beispiel der Französischen Revolution. In ihrer abgrundtiefen Verwerflichkeit gibt sie sich nach de Maistre als Strafgericht Gottes zu erkennen. Er wollte auf diese Weise die Franzosen darauf aufmerksam machen, daß man seine ewig gültigen Gesetze nicht folgenlos übertreten dürfe. „Läge es in Gottes Absicht, uns seine Pläne hinsichtlich der französischen Revolution zu offenbaren, so würden wir die Züchtigung Frankreichs wie ein Gerichtsurteil lesen ... Ist diese Züchtigung nicht offensichtlich? Haben wir nicht gesehen, wie Frankreich sich durch mehr als hunderttausend Morde schändete? Wie der ganze Boden dieses schönen Landes sich mit Blutgerüsten bedeckte? Wie die unglückliche Erde das Blut ihrer Kinder bei Justizmorden trank, während unmenschliche Tyrannen es außer Landes vergossen, um einen grausamen Krieg zu führen" 86 .

82

Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S. 72. Joseph de Maistre, Über den schöpferischen Urgrund der Verfassungen, S. 147. 84 Donoso Cortés, Brief vom 19. Juni 1852 an Kardinal Fornari, S. 166. 85 Louis de Bonald, L'État, in: Bonald, S. 286. Bonald kritisiert auch den Einfluß der Parteien auf die staatliche Machtbildung (ebd., S. 148). 83

8:

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Dabei habe der illegitime Versuch der französischen Revolutionäre, das Joch des Absolutismus abzuschütteln, den Freiheitsspielraum der Bürger in keiner Weise erweitert. An die Stelle des überkommenen und vernünftigen Systems des Absolutismus sei eine Diktatur getreten, deren Herrschaftsintensität alle vernünftigen Maße übersteigt. „Die ganze Geschichte ist nur ein Zuruf, um uns zu belehren, daß Revolutionen von den weisesten Männern begonnen, stets durch die Narren beendigt werden, daß die Urheber stets die Opfer derselben gewesen und daß die Anstrengungen der Völker zur Schaffung oder Vermehrung ihrer Freiheit fast immer damit geendigt haben, sie in Fesseln zu schlagen. Von allen Seiten sieht man nichts als Abgründe" 87 .

Die Verurteilung aller Formen der liberalen Politie durch die theokratischen Konterrevolutionäre führt notwendigerweise auch zu der Frage, wie diese das Land der „Glorious Revolution" und seine Verfassung beurteilen. Dabei steht es außer Zweifel, daß alle Autoren dieser Denkfamilie dem Inselstaat mit einer gehörigen Portion an Skepsis begegnen. Letzten Endes werfen sie den Engländern vor, die alten, geheiligten Staatsprinzipien über Bord geworfen zu haben und dem Luxus eines politikzerstörenden Liberalismus zu frönen 88. Für de Maistre tragen insbesondere die Absetzung von Jakob II., die Bill of Rights und der Act of Settlement das Kainsmal illegitimer Akte auf der Stirn. Was die Entmachtung des in Rede stehenden katholischen Königs anlangt, urteilt de Maistre: „Sie meinen also, das Verbrechen, die Religionen des Landes umändern zu wollen, oder nur den gegründeten Verdacht davon zu erzeugen, rechtfertige den Aufruhr von Seiten der Untertanen, oder ermächtige diese vielmehr, den Souverän zu entthronen, ohne Aufrührer zu werden. Was mich betrifft, ich werde keineswegs sagen, daß eine Nation in solchem Falle das Recht habe, ihren Herrn zu widerstehen, sie zu richten und abzusetzen" 89 .

Dabei zeige ein vorurteilsfreier Blick auf den gegenwärtigen Verfassungszustand des Inselstaates, daß dieser schwerwiegende Defizienzen aufweist. Letzten Endes habe das englische Politiksystem „die Probe der Zeit noch nicht bestanden" 90 . Analysiere man es ohne Beschönigung, so komme man kaum um die Erkenntnis herum, in wie starkem Maße „dieses berühmte Gebäude ... schon jetzt auf seinen ... feuchten Fundamenten"91 wanke. Etwas anderes könne man von einem Land auch nicht erwarten, das sich dem stabilitätsnegierenden Liberalismus mit Haut und Haaren verschrieben habe. Niemand dürfe sich deshalb wundern, „wenn der kalte Brand der Freiheit ... sichtbar die englische Verfassung" 92 bedroht. 86

Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S. 37. Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band. Aus dem Französischen, hrsg. von Jcseph Bernhart. München 1923, S. 194. 88 Joseph de Maistre, Vom Papste. Zweiter Band, S. 189. 89 Ebd. 87

90

Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band, S. 191. > Ebd.

9

3. Die Kampfansage an Liberalismus und Demokratie

117

Eine von de Maistre etwas abweichende, im Grundtenor jedoch ähnliche Interpretation des englischen Systems findet sich bei Donoso Cortés. Bei allen Vorbehalten, mit denen er dem Inselreich entgegentritt, konzediert er dessen Bewohnern, noch einen Restbestand an konservativen Grundüberzeugungen zu besitzen. Im Gegensatz zu den revolutionär gesinnten Franzosen hätten sie den Respekt vor den überkommenen Institutionen nie gänzlich aufgegeben. „Bei allen Mängeln hat England immerhin den bemerkenswerten Vorzug, daß es imstande gewesen ist, den Strom der Diskussion durch die mächtigen Dämme der historischen Überlieferung einzuengen und zu regeln" 93 .

Diese durchaus anerkennenswerten Züge der englischen Politik können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Inselstaat in den Augen eines kontinentalen konservativen Betrachters keineswegs über alle Zweifel erhaben ist. Zu offensichtlich sind seine Defizienzen, zu sehr ist seine Verfassung auf einen destruktiv-liberalen Ton gestimmt. Allein ein durch und durch vergangenheitsorientiertes England sei in der Lage, dem revolutionären Geist Europas Paroli zu bieten: „Wenn sich England in seiner Politik zu einer monarchischen und konservativen Haltung entschließen könnte, so würde das ... keineswegs ohne Nutzen sein. Das würde wenigstens in einem gewissen Umfang und noch für eine gewisse Zeit die völlige Auflösung der europäischen Gesellschaft verhindern können" 94 .

Aber auch ein noch so konservatives England kann dieser antirevolutionären Herkulesaufgabe gerecht werden, wenn es sich nicht von seinem falschen Glaubensbekenntnis löst. „Wenn sich England also nicht bloß auf die Heilung von Symptomen beschränken, sondern sich auch dazu entschließen will, die Krankheit an der Wurzel zu bekämpfen, um endlich eine wirkliche und dauerhafte Gesundung der europäischen Verhältnisse einzuführen, nun, dann darf sich England nicht bloß für Monarchie und konservative Gesichtspunkte einsetzen; es muß sich dann außerdem noch zu den Grundsätzen des katholischen Glaubens bekennen"95.

Allein die katholische Religion sei imstande, den revolutionären Ansturm der Neuzeit erfolgreich abzuwehren. „Ich betone das mit besonderem Nachdruck, meine Herren. Denn das radikalste Heilmittel gegen die Revolution und den Sozialismus ist der Katholizismus. Nur der Katholizismus, nur dessen Lehre ist der strikte, ist der absolute Gegensatz zum Geiste der Revolution und des Sozialismus"96. 92 Ebd. 93 Donoso Cortés, Brief vom 30. April 1852 an den Direktor des Heraldo in Madrid, S. 156. 94 Donoso Cortés, Rede vom 30. Januar 1850 über die soziale Lage in Spanien in ihrer Beziehung zur allgemeinen Lage Europas, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 229. 5 Ebd.

118

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Daß England weit davon entfernt ist, als antirevolutionäre Kraft agieren zu können, dieser Ansicht ist auch Henri de Bonald. Auch ihm zufolge weist der von den kontinentalen Liberalen so enthusiastisch gefeierte Inselstaat ausgesprochen selbstzerstörerische Bestimmungsmerkmale auf. Vor allem nach der Wahlrechtsreform von 1832 verberge sich hinter seiner glänzenden Fassade eine politische Instabilität, die liberale Englandbewunderer geflissentlich übersähen. Letzten Erdes schwebe er „durch die Entwicklung seines volkstümlichen Prinzips am Rande eines Abgrundes" 97. Aus diesem Grunde wendet sich Henri de Bonald auch gegen die von den meisten kontinentalen Liberalen vertretene Auffassung, England könne als Vorbild für alle europäischen Staaten angesehen werden. Dieser falschen Ansicht müsse man mit allem Nachdruck entgegentreten98. Die theokratischen Konterrevolutionäre nehmen auch das englische System der Bedürfnisse in ihr kritisches Visier. In dem Maße, in dem die Inselbewohner sich den individuumszentrierten Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus anheimgegeben haben, sei bei ihnen jeglicher Sinn für die Belange des Gemeinwohls aus dem Bewußtsein verschwunden. Jeder Engländer habe als wirtschaftlicher Akteur seine Sache ganz auf sich gestellt und kümmere sich einen Deut um das Wohlergehen des Nebenmenschen. Auf diese Weise ist Henri de Bonald zufolge ein „unzufriedenes und egoistisches Volk" 9 9 geworden. Auch der Versuch, die englische Verfassung ohne ihre royalistische Komponente nach Amerika zu transferieren, muß in einem äußerst skeptischen Lichte betrachtet werden. Dieser Auffassung huldigt vor allem de Maistre. „Ich glaube nicht nur nicht an die Dauerhaftigkeit der amerikanischen Regierung, sondern auch die besonderen Einrichtungen des englischen Amerika flößen mir gar cein Vertrauen ein" 1 0 0 .

Wie in England, so sei es auch in den USA der demokratische Geist, der die politischen Institutionen mehr und mehr gefährde. „Alles was aus gemeinsamer Beschlußfassung entspringt, ist äußerst hinfällig; es lassen sich nicht mehr Symptome von Hinfälligkeit und Schwäche zusammenbringen" 101.

In diesem Zusammenhang betätigt sich de Maistre auch als Prophet. Er ist dezidiert der Auffassung, daß Washington nie zur Hauptstadt der USA heranreifen wird.

96 Ebd. 97 Heinrich von Bonald, Von den Strafgerichten Gottes, S. 73. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S. 80. ιοί Ebd.

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

119

„Man hat die günstigste Lage in einem großen Strom ausgesucht und bestimmt, daß die Stadt Washington heißen solle. Der Platz aller öffentlichen Gebäude ist schon bestimmt, man hat mit dem Bau begonnen, und der Plan der »Königin der Städte' ist schon in ganz Europa im Umlauf. An sich liegt nichts darin, was Menschenmacht überstiege; eine Stadt läßt sich gewiß erbauen. Aber es ist zuviel Beschlußfassung, zuviel Menschliches bei der Sache, und man kann mit tausend gegen eins wetten, daß die Stadt nicht gebaut wird oder nicht Washington heißen oder daß der Kongress in ihr tagen wird" 1 0 2 .

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin Das Staatsbild der theokratischen Konterrevolutionäre gibt sich als ein intellektueller Knüpfteppich zu erkennen, der bei allen Unterschieden i m Einzelnen eine erstaunliche Homogenität aufweist. In immer neuen Anläufen und Varianten artikulieren sie ihre Überzeugung, daß allein eine rigide Machtausübung des Staates seine Fortexistenz und das Wohl seiner Bürger zu garantieren imstande ist. Kurz und bündig erklärt Heinrich von Bonald: „Klein und Groß, Alle haben die Autorität gerne, die Einen, weil sie sie selbst ausüben, die Anderen, weil sie selber auszuüben hoffen, Alle, weil sie von ihr geschützt werden" 1 0 3 . Dabei hält de Maistre dafür, daß schon die Sündhaftigkeit des Menschen eine starke Staatshand erheischt. „Der Mensch als ein Wesen, welches zugleich sittlich und verderbt ist, gerecht in der Erkenntnis und verkehrt in seinem Wollen, muß notwendigerweise regiert werden; er wäre sonst zu gleicher Zeit gesellig und ungesellig und die Gesellschaft wäre zugleich notwendig und unmöglich" 104 . Ganz i m Gegensatz dazu ist de Maistre der Ansicht, daß die staatliche Exekutive nicht von Volkes Gnaden regiert. „Die Nation verdankt dem Souverän mehr als der Souverän der N a t i o n " 1 0 5 . Die Staatsoberhäupter herrschen nicht, weil sie das Volk in ihre Ämter gewählt hat; ihre Herrschaftsgewalt geht notwendigerweise aus dem Umstand hervor, daß der Mensch ein herrschaftsbedürftiges Wesen ist. „Da nun der Mensch notwendig in Gesellschaft lebt und notwendig regiert wird, so ist bei Festsetzung der Regierung sein Wille ohne Gewicht; denn sobald die Völker keine Wahl haben und die Souveränität unmittelbar aus der menschlichen Natur hervorgeht, so sind die Fürsten nicht mehr von des Volkes Gnaden, da die Souveränität so wenig als die Gesellschaft selbst ein Erzeugnis seines Willens ist" 1 0 6 .

102 Ebd. i° 3 Heinrich von Bonald, Von den Strafgerichten Gottes, S. 120. 104 Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band, S. 187. los Ebd., S. 189.

120

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

De Maistre geht in seiner Begeisterung für die uneingeschränkte Herrschafts gewalt des staatlichen Machthaber sogar so weit, der Institution der Sklaverei alle negativen Bestimmungsmerkmale zu nehmen. So gibt er sich in dieser Beziehung als ein getreuer Schüler des Stagiriten zu erkennen. „Einer der tiefstdenkenden Philosophen des Altertums, Aristoteles, ist, wie jedermann weiß, sogar so weit gegangen, zu behaupten, daß es Menschen gebe, welche zu Sklaven geboren würden, und es gibt nichts Wahreres. Ich weiß wohl, daß man in unserem Jahrhundert ihn wegen diese Behauptung getadelt hat; allein man würde besser getan hatten, ihn zu verstehen, denn ihn zu bekritteln. Seine Behauptung ist in der ganzen Geschic ite, dieser Experimentalpolitik, gegründet, und in der eigenen Natur des Menschen, welcher alle Geschichte gemacht hat" 1 0 7 .

Wie weit der Enthusiasmus für eine unumschränkte Herrschaftsausübung gehen kann, beweist de Maistre mit seiner Behauptung, daß eine der wichtigsten Instanzen eines gut funktionierenden Gemeinwesens der Scharfrichter ist. Sie wälzt alle aus einer liberalen Einstellung deszendierenden Einwände nieder und schließt die Auffassung ein, nur er könne ein Mindestmaß an zivilem Umgang der Bürger untereinander sichern. Ohne seine drohende Gebärde bricht die staatliche Ordnung in sich zusammen, waltet das allgemeine Chaos. Nur sein schreckliches Handwerk halte die Menschen davon ab, einander an die Gurgel zu gehen. „Und dennoch beruht alle Größe, alle Macht, alle Subordination auf dem Scharfrichter; er ist der Schrecken und das Band der menschlichen Gesellschaft. Nehmen Sie der V/elt dieses unbegreifliche Mittel; in dem nämlichen Augenblicke weicht die Ordnung c.em Chaos; die Throne sinken, und die Gesellschaft verschwindet" 108.

Dabei könne auch nicht der mindeste Zweifel daran bestehen, daß der Scharfrichter sein blutiges Handwerk in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetzgeber verrichtet". „Gott, der Urheber der Souveränität, ist auch Urheber der Strafe; auf diese beiden Pole hat er unsere Erde gegründet" 109 .

Die Blickverengung der liberalen Ideologen besteht in der Auffassung der theokratischen Konterrevolutionäre überhaupt in dem Umstand, daß sie ihr Hauptaugenmerk allein auf die Organisation des weltlichen Staates richten. Dem Urteil Donoso Cortés gemäß haben bei ihnen nur Machtfragen Gewicht. Bei einer rein auf das Irdische konzentrierten Sichtweise könne man allerdings auch nicht erwarten, die religiöse Dimension der Politik in den Blick zu nehmen. So verwundere es 106 Ebd., S. 188. 107 Joseph de Maistre, Vom Papste. Zweiter Band, S. 20. De Maistre hat sich auch gegen die russische Bauernbefreiung gewandt. Vgl. dazu: Quatre chapitres sur la Russie, in: Oeuvres complètes de J. de Maistre. Tome huitième. Lyon 1884, S. 291. 108 Joseph de Maistre, Abendstunden zu St. Petersburg. Erster Band. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1824, S. 40. 109 Ebd.

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

121

kaum, daß die liberale Denkschule die einzige ist, „die unter ihren Lehrern und Meistern keinen Theologen aufzuweisen hat" 1 1 0 . Letzten Endes seien ihre Repräsentanten darauf aus, „ohne Gott" 1 1 1 zu regieren. Im Gegensatz zum Theorieentwurf des Liberalismus lassen die theokratischen Konterrevolutionäre keinen Zweifel darüber aufkommen, daß alle politischen Fragen und Probleme einen genuin theologischen Bedeutungshof aufweisen. Die Klammer, die Theologie und Politik zusammenhalte, könne nur derjenige übersehen, der sich einer durch und durch irdischen Sichtweise verschrieben hat. Er wird auf Grund seiner heuristischen Defizienz nie begreifen, „welch enges Band die Welt des Göttlichen mit uns Menschen knüpft, wie nahe verwandt die politischen Fragen mit den ... religiösen sind und wie sehr alle auf die Regierung der Völker bezüglichen Probleme abhängen von jenen Fragen, die sich mit Gott beschäftigen" 1 1 2 . Gott muß Donoso Cortés zufolge vor allem deshalb in die politische Reflexion einbezogen werden, weil er der „höchste Gesetzgeber aller menschlichen Gesellschaften ist" 1 1 3 . Dabei findet die Omnipotenz Gottes ihr irdisches Pendant in der exzessiven Machtfülle des irdischen Souveräns. Diese schließt sich nur dem auf, der sich der Tatsache vergewissert, daß die himmlische und die irdische Macht denselben Ursprung aufweisen und aus diesem Grunde in ihrem Intensitätsgrad kaum voneinander abweichen können. Einen ausgesprochen theokratischen Unterton weist die Behauptung von Cortés auf, daß der irdische Machthaber letzten Endes als Stellvertreter Gottes fungiert. „Der Souverän ist wie Gott: Entweder ist er einer oder er existiert überhaupt nicht. Die Souveränität ist wie die Gottheit: Entweder existiert sie überhaupt nicht oder aber, wenn sie existiert, ist sie unteilbar und unmittelbar" 114 .

Der Auffassung, daß nur eine an Gottes ewigen Gesetzen orientierte unumschränkte Macht das Gemeinwesen auf Dauer stellen könne, schließt sich auch Henri de Bonald an. Den Gegensatz zwischen einer politische Stabilität gewährleistenden Theokratie und der Regierungsunfähigkeit liberaler Regime könne gar nicht pointiert genug geschildert werden. „Gibt man der Gewalt einen anderen Ursprung, so flößt mir alsdann die Gewalt ... gar keine Ehrfurcht mehr ein. Wenn ich aufhöre, in euch Gottes Bild und den Bewahrer seiner Macht zu erblicken, so seid ihr in meinen Augen nichts mehr als Usurpatoren oder no Donoso Cortés , Der Staat Gottes, S. 185. m Ebd., S. 200. ι· 2 Ebd., S. 185. Die Weigerung des Liberalismus, theologische Probleme ins Blickfeld zu nehmen, führt Cortés zufolge auch dazu, daß seine Tage letzten Endes gezählt sind. „Das erklärt auch, warum der Liberalismus einfach im Nebel verschwindet, sobald Katholiken und Sozialisten auf den Plan treten und der Welt ihre gefürchteten Probleme vorlegen, auf daß sie sich für die eine der beiden kontradiktorischen Lösungen entscheide" (ebd., S. 198). 113 Ebd. 114 Ebd., S. 196.

122

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution Tyrannen, und ich habe das Recht, eure Willens-Äußerungen, welche ihr Gesetze nernt, für willkürlich und ungereimt zu halten, weil ihr, um sie mir aufzubürden, nur Zahl und Stärke habet, welche vor meiner Vernunft kein Ansehen haben, und meine freie Einwilligung nicht bestimmen können" 115 .

In den Augen der theokratischen Konterrevolutionäre zählt es überhaupt zu den Hauptsünden der Gegenwart, die Herrschaft Gottes durch diejenige des Volkes abgelöst zu haben. Der Rekurs auf seinen Willen ist nichts anderes als die höchst illegitime Auflehnung gegen das ewig gültige göttliche Herrschaftsprinzip. In diesem Sinne schreibt Louis de Bonald: „Bis zur Gegenwart war man in allen alten und modernen Gesellschaften der Auffassung, daß die höchste universelle Gewalt allein Gott zukommt. A Jove principium, sagten die Heiden; omnis potestas a Deo, sagten die Christen. Uns blieb es vorbehalten, diese Auffassung einer grundlegenden Änderung zu unterziehen ... Nun tritt das Volk an die Stelle Gottes. Es stellt sich allerdings die Frage, was denn die Heiligkeit (divinité) des Volkes recht eigentlich ausmacht, welcher geheimnisvolle Stern uns überhaupt zu ihr führt? ... Wir suchen umsonst. Das Wort Volk ist ein Kollektivbegriff, der eine abstrakte Idee repräsentiert, eine reine Schöpfung menschlicher Denkanstrengungen" 116 Die theokratischen Konterrevolutionäre, die der absolutistischen Herrschaftsgewalt der irdischen Potentaten das Wort reden, fordern als Katholiken auch die Suprematie des Papstes. Ihm komme das Recht zu, als natürliches Oberhaupt der Staatengemeinschaft zu fungieren. Die vom Geiste der nationalen Emanzipation infizierten Staaten seien in der Gegenwart leider darauf aus, die Oberhoheit des Pontifex maximus zu negieren. „Der Papst entbindet nicht mehr von dem Eide der Treue, aber die Völker entbinden sich selbst; sie empören sich ... Sie verkünden laut die ursprüngliche Souveränität der Völker und ihre Befugnis, sich selbst Recht zu schaffen. Ein Konstitutionsfieber, man darf glaube ich dieses Ausdrucks sich bedienen, hat sich aller Köpfe bemeistert, und man weiß noch nicht, was es erzeugen wird" 1 1 7 . Nun ist Rom nicht mehr das Zentrum der Welt, nun wird sowohl die Souveränität des Papstes als auch diejenige der einzelnen Staatenlenker angezweifelt. „Die Geister, alles gemeinschaftlichen Mittelpunktes beraubt und in der beunruhigendsten Weise auseinanderlaufend, sind nur über einen Punkt einverstanden, die Souveränitäten einzuschränken. Was haben demnach die Souveräne bei diesen so sehr gepriesenen Einsichten, die alle gegen sie gerichtet sind, gewonnen? Mir ist der Papst lieber" 118 . Zu den Vorstellungen de Maistres über das Verhältnis von Staat und Kirche gehört es allerdings auch, daß er den Gallikanismus verteidigt. Fernab aller scholasti115

Heinrich von Bonald, Von den Strafgerichten Gottes, S. 124. Louis de Bonald, Le gouvernement représentatif, in: Bonald, S. 140. Bonald bezeichnet die Demokratie als eine „maladie organique de la société" (ebd., S. 148). 117 Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band, S. 298 f. Für de Maistre ist der Papst auch „das Haupt selbst derjenigen Christen, welche ihn nicht erkennen wollen" (ebd., S. 320). Ihm zufolge gibt es „ohne den Papst... kein Wahres Christentum" (ebd., S. 5). 116

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

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sehen Überlegungen zu diesem Problemkomplex fordert er die rigide Unterordnung der Kirche unter den Staat. Dabei zieht er diejenigen Kirchenführer ins Lächerliche, die sich dieser Ordnungsvorstellung widersetzt haben. Da die Macht des Fürsten unmittelbar von Gott eingesetzt sei, gäben sich die Gegner des Gallikanismus als Widersacher seiner unveränderlichen Ordnung zu erkennen. Daß der Gallikanismus und die Suprematie des Papstes sich einigermaßen widersprechen, darüber hat sich de Maistre offensichtlich keine Gedanken gemacht 119 . Von einem katholischen Vertreter des theokratischen Ordnungsgedankens sollte man erwarten, daß er die politischen Entscheidungen im Horizonte der Kirchenlehre interpretiert. Das aber ist bei Joseph de Maistre keineswegs der Fall. Er behauptet stattdessen, der Staat sei „niemandem Rechenschaft schuldig" und könne in „gar keinem Fall vor Gericht gefordert werden" 120 . Wenn es der Zweck der politischen Entscheidung sei, die Ordnung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, dann muß es einen Akteur geben, der souverän über Normalität und Ausnahmezustand entscheidet. Bei dieser Letztentscheidung müssen dann und wann auch ethische Normen in den Wind geschlagen werden. Mit dieser weitherzigen Auslegung des staatlichen Handelns hat sich de Maistre auf eine Denkebene begeben, die kaum mit der Kardinaltugendlehre der Kirche zu vereinbaren ist. Er steht mit seiner rigiden, an der Souveränität des politischen Gemeinwesens orientierten Politikdoktrin nicht zuletzt auch im Widerspruch zu ihrer Bewertung des politischen Widerstands. Einen gegen die Regierung gerichteten Aufstand läßt de Maistre auch dann nicht zu, wenn diese sich kontinuierlich gegen das Gemeinwohl vergeht und die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt. „Jede Regierung ist unumschränkt; und in dem Augenblicke, wo man unter dem Vorwande des Irrtums oder der Ungerechtigkeit sich ihr widersetzen darf, hat sie aufgehört zu sein" 121 . De Maistres Auffassung nach ist es „für die Praxis ... ganz dasselbe, dem Irrtume nicht unterworfen sein, oder dessen nicht angeklagt werden dürfen" 122 . Dabei verschlägt es kaum, wenn er sich weigert, „Europa das so kurze und so klare Staatsrecht von Asien und Afrika anzuraten" 123. Schließlich ist seine Handlungslehre ziemlich frei von jeglicher moralischer Beschränkung.

us Ebd., S. 299. 119

Joseph de Maistre, Von der Gallicanischen Kirche in ihrem Verhältnisse zu dem Kirchen-Oberhaupte. Eine Fortsetzung des Werkes Vom Pabst. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1823, S. 365. 120 Joseph de Maistre, Vom Papste. Zweiter Band, S. 93. Daß Carl Schmitt de Maistre an diesem Punkte als seinen Lehrmeister ansah, verwundert keineswegs. Ihm zufolge liegt beim französischen Theokraten de Maistre „eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung vor" (Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München/Leipzig 1934, S. 83). Bei ihm sei die Staatslehre „auf eine reine, nicht räsonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung" (ebd.) ausgerichtet. 121

1

Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band, S. 24. Ebd., S. .

124

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Die uneingeschränkte Verherrlichung der politischen Macht läßt de Maistre. sogar zum Bewunderer Robespierres werden. Mit politischen Mitteln, die durchaus nicht in den üblichen Tugendrahmen passen, habe er es vermocht, den konservativen Koalitionsmächten die Stirn zu bieten. Seine Organisationskunst und seine Willensstärke brachten Frankreich den Sieg. „Dies Ungeheuer von Macht, von Blut und Erfolgen trunken, ein grauenhaftes Gebilde, war eine furchtbare Züchtigung für die Franzosen und zugleich das einzige Mittel zur Rettung Frankreichs" 124 . Allein „Robespierres teuflischer Geist konnte dies Wunder wirken" 1 2 5 . Es war nicht zuletzt Isaiah Berlin, der die kratologische Robespierreinterpretation de Maistres ausgesprochen verständnisvoll und tiefenscharf kommentierte. „Die Jakobiner ... mögen Verbrecher und Tyrannen gewesen sein, doch sie üben Macht aus, sie repräsentieren Autorität, sie verlangen Gehorsam und, vor allem, sie strafen und unterdrücken die zentrifugalen Kräfte schwacher, fehlbarer Menschen, infolgedessen sind sie den kritischen Intellektuellen tausendmal vorzuziehen" 126 .

Auch Henri de Bonald zufolge kann nur ein irregeleiteter ethischer Idealismus meinen, daß ein Souverän immer ethisch zu handeln verpflichtet ist. Die Gefahr des Mißbrauchs staatlicher Macht sei weit weniger hoch zu veranschlagen als die Weigerung, sie überhaupt in Anwendung zu bringen. Der zögerliche Umgang mit den Mitteln der Herrschaft sei für das Gemeinwesen weitaus gefährlicher als ihr Mißbrauch. Es „liegt noch größere Schuld in dem Nichtgebrauche der Autorität als in dem Mißbrauche derselben; weil der Mißbrauch der Autorität nur auf Einige wirkt, hingegen der Nichtgebrauch derselben auf Alle zurückfällt" 127 .

Wenn man John Locke den Vorwurf macht, die Morallehre der Kirche letzten Endes über Bord geworfen zu haben, so darf man die ethische Unbekümmertheit dieser beiden in Rede stehenden theokratischen Konterrevolutionäre nicht unerwähnt lassen. Letzten Endes haben die beiden Franzosen in mindestens so umfänglicher Weise einem ethischen Latitudinarismus gefrönt wie der Cheftheoretiker der Glorious Revolution. Allerdings ist es kaum möglich, allen theokratischen Konterrevolutionären ethischen Indifferentismus anzulasten. So hat nicht zuletzt Donoso Cortés nie einen

123 Ebd., S. 190. 124

Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S. 39. 125 Ebd. 126 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität, S. 187. Aus diesem Grunde verachtete de Maistre auch den Geist der Romantik. Isaiah Berlin zufolge plädierte de Maistre ,.wie Charles Maurras und T. S. Eliot ... für die Dreifaltigkeit von Klassizismus, Monarchie und Kirche" {Isaiah Berlin: Das krumme Holz der Humanität, S. 126). Zu dieser Haltung bekannte sich auch Carl Schmitt. Vgl. dazu seine Abhandlung: Politische Romantik. Zweite Auflage. München / Leipzig 1925. 127 Heinrich von Bonald, Von den Strafgerichten Gottes, S. 34.

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

125

Zweifel daran gelassen, daß der irdische Herrscher stets der Verpflichtung obliegt, die göttlichen Gebote zu beachten. Mit Nachdruck weist der Spanier auf die sittlichen Grenzen jeglicher Machtausübung hin. Nur wenn man die Kategorien der göttlichen Sittenordnung und der weltlichen Herrschaftsausübung zusammendenke, ist die Gewähr gegeben, daß der Mensch nicht der gouvernementalen Willkür anheimfällt. Die Nichtbeachtung moralischer Gesetze läßt jede Regierung auf das Niveau einer gemeinwohlfeindlichen Willkürherrschaft herabstürzen. „Wenn aber der Wille aufhört, die Stimme Gottes zu vernehmen, wenn der Verstand aufhört, die Stimme der Kirche zu vernehmen, dann sind dem Irrtum und dem Bösen auf dieser Welt überhaupt keine Grenzen mehr gezogen" 128 .

Um das Gesetz des Dschungels zu vermeiden, muß die Regierung immer wieder daran erinnert werden, daß sie nicht aus eigener Machtvollkommenheit zu handeln befugt ist. Seine Warnung ist unzweideutig: „Die Völker, die dem Gesetze Gottes nicht gehorchen wollen, werden der rohen Gewalt der Tatsachen überantwortet" 129.

