Whitehead und Russell: Perspektiven, Konvergenzen, Dissonanzen 9783495995839, 9783495490266


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Table of contents :
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Siglenverzeichnis
Einleitung
I.
Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften bei Russell und Whitehead
I. Einleitung
II. Bertrand Russell: Vom Idealismus zu einer naturalisierten Erkenntnistheorie
III. Alfred North Whitehead: Vom Logizismus zur Philosophie des Organismus
IV. Vergleich und Bewertung
Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell
I. Einleitung
II. Bertrand Russell und Alfred North Whitehead als Pädagogen
III. Die gemeinsame liberale Agenda
IV. Von der Pädagogik zur philosophischen Reflexion
V. Konklusion
Imagination, Namen und Entdeckungen. Bemerkungen zu Whitehead und Russell
I. Einleitung
II. Die Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen
III. Von Whitehead zu zwei Arten der Imagination
IV. Von Russell zur Rolle wissenschaftlicher Artnamen
V. Schlussbemerkung
II.
Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead: Von der Substanz zum Subjekt, von der causa sui zur self-causation
I. Einleitung
II. Russell: Das Subjekt-Prädikat-Schema und die Ontologie der Substanz
III. Whitehead: Pluralistisches und subjektivistisches Prinzip versus spinozistischen Monismus
IV. Die Vergegenwärtigung der Philosophie Spinozas durch Russell und Whitehead und ihre Grenzen
Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden
I. Einleitung
II. Whitehead über den Niedergang der spekulativen Vernunft in der frühneuzeitlichen Wissenschaft
III. Eine fundamentale Spannung in Leibniz’ Metaphysik
IV. Russell und Whitehead über die Metaphysik der Substanz
V. Leibniz und Whitehead über die Natur von Kausalität
VI. Konklusion
Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell
I. Interne Relationen und Pluralismus: eine Inkonsistenz bei Whitehead?
II. Kritische Leitfragen
III. Differenzierung der kritischen Leitfragen
III.1 Was heißt ›interne Relationen‹?
III.1.1 Moore contra Russell in Sachen Relationen
III.1.2 ›Indirekt‹ und ›direkt konstitutive‹ interne Relationen
III.2 Was heißt Monismus?
III.2.1 Russells Verständnis von ›Monismus‹
III.2.2 ›Priority Monism‹, interne und externe Relationen
IV. Zwischenfazit
V. Interne Relationen und Pluralismus: keine Inkonsistenz bei Whitehead?
V.1 Differenzierung von Entitäten und Relationen
V.2 Relationen zwischen Geschehnissen und Objekten
VI. Fazit
Whitehead und Russell zur Philosophie der Materie
I. Einleitung
II. Revolte zum Pluralismus
III. Die Ontologie der Relationen
IV. Die raue und die sanfte Welt
V. Der Einfluss der modernen Physik auf Ontologie und Wahrnehmung
VI. Ereignisse als Partikularien
VII. Schluss
III.
Drachenlogik. Zur Konstruktion der Materie bei Whitehead und Russell
I. Einleitung
II. Die thematische Ausrichtung
III. Die Konstruktion
IV. Neuere Implikationen
V. Ausblick
Russells und Whiteheads Logizismus
I. Einleitung
II. Hecks Diagnose
III. Russells epistemologischer Fundamentalismus auf den Kopf gestellt: Logizismus und Arithmetisierung
IV. Reelle Zahlen in den Principia Mathematica
V. Geometrie in den Principia Mathematica
VI. Logizismen – Neue und Alte
VII. Konklusion
Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik? Die Principia Mathematica als Sackgasse und Brücke
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Personenindex
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Whitehead und Russell: Perspektiven, Konvergenzen, Dissonanzen
 9783495995839, 9783495490266

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8

Whitehead Studien | Whitehead Studies

Christoph Kann | Dennis Sölch [Hrsg.]

Whitehead und Russell Perspektiven, Konvergenzen, Dissonanzen

https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Whitehead Studien | Whitehead Studies Herausgegeben von Godehard Brüntrup (München) Christoph Kann (Düsseldorf) Melanie Sehgal (Wuppertal) Band 8

https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Christoph Kann | Dennis Sölch [Hrsg.]

Whitehead und Russell Perspektiven, Konvergenzen, Dissonanzen

https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49026-6 (Print) ISBN 978-3-495-99583-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Kann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Andreas Woyke Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften bei Russell und Whitehead . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Dennis Sölch Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Jan G. Michel Imagination, Namen und Entdeckungen. Bemerkungen zu Whitehead und Russell . . . . . . . . . .

109

II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Roland Braun Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead: Von der Substanz zum Subjekt, von der causa sui zur self-causation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Pierfrancesco Basile Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

5 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Inhaltsverzeichnis

Anna-Sophie Heinemann Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

Leemon B. McHenry Whitehead und Russell zur Philosophie der Materie . . . .

237

III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Rainer E. Zimmermann Drachenlogik. Zur Konstruktion der Materie bei Whitehead und Russell . .

265

Sébastien Gandon Russells und Whiteheads Logizismus . . . . . . . . . . . .

287

Manuel Bremer Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik? Die Principia Mathematica als Sackgasse und Brücke . . . .

319

Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

6 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Siglenverzeichnis

Die Schriften von Alfred North Whitehead werden nach den unten stehenden Siglen im Fließtext zitiert. Die jeweils verwendeten Ausga­ ben werden in den Bibliographien der jeweiligen Beiträge gesondert aufgeführt. Sofern in den Beiträgen sowohl auf die deutsche als auch auf die englische Ausgabe verwiesen wird, steht jeweils zuerst die Seitenzahl der englischen und dann, durch Schrägstrich abgetrennt, der deutschen Ausgabe. AE

The Aims of Education and Other Essays / Die Ziele von Erzie­ hung und Bildung und andere Essays

AI

Adventures of Ideas / Abenteuer der Ideen

APG

The Axioms of Projective Geometry

CN

The Concept of Nature / Der Begriff der Natur

ESP

Essays in Science and Philosophy

IM

An Introduction to Mathematics / Eine Einführung in die Mathe­ matik

FR

The Function of Reason / Die Funktion der Vernunft

MCMW On Mathematical Concepts of the Material World MT

Modes of Thought / Denkweisen

OT

The Organisation of Thought, Educational and Scientific

PhM

Philosophie und Mathematik

PM

Principia Mathematica

PNK

An Enquiry into the Principles of Natural Knowledge

PoR

The Principle of Relativity, with Applications to Physical Science

PR

Process and Reality. An Essays in Cosmology / Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie

RM

Religion in the Making / Wie entsteht Religion?

S

Symbolism. Its Meaning and Effect / Kulturelle Symbolisierung

7 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

SMW

Science and the Modern World / Wissenschaft und moderne Welt

TSM

Symposium: Time, Space, and Material: Are They, and if so in What Sense, the Ultimate Data of Science?

UA

A Treatise on Universal Algebra, with Applications

8 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Christoph Kann

Einleitung

Alfred North Whitehead und Bertrand Russell werden nicht selten in einem Atemzug genannt und stehen uns doch als ganz unterschied­ liche Repräsentanten der neueren Philosophiegeschichte vor Augen. Russell, der neben seinen Forschungsinteressen in der mathemati­ schen Logik sowie der Wissenschaftstheorie regelmäßig brisante kulturelle, politische und pädagogische Themen aufgegriffen und sich in entschiedener Weise zu ihnen positioniert hat, zählt zu den bekanntesten westlichen Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Whitehead, ebenfalls lange konzentriert auf mathematische Logik und Wissenschaftstheorie, gilt als feste Größe vor allem unter Spe­ zialisten für kryptische Metaphysik in metaphysikskeptischer Zeit. Angesichts des immensen kommerziellen Erfolgs insbesondere von Russells populärphilosophischen Schriften dürfte es kaum verwun­ dern, dass Whitehead den größten Teil der Rezeptionsgeschichte im Schatten seines langjährigen Freundes und Kollegen verbrachte. Doch gilt für die philosophisch-wissenschaftlichen Hauptwerke bei­ der, dass sie heute kaum als allgemein bekannt oder gar en vogue anzusehen sind. Das Interesse der Fachwelt zeigt sich oft in bilan­ zierender Rückschau befangen, beschränkt sich immer wieder auf einzelne wohlbekannte Topoi, bewegt sich tendenziell auf ausgetrete­ nen Pfaden bis hin zu unkritischer Wiederholung. Michael Hampe schreibt Whitehead fünfzig Jahre nach dessen Tod eine immerhin »wichtige«, aber eben auch »bisher übersehene«1 Rolle zu, Thomas Mormann konstatiert Russells »relative Geringschätzung […] in wei­ ten Teilen der deutschsprachigen Philosophie«2. Einiges spricht dafür, Whitehead und Russell neu in den Blick zu rücken, sei es aus syste­ matischem Interesse oder dem einer philosophiehistorischen Bilan­ zierung. 1 2

Hampe (1998), S. 181. Mormann (2007), S. 165.

9 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Christoph Kann

Vor mittlerweile fast einhundert Jahren erschien mit Science and the Modern World (1925) eine der Hauptschriften Whiteheads, deren Titel zugleich als integrale Überschrift wesentlicher Werke Russells fungieren könnte. Beide Denker verbindet eine deutliche Aufge­ schlossenheit für Entwicklungen der Naturwissenschaften,3 ohne dass sie dabei in einen Szientismus verfallen oder die von den Natur­ wissenschaften ausgehende Tendenz zur Spezialisierung gutheißen würden. Dem von Whitehead wiederholt eingeforderten Merkmal wissenschaftsorientierten Philosophierens über Hypothesenbildung mit dem Ziel einer »asymptotischen Annäherung an die Wahrheit« (FR, 53/46) entspricht Russells Forderung »sukzessiver Annäherun­ gen an die Wahrheit« als zentraler »Grundlage wissenschaftlicher Errungenschaften«4. Entsprechend ausgeprägt ist jeweils die Gewich­ tung des Innovativen, Schöpferischen: Russell hebt die Bedeutung von Kreativität und Lebensimpuls in unterschiedlichsten Bereichen des politischen und privaten Alltags hervor. Bei Whitehead, der mit Russell die Betonung des Faktors der schöpferischen Energie in Erzie­ hung und Wissenschaft teilt,5 wird selbiges Motiv, u. a. in Anknüp­ fung an Henri Bergson, metaphysisch fundiert. Damit sind philoso­ phiegeschichtliche Interessen angedeutet, die beide Denker in allerdings unterschiedlicher Ausprägung bzw. mit unterschiedlicher Stoßrichtung zu erkennen geben. Russells Philosophie des Abendlan­ des6 wurde zum Verkaufsschlager, hat aber bei vielen akademischen, auf Tugenden wie Vollständigkeit, Ausgewogenheit und Präzision bedachten Philosophiehistorikern keine gute Presse. Whiteheads Plä­ doyer für die Charakterisierung der europäischen Philosophiege­ schichte als »Reihe von Fußnoten zu Platon« (PR, 39/91) zählt zu den beliebtesten historiographischen Zitaten überhaupt, wurde aber häu­ figer zum Gegenstand Bonmot-artiger Wiederholungen als zum

Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Woyke in diesem Band. Russell (1952), S. 113. 5 Vgl. dazu auch den Beitrag von Dennis Sölch in diesem Band. Whitehead betrachtet »phantasievolle Verallgemeinerung« (PR, 4 ff./34 ff.) als zentrale Etappe wissen­ schaftlicher Forschung, woran der Beitrag von Jan G. Michel unter der Bezeichnung »imaginative Generalisierung« anknüpft. 6 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A History of Western Philosophy« 1945 in London. 3

4

10 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Einleitung

Gegenstand handfester philosophiegeschichtlicher oder methodolo­ gischer Reflexion.7 Recht unterschiedlich ist das Verhältnis beider Denker zu der insbesondere durch Gottlob Frege und George Edward Moore maß­ geblich geprägten analytischen Philosophie. Für deren sprachlichontologischen Purismus gilt Russell mit seiner durchgängigen Ori­ entierung am mathematischen Paradigma sowie mit seinem durch Ludwig Wittgenstein angeregten logischen Atomismus, nach dem die Welt aus letzten, voneinander unabhängigen logischen Elementen besteht,8 als einer der wichtigsten Protagonisten. Ebenso einschlägig ist seine als klassisch geltende Theorie kennzeichnender Ausdrücke (denoting phrases), die als Instrument der referentiellen Klärung vermeintlich leerlaufender Kennzeichnungen wie ›der gegenwärtige König von Frankreich‹ über das Transparentmachen ihrer logischen Tiefenstruktur vor allem für Wittgenstein richtungsweisend wurde.9 Allerdings erweist sich Russell bei zahlreichen, oft mit leichter Hand bearbeiteten Themen und Interessen in unterschiedlichsten alltags­ bezogenen Kontexten, mit seinem Hang zu Stileffekt und Popula­ risierung, nicht immer und überall als Inbegriff des analytischen Philosophen – eher erscheint er als Impulsgeber und mitunter aus der Art schlagender Repräsentant. Ganz anders das Bild Whiteheads, der gerne mit Charakteristika des Gegenübers der analytisch dominierten angelsächsischen Philosophie, der sog. kontinentalen Philosophie einschließlich der ihr nachgesagten spekulativen Intensität und Ver­ stiegenheit, assoziiert wird. Er steht für einen eigenen metaphysi­ schen Systementwurf, der nicht zuletzt aufgrund seiner eigenwilligen Terminologie wie ein esoterischer Fremdkörper in der Philosophie des 20. Jahrhunderts wirkt. Whiteheads gehaltvolle, analytisch zu nennende Kritik an traditioneller Metaphysik hätte sich mit der viel beachteten Metaphysikkritik im Zuge des logischen Empirismus der Für eine kritische Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Deutungen von Whiteheads sog. Fußnotenthese vgl. Kann (2001), S. 25–36. 8 Vgl. Russell (1979). »Ich nenne meine Theorie logischen Atomismus,« betont Rus­ sell (ibid., S. 179), »weil die Atome, zu denen ich als den letzten unzerlegbaren Bestandteilen bei der Analyse kommen möchte, nicht physikalische, sondern logische Atome sind.« 9 Vgl. Russell (1971). Wittgenstein (1984), S. 26, erläutert in seinem Tractatus 4.0031 die Programmatik analytischer Philosophie als ›Sprachkritik‹ wie folgt: »Russells Ver­ dienst ist es, gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß.« 7