Allein das „katholische Prinzip" 130 biete die Gewähr dafür, eine derartige sittliche Katastrophe abwenden zu können. Es gehöre überhaupt zu den unbestreitbaren Ruhmestaten der Katholischen Kirche, die Regierenden immer wieder auf die sittlichen Grenzen ihrer Herrschaftsausübung hingewiesen zu haben. Sie sei immer darauf aus gewesen, daß deren Überschreitung als Verstoß gegen die göttlichen Gebote gebrandmarkt wird. Sie habe „niemals darauf verzichtet, die Fürsten an die Grenzen ihrer Macht zu erinnern und jede tyrannische Überspannung ihrer Gewalt für einen unerlaubten Eingriff in die geheiligten Rechte der Völker zu erklären" 131 . Der kirchlichen Lehre zufolge würde „jede Autorität auf Gott zurückgeführt und daher keinem Menschen gestattet, sich über seine Mitmenschen zu erheben" 132 . In den Augen der Kirche besitzen „sämtliche Machtbefugnisse dieser Erde nur den einen Zweck, den Menschen zu nützen, nicht aber ihnen zu schaden"133. In Übereinstimmung mit dem heiligen Augustinus ist Cortés der Auffassung, daß die Staaten ohne Gerechtigkeit große Räuberhaufen sind. Allein die Beachtung der göttlichen Gebote bietet die Gewähr für die Erreichung desjenigen Zustandes, der das Wohlergehen der Machtunterworfenen garantiert. An einer drakonischen Machtausübung kann also nur demjenigen gelegen sein, der das persönliche 128 129

Donoso Cortés , Brief vom 26. Mai 1849 an Graf Montalembert, S. 53. Donoso Cortés, Brief vom 30. April 1852 an den Direktor des Heraldo in Madrid,

S. 155. 130

Donoso Cortés, Brief vom 26. Mai 1849 an Graf Montalembert, S. 51. Donoso Cortés, Brief vom 19. Juni 1852 an Kardinal Fornari in Rom, S. 167. ι 3 2 Ebd. 133 Ebd. 131

126

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Schicksal der Herrschaftsuntergebenen in den Wind schlägt und sich damit gegen die Gebote der christlichen Nächstenliebe vergeht. „Werden die Gebote Gottes genau befolgt, sind die Fürsten wohlwollend und die Völker gehorsam, wie es dem Geist der Liebe entspricht, so wird diese gemeinsame Unterwerfung unter die Gebote Gottes eine gewisse Gesellschaftsordnung ... und ein gewisses Wohlergehen hervorrufen, und damit einen Zustand schaffen, den ich als freiheitlich bezeichne, einen Zustand, der in Wahrheit diese Bezeichnung auch vollauf verdient, einfach deshalb, weil hier die Gerechtigkeit herrscht und diese die Fähigkeit besitzt, uns frei zu machen" 134 . Dezisionistische Gedankengänge, die die Entscheidungsvollmacht des Staates aus dem Horizonte der Unterscheidung von Gut und Böse nehmen, sind letzten Endes auch Louis de Bonald fremd. Jede Handlung des Menschen, also auch diejenige des irdischen Fürsten, ist einer allgemein gültigen Ordnung verpflichtet. „Es gibt... eine bestimmte natürliche Ordnung, die vom Willen des Menschen versciieden ist, da sie seinen Handlungen vorausgeht und infolgedessen unabhängig vom Menschen ist" 1 3 5 . M i t dieser Behauptung hat sich Louis de Bonald zur Existenz einer ewig gültigen Sittenordnung bekannt, der auch die Staatenlenker verpflichtet sind. Gerade das Beispiel des französischen Jakobinismus zeige, in wie starkem Maße man gegen die ewige Sittenordnung zu verstoßen in der Lage ist. „Im Namen des Volkes wurden die unterdrückendsten Gesetze gegen Gott und den M enschen formuliert" 136 . Daß die theokratische Politiklehre von Louis de Bonald keineswegs bar aJer ethischen Bestimmungsmomente ist, darauf verweist auch Robert Spaemann. Er schreibt über sie: „Da ... Gut und Böse zugleich die Kategorien sind, in denen Erhaltung und Destruktion der Gesellschaft beschlossen sind, so kann für ihn die Frage des Rechtes nicht von der Moral abgelöst werden. Souverän kann nur jener Wille sein, der mit Notwendigkeit gewissermaßen per definitionem die Erhaltung der Gesellschaft intendiert" 137 . Allerdings vermeidet es de Bonald sorgfältig, seiner Sittenlehre deutliche Konturen zu verleihen 1 3 8 .

134

Donoso Cortés, Brief vom 15. April 1852 an den Direktor des Heraldo in Madrid,

S. 149. 135 Louis de Bonald, Théorie du pouvoir politique, in: Oeuvres complètes de M. de Bonald. Publiées par M. L'abbé Migne.Tome premier. Paris 1859, S. 1019. 136 Ebd. 137

Robert Spaemann, Die Geburt der Soziologie aus dem Geiste der Restauration. 138 Ebd., S. 86.

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

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Auf der Suche nach den Wirkkräften, die die gottgegebene Ordnung des Absolutismus erschüttert haben, sehen alle theokratischen Konterrevolutionäre den Protestantismus als eine der geistesgeschichtlichen Hauptursachen an. Die zerstörerische Kraft dieses Glaubensbekenntnisses liegt de Maistre zufolge in seiner Forderung beschlossen, die Souveränität des Volkes gegen diejenige der Fürsten auszuspielen. Aus einer dezidiert demokratischen Einstellung heraus habe es das legitime Herrschaftsgebäude Europas zerstört. Nicht die Treue gegenüber den alten Fürstenhäusern sei in dieser Religion zum Zuge gekommen, sondern die auf einer höchst fragwürdigen Bibellektüre basierende Neuerungswut. Während der Protestantismus „in dem System des Nichtwiderstehens nur die tiefste Herabwürdigung des Menschen" 139 erblicke, habe der Katholizismus völlig zu Recht „das System der Volkssouveränität als ein antichristliches Dogma" 1 4 0 verworfen. Wie weit die Geistesverwirrung insbesondere im englischen Protestantismus 141 fortgeschritten sie, zeige das skandalöse Lob einiger seiner Theologen für die Feinde der christlichen Religion. So habe sich William Robertson nicht gescheut, sogar Voltaire seinen Tribut zu zollen. „Was soll man von einem Mitgliede der schottischen Hochkirche, von einem Doktor der Theologie, von einem Prediger des christlichen Glaubens sagen, der dem eifrigsten, dem berüchtigtetsten, dem unehrlichsten Feind unserer Religion seiner Hochachtung und Verkehrung versichert" 142 .

Angesichts der destruktiven Potenz des Protestantismus bleibt de Maistre gemäß nichts anderes übrig, als dieses Glaubensbekenntnis mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. „Seht da den Protestantismus. Und das wird man von demselben, was wird man von Euch, die ihr ihn verteidigt, sagen, wenn er einst nicht mehr ist? Helft uns lieber ihn verschwinden zu machen. Um in Europa eine Religion und eine Sittenlehre festzustellen; um der Wahrheit die Kräfte zu geben, die die Eroberungen, welche sie beabsichtigt, erfordern; und besonders den Thron der Souveräne zu befestigen und die allgemeine Gärung der Geister, die uns mit den größten Übeln bedroht, unvermerkt zu beruhigen, ist es eine unerläßliche Vorarbeit, daß aus dem europäischen Wörterbuch das unselige Wort ,Protestantismus' gestrichen werde" 143 . 139

Joseph de Maistre, Vom Papste. Erster Band, S. 192. Ebd., S. 199. Daß diese Behauptung etwas fragwürdig ist, wurde in dieser Arbeit des öfteren unter Beweis gestellt. De Maistre unterläßt es geflissentlich, auf die demokratischen Strömungen im Katholizismus hinzuweisen. 141 De Maistre wendet sich pointiert auch gegen den Deismus. „Ich habe viele Protestanten gekannt, besonders Engländer, an welchen ich den Protestantismus zu studieren pflegte, doch nie konnte ich in ihnen etwas anderes erkennen als Deisten, die mehr oder minder durch das Evangelium vervollkommnet, aber ganz unbekannt mit dem waren, was man Glauben nennt, nämlich göttlichen Glauben" (.Joseph de Maistre, Die spanische Inquisition. Aus dem Französischen. Wien/Leipzig 1992, S. 69.) 140

142

Joseph de Maistre, Die spanische Inquisition. S. 73. Joseph de Maistre, Vom Papste, Zweiter Band, S. 199. Auch die Schriften derjenigen, die unter dem Einfluß de Maistres zur katholischen Religion konvertierten, sind auf einen 143

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Wie de Maistre, so ist auch Louis de Bonald der Überzeugung, daß der protestantistischen Religion nur negativ zu Buche schlagende Bestimmungsmerkmale eignen. Es gelte vor allem seine Zerstörungskraft im Auge zu behalten, wolle man seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung gerecht werden. „In der Zeit der Reformation drang das Böse in die Höhlen des sozialen Körpers ein ; die neue Doktrin ersetzte das System der Autorität durch dasjenige der Diskussion. Auf diese Weise ruinierte sie sowohl die Kraft zum Befehlen als auch die Pflicht zu gehorchen" 144 .

Die Autoren der theokratischen Konterrevolution halten deshalb auch dafür, daß der Protestantismus als ideologischer Kampfpartner völlig ausfalle. Mit dieser Religion könne man kaum gegen die destruktiven Tendenzen der Gegenwart angehen. Schließlich sei er selbst auf den Ton der institutionenzerstörenden Moderne gestimmt. Allein die katholische Religion sei imstande, den zersetzenden Mächten der Gegenwart die Stirn zu bieten. Donoso Cortés läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß das „katholische Prinzip, das die Gesellschaft erhaltende und belebende Prinzip" 145 ist. Es könne überhaupt nicht in Abrede gestellt werden, in wie starkem Maße „das Kulturprogramm des Katholizismus ... das Gut ohne Beimischung des Bösen und das Kulturprogramm der (ungläubigen) Philosophie ... das Böse ohne Beimischung des Guten" 146 repräsentiert. Dabei führt jegliche Vermittlung zwischen diesen beiden Denklagern in die Irre, der angeblich goldene Mittelweg in die Sackgasse. „Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo es gilt, zwischen diesen beiden Systemen eine klare und endgültige Entscheidung zu fällen, d. h. das eine dieser Systeme anzunehmen und zu bekennen - ohne abschwächende Kompromisse und mit allen Konsequenzen, die dazu gehören - und das andere ebenso klar und ebenso energisch abzulehnen und zi verurteilen" 147 .

Im Laufe der historischen Entwicklung wurde es immer klarer, daß vorrevolutionäre Zustände kaum mehr herzustellen waren. Diese Tatsache stellte die theokratischen Konterrevolutionäre vor ein kaum lösbares Problem. Einerseits wußten sie insgeheim, daß die Welt, wie vor 1789 bestanden hatte, endgültig der Vergangenheit angehört. Andererseits waren sie auch nicht willens, den fortschrittlichen

ausgesprochen antiprotestantischen Ton gestimmt. So schreibt der Jesuit Fürst Gagarin: „Die abendländische Bildung ist das Werk der katholischen Kirche; denn der Protestantismus ist von gestern und wird morgen nicht mehr sein" (P. J. Gagarin S. JWird Rußland kathclisch werden? Aus dem Französischen. Tübingen 1857, S. 51). 144 Louis de Bonald, Du gouvernement représentatif, S. 145. w Donoso Cortés, Brief vom 26. Mai 1849 an Graf Montalembert, S. 51. 146 Ebd., S. 52. 147 Ebd. Wer sich heute noch den intellektuellen Luxus erlaube, zwischen diesen beiden Denkfamilien hin- und herzuschwanken, „der steht außerhalb der Kategorie der großen Intelligenzen und ist ewig dazu verurteilt, sich einem System der absoluten Sinnlosigkeit zu verschreiben" (ebd.).

4. Die theokratische Autoritätsdoktrin

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Kräften das politische Terrain zu überlassen. Ihr ideologisches Segel konnten und wollten sie nicht auf der ganzen Linie streichen. So rang sich Louis de Bonald den Satz ab: „Man wird Gott der Gesellschaft und den König Frankreich zurückgeben" 148.

Seine skeptische und zugleich optimistische Einstellung kommt in seiner Bewertung Napoleons und Ludwig XVIII. zum Ausdruck. Die Herrschaft des Korsen akzeptierte er, weil er den rigiden Antiklerikalismus der Revolution überwand 149 . Was seine Beurteilung der Restaurationsperiode anlangt, so begrüßte er die Reetablierung der Monarchie. Allerdings gab er sich als Gegner der „Charte constitutionnelle" vom 4. Juni 1814 zu erkennen. Sie war seinem Urteil zu sehr auf einen liberalen Ton gestimmt. Er vermißte in ihr die genuin theokratischen Bestimmungsmomente. De Bonald gab sich royalistischer als der König selber 150 . Gegen seine früheren politischen Prinzipien hat sich auch Donoso Cortés verhalten. Obgleich er ursprünglich als Anwalt der theokratischen Konterrevolution allen demokratischen Bestrebungen den Kampf angesagt hatte, ließ er sich nicht nehmen, den Staatsstreich des dritten Napoleon begeistert zu begrüßen. Die plebiszitäre Basis seiner Machtergreifung störte den Spanier dabei recht wenig. Offensichtlich rief die Revolution von 1848 einen derartigen Abscheu in ihm hervor, daß er sogar dem Bonapartismus Reverenz erwies. In den Berichten, die er als spanischer Gesandter in Paris über Napoleon III. verfaßte, bekundet er seine uneingeschränkte Unterstützung für den neuen Machthaber. Mit spürbarer Begeisterung schreibt er über ihn: „Er allein weiß, daß er gleichzeitig zwei Dinge repräsentiert: einmal die Autorität gegenüber den revolutionären Bestrebungen der Franzosen, aber gleichzeitig auch die Revolution im Gegensatz zum monarchischen Europa" 151 .

Dabei liege sein politisches Verdienst vor allem darin, sich auf das breite Volk gestützt und dem Bürgertum die Stirn geboten zu haben. Diese Haltung habe sich als probates Mittel erwiesen, um die Machtpositionen der Bourgeoisie zu schleifen. Der ehemals so radikal antidemokratisch eingestellte Cortés hat also nun wenig gegen einen Herrscher einzuwenden, der sich auf die Volksmassen stützt. Der Kaiser sei zu Recht bestrebt, „der großen Masse zu gefallen, diesem wogenden Meer, dessen Wellen seiner Stimme gehorchen und sich erheben, um die Bourgeoisie zu ertränken, wenn es seinem allmächtigen Willen so gefällt" 152 . Den Aristokraten Cortés stört es auch nicht, daß Napoleon III. ein Parvenu ist. Eine derartige Redeweise ist in seinen Augen eine große Beleidigung. Dieser antitraditionalistische Monarch 148

Louis de Bonald, Théorie du pouvoir politique, S. 954. 1 49 Vgl. dazu Henri Moulinié , De Bonald. Paris 1916, S. 71. 150 Ebd., S. 78. 151 Donoso Cortés, Bericht aus der Spanischen Botschaft vom 25. Januar 1853, in: Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte, S. 332. 152 Ebd., S. 331.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

besitze schließlich den Mut, „dem monarchischen Europa ... den Handschuh der Herausforderung vor die Füße" 153 zu werfen. Sein Wirken sei zu Recht darauf aus, „die alten Dynastien zu besiegen" 154 . Auch dieses politische Urteil steht im krassen Gegensatz zu früheren Ansichten Cortés'. Der Spanier liquidiert also seine früheren Anschauungen in dem Maße, in dem er dem plebiszitär eingefärbten Kaisertum von Napoleon III. das Wort redet. Carl Schmitt ist allerdings der Überzeugung, daß Cortés mit seiner Unterstützung von Napoleon III. keineswegs seine früheren Prinzipien in den Wind geschlagen hat. Ihm sei es ganz einfach darum gegangen, mit allen Mitteln das Schlimmste zu verhindern. „Daß er als Diplomat den Staatsstreich Louis Napoleons und die Kaiserkrönung begünstigte, gehört zu seiner zeitgebundenen Situation als Politiker und Diplomat. In Wirklichkeit bedeutete ihm die gekrönte Diktatur ... nur ein praktisches pis aller, eine Notwehr gegen die Diktatur anderer Kräfte und Mächte, die er für gefährlicher, boshafter und intensiver diktatorisch hielt" 1 5 5 .

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive Die Besinnung darauf, welchen Stellenwert die politische Theorie der theokratischen Konterrevolutionäre in der Ideenlandschaft des 20. Jahrhunderts besitzt, hat davon auszugehen, daß ihre Bewertung unendlich viele Variationen aufweist. Für die einen lassen sich mit ihrer Hilfe sinnvolle Erkenntnislinien aus dem Dickicht unserer Probleme ziehen. Andere wiederum halten dafür, daß der Gang der historischen und politischen Entwicklung über die Theorien dieser höchst unzeitgemäßen Denker hinweggeschritten ist und daß deren Berücksichtigung einer ideologischen Leichenfledderei gleichkommt. Für die einen ist die heutige Wirkkraft der theolcratischen Konterrevolution ein augenfälliger Beweis dafür, daß es den fortschrittlichen Kräften bislang noch nicht vollständig gelungen ist, die Köpfe der politisch denkenden Menschen zu erobern 156 . Für andere wiederum handelt es sich dabei 153 Ebd., S. 332. 154 Ebd. 155 Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Perspektive. Köln 1950, S. 105. Dabei sei es Cortés nie in den Sinn gekommen, „diesen pragmatischen Notbehelf für eine religiöse oder theologische Rettung" (ebd.) zu halten. 156 Vgl. dazu Friedrich Nietzsche, „Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreißende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, daß die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, daß etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten" (Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke in drei Bänden. Erster Band. Zweite Auflage, hrsg. von Karl Schlechta. München 1960, S. 466).

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive

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um ideologische Rückzugsgefechte, die letzten Endes den endgültigen Sieg der Fortschrittspartei dokumentieren. Nicht der mindeste Zweifel kann daran bestehen, daß die politischen Ordnungsvorstellungen der theokratischen Konterrevolutionäre bis heute einen Einfluß auf „rechte" beziehungsweise „konservative" Denker und ihre ideologischen Familien ausüben. Vor allem unter dem antiliberalen Blick der Action française gewannen sie an Aktualität und Wirkkraft. Alexander Dru zufolge Schloß diese sich uneingeschränkt ihren Denkbemühungen an. „Die Action française ... war eine unmittelbare und be wußte Erneuerung des von Bonald begründeten politischen Katholizismus" 1 5 7 . Allerdings hat sie sich von den Konterrevolutionären auch an einigen wichtigen Punkten unterschieden. So rekurrierte sie weit weniger auf den Katholizismus. In ihrem Denkgebäude finden sich sogar Bausteine, die als ausgesprochen antikatholisch zu gelten haben. Das gilt besonders für den Ultranationalismus der Action française. Was wunder, wenn die Katholische Kirche sich von ihr distanzierte 158 . Dieser Gegensatz kommt besonders bei Charles Maurras, dem führenden Kopf der Action française, zu seiner schärfsten Ausprägung. So sehr er die Katholische Kirche wegen ihres Ordnungssinnes und ihrer antirevolutionären Haltung lobte 159 , so wenig war er allerdings auch bereit, sein Bekenntnis zum Atheismus aufzugeben. Dabei ging er an diesem Widerspruch keineswegs seelisch zugrunde. Er rekurrierte herzhaft auf die Ordnungslehren der theokratischen Konterrevolutionäre und betrachtete ihre genuin theologische Denkdimension als Arabeske, die ihn nicht weiter beschäftigte. Alexander Dru schreibt dazu: „Der Umstand, daß er nicht an Gott glaubte, erleichterte vieles und ließ ihn schnell mit dem Kern der religiösen Frage fertig werden ... All der ,Unsinn', den Bonald noch an seine Soziallehre geknüpft hatte, wurde einfach unterschlagen ; der positivistische Ausgangspunkt ... bot eine neue, vielversprechende Möglichkeit, Katholizismus und europäische Überlieferung waren im Grunde ein und dasselbe"160.

Während sich die Action française eindeutig auf die Gedankenwelt der theokratischen Konterrevolutionäre bezog, läßt sich dies vom Faschismus kaum behaupten. Schließlich wies dieser zu viele modern-dynamische Bestimmungsmomente auf, um mit dem rückwärtsgewandten und statischen Denken von de Bonald, de Maistre und Cortés in Zusammenhang gebracht werden zu können. Richtet man sein wissenschaftliches Interesse auf diesen entscheidenden Aspekt, wird man sehr schnell die abgrundtiefe Distanz zwischen den Anhängern Mussolinis und den theokratischen Konterrevolutionären zu konstatieren haben. Es war nicht zuletzt 157

Alexander Dru, Erneuerung und Reaktion, S. 272. Vgl. dazu J. Vialatoux, La doctrine catholique et l'école de Maurras, Lyon 1927; Robert Spaemann, Politik zuerst? Das Schicksal der Action Française, in: Wort und Wahrheit 8 (1953), S. 655 ff. 159 Vg. dazu Charles Maurras, Trois idées politiques. Paris 1912. 160 Alexander Dru, Erneuerung und Reaktion, S. 274. 158

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Benito Mussolini selber, der dem vorwärtsgewandten Denken des Faschismus beredten Ausdruck verlieh. Ohne Umschweife erklärte er, daß er mit den nostalgisch eingefärbten Ordnungsvorstellungen de Maistres herzlich wenig zu tun habe. „Die faschistische Ablehnung des Sozialismus, der Demokratie und des Liberalismus darf nicht Glauben machen, daß der Faschismus die Welt in den Zustand vor 1789 zurückversetzen möchte, das als das Jahr der Eröffnung des demoliberalen Jahrhunderts bezeichnet wird ... Die faschistische Doktrin hat nicht de Maistre zu ihrem Propheten erwählt" 161 .

Aus diesem Grunde ist Isaiah Berlin zu widersprechen, wenn er den Versuch unternimmt, eine tiefgehende Wesensverwandtschaft zwischen dem Faschismus und der theokratischen Konterrevolution nachzuweisen. Wenn er von einer ideologischen „Nachbarschaft zur paranoiden Welt des modernen Faschismus"162 ausgehl und behauptet, daß die politische Theorie der Konterrevolutionäre „faschistische Ideen stark geprägt" 163 habe, so muß im Gegensatz dazu auf die gravierenden Differenzen zwischen den beiden weltanschaulichen Familien hingewiesen werden. Diese sind ungleich größer als die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten164. Dagegen läßt es sich kaum leugnen, daß es zwischen den Konterrevolutionären und dem katholischen Integralismus der Gegenwart erstaunliche Übereinstimmungen gibt. Sein Weltbild steht so sehr im Zeichen eines progressismusfeindlichen Antimodernismus, daß es keines allzu großen geistigen Aufwandes bedarf, in den Autoren der Konterrevolution die ideologischen Lehrmeister dieses Rechtskaiholizismus zu erkennen. Einer der besten Kenner des französischen Konservatismus, René Rémond, teilt diese Ansicht. „Mgr Lefebvre tient exactement, le talent en moins, le langage de Joseph de Mais tre et des théoriciens de la Contre-Révolution" 165.

Man trägt Eulen nach Athen, wenn man darauf hinweist, daß nicht zuletzt auch Carl Schmitt in äußerst intensiver Weise auf die politische Theorie der theolcratischen Konterrevolutionäre rekurrierte. Dabei wird wohl Joseph de Maistre den größten Einfluß auf ihn ausgeübt haben. Insbesondere seine Politische Theologie ist ohne den Savoyarden nicht zu denken. Auch die Souveränitätslehre des deutschen Staatsrechtlers verdankt sich in entscheidendem Maße dem Autor des Buches „Du Pape". In diesem Zusammenhang weist Schmitt darauf hin, daß er besonders die Radikalität seines Denkens schätzt. Er habe sich einer heuristischer Ex161 Benito Mussolini, Der Geist des Faschismus. Aus dem Italienischen, hrsg. von Horst Wagenführ. München 1943, S. 19. 162 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität, S. 149. »63 Ebd., S. 174. !64 Es gibt jedoch im ideologischen Dunstkreis des Faschismus einige Denker, die sich als Schüler de Maistres gerieren. Zu ihnen gehört Julius Evola. Seine Lehre vom Königsgottestum ist eindeutig und von ihm inspiriert. Vgl. dazu Julius Evola, Erhebung wider die moderne Welt. Aus dem Italienischen. Stuttgart/Berlin 1935, S. 18 ff., 25 und 355. 165

René Rémond, L'intégrisme catholique, in: Études Tome 370 (1989), S. 98.

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive

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tremposition verschrieben, die selbst bei Thomas Hobbes fehlt. Dieser sei vor allem jeglichem dezisionistischen Gedanken aus dem Weg gegangen. „Die im Gesetz liegende Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Sie wird begriffsnotwendig ,diktiert' ... Die letzte Konsequenz dieser Gedanken wurde erst dann gezogen, als der Rationalismus erschüttert war, bei de Maistre. Bei Hobbes beruht die Macht des Souveräns immer noch auf einer mehr oder weniger stillschweigenden, aber darum soziologisch nicht weniger wirklichen Verständigung mit der Überzeugung der Staatsbürger, wenn auch diese Überzeugung gerade durch den Staat hervorgehen soll" 1 6 6 . Das Werk de Maistres wird auch in eine Perspektive gerückt, in der ideologische Übereinstimmungen zwischen ihm und dem Marxismus nachzuweisen versucht werden. Sowohl bei diesem Konterrevolutionär als auch bei Marx würde eine tiefgehende Denkverwandtschaft darin bestehen, daß beide der industriellen Zivilisation ihren unnachsichtigen Kampf angesagt hätten. Nicht zuletzt André Glucksmann hat sich zum Sprecher dieser Interpretationsrichtung gemacht. „Die neue Heilige Allianz zwischen der Flucht nach vorn im Stil von Marx und der Wallfahrt im Stil von Joseph de Maistre lebt von der gemeinsamen Zurückweisung des Abscheulichen Nummer eins: der jeweiligen Gegenwart, die den Menschen von sich selbst entfremdet und ihn dazu bringt, in der Entfremdung (Marx) oder in der Entwürdigung (de Maistre) zu verkommen" 167 . Bei beiden Autoren werde der die Gegenwart denunzierende gegenläufige Ordnungsentwurf in ein Bezugssystem eingebettet, in dem das Disparate, das Tragische und das Widersprüchliche verschwindet. In beiden Fällen sei eine panische Flucht aus der gegenwärtigen Realität zu konstatieren. Das Bild einer heilen Welt hat sich sowohl in der Konterrevolution als auch i m Marxismus so übermächtig ins Bewußtsein geschoben, daß das politische und gesellschaftliche Heute aller positiv zu Buche schlagenden Bestimmungsmomente entrate. „Das beklagte Übel ist die Trennung, das Anderssein, die Entwurzelung, die Existenz in der Zerstreuung. Die heilige Verheißung ist die Umkehr zur Einheit, zur Gemeinde, die Vereinigung der Teile im Ganzen, das gute Ganze, das seine Teile und sich selbst enthält, die eine Menschheit, die am Anfang als eine da war und am ehrwürdigen Ende versöhnt wird. Wie kommt man aus der Zweiheit heraus - wird man wieder eins - das ist es, worum es den Kindern von Marx und Joseph de Maistre so sehr geht" 168 .

166 Carl Schmitt, Die Diktatur. München / Leipzig 1921, S. 23. Daß das politische Denken de Maistres einen großen Einfluß auf Carl Schmitt ausübte, dieser Ansicht ist nicht zuletzt auch Stephen Holmes. „Maistre's influence on Schmitt is fairly direct and easy to document" (The Anatomy of Antiliberalism. Cambridge Mass./London 1993, S. 21). 167 André Glucksmann, Am Rande des Tunnels. Das falsche Denken ging dem katastrophalen Handeln voraus. Eine Bilanz des 20. Jahrhunderts. Aus dem Französischen. Berlin 1991, S. 88. 168 Ebd., S. 88 f.

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

Die christlich motivierte und rückwärts gewandte Utopie des Savoyarden une die in die Zukunft gerichtete innerweltliche Eschatologie von Karl Marx verbinden sich zu einer Hoffnungsvorstellung, die aus der Hölle des Jetzt möglichst schnell entfliehen und eine bessere Welt an ihre Stelle setzen will. Über dieser Gemeinsamkeit sollte man allerdings auch die tiefgehenden Differenzen zwischen den beiden Denkern nicht außer acht lassen. So ist vor allem ihre Geschichtsphilosophie kaum auf einen Nenner zu bringen. In der wissenschaftlichen Diskussion über Joseph de Maistre wurde immer schon die Frage gestellt, ob dieser überhaupt ein katholisches Gesellschafts- und Staatsbild vertritt. Dabei wurde vor allem seiner Kratologie angelastet, im Widerspruch zur kirchlichen Lehre zu stehen. Die panegyrische Verherrlichung der staatlichen Macht und die entschiedene Zurückweisung jeglicher Widerstandsaktivität stünden in einem diametralen Gegensatz zum katholischen Politikverständnis. Dieser Auffassung begegnet man schon bei Autoren des 19. Jahrhunderts. So schreibt der französische Liberale Emile Faguet: „Son christianisme est terreur, obéissance passive et religion d'État" 1 6 9 .

Dieser „prétorien du Vatican" 170 habe einen Katholizismus vertreten, der im Gegensatz zur katholischen Doktrin die Freiheitsrechte des Menschen ins illegitime Abseits verwies und mit dogmatischer Beharrlichkeit ein Höchstmaß an Herrschaftsintensität forderte. Bei ihm könne man ohne weiteres von einem „apôtre d'une trinité monstrueuse faite du pape, du roi et du bourreau" 171 sprechen. Letzten Endes verberge sich hinter dem allzu herzhaften Bekenntnis de Maistres „un

,. „172

paganisme un peu ,nettoye In ähnlicher Weise wirft Edgar Quinet de Maistre vor, mit seiner Machtverherrlichung von der kirchlichen Politiklehre abgewichen zu sein. Sein politisches L i n ken stehe so sehr im Zeichen eines herrschaftsdeifizierenden Katholizismus, daß man kaum umhin könne, ihm Verrat an den Grundprinzipien dieser Religion vorzuwerfen. Bei ihm würde in höchst illegitimer Weise die Kirche zur Erfüllungsgehilfin der staatlichen Machtansprüche gemacht. Bei Lichte betrachtet gebe sich de Maistre als „Robespierre sans Rousseau"173 zu erkennen, der einem „terrorisme de l'Église" 1 7 4 das Wort rede und sich damit am Geist des Christentums versündige. Als „Christ d'un comité permanent du salut public" 1 7 5 vertrete er die politischen 169

Emile Faguet, Politique et moralistes du dix-neuvième siècle. Paris 1899, S. 59. 170 Ebd., S. 60. 171 Ebd., S. 61. 172 Ebd., S. 59. Vgl. dazu auch Constantin Ostrogorsky, Joseph de Maistre. Helsingfors 1932, S. 34 ff. 173 Edgar Quinet, Le christianisme et la révolution française. Paris 1845. Neudruck Paris 1984, S. 245. 174 Ebd. 175 Ebd.

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive

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Ideale der Jakobiner des Jahres 1793. Deshalb könne man bei ihm kaum von einem genuin katholischen Zugang zum Machtproblem sprechen. Sein Charakterbild verfestige sich auf diese Weise zum objektiven Befund eines politischen Denkers, der den antikatholischen Gedanken weit von sich weist, um sich um so deutlicher zu ihm zu bekennen. Sein Versuch, alle Probleme am Maßstab der äußersten Herrschaftsintensität zu messen, sei weder auf einen katholischen noch auf einen christlichen Ton gestimmt 176 . Dieser Auffassung schließt sich auch Hans Barth an. Der Schweizer Politologe erblickt in de Maistre einen politischen Denker, der weniger an der christlichen Lehre an sich interessiert ist als an dem Gedanken, wie diese in den Dienst der staatlichen Herrschaftsausübung gestellt werden kann. Diese wurde bei ihm so sehr zur Richtschnur und zum Generalthema seiner Überlegungen, daß er darüber die überkommene Staatslehre der Katholischen Kirche in den Wind schlug. „Was die Einheit des Staats gewährleistet, ist zwar gewiß auch die Einheit des Glaubens. Aber mächtiger noch wirkt die Institution der Hierarchie, das heißt die Errichtung eines höchsten Organs, dem die Sorge für die Einheit expressis verbis übertragen" 1 7 7 wurde. Jeder intime Kenner seines Oeuvres müsse zu dem Schluß kommen, daß de Maistre die Probleme der staatlichen Machtausübung über die Topoi der christlichen Verkündigung stellt. Letzten Endes komme es bei ihm nicht so sehr auf die „Wahrheit des Glaubens" 178 an, als vielmehr darauf, „daß überhaupt eine solche Autorität, welche die Einheit der Lehre garantiert, in einem Gemeinwesen" 179 besteht. Auch Robert Spaemann zufolge ist es höchst fraglich, ob Joseph de Maistre als genuin katholischer Staatsdenker rubriziert werden kann. Schließlich versuche er, die Herrschaft des Papstes und diejenige der weltlichen Herrscher auf eine Stufe zu stellen. Dabei begehe er den gravierenden Fehler, „geistliche Unfehlbarkeit und weltliche Souveränität" 180 auf ein und derselben Qualitätsebene anzusiedeln. Letzten Endes sei für ihn „die päpstliche Unfehlbarkeit .. ein soziologisches Produkt" 1 8 1 . Dabei müsse die Frage gestellt werden, „ob die Soziologie die letzte Wirklichkeit des Menschen zum Ausdruck bringt" 1 8 2 . Neben de Maistres Verhältnis zur Katholischen Kirche und ihren Wertvorstellungen wird auch dasjenige zum Protestantismus in ein kritisches Licht gerückt. Seine Bewertung dieses christlichen Glaubensbekenntnisses stellt Hans Maier zufolge ei176 Ebd. 177

Hans Barth, Die Idee der Ordnung. Beiträge zu einer politischen Philosophie. Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1958, S. 151. i™ Ebd. i™ Ebd. Robert Spaemann, Der Irrtum der Traditionalisten. Zur Soziologisierung der Gottesidee im 19. Jahrhundert, in: Wort und Wahrheit 8 (1953), S. 497. 181 Ebd. 182 Ebd. 180

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IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

nen Grad an selektiver Wahrnehmung unter Beweis, der kaum überboten werden könne. Ihm sei vor allem anzulasten, daß er den protestantischen Schuldanteil am „französischen Verhängnis" 183 maßlos übertrieben habe. Auch der „esprit du schisme" 184 sei keineswegs allein dem Protestantismus zu imputieren. Bei Lichte besehen stamme er „aus dem Innern Frankreichs" 185. In gleicher Weise sei auch Louis de Bonald der Vorwurf zu machen, bei seiner Beurteilung des Protestantismus mit den historischen Fakten etwas zu großzügig umgesprungen zu sein. Beide hätten für „alle historischen Verknüpfungen außerhalb der traditionalistischen Motivenreihe, welche die Revolution aus der Aufklärung, die Aufklärung aus der Reformation" 186 ableitet, auch nicht das eingeschränkteste Sensorium aufgewiesen. Bei einer derart limitierten Sichtweise werde die historische Materialfülle nichl zu einer höheren Einheit gebunden, sondern auf das Prokrustesbett tief eingewurzelter Vorurteile gelegt 187 . Mit den theokratischen Konterrevolutionären wird allerdings nicht nur nachhaltig ins Gericht gegangen. Es gibt durchaus auch Autoren, die ihnen Größe und Weitsicht bescheinigen und der Auffassung sind, daß sie besonders unserer orientierungslosen Zeit Handlungsmaßstäbe zu vermitteln in der Lage sind. Dabei ist Isaiah Berlin der Auffassung, daß insbesondere de Maistre eine Machtanalyse lieferte, deren Beachtung gerade in unserer Epoche von Nutzen sei. Bei ihm werde das Thema der Herrschaftsausübung nicht durch einen progressiv eingefärbten Uniformierungsversuch verarmt, sondern in seiner ungeschminkten Realitätsadäquanz erkannt 188 . De Maistres intellektuelle Stoßkraft richte sich zu Recht gegen alle Versuche, den unangenehmen Tatsachen der Machtproblematik auszuweichen und in die seichten intellektuellen Gefilde eines herrschaftsphobisehen Denkens zu entfliehen. „De Maistre war ein origineller Denker, der gegen den Strom seiner Zeit schwamm und entschlossen war, die sakrosankten Gemeinplätze und frommen Formeln seiner liberalen Zeitgenossen in die Luft zu sprengen. Sie betonten die Macht der Vernunft; er bezeugte, vielleicht allzu schadenfroh, das Fortbestehen und das Ausmaß irrationaler Instinkte, die Macht des Glaubens, die Kraft blinder Tradition und die absichtliche Unwissenheit der Progressiven im Hinblick auf ihr ,Menschenmaterial' " 1 8 9 .

Angesichts des epochalen Scheiterns der machtskeptischen und deshalb illusionären Politikauffassung erweise sich de Maistre als ein verläßlicherer Cicerone als die Anwälte der herrschaftsnegierenden Denkweise. Ohne Zweifel sei er ein

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Hans Maier, Revolution und Kirche, S. 163. »84 Ebd. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 E b d .

188 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität, S. 211. 189 Ebd.

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive

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„besserer Wegweiser zum Verständnis des menschlichen Verhaltens gewesen ... als die Zuversicht der Vernunftgläubigen oder zumindest ein kräftiges und keineswegs nutzloses Gegengift gegen ihre oft allzu einfachen, oberflächlichen Heilmittel, die mehr als einmal katastrophale Wirkungen gezeitigt haben" 190 .

De Maistre könne trotz seiner mitunter dogmatischen Exzesse als ein Denker bezeichnet werden, der unter keinen Umständen bereit war, seine Erkenntnis der politischen Wirklichkeit realitätsfremden Konstruktionen zu opfern. Während er auf dem Felde der Theologie als intransigenter Prinzipienreiter bezeichnet werden müsse, habe er sich auf dem Gebiet der Staatspraxis als „ein Pragmatist mit klarem Blick" 1 9 1 erwiesen. Darüber hinaus habe er zu Recht immer wieder betont, daß sich die politische Wirklichkeit kaum jemals um abstrakte Ideen gekümmert habe. Auch darin dokumentiere sich seine realitätsorientierte Denkweise. Seine Detailkenntnis habe ihn zeit seines Lebens vor dem Irrtum geschützt, die ideologische Kreationsfähigkeit des Menschen über die Realfaktoren der Geschichte zu stellen. „De Maistre ist auch dort unser Zeitgenosse, wo er die Ohnmacht abstrakter Ideen und deduktiver Methoden aufdeckt ... Niemand hat ausdrücklicher als er alle Versuche in Mißkredit gebracht, Erklärungen dafür, wie etwas geschieht, oder Gebote, wie wir uns verhalten sollen, aus allgemeinen Ideen abzuleiten, aus dem Wesen des Rechts oder der Tugend, aus der Natur der materiellen Welt" 1 9 2 .

Dabei ist Isaiah Berlin keineswegs der einzige Liberale, der auf die geistesgeschichtliche Bedeutung der theokratischen Konterrevolutionäre hinweist. So wendet sich nicht zuletzt auch Ludwig von Mises dagegen, ihr Denken in das Gebiet des Illegitimen zu verweisen. Will man sich nicht jeglichen Verständnisses für die schwachen Seiten der liberalen Ordnungsvorstellung begeben, so tut man gut daran, diese durch und durch illiberalen Gegenrevolutionäre in seine politische Reflexion einzubeziehen. Vor allem ihre antidemokratischen Überlegungen seien es immer noch wert, von den Parteigängern einer freiheitlichen Res publica in den Blick genommen zu werden. „Bonald and de Maistre paid attention to an essential problem which the liberals had neglected. They were more realistic in the appraisal of the masses than their adversaries" 1 9 3 .

Zu denjenigen Gegenwartsautoren, die auf die intellektuelle Größe de Maistres hinwiesen, zählt vor allem auch Ε. M. Cioran. Er hebe auf seine unnachsichtige Art Probleme in unser Bewußtsein, die der vom Progressismus der Aufklärung beeinflußte und heimgesuchte Geist allzu gerne übersehe. Seine Schriften gewinnen ihre heuristische Schärfe aus dem Umstand heraus, daß er wie kaum ein anderer der politischen Realität auf den Grund geht und den Fortschrittsutopien des 18. 190 Ebd., S. 191 Ebd., S. 192 Ebd., S. 193 Ludwig

213. 212. 217f. von Mises , Human Action. A Treatise on Economics. New Haven 1949, S. 860.

IV. Die Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolution

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und 19. Jahrhunderts gründlich mißtraut. Aus diesem Grunde sei es mehr als fraglich, ihn als einen Staatstheoretiker zu bezeichnen, dem keine Gegenwartsbedeutung mehr zukommt. Daß er ins Museum der Denkgeschichte gehört, dieser Auffassung könne nur jemand sein, der ihn gründlich verkenne. „Gegen Ende des letzten Jahrhunderts, am Höhepunkt der liberalen Illusion, konnte man sich den Luxus leisten, ihn den ,Propheten' der Vergangenheit zu nennen, ihn als Spätling oder abweichendes Phänomen anzusehen. Wir aber, die einer radikal von Illusionen geheilten Epoche angehören, wissen, daß er unser ist, und zwar genau in dem Ma£·, in dem er ein »Ungeheuer' war" 1 9 4 .

Dabei bestehe seine denkerische Leistung nicht zuletzt darin, auf die transzendenten Bezüge jeglicher Machtausübung hingewiesen zu haben. „Er geht von der Vorstellung aus, ohne die Unantastbarkeit des Geheimnisses breche die Ordnung zusammen; der frechen Neugierde des kritischen Geistes setzt er die Verbote der Rechtgläubigkeit entgegen, dem Wuchern der Ketzereien die Strenge einer einzigen Wahrheit" 195 .

Zu Recht laste er den Anwälten des machtnegierenden Fortschritts an, „den Urgrund der Autorität bloßgelegt und deren Geheimnis den Nicht-Eingeweihten, den Massen enthüllt" 196 zu haben. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit habe er insbesondere den Liberalen ins Stammbuch geschrieben, daß ihre herrschaftsminimisierende Politiklehre letzten Endes utopische Züge aufweise. Gerade sie werden sich nie zu der Tatsache bekennen, daß „die Autorität, um sich zu erhalten, auf einem Mysterium, einem irrationalen Fundament" 197 ruhe. Dagegen konnten es sich Reaktionäre wie de Maistre leisten, auf diese unumstößliche Tatsache mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hinzuweisen. Das habe seinen Grund nicht zuletzt darin, weil ihnen „die Meinung und die Zustimmung der Massen gleichgültig ist, und sie sich nicht genieren, unpopuläre Binsenweisheiten, ungelegene Banalitäten auszusprechen" 198. Dabei gehöre es auch zu den bemerkenswerten Leistungen de Maistres, nicht wenige heimliche Hintergedanken der Parteigänger des Demokratismus ins Licht gerückt zu haben. Er plauderte „manche ihrer heimlichen Enttäuschungen, manche bittere Gewißheit, von der sie nicht offen sprechen können" 199 aus. Letzten Endes müßten sie dem Franzosen also dankbar dafür sein, daß er auf den tiefsten Grund 194

Ε. M. Cioran, Über das reaktionäre Denken. Aus dem Französischen. Frankfurt/M. 1980, S. 9. Vgl. dazu auch: „Was uns an ihm berührt, das ist sein Hochmut, seine wundervolle Frechheit, sein Mangel an Ausgewogenheit, an Maß, und, manchmal an Anstand" (ebd., S. 10 f.). w Ebd., S. 40. 196 Ebd. m Ebd., S. 41. m Ebd. i " Ebd.

5. Die Bewertung der theokratischen Konterrevolution in heutiger Perspektive

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ihrer politischen Seele blickte und ihre verborgensten Denkhaltungen ans Licht beförderte 200 . Es wäre allerdings ein gravierender Fehler, wollte man davon ausgehen, daß die Ideen der theokratischen Konterrevolutionäre in naher Zukunft die heutige ideologische Landschaft umzukrempeln in der Lage sind. In diesem Zusammenhang weist Thomas Molnar darauf hin, daß ihre Aktivitäten schon in der Vergangenheit von keinem allzu großen Erfolg gekrönt gewesen seien. Das sei nicht zuletzt auch auf ihr eigenes Verhalten zurückzuführen. „Die gegenrevolutionären Theorien und Aktionen wurden diskreditiert, weil sie weitgehend im Verbalen stecken blieben und wirkungslos verpufften, während die revolutionäre Karavane weiterzog" 201 .

Dabei müssen sich die Parteigänger dieser politischen Denkschule die Frage gefallen lassen, ob es nicht zuletzt ihre idiosynkratische Abgrenzungsmanie gegenüber dem Freiheitsgedanken ist, die ihren Mißerfolg erklärt. Ihre pointiert vorgetragenen Thesen stoßen nicht zuletzt auch diejenigen ab, die auf der Suche nach einem vernünftigen konservativen Ordnungsentwurf sind. Im theoretischen Universum der Konterrevolution gibt es ganz einfach keinen Fixstern, an dem sich ein zugleich liberal und konservativ denkender Zeitgenosse orientieren kann. Wenn man es im Sinne von Friedrich Julius Stahl 202 ablehnt, in die Zeit vor 1789 zurückzukehren, wenn man sich bemüht, das freiheitliche Prinzip mit demjenigen der Ordnung zu verbinden, verstößt man notwendigerweise gegen die rigiden Ordnungsvorstellungen der theokratischen Gegenrevolutionäre.

200 Ebd. 201 Thomas Molnar, Metamorphosen der Gegenrevolution, in: Criticón 115. September/ Oktober 1989, S. 223. 202 Vgl. dazu Friedrich Julius Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip. Berlin 1853, S. 37; Johann Baptist Müller, Liberaler und autoritärer Konservatismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 125 ff.

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus 1. Der Begriff des liberalen Katholizismus Der protestantische Theologe Wünsch hat darauf aufmerksam gemacht, daß es im politischen Denken des Katholizismus nicht nur „Restauration, antiliberale und antisozialistische Begeisterung für die Monarchie 4'1 gibt. Man würde sich der wissenschaftlichen Sünde der selektiven Wahrnehmung schuldig machen, wollte man diejenigen Katholiken übersehen, deren „fortschrittliches und freiheitstrunkenes Eintreten für das demokratische Prinzip" 2 außer Zweifel steht. In der Literatur werden sie als liberale Katholiken bezeichnet. Ihr politisches Glaubensbekenntnis wird von Jean Touchard folgendermaßen bestimmt. „Le catholicisme libéral est un éclecticisme, une synthèse du catholicisme et du libéralisme3.

Ganz im Gegensatz zu den theokratischen Konterrevolutionären akzeptieren sie die freiheitliche Politikverfassung. „Les catholiques libéraux ... accepteront la démocratie, le parlementarisme, la république" 4

Jegliche Bestandsaufnahme des liberalen Katholizismus führt zu der Erkenntnis, daß sein Ursprungsland Frankreich war. Seine Repräsentanten scharten sich um die Zeitschrift ,Avenir 4, die von 1830 bis 1831 erschien. Sie verdankte ihre Existenz dem bretonischen Priester Lamennais. Hubert Jedin bezeichnet den einstigen Traditionalisten als „geistigen Führer der ,liberalen Katholiken4 ... der ... das Programm des liberalen Katholizismus4 entwickelt hatte445. Zu seinen intellektuellen Mitstreitern gehörten der Dominikaner Lacordaire und Graf Montalembert. Die liberal-katholischen Ordnungsideen der Avenir-Gruppe strahlten auch auf andere Länder aus. In Italien hat sich nicht zuletzt der Dichter Allessandro Manzoni zu ihnen bekannt. Auf besonders fruchtbaren Boden fielen sie in Belgien. Dieser 1 Georg Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen. Tübingen 1936, S. 115. 2 Ebd. 3 Jean Touchard, Histoire des idées politiques. Tome II. Paris 1970, S. 546. 4 Ebd., S. 547. Vgl. dazu auch Roger Aubert, Die erste Phase des katholischen Liberalismus, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. von H. Jedin. Band VI. Freiburg 1985, S. 321. 5 Hubert Jedin, Freiheit und Aufstieg des deutschen Katholizismus zwischen 1848 und 1870, in: Kirche des Glaubens. Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vörtrige. Band I. Freiburg/Basel/Wien 1966, S. 470.

1. Der Begriff des liberalen Katholizismus

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Staat wurde in Zusammenarbeit zwischen den Liberalen und den Katholiken dieses Landes aus der Taufe gehoben6. In England haben sich insbesondere Lord Acton und John Henry Newman zum liberalen Katholizismus bekannt7. In Deutschland war es nicht zuletzt Franz von Baader, der sich als Parteigänger dieser Ordnungsvorstellung zu erkennen gab8. Wie jede andere politische Doktrin, so steht auch der liberale Katholizismus im Spannungsfeld von Bejahung und Ablehnung. Was seine Kritiker anlangt, so sei dieser zu sehr auf einen kompromißlerischen Ton gestimmt. Er füge sich keineswegs zu einem konturenscharfen katholischen Ordnungsentwurf, sondern opfere die kirchliche Lehre einer höchst eklektisch und liberal eingefärbten Denkanstrengung. Schon in den „Historisch-Politischen Blättern" wurde moniert, daß die Autoren des ,Avenir-Kreises4 mit ihrer angeblich rigiden Fortschrittseuphorie die letzten Reste der katholischen Weltanschauung zerstören. Einheitlich artikuliere sich in allen ihren Abhandlungen die Absicht, der Kirchentradition den Kampf anzusagen. Aus diesem Grunde müsse man ihnen den Vorwurf machen, sich einer der kirchlichen Perspektive angemessenen Form des Reflektierens weitgehend zu versagen. „Nur die politische Handlungsweise, die aus dieser Denkart fließt, kommt als Handungsweise wirklicher Katholiken in Betracht" 9. Bei den Anhängern des liberalen Katholizismus könne von einer derartigen Denkhaltung kaum die Rede sein. In derselben despektierlichen Weise äußert sich auch Franz Heiner. Von einer dezidiert konservativ-katholischen Warte aus stellt er die Existenzberechtigung derjenigen schlichtweg in Abrede, die einem Amalgam aus Liberalismus und Katholizismus das Wort reden. „Diese ganze religiöse Geistesrichtung charakterisiert den liberalen' oder ,modernen' Katholiken, der, ganz gleich ob Geistlicher oder Laie, nur mit einem Fusse auf dem Boden der Kirche steht, mit dem anderen bereits den des Protestantismus betreten hat, dessen Wesen Subjektivismus, Religion ohne religiöse Autorität ausmacht"10.

Ob die Repräsentanten des liberalen Katholizismus einer laschen Glaubenshaltung zu bezichtigen sind, ist höchst fraglich. So handelt es sich Victor Conzemius zufolge bei ihnen keineswegs um „konfessionelle Minimalisten, die ihren Glauben als leichtes Gepäck trugen" 11 . Dabei warnt er davor, ihre Auseinandersetzungen mit vielen Päpsten als Beweis für ihre mangelnde Glaubensstärke anzuführen. 6 Vgl. dazu Michael Ρ Fogarty, Christliche Demokratie in Westeuropa. 1820 - 1953. Aus dem Englischen. Freiburg im Breisgau 1959, S. 181 ff. 7 Vgl. dazu Gertrude Himmelfarb, Lord Acton. A Study in Conscience and Politics. London 1952; G. E. Fasnacht, Acton's Political Philosophie. An Analysis. London 1952. 8 Franz von Baader, Über die Zeitschrift, Avenir' und ihre Prinzipien, in: Gesellschaftslehre, hrsg. von Hans Grassi. München 1957, S. 132 ff. 9 Historisch-Politische Blätter 11 (1843), S. 95. Vgl. dazu auch Christian Erdmann Schott, Die Anfänge des deutschen Politischen Katholizismus in den Historisch-Politischen Blättern und ihre protestantische Reaktion. München 1965 (Dissertation der Universität Mainz). 10 Franz Heiner, Der neue Syllabus Pius' X. oder Dekret des Hl. Offiziums „Lamentabili" vom 3. Juli 1907. Zweite Auflage, Mainz 1908, S. 3.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus „Auch wenn ihre kirchenpolitischen Anschauungen sie in Konflikt mit der kirchlichen Obrigkeit brachten und einige von ihnen den konfessionellen Boden unter den Fißen verloren, so unterschied sich die Mehrheit der liberalen Katholiken in der Intensität i ires Glaubensbewußtseins oder ihrer kirchlichen Praxis kaum von ,gut' kirchlich Gesinn-

Diejenigen katholischen Persönlichkeiten, die Kirche und Liberalismus miteinander versöhnen wollten, mußten auch geharnischte Kritik aus dem liberalen Denklager über sich ergehen lassen. Sie geht davon aus, daß sich in ihrer politischen Doktrin zwei Ordnungsvorstellungen paaren, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Die Auffassung, daß Kirche und Liberalismus sich recht eigentlich ergänzen, sei äußerst fragwürdig und rücke ein völlig falsches Bild des Katholizismus ins Licht. Letzten Endes habe er sich von seinen autoritären Ansichten bis heute nicht getrennt. Jegliche ideologische Ehe mit ihm gehe deshalb zu Lasten der freiheitlich gesinnten Kräfte. Darüber hinaus habe sich die Kirche keineswegs freiwillig zu dieser ideologischen Allianz bekannt. Recht eigentlich sei sie durch den Siegeszug des liberalen Gedankens dazu gedrängt worden. Georg Brandes zufolge wurde „die so lange wie möglich freiheitsfeindliche Kirche durch die Notwendigkeit gezwungen, das Wort Freiheit auf ihre Fahne" 13 zu schreiben. Mit dem Begriffsarsenal des Liberalismus schicke sie sich an, ihre in Gefahr geratene Machtposition zu verteidigen. „Die Kirche entwand der Revolution ihre beste Waffe und gab dieselbe ihren Anhängern in die Hand" 14 . Wenn es der Kirche allerdings gelingen sollte, wieder in ihre alten Machtpositionen einzurücken, dann wird sie ihre Kooperation mit den liberalen Kräften schleunigst aufgeben und sich auf ihre überkommene Freiheitsfeindlichkeit besinnen. Letzten Endes sei die Notion des liberalen Katholizismus als eine Doktrin zu setrachten, dessen Einzelbegriffe „wider einander kreischen und zischen" 15 .

11 Victor Conzemius, Der liberale Katholizismus - verpaßte Chance der Kirche, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 151. 31. März 1974. Conzemius warnt auch davor, den liberalen Katholizismus mit dem liberalen Protestantismus in Verbindung zu bringen. „Beide Gleichsetzungen stimmen nicht. Vom »liberalen Protestantismus' unterscheidet der »liberale Katholizismus' sich dadurch, daß er keine theologische Problematik widerspiegelt, sondern die Einstellung zu neuen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten" (ebd.). 12 Ebd. 13 Georg Brandes, Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Dritter Band: Die Reaktion in Frankreich. Berlin 1874, S. 90 f. 14 Ebd., S. 91. Ebd.

2. Politisch-kultureller Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion 143

2. Der politisch-kulturelle Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion Während die Anhänger der theokratischen Konterrevolution jegliche zustimmende Bewertung der Aufklärung und der Französischen Revolution als eine politische Todsünde und einen gravierenden Verstoß gegen die Lehre der Katholischen Kirche brandmarken, sind die Vertreter des liberalen Katholizismus an diesem Punkte weit weniger dogmatisch gesinnt. Sie siedeln sich in ihrer Bewertung des Fortschrittsgedankens gewissermaßen zwischen de Maistre und Condorcet an. Weit davon entfernt, jeglichen Gedanken an den historischen Fortschritt von sich zu weisen, sind sie jedoch auch keineswegs bereit, den unbegrenzten Progressismus vieler Aufklärer zu teilen. Ihr Credo geht in der Überzeugung auf, daß die historische Wahrheit weder bei der einen noch der anderen Denkgruppe anzutreffen ist. Nur wenn man das Netz seiner Vorurteile über das Beziehungsgespinst der Geschichte werfe, kann man Lacordaire zufolge zu einer rigorosen Verurteilung des Fortschrittsgedankens kommen. Statt nostalgisch die Vergangenheit zu verklären und die Neuzeit rigoros in einem illegitimen Horizonte zu interpretieren, gelte es, der progressistischen Idee ihre eigene Würde zu belassen und sie nicht im Vorhinein zu verketzern. „Jedem Dinge seinen Ruhm, jeder Zeit ihre Macht; ich habe der Vergangenheit nicht geflucht, ich werde der Gegenwart nicht fluchen, ich weiß, warum ihr tut, was ihr tut; ich kenne die Gründe, worauf ihr euch stützt, die eurem Werke ein Merkmal aufdrücken, das ich achten muß. Ich muß noch mehr tun, ich muß zu Gunsten unserer Zeit sagen, was gesagt werden muß, ich muß es deutlich, laut und mit so großer Unabhängigkeit sagen, als ich an den Tag legte, da ich von der Vergangenheit sprach" 16.

Wie Lacordaire, so ist auch Montalembert keineswegs bereit, jeglichen Gedanken an den geschichtlichen Fortschritt in Grund und Boden zu verdammen. Mit allem Nachdruck ist er darauf aus, ihm den illegitimen Schleier abzureißen, um der höchst komplexen historischen Wahrheit ansichtig zu werden. Bei de Maistre und seinen Geistesverwandten bleibe die Lust an der radikalen Aufklärungsablehnung zu sehr in Tuchfühlung mit dem Bemühen, die geschichtlichen Fakten höchst selektiv wahrzunehmen. Ihre auf eine grundsätzliche Fortschrittsfeindschaft eingeengte Perspektive übersehe, daß die Lebensumstände der Menschen im Laufe der Geschichte eindeutig verbessert werden konnten. „Wir haben es der Freiheit zu verdanken, daß in Folge der natürlichen Bewegung der Geister, des unwiderstehlichen Fortschrittes der Sitten, der allgemeinen Berührung der verschiedenen Racen und Individuen auf eine Menge bisher dunklen Punkte Licht geworfen wurde. Was lange als einfach und gerecht erschien, wurde in seiner wahren Farbe bloßgestellt und kann trotz dem Lärmen der Obscuranten, trotz dem Widerstand leidender Interessen nicht erhalten werden" 17 . 16 P. Heinrich Dominicus Lacordaire O. P., Die Kanzelvorträge in der Notre-Dame-Kirche zu Paris. Aus dem Französischen. Zweiter Band. Tübingen 1847. S. 164.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Ganz in Gegensatz zur Fortschrittslehre von Condorcet ist diejenige der liberalen Katholiken in einem ausgesprochen religiösen Horizonte angesiedelt. Für sie liegt der stetige Progressus der Menschheit im göttlichen Heilsplan beschlossen. In ihrem Geschichtsdenken kommt also eine ausgesprochen christliche Sichtweise' zu Wort. Sie befreien den Gedanken des Fortschritts von seinem antichristlichen Makel und verweisen darauf, daß Gott selber dem Menschen den Drang in die Brust gelegt hat, immer bessere Lebensbedingungen anzustreben. So schreibt Lord Acton: „And this constancy of progress, of progress in the direction of organised and assured freedom, is the characteristic fact of modern history, and its tribute to the theory of Providence" 18 .

Dabei sei schon der Eintritt des Christentums in die Geschichte als ein entscheidender Beitrag zu ihrer Höherentwicklung zu werten. Erst die in einem progressistischen Horizonte erfolgte Bewertung dieser Religion ermöglicht ein realitätsadäquates Bild des menschlichen Fortschrittsgeschehens. In diesem Sinne schreibt Lamennais: „Und was ist dies anders als das Christentum, sich ergießend außerhalb der rein religiösen Gesellschaft und beseelend die politische Welt mit seiner mächtigen Lebenskraft, nachdem es, gewaltiger als jemals gehofft werden konnte, die geistige und sittliche Welt vervollkommnet hat?" 19 .

Auch Montalembert zufolge verzichtet man auf einen wichtigen heuristischen Zugang zum Fortschrittsproblem, wenn man seine theologische Relevanz unberücksichtigt läßt. Insbesondere die stetige Erweiterung des Freiheitsspielraumes des Menschen müsse in einer derartigen Perspektive interpretiert werden. „Die ... Freiheit... ist... eine Kraft für das Gute, vermöge dessen, was an Einsicht und Tugend in dem durch das Blut eines Gottes erlösten Menschen übrig ist" 2 0 .

Der historische Prozeß steht bei den Anwälten des liberalen Katholizismus so sehr im Zeichen eines unaufhaltbaren Fortschrittes, daß jeglicher Versuch, frühere Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen zu reetablieren, den Geist einer rückwärtsgewandten Utopie atmet. Dabei gehört für sie vor allem das Mittelalter zu 17

Graf von Montalembert, Über die politische Zukunft Englands. Aus dem Französischen. Augsburg 1875, S. 27. 18 Lord Acton, The Study of History, in: Selected Writings of Lord Acton. Volume II, ed. by J. Rufus Fears. Indianapolis 1986, S. 517. 19 F. de Lamennais, Absolutismus und Freiheit. Aus dem Französischen. Zweite Auflege. Bern 1834, S. 7. Vgl. dazu auch: „Die durchgreifendste Revolution, welche das menschliche Geschlecht in allen Beziehungen in der Tat erlitten hat, war ohne allen Vergleich die Gründung des Christentums, und die, welche in Europa seit fünfzig Jahren sich entwickelt, ist nur ihre Fortsetzung (ebd., S. 6). 20 Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen. Tübingen 1853, S. 60 f.

2. Politisch-kultureller Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion 145 den endgültig überwundenen Epochen. In diesem Zusammenhang schreibt Montalembert: „Es handelt sich nicht darum, das Mittelalter wieder aufzudecken ... Dies wäre eben so unmöglich, als die Iliade wieder aufzuführen, und eben so unnütz, als die Belagerung von Troja wieder anzufangen" 21. Obgleich Montalembert und seine Gesinnungsfreunde wissen, in wie starkem Maße sie gerade als Katholiken dem Mittelalter verpflichtet sind, so halten sie andererseits doch auch dafür, daß es kein Zurück in diese Epoche gibt. So wenig sie die Legitimität des Mittelalters anzweifeln, so sehr sind sie andererseits auch davon überzeugt, daß die historische Entwicklung zu neuen Ordnungsufern strebte. „Ja, tue und sage man, was man will, das Mittelalter ist und bleibt die Heldenzeit der christlichen Gesellschaft. Aber, habt nur keine Furcht, es kehrt nicht wieder. Ihr, seine blinden Lobredner, würdet euch vergebens darum bemühen, und ihr, seine ebenso blinden Verleumder, ihr fürchtet euch kindischerweise vor einer eingebildeten Gefahr. Der Mensch läßt sich weder in seine Wiege einbannen, noch kann man ihn in dieselbe zurückbringen. Die Jugend wird kein zweitesmal begonnen. Weder ihr Reiz noch ihre Stürme lassen sich wieder erwecken. Wir sind Söhne des Mittelalters, nicht aber seine Fortsetzer. Von der Vergangenheit emanzipiert, sind wir allein für die Gegenwart und für die Zukunft verantwortlich. Aber unserer Wiege haben wir uns, gottlob ! nicht zu schämen" 22 . Letzten Endes sei es sinnlos, früheren Epochen nachzutrauern und die Gegenwart in ihrem Horizonte zu bewerten. Bei dieser Art von Geschichtsbetrachtung trete der Bezug zur historischen Realität des Heute hinter eine nostalgisch anmutende Verklärung des Vergangenen zurück. Die Gegenwart verliere dabei ihre Kontur i m Ungefähren eines rückwärtsgewandten und realitätsnegierenden Räsonnements. Für Montalembert sind „der beständige Fortschritt und der gänzliche Triumph der Demokratie ... unwiderlegliche Tatsachen, ebenso klar als der Fortschritt und der Triumph der absoluten Monarchie von dem XV. Jahrhundert bis zum XVII. ... Es ist unsinnig, diesen Sieg zu verkennen, unsinnig, sich ihm zu widersetzen" 23. Die Parteigänger des liberalen Katholizismus weigern sich allerdings beharrlich, den von der Aufklärung verkündeten Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt zu akzeptieren. Eine nüchterne Bestandsaufnahme der Geschichte fördere die Er21 Ebd., S. 36. 22 Montalembert, Die Mächte des Abendlandes vom h. Benedikt bis zum h. Bernhard. Erster Band. Aus dem Französischen. Regensburg 1860, CCLI f. Dabei wendet sich Montalembert dagegen, das absolutistische Regime mit dem Mittelalter gleichzusetzen. „Ein aufmerksames Studium der Tatsachen und der Institutionen wird jedem aufrichtigen Beobachter zeigen, daß der Unterschied zwischen der im Jahre 1789 zu Grabe getragenen Ordnung der Dinge und der modernen Gesellschaft in der Tat ein viel kleinerer ist, als derjenige zwischen der Christenheit im Mittelalter und dem darauf folgenden ancien régime" (ebd., CCXIX). 23 Montalembert, Über die politische Zukunft Englands, S. 22. 10 J. B. Müller

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

kenntnis zutage, daß keineswegs alle progressistischen Blütenträume reifen In nicht wenigen Fällen stünden die optimistischen Fortschrittsanwälte vor den Scherbenhaufen ihrer Aspirationen. Dabei ist es nicht zuletzt die christliche Lehre von der Erbsünde, die die liberalen Katholiken davon abhält, an eine zukünftige Perfektibilität des Menscher geschlechtes zu glauben. So schreibt Lacordaire: „Der Grundirrtum vieler Menschen, welchen die Leitung der menschlichen Angelegenheiten zugefallen ist, oder die nach derselben streben, besteht in der Anmaßung, die Welt neu zu schaffen. Diese möchten einen neuen Staat schaffen, jene eine neue Religion, wider andere eine neue Partei, und die bescheidensten sind ohne Zweifel jene, die sich mit der Fertigung der Zukunft begnügen"24.