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Christoph Kann

1930er und 1940er Jahre sinnvoll verbinden lassen, kam jedoch im Dickicht des aufwendigen Neuansatzes einer ›philosophischen Kos­ mologie‹ nicht recht zur Geltung. Dass Whitehead sich andererseits mit der auch durch ihn ausgiebig betriebenen mathematischen Logik, der subtilen methodologischen Fundierung seiner philosophischen Kosmologie, seiner dezidiert wissenschaftsorientierten Metaphysik und Metaphysikkritik und seiner an Wittgenstein erinnernden Pro­ blematisierung des unbedenklichen Vertrauens auf die Leistungsfä­ higkeit unserer Sprache zumindest partiell analytischen Interessen und Motiven annähert, wird nicht von allen Interpreten erkannt oder anerkannt.10 Ihnen entgeht damit Whiteheads Warnung vor unkritischer Akzeptanz der Subjekt-Prädikat-Struktur von Aussagen als wesentliche Prämisse der Prozessmetaphysik.11 Seine ausführli­ che, explizit an Russell anknüpfende Analyse der »Struktur von Satzaussagen« (CN, 6/8) mit ihrer Unterscheidung von Namen als »demonstrative oder deskriptive Ausdrücke« (CN, 12/13) im Kontext der Verhältnisbestimmung von Natur und Denken findet kaum Beachtung. Darstellungen der analytischen Ontologie lassen mitunter auch dann, wenn sie Prozess- oder Ereignisontologien sowie Probleme des omnipräsenten Substanz-Eigenschafts-Schemas aus­ führlich thematisieren, Whiteheads einschlägigen Ansatz unberück­ sichtigt.12 Ausnahmen bestätigen die Regel etwa in der Darstellung des sog. neutralen Monismus, wonach die Welt aus etwas gegenüber Geist und Materie Neutralem, Ursprünglicherem besteht und dessen Genese Albert Newen und Eike von Savigny treffend skizzieren: In Anlehnung an Whiteheads Prozeßmetaphysik glaubte Russell, daß die Grundelemente der Welt Vorgänge und nicht Dinge sind, und gemäß dem neutralen Monismus lassen sich aus diesen Grundelemen­ ten sowohl die physikalischen als auch die geistigen Phänomene kon­ struieren.13 10 Ayer (1971) lässt Whitehead selbst im Kontext der »philosophy of mathematics« (ibid., S. 17–27) ebenso wie Horstmann (1984) in seinem Werk zur Ontologie von Relationen völlig unerwähnt. Hampe (1998), S. 25, separiert Whitehead ausdrücklich von den Anliegen der analytischen Philosophie; gerade hier zeige sich der »schärfste Kontrast« zu Russell. 11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Roland Braun in diesem Band. 12 So etwa Runggaldier; Kanzian (1998). 13 Newen; von Savigny (1996), S. 71. Zu Whiteheads Einfluss auf Russells neutralen Monismus vgl. auch die Hinweise von Tully (2003), S. 357 und S. 363. Zu Russells Philosophie vor dem Hintergrund monistischer und pluralistischer Ontologien vgl.

12 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Einleitung

Tatsächlich ist Whiteheads Ansatz, Probleme des Leib-Seele-Dua­ lismus durch seine bipolaren, mit einem physischen und einem psychischen (bzw. begrifflichen oder mentalen) Pol ausgestatteten wirklichen Einzelwesen oder Ereignisse (actual entities) zu lösen, als Variante des neutralen Monismus zu begreifen. Die Frage nach Whiteheads und Russells Verhältnis zur analyti­ schen Philosophie oder Ontologie verweist darauf, dass der Begriff des Analytischen seinerseits kritischen Rückfragen ausgesetzt ist. Schon früh wirft Stephan Körner den analytischen Philosophen nicht ohne Süffisanz vor, »daß vergleichsweise wenige von ihnen ihre analytischen Fähigkeiten dem Begriff der Analyse selbst zugewandt haben«14. Die von Russell vertretene sog. konstruktive Analyse im Sinne der ersetzenden Paraphrase einer Aussage durch eine äquiva­ lente Aussage, deren logisch problematische Ausdrücke eliminiert werden, gilt keinesfalls als alternativlos. Akzeptiert man die Stoßrich­ tung des Analytikers Peter F. Strawson, dass die etablierte Form der Einzelbegriffsanalyse durch das »Modell eines kunstvollen Netzes« abgelöst werden sollte, sodass »jeder Begriff aus philosophischer Sicht nur verstehbar wird, wenn man seine Verknüpfung mit den anderen Begriffen versteht, seinen Platz innerhalb des Systems«15, dann entspricht dies den Intentionen Whiteheads, der mit seinem Spekulationskriterium der Kohärenz gehaltvolle metaphysische Sys­ tementwürfe von der gegenseitigen Verbundenheit bzw. ›Relevanz‹ der involvierten Termini abhängig macht. Insofern Strawson seinen Ansatz, »das verknüpfende oder konnektierende Modell«, ausdrück­ lich als Alternative zu Russells Konzept, in »Gegensatz zum zurück­ führenden, reduktiven oder atomistischen Modell«16, verstanden wis­ sen will, erweisen sich Diagnosen, welcher Denker sich innerhalb oder außerhalb des analytischen Paradigmas bewege, als komplexer und vielschichtiger, als mancher Interpret dies wahrhaben möchte. Ein zentrales Thema der neueren analytischen Ontologie ist die Aufwertung der Relationen als eigenständige, mitunter grundle­ gende Wirklichkeitskategorie, wodurch u.a. Schwierigkeiten einer Horstmann (1984). Zu Fragen der Typisierung und Spezifizierung von Whiteheads Metaphysik als Monismus vgl. den Beitrag von Anna-Sophie Heinemann in diesem Band. 14 Körner (1970), S. 42. Seine Unterscheidung von »Aufweisungsanalyse« und »Ersetzungsanalyse« (ibid., S. 42–49) kann hier unberücksichtigt bleiben. 15 Strawson (1994), S. 33 f. 16 Ibid., S. 35.

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Christoph Kann

reinen Ding-Eigenschafts-Ontologie vermieden werden sollen. In der angelsächsischen Philosophie am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wird, teils unter Rekurs auf John Stuart Mill, Charles Sanders Peirce und Francis Herbert Bradley, das für Generationen von Metaphysikern maßgebliche Substanz-Attribut-Schema einer grundlegenden Revision unterzogen.17 Will man Relationen in das Ding-Eigenschafts-Schema integrieren, dann nach verbreiteter Auf­ fassung nur in der Weise, dass sie auf nicht-relationale Eigenschaften der Dinge zurückgeführt werden. Die Möglichkeit einer solchen Zurückführung gilt allerdings als zweifelhaft. So scheitert z.B. die Zurückführung der Relation ›größer als‹, die zwischen zwei Men­ schen x und y bestehen mag, daran, dass allein die Angabe der Körpergrößen von x und y, etwa 180 cm und 170 cm, als nicht-rela­ tionale Eigenschaften das mit der Relation ›größer als‹ angezeigte Verhältnis in keiner Weise erfasst. Die Aussage, mit der wir x und y nicht-relationale Eigenschaften, hier Körpergrößen, zuschreiben, ist von der Aussage, x sei größer als y, in der es um die Größenrelation beider geht, verschieden. Insofern das Ding-Eigenschafts-Schema kaum Spielraum für eine überzeugende Zurückführung von Relatio­ nen auf Eigenschaften bietet, lässt sich, abgesehen von der verzweig­ ten Debatte um Sachverhalte als ontologische Voraussetzung von Relationen,18 die Konsequenz ziehen, Relationen selbst als irreduzible ontologische Größe anzunehmen. Während Russell in unterschied­ lichen Zusammenhängen dazu beigetragen hat, die Irreduzibilität von Relationen auf nicht-relationale Eigenschaften nachzuweisen, hat Whitehead mit der Annahme seiner wirklichen Einzelwesen, die sich relational – nämlich über das Erfassen (prehension) anderer wirklicher Einzelwesen sowie sog. zeitloser Gegenstände (eternal objects) – konstituieren, einen gewichtigen Beitrag zur ontologisch-metaphysi­ schen Aufwertung von Relationen geleistet. Dass die philosophische Verbindung zwischen Whitehead und Russell nie gänzlich abreißt, verdankt sich nicht zuletzt ihrer langjäh­ rigen persönlichen Beziehung. Ein ganzes Jahrzehnt in einer für ihre philosophischen Karrieren prägenden Phase, die Russell rückblickend als »eine Zeit intellektueller Berauschtheit«19 beschreibt, verbringen beide nicht nur in enger Kooperation, sondern auch unter einem 17 18 19

Vgl. Runggaldier; Kanzian (1998), S. 200 f. Vgl. ibid., S. 198–218. Russell (1977), S. 223.

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Einleitung

Dach. Ein solcher gemeinsamer Rausch geistiger Arbeit verfliegt wahrscheinlich niemals vollständig, und so lohnt sich ein kurzer Blick auf die biographischen Berührungspunkte Russells und Whiteheads, um einen ersten Eindruck von den Gemeinsamkeiten und den Unter­ schieden sowohl des persönlichen als auch des philosophischen Tem­ peraments zu bekommen. Als Russell 1890 im Alter von achtzehn Jahren am Trinity College in Cambridge zu studieren begann, eröffnete sich ihm eine inspirierende intellektuelle Atmosphäre, die ihn seine schon während der Schulzeit teils eigenständig und teils angeleitet durch seinen älteren Bruder Frank betriebenen Studien der Mathematik und Geo­ metrie intensivieren ließ. Zugleich ergaben sich prägende Kontakte zu Whitehead und anderen damals in Cambridge führenden Köpfen, besonders im Umfeld der Cambridge Apostels, einer intellektuellen Gruppierung, die die zwölf begabtesten Studenten der Cambridge University verbinden sollte und der u.a. John McTaggart und George Edward Moore zugehörten.20 Als junger Student scheint Russell in der Mathematikprüfung für sein Stipendium einen nachhaltigen Eindruck bei Whitehead hinterlassen zu haben, denn dieser empfahl ihn für die Cambridge Apostles und sorgte dafür, dass sein Schüler, der anfangs mit dem Campusleben gefremdelt hatte, sich bald in Cambridge zuhause fühlte.21 Gleich im ersten Studienjahr besuchte Russell die Vorlesung Whiteheads zur Statik und etablierte sich bald als herausragender Student. Nach und nach entwickelte sich der Kontakt zu einer Freundschaft, die lange über Russells Studienzeit hinausreichen sollte.22 Das Denken der Cambridge Apostles kreiste u.a. um die kontinen­ tale Philosophie des 19. Jahrhunderts, die Russell von dem Kantianer James Ward sowie den Hegelianern George Frederick Stout und John McTaggart als seinen akademischen Lehrern nahegebracht wurde. Abweichend von der historisierenden Tendenz des kontinentaleuro­ päischen Hegelianismus stand für die systematisch ausgerichteten Hegelianer in Cambridge das als atemporales Absolutes verstandene Wahre und Ganze im Mittelpunkt philosophischer Reflexion. Vor die­ sem Hintergrund greift freilich die plakative Gegenüberstellung einer Zu dem weitreichenden Einfluss der Cambridge Apostels auf die philosophische Entwicklung Whiteheads vgl. Hampe (1998), S. 23–25. 21 Vgl. Russell (1997b), S. 191. 22 Vgl. Russell (1997a), S. 190. 20

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Christoph Kann

angelsächsisch-analytischen und einer kontinental-spekulativen Phi­ losophieausrichtung zu kurz. Nicht umsonst finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass das Denken des englischen Analytikers Russell eigentlich in kontinentalen Traditionen wurzelt, womit keinesfalls nur die durch Gottlob Frege geprägte mathematische Logik, sondern eben auch der systematische Hegelianismus angesprochen ist.23 Als zen­ traler Repräsentant dieser seinerzeit in England dominierenden idea­ listischen Strömung gilt der an dem Oxforder Merton College tätige Bradley, dessen Hauptwerk Erscheinung und Wirklichkeit (1893) in demselben Jahr erschien, seitdem Russells Beschäftigung mit mathe­ matischen Studien durch sein Interesse an spekulativer Philosophie phasenweise überlagert, aber keinesfalls beendet wurde. Beeinflusst durch Moore entwickelt Russell in The Principles of Mathematics (1903) eine realistische Position, während zugleich seine Auseinan­ dersetzung mit dem idealistischen Denken Bradleys in späteren Wer­ ken kontinuierlich spürbar bleibt. Wenn wir von Russells Realismus sprechen, sind zwei von ihm selbst klar unterschiedene Aspekte oder Momente auseinanderzuhalten. Einerseits geht es um die common sense-Annahme, dass physikalische Objekte unabhängig von unse­ rem Geist existieren, andererseits um die dem common sense suspekte universalienrealistische Auffassung, dass es Dinge nach Art der eben­ falls geistunabhängig existierenden platonischen Ideen gebe. Im Zuge der fortdauernden Auseinandersetzung mit Bradleys Idealismus lässt Russell seinen Erfolgstitel Probleme der Philosophie, den er selbst als repräsentative Synopsis seiner bis dahin entwickelten Philosophie begreift, kaum zufällig mit einem Kapitel »Erscheinung und Wirklich­ keit« beginnen.24 In den um Relationen kreisenden Reflexionen von Probleme der Philosophie, Kapitel 9: »Die Welt der Universalien«, wird Russells Auseinandersetzung mit Bradley explizit,25 die Ausführun­ gen zu den »Grenzen philosophischer Erkenntnis« (Kap. 14) spiegeln Russells Auseinandersetzung mit dem Hegelianismus Bradleys und McTaggarts deutlich wider.26 Auch Whitehead rekurriert in Prozeß und Realität wiederholt auf Bradley und nutzt seinerseits in Abenteuer der Ideen den Titel »Erscheinung und Wirklichkeit« als Kapitelüber­ Vgl., stellvertretend für zahlreiche ähnliche Befunde, Horstmann (1984), S. 18, bei dem die geographische Kontrastierung hinter der eines »Schisma[s] zwischen sprach­ analytischer und dialektischer Philosophie« (ibid., S. 16) zurücktritt. 24 Russell (1967), S. 9. 25 Ibid., S. 81. 26 Ibid., S. 125. 23