Wer die stetige Vervollkommnung des Menschen zur Richtschnur seiner Hoffnungen macht, übersieht, daß dem Handeln des Menschen durchaus auch Grenzen gesetzt sind. Sein Scheitern folgt aus seiner mangelnden Fähigkeit, alle Widerstände aus dem Weg räumen zu können. Auf diese Weise entsteht ein grundlegender Gegensatz zwischen den angestrebten und den wirklich erreichten Zielen.4' „Die aufmerksame Prüfung der Geschichte zeigt uns augenscheinlich die immer wiederkehrende, dem menschlichen Hochmute vor Allem schmerzliche Tatsache eines c onstanten Widerspruchs zwischen dem Willen des Menschen und dem Erfolge der Anstrengung" 25.

Aus der Sicht der liberalen Katholiken stellt sich die Geschichte als ein Arrangement von Fakten dar, in dem sowohl die Unterdrückung menschlicher Freiheit als auch der erfolgreiche Kampf gegen die Repression ein kaum entwirrbares Ganzes bilden. Dabei bedarf es ihnen zufolge der nüchternen Besinnung auf den kaum zu leugnenden Tatbestand, daß letzten Endes die menschlichen Zukunftshoffnungen den Sieg über alle retrograden Tendenzen davontragen. Lamennais hat diese Auffassung besonders eindrücklich formuliert: „Doch trotz der Hindernisse, welche den Fortschritt verzögern, kommt er sowohl im Bereich der practischen Tätigkeit, wie im Kreise der Ideen unwiderstehlich zu Stande. Wenn auch die bürgerliche Gesellschaft, durch jede Revolution, welche die allgemeine Bewegung der Dinge vorbereitet hat, vorwärts gebracht, dann wieder rückwärts geht, so kehrt sie doch nie bis zu dem Punkt zurück, von dem sie ausgegangen war. Eine Art genaueren Begriffs vom Gerechten, eine Art vollständigeren Gefühls für das Recht bleiben unauslöschlich im allgemeinen Bewußtsein und in der allgemeinen Einsicht zurück, und stets bewahrt das Volk einen Teil der Freiheit, die es gewonnen hatte, und bedent sich derselben, um denjenigen wieder zu gewinnen, dessen die Verräter es beraubt. Das ist eine Sache der Zeit, und die Zeit, die für Individuen, ja selbst für Nationen in so engen Grenzen gemessen wird, ist nichts für die Menschheit, die da wächst, aber nicht al-

24 Lacordaire, Der Heilige Stuhl. Eine zeitgemäße, historisch-philosophische Betrachtung. Aus dem Französischen. Regensburg 1838, S. 19. 2 5 Ebd., S. 20.

2. Politisch-kultureller Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion 147 tert. Vergleiche ihren jetzigen Zustand mit ihrem ursprünglichen Zustand und sieh, welchen Raum sie zurückgelegt hat" 26 .

Für die liberalen Katholiken schließt sich die geschichtliche Entwicklung zu einer Einheit zusammen, in der auch die revolutionären Erhebungen ihren legitimen Platz einnehmen. Wenn die Verbesserung der Lebensumstände die einzige verbindliche Richtschnur für die Bewertung historischer Ereignisse bildet, dann ist es kaum möglich, revolutionäre Erhebungen, die das soziale und politische Los der Menschen eindeutig verbesserten, als gegen den Willen Gottes gerichtet zu interpretieren. Sie emanieren dann aus seinem Heilsplane und sind von den Christen in einer entsprechenden Weise zu beurteilen. Nicht zuletzt Lamennais hat sich zum Anwalt dieser Auffassung gemacht. Für ihn sind Revolutionen „die Offenbarung Gottes in der Welt" 27 . Ihm zufolge „liegt etwas Göttliches in diesen Umbildungen, welche den Zustand des menschlichen Geschlechtes umändern, indem sie ihn erheben; in diesen plötzlichen Windstößen, die ihn, wenn auch durch viele Klippen, nach glücklicheren Ufern treiben" 28 . Dabei setzt sich Lamennais auch mit dem Problem auseinander, ob der von den Revolutionen bewirkte Fortschritt nicht mit zu hohen Opfern erkauft wurde. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, daß die einzelnen Revolutionen der Weltgeschichte keineswegs über denselben moralischen Leisten geschlagen werden dürfen. Auch wer dem Gedanken der Volkserhebung eher skeptisch gegenüberstehe, müsse erkennen, daß es neben ausgesprochen negativ zu bewertenden Revolutionen auch solche gibt, bei denen die positiven Aspekte die negativen eindeutig überwiegen. „Die Revolutionen, welche einen Schritt in der wahren Gesittung bezeichnen, und also eine glückliche Epoche eröffnen, die Revolutionen, geboren aus der Entwicklung der Idee des Rechts bei den Völkern, haben sicherlich als Resultat einen ganz anderen Charakter, und dürfen, von welchen Leiden sie auch begleitet sein mögen, nicht gefürchtet, sondern müssen gesegnet werden, als Wohltaten der Vorsehung und als glänzende Beweise ihres Einflusses auf das allgemeine Geschick der Menschheit"29.

Daß die Revolutionen trotz ihres janusgesichtigen Charakters den Weg in eine bessere Zukunft weisen, dieser Auffassung schließt sich auch Montalembert an. Erst von dieser Erkenntnis aus müsse sich die Haltung eines liberalen Katholiken gegenüber den revolutionären Umwälzungen der Neuzeit erschließen. „Die modernen Revolutionen haben sicherlich viele Enttäuschungen und Bitterkeiten im Gefolge; sie bringen aber auch viele Verbesserungen, die die Menschen trösten und aufrichten" 30. 26 Lamennais, Amschaspands und Darbands. Aus dem Französischen. Erster Teil. Leipzig 1844, S. 124. 27 Lamennais, Absolutismus und Freiheit, S. 6. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Montalembert, Discours. Tome Premier 1851 - 1844. Paris 1860, S. XVI.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Diese zustimmende Bewertung derjenigen revolutionären Ereignisse, die die fortschrittliche Entwicklung der Geschichte verbürgen, schließt nicht zuletzt auch die große Französische Revolution und die Julirevolution ein. Ihre Konturen erscheinen bei den liberalen Katholiken in einer ausgesprochen zustimmenden Perspektive. Während die theokratischen Konterrevolutionäre in ihnen einen illegitimen Aufruhr gegen die göttliche Ordnung erblickten, stellen sie für die liberalen Katholiken Wegscheiden dar, die eine humanere gesellschaftliche und politische Ordnung in die Wege leiteten. Aus diesem Grunde ist es auch vonnöten, ihre Errungenschaften mit allen Mitteln zu verteidigen. Nur ein irregeleiteter Traditionalismus könne meinen, daß das Zurückdrehen des geschichtlichen Rades positive Auswirkungen zu zeitigen η der Lage ist. Da sich die Wechselwirkung zwischen Fortschritt und Revolution auf die beeindruckendste Weise entfalte, müsse man mit aller Kraft denjenigen entgegentreten, die vorrevolutionäre Zustände zu schaffen beabsichtigen. So schreibt Montalembert: „Vereinigen sie sich, um mit Nachdruck unsere glorreichen Institutionen von 1789 und 1830 zu verteidigen 4'31.

Diese revolutionsbejahende Haltung wird auch von Lord Acton geteilt. Seine Perspektive auf den heutigen Freiheitsspielraum der Bürger richtend, geht er davon aus, daß dieser ohne die in früheren Jahrhunderten inszenierten politischen Aufstände kaum so umfänglich ausgefüllt werden könnte. Aus diesem Grunde summieren sich die konterrevolutionären Einwände gegen sie zu einer Bilanz, die ausgesprochen illiberalen Geist atmet. „Our present liberties derive partly from the Revolution, partly from earlier sources: 1848, 1830, 1789, 1776, 1688" 32 .

Den Revolutionären früherer Zeiten verdanken wir, daß sich die Weltgeschic ite in einem progressiven Sinne entwickeln kann, daß die unselige Verschränkung von Repression und Gehorsam zu ihrem wohlverdienten Ende gekommen ist. Die liberalen Katholiken lassen allerdings auch Wertungsgrundsätze erkennen, die bei aller Bejahung revolutionärer Aufstände die Auffassung einschließen, daß diese keineswegs alle Übel und Probleme aus der Welt zu schaffen imstande sind. Gegen die überzogenen Hoffnungen der revolutionsbejahenden Progressisten empfehlen sie die Nüchternheit der realitätsadäquaten Geschichtsbetrachtung. Die uneingestandene Hoffnung auf das Millennium sollte ihrer Ansicht nach nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß Revolutionen nur Übelstände beseitigen, nichi; aber auch neue schaffen. Ihrer Auffassung zufolge sollte die Konzentration auf die revolutionäre Idee also keineswegs durch eine utopische Zukunftshoffnung erkauft werden. So schreibt Lamennais : 31

Montalembert, Der politische Radikalismus und die Freiheit der Völker. Aus dem Französischen. Leipzig 1848, S. 31. 32 Selections from the Acton Legacy, in: Selected Writings of Lord Acton. Volume III, ed. by J. Rufus Fears. Indianapolis 1988, S. 495.

2. Politisch-kultureller Fortschritt im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion 149 „Denn bei den Völkern ist es wie bei den Einzelnen; weder die einen noch die anderen werden jemals in diesem Leben vollkommen befreit werden von den Schwächen, welche bis auf einen gewissen Punkt von ihm unzertrennlich sind" 33 .

Diesen kaum zu leugnenden Tatbestand haben Lord Acton zufolge vor allem die Repräsentanten der „Whig Interpretation of History" negiert. Ihre Bücher weiten nicht den Blick für die tragischen Elemente des historischen Fortschritts und ermöglichen keinerlei Verständnis für die intrikaten Wechselwirkungen zwischen dem beharrenden und dem progressiven Prinzip der geschichtlichen Entwicklung. In diesem Zusammenhang gerät vor allem Macaulay in sein kritisches Fadenkreuz. Dieser liberale Historiker sei gänzlich unfähig, auch die negativ zu bewertenden Bestimmungsmomente der Geschichte zum Gegenstand seiner Reflexion zu machen. Auf diese Weise gefährde sein durchaus beeindruckendes Darstellungsvermögen die Integrität der historischen Fakten. Dabei sei ihm vor allem anzulasten, daß er dem religiösen Bestimmungsfaktor der Geschichte keinerlei Aufmerksamkeit schenke und darüber hinaus die außenpolitischen Probleme gänzlich vernachlässige. „When you sit down to Macaulay, remember that the Essays are really flashy and superficial. ... His Indian articles will not hold water; and his two most famous reviews, on Bacon and Ranke, show his incompetence"34.

Die whiggistische Interpretation der Geschichte übersehe nicht zuletzt auch, daß allein ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem bewahrenden und dem fortschrittlichen Prinzip den Gang einer humanen historischen Fortentwicklung gewährleiste. „This principle of continuity is a principle of conservatism and progress" 35.

Nur ein politisches Handlungsgefüge, das von beiden Grundsätzen bestimmt wird, kann als die Basis einer menschenwürdigen Existenz dienen36. Während Macaulay und seine Gesinnungsfreunde Lord Acton zufolge in zu starkem Maße auf die progressistischen Leitsätze setzen, begehe de Maistre den umgekehrten Fehler. Während jene die Zukunft zu Ungunsten der Vergangenheit glorifizierten, sei dieser in den umgekehrten Fehler verfallen. „De Maistre ... subjected the future to the past" 37 .

33

Lamennais, Absolutismus und Freiheit, S. 5. Selections from the Acton Legacy, S. 641. 3 5 Ebd., S. 528. 3 6 Ebd. 34

37 Lord Acton, Review of Lint's Historical Philosophy, in: Selected Writings of Lord Acton. Volume II, S. 501.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

3. Wechselwirkung von Freiheit und Autorität Die Frage, welche Begriffe im politischen Kategorien-System des liberalen Katholizismus eine entscheidende Rolle spielen, kann mit dem Hinweis darauf beantwortet werden, daß es zunächst das menschliche Freiheitsstreben ist. Zu seinen Erwartungshaltungen gehört, daß allein eine liberal verfaßte Politik ein menschenwürdiges Leben gewährleistet. Dieser Einstellung hat in besonders augenfälliger Weise Montalembert Ausdruck verliehen. „Nein ! nein, meine Herren, wem ich ergeben bin, das ist die gesamte Freiheit, die Freiheit Aller und in Allem. Ich habe sie stets verteidigt, ich habe sie stets verkündet.. Die Freiheit... war das Idol meiner Seele"38.

In gleicher Weise denkt auch Lord Acton nicht daran, sich zu einem Verklärungsgeschäft von Repression und Gehorsam herzugeben. Aus seiner politischen Ordnungsvorstellung spricht keine Vorliebe für absolutistische Staatspraxen. „By liberty, I mean the assurance that every man shall be protected in doing what he believes his duty against the influence of authority and majorities, custum and opinion" 39 .

Der Auffassung der liberalen Katholiken zufolge strebt jeder Mensch nach Lebensumständen, in denen er ungehindert seine Entscheidungen treffen kann. So schreibt Montalembert: „Die Freiheit ist eine von den Lebenskräften der Menschheit; sie existiert immer und allenthalben, im Zustande der Sehnsucht oder Hoffnung" 40 .

Jedes illiberale System verfestige sich zum objektiven Befund einer Ordnung, das der Würde des Menschen diametral widerspricht. „Ich gestehe, daß das Prinzip unserer politischen Organisation dasjenige der Freiheit ist. Ich kenne kein anderes und ich akzeptiere kein anderes" 41.

Dabei besitze ausschließlich die liberal verfaßte Ordnung den Vorteil, den s ttlichen Entscheidungsspielraum des Menschen zu garantieren. Sie allein bringe die moralischen Verfehlungen des Menschen ans Tageslicht und biete die Möglichkeit, sie zu brandmarken. Auf diese Weise ergibt sich für die liberalen Katholiken die Möglichkeit, die Menschen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

38 Montalembert, Der hohe und der niedere Radicalismus in seiner Feindschaft gegen Religion, Recht, Freiheit und Gesittung. Aus dem Französischen. Schaffhausen 1850, S. 21. 39 Lord Acton, The History of Freedom in Antiquity, in: Selected Writings of Lord Acton. Volume I, ed. by J. Rufus Fears. Indianapolis 1985, S. 7. 40 Montalembert, Die katholischen Interessen im neunzehnten Jahrhundert, S. 88. 41 Montalembert, Rede in der Assemblée nationale, séance du 22 juin 1848, in: Montalembert: Textes choisis, ed. par Emmanuel Mounier. Paris 1945, S. 42.

3. Wechselwirkung von Freiheit und Autorität

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„Die Freiheit zielt also darauf ab, das Böse aufzuzeigen um es dadurch aus der Welt schaffen zu können" 42 .

Auf diese Weise trage die Moral den Sieg über die Unmoral davon. Der in seinen Werturteilen gefestigte freie Bürger sei durchaus in der Lage, das Übel zu ,brandmarken und nach Abhilfe zu sinnen' 43 . Das von den liberalen Katholiken konzipierte freiheitliche Handlungssystem umfaßt notwendigerweise auch Forderungen, die der Liberalismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Ehe man sie deshalb unter dem Rubrum einer liberalismusfeindlichen Bewegung abbucht, müssen die weitgehenden Übereinstimmungen zwischen dem liberalen Katholizismus und dem Liberalismus erkannt sein. So bewegt sich Montalembert durchaus in seinen Denkbahnen, wenn er „die bürgerliche Freiheit, welche die Freiheit der Person, des Wohnsitzes, des Eigentums umfaßt" 44 propagiert. Der überzeugte Katholik Montalembert weicht allerdings von den Postulaten des Liberalismus ab, wenn er das Recht der Kirche in seinen Forderungskatalog aufgenommen hat, sich ungehindert religiös betätigen zu können. Ganz auf einen freiheitlichen Ton gestimmt, wenden sich die liberalen Katholiken auch gegen jeglichen Versuch, mittels der Pressezensur die Meinungsfreiheit der Bürger zu unterdrücken. Die Vorstellung, daß man durch eine derartige Maßnahme die Regierungsfähigkeit des Staates erhöhen könne, wird rigoros verworfen. Diese Auffassung habe sich als falsch erwiesen. Die Stabilität eines politischen Gemeinwesens und die Freiheit der Presse ergänzten sich, statt sich gegenseitig auszuschließen und zu verdrängen. Kurt Jürgensen hat darauf hingewiesen, in wie starkem Maße sich besonders Lamennais für die freie, vom Staate ungehinderte Möglichkeit einsetzte, seine Gedanken in Schriftform publizieren zu können. „Er verwarf die Zensur schon wegen des unchristlichen Charakters des Staates, vor allem aber, um die Unabhängigkeit der sich selbst genügenden Wahrheit zu sichern. Für ihn war die geistige Freiheit ein dringendes Gebot, um der Kirche in ihrer vorläufigen Zurückgezogenheit von der politischen Ordnung einen freien und ungestörten Lebensraum zu sichern ... Der Wahrheit komme es deshalb zu ... die Pressefreiheit zu fordern" 45 .

Dieser durch und durch aus einem freiheitlichen Geiste heraus geborenen Ansicht stimmte auch Montalembert zu. Auch er hat auf eine höchst beeindruckende Weise die Erwartungen herabgestimmt, die die theokratischen Konterrevolutionäre an die angeblich segensreiche Wirkung der Pressezensur knüpften. Letzten Endes stelle jegliche Pressezensur eine „Tortur des Gewissens"46 dar. 42 43 44

Montalembert, Discours. Tome premier, S. XIX. Ebd.

Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert, S. 62. Kurt Jürgensen, Lamennais und die Gestaltung des belgischen Staates. Wiesbaden 1963, S. 32. 46 Montalembert, Discussion du projet de loi sur la presse. Chambre des Pairs, 8 septembre 1835. Zitiert in Montalembert: Textes choisis par Emmanuel Mounier, S. 32. 45

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Dabei wendet sich Montalembert besonders nachhaltig gegen das Argument, daß die Freiheit, eine eigene Meinung zu haben, im Falle der Pressefreiheit ja unangetastet bleibe. Dieses kritikwürdige Mißverständnis ziele darauf ab, jegliche Freiheitsregung der Bürger zu unterdrücken. „Wenn man die Meinungsfreiheit als eine Gnade konzediert, ist das so ähnlich wie wenn man uns das Recht gewährt, frei atmen zu dürfen" 47 .

In Übereinstimmung mit John Stuart M i l l 4 8 hält Montalembert dafür, daß die ungehinderte öffentliche Diskussion der Wahrheitsfindung dient. Er verwirft der von den theokratischen Konterrevolutionären vertretenen Gedanken, die von der Kirche verkündete Wahrheit werde durch die Pressefreiheit unter die Mühlen des Atheismus geraten. Ein Staat, der in einer repressiven Weise gegen alle religionsfeindlichen Bestrebungen vorgehe, laufe notwendigerweise auch Gefahr, die im Sinne des Gemeinwohls agierenden christlichen Kräfte zu unterdrücken. „Wenn man die Freiheit des Irrtums und des Bösen unterdrücken konnte, so wäre es eine Pflicht; aber die Erfahrung beweist, daß man in unserem modernen Staate nicht vollständig zu diesem Ziel gelangen kann, ohne zugleich die Freiheit des Guten zu ersticken und ohne die Allgewalt Regierungen anzuvertrauen, welche weder würdig noch fähig sind, sie auszuüben"49.

Montalembert führt in diesem Zusammenhang auch das Argument ins Feld, die Meinungsfreiheit des liberalen Staates komme letzten Ende auch der Kirche zugute. Ein Blick auf die Verfassungswirklichkeit des liberalen Staates zeige augenfällig, daß „die Freiheit des Gewissens, dieses von den Feinden der Religicn so lange angerufene Prinzip ... sich gegenwärtig überall zu ihrem Vorteil" 50 entwikkele. Die Voraussetzungen für ein gedeihliches Wirken der Katholischen Kirche würden in dem Maße liquidiert, in dem die Gewissens- und Meinungsfreiheit inhibiert wird. „Ich bin deshalb für dieses Recht auf Gewissensfreiheit ohne Hintergedanken und ohne zu zögern, weil dies im Interesse des Katholizismus liegt" 51 .

Montalembert rekurriert auch auf kirchengeschichtliche Beispiele, um die überragende Bedeutung der Gewissens- und Meinungsfreiheit im Forderungskaialog der liberalen Katholiken zu unterstreichen. Man habe sich auf diejenigen Glaubensbrüder zu besinnen, die als „glorreiche Märtyrer der katholischen Gewissensfreiheit" 52 sich standhaft weigerten, gegen ihre eigene Überzeugung zu handeln. 47 48 49 so

Ebd., S. 31. John Stuart Mill, Über Freiheit. Aus dem Englischen. Frankfurt / Wien 1969, S. 23 ff. Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert, S. 80. Ebd., S. 81 f.

51 Montalembert, Deuxième discours prononcé à l'Assemblée générale des Catholiques, in: Montalembert: Textes choisis, S. 137. 52 Ebd., S. 138.

3. Wechselwirkung von Freiheit und Autorität

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So habe sich vor allem Thomas Morus auf sein Gewissen berufen, als er sich gegen die Gründung einer englischen Staatskirche wandte53. Im diametralen Gegensatz zu den theokratischen Konterrevolutionären und in weitgehender Übereinstimmung mit den Repräsentanten des Liberalismus akzeptieren die liberalen Katholiken auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Revolution. Das was diese Verlautbarung als das Recht eines jeden Bürgers verkünde, entspreche weitgehend dem Geist des Christentums. Sie lasse Wertungsgrundsätze erkennen, die man schon in der Bibel finden könne. So schreibt Lacordaire : „Das Evangelium war die Verfassungsurkunde des Menschen, die Verkündigung des allgemeinen Rechts"54.

Die freiheitliche Botschaft des Evangeliums habe eindeutig ihren Niederschlag im Menschenrechtskatalog der Französischen Revolution gefunden. „So lange das Christentum nur ein Wort war, war es das schönste der Welt, ein einziges Buch, ein Vorschlag ohne Gleichen, und damit genug. Das der ganzen Welt verkündete Evangelium mußte ein lebendiges Recht werden" 55 .

Dabei wirft Lacordaire de Maistre vor, den zutiefst christlichen Charakter der in Rede stehenden Deklaration leichtfertig übersehen zu haben. Die Interpretation der Menschen- und Bürgerrechte könne nur dann sinnvoll sein, wenn sie von einem klaren Bewußtsein ihres durch und durch christlichen Geistes bestimmt sei. Indem er sich gegen sie wandte, habe er als Katholik sich einer äußerst selektiven Wahrnehmung befleißigt. „Der Graf von Maistre täuschte sich, meine Herren, ich habe, wie er, Deutsche in Deutschland, Italiener in Italien, Franzosen in Frankreich getroffen, aber ich habe auch den Menschen angetroffen, ich habe ihn im Evangelium angetroffen" 56.

In dem Maße, in dem sich die liberalen Katholiken von der Ablehnung jeglichen Emanzipationsstrebens durch die theokratischen Konterrevolutionäre distanzieren, achten sie allerdings auch auf Abstand gegenüber dem Freiheitsbegriff der Liberalen. Bei ihm ist Montalembert zufolge jener Punkt getroffen, an dem sich das Bekenntnis zur Liberalität ins Schrankenlose wendet. Er wirft den Liberalen vor, das menschliche Unabhängigkeitsbedürfnis radikal entgrenzt zu haben. „Was mich betrifft, so habe ich den Stolz zu glauben und das Bewußtsein, es bewiesen zu haben, daß ihr Liberalismus mit dem meinigen nichts gemein hat, und demgemäß besitze ich auch den Trost zu glauben und habe das Vertrauen es sagen zu dürfen, daß mein Liberalismus, fester und überzeugungstreuer als je, nichts gemein hat mit jener Sorge von Freisinnigkeit, welche der Heilige Vater mit Recht gebrandmarkt hat" 57 . 53 Ebd. 54 Lacordaire, S. 83. 55 Ebd. 56 Ebd.

Die Kanzelvorträge in der Notre-Dame-Kirche zu Paris. Zweiter Band,

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Er weigere sich deshalb mit Nachdruck, den radikal individualistisch eingefärbten Freiheitsbegriff der Liberalen zu akzeptieren. Dabei sei den Liberalen auch vorzuwerfen, daß ihre exzessive Bestimmung des Freiheitsbegriffes den Aufstieg repressiver Regime begünstigte. Besonders in Frankreich seien sie gezwungen gewesen, zu autoritären Regimen Zuflucht zu nehmen. „Jene ... Liberalen haben die Staatsgeschäfte so gut geführt, daß ihr System zweimal in einem Jahrhundert auf die möglichste Abschaffung und Unterdrückung jedes Rechts und jeder Freiheit hinauslief, und dies unter dem Beifallgeklatsche, rechtschaffener, aber eingeschüchterter Leute" 58 .

Leichtfertig und verantwortungslos hätten sie das kostbare Gut der „Freiheit gefesselt vor die Füße eines unumschränkten Gebieters" 59 geworfen.

4. Das Verhältnis von Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht In der Staatsdoktrin der liberalen Katholiken paart sich das begründete Wissen um Gottes Allmacht mit der dezidiert vorgetragenen Auffassung, daß dem Volk bei der Bestimmung seines politischen Schicksals ein ausgeprägtes Mitbestimmungsrecht gebührt. Die partizipatorischen Bestimmungsmomente in ihrem Denken sollten jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, daß jede auf Erden ausgeübte Macht einen göttlichen Ursprung aufweist. Kein Autor dieser Gedankenrichtung hat diesen Sachverhalt in einem so konturenscharfen Licht gezeichnet wie Lamennais. Dabei verschlägt es kaum, daß seine Klagen über die religionslose Politik seiner Zeitgenossen aus seiner ersten Denkperiode stammen, in der er David Wolfinger zufolge dem „extremsten Traditionalismus" 60 huldigte. Kein liberaler Katholik wird je die Grundthesen seines im Jahre 1808 erschienenen „Essai sur l'indifférence en matière de religion" anzweifeln, keiner sich bemüßigt fühlen, am folgenden Zitat Anstoß zu nehmen.

57 Montalembert, Der Kampf der Kirche mit dem falschen Liberalismus. Aus dem Französischen. Mainz 1861, S. 7. 58 Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert, S. 57. 59 Ebd., S. 50. 60

David Wolfinger S. J., Lamennais über den religionslosen Staat, in: Stimmen der Zeit 94 (1918), S. 402. Vgl. dazu auch Waldemar Gurian, „Die entscheidende Bedeutung Lamennais' für den französischen Katholizismus besteht darin, daß er gerade darum, weil er clen konservativen Traditionalismus ernst nahm, der eine wirklich katholische Monarchie in Frankreich schaffen wollte, zum revolutionären Traditionalismus geführt wurde, der das Zusammengehen von Kirche und Volk, Papst und Demokratie als geschichtliche und soziologische Notwendigkeit verlangte" (Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus, S. 102).

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

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„Alle wahre Gesetzgebung geht von Gott aus, dem ewigen Ursprünge der Ordnung, und der allgemeinen Gewalt der Gesellschaft denkender Wesen. Gehet davon ab, und ich sehe nichts als willkürliche Willensäußerungen und das von der Stärke entwürdigte Reich; ich sehe nur Menschen, welche andere Menschen auf eine unverschämte Weise beherrschen; ich sehe nur Sclaven und Tyrannen" 61. Werden die Gebote Gottes mißachtet, fliehen die Menschen notwendigerweise zu einer Herrschaftsform, in der ein äußerstes Maß an Unterdrückung und Willkür Platz greift. „Da kein einziges Gesetz, das von dem Menschen allein ausgeht, für den Menschen Verbindlichkeit hat; so müßte man die Billigkeit unter den Schutz der Stärke setzen und das, was man vergebens von dem Gewissen verlangte, der Furcht entreißen. Je stärker der Schrecken sein wird, desto größer wird die Unterwürfigkeit sein; die öffentliche Sicherheit wird keinen anderen Gewährsmann finden als den Henker, und man wird die Gerechtigkeit im Namen des Todes ausrufen, weil man sie nicht im Namen Gottes ausrufen wollte" 62 . Dabei steht es für die liberalen Katholiken außer Frage, daß es dem Papste obliegt, über die Einhaltung der göttlichen Gesetze zu wachen. Sie rücken das Verhältnis zwischen ihm und der weltlichen Herrschaft in eine ausgesprochen ultramontane Perspektive, lehnen die liberale Sichtweise von der ethischen Superiorität des einzelnen Nationalstaates rigoros ab. Sie sind darauf aus, die ethische Schiedsrichterstellung des Papstes von ihrem reaktionären Makel zu befreien und streichen dezidiert ihre humanen Valeurs heraus. In diesem Sinne interpretiert Montalembert auch den berühmten Gang nach Canossa. „Diese Wahrheit müssen wir gerade in jener berühmten Zusammenkunft zu Kanossa bestätigt sehen, wo der jugendliche und stattliche Repräsentant der kaiserlichen Gewalt, der erste der weltlichen Herrscher Europas, durch die Verdemütigungen der christlichen Buße sich vor dem kleinen, alten Manne von niederer Herkunft, welcher die Kirche Gottes regierte, beugen mußte ... Es war das ein Sieg ... der Sieg der Demut über den Hochmut, eines kräftigen und ehrlichen Gewissens über die einen Augenblick entwaffnete Gewalt, der Gott unterworfenen Seele über das aufrührerische Fleisch, der christlichen Pflicht über die menschliche Leidenschaft, mit einem Worte: Der Sieg der übernatürlichen, die göttliche Unabhängigkeit der Kirche für immer begründenden Kräfte über alle List und Gewalt ihrer Feinde" 63 .

61 Lamennais, Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen. Erster Band. Aus dem Französischen. Sitten/Solothurn/Augsburg 1820, S. 363. Vgl. dazu auch Andreas Verhülsdonk, Religion und Gesellschaft: Félicité Lamennais. Frankfurt am Main 1991. 62 Ebd., S. 365. Waldemar Gurian weist darauf hin, daß Lamennais auch in seiner royalistischen Frühphase nie „eine Art göttlicher Legitimität des Monarchen vertreten" habe. (Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus, S. 104.) Er spricht von einer „sekundären Bedeutung der Monarchie für seinen Ultramontanismus" (ebd.). 63 Montalembert, Gregor VII. Mönch, Papst und Heiliger. Aus dem Französischen. Regensburg 1885, S.169.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Was die Staaten der Moderne anlangt, so habe es ihnen keineswegs zum Segen gereicht, der moralischen Stimme des Papstes kein Gehör mehr zu schenken. Konstituens dieser illegitimen Auffassung sei das Bestreben, das Sittengesetz selber bestimmen zu wollen. „Was aber die Volker betrifft, so haben sie sich im Einverständnisse mit ihren Gebie tern dahin geeinigt, die Schranke, welche die Kirche zwischen den Schwachen und Starken errichtet hatte, niederzureißen, und man versichert, es sei ein Glück und ein Fortschritt für die gesamte Gesellschaft gewesen, daß diese mächtige Stimme, welche so gewaltig zu den Königen und Völkern sprach, verstummte. Ist das wahr? Die Hinrichtung Ludwigs XVI., die Teilung Polens und die französische Revolution sind die schlagenden Beweise, was die einen und die anderen dabei gewonnen haben" 64 .

Im Hinblick auf die internationale Stellung des Papstes gibt es also zwischen den liberalen Katholiken und den theokratischen Konterrevolutionären kaum gravierende Differenzen. Allerdings sind ihre die Binnenstruktur eines Staates betreffenden Ordnungsvorstellungen auf keinen gemeinsamen Ton gestimmt. Eine in so starkem Maße dem freiheitlichen Politikgedanken verpflichtete Weltanschauungsgruppe wie die liberalen Katholiken gibt sich notwendigerweise als Feind jeglicher autoritärer und absolutistischer Herrschaftspraxis zu erkennen. Lacordaire zufolge ist das politische Denken des Okzidents von jeher von der Grundeinsicht organisiert worden, daß bei aller Anerkennung einer wirkmächtigen Staatsautorität die Freiheitsrechte der Menschen nicht aus den Augen gelassen werden dürfen. Es entspreche der abendländischen Denktradition, sich gegen alle Versuche zu wenden, einer omnipotenten Staatsmacht das Wort zu reden. „Das Abendland gibt es zu, durch einen Menschen regiert zu werden, und ihm mithin Gehorsam und Verehrung zu geloben; aber nichts desto weniger fürchtet es ihn, schreckt davor zurück, ihm Scepter und Schwert in die Hand zu geben; es will, daß er groß sei, ohne gar zu groß zu sein; mächtig mit Maß, einen Raum zwischen Aufruhr und unbedingter Unterwerfung frei lassend. Das Abendland wägt, berechnet, begrenzt die Macht" 65 .

Dabei ist Lacordaire der Auffassung, daß insbesondere der Absolutismus sowohl dem Geist einer freiheitlichen Politikordnung als auch der Lehre des Christentums zutiefst widerspricht. Er bestimme seine Illegitimität vor allem von seiner rigiden Herrschaftspraxis her. „An dem Tage, an welchem die oberste Gewalt den Gehorsam und die Verehrung mißbrauchte, die ihr durch das Evangelium und Jesus Christus zuflössen, an dem Tage /.erstörte sich die oberste Gewalt mit eigenen Händen, sie grub einen Abgrund unter sich, und kehrte zum Morgenlande zurück" 66 .

64 Ebd., S. 172 f. 65 Lacordaire, S. 151. 66 Ebd.

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4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

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Die liberalen Katholiken nehmen auch die untergeordnete und ehrenrührige Position der Kirche im absolutistischen Regime in ihr kritisches Visier. Während sich beispielsweise de Maistre als Anwalt des Gallikanismus gelierte, halten die Vertreter der Avenir-Gruppe dafür, daß die katholische Glaubensgemeinschaft im Absolutismus zur Erfüllungsgehilfin des Staates degradiert wurde. So weist Montalembert darauf hin, in wie starkem Maße seine Herrschaftspraxis den christlichen Prinzipien diametral widersprach. Letzten Endes könne man davon ausgehen, daß es dem Absolutismus gelang, die Kirche in eine Unterordnungsposition zu zwingen. „Überall war die Knechtung der Kirche und der Verfall ihres Einflusses in geradem Verhältnisse zu den Fortschritten des Despotismus; dieß war namentlich in Frankreich siehtbar" 67 .

Jeglicher kirchliche Widerstand gegen die Allmacht des Staates wurde gebrochen, die Kirche zu seiner Befehlsempfängerin degradiert. „Als die Fürsten der Kirche gegenüber für allmächtig erklärt worden waren, kehrten sie diese Lehre bald gegen Alles, was ihnen in der staatlichen Ordnung widerstehen konnte und mußte; sie triumphierten hier, wie im Kirchlichen, unter dem Beistande der Juristen und gallikanischen Theologen, und gründeten so die absolute Gewalt" 68 .

Im Kontrapunkt zu den theokratischen Konterrevolutionären wendet sich Montalembert vor allem gegen Bossuet, den theologischen Verteidiger des Absolutismus. Sein Hauptfehler bestehe darin, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Absolutismus zu einer überzeitlich gültigen Verbindung erhoben zu haben. „Ich erlaube mir ... zu behaupten, bis mir das Gegenteil bewiesen wird, daß das enge Bündnis der Kirche mit der absoluten Gewalt, aus welcher Bossuet und seine Nachfolger gewissermaßen einen Glaubensartikel unter uns gemacht hatten, ein neues Verhältniß ist, welches aus dem siebzehnten Jahrhundert datiert, und tausendjährige Überlieferungen und entgegengesetzte Vorgänge in der Geschichte des Katholizismus gegen sich hat" 69 .

Bossuet übersehe geflissentlich, daß die Skala der Beziehungen zwischen Staat und Kirche weit umfangreicher ist, als er dies zuzugeben bereit sei. Dabei negiere er vor allem, in wie starkem Maße „die moderne Idee des absoluten Staates, welche einige Katholiken und sogar gewisse Theologen so unklugerweise angenommen haben, einzig aus dem Kriege gegen die Kirche" 70 entstanden ist. Ein nüchterner, wirklichkeitsadäquater Blick auf die politischen Gegebenheiten der Gegenwart führe überhaupt zu der Erkenntnis, daß die vom Absolutismus praktizierte Unterordnung der Kirche unter den Staat endgültig der Vergangenheit angehöre. Dabei sei es durchaus möglich, sich an der Organisationsform der Kirche zu orientieren. So sei „der Papst der Monarch der Kirche, aber er ist kein absoluter Monarch" 71 . 67

Montalembert, Die katholischen Interessen im neunzehnten Jahrhundert, S. 76. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 60. ™ Ebd., S. 70.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Schließlich sei er im Gegensatz zu den absolutistischen Potentaten dem Gesetze Gottes unterworfen. „Er ist kein absoluter Monarch; er kann nichts und unternimmt nichts, was außerhalb der göttlichen Constitution der Kirche liegt, die er nicht gemacht hat, und von welcher er nur der Ausleger und Verwahrer ist" 7 2 .

Darüber hinaus müsse erkannt sein, daß der Papst durchaus kooperativ herrsche. Er regiere „nicht allein, sondern mit dem Beistande einer zahlreichen Körperschaft von Bischöfen, deren Autorität er mit gewissenhafter Hand aufrecht hält" 73 . Au:h habe bis „in die letzten Rangstufen des Clerus und der Gläubigen hinab ... jeder Unterthan dieses geistigen Reiches sein eigenes hergebrachtes und unverjährbares Recht" 74 . Für die in Rede stehenden liberalen Katholiken ist die Freiheit der dem Papste ergebenen Kirche nur in einem liberalen Regime gewährleistet. Sie kann im freiheitlichen Staate in einem Maße gedeihen, wie dies im absolutistischen System nie der Fall sein konnte. So schreibt Montalembert: „Ich glaube an die Freiheit der Kirche, gesichert durch die Freiheit des Staates. Ich gk.ube, daß die Kirche von dem Siege der freien Institutionen Alles zu gewinnen hat, und daß sie unter deren Schutz heranwachsen wird, geachteter und stärker, volkstümlicher und fruchtbarer, unbesieglicher und reiner, als die Allianz mit irgend einer Regierung, heiße, wie sie wolle" 75 .

Als augenfälliges und abschreckendes Beispiel für seine Beweisführung führt Montalembert die Verhältnisse unter dem Zaren an. Seine Herrschaftsform lasse Wertungsgrundsätze erkennen, die sowohl gegen die Freiheit im allgemeinen als auch gegen die Ausübung der katholischen Religion im besonderen gerichtet seien. „Es gibt nur ein Land in Europa, wo die katholische Kirche vollständig gefesselt ist: Rußland, und dies ist auch das einzige Land, wo die Freiheit niemals existierte" 76.

Dabei warnt Montalembert auch vor dem Trugschluß, daß die Freiheit der Kirche im aufgeklärten Absolutismus eher gewährleistet gewesen sei als in demjenigen ohne Adjektive. Beide Ausprägungen dieser Staatsform seien in gleicher Weise kirchenfeindlich eingestellt, darauf aus, die Religion unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. „Ja, nach jenem Friedrich II., der die Lehren der Monarchien des V i l l i . Jahrhunderts mit denen der Liberalen des XIX. so gut zusammenfaßte, indem er sagte, man müßte es da71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Montalembert, Der Kampf der Kirche mit dem falschen Liberalismus, S. 65. 76 Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert, S. 57.

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

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hin bringen, daß die Bischöfe nur mehr kleine Jungen und Nachteulen seyen; nach jenem Joseph II., der diese schöne Theorie so energisch in Ausübung zu bringen wußte; nach jenem Maximilian von Bayern, dessen schonungslose Verwüstungen der glühende Eifer und die Frömmigkeit seines edeln Nachfolgers nur zum Teil wieder gut machen können ... nach so großen Männern und deren großen Taten ist es wirklich überraschend, sehr überraschend, daß in Deutschland noch irgend ein Herz schlage in Liebe zur Kirche, und in treuem Festhalten an ihren Gesetzen"77.

Alle diese abschreckenden historischen Beispiele stellen Montalembert gemäß augenfällig unter Beweis, daß der Katholischen Kirche allein im liberalen Politiksystem derjenige Freiheitsraum gewährt wird, der als Grundlage für ihre vom göttlichen Stifter aufgetragenen Wirkungsaufgaben vonnöten ist. Kein ernsthafter Zeitanalytiker könne in Zweifel ziehen, in wie starkem Maße „die politische Freiheit ... die Schutzwehr und das Werkzeug der katholischen Wiedergeburt in Europa" 78 sei. Aus diesem Grunde habe der am Wohl seiner Kirche interessierte Katholik allen Versuchen entgegenzutreten, die antiken Geist atmende „Verbindung von Altar und Thron" 79 zu neuem Leben zu erwecken. Dies wäre ein eindeutig kirchenwidriges Unterfangen, ganz im Sinne derjenigen, die dem Katholizismus Schaden zuzufügen im Schilde führen. Obgleich sich die liberalen Katholiken im Hinblick auf die Frage des Ultramontanismus mit den theokratischen Konterrevolutionären in weitgehender Übereinstimmung befinden, sind sie in bezug auf das Problem der staatlichen Herrschaftsintensität weit von ihnen entfernt. Während jene ihre Politiklehre im Widerspiel der Leitmotive Ordnung und Freiheit entwickeln, setzen jene ganz auf die uneingeschränkte Repression. Was wunder, wenn die Repräsentanten des freiheitlichen Katholizismus de Maistre und seinen Gesinnungsfreunden heftig entgegentreten. Dabei war es vor allem Lamennais, der die Machtverherrlichung des Savoyarden auf das Heftigste kritisierte. Eine auf einer derart kratologischen Basis beruhende Ordnungsvorstellung werde niemals zu einer den überzeugten Katholiken befriedigenden politischen Ethik vordringen können. Eine christlich verstandene Politikdefinition dürfe keineswegs dem Diktat einer rigiden Machteuphorie gehorchen, sondern müsse vielmehr das Wohlergehen der Bürger und ihre richtig verstandene Freiheit im Auge haben. Bei de Maistre blicke einen das uralte Antlitz der Herrschaftsdefrzierung und deren drakonische Züge an. Lamennais wirft ihm vor, daß seine politische Ordnungskonstruktion auf zwei insuffrzienten Pfeilern beruhe, dem Verbrechen und der Strafe. „Alle seine Bücher scheinen auf dem Schafott geschrieben worden zu sein" 80 . 77 Montalembert, Über die katholische Angelegenheit des Erzbischofs von Köln. Aus dem Französischen. Hanau 1838, S. 16. 78 Montalembert, Die katholischen Interessen im 19. Jahrhundert, S. 57. 79 Montalembert, Deuxième discours prononcé à l'Assemblée générale des Catholiques, tenue à Malines du 18 au 22 août 1863, in: Montalembert: Textes choisis par Emmanuel Mounier, S. 133.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Die Abneigung der liberalen Katholiken gegen jegliche Form absoluter M.ichtausübung läßt diese auch Thomas Carlyle ins Fadenkreuz ihrer Kritik nehmen. Montalemberts Auffassung zufolge zerfließen in seiner Machtanbetung die Grenzen zwischen legitimer und illegitimer Herrschaftspraxis. In seinen Schriften werde auf die Freiheitsbedürfnisse der Bürger keinerlei Bezug genommen. Man übertreibe keineswegs, wenn man behaupte, daß die „Götzendienerei der Gewalt und des Erfolgs ... in der Person von Carlyle einen beredten Propheten" 81 gefunden habe. Nicht zuletzt sein „hero worshipping" 82 sei diesem Geist nachhaltig verpflichtet. Auch Lord Acton weigert sich, die Machtverherrlichung Carlyles zu akzeptieren. Bei diesem Autor, der in durchaus fragwürdiger Weise zum konservativen Ideenkreis gerechnet wird, gäbe es keinerlei Unterscheidung von Macht und Recht. Seiner Auffassung zufolge determiniere letzten Endes der Inhaber einer bestimmten Machtposition, was als gut und was als böse zu bezeichnen ist. „By subjecting the right to the test of success"83 habe er sich grundsätzlich von der Morallehre des Christentums verabschiedet und einem schieren Machtpragmatismus das Wort geredet. Während den Anwälten der Herrschaftsverherrlichung der Vorwurf gemacht wird, die Machtausübung aller ihrer ethischen Grenzen zu entledigen, muß sich der Protestantismus die Kritik gefallen lassen, sich dem Staate völlig untergeordnet zu haben. Was sich in seinem Verhalten ausdrückt, verweist weniger auf eine ichstarke Position gegenüber dem politischen Machtapparat, sondern rückt eine durchaus unchristliche Anpassung ins Licht. Vor allem Montalembert hat sich zum Sprecher dieser Auffassung gemacht. „Der Protestantismus, auf eine einfache Negation herabgesunken, wird wohl nicht mehr im Ernste für eine Persönlichkeit gelten. Als eine Corporation ist er auf die Stufe einer Sektion der Ci vil Verwaltung seiner von Amts wegen bestehenden Kirchen her abgebracht, welche sich willig vom Staate fesseln ließen, und der Ueberwachung, Leitung und dogmatischen Interpretation der Laien unterworfen sind" 84 .

Daß sich ihr Verhalten im Spannungsfeld von Herrschaft und Unterwerfung definiert, wird von den Anhängern dieser Konfession bereitwillig akzeptiert. „Sie wollen in der politischen Sphäre nur noch der weltlichen Macht dienen. Sie haben einen Herrn gefunden, der ihr Bestes will, und scheinen sich wie Blinde auf die Gunst dieses Herrn zu verlassen, und auf die Dauer derselben. Sie verschließen sich die Augen 80 Brief von Lamennais an die Comtesse de Senfft vom 8. Oktober 1834, in: Correspondance générale. Tome VI. 1834 - 1835, ed. par Louis de Guillou. Paris 1977, S. 307. 81 Montalembert, Über die politische Zukunft Englands, S. 31. 82 Ebd. Vgl. dazu Thomas Carlyle, On Heroes and Hero Worshipped. by W. H. Hudson. London/New York 1956. 83 Lord Acton, Secret History of Charles II., in: Selected Writings of Lord Acton. Volume I., S. 164. 84 Montalembert, Die katholischen Interessen im neunzehnten Jahrhundert, S. 47.

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

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und verstopfen die Ohren über Akte, welche alle rechtlichen Leute empörten, über offenbare Verletzungen des Dekalogs, unter dem Vorwande, daß dieß für die Religion gleichgültige Fragen oder entschuldbare Repressalien sind" 85 .

Dabei hätten die Protestanten sich durchaus nicht immer einer quietistischen Haltung gegenüber der Staatsmacht befleißigt. In früheren Perioden seien sie sogar bereit gewesen, selber ausgesprochen drakonische Herrschaftspraxen anzuwenden. „Es ist hinreichend bekannt... daß die Reformation in England, Deutschland und Holland nur mit Hilfe der Hinrichtungen und der grausamsten Unterdrückung siegte" 86 .

Wenn die absolutistische Herrschaftsform von den liberalen Katholiken in so rigider Weise abgelehnt wird, dann ist es notwendigerweise auch geboten, nach ihrem Verhältnis und Verständnis der demokratischen Machtausübung zu fragen. Im Kontrapunkt zur theokratischen Konterrevolution sind sie nachhaltig der Auffassung, daß die moderne demokratische Bewegung schon aus dem Grunde nicht der Illegitimität verfallen könne, weil sie zutiefst christlichen Geist atme. Die liberalen Katholiken reißen also Christentum und Demokratie nicht dichotomisch auseinander, sie sind vielmehr auf eine Versöhnung zwischen ihnen aus. Lacordaire zufolge ist das demokratische Zeitalter „als eine Protestation des Volkes zu Gunsten des Evangeliums hervorgegangen" 87. Angesichts der antireligiösen Ausrichtung des Absolutismus hätten sich die Menschen auf eine Politikordnung besonnen, die ihre leitenden Prinzipien dem Christentum verdankt 88. Sie erblickte deswegen das Licht der Welt, „weil das Volk nichts vom Oriente wollte ... weil die Bruderschaft sich zurückzog, die Vaterschaft nicht vorhanden war, weil die Ehre und die Freiheit nicht mehr unverletzt waren" 89 . Wenn man von der tiefen Übereinstimmung zwischen Christentum und Demokratie ausgeht, dann ist es Lacordaire zufolge auch kein Zufall, daß der Gedanke der freiheitlichen Politikverfassung vor allem in christlichen Ländern Sukkurs erhielt. „Man muß jetzt verstehen, warum die Bewegung, welche man überall bei den christlichen Nationen bemerkt, nur die gesellschaftliche Wirkung des Christentums selbst ist, das unablässig danach strebt, in der politischen und bürgerlichen Ordnung die Freiheiten zu verwirklichen, die der oberste Grundsatz der Gleichheit der Menschen vor Gott enthält, und folglich den geistigen Menschen von aller Oberaufsicht der menschlichen Gewalt und das Eigentum von aller wirklichen Abhängigkeit derselben Gewalt befreien" 90.

85 Ebd., S. 68. 86 Ebd., S. 81. 87 Lacordaire, S. 165. 88 Ebd. 89 Ebd. 90

Die Kanzelvorträge in der Notre-Dame-Kirche in Paris. Zweiter Band,

Lamennais, Absolutismus und Freiheit, S. 8.

11 J. B. Müller

162

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Die urchristliche Idee, daß alle Menschen vor Gott gleichen Rang aufweisen, gehorcht einer Dynamik, gegen die auch die reaktionären Kräfte wenig ins Feld führen können. Der Blick auf das emanzipatorisch-demokratische Potential des Christentums wird verstellt, wenn man diesen Sachverhalt aus dem Blick nimmt. Den liberalen Katholiken zufolge haben vor allem die Parteigänger der theokratischen Konterrevolution sich einer äußerst selektiven Wahrnehmung der christlichen Botschaft befleißigt. Sie übersahen geflissentlich, daß die Gleichheit vor Gott notwendigerweise zum Siegeszug der demokratischen Bewegung führen mußte. „Das Prinzip der Gleichheit der Menschen vor Gott mußte notwendigerweise ein anderes erzeugen, welches nur seine Entwicklung oder vielmehr seine Anwendung ist, nämlich das Prinzip der Gleichheit unter sich, oder der bürgerlichen Gleichheit; denn wenn in dieser Hinsicht eine in Bezug auf das Recht wesentliche und radikale Ungleichheit bestünde, würde diese Ungleichheit die Menschen ursprünglich vor Gott ungleich machen" 91 . Aus diesem Grunde strebt die religiöse Gleichheit „darnach hin, die politische und bürgerliche Gleichheit hervorzubringen als ihre Folge und ihre Ergänzung" 92.

Dabei sei der Siegeszug des aus dem Christentum stammenden Demokratiegedankens kaum aufzuhalten. Diese Demokratie, „ob sie sich nun in einer eingeschränkten Monarchie oder einer gemäßigten Republik geltend macht, hat bereits die Zustimmung aller achtbaren, aufgeklärten Leute erhalten" 93. In dieser Perspektive verblassen die Einwände der Demokratiegegner zu Kompensationen von Zeitgenossen, die in einer zugleich nostalgischen und illegitimen Weise den alten Zeiten nachtrauern. In den Augen Montalemberts ist ein laudator temporis acti eher zu bedauern. Ihm sei jeglicher Sinn für die politischen Imperative der Neuzeit abhanden gekommen. Er übersehe ganz einfach, daß „die Zunahme der Demokratie ... die vorherrschende Tatsache der neuern Gesellschaft" 94 ist. Aus diesem Grunde könne zwischen Christen und Nichtchristen keine Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, daß die moderne demokratische Bewegung „bereits alle Schranken niedergeworfen hat, die der gerechten Teilnahme der Menge an allen Gütern und allen Vorrechten im Wege standen"95. Auch der Siegeszug des meritokratischen Prinzips sei von den Parteigängern der unterschiedlichsten ideologischen Einstellungen als eine moderne Errungenschaft zu respektieren. Wer könne schon etwas an der Forderung aussetzen, „daß der öffentliche Mann vor Allem das Geschöpft seiner Verdienste sei" 96 . Die Besinnung darauf, wie eine nach liberal-katholischen Prinzipien konzipierte Politikordnung zu gestalten sei, macht die liberalen Katholiken auch zu überzeugten Parteigängern der parlamentarischen Monarchie. Dabei war es vor allem 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Montalembert, Über die politische Zukunft Englands, S. 23. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 22. 96 Ebd.

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

163

Montalembert, der sich als Sprecher dieses politischen Votums gerierte. Denjenigen, die ihren Sturz betreiben und eine nach den Prinzipien der theokratischen Konterrevolution konzipierte Politie an ihre Stelle setzen wollen, tritt er mit allem Nachdruck entgegen. „Die Regierung, die ihr verwerfet, ist gegenwärtig bei dem wirklichen Zustande der Sitten und Einrichtungen Europas die einzig mögliche Form der politischen Freiheit" 97 . Vor allem ihr Prinzip der Gewaltenteilung habe sich bewährt. Beurteile man die Errungenschaften der Juli-Monarchie ohne Vorurteile, so müsse man unweigerlich zu dem Urteil gelangen, daß sie der französischen Nation eine Wirk- und Attraktionskraft verliehen haben, die ohne geschichtliches Beispiel sei. Sie seien das eindeutige Produkt einer politischen Ordnungsvorstellung, die auf die autoritäre Ausgestaltung des Staates und seiner Gesellschaft zugunsten einer freiheitlichen Bestimmung der Res publica verzichten zu können glaubt. Die Juli-Monarchie „gab allen Zweigen der nationalen Intelligenz ein befruchtendes und glorreiches Leben, sie ließ jeder Art von Kraft und Industrie, allen Lehren, Ideen und Studien freien Lauf; sie machte überall das Gefühl des Rechtes und der Mäßigung in der Ausübung desselben vorherrschend" 98.

Dabei summieren sich die Einwände gegen den Parlamentarismus dieser Monarchie keineswegs zu einer Bilanz, die zu einer Veränderung auffordert. Er gewinnt seine Legitimität nicht zuletzt auch aus dem Umstand heraus, daß die vorangegangenen Regime weitaus gravierendere Defizienzen aufwiesen. Darin kommt eine Sichtweise zu Wort, die die Schwachstellen eines politischen Systems im Horizonte seiner Freiheitsgewährung interpretiert. „Ich behaupte, daß das Repräsentativsystem, wenn es Fehler und Mängel hat, nicht mehr habe, als jede andere Regierungsform hienieden, und füge bei, daß, selbst wenn es mehrere hätte, man sie tragen müßte, wollte man nicht auf die Freiheit verzichten" 99.

Für Montalembert und seine Gesinnungsfreunde wurde nicht zuletzt auch die belgische Verfassung aus dem Jahre 1831 100 zum Vorbild. Den politischen Pakt, den die belgischen Katholiken und Liberalen miteinander schlossen101, war auf einen politischen Ton gestimmt, den die liberalen Katholiken in ganz Europa durchaus wohlwollend beurteilten. Sie begrüßten insbesondere, daß der Art. 14 dieser Konstitution die freie Religionsausübung garantierte. Er lautet: 97

Montalembert, Die katholischen Interessen im neunzehnten Jahrhundert, S. 89. 98 Ebd., S. 100 f. 99 Ebd., S. 96. Auch die Kulissenkämpfe des parlamentarischen Systems werden in einem relativierenden Sinne interpretiert. „Die Redner und Taktiker der Tribüne bleiben weit zurück hinter den Dangeau und Fouché der absoluten Gewalt" (ebd., S. 106). 100 Abgedruckt in: Auswahl europäischer Verfassungsurkunden von 1791 bis 1871. Zusammengestellt von Ernst Bernheim. Greifswald 1910, S. 68. 101

Benedetto Croce ist der Auffassung, daß sich dieser Pakt von einem liberalen Standpunkt aus als „Beleidigung des moralisch-ethischen Gewissens" darstellt (Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, S. 145). 11*

164

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus „La liberté des cultes, celle de leur exercise public sont garanties" 102 .

Im Artikel 16 wird dem Staate verboten, sich in die Organisationsfragen der Kirchen einzumischen103. Diese Verfassung dokumentierte augenfällig, daß der Ruf nach einem freiheitlich verfaßten Staat auch ohne Kampfansage an die Kirche einhergehen kann. Das liberale Belgien gewähre ihr einen Handlungsradius, den sie in vielen europäischen Staatskirchensystemen entbehrte. Auf diese Weise wurden sowohl liberale als auch katholische Grundpositionen miteinander versöhnt. Auf die prinzipielle Kirchenfeindschaft, die viele Repräsentanten des Liberalismus besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszeichnete, antwortete die belgische Konstitution von 1831 mit dem Postulat, den Freiheitsspielraum der Kirche minuziös zu achten und nicht durch einen pseudoliberalen Laizismus einzuschränken. Das uneingeschränkte Votum für den Parlamentarismus schließt notwendigerweise die Verurteilung radikaldemokratischer Ordnungsvorstellungen ein. Die liberalen Katholiken lehnen nicht nur den Absolutismus ab, sie verwerfen auch die Prinzipien Rousseaus. Dabei steht es für sie fest, daß die Gesinnungsfreunde Robespierres ebenso dem absolutistischen Politikentwurf huldigten wie die Repräsentanten des Ancien régime. Nur vordergründig sei ihre Doktrin freiheitsorientiert, in Wirklichkeit atme sie den Geist der extremsten Repression. Die Herrschaftsintensität ihrer Regierungspraxis sei ohne geschichtliches Beispiel. Montalembert schreibt: „Nie hat ein moskowitischer Despot, nie ein Tyrann des Morgenlandes seine Mitmenschen mehr verachtet, als ihn diese radikalen Klubisten verachten, welche ihre besiegten Gegner im Namen der Freiheit und der Gleichheit knebeln" 104 .

Der jakobinische Radikalismus habe „die Verachtung des Menschen bis zu ihrer höchsten Mächtigkeit getrieben" 105 . Dabei verwahrt sich Montalembert mit allem Nachdruck gegen die von den theokratischen Konterrevolutionären vorgetragene Behauptung, der Jakobinismus sei letzten Endes als der ideologische Abkömmling des Liberalismus anzusehen. Indem er sich diesem Interpretationsmuster verweigert, weist er auf die kaum zu überbrückenden Gegensätze zwischen dieser Ideologie und dem demokratischen Radikalismus hin. Während die freiheitliche Politikversion dem ungehinderten Gestaltungsspielraum des Menschen einen möglichst hohen Platz einräume, geben sich die Parteigänger Rousseaus und Robespierres als die geschworenen Feinde dieses Ideals zu erkennen. 102

Auswahl europäischer Verfassungsurkunden, S. 68. Der Artikel 16 lautet: „L'État n'a le droit d'intervenir ni dans la nomination ni dans l'installation des ministres d'un culte" (Auswahl europäischer Verfassungsurkunden, S. 68). 104 Montalembert, Der hohe und der niedere Radikalismus, S. 20. 103

105 Ebd.

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

165

„Die Freiheit ist die vernunftgemäße, freiwillige Duldsamkeit; der Radikalismus ist die unbedingte Unduldsamkeit, welche erst vor dem Unmöglichen stehen bleibt. Die Freiheit auferlegt niemandem unnütze Opfer; der Radikalismus erträgt nicht einen Gedanken, nicht ein Wort, nicht ein Gebet, das seinem Willen zuwider wäre" 106 .

Für Montalembert steht es außer Zweifel, daß sich der radikale Demokratismus als das genaue Gegenteil des Liberalismus zu erkennen gibt. „Man sage mir nicht, wie gewisse hochsinnige aber blinde Geister: der Radikalismus ist die Übertreibung des Liberalismus; nein, er ist dessen Gegenfüßler, er ist stets das entgegengesetzte Äußerste; der Radikalismus ist nur die Übertreibung des Despotismus, nicht Anderes" 107 .

Bei Lichte besehen sind diese „angeblichen Liberalen ... nur Tyrannen des schlimmsten Schlages"108. Die Angst vor den politischen Folgen des radikalen Demokratismus führt bei Montalembert auch dazu, der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht mit äußerstem Mißtrauen zu begegnen. Diese Haltung gewinnt ihre intellektuelle Schärfe aus der Überzeugung heraus, daß die Einführung dieses Wahlrechts notwendigerweise auf Kosten der Bürgerfreiheit geht. „Das allgemeine Stimmrecht kann als die größte Gefahr der Freiheit betrachtet werden" 109 . Niemals habe „ein aufrichtiger und intelligenter Freund der Freiheit das allgemeine Stimmrecht jemals gewünscht oder gefordert" 110 . Alle diejenigen, denen das liberale Politikideal am Herzen liegt, fürchteten die despotischen Potenzen dieses von der Linken geforderten Rechtes. „Es ist ein Mechanismus, durch welchen die Menge, welche für einen Tag Herr ist, sich für Jahrhunderte zum Sklaven machen kann, und Alles mit ihr" 1 1 1 .

In Übereinstimmung mit Montalembert spricht sich auch Lord Acton für ein demokratisches System aus, das aller radikalen Bestimmungsmomente entrât. Der vernünftigen repräsentativen Demokratie stellt er diejenigen gegenüber, die ausgesprochen fehlerbehaftet und gemeinwohlschädlich sind. Zu ihnen rechnet er zuvörderst ihre plebiszitäre Form. „Direct democracy is unrestrainted. Representative democracy creates the mutual check" 112 .

Wenn das Volk in einem politischen Gemeinwesen allein über sein Schicksal bestimmt, besteht die Gefahr, daß es zu politischen Fehlentscheidungen kommt. In 106 Ebd. 107 Ebd. los Ebd., S. 3. 109 Montalembert, Die katholischen Interessen im neunzehnten Jahrhundert, S. 151. no Ebd., S. 152. m Ebd., S. 151 f. h 2 Selections from the Acton Legacy, S. 554.

166

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

der radikalen Demokratie begegnet uns jene Variante eines Entscheidungsmechanismus, die dem politischen Mißbrauch Tür und Tor öffnet. „The more things are left to the people, the more precautions there must be against the triumph of evil influences" 113 . Da sich die ungezügelte Volksherrschaft durch ihren „disregard for morality" 114 auszeichnet, muß dafür Sorge getragen werden, daß diese eingeschränkt wird. Ein wichtiges Mittel hierzu ist Lord Acton zufolge die Gewaltenteilung. „The division of sovereignty ... is only means hitherto known to political science of setting limits to democracy" 115 .

Sie verhindert vor allem, daß sich die Demokratie zu einem autoritären System entwickelt. Für Lord Acton ist diese Gefahr immer gegeben. „Democracy generally monopolizes and concentrates power" 116 .