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Einleitung

schrift (Kap. XIV) (AI, 209/374). In den retrospektiven Ausführun­ gen von Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens gibt Russell wiederum Hinweise auf größtenteils unveröffentlicht gebliebene eigene Arbeiten, die den Einfluss Hegels, vermittelt durch McTaggart, vielfältig dokumentieren. Russells und Whiteheads Orientierung am englischen Hegelianismus trat allmählich zurück und wurde bei Russell durch eine Hinwendung zur common sense-Philosophie, bei Whitehead durch einen »provisorischen Realismus« (provisional realism) (SMW, 85/86; 90/90; 113/111) und bei beiden Denkern durch eine besondere Betonung kritischen Denkens als zentralem Charakterzug philosophischen Selbstverständnisses abgelöst. Den­ noch bleibt Bradleys Philosophie mit ihrer Grundunterscheidung von Erscheinung (appearance) und Wirklichkeit (reality) bei Whitehead und Russell unterschwellig wirksam. Whitehead erkennt bei aller Eigenständigkeit seines Neuansat­ zes in Prozeß und Realität den Einfluss Bradleys ausdrücklich an. Obwohl ich im tragenden Teil des Werks durchweg im scharfen Wider­ spruch zu Bradley stehe, ist der Unterschied im Endeffekt dann doch nicht so groß. Besonders weiß ich mich seinem Kapitel über das Wesen der Erfahrung aus seinen Essays on Truth and Reality verpflichtet. Sein Insistieren auf dem ›Empfinden‹ [feeling] stimmt genau mit meinen eigenen Schlußfolgerungen überein. (PR, xii f./24)

Wenige Zeilen später erklärt Whitehead, im fünften Teil seines Wer­ kes sei »die Annäherung an Bradley nicht zu übersehen« und fügt hinzu: »Wenn man glaubt, die hier formulierte Kosmologie sei sinn­ voll, fragt man sich natürlich, ob die sie bestimmende Denkweise nicht aus der Übertragung einiger Hauptthesen des absoluten Idealismus auf eine realistische Grundlage entstanden ist.« (PR, xiii/24) Bradley vertritt eine Theorie der Erfahrung, der ein ontologischer Monismus zugrunde liegt, das heißt die Überzeugung, dass alles Reale nur als Einheit erfasst werden kann. Der Zugang zur Realität ist unmit­ telbar und kann nur fühlend erfahren werden. Von Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignissen kann man lediglich sprechen, indem man die im Fühlen erfasste Einheit einem unterscheidenden, tren­ nenden Denkprozess unterzieht. Wenn Whitehead hypothetisch von einem »absoluten Idealismus« spricht, der in seiner philosophischen Kosmologie auf eine »realistische Grundlage« übertragen werde, rekurriert er auf eine Dichotomie, die immer wieder zum Gegenstand von Debatten um eine adäquate Typisierung seiner Spätphilosophie werden sollte.

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Inhaltliche Affinitäten, wie sie sich aus dem gemeinsamen Aus­ gangspunkt einer Orientierung an Bradley ergeben, ergänzen sich mit methodologischen Gemeinsamkeiten. Im Kontext der Frage, von welchen Arten von Seiendem auszugehen ist, wenn unsere common sense-Annahmen plausibel sein sollen, verbindet Whitehead und Russell die Orientierung an dem als ›Ockhams Rasiermesser‹ geläufigen methodologisch-ontologischen Ökonomieprinzip. Die in den Principles of Mathematics vertretene Auffassung, dass sich eine Kennzeichnung wie ›der gegenwärtige König von Frankreich‹ auf – allerdings im Sinne Alexius Meinongs ›nicht wirkliche‹ – Gegen­ stände beziehe, revidiert Russell mit seiner bereits angesprochenen Theorie kennzeichnender Ausdrücke: In dem berühmten Aufsatz »Über das Kennzeichnen« (On Denoting) sind ihm ›nicht wirkliche‹ Gegenstände suspekt, und eine komplexe, divers bevölkerte Ontolo­ gie muss dem ›Rasiermesser‹ weichen. Russell bekennt sich mehrfach ausdrücklich dazu, von Whitehead profitiert zu haben,27 wobei neue Einsichten zu Anwendungsfeldern des ›Rasiermessers‹ Erwähnung finden.28 So verdankt er Whitehead die Überlegung, inwieweit auch der Materiebegriff eine Fiktion eben jenes Typs überflüssiger Annah­ men darstellt, die mit Hilfe des ›Rasiermessers‹ eliminiert werden sollen. Ersichtlich fallen gerade hier methodologische und inhaltliche Gemeinsamkeiten zusammen. Eine Äußerung Russells in einem frühen Vorwort zu Probleme der Philosophie lässt erkennen, dass die Frage, in welcher Schaffensphase er im Gleichschritt mit Whitehead philosophierte oder aber andere Wege einschlug, zu kurz greift bzw. unterschwellige Einflüsse nicht erfasst. »Whitehead convinced me«, erklärt Russell, »that the concept of matter is a logical fiction of this superfluous type [of entities not to be multiplied beyond necessity], i.e. a piece of matter can be treated as a system of connected events in various parts of the space-time continuum.«29 Dass die Orientierung an ›Ockhams Rasiermesser‹ auch jenseits der kritischen Analyse des Materiebegriffs ihre Berechtigung hat, ist Russells generalisierenden Erläuterungen des Ökonomieprinzips zu entnehmen:

Vgl. Russell (1973), besonders S. 39, S. 111, S. 167 und S. 214. Vgl. ibid., S. 11 und S. 104 f. 29 Das »Foreword to the German Translation« in der ersten deutschen Übersetzung von The Problems of Philosophy durch Paul Hertz (Erlangen 1926) findet sich als Appendix in Russell (1980), S. 97 f. 27

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Wenn man irgendeinen Tatsachenverhalt formulieren will, so hat man genau zu untersuchen, welche Wesenheiten [entities] wirklich darin enthalten sind, und dann alles mit Hilfe nur dieser Wesenheiten [entities] zum Ausdruck zu bringen.30

Dieselbe Sparsamkeitsmaxime ist in dem ›ontologischen Prinzip‹ am Werk, das in Whiteheads Metaphysik eine Schlüsselrolle ein­ nimmt: Insofern gemäß dem ›ontologischen Prinzip‹ nichts außerhalb oder unabhängig von wirklichen Einzelwesen angenommen werden kann, weil jede Erklärung von Wirklichkeit eine Erklärung unter Rückgriff auf wirkliche Einzelwesen oder auf Strukturmomente der­ selben sein muss, kann es außerhalb der wirklichen Einzelwesen und ihrer selbstkonstitutiven Funktionsprinzipien keine ontologische Erklärung geben: »wo kein wirkliches Einzelwesen, da auch kein Grund.« (PR, 19/58)31 Hier wird der Einfluss Whiteheads sichtbar, dem sich Russell hinsichtlich seiner Materiekonzeption verpflichtet sieht. Der Vorstellungsrahmen eines ›system of connected events‹ ist ebenso charakteristisch für Whiteheads auf letzte Prozesseinhei­ ten – events, actual occasions oder actual entities – rekurrierenden metaphysischen Entwurf wie für Russells Philosophie der Materie.32 Die zentrale Stellung des Materiebegriffs als Ausgangspunkt kriti­ scher Analyse spiegelt nicht zuletzt der vorliegende Band wider.33 In besagtem frühen Vorwort zu Probleme der Philosophie fährt Russell fort mit dem Hinweis auf »various methods«, denen man bei allen Entscheidungsschwierigkeiten zwischen ihnen bei jener Thematik folgen könne: »Whitehead followed one way in his Principles of Natural Knowledge and in his Concept of Nature; I followed another in my book Our Knowledge of the External World.«34 Man muss auf beide Methoden hier nicht näher eingehen, um feststellen zu können, in Russell (2004), S. 120. Insofern passt die von Kanterian (2004), S. 38, mit Blick auf Russells »konstruktive Analyse« verwendete Typisierung eines ›metaphysischen Fundamentalismus‹ unter veränderten Vorzeichen auch – und vielleicht besser – zu Whiteheads Konzeption der actual entities. 32 Zur näheren Differenzierung des jeweiligen event-Begriffs vgl. Cassou-Noguès (2005). Russells Philosophie der Materie (1929) erschien ursprünglich unter dem Titel »The Analysis of Matter« 1927 in London. 33 Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Leemon B. McHenry und von Rainer E. Zimmermann. Denselben Schwerpunkt lässt die Gegenüberstellung von Whitehead und Russell bei Mueller-Goldingen (2013), S. 93–98, erkennen. 34 Russell (1980), S. 97. 30 31

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welchem Maße Whitehead und Russell philosophisch auch dann noch miteinander verbunden blieben, als ihre Forschungsinteressen sich augenscheinlich voneinander entfernten. Nicht umsonst registriert Dennis Sölch die eben nur auf den ersten Blick »verblüffende Zusam­ menführung der beiden Verfasser der Principia Mathematica unter dem Label der Prozessphilosophie« bei David Skrbina.35 Vor diesem Hintergrund lassen Darstellungen, die sich entweder auf logisch-mathematische Gemeinsamkeiten oder aber genuin phi­ losophische Gegensätze zwischen Whitehead und Russell konzentrie­ ren, eine Tendenz zu Einseitigkeit und Vereinfachung erkennen. So gegensätzlich die analytische Philosophie Russells und die spekula­ tive Philosophie des späten Whitehead auch erscheinen mögen – hier wie dort ist ein atomistischer Ansatz auszumachen, der sich einerseits zu einem logischen und andererseits zu einem metaphysischen Ato­ mismus verdichtet. Beeinflusst von Moore, entwickelte Russell seinen sog. logischen Atomismus, wonach die Wirklichkeit aus voneinan­ der unabhängigen, unteilbaren, unserem Erkennen zugänglichen Ele­ menten besteht. Russells Auffassung, welcher Art diese Elemente sein sollten bzw. was ihnen zuzurechnen sei, unterliegt allerdings Veränderungen bzw. wirkt nicht immer einstimmig und klar. In dem frühen Werk Principles of Mathematics werden jenen Elementen so unterschiedliche Entitäten wie Partikuläres – etwa Sinnesdaten oder Raum- und Zeitpunkte – und Universalien – etwa Eigenschaften, Relationen, Propositionen und fiktionale Gegenstände – zugerechnet. Schrittweise gelangte Russell im Zuge seiner Orientierung an ›Ock­ hams Rasiermesser‹ zur Reduzierung jener Vielfalt von Elementen bzw. elementaren Entitäten auf Sinnesdaten, auf welche sich ›logische Eigennamen‹, also ›echte‹ singuläre Termini in Gegensatz etwa zu Artnamen, beziehen.36 Russell will aufzeigen, dass Grundbegriffe und Grundprinzipien der Mathematik mittels rein logischer Begriffe und Prinzipien definiert und im Zuge regressiver Analyse auf solche zurückgeführt werden können.37 Dieser Logizismus, eine Konstante in Russells Denken, erfährt seine systematische, detaillierte Ausar­ beitung in den dann gemeinsam mit Whitehead ausgearbeiteten Principia Mathematica, die mit der Theorie der Kennzeichnungen Sölch (2014), S. 20; vgl. Skrbina (2007), S. 174. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jan G. Michel in diesem Band. 37 Vgl. dazu, unter intensiver Berücksichtigung von Whiteheads Beitrag, die Studie von Grattan-Guinness (2003). 35

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und der Typentheorie38 zwei der meistgenannten Lehrstücke Russells enthalten. Er selbst begreift die Entwicklung seines im engeren Sinne philosophischen Denkens nach 1900 als eine Evolution auf der Basis des logischen Atomismus. Demnach besteht die Welt aus zwei Arten von ›Atomen‹, den atomaren Tatsachen und den absolut einfachen Individuen – Atomen als Resultat einer logischen Analyse im Sinne der Zerlegung in einfachste Bestandteile analog zu einer chemischen oder physikalischen Analyse. Russells logischer Atomismus wurde vielfach als gemeinsamer Nenner seiner weiteren systematisch-ana­ lytischen Interessen angesehen. Demgegenüber stellt Whitehead seine Konzeption der actual entities als letzte Wirklichkeitselemente explizit in die Wirkungsgeschichte der Leibniz’schen Monaden und charakterisiert jene Elemente metaphorisch als »komplexe und inein­ andergreifende Erfahrungströpfchen« (PR, 18/58).39 Wie nun sind die offensichtlichen Konvergenzen und Dissonan­ zen beider Philosophien letztlich zu gewichten? Bis heute dominiert das Bild, wonach Whitehead und Russell ein Interesse an der Mathe­ matik bzw. der mathematischen Logik teilen und deren klassischen Hauptvertretern sie zuzurechnen sind. Beide hatten um die Wende zum 20. Jahrhundert bereits erste Spuren in der Philosophie der Mathematik hinterlassen – Whitehead mit seinem Treatise on Uni­ versal Algebra (1898) und Russell mit den Principles of Mathematics (1903) –, um dann wenige Jahre später mit dem gemeinsam ver­ fassten Monumentalwerk Principia Mathematica (1910–1913) die Aufmerksamkeit der internationalen Fachwelt auf sich zu ziehen.40 Im Übrigen, so die plakativ-gängige Sichtweise, stehe Whitehead nach einer Phase naturwissenschaftlich motivierten Philosophierens für ein emphatisches Eintauchen in spekulative Metaphysik, für die der Analytiker Russell kein Verständnis habe. Indessen lohnt sich ein näherer Blick auf Grundlinien und Fakten, die zu einem differenzier­ teren Blick beitragen können. Es ist eben nicht allein die vielzitierte 38 Die Festlegung unterschiedlicher, hierarchisch geordneter Typen von Mengen (oder Klassen) dient der Vermeidung, dass eine Menge etwa Elemente desselben Typs enthält wie eine ihr übergeordnete Menge, und verspricht so die Vermeidung von Paradoxien oder Antinomien, die auftreten, wenn eine Menge sich selbst als Element enthält. Russell hat die Typentheorie in diversen Formen entwickelt. 39 Zu den Monaden als erfahrungsbasierten Prozesseinheiten vgl. auch den Beitrag von Pierfrancesco Basile in diesem Band. 40 Vgl. dazu auch die Beiträge von Sébastien Gandon und von Manuel Bremer in diesem Band.