Die politische Ordnungsvorstellung der liberalen Katholiken lehnt also sowohl die Autoritätsverherrlicher als auch diejenigen ab, die an die urdemokratische Selbststeuerung von Staat und Gesellschaft glauben. Auf diese Weise avanciert sie zum Inbegriff einer politischen Vision, die die Extreme vermeidet und den Mittelweg beschreitet. Montalembert zufolge stehen bei den in Rede stehenden Extrempositionen die Begriffe Autorität und Freiheit so unvermittelt nebeneinander, daß ihr Widerspruch zu einer höchst insuffizienten Politiklehre führt. Während die Anhänger de Maistres ganz einfach übersehen, daß es das Ziel der staatlichen Machtausübung ist, die Freiheit der Menschen zu gewährleisten, negieren die Schüler Rousseaus die Gefahren eines exzessiven Freiheitsbegriffes. Auf diese Weise hat sich der liberale Katholik sowohl von den „Menschen der Ordnung auch der Unordnung (désordre)" 117 zu distanzieren. Auf der Suche nach einem politischen Gemeinwesen, das in seiner Geschichte die gesellschaftszerstörenden Exzesse und Extreme zu verhindern wußte, stößt Montalembert auf das Beispiel Englands. Es gehöre zu den großen politischen Leistungen des Inselvolkes, den Mittelweg zwischen Absolutismus und Jakobinismus gegangen zu sein. Nirgendwo versackt England im Radikaldemokratismus, nirgendwo wird der Staat in den Status eines omnipotenten Freiheitsvernichters gehoben. In England wälzt die Orientierung an der gemäßigten Demokratie alle politischen Radikalpositionen nieder. Sie sorgt dafür, daß die politische Entwicklung ohne gravierende Brüche vor sich geht. „Während jedoch auf dem Kontinente der Sieg der Demokratie überall zur Aufopferung der Freiheit geführt und die Völker gezwungen hat, zwischen Anarchie und Despotismus

Ebd., S. 557. 114 Ebd. 113

us Ebd., S. 554. 116 Ebd., S. 556. 117 Montalembert, Discours. Tome Premier, S. XXII.

4. Staatssouveränität und Demokratie in liberal-katholischer Sicht

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zu wählen, zeigt Alles an, daß in England ihr Fortschritt mit dem Bestände des Rechtes, mit der Aufrechterhaltung der alten Freiheiten und mit der Achtung der persönlichen Würde wird vereinbart werden können" 118 .

Die Engländer bewegen sich in einem politischen Ordnungssystem, dem paradigmatische Bedeutung für alle freiheitlich Gesinnten zukommt. Daß sie bis heute ihre politische Ordnung mit einem Höchstmaß an Realitätssinn und Freiheitsbejahung erhalten haben, macht ihren beispielhaften Charakter aus. „Wenn dem so ist, wie wir fest überzeugt sind, so wird England, nachdem es allein unter den großen Nationen Europas seine Ehre und sein öffentliches Leben vor den monarchischen Übergriffen der beiden letzten Jahrhunderte bewahrt hat, das ruhmvolle Privilegium haben, die Arche des Rechts und der Freiheit mitten in der Flut der revolutionären Demokratie, welche die unsrige zu versenken droht, schwimmend zu erhalten" 119 .

Für Montalembert stellt sich der englische Politikprozeß als ein bewundernswertes und vorbildliches Arrangement dar, in dem konservative und progressiv-liberale Elemente wirkungsvoll miteinander korrespondieren. Die Engländer verschließen sich der einseitigen Konzentration auf die beiden Pole Beharrung und Fortschritt und praktizieren den gemäßigten Progressus. „Glücklicherweise geht die Achtung vor der Vergangenheit und ihr gewissenhaftes Studium bei den Engländern nicht so weit, um sie über die wesentlichen Bedingungen des neuern Lebens zu verblenden" 120 .

Dabei vermeiden sie es geflissentlich, den Veränderungsprozeß im Horizonte einer ungeschichtlich-dogmatischen Doktrin voranzutreiben. Wenn England „eine Reform will, so arbeitet es mit der Energie und unvergleichlichen Ausdauer seines National-Charakters daran, dieselbe zu erhalten; dann hält es an. Nie hat es bis jetzt seine Siege entehrt, nie hat es seinen Zweck überschritten. Es wird daher nicht jene Länder nachahmen, wo heute die Freiheit, morgen die Autorität, von dem Tage ihres Sieges an, anfängt, ihr eigenes Grab zu graben" 121 .

Ganz im Kontrapunkt zu de Maistre lobt Montalembert auch die Aktivität der englischen Parteien. Ihr fruchtbares Zusammenspiel ergibt jene kompositorische Einheit, die das Wohlergehen des Gemeinwesens garantiert. Die Polyphonie des britischen Parteiwesens, weit davon entfernt, den Staat zu zerstören, gibt sich bei Lichte besehen als das Unterpfand eines gemeinwohlorientierten politischen Handlungsgefüges zu erkennen. „Zuerst haben wir die beiden alten Parteien der Whigs und Tories, welche sich von Tag zu Tag mehr verwischen und umbilden. Während eine derselben am Ruder ist, ist die andere zur Ablösung bereit und lauert stets auf alle Fehler und Fehlschritte ihrer Gegne118

Montalembert, Über die politische Zukunft Englands, S. 26. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 221. 121 Ebd., S. 39.

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V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus rin ... Die Erfüllung der legitimen Wünsche der öffentlichen Meinung ist solcher Art gleichsam dem Concurs preisgegeben, und das allgemeine Beste wird durch den Wetteifer zwischen den beiden Parteien bewirkt" 122 .

In diesem dem Fortschritt durchaus aufgeschlossenen England denkt auch niemand daran, die überkommene und ehrwürdige Institution der Monarchie abschaffen zu wollen. Im Koordinatensystem der englischen Politik spielt sie, wenn auch eine eingeschränkte, nichtsdestotrotz äußerst wichtige Rolle. Auch sie gewinnt im Spannungsfeld von Tradition und Fortschritt ihre unverwechselbaren Konturen. Während man in Frankreich während der Revolution der Idee des Königtums gänzlich den Kampf ansagte, haben es die Engländer in vorbildlicher Weise verstanden, ihrem Parlamentarismus ein monarchisches Bestimmungsmoment zu belassen. Dabei sind es sowohl die Anhänger der konservativen als auch der progressiven politischen Strömung, die dem Königtum Reverenz erweisen. Montalembert fühlt sich deshalb verständlicherweise außerstande, sich ein besseres politisches System als das englische vorstellen zu können. „Ich ziehe das englische System vor, welches noch heute den stolzesten Aristokraten wie den wildesten Liberalen zwingt, vor der Königin auf ihrem Throne das Knie zu beugen, um ihr die Rede zu überreichen, welche die Minister der parlamentarischen Majorität ihr in den Mund legen, und welches diese demütige Stellung wählt, um dem Königtume die Grenzen seiner Macht und die Bedingungen seiner Dauer ins Gedächtnis zurückzurufen" 123 .

Dagegen tritt in den USA der Bezug zu einer realitätsorientierten und vernünftigen Politik hinter die hyperdemokratischen Korrespondenzen zurück. Montalembert artikuliert eine Kritik an den Vereinigten Staaten, die durchaus an diejenige seines ideologischen Gegners de Maistre erinnert. Seiner Auffassung nach zerstören die USA mit ihrer rigiden Ausrichtung auf den demokratischen Politikgedanken die letzten Reste eines Ausgleichs zwischen Fortschritt und Beharrung. Der Ausgangspunkt bei der Suche nach einer vernünftigen politischen Ordnung ist für dieses Land allein der Wille des Volkes. Gegenstrebige Richtungen würden rigoros negiert. „In diesem System, das vom Instinkt des Volkes bestimmt wird, werden alle talentierten und sich durch ihren Charakter auszeichnenden Bürger von der politischen Macht ferngehalten" 124 .

Zu den Hauptfehlern des amerikanischen Systems gehöre es auch, Politiker aus den untersten sozialen Schichten an die Staatsspitze gelangen zu lassen 125 . Allerdings hätten sich die Amerikaner bislang erfolgreich gegen alle Versuche gewehrt,

Ebd., S. 41. 123 Ebd., S. 38. 124 Montalembert, La Victoire du Nord aux États-Unis. Paris 1865, S. 109. 125 Ebd., S. 110. 122

5. Soziale Fürsorge als christlicher Imperativ

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eine Militärdiktatur zu errichten. Letzten Endes handele es sich bei ihrem Staatswesen aber doch um ein „liberaldemokratisches und christliches" 126 Regime. Ein Vergleich der politischen Ordnungsvorstellung der theokratischen Konterrevolutionäre mit derjenigen des liberalen Katholizismus zeigt, daß der Vorteil der einen Denkrichtung die Defizienz der anderen ist. Während die Anwälte der theokratischen Konterrevolution die Souveränitätsfrage mit aller Brutalität stellen und darüber das Freiheitsbedürfnis des einzelnen vergessen, ist es bei den liberalen Katholiken eher umgekehrt. Sie bemühen sich in beeindruckender Weise, die Ansprüche des Individuums und die Imperative der Gemeinschaft auf einen Nenner zu bringen. Dabei gehen sie der Frage nach der Kompetenz-Kompetenz des Staates mehr oder weniger aus dem Wege. Ob es angesichts dieser beiden Denkpositionen einen goldenen Mittelweg gibt, ist schwer auszumachen. Dabei zeigt die historische Erfahrung, daß liberale Regime durchaus die Entscheidungsfrage stellen können. Sowohl der rote als auch der braune Jakobinismus mußten dies am eigenen Leibe erfahren. So dezisionsabstinent wie dies die Anwälte der Konterrevolution darzustellen belieben, sind ihre liberalen Kontrahenten also keineswegs.

5. Soziale Fürsorge als christlicher Imperativ Die uneingeschränkte Bejahung der liberalen Demokratie durch die liberalen Katholiken evoziert notwendigerweise auch die Frage, nach welchen Ordnungsprinzipien sie das System der Bedürfnisse gestaltet sehen wollen. Sie halten dafür, daß ihre weltanschauliche Ausrichtung, die sich nicht zuletzt auch der christlichen Lehre verdankt, die Sorge um die Mühseligen und Beladenen einschließt. Bei ihnen paart sich also das Bekenntnis zu einer liberalen Politikordnung mit einem pointiert formulierten Votum gegen jegliche manchesterliche Wirtschaftspraxis. In dieser Denkschule wird die Gesellschaftsanalyse in eine Perspektive gerückt, die auf einen ausgesprochen altruistischen Ton gestimmt ist. So ist Lamennais zufolge die auf dem Egoismus des einzelnen aufgebaute Gesellschaft bar aller genuin humanen Gefühle und Handlungen. Ihre zentrale Kategorie des Eigennutzes korrespondiert mit dem Postulat, den anderen nur als Tauschpartner zu akzeptieren. Aus diesem egoistischen Konkurrenzprinzip der von Adam Smith bezeichneten „commercial society" 127 erwächst eine Sozietät, die jeglichen Gemeinschaftsgeist vermissen läßt. „Indessen verschwindet alles, was das Glück der vereinigten Menschen ausmacht, die Eintracht und der Friede, die häusliche Einigkeit, das süße Zutrauen, die getreue Freundschaft, das zärtliche Mitleid, die wechselseitige Sicherheit. Man fühlet nicht mehr, man stellt ängstliche Berechnung an" 1 2 8 . 126 Ebd., S. 103. 127 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, ed. by J. R. M'Culloch. Edinburgh 1870, S. 10.

170

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

In der egoistischen Wirtschaftsgesellschaft des Liberalismus wird alles dem Prinzip der Lust- und Gewinnmaximierung geopfert. Die Eigenliebe weicht der Nächstenliebe und zerstört auf diese Weise alle sozialen Bande. „Die niedrigen Zusammenstellungen des Vorteils nehmen die Stelle der großmütigen Bewegungen des Herzens an. Eine hartherzige Selbstsucht erstickt jeden Keim der Natur; denn jeder, der nur sich liebt, wird niemals geliebt. Kleine und Große, Reiche und Arme, alle gleich des Genusses begierig, verschlingen mit Wut das Dasein eines Augenblickes" 129 .

Die Ablehnung der ökonomischen Gesellschaftsinterpretation korrespondiert auch mit der Zurückweisung der liberalen Staats Vertragskonzeption. Lamennais zufolge ist das Gemeinwesen kein aus den Kontraktintentionen der Bürger emanierender Artefakt, sondern unmittelbar mit der menschlichen Existenz gegeben. Hinter dem liberalen Gesellschafts- und Staatsvertragsentwurf verbirgt sich eine Konzeption, die mit der sozialen Natur des Menschen inkommensurabel ist. „Überall wo es Menschen gibt, bildet die Natur Gesellschaften, und der Zustand der Gesellschaft ist dem Menschen nicht weniger natürlich, als sein Dasein, weil er sich bloß in dem Stande der Gesellschaft erhält und fortpflanzt. Dies ist durch die Tat bewiesen, und es wird durch das Bedürfnis, welches das Kind um die Hilfe anderer hat, physisch noch weit einleuchtender, ehe es fähig ist, für seine eigene Erhaltung zu sorgen" 130 .

In nahtloser Übereinstimmung mit dem englischen Liberalkonservativen Edmund Burke warnt Lamennais davor, Staat und Gesellschaft als eine Handelsunternehmung zu interpretieren 131. „Eine der gefährlichsten Torheiten unsres Jahrhunderts ist, daß man sich einbildet, man gründe einen Staat oder eine Gesellschaft zwischen heute und morgen, wie man eine Manufactur errichtet" 132 .

In einer durchgehend von ökonomischen Zweckmäßigkeiten bestimmten Gesellschaft besteht notwendigerweise auch die Gefahr, daß der wirtschaftlich Schwache unter die Räder kommt. Der Hilfsbedürftige unterliegt dem ökonomisch Starken. Die Gesellschaft verwandelt sich in einen Kampfplatz. Wenn man den Menschen einredet, daß es keinerlei Verpflichtungen mehr gegenüber dem Gemeinwesen gibt, 128

Lamennais, Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen, S. 374. Das egoistische Kalkül, das die liberale Gesellschaft bestimmt, denaturiert nicht zuletzt auch die Ehebeziehungen. „Der Ehestand, ohne Beständigkeit wie die Unschuld, ist nur eine reißende Gesellschaft der Lust, welche die Laune erzeugt, und welche die Laune wieder auflöst. Der Ehebruch und die Ehescheidung, welche nur ein gesetzlicher Ehebruch ist, zerstören die Familie in ihren Grundfesten" (ebd.). 129 Ebd. 130 Ebd., S. 329. 131 Vgl. dazu Edmund Burke : „The State ought not to be considered as pepper and coffee, calico or tobacco, or such other low concern" (Reflections on the Revolution in France, ed. by A. J. Grieve. London/New York 1967, S. 93). ι 3 2 Lamennais, Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen, S. 320.

5. Soziale Fürsorge als christlicher Imperativ

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wenn jeder nur an sich selber denkt, dann werden die Schutzbedürftigen dem ökonomischen Kalkül geopfert. „Hat man die Menschen überredet, daß jeder nur Pflichten gegen sich habe, daß der persönliche Vorteil die einzige Richtschnur des Willens sei, daß man alles das, was man ungestraft tun könne, auch rechtmäßiger Weise tun dürfte; ist mit einem Wort das Ansehen nichts mehr, als die Stärke, die gesellschaftliche Ordnung nichts mehr, als die Stärke, die Sittenlehre nichts mehr, als die Stärke; so versucht ein jeder die seinige, und bestrebt sich, dieselbe zu erweitern, indem er diejenige der andern sich unterwirft" 133 .

Der Wahrheitsgehalt seiner antiatomisti sehen Gesellschaftskonzeption beruht für Lamennais in der Gewißheit, daß insbesondere auch der liberal-demokratische Staat einer Regelung des Systems der Bedürfnisse bedarf, die nicht den Direktiven des laissez-faire Prinzips unterworfen ist. Ohne eine „union fraternelle" 134 ist die Stabilität sowohl der sozialen als auch der politischen Ordnung gefährdet. Auch Montalembert ist der Auffassung, daß sich die soziale Tragödie der marktwirtschaftlichen Ordnung im Los der ökonomisch Schwachen und Hilfsbedürftigen spiegelt. Mit leichter Hand verstünden es die Repräsentanten der liberalen Ökonomie, ihre ideologischen Fäden eines harmonischen Wirtschaftsgewebes zu spinnen und dabei das Elend und die Not der Armen zu übersehen. Es widerspreche auch zutiefst einer liberal-christlichen Interpretation der Gesellschaft, wenn man das Los des Arbeitenden in die Hände seines Arbeitgebers lege 135 . Montalemberts Parteinahme für die wirtschaftlich Schwachen deszendiert fraglos aus seinem Votum für eine „christliche Gesellschaft" 136. Dabei könne die Analyse der kapitalistischen Sozietät nur sinnvoll sein, wenn ihr exzessiver Egoismus und ihr unbegrenztes Gewinnstreben erkannt sei. In ihr begegne uns jene Variante eines Gemeinwesens, das in besonderem Maße den Prinzipien des Christentums widerspricht. Schließlich plädiere es für den „Sieg der Nächstenliebe über die Selbstsucht"137. Angesichts der sozialen Gegensätze, die die kapitalistische Ordnung charakterisieren, sei die Verwirklichung dieser christlichen Urforderung mehr als geboten. Auch Lacordaire spricht sich dafür aus, die sozialen Mißstände möglichst schnell zu überwinden. „Gibt es nicht solche, die aus Langeweile im Überflusse sterben, und die, nachdem sie ihre Leidenschaften befriedigt haben, nicht wissen, was sie mit dem übrig gebliebenen anfangen sollen, während Andere, in großer Anzahl, im Elende, und zu oft in einem Zustand gänzlicher Vernichtung, verschmachten müssen?"138 133 Ebd., S. 338. 134 Lamennais, Journaux, in: Oevres complètes Tome X. Paris 1836 - 1837, S. 205. 135 Montalembert, Le nouveau ministère et la dissolution de la Chambre en Belgique, in: Montalembert. Textes choisis, S. 112. 136 Montalembert, Die Mönche des Abendlandes. Erster Band, CCXXXIIII. 137 Ebd., CCXXXII. 138 Lacordaire, Die Kanzelvorträge in der Notre Dame-Kirche zu Paris. Zweiter Band, S. 98.

172

V. Die Politikkonzeption des liberalen Katholizismus

Dabei kommt ganz im Gegensatz zur Doktrin der liberalen Nationalökonomie im Sozialsystem der liberalen Katholiken auch den Mühseligen und Beladenen ein Mitbestimmungsrecht zu. In einem vom christlichen Geiste bestimmten Gemeinwesen haben Montalembert zufolge die „Starken den Schwachen Rede zu stehen" 1 3 9 . Auf diese Weise sei am besten gewährleistet, daß die „Freiheit durch Opferwilligkeit und Nächstenliebe geadelt" 140 wird. Will man den ganzen Abstand ermessen, der die sozial orientierte Gesellschaftslehre der liberalen Katholiken von rigidem Marktglauben trennt, dann muß auch Lord Actons Haltung gegenüber dem Sozialdarwinismus in den Blick genommen werden. Die Sicherheit, mit der er gegenüber dieser Doktrin Abstand hält, erweist ihn als einen Denker, der in der Lehrtradition seiner Kirche steht und dem ideologischen Motto des „Survival of the fittest" unnachgiebig den Kampf ansagt. Er dechiffriert den auf die Gesellschaft übertragenen Darwinismus als eine Ordnungsvorstellung, die der den Armen und Schwachen verpflichteten Lehre der Kirche an der Wurzel fremd ist. Auf dem Grunde eines solchen Verständnisses für die gesellschaftlich Benachteiligten ist seine Weigerung zu verstehen, der sozialdarwinistischen Lehre überhaupt entgegenzukommen. Ausgesprochen pointiert formuliert Acton: „Liberty is part of the same idea that prolongs the life of the aged, rescues sickly children, promotes the survival of the unfit" 1 4 1 .

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ein Geschichtsphilosoph, der es als Ziel der historischen Entwicklung ansieht, die „elevation of masses"142 zu realisieren, kaum dem Recht des Stärkeren Sukkurs erweisen kann.

139 Montalembert, Erster Band, S. 27. 140 Ebd. 141

Die Mönche des Abendlandes vom h. Benedikt bis zum h. Bernhard.

Selections from the Acton Legacy, S. 499. 142 Ebd., S. 553.

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe Wie im 18. und 19. Jahrhundert, so wird auch in unserer Zeit heftig über den Sinn und die Wirkmacht des sozialen, politischen und kulturellen Fortschritts gestritten. Für die einen verzichtet man auf einen wichtigen ideologischen Zugang zur Gegenwart, wenn man einem undifferenzierten Progressismus anheimfällt. Für andere wiederum hat man ihm den verbrämenden Schleier abzureißen, um der nüchternen Wahrheit des hoffnungslos gescheiterten Fortschrittsglaubens ansichtig zu werden. Ganz auf den Ton einer fortschrittlichen Geschichtsinterpretation gestimmt und völlig unbeeinflußt von den Schriften der kulturkritischen „,Regenpfeifer' des 19. Jahrhunderts 4'1 hält der englische Historiker J. H. Plumb dafür, daß man der Vergangenheit recht eigentlich keine Träne nachzuweinen hat. Jeglicher Versuch, die aktuellen Probleme am Maßstab des Überkommenen zu messen, müsse kläglich scheitern. Ehe man der Vergangenheit positiv zu Buche schlagende Bestimmungsmerkmale imputiere, sollte ihre auf allen Gebieten sich dokumentierende Insuffizienz erkannt sein. Die Bereitschaft, sich mit dem geschichtlich Überwundenen einzulassen, zeuge von einer grundlegenden Verkennung des legitimen historischen Fortschritts. „Die alte Vergangenheit stirbt, ihre Kräfte schwinden, und das ist recht so. Wahrhaftig, der Historiker sollte ihr nachhelfen, denn sie war voll von Bigotterie, von nationaler Selbstgefälligkeit, von Klassenherrschaft. Sie war so absurd wie die enge christliche Interpretation, die Gibbon mit Recht verabscheute"2.

Kein ernsthaft analysierender Forscher könne abstreiten, „daß der Zustand der Menschheit sich verbessert hat" 3 . Der sich auf allen Gebieten manifestierende Fortschritt habe den Menschen „aus dem Urwald und Morast in die Stadt geführt" 4 . Jeder, der sich den illegitimen Luxus der Vergangenheitsbeschwörung erlaubt, riskiert, daß die Menschen hinter das Erreichte zurückfallen. Nur wenn die uneingeschränkte Akzeptanz des Fortschritts die geschichtsphilosophische Richt1 Hans-Joachim Schoeps, Konservative Erneuerung. Ideen zur deutschen Politik. Stuttgart 1958, S. 25 ff. Schoeps rechnet zu diesen „Regenpfeifern" Alexis de Tocqueville, Donoso Cortés und Jacob Burckhardt. 2

J. H. Plumb , Die Zukunft der Geschichte. Vergangenheit ohne Mythos. Aus dem Englischen. München 1971, S. 105. 3 Ebd., S. 103. 4 Ebd., S. 102.

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schnür bildet, sind wir vor einem derartigen Rückschritt gesichert. Allein der kritische Abstand von der Vergangenheit liefert gegenwartsadäquate Perspektiven. „Außerdem ist zu hoffen, daß die Vergangenheit nicht phönixartig wieder aus ihrer eigenen Asche aufsteigt, um abermals, wie so oft geschehen, die Unterwerfung und Ausbeutung von Männern und Frauen zu rechtfertigen, sie mit Ängsten zu quälen oder sie in ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit zu ersticken. Die Vergangenheit hat nur den Wenigen gedient"5.

Wie für J. H. Plumb, so empfiehlt sich auch für Pierre Lecomte du Noüy gegen die kulturskeptischen Einlassungen vieler Autoren die uneingeschränkte Hoffnung auf ein besseres Leben. Auch er läßt Wertungsgrundsätze erkennen, bei denen der Geschichtsoptimismus der Aufklärung Pate gestanden hat. Spüre man die vielfältigen Entwicklungstendenzen vorurteilsfrei und tiefenscharf auf, so werde der „Glaube an die aufsteigende Entfaltung des Menschen"6 augenfällig bestätigt. Es könne kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Geschichte eindeutig unter dem Impetus eines „regelmäßigen Fortschrittes" 7 vollziehe. Nichts kennzeichne die historische Entwicklung so sehr als die Tatsache, daß diese trotz aller negativer Begleiterscheinungen ein progressives Vorzeichen aufweise. „Es spielt sich alles so ab, als ob es eine Stufenordnung gäbe und als ob die Harmonie des großen Gesamtplanes durch die flüchtigen Störungen auf ein der unteren Stufe kaum getrübt würde" 8.

In immer neuen Anläufen und Variationen breche sich der Fortschritt letztendlich doch Bahn. Aus diesem Grunde sei die Kritik an der heutigen Zeit nur dann legitim, wenn sie von einem klaren Bewußtsein des endgültigen Sieges der progressistischen Geschichtsidee bestimmt sei. Die heutigen Anwälte des politischen und kulturellen Progressismus sind auch keineswegs gewillt, Abstriche an den Zukunftshoffnungen der „Whig Interpretation of History" zu machen. Sie dient ihnen immer noch als verläßlicher Wegweiser in eine bessere Zukunft. Vor allem Friedrich August von Hayek gibt sich als überzeugter Anhänger dieser Geschichtsinterpretation zu erkennen. Auch wenn sie mitunter methodologische Schwächen aufweise, so seien ihre optimistischen Prognosen immer noch legitim. „Die Grundtatsachen, auf denen sie aufbaute, waren über jeden Zweifel erhaben ... Sie gab zweifellos den Generationen, die in ihrem Geist aufwuchsen, einen wahren Sinn für den Wert der politischen Freiheit, die ihre Vorfahren für sie errungen hatten, und sie

5 Ebd., S. 16. Christopher Hill zufolge beinhaltet jegliche Ablehnung der sogenannten „Whig Interpretation of History" die Gefahr eines „sentimental antiquarianism" (The Pelican Economic History of Britain. Volume II. Harmondsworth 1969, S. 20). 6 Pierre Lecomte du Noüy, Die Bestimmung des Menschen. Aus dem Französischen. Stuttgart 1948, S. 283. 7 Ebd., S. 284.

» Ebd., S. 285.

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe diente ihnen auch als Richtschnur, dieses Errungene zu bewahren ... Es i s t . . . mehr als zweifelhaft, ob die Geschichtsschreibung deshalb, weil sie heute wissenschaftlicher zu sein beansprucht, auch wirklich ein zuverlässigerer und glaubwürdiger Führer auf den Gebieten geworden ist, wo sie sich am meisten auf die politische Meinungsbildung ausgewirkt hat" 9 .

Ganz im Gegensatz zu dieser uneingeschränkten Fortschrittseuphorie gibt sich Crane Brinton als ein Historiker zu erkennen, der den Hoffnungsversprechungen der Aufklärung gründlich mißtraut. Er hat seine bedeutende wissenschaftliche Stimme zum Sprachrohr einer Auffassung gemacht, die den progressistischen Optimismus als widerlegt ansieht. Nur ein irregeleiteter Idealismus könne heute noch meinen, daß das ethische Verhalten des modernen Menschen mit den zukunftsfreudigen Annahmen der fortschrittlichen Geschichtsphilosophie in irgendeiner Weise in Übereinstimmung zu bringen sei. „Wer das Verhalten des homo sapiens ... bis zur Gegenwart hin verfolgt, und zwar im Geist und mit den Methoden der Naturwissenschaft... wird nicht mehr die Einstellung eines Condorcet oder eines Paine haben" 10 .

Es könne auch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß „die Lehre von der menschlichen Güte und Vernünftigkeit" 11 des Menschen als ein theoretisches Konstrukt anzusehen sei, dem jegliche Wirkungsrelevanz fehlt. Eine Vielzahl vornehmlich konservativer Autoren hält dafür, daß sich auch die Gesellschaftsentwicklung der Neuzeit als ein kultureller Irrweg erwiesen hat. Auf der Suche nach den Ursachen für diese Malaise kommt Peter Dürrenmatt zu dem Ergebnis, daß diese in der wissenschaftlich-technischen Denkweise begründet ist. Sie löse ihre Erkenntnisobjekte in höchst illegitimer Weise aus dem historisch-kulturellen Kontinuum und werfe die Wirklichkeit auf das Prokrustesbett einer eindimensionalen Sicht. Das aus dem Geiste der Wissenschaft deszendierende Effizienzdenken sei überhaupt außerstande, den um sich greifenden Werteverfall begreifen zu können. Dabei betrachte es vor allem die althergebrachte Unterscheidung zwischen guten und schlechten Taten als überholt. „Das Böse störte in einem Bild vom Menschen, der auf die Vernunft hin fortschritt ... Die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts war bereit, das Böse als die Fehlentwicklung der Natur, hervorgerufen durch irgendwelche Störungen, zu definieren" 12. 9 F. A. Hayek , Wirtschaftsgeschichte und Politik, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 7(1955), S. 6. Äußerst kritisch gegenüber der „Whig Interpretation of History" äußert sich Hilaire Belloc in seinem Aufsatz „Catholicism and History" (Dublin Review 149 [1911}, S. 321 ff.). Vgl. dazu auch John P. McCarthy, Hilaire Belloc and Catholic History, in: Thought 67 (1992), S. 62ff. 10 Crane Brinton, Idee und Menschen. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1950, S. 475. 11 Ebd. Selbst der Erzliberale Ludwig von Mises ist der Auffassung, daß wir den fortschrittlichen „Optimismus nicht mehr teilen können" (Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Friedrich August von Hayek. Stuttgart/New York 1978, S. 42). 12 Peter Dürrenmatt, Zerfall und Wiederaufbau der Politik. München 1951, S. 100.

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VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe

Wenn bei der Analyse der gesellschaftlichen Realität der ethische Maßstab aus dem Blick gerät, dann gewinnen Diirrenmatt zufolge die faktischen Machtverhältnisse die Oberhand. Das kratologische Denken triumphiert über den moralischen Imperativ, den Ohnmächtigen zur Seite zu stehen. „Die politische Konsequenz dieses Weltbildes des vernünftigen Weltplanes und des ständigen Fortschritts war... die einer gesteigerten Vitalität" 13 .

Diese bezieht ihre ideologischen Impulse sehr oft aus dem Geiste des Darwinismus. Der Versuch, alle sozialen und politischen Probleme im Horizonte des Kampfes ums Dasein zu messen, mußte in einem Denken resultieren, das das Recht des Stärkeren als die neue ethische Maxime ausgab. „Je weiter der neue Geist an Boden gewann, desto allgemeiner wurde die Meinung, nach der schlecht gleichbedeutend war mit schwach, klein, krank. Auf politischem Gebiet formte sich von da aus das Urteil über Macht und Gewalt. Macht und Freiheit wurden keineswegs mehr als Gegensätze empfunden, sondern als sich ergänzende Kraft... Mit Macht erzwang man den Fortschritt, und die Gewalt war erlaubt, ja geschichtlich notwendig" 14 .

Während für Dürrenmatt vitalistische Denkströmungen den Abfall von der überkommenen Werteordnung bewirkten, ist es nach Heinrich Rommen der Geist des Positivismus, der dieses Ergebnis zeitigte. Schließlich ist es allein dann sinnvoll, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wenn das gesellschaftliche und politische Leben nicht nur als ein materialistisches Arrangement zur Befriedigung der Bedürfnisse angesehen und nicht nur das als richtig erkannt wird, was gerade existiert. Rommen zufolge sind es drei wissenschaftliche Richtungen, die dem positivistischen Geist den Weg bahnten. „Der Angriff des Positivismus ging von mehreren Seiten sozusagen in konzentrischer Richtung vor; einmal von Seiten des naturwissenschaftlichen Empirismus, der des Sinnes für das Normative überhaupt entbehrte; dann wurde er gestützt durch den Konflikt der Moral mit der Soziologie, und drittens durch den philosophischen und historischen Materialismus" 15.

Im Materialismus wird die Kluft zwischen den schieren Fakten und der christlichen Ethik zur Bedingung, die wissenschaftliche Betätigung allein auf die Analyse und Rubrizierung der Realität zu reduzieren. Die in seinem Geiste unternommene Gesellschaftsanalyse ist nur um den Preis einer Kampfansage an die überkommenen moralischen Vorstellungen zu haben. Der szientifische Eifer fungiert nun als Palliativ gegen das zu Recht Überwundene, als Abwehrmechanismus gegen das angeblich unsinnige Unterfangen, im Namen der Wissenschaft ethische Leitsätze zu formulieren. Auf diese Weise wird notwendigerweise die Würde des Menschen angetastet. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 100 f. 15

Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, S. 128.

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe „Für den Materialismus ist der Mensch lediglich ein höher entwickeltes Tier, die Seele ein bloß denkökonomischer Begriff für die vielfältigen Funktionen des Gehirns, aber keine unsterbliche Substanz"16.

Was wunder, wenn der „Materialismus ... zum bloßen Positivismus"17 Zuflucht nimmt, jeder Anstrengung aus dem Wege geht, die Welt auf den ethischen Begriff zu bringen. Die einzelnen Topoi der materialistisch-positivistischen Weltanschauung und Wissenschaftsdoktrin runden sich notwendigerweise zu einem Denkgefüge, das dem ethischen Relativismus Heimatrecht gewährt. „Das unmittelbare Ergebnis dieser Tendenzen im modernen Wissenschaftsleben war dann ein agnostischer, heimlicher oder offen bekannter Relativismus, dessen intellektueller Pharisäismus sich offenbarte in einer beinahe asketisch wirkenden und illusionslosen Jagd nach »Tatsachen', und dessen Verachtung für die Leistungen der theologischen und metaphysischen Epoche sich arrogant und zugleich lächerlich ausnimmt" 18 .

Die der modernen technischen Zivilisation ausgelieferten Menschen leiden der Auffassung vieler Autoren zufolge an einer Orientierungskrise, die der früheren christlich geprägten Kultur weitgehend unbekannt war. Daß sich Ernst Troeltsch zufolge in ihr so verblüffend konträre Ordnungsvorstellungen bündeln, macht ihre Fragwürdigkeit aus. Ihre Offenheit für Leitvorstellungen, die man in früheren Zeiten noch als abartig und häretisch bezeichnet hätte, deutet auf eine Erschütterung des ethischen Wertsystems hin. Nichts werde heute mehr in ein bindende Kraft besitzendes Bezugssystem eingefügt, überall herrsche eine Einstellung, die als durch und durch relativistisch bezeichnet werden müsse. In dem Maße, in dem der europäische Mensch Abschied vom ontologisch-metaphysisch begründeten Wertesystem des Mittelalters genommen habe, sei er auf den Weg des moralischen Skeptizismus geraten. „Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward Parole und neue Werttafeln gab es im Grunde nicht. ... Es gab keine Begründungsmöglichkeiten für Werte mehr. Die Ethik erschien als die fraglichste aller Wissenschaften" 19.

Heute feiere das ethische Tohuwabohu fröhliche Urständ. Die einzelnen moralischen Wertmaßstäbe seien in einen unnachgiebigen Kampf untereinander verstrickt. „Die verschiedenen Werte wandten sich gegeneinander und jeder einzelne wurde fraglich. Max Weber 20 ... redet höchst charakteristisch und sehr heidnisch von einem Polytheismus der Werte ... Die moderne Religionslosigkeit mache aber heute Polytheismus 16 Ebd., S. 130. 17 Ebd. ι» Ebd., S. 137. Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die neue Rundschau 3 (1922), S. 583. 20 Troeltsch rekurriert hier auf Max Webers Abhandlung „Vom inneren Beruf zur Wissenschaft" (Max Weber, Soziologie weltgeschichtlicher Analysen, Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann. Stuttgart 1956, S. 311 ff.). 19

12 J. B. Müller

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VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe und Monotheismus gleich unmöglich, weil sie überhaupt keinen Theismus hat. Die Folge sei die Anarchie der Werte und die Notwendigkeit rein persönlicher, außerwissenschaftlicher Stellungnahme"21.

Noch nie in der Menschheitsgeschichte habe man sich einem derartigen Ideologiepluralismus gegenübergesehen. Der augenfällige ethische Wirrwarr übersteige alles bisher Dagewesene. „Alles kämpft gegen alles: die Kultur gegen die Christlichkeit... die Realisten, Modernen, Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysischen und apollinischen Erneuerer der Antike gegen Christentum und Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen Imperialismus und Krieg, Kampf für Nation, Staat, Krieg und Realpolitik für eigenständig nationale oder für internationale und pazifistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen Wirtschaft" 22 . In gleicher Weise ist auch für Wilhelm Dilthey der Siegeszug des modernen Wertepluralismus ein zu äußerster Evidenz gebrachtes Symbol für die Absage an die überkommene Kulturtradition. Ein objektiver Beobachter könne kaum umhin, ihn von seiner destruktiven Wirkung her zu bestimmen. Vor allem bei den Intellektuellen des 19. Jahrhunderts sei die Sphäre des Denkmöglichen ins schier Unendliche erweitert worden, gerade sie zeichnen sich durch eine pointiert distanzierte Haltung gegenüber den Werten der europäischen Kulturtradition aus. „Diese Schriftsteller schildern, und sie zersetzen im Schildern. Sie genießen die wurmstichige Zivilisation und hassen sie. Sie berauschen sich daran, und dann deutet ihre Hand auf Krankheit und Tod darin" 23 . Julien Benda zufolge hat man angesichts einer Kultur, die in so starkem Maße vom abendländischen Wertekanon abgewichen ist, vom „Bankrott einer Geistestrad i t i o n " 2 4 zu sprechen, die sich „von Platon bis K a n t . . . jenseits des Wandels" 2 5 bewährt hat. Dabei sei es zutiefst zu bedauern, daß „die Verehrung des Kontingenten und die Verachtung des Ewigwährenden" 2 6 heute kaum mehr auf Widerstand tref-

21

Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, S. 583. 22 Ebd. 23 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Politik, Ethik und Pädagogik. Fünfte Auflage. Stuttgart /Göttingen 1968, S. 243 (Gesammelte Schriften Band VI). Vgl. dazu auch: „Damals wurden die Tritte der herannahenden Kolonnen deutlicher vernommen, welche die Umgestaltung der europäischen Gesellschaft nach den Prinzipien gänzlicher Diesseitigkeit und Erdenbedingtheit des geistigen Lebens herbeizuführen gedachten. Der Boden des alten Europa zitterte" (ebd.). 24 Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen. Aus dem Französischen. Mit einem Vorwort von Jean Améry. München 1978, S. 151. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Der Liberalismus in der Identitätskrise, in: Identitätskrise und Surrogatidentitäten, hrsg. von Cornelia Klinger und Ruthard Stäblein. Frankfurt / New York/Paris 1989, S. 240 ff. (Éditions de la Maison des Sciences de Γ Homme, Paris). 25 Ebd.

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fe. Dagegen sei Kallikles, als er seine kratologischen Ansichten verkündete, auf heftige Abneigung gestoßen. Die führenden Denker seiner Zeit hätten seine Herrschaftslehre höchst indigniert zur Kenntnis genommen. Dieser in Rede stehende Abfall von der europäischen Kulturtradition und sein mit ihm einhergehender Wertrelativismus ist auch heute noch anzutreffen. Vor allem in den Sozialwissenschaften steht die denkerische Anstrengung sehr oft i m Zeichen einer Skepsis, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse als höchst unfruchtbares und ausgesprochen willkürliches Unterfangen ansieht. Das ist nicht zuletzt bei dem Soziologen Theodor Geiger der Fall. Er schreibt in ziemlich unmißverständlicher Weise: „Der kritisch Aufgeklärte ist notwendigerweise theoretischer Wertnihilist. Er hat durchschaut, daß Wertideen nichts anderes sind als die unzulässigerweise objektivierten Gefühlseinstellungen des Wertenden. Er weiß, daß Werte nicht der raumzeitlichen Wirklichkeit angehören, daß Werturteile daher nichts anderes sein können als eben falsche Objektivierungen von subjektiven Primärwertungen" 27. Der Wertrelativismus Theodor Geigers bezieht seine intellektuelle Stoßkraft auch aus der Überzeugung, daß die gängigen ethischen Vorstellungen kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind und sich darüber hinaus oft auch einer präzisen Begriffsbestimmung widersetzen. „Die Wertvorstellungen, um die Menschen sich scharen, sind zumeist von sehr luftiger Art: Gott als höchstes Gut, die Nation, die Demokratie, der Sozialismus, die Freiheit, die Gerechtigkeit und andere dergleichen. Und frage man zehn Menschen, was Freiheit sei und suche den gemeinsamen Nenner für ihre Antworten. Man frage jene, die sich zur ,Demokratie' bekennen, was sie sich darunter vorstellen. Völlig verschiedene Dinge, und die meisten könne nicht einmal ordentlich ausdrücken, was sie sich unter dem Worte denken" 28 . Letzten Endes vereine die Wertobjektivisten „nicht eine Gemeinschaft der Wertung, sondern der Phrasen, nicht eine gemeinsame Sache, sondern ein magisches Wort"29. 26 Ebd., S. 150. Dabei lastet Benda führenden Denkern vieler Nationen an, den in Rede stehenden „Verrat der Intellektuellen" begangen zu haben. „Heute ... demonstrieren Namen wie Mommsen, Treitschke, Ostwald, Brunétière, Barrés, Lemaitre, Péguy, Maurras, D'Annunzio oder Kipling, daß die clercs den politischen Passionen mit allen Merkmalen der Leidenschaftlichkeit frönen: mit Tatendrang und der Gier nach unmittelbaren Resultaten, mit bornierter Zielstrebigkeit, die Argumenten unzugänglich ist, mit Maßlosigkeit, Haß und fixen Ideen" (Der Verrat der Intellektuellen, S. 113). 27 Theodor Geiger, Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit. München 1950, S. 285. 28 Ebd., S. 193. 29 Ebd. Vgl. dazu auch Hannah Arendt, „Warum sollte ich meine Großmutter nicht töten, wenn ich das will? Solche und ähnliche Fragen wurden in der Vergangenheit einerseits von der Religion, andererseits vom Common sense beantwortet... Der Glaube einerseits und die Common-sense-Urteile sind nicht mehr sinnstiftend" {Hannah Arendt/Mary McCarthy, Im 12*

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Mit dieser durch und durch relativistischen Einstellung korrespondiert auch die Weigerung, das Verhalten anderer in einer ethischen Perspektive zu interpretieren. Ob Caligula, Hitler oder Stalin in den heuristischen Blick genommen werden, dem aufgeklärten Wertrelativisten der Moderne ist es verwehrt, über ihr Verhalten ein moralisches Urteil abzugeben. „In seiner Beurteilung fremden Verhaltens wird er nicht von ,Verderbtheit', Schlechtigkeit' oder ,Schurken' sprechen, sondern von sozial unzulänglich angepaßten Personen, mit denen es schwierig, vielleicht unmöglich ist, zusammenzuleben. Seine Haltung ist frei von Selbstgerechtigkeit, Rachsucht und Vergeltungsdrang" 30.

Wer Geiger zufolge mit dem Absolutheitsanspruch einer objektiven Wertethik auftritt, wer dieser hoffnungslos veralteten Notion frönt, läuft notwendigerweise Gefahr, zum nörglerischen Kulturkritiker zu mutieren. Seine geradezu beckmesserische Kritik am ethischen Relativismus der Gegenwart sei eindeutig zum Scheitern verurteilt. Letzten Endes stelle sie nichts weiter als den Versuch schwacher und verzagter Menschen dar, „die Dämmerung ihrer dumpfwarmen Höhlenwohnungen zu verteidigen" 31. Diejenigen, die ohne weltanschaulichen Aberglauben nicht auskommen, erheben „sich in dunklem Drang gegen die unerbittliche Vernunft, die mit ihrem wachen Licht die Nebelgebilde der Metaphysik" 32 auflöst. Unter dem relativistischen Blick Theodor Geigers avanciert die Ablehnung des modernen Skeptizismus zu einer Flucht in längst überholte religiöse Zeiten. Aus diesem Grunde wendet er sich scharf gegen jeden Versuch, „dem Volke eine gemeinsame Metaphysik zu geben, die Wertegemeinschaft" 33 wiederherzustellen. Zum engagierten Anwalt einer ethisch voraussetzungslosen, sich von allen überkommenen moralischen Beschränkungen freien Gesellschaftsanalyse hat sich nicht zuletzt auch John Dewey gemacht. Die Besinnung darauf, wie eine modern-effiziente Sozialwissenschaft zu gestalten sei, habe sich zuvörderst der Tatsache zu vergewissern, daß diese immer noch unter der illegitimen Erblast überkommener Werturteile leide. Diese entpuppen sich bei Lichte besehen als handfeste Vorurteile. Während sich die Naturwissenschaft erfolgreich gegen eine derartige ideologische Gängelung zur Wehr setzen konnte, sei dieser Erfolg der Sozialwissenschaft bislang verwehrt gewesen. „The backwardness of inquiry into human affairs, that is, of the ,social' subjects, is an integral part of the record. Social inquiry still clings obstinately to the kind of frame of

Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975, hrsg. von Carol Brightman. Aus dem Amerikanischen. München /Zürich 1995, S. 73). Dabei sei es „die schwachsinnige Nachdenklichkeit oder nachdenkliche Schwachsinnigkeit der Intellektuellen", der wir diese ethische Konfusion zu verdanken haben (ebd.). 30 Ebd., S. 291. 31 Ebd., S. 23. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 269.

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe reference that once controlled physical inquiry, but which was abandoned when systematic scientific advance began" 34 .

Zum Grundmerkmal einer sinnvollen Beschäftigung mit Gesellschaftsproblemen gehört nicht zuletzt das Bestreben, den Forschungsprozeß von allen vorgegebenen Werthaltungen frei zu halten. Die Sicherheit, mit der sie Distanz zu allen objektiven Moralvorstellungen hält, ist ein Gradmesser für ihre wissenschaftliche Reife und Fortschrittlichkeit. „We are faced, as a net outcome, with the necessity of abondoning that alternative which proposes ... to subordinate scientific inquiry to predetermined ends" 35 .

Die Zweifel an einer an ethischen Vorgaben ausgerichteten Untersuchungsmethode würden dann unabweisbar, wenn sie von der Einsicht begleitet seien, daß eine von derartigen Beschränkungen befreite wissenschaftliche Betätigung dem gesellschaftlichen Fortschritt diene. Auf diese Weise wird die reaktionär-destruktive Wirkung der überkommenen ethischen Vorstellungen aufgehoben, die „institutional authority in the name of morals and religions" 36 das Ende ihrer Tage erreichen. Die Auffassung, daß allein eine ethische voraussetzungslose sozialwissenschaftliche Betätigung brauchbare Resultate zu liefern imstande ist, hat nicht zuletzt in der Demokratietheorie Einzug gehalten. Die Perspektive nicht weniger ihrer Vertreter ist auf die Behauptung gerichtet, daß nur der Wertrelativismus der modernen Volksherrschaft eine legitime Basis zu vermitteln imstande ist. Als engagierter Apologet dieser Haltung kann nicht zuletzt Hans Kelsen gelten. Ihm zufolge muß jeglicher Versuch, die moderne Demokratie am Maßstab eines objektiven Wertekanons zu messen, notwendigerweise scheitern. Die wertgebundenen Demokratieanalytiker unternähmen den untauglichen Versuch, die rationale Politie der Gegenwart auf den Hintergrund einer zu Recht überwundenen Vergangenheit zu projizieren. „Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt" 37.

Auf dieser wertrelativistischen Linie wagt sich Hans Kelsen sogar zu der These vor, daß rechtstheoretisch gesprochen, jede gesetzte Norm Gültigkeit für sich beanspruchen könne.

34

John Dewey, Liberating the Social Scientist. A Plea to Unshackle the Study of Man, in: Commentary October 1947, S. 384. 35 Ebd., S. 385. 36 Ebd. 37 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie. Zweite Auflage. Neudruck Aalen 1963, S.101.

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VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches kraft seines Gehalts ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden. Deren Geltung kann dadurch nicht in Frage gestellt werden, daß ihr Inhalt einem irgendwie vorausgesetzten materiellen Wert, etwa der Moral, nicht entspricht" 38.

Dabei versteigt er sich sogar zu der Behauptung, daß auch die Rechtsordnung despotischer Regime zu respektieren sei 39 . Die Einwände freiheitlich gesinnter Menschen gegenüber dieser Politikordnung summieren sich bei ihm keineswegs zu einer Bilanz, die zu einer Revision auffordert. Was der den Idealen der freiheitlichen Politikkonzeption verhaftete Zeitgenosse als Unterdrückungsregime bezeichne, erweise sich bei Lichte besehen als eine Staatsordnung, die keinesfalls in den Orkus der Illegitimität geworfen werden dürfe. „Was als Willkür gedeutet wird, ist nur die rechtliche Möglichkeit des Autokraten, jede Entscheidung an sich zu ziehen, die Tätigkeit der untergeordneten Organe bedingungslos zu bestimmen und einmal gesetzte Normen jederzeit mit allgemeiner oder nur besonderer Geltung aufzuheben oder abzuändern. Ein solcher Zustand ist ein Rechtszustand, auch wenn er als nachteilig empfunden wird. Doch hat er auch seine guten Seiten. Der im modernen Rechtsstaat gar nicht seltene Ruf nach Diktatur zeigt dies ganz deutlieh" 4 0

Dieser naive Glaube an die segensreichen Wirkungen des Rechtspositivismus wurde von skeptischen Gelehrten aber auch in Frage gestellt. Sie weisen darauf hin, daß die Sicherheit, mit der in dieser Rechtsauffassung gegenüber autokratischen und totalitären Regimen Distanz gehalten wird, ausgesprochen fragwürdig sei. Sie sei durchaus kein kritischer Gegenentwurf zu den illiberalen OrdnungsVorstellungen, sondern erweise sich bei näherem Hinsehen als ihre ideologische Legitimationsgrundlage. Es war nicht zuletzt John H. Hallowell, der auf diesen Tatbestand hinwies. Seiner Ansicht nach kann die positivistische Rechtsauffassung durchaus auch von jemandem akzeptiert werden, dem die liberale Verfassung des Gemeinwesens nicht gerade ein brennendes Herzensanliegen ist. „Such a conception ... can easily be accepted by a Fascist"41. Die in Rede stehenden Verfallssymptome und Entartungserscheinungen haben einige Autoren zu der Auffassung gebracht, daß es die liberale Ordnungsvorstellung ist, die diese zu verantworten hat. Aus diesem Grunde könne aus dem Laby38

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Leipzig /Wien 1934, S. 63. Vgl. dazu auch Hans Kelsen, Absolutism and Relativism in Philosophy and Politics, in: American Political Science Review XLII (1948), S. 906 ff. 39 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925). Bad Homburg v. d. Höhe /Zürich 1966, S. 336 und passim. 40 Ebd. 41 John H. Hallowell, The Decline of Liberalism, in: Ethics LH (1942), S. 343. Eindeutig weniger Berührungsängste gegenüber dem Faschismus hat der Ultraliberale Ludwig von Mises: „Es kann nicht geleugnet werden, daß der Fascismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat" (Liberalismus, S. 45).

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe

rinth des heutigen Kulturniedergangs nur eine Leitvorstellung führen, die auf einen gegenläufigen Ton gestimmt ist. Eine politische und ideologische Katharsis sei kaum von einer Doktrin zu erwarten, die die absolut gesetzte Freiheitsentfaltung des Menschen auf ihre Bahnen geschrieben hat. Zu den Persönlichkeiten, die sich dieser Meinung verschrieben haben, gehört nicht zuletzt T. S. Eliot. Für ihn gibt sich die liberale Ordnungsvorstellung als Moribundus zu erkennen, als eine an Auszehrung leidende Doktrin. „The attitudes and beliefs of Liberalism are destined to disappear, are already disappearing" 42. Dabei mache es die Eigenart dieser sozialen und politischen Lehre aus, ihre gegnerischen Konzepte aus sich selber heraus zu entwickeln. Es sei vor allem ihre mangelnde Wirkkraft, die den illiberalen Ideologien das Terrain bereite. „Liberalism can prepare the way for that which is its own negation; the artificial mechanised or brutalised control which is a desperate remedy for its chaos" 43 . Die Selbstzerstörung des Liberalismus, von der Eliot spricht, hat Ernst Michel zufolge ihren eigentlichen Grund darin, daß diese Ideologie die Belange der Allgemeinheit vernachlässige. Gegenüber den Gemeinschaftsbindungen des Menschen habe der Liberalismus seit seinen Ursprüngen ein taubes Ohr aufgewiesen. Deshalb mußte er „vor den Aufgaben des Aufbaues der Gemeinschaftsordnungen sozialer, politischer, kirchlicher Art ... nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, versagen" 44. Letzten Endes sei ihm der gravierende Vorwurf zu machen, „die Gemeinschaftsbezogenheit der Person" 45 zerstört zu haben. „Als individualistischer Humanismus führte der Liberalismus zur Auflösung des Lebensganzen: zur sozialen Atomisierung, zur Trennung der Lebensgebiete voneinander, schließlich zur Auflösung des persönlichen Lebens"46.

Der Liberalismus wird nicht zuletzt auch deshalb zurückgewiesen, weil sein Bekenntnis zur Marktwirtschaft auf Ablehnung stößt. Jacques Maritain zufolge sei er aus diesem Grunde bar jeglichen Sinnes für die über das Ökonomische hinausweisenden Werte. Diese Ordnungsvorstellung müsse gerade von der Warte der Katholischen Soziallehre aus verworfen werden. Ein von ihr geprägter Denker sei gehalten, jegliche Form des Kapitalismus zu verurteilen. „Diese Welt ist geboren aus einer großen Bewegung des Herzens nach dem heiligen Besitz der irdischen Güter, die am Ursprung des wirtschaftlichen Kapitalismus, Merkantilismus, Industrialismus ... steht. Die Verurteilungen des Wuchers durch die Kirche bleiben auf der Schwelle der neuen Zeit liegen als brennende Fragen nach der Berechtigung der Wirtschaft dieser Zeit" 4 7 . 42 43

T. S. Eliot, The Idea of a Christian Society. London 1948, S. 18. Ebd., S. 16.

44

Ernst Michel, Der Prozeß Gesellschaft contra Person. Stuttgart 1959, S. 114. 5 Ebd.

4

46

Ebd., S. 115. Auch für René Guénon ist der „Individualismus ... die bestimmende Ursache des gegenwärtigen Verfalls des Abendlandes. (Die Krisis der Neuzeit. Aus dem Französischen. Köln 1960, S. 85.)

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Zu den Hauptvorwürfen liberal-konservativer Autoren gegenüber den Repräsentanten des liberalen Ideenkreises gehört auch das Argument, daß diese in ihrem Fortschrittswahn völlig außerstande gewesen seien, die Fragilität des freiheitlichen Politiksystems in den Blick zu nehmen. Sie setzten allein auf die Fähigkeit des Menschen, einer repressiven Regierung entgegenzutreten und übersahen dabei die Möglichkeit, daß der homo politicus in sich selber die Tendenz verspürt, unter einer Diktatur zu leben. Dabei hat sich John H. Hallowell zufolge schon John Locke einem derartigen Optimismus verschrieben. „Men might decide to revolt a tyrannical government, but it is inconceivable to Locke that they would decide to establish a government contrary to the dictates of reason and destructive of natural rights"48.

Der Aufweis der gemeinschaftswidrigen Qualität der liberal-kapitalistischen Tauschgesellschaft hat viele Autoren zu der Forderung inspiriert, die legitimen Ansprüche des Ganzen mehr in den wissenschaftlichen und politischen Blick zu nehmen. So sollte sich John H. Hallowell gemäß das Ideal des freiheitsorientierten Bürgers nicht so übermächtig in unser Bewußtsein schieben, daß darüber die holistischen Aspekte in Vergessenheit geraten. „A new social philosophy will retain the liberal goal of freedom, but it will temper its passion for individual freedom with concern for the community welfare, and it will conceive of the community in more organic terms than the liberal was inclined to" 4 9 .

Für diesen konservativen amerikanischen Denker ist die Sozialphilosophie des Liberalismus immer noch von der Überzeugung bestimmt, daß die gesellschaftlichen Beziehungen einen durch und durch antipaternalistischen und antigemeinschaftlichen Geist atmen sollten. Aus diesem Grunde verberge sich hinter seiner Sozialdoktrin eine Geisteshaltung, die mit der konservativen inkommensurabel sei. „The liberal conception of society ignores the organic nature of community and the fact that individuals require one another of necessity. Individuals do not create society but are born into it. Man is by nature a social being who requires the fellowship and services of other men. Man is born into society, and that fact alone imposes obligations upon him" 5 0

Wie John H. Hallo well, so ist es auch Russell Kirk darum zu tun, seine konservative Gesellschafts- und Politiklehre auf eine gemeinschaftsorientierte sozialphilosophische Basis zu stellen. Auch er sieht im Liberalismus das pure Kontraktden47

Jacques Maritain, Gesellschaftsordnung und Freiheit. Aus dem Französischen, Luzern 1936, S. 82. Auch Alfred Müller-Armack zufolge ist im Kapitalismus alles auf den „wirtschaftlichen Nutzen des Einzelnen oder Massen" ausgerichtet (Über die Macht des Glaubens in der Geschichte, S. 145 f.). Seine Wertvorstellungen seien immer „vulgärer und primitiver" geworden (ebd., S. 145). 48 John H. Hallowell, The Moral Foundations of Democracy, S. 84. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Der Liberalismus in der Identitätskrise, S. 240 ff. 49 Ebd., S. 87. Ebd., S.

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ken am Werke, das Bemühen, die Sozietät more geometrico zu konstruieren und zu interpretieren. Das Gebäude der liberalen Gesellschaftsnotion ruhe so sehr auf dem Vertragswillen der einzelnen Bürger, daß darüber alle gemeinschaftlichen Bestimmungsmomente der Illegitimität anheimfallen. Sie werden als historisch überwunden und als dysfunktional erklärt. Diesem rationalen Konstruktionsfuror werden alle Gefühlswerte leichtfertig und wirklichkeitswidrig geopfert. „Liberais, from the days of Bentham and James Mill down to our time, never have much concerned themselves with the Heart; I do not say that liberals do not have hearts. I am sure they have; but they have long been inclined to suspect that other people have not hearts. I mean by this that the liberal has lived in the belief that a sweet reasonabless can solve the problems of society and alleviate all private troubles; think your perplexity through, and you will see the light; leave emotion out of the question if you possibly can

Kirk weist dem Liberalismus seine einseitig rationalitätsorientierte Analyse der Gesellschaft nicht zuletzt mit dem Hinweis nach, daß seine rein verstandeszentrierte Grundeinstellung den Fakten der Realität widerspricht. Sein Denksystem werde ständig von der Wirklichkeit desavouiert. Er versteife sich auf eine vernunftbezogene Gesellschaftslehre, die allen in der Realität anzutreffenden Gemeinschaftswerten Hohn spricht. Während im Liberalismus der Zenit einer verstandesorientierten Gesellschaftsbetrachtung erreicht werde, habe sich der Konservatismus immer geweigert, diesen Dogmatismus zu akzeptieren. Gesellschaft und Staat stünden bei ihm im Zeichen einer Werthaltung, die der Ratio die Werte des Herzens, der kalten Gesellschaft die menschliche Gemeinschaft entgegensetze. Der Konservative orientierte sich an sozialen Leitmotiven, für die der liberale Rationalist bar jeglichen Verständnisses ist. „Those things which console and cherish us, after all, are products of the heart, not of the mind: love, community, and continuity, and a sense of abiding truth" 52 .

Dabei zeige ein vorurteilsloser Blick auf die heutige Gesellschaft, daß sich in ihr die uralte Sehnsucht nach dem Gemeinschaftsdenken und -handeln Bahn breche. In immer stärkerem Maße würden bei der Gesellschaftsanalyse die gemeinschaftsorientierten Aspekte in den Mittelpunkt gerückt. „How many of us really would want to be John Stuart Mill? Who would rather be Scott, or Hawthorne or Disraeli, or even Byron" 53 .

Dabei wird von vielen Autoren nicht nur das fehlende Gemeinschaftsmoment der liberalen Gesellschaft angeprangert. Ihnen ist sie auch zu sehr auf einen antireligiösen Ton gestimmt. In der Vehemenz, in der viele ihrer Apologeten die innerweltliche Sinndimension gegen die übernatürliche ausspielen, erblickt Karl Mann51

Russell Kirk, A Programm for Conservatives. Chicago 1954, S. 79. 52 Ebd., S. 81. 53 Ebd.

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heim eines der Grundübel der modernen Sozietät. Wolle man sinnvolle Erkenntnislinien in das Dickicht ihrer Probleme legen, so müsse erkannt sein, daß der Verlust der religiösen Dimension jedes Gemeinwesen i m Mark erschüttere. „Wenn diese von allen anerkannte Sinngebung verlorengeht, geht das soziale Leben eine Zeitlang wie gewohnt weiter, weil die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen, die sich aus der Arbeitsteilung ergeben, es den Menschen nicht gestatten, einfach auseinanderzulaufen. Sobald aber eine größere Krise entsteht, wird offenbar, daß die gegenseitigen Verpflichtungen nur Gültigkeit besitzen, wenn sie im Gewissen verankert sind; und das Gewissen ist zwar die persönlichste Erfahrung des Menschen, es kann für das menschliche Zusammenleben aber nur als Richtschnur dienen, wenn die moralische und religiöse Deutung gemeinsam erfahrener Vorgänge von den Mitgliedern der Gemeinschaft auch anerkannt wird und in ihr Verhalten eingeht" 54 . Die Geschichte habe augenfällig unter Beweis gestellt, daß der Verlust der religiösen Prägekraft in jeder Gesellschaft eine weltanschauliche Lücke hinterläßt, die dann von desintegrierenden Ideologien und Bewegungen ausgefüllt werde. Dies habe sich in Europa am Beginn der Neuzeit überdeutlich gezeigt. „Bis zur Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft war die Religion eine lebendige Kraft, weil sie nicht nur einen Glauben, sondern auch eine soziale Kontrolle darstellte, die auf die Verhaltensmuster und die Vorstellungen vom rechten Leben (kursiv von mir, J. Β. M.) gestaltend einwirkte. Als dieser Einfluß der Religion nachließ und Staat, Industrie und andere Lebensbereiche sich selbst überlassen wurden, verlor die Religion ihre Wirkung, und im sozialen Leben trat nichts an ihre Stelle. Diesen Leerraum versuchten zunächst der Nationalismus und später der Sozialismus auszufüllen" 55. A u f die Bedeutung der Religion für die Kontingenzbewältigung des modernen Lebens und die Stabilisierung seiner Institutionen weist auch Helmut Dubiel, ein führender Repräsentant der Frankfurter Schule hin. Der aktuellen Reflexion über die Probleme unserer politischen Kultur fügt er das Argument hinzu, daß allein die Religion imstande ist, dem politischen Gemeinwesen einen vernünftigen und humanen Aktionsrahmen zu vermitteln. Die ostentative Verachtung vieler aufgeklärter Geister gegenüber dem Bereich des Übernatürlichen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß allein die Religion imstande ist, unsere letzten Endes dem abendländischen Wertekanon sich verdankende politische Kultur auf Dauer zu stellen. „Wenn wir heute von der späten Moderne sprechen, dann eben in dem Sinne, daß jene traditionalen und sozialmoralischen Polster, auf deren Basis Modernisierung überhaupt hatte beginnen können, heute durchgescheuert und verbraucht sind ... Wer... nicht aufhört, nach religiös inspirierten Traditionen zu suchen, die der Politik ihre Grenzen vorschreiben und einen substantiellen Gemeinsinn nähren sollen, verfehlt systematisch die Eigenart moderner demokratischer Systeme"56.