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Gemeinsamkeit logisch-mathematischer Grundlagenforschung, die beide Denker verbindet, und jene Gemeinsamkeit stellt sich weniger eindeutig und weitreichend dar als oft angenommen. Whiteheads und Russells Perspektiven auf Philosophie und Philosophiegeschichte, auf Mathematik und Naturwissenschaften, auf Theorie und Praxis von Erziehung und Bildung sind vielfältig und fluktuierend. Von Konvergenzen und Dissonanzen im Werk der beiden Denker zeichnet die bisherige Rezeption ein in manchen Hinsichten ergänzungs- oder revisionsbedürftiges Bild. Wie weit Einseitigkeiten der Rezeption gelegentlich gehen können, zeigt sich da, wo von Whitehead und Russell, nicht zuletzt dem Gemeinschaftswerk Principia Mathematica geschuldet, im Sinne einer Symbiose die Rede ist, welche den einen auf das Alter Ego des jeweils anderen reduziert. In die gegensätzliche Richtung weisen allzu scharfe Demarkationslinien, mit denen beide Denker mitunter selbst spielerisch umgehen. Als Russell anlässlich seiner William James Lectures in Harvard von dem bereits emeri­ tierten Whitehead vorgestellt wurde, geschah dies mit oft zitierten, von Humor getragenen Worten, die zugleich bis heute Rezeptionskli­ schees bedienen: »This is my friend, Bertrand Russell«, erfuhren die Zuhörer. »Bertie thinks that I am muddleheaded; but then I think that he is simpleminded.«41 Diese Worte nimmt George R. Lucas Jr. zum Ausgangspunkt seiner Gegenüberstellung von bedeutsamen »similiarities« und »differences«, womit er die in den vorliegenden Beiträgen entwickelten Perspektiven vorzeichnet.42 Allerdings bean­ sprucht der Band keine umfassende Bestandsaufnahme oder Neube­ wertung – dafür sind die Arbeits- und Interessensgebiete Whiteheads und Russells zu weit gespannt und komplex. Entsprechend soll es hier um ausgewählte Themen insbesondere der theoretischen Philosophie gehen, die sich aus frühen Phasen und gemeinsamen philosophischen Prämissen beider Denker ergeben. Unabhängig von der plakativen Diagnose eines Auseinander­ driftens der Denkwege Whiteheads und Russells sollte der Fokus ebenso auf die unterschiedlichen, dabei aber komplementären Ansätze gerichtet werden, die beide Denker mitunter ein und das­ selbe Thema verfolgen lassen. Erst ein unvoreingenommener Blick auf Konvergenzen und Divergenzen ermöglicht ein ausgewogenes Bild. Die Anordnung der hier versammelten Beiträge suggeriert eine 41 42

Lucas Jr. (1989), S. 109. Ibid., S. 109–125. Vgl. auch Mueller-Goldingen (2013), S. 85–99.

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chronologische Verkehrung, steht doch das Paradigma der mathe­ matischen Logik am Anfang der Zusammenarbeit Whiteheads und Russells in ihrer frühen Schaffens- und Kooperationsphase. Indessen weisen hier frühe, mittlere und späte Phasen natürlich lebensaltersbe­ dingte Inkongruenzen auf und haben sich auch bei separater Betrach­ tung beider Denker und ihrer wechselnden Interessensgebiete immer wieder als komplex verzahnt und durchlässig erwiesen. Insofern soll der Band, anstatt chronologischen Gesichtspunkten zu folgen, einen systematischen Schwerpunkt nachbilden, der sich über Jahrzehnte in der Russell-Forschung eher unterschwellig und in der WhiteheadForschung umso deutlicher etabliert hat – den einer systematischen Rekonstruktion naturwissenschaftlich orientierter Metaphysik mit dem zentralen, in den bisherigen Ausführungen bereits deutlich hervortretenden Konzept der Materie. Dieser Schwerpunkt soll, teils mit philosophiegeschichtlichen Kontextualisierungen, hier im Zen­ trum stehen. Vorangestellt sind, allgemeineren Perspektiven folgend, metaphilosophisch und epistemologisch angelegte Studien. Der Band mündet schließlich in Beiträgen zu dem mathematisch-logischen Paradigma, das für die Zusammenarbeit von Whitehead und Rus­ sell nach wie vor als signifikant gilt und, wie oben skizziert, in späteren Interessen zumindest virulent bleibt. Komplementär zu dem Eindruck, dass die philosophisch-metaphysischen Ausrichtun­ gen einschließlich ihrer deutlichen Wissenschaftsorientierung bei den beiden Denkern weniger antagonistisch sind als immer wieder angenommen, vermittelt der Band die Einsicht, dass der mathema­ tisch-logische Schwerpunkt jeweils unterschiedlich genug ausgeprägt scheint, um jenseits gängiger Interpretationsschablonen zu weiteren Differenzierungen herauszufordern. Im Folgenden sei nun der Blick auf die einzelnen Beiträge gerichtet. Die Philosophie, traditionell apostrophiert als Mutter der Wis­ senschaften, tendiert durch die Etablierung von Einzelwissenschaften zu einer sukzessiven Ausdünnung. Auf den daraus resultierenden Reflexionsdruck reagieren Philosophen seit der Neuzeit verstärkt mit der Sondierung von wissenschaftlichen Ergebnissen, Methoden, Erklärungsansätzen und Zielsetzungen. Die analytische Philosophie sucht vielfach die Nähe zu den Naturwissenschaften und hinter­ fragt den Sonderstatus der Philosophie als Metadisziplin. Andreas Woyke geht der Frage nach, wie sich die skizzierten Tendenzen in den metaphilosophischen Perspektiven Whiteheads und Russells wiederfinden. Russell weist darauf hin, dass der Objektverlust der

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Philosophie an die Einzelwissenschaften zu einer Dominanz von Problemlösungen mittels kausaler Erklärungen geführt habe. Sieht er zunächst einen besonderen Wert der Philosophie darin, dass sie jedem Dogmatismus den Zweifel entgegensetzt und auch Selbstver­ ständliches problematisieren kann, so würdigt er später zunehmend die Erklärungsleistungen der Naturwissenschaften und nähert sich so aus Sicht Woykes einem Szientismus bzw. Naturalismus. Whitehead weist der Philosophie die Rolle zu, philosophische Kosmologien zu hinterfragen und ein möglichst ganzheitliches spekulatives Schema zu entwerfen, in dem naturwissenschaftliche Konzepte mit ästheti­ schen, moralischen und religiösen Motiven verknüpft werden können. Anhand exemplarischer Textbezüge gelangt Woyke zu einem Ver­ gleich der metaphilosophischen Positionen Whiteheads und Russells und rückt sie in einen synoptischen Bewertungsrahmen ein. Mit der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften tritt ihr Verhältnis zu Erziehung und Bildung in den Blick. Ausgehend von der Interdependenz von Philosophie und Erziehung als Aktivitäten, die sich in den Dienst einer Entfaltung des Neuen stellen, vergleicht Dennis Sölch Positionen, die Whitehead und Russell ausgehend von ihren vielfältigen pädagogischen Anlie­ gen entwickeln. Dem Themenbereich von Erziehung und Bildung haben sich beide Denker sowohl in organisatorisch-institutionellen Kontexten als auch theoretisierend gewidmet. Das Schul- und Univer­ sitätssystem ihrer Zeit erachten sie in curricularer und didaktischer Hinsicht als unflexibel, dogmatisch und realitätsfremd und plädieren für seine Erneuerung im Geiste eines erziehungstheoretischen Libe­ ralismus. Übereinstimmende Kritik Whiteheads und Russells richtet sich insbesondere auf übermäßige Operationalisierung von Wissen, Standardisierung von Unterricht sowie Ökonomisierung und Leis­ tungsorientierung auf Kosten der Kreativität. Doch werden zugleich Divergenzen zwischen erkenntnistheoretischen, metaphysischen und anthropologischen Grundannahmen sichtbar, die Sölchs Rekonstruk­ tion zu deutlich differierenden Bewertungen der beiden erziehungs­ philosophischen Ansätze gelangen lassen. Bei Russell wirkt demnach die Erziehungsphilosophie ungeachtet ihres zukunftsweisenden kos­ mopolitischen Anspruchs in nachteiliger Weise von den sonstigen philosophischen Anliegen separiert, während sie sich bei Whitehead aus dem spekulationszentrierten Organismusparadigma heraus ent­ wickelt und damit deutlich mehr Potential erkennen lässt.

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Einer wiederum andersartigen metaphilosophischen Vergleichs­ perspektive folgt Jan G. Michel mit dem Nachweis, dass prominente Lehrstücke Whiteheads und Russells bei aller sonstigen Verschieden­ heit für ein und denselben thematischen Rahmen, die Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen, fruchtbar zu machen sind. Mit Fin­ den, Akzeptanz und Wissen identifiziert Michel drei Strukturmerk­ male wissenschaftlicher Entdeckungen und zeigt, dass Whiteheads nuancenreiches Verständnis von Imagination, insbesondere im Kon­ text seiner Flugbahn-Metaphorik zur Veranschaulichung kreativer Forschungsvorgänge, ebenso wie Russells Konzeption der Namen ein verdichtetes Verständnis der genannten Strukturmerkmale ermögli­ chen. Wie Whiteheads Begriff der Imagination systematisch an der Schnittstelle von Finden und Akzeptanz zu verorten ist, so bewährt sich Russells Theorie der Namen an der Schnittstelle von Akzeptanz und Wissen, kann doch die Benennung einer neu entdeckten Art, die Etablierung eines neuen wissenschaftlichen Artnamens – etwa im Hinblick auf seine Signifikanz, seine Funktionsweise und seine Verhältnisbestimmung zu außerwissenschaftlichen Trivialnamen für dieselbe Art – ein zentraler Vorgang innerhalb eines wissenschaft­ lichen Entdeckungsvorgangs sein. Insofern bietet Russells Theorie der Eigennamen in prädikativistischer und auf generelle Namen hin erweiterter Lesart komplementär zu Whiteheads epistemologischem Konzept der Imagination richtungsweisende sprachphilosophische Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte für Michels eigene Ana­ lyse wissenschaftlicher Entdeckungen. Vergleicht man Whiteheads und Russells Metaphysik, bieten sich nicht zuletzt philosophiegeschichtliche Zugänge an. Entspre­ chend geht Roland Braun von der Spinoza-Rezeption aus, die bei Russell und Whitehead unter verschiedenen Vorzeichen steht. Wäh­ rend Russells philosophiegeschichtliche Arbeiten Grundzüge theore­ tischer und praktischer Philosophie bei Spinoza synoptisch erfassen, konzentriert sich Whitehead auf ontologische bzw. substanzmetaphy­ sische Annahmen, deren Kritik er zur Basis seiner Prozessphilosophie macht. Für Russell ebenso wie für Whitehead krankt die metaphysi­ sche Tradition an der verfehlten Orientierung am Substanz-QualitätsKonzept und, in Verbindung damit, am Subjekt-Prädikat-Schema der Aussage. Das Verhältnis von Substanz, Attribut und Relation bei Spi­ noza ist für Braun nicht vom aristotelischen Substanz-EigenschaftsSchema, sondern von dem bei Descartes neu gefassten Verhältnis von Wechselndem und Persistierendem her zu verstehen. Russells

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Befund, wonach eine Inkompatibilität von Spinozismus und Wissen­ schaft darin bestehe, dass jener an der Deduktion, diese dagegen an der Induktion als zentralem Paradigma orientiert sei, weist Braun unter Hinweis darauf zurück, dass selbige Demarkationslinie für Spinoza kaum maßgeblich sei. Die Spinoza-Rezeption bei Whitehead und Russell geht letztlich mit theoretischem Mehrwert einher, lässt andererseits aber, bei Russell noch mehr als bei Whitehead, interpre­ tatorische Grenzen erkennen, während sich aufschlussreiche Wege eines fruchtbaren Zusammendenkens von Whitehead und Spinoza ausgehend von Niklas Luhmanns Systemtheorie erschließen. Komplementär zu der monistischen Konzeption Spinozas ist Leibniz’ pluralistische Theorie der Monaden als Ausgangspunkt von Whiteheads Versuch lesbar, Metaphysik in Form neuartiger Katego­ rien zu fassen, die der Interaktion letzter Bestandteile von Wirklich­ keit in adäquaterer Weise entsprechen. In diesem Sinne würdigt Pier­ francesco Basile Whiteheads Plädoyer gegen die Konzentration auf den materialistischen Atomismus sowie auf empirische Regularitäten und für ein Modell, das erfahrungsfähige Organismen als durchgän­ gige Wirklichkeitsstruktur begreift. Ergiebigem Anschluss an Leibniz stehen für Whitehead aber innere Spannungen der Monadenlehre gegenüber: Zwar tragen Monaden Züge geistähnlicher Erfahrungs­ prozesse, sind zugleich aber konzeptionell dem aristotelischen Ansatz isolierter Substanzen als Trägern von Eigenschaften verpflichtet, wel­ cher die relationale Struktur von Wirklichkeit verfehle. Whiteheads Zurückweisung des Substanz-Eigenschafts-Denkens ist, wie Basile zeigt, ein von Russell übernommenes Motiv, der die ›Idealität‹ von Relationen bei Leibniz der Orientierung an der Subjekt-PrädikatLogik anlastet. Den korrigierenden Weg von einer relationalen Logik hin zu einer relationalen Metaphysik, die von unserer Alltagserfah­ rung einschließlich der Apprehension kausaler Vorgänge ausgeht, dokumentiere die Entwicklung von den Principia Mathematica bis zu Prozeß und Realität. Basile macht deutlich, wie eine von Leibniz inspirierte, der Relationalität von Wirklichkeit entsprechende Meta­ physik von Whiteheads Leibniz-Kritik profitieren kann, die in ihrer alternativen Erklärung monadischer Kausalität der Leibniz-Kritik Russells Wesentliches verdankt. Zu den immer wieder diskutierten Rückfragen an Whiteheads metaphysische Konzeption zählt die nach der Vereinbarkeit zweier Grundprinzipien – des ›Principle of Internal Relatedness‹ und des ›Principle of Pluralism‹. Falls im Sinne des Whitehead-Kritikers Wil­

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liam P. Alston das ›Principle of Internal Relatedness‹ auf einen Monis­ mus hinausläuft, erweist es sich als unverträglich mit dem ›Principle of Pluralism‹. Alstons Auffassung einer strikten Dichotomie von Monismus und Pluralismus, die wesentliche Annahmen mit Russells Klassifikationen und Analysen von Relationen widerspiegelt, mün­ det darin, Whitehead gleichsam als einen Monisten wider Willen darzustellen und seine Metaphysik als inkohärent auszuweisen. Ob die beiden Grundprinzipien seiner Konzeption tatsächlich in der hier skizzierten Weise konfligieren, ist eine wesentliche Leitfrage des Beitrags von Anna-Sophie Heinemann, die – unter Berücksichtigung von Whitehead-Interpreten wie Ivor Leclerc und Lewis Ford – die Konzepte der internen Relationen und des Monismus analytisch ausleuchtet und differenziert, wobei sie den von Jonathan Schaffer in kritischer Wendung gegen Russells ›rigid monism‹ ins Spiel gebrach­ ten ›priority monism‹ ins Zentrum der Betrachtung rückt. Auf dieser Grundlage zeigt Heinemann, dass Whiteheads Ansatz mehr als nur einen Typ zeitloser Gegenstände und demzufolge mehr als nur einen Typ von Relationen – nämlich interne und externe – vorsieht, sich letztlich der Dichotomie von Monismus (in seinen ›rigid‹- und ›prio­ rity‹-Varianten) und atomistischem Pluralismus entzieht und sich gegen darauf bezogene etablierte Kritikpunkte als immun erweist. Der gängigen Auffassung, wonach Whiteheads und Russells Denkwege sich nach ihrer Kooperation im Bereich der mathemati­ schen Logik getrennt hätten, stellt Leemon B. McHenry ein von der Philosophie der Physik ausgehendes differenzierendes Bild gegen­ über. Demnach entwickelten beide Denker ihre je eigenen, von Über­ einstimmungen und Gegensätzen gekennzeichneten, prozessonto­ logischen Ansätze, die jeweils auf die Auslegung der Materie als Funktionszusammenhang von Ereignisstrukturen zentriert sind und in eine sog. Revolte zum Pluralismus münden. Anfänglich dem britischen Hegelianismus ihrer Zeit nahe stehend, distanzierten sich Whitehead und Russell zunehmend von dessen spekulativer Ausrich­ tung zugunsten einer stärkeren Orientierung an der Physik ihrer Zeit bei gleichzeitiger Abkehr von traditioneller Metaphysik mit ihren Endgültigkeits- und Absolutheitsansprüchen. Diese Tendenz lässt Russell vom Idealismus zum Realismus, vom Monismus zum Pluralismus und von der Annahme interner Relationen zur Annahme externer Relationen wechseln. Während externe Relationen zugleich für Russells Theorie des logischen Atomismus maßgeblich werden, hält Whitehead, der dem ebenfalls pluralistischen Motiv einer durch

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das gegenseitige Erfassen wirklicher Einzelwesen gewährleisteten Einheit des Universums folgt, an internen Relationen fest, wobei sich, wie McHenry ausführt, jenes Konzept eines Netzwerks von Ereig­ nissen Maxwells Theorie des elektromagnetischen Feldes verdankt. Demnach sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede einschließlich des von der Rezeption unzulänglich beachteten Einflusses Whiteheads auf Russell neu zu gewichten. Unser modernes Verständnis von Materie entwickelt sich zwi­ schen den Polen antiker Metaphysik und dem heutigen mathema­ tisch-naturwissenschaftlichen Weltbild. Zwischen diesen vermitteln die Vorstellungen von Materie bei Whitehead und Russell, welche für Rainer E. Zimmermann trotz einiger Dissonanzen maßgebliche Erneuerungsimpulse liefern, indem sie nicht von Entitäten im tra­ ditionellen Sinn, sondern von Konstruktionselementen und ihren relationalen Verhältnissen wie Punkten im Raum ausgehen. Grund­ legend dafür ist der Whiteheads und Russells Denken verbindende Zusammenhang zwischen Metaphysik und mathematischer Logik vor dem Hintergrund eines auf Leibniz zurückweisenden Begriffs der Relationalität. Der Ansatz einer logischen Konstruktion von Materie, analogisierbar mit der Konstruktion der Zahlen als Klassen, wird bei Whitehead zur ›Methode der extensiven Abstraktion‹, in der die Relation des ›ausgedehnt-über‹ als universelle Ganzes-Teil-Relation aufgefasst wird und geometrische Größen bereits auf der Ebene von Punkten durch die Konvergenzeigenschaften überlappender Mengen definiert werden. Die Wirkungsgeschichte dieses Ansatzes verfolgt Zimmermann über ein weitreichendes, die Traditionen von mathe­ matischer Logik und moderner Naturwissenschaft integrierendes Theorienspektrum bis hin zu Entwicklungen der neueren Physik, die in teils frappierender Form auf Ansätze bei Whitehead und Russell zurückweisen. Whiteheads Metaphysik, deren naturwissenschaftlich richtungsweisendes Leitmotiv der Ordnungstranszendenz an den weisen Drachen in John Gardners Grendel denken lässt, verdankt sich letztlich seiner Logik. Whiteheads und Russells logizistische Auffassung, wonach die Mathematik auf die Logik zurückführbar sei, bedeutet nicht, wie Sébastian Gandon nachweist, sämtliche Bereiche der Mathematik, insbesondere Geometrie und reelle Analysis, auf Arithmetik zurück­ zuführen. Vielmehr werden diese direkt aus der Logik hergeleitet – ein genereller Reduktionismus gehe mit partiellen oder ›lokalen‹ Anti-Reduktionismen einher. Seine differenzierte Analyse des in den

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Principia Mathematica tatsächlich intendierten Anliegens verbindet Gandon mit Rückfragen nach etwaiger Arbeitsteilung und ersetzt das einseitige Bild des Philosophen Russell und des Technikers Whitehead durch den Nachweis einer durchgehend dialogischen Gemeinschaftsleistung. Zur notwendigen Korrektur verfestigter Bil­ der zählt für ihn nicht zuletzt die ausgehend von Paul Benacerraf zu diskutierende Frage, was eigentlich Thema einer Philosophie der Mathematik sei oder sein sollte. Kritischen Stimmen, wonach Russells Logizismus-Ansatz inzwischen obsolet sei, hält Gandon das Erfordernis einer Exegese auch entlegenerer Teile der Principia Mathematica entgegen. Die Einsicht, dass Mathematik keinen homo­ genen Wissensbestand darstellt, motiviert Whiteheads und Russells Ansatz, sich mit einer Organisation und Strukturierung mathema­ tischer Teilbereiche zu befassen. Bezüglich dieses bis heute virulen­ ten ›architektonischen‹ Problems sehen Whitehead und Russell die Möglichkeit rationaler Erörterung im Sinne genuin philosophischer Sondierung und Abwägung, ohne einen dogmatischen Standpunkt vertreten oder einen Beweis für eine vermeintlich einzig richtige Position liefern zu wollen. Ganz im Sinne des Philosophieverständnisses von Whitehead und Russell steht am Ende des Bandes die Frage nach der Einheit­ lichkeit der von beiden Denkern vertretenen Mathematik, wobei in rhapsodisch-essayistischer Form eher eine Richtung vorgegeben wird als dass jene Frage tatsächlich in ihrer Vielschichtigkeit defini­ tiv beantwortet würde. Manuel Bremers Sondierung betrifft, kom­ plementär zu der Sicht Gandons, die Dignität und Relevanz der Principia Mathematica sowie der Klärung der unterschiedlichen Auto­ renrollen. Gezeichnet wird das dezidiert skizzenhafte, zugleich aber differenzierte Bild mehrerer von den Denkern separat entwickelter mathematisch-philosophischer Ansätze. Diese als unterschiedliche Philosophien der Mathematik zu lesenden Konzeptionen offenbaren teils tatsächliche und teils nur scheinbare Inkohärenzen von Ansät­ zen, die sich zwar in den Principia Mathematica ein und desselben For­ malismus bedienen, dabei aber die unterschiedlichen Zielsetzungen des ›working mathematician‹ einerseits und des formalen Grundla­ gentheoretikers andererseits offenbaren. Hinsichtlich der Grundfrage nach der Berechtigung der konstanten Reputation des monumentalen Werkes zeigt sich weiterer Differenzierungsbedarf: Das Ansehen der Principia Mathematica in der Mathematik bleibt, folgt man Bremers Urteil, hinter dem in der Philosophie zurück, wo sie sich zumindest

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als Impulsgeber nachfolgender Logiker wie Church, Carnap sowie Hilbert und Ackermann erweisen. Bremers Bild, wonach Whitehead und Russell an ihrem ursprünglichen Mammutwerk verzweifelt seien, kann als provokante Herausforderung zur Neubewertung durch die künftige Logikgeschichtsschreibung gelten. Der vorliegende Band geht zurück auf die vierte Jahrestagung der Deutschen Whitehead Gesellschaft, der unter dem Titel »Whitehead und Russell« vom 9. bis 11. Januar 2015 in Düsseldorf stattfand. Die beiden Klassiker der angelsächsischen Philosophie wurden zum Thema der wohl ersten deutschsprachigen Fachtagung gemacht, um diverse Facetten ihrer umfangreichen Werke vergleichend zu analy­ sieren. Neben den von Whitehead und Russell gemeinsam bearbei­ teten logisch-mathematischen Fragestellungen rückte die Veranstal­ tung weitere systematische Schwerpunkte hauptsächlich der theoretischen Philosophie beider Denker in den Fokus. Nicht zuletzt mit Blick auf den Geburtstag Bertrand Russells am 18. Mai 1872, der sich fast zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Bandes zum 150. Mal jährt, soll nunmehr ein Teil der damaligen Tagungsbeiträge, ergänzt um einschlägige Studien von Jan G. Michel und Dennis Sölch, einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden. Monika Mühlpfordt, Betreuerin der Whitehead Studien im Verlag Karl Alber/Nomos, hat die Vorbereitung der Publikation umsichtig begleitet. Svenja Schmitz hat bei einigen Beiträgen an der redaktionellen Bearbeitung für den Druck sorgfältig und sachkundig mitgewirkt. Frauke Albersmeier, Paul Hasselkuß und David Hommen leisteten in Einzelfällen wertvolle Übersetzungsarbeit. Allen Genann­ ten sei für die Kooperation herzlich gedankt. Düsseldorf, im Dezember 2022

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Bibliographie Ayer, Alfred (1971), Russell and Moore. The Analytical Heritage, Cambridge, MA: Harvard University Press. Cassou-Noguès, Pierre (2005), »The Unity of Events: Whitehead and Two Cri­ tics, Russell and Bergson«, in: The Southern Journal of Philosophy, Vol. XLIII, S. 545–559. Grattan-Guinness, Ivor (2003), »Mathematics in and behind Russell’s Logicism, and Its Reception«, in: Nicholas Griffin [Hrsg.], The Cambridge Companion to Bertrand Russell, Cambridge: Cambridge University Press, S. 51–83.

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Einleitung

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Christoph Kann

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I.