54 Karl Mannheim, Freiheit und geplante Demokratie. Aus dem Englischen. Köln/Opladen 1970, S. 25. Ebd., S. 26.

VI. Liberal-konservative Politikgestaltung als Gegenwartsaufgabe Daß die liberale Demokratie aus ihren eigenen, innerweltlich geprägten Grundlagen heraus kaum lebensfähig ist, diese Ansicht wird auch von Reinhold Niebuhr geteilt. Auch ihm zufolge verzichtet man auf einen wichtigen heuristischen Zugang zu dieser grundlegenden Problematik, wenn man die religiöse Reflexionsdimension unberücksichtigt läßt. „Wenn die Demokratie weiterbestehen soll, so muß sie eine angemessenere kulturelle Grundlage finden als die Philosophie, die den Aufbau der bürgerlichen Welt beseelte"57. Erst auf diese Weise gewinnt die Forderung nach persönlicher Freiheit jene überaus notwendige Tiefendimension, die durch den von der Aufklärung und dem Liberalismus inaugurierten Säkularisierungsprozesses negiert wurde. In diesem Sinne schreibt John H. Hallowell: „Only by recovering the theological foundations upon which the belief in natural law rests, can we recover the idea of the rule of law which liberalism, because of its thoroughgoing secularism, sought inadequately to perpetuate" 58. Derartige Auffassungen wurden schon von konservativen Autoren des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht. So hat Franz von Baader darauf hingewiesen, daß eine Ordnung, deren konstitutives Prinzip der Wettbewerb ist, ohne den Rekurs auf die christliche Religion in Gefahr gerate, der Anarchie anheimzufallen. Indem sich das liberale System dem christlichen Orientierungsmuster verweigere, zerstöre es auf die Dauer die Basis seiner eigenen Existenz. „Zu leugnen ist es nämlich nicht, daß die christliche Religion, indem sie die Menschen wahrhaft auch bürgerlich frei machte ... den Regierungen ihre Geschäfte bedeutend vergrößerte und komplizierter machte oder erschwerte; so wie es eben so wenig zu leugnen ist, daß die moralischen Triebfedern des Glaubens, der Liebe und des Hoffens, welche diese Religion in die Sozietät brachte, mehr als hinreichend waren, das Regierungsgeschäft andererseits in ungleich größerem Maße zu erleichtern und zu sichern. Woraus natürlich folgt, daß eben diese neueren Regierungen der Religion ungleich mehr bedürfen als die alten, und daß, falls sie wähnten, ihrer selbst nur in dem Maße, wie die heidnischen Regierungen entbehren zu können, ihr baldiger gänzlicher Umsturz unvermeidlich sein würde, weil sie nämlich ... noch mehr als die alten Regierungen als irreligiös nur grausam und hart sein könnten, indem sie gerecht sein wollten, und nur schwach und verächtlich, indem sie gut sein wollten" 59 . 56

Helmut Dubiel, Der Fundamentalismus der Moderne, in: Merkur 46 (1992), S. 759. Vgl. dazu auch Karlheinz Weißmann, Christian between Resignation and Conservative Renewal, in: How the Left Turned their Defeat into Victory. Conservative Points of View, ed. by Heimo Schwilk. München 1995, S. 25 ff. 57

Reinhold Niebuhr, Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Aus dem Amerikanischen. München 1947, S. 13. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller, Reinhold Niebuhrs Demokratielehre, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1994, S. 137 ff. 58 John H. Hallowell, The Moral Foundations of Democracy, S. 83. 59 Franz von Baader, Gesammelte Schriften zur Sozietätsphilosophie, hrsg. von Franz Hoffmann. Band I. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1854, Aalen 1963, S. 120 (Sämtliche Werke Band V).

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Bevor man sich über den Verlust des religiösen Sinnes in der modernen Gesellschaft in Jermiaden ergeht, sollte man Gertrude Himmelfarb zufolge keineswegs die Hoffnung auf eine kulturelle Wende aufgeben. Die Geschichte der Neuzeit habe zu oft unter augenfälligen Beweis gestellt, daß die Feinde der Religion auf die Dauer kaum siegreich sein werden. So sei es keineswegs ausgemacht, daß der soziale und politische Prozeß der Zukunft unter einem areligiösen Stern stehen werde. „It is often said that there is in human beings an irrepressible need for spiritual and moral sustenance. Just as England experienced a resurgence of religion when it seemed most unlikely (the rise of Puritanism in the Aftermath of the Renaissance, or of Wesleyanism in the age of deism), so there emerged, at the very height of the Enlightenment, the movement for ,moral reformation'. Today, confronted with an increasingly de-moralized society, we may be ready for a new reformation, which will restore not so much Victorian values as a more abiding sense of moral and civic virtues" 60 .

Der Aufweis der gravierenden Strukturprobleme der modernen Demokratie sollte allerdings nicht zu dem Fehlschluß führen, daß allein eine Rückkehr zu den Ordnungsvorstellungen der theokratischen Konterrevolutionäre des 19. Jahrhunderts die einzig mögliche Abhilfe verspricht. Letzten Endes summieren sich die Einwände gegen sie zu einer ausgesprochen demotivierenden Bilanz. Selbst ein so konservativer Katholik wie Jacques Maritain hat vor derlei utopischen Versuchungen gewarnt. Jeglicher Versuch, eine vormoderne Theokratie zu etablieren, müsse am ausgeprägten Pluralismus der heutigen politischen Gemeinwesen scheitern. In diesem Zusammenhang weist er auf die religiösen Differenzen hin, die viele Staaten der Gegenwart charakterisieren. Es könne deshalb kaum sinnvoll sein, wenn dem „Irrtum des Liberalismus ein konträrer Irrtum entgegengesetzt und ... eine kirchliche Theokratie des menschlichen Kollektivs gegenüber oder an die Seite gestellt wird 4 ' 61 . Diejenigen Konservativen, die für eine autoritäre Ordnung plädieren, sollten ihren hochgestellten Richterstuhl schleunigst verlassen und in den niederen Zeugenstand des common sense wechseln. Auf diese Weise kämen sie zu der Einsicht, daß sich nicht nur die liberale Ordnung, sondern auch die illiberale vor gravierende Problemkomplexe gestellt sieht. Mit den dichotomisch geratenen Deutungsmustern aus dem Fundus der theokratischen Konterrevolution einerseits und der Konservativen Revolution andererseits gerät diese Einsicht allerdings allzuleicht aus dem Blick. So wird beispielsweise mit dem Vorschlag, das liberale Parteiwesen durch eine korporativistische Ordnung zu ersetzen, jener Punkt getroffen, an dem sich das Prinzip der Realpolitik ins Utopische verflüchtigt. Die Verwirklichung einer berufsständischen Politikordnung trüge kaum dazu bei, die Probleme der westlichen Gemeinwesen entscheidend zu verringern. 60

Gertrude Himmelfarb, The De-Moralization of Society. New York 1995, S. 257. Jacques Maritain, Gesellschaftsordnung und Freiheit, S. 50. Dabei gehört Maritain keineswegs zu den modernistischen Katholiken. Vgl. dazu seine Abhandlung: Der Bauer von der Garonne. Ein alter Laie macht sich Gedanken. Aus dem Französischen. München 1969. 61

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Auch wenn die Protagonisten einer autoritären Ordnung gegen den Verbandspluralismus der liberalen Politie zu Felde ziehen, übersehen sie geflissentlich, daß es in dem von ihnen propagierten Staat keineswegs gänzlich homogen zugehen kann und wird. Auch wenn ihr politisches Credo in der Überzeugung aufgeht, daß das liberale Gemeinwesen an einem Übermaß an pluralistischen Bestimmungsmomenten leidet, so werden sie kaum umhinkommen, auch in ihrem Staat unterschiedliche Denk- und Machtgruppen tolerieren zu müssen. Sie negieren ganz einfach, daß sich hinter dem autoritären Kolorit ihrer Staatsordnung eine Vielzahl von Interessen und Einstellungen verbirgt. Was die Wirtschaftspolitik anlangt, so wird es kaum möglich sein, alle ihre Anhänger entweder auf den Keynesianismus oder auf die „Chicago School" zu verpflichten. Wenn sich ein autoritärer Staat nach dem chilenischen Pinochet-Modell auf die Verbindung von autoritärer Staatsordnung und libertärem Wirtschaftssystem verpflichtet, wird er notwendigerweise die Kritik derjenigen ernten, die der Intervention in das System der Bedürfnisse zuneigen. Dasselbe gilt nicht zuletzt auch für all diejenigen, die im Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus dem Ideal des geschlossenen Handelsstaates im Sinne von Johann Gottlieb Fichte 62 zuneigen. Auch im Hinblick auf die Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat wird es kaum zu einer einheitlichen Auffassung kommen können. Die einen plädieren für einen klerikalen Staat im Sinne des Konterrevolutionärs Joseph de Maistre, andere wiederum treten dafür ein, ihrem autoritären Gemeinwesen ein atheistisches Vorzeichen zu geben. Die Parteigänger der „Nouvelle Droite" 63 Frankreichs würden sich kaum mit einem Staatswesen abfinden, das den Zielvorstellungen der theokratischen Konterrevolution entspricht. In diesem Zusammenhang muß auch bedacht werden, daß es durchaus verschiedene Ausprägungen des theokratischen Ordnungsentwurfes gibt. In dieser Denkfamilie ist man sich keineswegs darüber einig, welcher Theokratie man das Wort reden soll. Es gibt nicht nur katholische, sondern auch protestantische Konterrevolutionäre. Deshalb wird in jeder Theokratie der Religionsfreiheit der Kampf angesagt. Darauf verweist Gustav Kafka: „Die Regierung eines theokratischen Staates, der seine Gesetze, insbesondere seine Dogmen und Kultvorschriften auf eine unmittelbare oder mittelbare göttliche Offenbarung zurückführt, wird unter den Untertanen keine Religion dulden, deren Dogmen und Kultvorschriften der geoffenbarten göttlichen Wahrheit widerstreben" 64.

Dabei sollten die illiberalen Konservativen auch bedenken, daß ihre autoritäre Ordnung nur um den Preis zu haben ist, der auch ihre eigenen Rechte einschränkt. 62 Johann Gottlieb Fichte, Der geschlossene Handelsstaat. Neudruck nach dem Original des Jahres 1800. Jena 1920; vgl. dazu Johann Baptist Müller, Liberaler und autoritärer Konservatismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 128 f. 63 Vgl. dazu Johann Baptist Müller, Konvergenz und Distanz zwischen New Conservatism und Nouvelle Droite, in: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 69 ff. 64 Gustav Kafka, Freiheit und Anarchie. München 1949, S. 65.

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Schließlich muß nicht zuletzt der Konservative auf der Grundlage seines tief eingewurzelten Pessimismus die Entscheidungen seiner politischen Führung zu kritisieren imstande sein. Bei ihrem engagierten Kampf gegen die liberale Politikordnung begehen die illiberalen Konservativen auch den gravierenden Fehler, zuwenig zwischen dem politischen Liberalismus einerseits und den theologischen, kulturellen und ökonomischen Varianten dieses Ideenkreises andererseits zu unterscheiden. So gibt es beispielsweise kein Junktim zwischen der Ablehnung des theologischen und des politischen Liberalismus. Man kann durchaus die Theologie Adolf von Harnacks vehement zurückweisen und ein treuer Gefolgsmann der freiheitlichen Politikordnung bleiben. Bei seinen vehementen Angriffen auf diese Ausprägung der Theologie geriet beispielsweise John Henry Newman niemals in die Gefahr, das politische Westminster-System in Frage zu stellen65. In gleicher Weise läßt sich auch die Kampfansage an die moderne Kulturkonzeption mit den Ordnungsvorstellungen des politischen Liberalismus in Übereinstimmung bringen. Als Daniel Bell Marcel Proust, James Joyce und Ezra Pound 66 kritisierte, gab er keineswegs seine freiheitliche Politikauffassung preis. Mit seiner Kritik an der literarischen Avantgarde avancierte er keineswegs zum Verfassungsfeind seines Landes. In gleicher Weise läßt sich auch eine betont ordnungswirtschaftliche Zielvorstellung mit dem Bekenntnis zum liberalen Staat verbinden. Die geharnischte Kritik am Laissez-faireSystem schließt die Ablehnung der freiheitlichen Politie keineswegs aus. Der theoretische Irrtum der „Chicago School" besteht eben gerade darin, die reine Marktwirtschaft und das liberale Politiksystem in einen zu engen Zusammenhang gebracht zu haben67. Begründete Zweifel sind auch angebracht, wenn Winfried Martini behauptet, daß man allein mit einem autoritären Staat im Stile von Salazar den roten und den braunen Totalitarismus erfolgreich bekämpfen könne 68 . Dagegen ist zu sagen, daß eine auf konservativen Grundlagen basierende Demokratie dazu weit besser imstande ist. Dieser Tatsache waren sich all diejenigen liberalen Konservativen bewußt, die sowohl den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus attackierten. Aus diesem Grunde ist es kaum möglich, die politischen Positionen des liberalen Katholizismus mit denjenigen des illiberalen zu vermitteln. Die Botschaften und Imperative der beiden Denkfamilien schließen sich gegenseitig aus. Wenn Jacques 65 Vgl. dazu John Henry Cardinal Newman, Geschichte meiner religiösen Überzeugungen. „Apologia pro vita sua". Aus dem Englischen, Freiburg o. J. 66 Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main 1976, S. 131 und 159. 67 Vgl. dazu Bruno Seidel, Industrialismus und Kapitalismus. Sozialethische und institutionelle Wandlungen einer Wirtschaftsform. Meisenheim/Glan 1955, S. 267 ff. 68 Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens. Stuttgart 1954, S. 326 ff.

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Maritain trotzdem dazu auffordert, „die Visionen eines Joseph de Maistre und eines Lamennais ... zu versöhnen" 69, dann hat er ganz einfach übersehen, daß ein derartiges Bemühen der Quadratur des Zirkels gleichkommt. Die Spannung zwischen Tradition und Moderne wird nicht zuletzt in der liberalkonservativen Perspektive zur Bedingung, aus der sich allein ein sinnvoller Fortschritt vollziehen kann. Die dogmatische Unbekümmertheit, mit der sowohl die radikalen Reaktionäre als auch die uneingeschränkt Fortschrittsgläubigen ihre gesellschaftlichen und politischen Ordnungsvorstellungen konzipieren, müssen aus diesem Grunde nachhaltig in Frage gestellt werden. In vorbildlicher und überaus beeindruckender Weise wird bei Lord Hugh Cecil die Reflexion über den historischen Progressus aus der dogmatisch-einseitigen Verpflichtung gelöst und auf die pragmatische Ebene einer wirklichkeitsadäquaten Daseinsbewältigung zurückgeführt. Für ihn ist der höchst unfruchtbare Gegensatz zwischen nostalgischer Vergangenheitsverklärung und radikalem Zukunftsoptimismus nur zu durchbrechen, wenn einem gemäßigten Fortschritt das Wort geredet wird. Dabei müssen Progressismusbejahung und Fortschrittsskepsis in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden. Diese Aufgabe sei keineswegs leicht zu bewerkstelligen : „To harmonise progressive and conservative tendencies is a necessary and as difficult" 7 0

Dem politischen Willen, den Fortschritt zu wagen, muß jene Skepsis entgegengesetzt werden, die aus der Furcht vor dem Unbekannten erwächst. „Desire to move forward and try what is new must be harmonised with distrust of the untried and fear of the dangers that may be lurking in the unknown" 71 .

Dabei dürfe nicht übersehen werden, daß beide Einstellungen, weit davon entfernt, sich zu widersprechen, sich recht eigentlich ergänzen und bedingen. „The two sentiments of desire to advance and fear of the dangers of moving, apparently contradictory, are in fact complementary and mutually necessary" 72.

Um diese Aufgabe bewerkstelligen zu können, sei eine genuin konservative Grundeinstellung vonnöten. Weder der Reaktionär noch der Progressist seien dazu in der Lage. „Progress depends on conservatism to make it intelligent, efficient and appropriate to circumstance. Without conservatism progress may be if not destructive at least futile" 73 . 69

Jacques Maritain, Gesellschaftsordnung und Freiheit, S. 88. Lord Hugh Cecil, Conservatism. London o. J., S. 21. 7 1 Ebd., S. 13. 72 Ebd. 70

73 Ebd., S. 14. In einer ähnlichen Weise argumentierte schon Franz von Baader. Einerseits forderte er eine „gründliche Restauration" (Über den Evolutionismus, in: Gesellschaftslehre,

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In gleicher Weise sucht auch Leszek Kolakowski den Gegensatz zwischen fortschrittlicher und reaktionärer Geschichtsbetrachtung zu überbrücken. Seiner Auffassung zufolge bedürfen „die Gesellschaften ... ebenso der Tradition wie der Revolte gegen die Tradition" 74 . Die einseitige Ausrichtung auf ein Ordnungsprinzip allein zeitigt destruktive Folgen. „Eine Gesellschaft, in der die Tradition zum Kult wird, verurteilt sich zur Stagnation, eine Gesellschaft, die von der Revolte gegen die Tradition leben will, zur Vernichtung" 75. Aus diesem Grunde muß verantwortungsbewußtes politisches Handeln darauf aus sein, das progressive und das konservative Ordnungsprinzip miteinander zu versöhnen, statt sie dichotomisch auseinanderzureißen. Nur wenn diese gegensätzlichen Topoi einem sie überwölbenden Ordnungsprinzip eingefügt werden, ist die Gewähr für einen vernünftigen und humanen Fortschritt gegeben. Dabei zieht Kolakowski seine Überzeugung nicht zuletzt auch aus der geschichtliche Reflexion. „Hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir heute noch in den Höhlen leben ... Würde die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell, befänden wir uns wieder in den Höhlen" 76 .

Daß sich in einem vernünftigen und humanen Gemeinwesen die Leitvorstellungen des Fortschritts und der Beharrung einander bedingen, darauf hat schon Friedrich Gentz mit allem Nachdruck aufmerksam gemacht. „Zwei Prinzipien konstituieren die moralische und intelligible Welt. Das eine ist das des immerwährenden Fortschritts, das Andere das der notwendigen Beschränkung dieses Fortschrittes. Regierte jenes allein, so wäre nichts mehr fest und bleibend auf Erden und die ganze gesellschaftliche Existenz ein Spiel der Winde und Wellen. Regierte dieses allein, oder gewänne auch nur ein schädliches Übergewicht, so würde alles versteinern oder verfaulen. Die besten Zeiten der Welt sind immer die, wo diese beiden entgegengesetzten Prinzipien im glücklichsten Gleichgewicht stehen"77.

hrsg. von Hans Grassi, S. 210). Dieses Postulat verband er allerdings mit einer rigiden Absage an das „Verbrecherische jedes Ultraismus" (ebd., S. 205). 74 Leszek Kolakowski, Vom Sinn der Tradition, in: Merkur 23 (1969), S. 1092. 75 Ebd., S. 1085. 76 Ebd. 77 Brief von Friedrich Gentz an Johannes von Müller. Breslau, den 23. Dezember 1805, in: Friedrich Gentz in der Zeit deutscher Not 1799 - 1813, hrsg. von Hans v. Eckardt. München 1921, S. 293.

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Namenregister Acton-Dalberg, John Emerich Lord: 25, 83, 84, 141, 144, 148, 149, 150, 160, 166, 172 Adam, Armin: 15 Arendt, Hannah: 179, 180 Aristoteles: 83, 120 Aubert, Roger: 140 Auer, Johannes: 82 Augustinus: 14, 15, 16, 17, 25, 100, 125 Baader, Franz von: 141, 187, 191, 192 Bagge, Dominique: 10 Bakunin, Michail: 38 Barrés, Maurice: 179 Barth, Hans: 135 Baskin, Darryl: 27 Bates, M. Searle: 27 Bayer, Hans: 80 Bayle, Pierre: 40, 45 Becker, Carl L.:51,52 Bell, Daniel: 190 Belloc, Hilaire: 175 Benda, Julien: 178 Beneyto, José Maria: 102 Bentham, Jeremy: 63, 185 Berlin, Isaiah: 105, 124, 132, 136 Bily, Lothar: 71 Blumenberg, Hans: 52, 53 Bluntschli, Johann Caspar: 73, 74 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: 20, 22, 98 Bonald, Henri de: 110, 118, 119, 121, 122, 124 Bonald, Louis de: 102, 105, 110, 112, 114, 115, 122, 126, 128, 131, 137 Bonifaz VIII., Papst: 20 Bornkamm, Heinrich: 73 Bossuet: Jacques Bénigne: 23, 62, 83, 100, 157 Bossy, John: 31 Brandes, Georg: 142 14 J. Β. Müller

Brinton, Crane: 48, 175 Buckle, Henry Thomas: 31, 32 Burckhardt, Jacob: 7, 102, 173 Burke, Edmund: 91, 170 Bury, J. B.: 53 Busche, Jürgen: 102 Butterfield, Herbert: 10 Byron, George Gordon Lord: 185 Calvin, Johannes: 25, 86 Capitant, René: 33, 34 Carlyle, Thomas: 160 Carthill, Al.: 58 Cathrein, Victor S. J.: 67, 68 Cecil, Hugh Lord: 191 Chadwick, Owen: 50, 65, 77, 78 Cioran, E. M.: 137, 138, 139 Clarendon, Earl of: 32 Clark, J. C. D.: 96, 97 Cochran, Charles Norris: 53 Collins, Irene: 48 Comte, Auguste: 9, 40, 41, 42 Condorcet, Antoine: 47, 49, 100, 105, 107, 108, 143, 144, 175 Constant, Benjamin: 88, 89 Conzemius, Victor: 142 Cortés, Donoso: 102, 105, 106, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 121, 125, 126, 128, 129, 131, 173 Coulanges, Denis Fustel de: 13 Croce, Benedetto: 59, 163 Dahlmann, Friedrich Christoph: 30 Dawson, Christopher: 14, 27, 37, 81, 97 Deane, Η. Α.: 16 Dempf, Alois: 17, 84 Dewey, John: 180, 181 Diez del Corral, Luis: 89 Dilthey, Wilhelm: 178

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Namenregister

Disraeli, Benjamin: 185 Donne, John: 24, 25 Dru, Alexander: 101, 131 Dubiel, Helmut: 186, 187 Dürrenmatt, Peter: 175, 176 Duns Scotus, Johannes: 82 Eckhardt, Julius von: 75 Eliot, Thomas Stearns: 124, 183 Elton, Geoffrey Rudolph Lord: 11 Engels, Friedrich: 39, 40 Erdmann, Karl Dietrich: 28, 35, 88 Evola, Julius: 132 Fabri, Georg: 57 Faguet, Émile: 77, 134 Fasnacht, G. E.: 141 Fauchet, Claude: 88 Ferrerò, Guglielmo: 14 Ferry, Jules: 77 Feuerbach, Ludwig: 31, 38, 39 Fichte, Johann Gottlieb: 189 Figgis, J. Ν.: 24 Filmer, Robert: 85, 96 Fogarty, Michael P.: 141 Forster, Georg: 50 Forsthoff, Ernst: 20 Gagarin, P. J. S. J.: 128 Gebhardt, Jürgen: 8 Geiger, Theodor: 179, 180 Gentz, Friedrich: 30, 192 Gervinus, Georg Gottfried: 50 Gibbon, Edward: 173 Gladstone, William Ewart: 76, 90, 91, 92 Glucksmann, André: 133 Godechot, Jacques: 101 Gössmann, Elisabeth: 82 Goldie, Mark: 86, 87 Gooch, G. P.: 31, 33, 50, 85, 86 Grabmann, Martin: 17, 18 Gregor, VII., Papst: 21, 155 Gregor, XVI., Papst: 98 Greyerz, Kaspar von: 46 Gruber, Hermann S. J.: 42 Guénon, René: 183 Gurian, Waldemar: 73, 76, 154, 155 Gurjewitsch, Aaron: 80

Hallowell, John H.: 80, 182, 184, 187 Hantsch, Hugo: 22 Hawthorne, Nathaniel : 185 Hayek, Friedrich August von: 71, 93, 174, 175 Hayes, Carlton J. H.: 56 Hazard, Paul: 59 Hearnshaw, F. J. C.: 67 Heer, Friedrich: 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 38, 106 Heiner, Franz: 141 Herzfeld, Hans: 87 Hill, Christopher: 174 Himmelfarb, Gertrude: 141, 188 Hobbes, Thomas: 31, 32, 33, 35, 36, 38, 60, 64, 84, 103, 133 Höffner, Joseph: 20 Holbach, Baron Thiry de: 47, 48 Holmes, Stephen: 133 Homer: 95 Hooker, Richard: 23, 60 Hornig, Gottfried: 46 Hume, David: 34, 35, 63 Huyn, Hans Graf: 49 Innozenz III., Papst: 20 Irrgang, Bernhard: 48 Isensee, Josef: 58, 79, 97, 98, 99 Jacoby, Johann: 72 James I., König von England: 24 Jedin, Hubert: 140 Jefferson, Thomas: 51 Joyce, James: 190 Jürgensen, Kurt: 151 Kafka, Gustav E.: 30, 189 Kant, Immanuel: 47, 82, 106, 178 Kaufmann, Franz-Xaver: 81, 84 Kelsen, Hans: 181, 182 Ketteier, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: 79, 80 Kipling, Rudyard: 179 Kirk, Russell: 184, 185 Kißling, Johannes B.: 74 Köhler, Hans: 10, 55 Kolakowski, Leszek: 192 Koselleck, Reinhart: 32 Krings, Hermann: 82

Namenregister Kropotkin, Peter: 104 Krüger, Gerhard: 81 Kuehnelt-Leddihn, Erik von: 58, 95 Kulemann, W.: 75 Laboulaye, Edouard: 29 Lacordaire, Henri-Dominique: 140, 143, 146, 153, 156, 161, 171 Lamennais, Hugo Félicité Robert: 140, 144, 146, 147, 149, 154, 155, 159, 160, 161, 170, 171 Landauer, Gustav: 104 Langendorf, Jean-Jacques: 100, 101 Laski, Harold Joseph: 64 Lecky, William Edward Hartpole: 68 Lecomte du Noüy, Pierre: 174 LeGoff, Jacques: 82 Leo XIII., Papst: 57, 79, 98 Lobkowicz, Nikolaus: 48, 49, 55 Locke, John: 59, 60, 61, 62, 63, 64, 86, 96, 124, 184 Locker, Gottfried W.: 26 Löwenhaupt, Wilfried: 38 Loewenstein, Bedrich: 10 Löwith, Karl: 38, 52, 53 Lortz, Joseph: 20, 21, 85 Loyola, Ignatius von: 73 Lubac, Henri: 41, 42 Luther, Martin: 85, 86 Macaulay, Thomas Babington Lord: 50, 51, 52, 149 Machiavelli, Niccolo: 63 Macpherson, C. Β.: 62 Madariaga, Salvador de: 68, 69, 70 Maier, Hans: 37, 87, 135, 136 Maistre, Joseph de: 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 122, 123, 124, 128, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 143, 149, 153, 155, 157, 159, 166, 167, 168, 189, 191 Mannheim, Karl: 7, 185, 186 Maritain, Jacques: 183, 184, 188, 191 Martini, Winfried: 190 Marx, Karl: 39, 40, 60 Massing, Otwin: 41 Maurras, Charles: 124, 131, 179 14*

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Meinecke, Friedrich: 48 Meinhold, Peter: 35 Menczer, Béla: 102, 108 Mensching, Günther: 80 Michel, Ernst: 183 Miethke, Jürgen: 82 Mill, James: 185 Mill, John Stuart: 8, 9, 64, 65, 66, 88, 152, 185 Miquel, Johannes von: 75 Mises, Ludwig von: 70, 71, 93, 137, 175, 182 Molnar, Thomas: 100, 139 Mommsen, Theodor: 179 Montalembert, Charles-Forbes-René de: 108, 125, 140, 143, 144, 145, 147, 148, 150, 151, 152, 154, 157, 158, 159, 160, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 171, 172 Montesquieu, Charles Baron de: 44, 85, 115 Morris, Christopher: 83 Morus, Thomas: 153 Mosca, Gaetano: 83 Mounier, Emmanuel : 151 Müller, Adam: 30 Müller, Johann Baptist: 23, 48, 86, 139, 178, 184, 187, 189 Müller-Armack, Alfred: 9, 184 Münkler, Herfried: 33 Mussolini, Benito: 131, 132 Naumann, Friedrich: 92, 93 Nawroth, Egon Edgar: 71 Newman, John Henry Kardinal: 141, 190 Newton, Isaac: 100 Nicholls, David: 25 Niebuhr, Reinhold: 187 Nietzsche, Friedrich: 60, 102, 130 Nipperdey, Thomas: 7 Ockham, Wilhelm von: 82 Oestreich, Gerhard: 87 Osgood, Herbert L.: 26 Ostwald, Wilhelm: 179 Paine, Thomas: 175 Papenheim, Martin: 52 Parry, J. P.: 76, 90

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Namenregister

Péguy, Charles: 179 Perry, Ralph Barton: 28 Pius, X., Papst: 141 Pius, XI., Papst: 57 Piaton: 178 Plumb, J. H.: 173 Pocock, John C. Α.: 96 Pound, Ezra: 190 Pribram, Karl: 71 Priestley, Joseph: 51, 52 Proudhon, Pierre: 7, 108, 109 Proust, Marcel: 190 Quinet, Edgar: 134 Ranke, Leopold von: 84, 149 Rawidowicz, Simon: 38 Redecker, Martin: 55 Rémond, René: 132 Richter, Eugen: 72, 73 Robbins, Caroline: 62 Robertson, William: 127 Robespierre, Maximilien: 124, 134, 164 Röpke, Wilhelm: 81, 93, 94, 95 Rohden, Peter Richard: 101 Rommen, Heinrich: 63, 84, 176, 177 Rossmann, Kurt: 47 Rotteck, Karl: 30 Rousseau, Jean-Jacques: 31, 35, 36, 38, 84, 102, 164 Rüstow, Alexander: 94, 95 Ruggiero, Guido de: 70, 78 Sabine, George H.: 15, 17, 60, 84 Salazar, Antonio de Oliveira: 190 Schilling, Kurt: 15, 16, 19, 63 Schleiermacher, Friedrich: 55 Schmid, Hans Heinrich: 56 Schmitt, Carl: 123, 124, 130, 132, 133 Schneiders, Werner: 46 Schoeps, Hans-Joachim: 173 Scholl, Hans: 25 Schott, Christian Erdmann: 141 Schulin, Ernst: 88 Scott, Walter Sir: 185 Seidel, Bruno: 190 Sieyès, Emmanuel Joseph: 49, 50 Simon, Walter M.: 61

Smith, Adam: 169 Sorel, Georges: 81, 82 Spaemann, Robert: 41, 126, 131, 135, 136 Spencer, Herbert: 66, 67, 68, 88 Spinoza, Baruch: 106 Stahl, Friedrich Julius: 139 Stanka, Rudolph: 19 Starobinski, Jean: 100 Steinbüchel, Theodor: 19, 20 Steinlein, Rüdiger: 47 Stephen, Leslie: 62 Stillich, Oscar: 56 Straub, Eberhard: 21, 22 Strauss, Leo: 31,60, 62 Suarez, Franz S. J.: 84, 85 Taine, Hippolyte: 37, 38 Thomas von Aquin: 17, 18, 19, 25, 34, 63, 82, 83, 86, 93 Tischleder, Peter: 18, 19, 83 Tocqueville, Alexis de: 173 Toennies, Ferdinand: 33 Touchard, Jean: 140 Toynbee, Arnold: 80, 81 Treitschke, Heinrich von: 74, 75 Troeltsch, Ernst: 177, 178 Turgot, Anne Robert Jacques: 54 Vergil: 95 Verhülsdonk, Andreas: 155 Vierhaus, Rudolf: 95, 96, 97 Vigier, Philippe: 76 Virchow, Rudolf von : 73 Voegelin, Erich: 8, 12, 34, 43, 64 Vogel, Bernhard: 8 Vogt, Karl: 71, 72 Voltaire, François Marie: 44, 45, 48, 73, 106, 127 Weber, Max: 9, 177 Weil, Eric: 32 Weißmann, Karlheinz: 187 Welcker, Theodor: 29, 30 Widmer, Paul: 101 Williams, Basil: 29, 96 Williams, Roger: 28 Wolfinger, David S. J.: 154 Wünsch, Georg: 140 Zimmermann, Gunter: 29