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Andreas Woyke

Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften bei Russell und Whitehead

I. Einleitung Die abendländische Philosophie, die sich in der griechischen Antike konstituiert und uns durch Platon, Aristoteles und andere ›Klassiker des philosophischen Gedankens‹ bis heute mit einem besonderen ›Wahrheitsanspruch‹ konfrontiert,1 gilt als ›Mutter der Wissenschaf­ ten‹.2 Professionalisierungen und wissenschaftliche Erkenntnisfort­ Vgl. Gadamer (1990), S. 2. Die Rede von der Philosophie als ›Mutter der Wissenschaften‹ suggeriert, dass über historische Kontextualisierungen hinaus feststeht, was mit ›Philosophie‹ und ›Wis­ senschaft‹ gemeint ist. Demgegenüber gilt es, historische Entwicklungszusammen­ hänge zu berücksichtigen und zu bedenken, dass beide Bereiche lange Zeit sehr eng miteinander verknüpft waren und eigentlich erst seit dem 18. Jhd. strikter voneinander unterschieden werden (u.a. durch die eigenständige Forschung von Einzelwissen­ schaften wie Physik und Chemie und die Etablierung der Philosophie als akademische Disziplin). Geschichtsübergreifend lässt sich eine grundlegende Differenz zwischen ›Philosophie‹ und ›Wissenschaft‹ dadurch legitimieren, dass man dem genuinen ›Streit der Systeme‹ in der Philosophie (vgl. Woyke 2015) die kontinuierlichen Erkenntnisfortschritte insbesondere in den Naturwissenschaften gegenüberstellt und existentiell bedeutsame, aber unlösbare ›Rätsel‹ von lösbaren ›Problemen‹ unter­ scheidet; vgl. Plessner (1985). Eine bis heute wichtige Antwort auf die Frage ›Was ist Wissenschaft?‹ stammt von Kant: »Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d.i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft«; Kant (1997), S. 2, III. In einer Wissenschaft geht es demnach um rational begründetes bzw. begründbares Wissen, um einen systematischen Zusammenhang einzelner Aussagen im Sinne einer Theorie und um eine rationale Ordnung dieses Systems anhand all­ gemeiner Prinzipien. Hoyningen-Huene (2011), S. 588, greift Kants Betonung von Systematizität auf und formuliert die folgende These: »Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten, besonders dem Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität.« Er belegt diese These anhand von neun Dimensionen: Beschreibungen, Erklärungen, Vorhersagen, Verteidigung von Wis­ sensansprüchen, kritischer Diskurs, epistemische Vernetztheit, Ideal der Vollständig­ 1

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schritte führen aber vor allem seit der Neuzeit zu einer zunehmenden Emanzipation einzelwissenschaftlicher Disziplinen von der Philoso­ phie, sodass vormals philosophische Fragen (vermeintlich) zu einzel­ wissenschaftlichen Fragen werden. Es scheint also so zu sein, dass das Feld der Philosophie einer sukzessiven ›Ausdünnung‹ unterliegt, was einerseits zu Kritik und Abgrenzung von den Wissenschaften führt, andererseits aber auch die Fragen nach einem zeitgemäßen Selbstverständnis der Philosophie und nach einem angemessenen Verhältnis zu den Wissenschaften, und dabei insbesondere den Naturwissenschaften, aufwirft.3 Vor allem seit dem 19. Jahrhundert werden die Gegenstände, Methoden und Ziele der Wissenschaften zu einem wichtigen Thema philosophischer Reflexion, wobei gerade prominente Naturwissenschaftler wie Ernst Mach, Henri Poincaré und Pierre Duhem richtungsweisende Beiträge und Anregungen für die Konstitution der modernen Wissenschaftstheorie liefern.4 Wich­ tige Strömungen der modernen analytischen Philosophie beziehen sich auf die scharfe Metaphysikkritik des Logischen Empirismus und lehnen daher jede Art von Sonderstellung der Philosophie als eigenständige Metadisziplin ab: Science itself tells us that our information about the world is limited to irritations of our surfaces, and then the epistemological question is

keit, Vermehrung von Wissen, Strukturierung und Darstellung von Wissen. Im Unterschied zu Kant und der klassischen Wissenschaftstheorie verfolgt HoyningenHuene (2013), S. 8, mit seiner Charakterisierung einen allgemeinen Anspruch, wes­ halb er sich nicht nur auf die Naturwissenschaften, sondern auf Beispiele aus allen etablierten Wissenschaftsbereichen bezieht: »[I]t may sometimes be beneficial to include in the range of disciplines discussed not only the natural sciences but also the formal sciences, the social sciences, and the humanities.« 3 Anhand des folgenden Beispiels kann man verschiedene Verhältnisse der Philoso­ phie zu den Wissenschaften illustrieren, vgl. Poser (2004), S. 18 ff.: »Ein Fischer fischt mit einem Netz mit 5 cm Maschenweite und kommt zu folgender Gesetzmäßigkeit: ›Es gibt keine Fische, die kleiner als 5 cm sind‹.« 1. »Interessiert mich nicht, ich mag keinen Fisch:« Das entspricht einem philosophischen Desinteresse an den Wissen­ schaften. 2. »Wie großartig ist doch die Natur eingerichtet, kleinere Fische ließen sich gar nicht sinnvoll zubereiten:« Bezug hier ist eine wissenschaftliche Legitimation phi­ losophischer, theologischer oder weltanschaulicher Ansichten. 3. »Wie ist der Fischer zu seinem Gesetz gekommen?« Bezug hier ist die Frage nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ von Wissenschaft, was dem Standpunkt der klassischen Wissenschafts­ theorie und Ansätzen einer wissenschaftsorientierten Philosophie entspricht. 4 Vgl. Moulines (2008), S. 26 ff.

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Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften bei Russell und Whitehead

in turn a question within science: the question how we human animals can have managed to arrive at science from such limited information.5

Vor Quine und anderen Protagonisten einer naturalistischen Philoso­ phie verweisen wissenschaftsnahe Philosophen wie William James und Bertrand Russell auf die Bedeutung der Philosophie als begrün­ dender sowie kritischer Instanz. Bei James heißt es: »[T]o assume therefore, that the only possible philosophy must be mechanical and mathematical, […] is to forget the extreme diversity of aspects under which reality undoubtedly exists.«6 Russell stellt im letzten Kapitel von Probleme der Philosophie über den Wert dieser Disziplin fest: »Sie schlägt die etwas arrogante Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich des befreienden Zweifels aufgehalten haben, und sie hält unsere Fähigkeit zu erstau­ nen wach, indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten Seiten zeigt.«7 In der Darstellung seiner philosophischen Entwicklung verweist Russell darauf, dass es ihm von Anfang an darum ging, »welche Wissensansprüche wir stellen können, und bis zu welchem Grade diese Wissensansprüche als gesichert gelten dürfen, bzw. zu bezweifeln sind«8. Wenn diese Selbstcharakterisierung stimmt, was durchaus plausibel erscheint, liegt es nahe, dass das ›kritische Poten­ tial‹ der Philosophie im langen und verwickelten Denkweg Russells erhalten bleibt, womit er sich als ein wirklich bedeutsamer Philosoph über verkürzende Verortungen hinaus erweist. Dennoch tritt in seiner gedanklichen Entwicklung die Apologie der Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften zunehmend in den Hintergrund und wird durch eine immer stärkere Orientierung an der Physik, der experimentellen Psychologie und anderen Naturwis­ senschaften ersetzt. Russell gilt zu Recht – neben Moore, Frege und Wittgenstein – als ein Gründungsvater der analytischen Philosophie, und nicht ohne Grund wird er im berühmten Manifest des Wiener Kreises zusammen mit Einstein und Wittgenstein als ein führender Vertreter der ›wissenschaftlichen Weltauffassung‹ bezeichnet.9 Rus­ sells Opus ist zu umfangreich und seine Anregungen für wichtige Bereiche der theoretischen Philosophie – vor allem philosophische 5 6 7 8 9

Quine (2004a), S. 305. James (2005), S. 23 f. Russell (1967), S. 138. Russell (1973), S. 9. Vgl. Verein Ernst Mach (2006), S. 29.

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Logik und Philosophie der Mathematik, Sprachphilosophie, Meta­ physik und Ontologie – sind zu wichtig und zu vielfältig, um ihn auf solche Einordnungen zu verkürzen.10 Dennoch hat er sehr stark einen bestimmten Typus der wissenschaftsorientierten Philosophie geprägt, der bis heute großen Einfluss ausübt und es sehr schwer macht, den traditionellen Anspruch der Philosophie ›aufs Ganze‹ zu restituieren und auch bei Fragen der Naturerkenntnis über eine Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien hinauszugehen. Russells philoso­ phischer Lehrer Alfred North Whitehead, mit dem er insbesondere bei der Arbeit an den Principia Mathematica eng zusammengearbeitet hat, bezieht sich in seiner gedanklichen Entwicklung wie Russell stark auf die Methoden der neuen Logik und zeigt großes Interesse am phi­ losophischen Verständnis der modernen Physik. Er distanziert sich aber grundsätzlich von szientistischen Orientierungen und betont die kritische Funktion der Philosophie gegenüber einseitigen ›Kosmolo­ gien‹. Bis heute ist Whitehead einer der ganz wenigen Philosophen, die eine vertiefte Kenntnis der modernen Wissenschaften mit Bezü­ gen zur philosophischen Tradition und dem Entwurf einer systema­ tischen Metaphysik zu verbinden versuchen. Im Folgenden sollen die Positionen von Russell und Whitehead anhand exemplarischer Text­ bezüge dargestellt, erläutert und in Bezug auf bestimmte Kriterien einer ›holistischen Naturphilosophie‹11 miteinander verglichen wer­ den.

II. Bertrand Russell: Vom Idealismus zu einer naturalisierten Erkenntnistheorie Die Entwicklung von Bertrand Russell als Philosoph führt von einer kurzen idealistischen Phase über eine scharfe Kritik am Idealismus zum Projekt einer logizistischen Begründung der Mathematik und der Übertragung logischer und sprachanalytischer Methoden auf die Sprachphilosophie, die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftstheo­ rie, die Metaphysik und die Philosophie des Geistes, wobei sich Russell auf unterschiedliche systematische Einordnungen wie einen ›logischen Universalien-Realismus‹ unter Einbeziehung von Rela­ 10 11

Vgl. Mormann (2007), 153 ff.; Griffin (2003a) und Griffin (2003b). Vgl. Woyke (2013) und Woyke (2014).

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tionen,12 den ›Logischen Atomismus‹13 und den ›neutralen Monis­ mus‹14 bezieht. In seinen späteren Arbeiten seit den 1940er Jahren distanziert er sich zunehmend von der starken Orientierung an der Logik und orientiert sich stärker an den empirischen Wissenschaften, denen er auch das Potential zuerkennt, Wesentliches zur Lösung erkenntnistheoretischer, ontologischer und anderer philosophischer Fragestellungen beizutragen. Er nähert sich insofern einem Szientis­ mus bzw. Naturalismus, wie sie später von analytischen Philosophen wie Quine und Sellars vertreten werden. In der frühen Phase seines Denkens, in der sich Russell auf den vor allem von Francis H. Bradley vertretenen britischen Idea­ lismus bezieht, unterscheidet er strikt zwischen Philosophie und Wissenschaft und spricht den Wissenschaften ›wahres Wissen‹, das nur ›Wissen vom Absoluten‹ sein kann,15 ab: »Ich hatte mir die Hegelsche Ansicht zu eigen gemacht, dass keine Einzelwissenschaft uneingeschränkt wahr sein könne, weil jede von ihnen auf Abstraktio­ nen beruhe, die früher oder später unvermeidlich zu Widersprüchen führen müssten.«16 Angeregt durch seinen Freund George Edward Moore wendet sich Russell jedoch bald vom Idealismus ab und einem den Wissenschaften entsprechenden pluralistischen Realismus zu, wobei er insbesondere das sog. Axiom der internen Relationen kritisiert, gemäß dem es keine externen Relationen geben kann,17 weil es letztlich nur ›das Absolute‹ gibt:

Vgl. Russell (1999), S. 58 ff. und Russell (2003a). Vgl. Russell (1976). 14 Vgl. Russell (2006a). 15 In dem kurzen, bereits den Bradleyschen Idealismus kritisierenden Text Seems, Madame? Nay, it is von 1897 liefert Russell die folgende ironische Charakterisier­ ung: »The principle of any such metaphysics may be put in a nutshell. ›God’s in his heaven, all’s wrong with the world‹ – that is its last word«; Russell (2003b), S. 54. 16 Russell (1973), S. 41 f. 17 Die Aufwertung des Begriffs der Relation ist auch von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der modernen Logik: »Die traditionelle Logik kann die Realität der Rela­ tionen aufgrund ihrer Überzeugung, alle Sätze müssten die Subjekt-Prädikat-Form haben, unmöglich anerkennen«; Russell (2004), S. 56. Gerade für die Philosophie der Mathematik ist eine Logik der Relationen von zentraler Bedeutung; vgl. Russell (2006b), S. 51 ff. Ein begriffliches Verständnis von Relationen ist darüber hinaus wesentlich »für alle diejenigen Wissenschaften, die es mit Reihen und Ordnungen zu tun haben: Arithmetik (Zahlenreihe), Geometrie (Punktreihen), Physik (alle Maß­ reihen: solche des Raumes, der Zeit und der verschiedenen Zustandsgrößen)«, Carnap (2004), S. 70. 12

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Ich kam so zu einer Welt, die man beinahe schon für etwas überfüllt hätte halten können. Ich stellte mir die Zahlen gleichsam auf langen Bänken im Himmel Platons sitzend vor […]. Ich hielt Raum- und Zeitpunkte für existierende Gebilde und glaubte, dass die Materie durchaus aus den Elementen bestehen könnte, von der in der Physik die Rede war. Ich glaubte an eine Welt der Universalien, die hauptsächlich aus dem bestand, was in der Sprache durch Verben und Präpositionen bezeichnet wird. Und vor allem brauchte ich mich nicht länger zu der Überzeugung zu zwingen, dass die Mathematik nicht restlos wahr sein kann.18

In diesem Zitat zeigt sich schon sehr deutlich, dass für Russell die Philosophie nur im engen Bezug auf die Methoden und Erkenntnisse der formalen und empirischen Wissenschaften legitime Erkenntnis­ ansprüche formulieren kann und jede Philosophie, die auf solche Bezüge verzichtet oder eine generelle Überlegenheit gegenüber den Einzelwissenschaften behauptet, völlig untauglich für die Erkenntnis der Wirklichkeit ist. In dem frühen Text Probleme der Philosophie geht Russell in den beiden letzten Abschnitten kritisch auf die Grenzen der philoso­ phischen Erkenntnis und affirmativ auf den Wert der Philosophie ein. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die klassischen Entwürfe der Metaphysik und im besonderen Maße wiederum gegen einen Idealismus, den Russell unmittelbar auf Hegel bezieht, der aber vor allem dem britischen Idealismus von Bradley, McTaggart und anderen entspricht. Die Inanspruchnahme logischer Argumente für metaphysische Zwecke weist Russell als unangemessen zurück: Es scheint so, als ob die Erkenntnis des Universums als eines Ganzen durch die Metaphysik nicht erreicht werden kann, und daß Beweise, die besagen, aufgrund der Gesetze der Logik müßten diese oder jene Dinge existieren und andere nicht existieren, einer kritischen Prüfung nicht standhalten.19

Russell bezieht sich implizit auf die, eigentlich nur im größeren Zusammenhang seines dialektischen Denkens verständliche, These Hegels, dass das Wahre das Ganze ist,20 und karikiert sie im Sinne einer Art ›Baukasten-Metaphysik‹, innerhalb derer die einzelnen ›Teile‹ der Realität durch ihre ›Struktur‹ auf andere ›Teile‹ und so 18 19 20

Russell (1973), S. 64. Russell (1967), S. 125. Vgl. Hegel (1988), S. 15.

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letztlich auf das ganze Universum bzw. auf das Absolute verweisen. Die allgemeine dialektische Methode für den Aufstieg zur Erkenntnis der ›absoluten Idee‹ schildert er knapp, er leitet daraus aber den gegenüber Hegel oft formulierten Einwand ab, dass die Wirklichkeit aus der absoluten Perspektive ein harmonisches System sein müsse, innerhalb dessen alle konkreten Aspekte wie Raum, Zeit, Materie, das Böse und der Streit widersprüchlich sind und daher nicht wirklich real sein können. Russell gesteht zu, dass diese idealistische Sicht der Dinge eine gewisse Erhabenheit besitzt, aber er betont, dass sie auf unbegründeten Annahmen über das ›Wesen‹ (nature) eines Dinges beruhe. Wenn das Wesens eines Dinges – in einer deutlichen Differenz zur aristotelischen Unterscheidung zwischen substantiellen und akzidentellen Bestimmungen – der Summe aller wahren Aussa­ gen über dieses Ding entsprechen würde, dann könnten wir es nur erkennen, wenn wir alle Beziehungen dieses Dinges zu allen anderen Dingen kennen würden. Russell verweist darauf, dass innerhalb eines solches Gebrauchs von ›Wesen‹ die Erkenntnis von Dingen (knowledge of things) mit der Erkenntnis von wahren Aussagen (knowledge of truth) vermischt wird:21 »We may have knowledge of a thing by acquaintance even if we know very few propositions about it – theoretically we need not know any propositions about it. Thus, acquaintance with a thing does not involve knowledge of its ›nature‹ in the above sense«22. Auch wenn die Erkenntnis von Dingen durch Bekanntschaft (acquaintance) relevant ist für die Formulierung von Aussagen über dieses Ding, ist ein Wissen um das Wesen selbigen Dinges für diese Erkenntnisart irrelevant. Die Bekanntschaft mit einem Ding führt also weder notwendig zu einem Wissen über die Beziehungen dieses Dings zu anderen Dingen, noch führt das Wissen über einige Beziehungen zu einem Wissen über alle Beziehungen und damit zum Wesen: »Thus the fact that a thing has relations does not prove that its relations are logically necessary. That is to say, from the mere fact that it is the thing it is we cannot deduce that it must have the various relations which in fact it has«.23 Damit bricht in der Sicht Russells die idealistische Vorstellung des Univer­ sums als harmonisches System zusammen, und die Wirklichkeit wird wieder in den vormals ausgeschlossenen konkreten Aspekten und 21 22 23

Zu diesen Unterscheidungen vgl. Russell (1999), S. 31 ff. Ibid., S. 105. Ibid., S. 106.

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ihrer Pluralität sichtbar. Die Erforschung der Wirklichkeit kann nicht einem großen spekulativen Entwurf folgen, sie muss sich den Teilen und Bereichen der Wirklichkeit zuwenden, die unserer Erfahrung zugänglich sind: »This result […] is in harmony with the inductive and scientific temper of our age, and is borne out by the whole examination of human knowledge.«24 Russell betont also schon 1905 die Angewiesenheit der Philosophie auf die einzelwissenschaftliche Forschung und verdeutlicht an verschiedenen Beispielen, wie meta­ physische Thesen durch neue wissenschaftliche Ergebnisse widerlegt wurden: Auch wenn es sehr plausibel ist, Raum und Zeit sowohl als unendlich ausgedehnt als auch als unendlich teilbar anzusehen, erscheint in philosophischer Perspektive der Status von Raum und Zeit als widersprüchlich, weil es keine unendlichen Mengen geben könne.25 Russell verweist hier auf Georg Cantor, der mathematisch zeigen konnte, »that the impossibility of infinite collections was a mis­ take«26. In ähnlicher Weise wurde die philosophische Ansicht von der notwendigen Geltung der euklidischen Geometrie durch die logisch konsistente Formulierung nicht-euklidischer Geometrien widerlegt. Diese Beispiele belegen für Russell eindringlich, dass jede Art einer Erkenntnis der Wirklichkeit anhand apriorischer Prinzipien geschei­ tert ist und dass die Logik nicht mehr als Mittel einer Beschränkung unserer Vorstellungen gebraucht werden kann, sondern vielmehr befreiend auf unser Vorstellungskraft wirkt, »presenting innumerable alternatives which are closed to unreflective common sense«27. Der Erfahrung und den Erfahrungswissenschaften kommt dann die Auf­ gabe zu zu entscheiden, welche der logischen Alternativen empirisch plausibel sind – soweit das eben möglich ist. Beweise oder zumindest gute Bestätigungen für allgemeine Gesetzmäßigkeiten wie das Gravi­ tationsgesetz sind für Russell – in einer gewissen Parallele zu Kant Ibid., S. 107. Nach Ansicht Russells weist erst Kant auf diesen Widerspruch hin, wobei er sich wohl auf die ›kosmologischen Antinomien‹ aus der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft bezieht; vgl. Kant, KrV, B 454 ff. Demgegenüber steht fest, dass sich diese Problematik bis auf Aristoteles und die mittelalterlichen Debatten der aristotelischen Kosmologie zurückführen lässt. Irrtümlich ist es sowohl, wenn Russell Kants Verständnis von ›Raum‹ und ›Zeit‹ als transzendentale Anschauungsformen als eine Folgerung aus den kosmologischen Antinomien als auch, wenn er dieses Ver­ ständnis als »merely subjective« charakterisiert; vgl. Russell (1999), S. 107. 26 Ibid. 27 Ibid., S. 108. 24

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– nur durch eine Verknüpfung zwischen empirischem Wissen über die Existenz von Dingen und einige ihrer Eigenschaften einerseits und apriorischem Wissen andererseits möglich, das sich auf die Ver­ knüpfung von Universalien bezieht und Schlussfolgerungen aus dem Erfahrungsmaterial ermöglicht: »Our derivative knowledge always depends upon some pure a priori knowledge and usually also depends upon some pure empirical knowledge.«28 Eine wichtige Konsequenz aus diesen Überlegungen besteht für Russell darin, dass es keine grundlegenden Unterschiede zwischen philosophischem und wissen­ schaftlichem Wissen gibt und dass sich daher auch die Philosophie auf keine besonderen Erkenntnisquellen beziehen kann. Die einzigen Charakteristika der Philosophie, die sie in wesentlicher Hinsicht von den Wissenschaften unterscheiden, sind ihre grundlegende Kritik an Vorannahmen, Prinzipien, Methoden und Argumentationsformen und ihre radikale Prüfung bestehender Erkenntnisansprüche. Die Erkenntniskritik ist ein wesentliches Element philosophischer Refle­ xion, sie darf aber nicht zu einem umfassenden Skeptizismus führen, der sich als solcher nicht widerlegen lässt: »For all refutation must begin with some piece of knowledge which the disputants share; from blank doubt, no argument can begin.«29 Einen methodischen Zweifel im Sinne Descartes’ erkennt Russell demgegenüber an, da ein solcher wesentlich an der Begründung von Wissen orientiert ist und insofern der kritischen Funktion der Philosophie entspricht. Wissen zu verwerfen, gegen das es keine sinnvollen Einwände gibt, wozu Rus­ sell zweifellos das logisch-mathematische Wissen, die Grundlagen der empirischen Erkenntnis sowie zentrale Ergebnisse der modernen Physik und anderer Naturwissenschaften zählt, ist unvernünftig und kann daher auch kein Ziel der philosophischen Erkenntniskritik sein. Besonders interessant für eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft beim frühen Russell ist der Schlussabschnitt aus Probleme der Philosophie über den Wert der Philosophie. Er äußert dort seine Besorgnis darüber, dass die wis­ senschaftlich-technischen Fortschritte zu vielen Erleichterungen des Lebens geführt haben und viele Menschen dazu neigen, sich auf ihre praktischen Bedürfnisse zu beziehen und Philosophie für ein lebens­

28 29

Ibid., S. 109. Ibid., S. 110.

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fernes Spiel ohne praktischen Nutzen zu halten.30 Russell verweist darauf, dass diese Ansicht sowohl auf einer problematischen Konzep­ tion der Lebensorientierung als auch auf einem Missverständnis hin­ sichtlich der Zielsetzungen der Philosophie basiert. Bei den Naturwis­ senschaften ist es offensichtlich, dass viele ihrer Erkenntnisse über die Ermöglichung technischer Anwendungen für viele Menschen nützlich sind, ohne dass es ein vertieftes Interesse am Verständnis naturwis­ senschaftlicher Theorien gäbe. Auch wenn die Naturwissenschaften – entgegen aktueller Tendenzen und öffentlicher Erwartungen – sich nicht in ihrer Nützlichkeit und der Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse erschöpfen, sondern in wesentlicher Hinsicht unsere Welterkenntnis erweitern und daher auch für das philosophische Denken wichtige Anregungen und Bezugspunkte liefern, macht gerade ihre Nützlich­ keit ein Plädoyer für mehr naturwissenschaftliche Bildung leicht. Die Philosophie kann bei der Frage nach ihrem Wert nicht auf eine solche unmittelbare Nützlichkeit verweisen, weshalb es nach Russell darum gehen muss, ihren Wert »through its effects upon the lives of those who study it«31 aufzuzeigen, wobei er sich dezidiert nicht nur auf Philosophiestudierende, sondern letztlich auf alle Menschen bezieht. Dies ist nur möglich, wenn man sich frei macht von den Vorurteilen, die man fälschlich dem ›praktischen Leben‹ zuschreibt. Russell plädiert hier für eine gehaltvolle Anthropologie, die den Men­ schen nicht auf seine physischen und materiellen Bedürfnisse verkürzt und die anerkennt, dass es auch ›geistige Bedürfnisse‹ (goods of the mind) gibt, auf die sich gerade der Wert der Philosophie bezieht, d.h., nur Menschen, die diese Güter als relevant ansehen, können davon überzeugt werden, dass die Philosophie nicht nur ein nutzloses Spiel ist. Wesentliche Aufgaben der Philosophie bestehen nach Russell darin, einerseits vorhandenes Wissen affirmativ in eine systematische Kritik an der Philosophie aus der Perspektive des ›praktischen Lebens‹ gibt es seit ihren Anfängen in der griechischen Antike. Paradigmatisch hierfür steht die von Pla­ ton erzählte Geschichte von Thales und der thrakischen Magd (vgl. Theaitetos, 174a ff.). Russell hat aber sicher recht, wenn er darauf verweist, dass durch die Ent­ wicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften diese Kritik verschärft wurde, da ihre Erkenntnisse nützlich sind und insofern wirklich zur Lösung von Problemen beitra­ gen. Hinsichtlich der platonischen Geschichte sollte man allerdings auch darauf hin­ weisen, dass man sie ebenso als eine Kritik an allen theoretischen Wissenschaften verstehen kann, da es zur Zeit von Thales weder Philosophie noch Wissenschaft als eigenständige Disziplinen gab und wir ihn angesichts seines Blicks zum Himmel insofern sowohl als Astronomen als auch als Philosophen verstehen können. 31 Russell (1999), S. 111. 30

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Ordnung zu bringen und andererseits bestehende lebensweltliche und wissenschaftliche Erkenntnisansprüche kritisch auf ihre Geltung hin zu überprüfen. Dass die Philosophie im Vergleich mit den Einzel­ wissenschaften wenig ›positive Ergebnisse‹ vorzuweisen hat, erklärt er zum einen mit der ›Ausdünnung‹ des Gegenstandsbereichs der Philosophie durch die mit der Konstitution wissenschaftlicher Diszi­ plinen ermöglichten Problemlösungen und Erkenntnisse. Philosophie zeigt sich in dieser Perspektive als der zunehmend kleiner werdende Bereich jener Fragen, auf die die Wissenschaften noch keine verbind­ lichen Antworten geben können. Zum anderen verweist Russell aber auch darauf, dass es viele Fragen gibt, die einer entsprechend einfachen Lösbarkeit prinzipiell entzogen sind.32 Die grundlegende Schwierigkeit, solche Fragen zu beantworten, erweist sie keinesfalls als irrelevant, und in der Beschäftigung mit ihnen sieht Russell gerade einen besonderen Wert der Philosophie: Philosophy, though unable to tell us with certainty what is the true answer to the doubts which it raises, is able to suggest many possibil­ ities which enlarge our thoughts and free them from the tyranny of custom. Thus, while diminishing our feeling of certainty as to what things are, it greatly increases our knowledge as to what they may be.33

Ein Leben zu wählen, das nur von den eigenen Interessen und vom engeren Umfeld dieser Interessen bestimmt wird, ist für Russell unfrei und konfliktreich, während ein gegenüber der philosophischen Reflexion aufgeschlossenes Leben Distanz vom Persönlichen schaffen und so zu mehr Freiheit führen kann – »through the infinity of the universe the mind which contemplates it achieves some share in infinity«34. Erkenntnis ist immer eine ›Vereinigung des Selbst mit 32 Hierin kann man eine Parallele zu Plessners Unterscheidung zwischen ›Proble­ men‹ und ›Rätseln‹ sehen; vgl. Plessner (1985). Plessner bezieht die ›Rätsel‹ allerdings vor allem auf zentrale Fragen der menschlichen Existenz, mit der jede neue Generation unter den jeweiligen historischen Bedingungen konfrontiert wird, während Russell sich exemplarisch auf allgemeine ontologisch-metaphysische Fragen wie die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Determinismus und Teleologie in Bezug auf den Ursprung der Welt, nach der Stellung des Bewusstseins im Universum und nach der ontologischen Bedeutung normativer Begriffe wie ›gut‹ und ›böse‹ bezieht. Außerdem verweist er zumindest implizit auf die Möglichkeit einer künftigen Erwei­ terung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, die bisherige ›Rätsel‹ lösbar machen könnte. 33 Russell (1999), S. 114. 34 Ibid., S. 115.

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einem Anderen‹, weshalb sie nur gelingen kann, wenn wir die Gegen­ ständlichkeit und Eigenständigkeit der Wirklichkeit anerkennen und sie nicht nur auf menschliche Maßstäbe reduzieren, womit Russell abermals seine Kritik an allen rein idealistischen bzw. rationalisti­ schen Philosophien bekräftigt, die ihre Überlegenheit gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis betonen. Aus diesen frühen Überlegungen Russells zu den Grenzen der philosophischen Erkenntnis einerseits und zur besonderen Relevanz der Philosophie andererseits ergeben sich zwei wichtige Konsequen­ zen, die seinen weiteren Denkweg wesentlich bestimmen: Zum einen die Forderung nach einer engen Kooperation der Philosophie mit den Einzelwissenschaften in Bezug auf eine systematisch geord­ nete und nach Einheit strebende Erkenntnis der Wirklichkeit, zum anderen die Forderung nach einer grundlegenden Kritik bestehen­ der Erkenntnisansprüche. Russells Ansätze von der logizistischen Begründung der Mathematik über die Übertragung logischer Argu­ mentationsformen auf naturwissenschaftliche Theorien und wichtige Bereiche der theoretischen Philosophie bis zur Formulierung syste­ matischer philosophischer Konzepte wie insbesondere des Logischen Atomismus können in unterschiedlichen Anteilen als Umsetzungen dieser beiden Forderungen verstanden werden. Dabei expliziert er sukzessive eine Art des ›wissenschaftlichen Philosophierens‹, bei der die in Probleme der Philosophie betonte Bedeutung spekulativen Denkens, einer »intellectual imagination«35 und einer bestimmten Verschränkung der theoretischen Kontemplation mit Aspekten der praktischen Lebensorientierung eine immer geringere Rolle spielen. In seinen Logischen Atomismus setzte er große Hoffnungen hinsicht­ lich der Begründung der ›wissenschaftlichen Philosophie‹, mit der die bisherige Unfruchtbarkeit philosophischer Methoden überwunden werden könnte: Diese Art des Philosophierens, die einzige von allen, die ich denke vertreten zu können, hat bis jetzt noch nicht viele überzeugte Anhän­ ger […]. Meines Erachtens liegt hier ein ähnlicher Fortschritt vor wie der durch Galilei in der Physik erzielte: Beweisbare Einzelergeb­ nisse treten an die Stelle unbewiesener, auf das Ganze ausgerichteter Behauptungen, bei denen man sich lediglich auf die Einbildungskraft berufen kann.36 35 36

Ibid., S. 117. Russell (2004), S. 10.

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Während er in der Phase des Logischen Atomismus (1910–1925) insbesondere der Orientierung der Philosophie an der neuen rela­ tionalen Logik das Potential zuspricht, philosophische Probleme in logische Probleme zu transformieren37 und so wesentlich zu einer Verwissenschaftlichung der Philosophie beizutragen, distanziert er sich später zunehmend vom Logizismus und stellt schließlich in Human Knowledge. Its Scope and Limits von 1948 fest: I think it is unfortunate that during the last hundred and sixty years or so philosophy has come to be regarded as almost as technical as mathematics. Logic, it must be admitted, is technical in the same way as mathematics is, but logic, I maintain, is not part of philosophy. Philo­ sophy proper deals with matters of interest to the general educated public, and loses much of its value if only a few professionals can understand what is said.38

Russell grenzt sich damit von der vorher als revolutionär verstan­ denen logizistischen Philosophie ab und bezieht sich verstärkt auf die Ergebnisse und Methoden der Naturwissenschaften, womit er in gewisser Weise das insbesondere von Quine explizierte Programm einer naturalisierten Erkenntnistheorie vorwegnimmt.39 Er erweitert dabei sein Verständnis von Wissen durch eine stärkere Berücksich­ tigung unterschiedlicher Formen empirischen Wissens und macht damit deutlich, dass menschliches Wissen per se fehlbar und ungewiss ist und dass daher der philosophische Anspruch einer systematischen Ordnung dieses Wissens insgesamt fragwürdig erscheint: »›Know­ ledge‹, as we have seen, is a term incapable of precision. All knowledge is in some degree doubtful, and we cannot say what degree of doubtfulness makes it cease to be knowledge, any more than we can say how much loss of hair makes a man bald«.40 »Die Gegenstände, die wir in unserer ersten Vorlesung besprochen haben, wie auch jene, die später noch zur Sprache kommen werden, lassen sich, wenigstens insoweit sie wahrhaft philosophischer Natur sind, sämtlich auf logische Probleme zurückfüh­ ren«; Russell (2004), S. 41. »Und wie die Naturwissenschaft, die in der Zeit von Plato bis zur Renaissance genau so schwerfällig, rückständig und abergläubisch war wie die Philosophie, durch [...] die mathematische Bearbeitung der Ergebnisse zum Range einer Wissenschaft erhoben wurde, so wird dies auch in unseren Tagen die Philosophie durch die Einführung neuen Tatsachenmaterials und logischer Methoden«; ibid., S. 269. 38 Russell (2009), S. XV. 39 Vgl. Quine (2004b) und Mormann (2007), S. 138 ff. 40 Russell (2009), S. 437. 37

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In Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens von 1959 erläu­ tert Russell sein Selbstverständnis als Philosoph sowie sein Weltbild und gibt dabei nochmals wichtige Hinweise zu seinem Verständnis des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft, wobei sich deutliche Differenzen zu den frühen Charakterisierungen in Probleme der Philosophie zeigen. Zunächst fällt auf, dass er eigentlich kaum noch von Philosophie, sondern vor allem von seiner ›Weltsicht‹ spricht und sich dabei auf eine »Synthese vier verschiedener Wis­ senschaften, nämlich der Physik, der Physiologie, der Psychologie und der mathematischen Logik«41 bezieht. Er bekräftigt, dass er es für falsch hält, zunächst im Sinne Kants erkenntnistheoretisch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis zu klären und diese Einsichten dann auf mögliche Gegenstände von Erfahrung und Erkenntnis zu beziehen: »[U]nser Wissen, wie wir zum Wissen gelangen, ist – so wie ich es sehe – nur ein Bruchteil alles dessen, was wir wissen.«42 Außerdem richtet die traditionelle Vorgehensweise den Fokus auf das Subjekt und stützt damit die für Russell irrtümlichen Auffassungen, dass das ›Geistige‹ per se wichtiger ist als das materielle Universum oder dass gar im Sinne von Berkeleys subjektivem Idealismus alles Materielle nur ein Produkt des Geistes ist. Russell betont sein Vertrauen in die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung, die uns darauf verweisen, dass Bewusstsein ein sehr spätes Produkt langfristiger und komplizierter kosmologischer und evolutionsbiologischer Prozesse ist, weshalb jede Art von idealistischer Philosophie als höchst fragwürdig erscheint. Die Theorien der modernen Physik haben zwar nicht mehr die Klar­ heit der Newtonschen Mechanik, aber wir können sie nicht einfach in Abrede stellen und müssen anerkennen, dass es keine wirkliche Alterative zur modernen Wissenschaft gibt, womit Russell die szien­ tistische bzw. naturalistische Orientierung seines reifen Denkens zum Ausdruck bringt: Die Wissenschaft hat zwar nie absolut recht, aber sie hat dafür auch fast nie absolut unrecht; und bei wissenschaftlichen Theorien ist die Wahrscheinlichkeit im allgemeinen größer als bei erklärtermaßen unwissenschaftlichen Theorien. Deshalb ist es vernünftig, wenn man

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Russell (1973), S. 14. Ibid.

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die Ergebnisse der Wissenschaft – zumindest ›bis auf Widerruf‹ akzep­ tiert.43

Ein Problem ergibt sich allerdings durch die Abstraktheit der Theorien der modernen Physik, die zwar etwas über die logische Struktur, aber nichts über die inhaltliche Beschaffenheit der Ereignisse aussagen.44 An verschiedenen Beispielen versucht Russell klar zu machen, dass physikalische Gesetzmäßigkeiten Aussagen über Kausalzusammen­ hänge zwischen verschiedenen Ereignissen – etwa zwischen dem von einem Stern ausgesandten Licht und dem auf der lichtempfindlichen Schicht einer Plattenkamera erzeugten Bild – ermöglichen, anhand derer auch unabhängig von bestimmten subjektiven Erfahrungen Schlüsse auf die raum-zeitliche Verortung und andere Eigenschaften der Ereignisse getroffen werden können. Die Abstraktionen der theo­ retischen Physik von der Erfahrungswirklichkeit unterscheiden sich insofern nicht grundsätzlich, sondern nur graduell von einfacheren Abstraktionen, wie sie auch jenseits wissenschaftlicher Theorien im Alltag vorkommen.45 Es ist für Russell aber durchaus evident, dass die Kausalzusammenhänge wesentlich komplizierter werden, wenn tatsächlich ein menschlicher Beobachter – etwa des Sternenlichts – involviert ist. Aus lebensweltlicher Sicht erscheint es zunächst seltsam und verwirrend, dass es einerseits keine Strukturgleichheit zwischen dem Sehen eines Sterns und den entsprechenden Abläufen innerhalb des Sehnervs und des Gehirns gibt, wie sie ein Physiologe oder Neurologe untersuchen könnte, andererseits aber feststeht, dass Ibid., S. 15 f. Russell bezieht sich hier – wie auch in anderen Texten – auf Whiteheads Aus­ zeichnung von ›Ereignissen‹ (events) als basale Entitäten, übernimmt aber nicht den Neologismus actual entity. Etwas später im Text verweist er allerdings auch darauf, dass man die Analyse noch weiter treiben kann und dann zu einem Punkt kommen würde, »wo ›Ereignisse‹ nicht mehr als die Grundbausteine der Welt zu betrachten sind«; Russell (1973), S. 19. Er betont aber, dass er diese Möglichkeit im Kontext nicht weiter untersuchen will. In Physics and Metaphysics von 1928 versucht Russell zu zeigen, dass die Theorien der modernen Physik zu einer neuen Metaphysik und einer Verabschiedung von ›Dingen‹, ›Objekten‹ bzw. ›Substanzen‹ als ontologischen Basis­ entitäten führen: »I think that if we were to search for one short phrase to characterize the difference between the newer physics and that of past times, I should choose the following: The world is not composed of ›things‹«; Russell (2003c), S. 192. 45 Russell verweist auf die Abstraktion von realen Menschen und ihren Eigenschaf­ ten bei einer Volkszählung. Man könnte allgemein auch auf den Gebrauch von Durchschnittsangaben etwa bei Autos oder anderen technischen Geräten und auf die sprichwörtliche Rede über ›Otto Normalverbraucher‹ verweisen. 43

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ohne diese Abläufe gar kein Sehvorgang möglich wäre. Eine Lösung dieser Schwierigkeit kann für Russell nicht darin bestehen, sich mit irgendeiner Dualität zwischen Geist und Materie abzufinden, sondern nur darin anzuerkennen, dass die Verhältnisse hier zwar verwickelter sind als bei einfachen physikalischen Beispielen, dass aber letztlich kein grundlegender Unterschied etwa gegenüber der Transformation von elektromagnetischen Wellen in Schallwellen besteht. Auch hier zeigt sich also Russells starke Orientierung an den Wissenschaften und die Antizipation einer naturalisierten Erkenntnistheorie, die die Logik als Basisdisziplin verabschiedet und Psychologie und Physio­ logie besonders auszeichnet. Er betont, dass die in der modernen Physik und anderen Wissenschaften angenommenen Entitäten einen anderen Status von ›Realität‹ haben als die Dinge unserer alltäglichen Erfahrung, da sie nicht unmittelbar, sondern nur über Schlussfolge­ rungen zugänglich sind. Für Russell als Realisten steht fest, dass es viele Dinge gibt, »die wir wissen, ohne dass uns die Experten über sie belehren müssten«.46 Schon bei unseren eigenen Augen zeigt sich aber deutlich, dass es zwar äußerst unplausibel ist, ihre Existenz zu bestreiten, dass wir hier aber letztlich nur indirekte Belege für Existenzbehauptungen haben und unser Wissen auf Schlussfolgerun­ gen basiert. Wir können für Russell insofern die außerordentlich gut begründeten Schlussfolgerungen in modernen wissenschaftlichen Theorien nicht einfach anzweifeln, ohne damit zugleich auch die Legitimität solcher lebensweltlich relevanten Schlussfolgerungen in Abrede zu stellen. Ein Wissen über die Außenwelt ist dann möglich, wenn sie kausal auf uns bzw. auf unser Bewusstsein einwirkt, womit Russell in gewisser Weise die Programmatik von Quines naturali­ sierter Erkenntnistheorie from stimulus to science antizipiert.47 Im Unterschied zu Quine bettet er allerdings diese Verknüpfung zwi­ schen Wahrnehmungspsychologie und Erkenntnistheorie in einen spekulativen metaphysischen Rahmen, wobei er sich auf Leibniz’ Monadologie bezieht:48

Russell (1973), S. 22. Vgl. Quine (1998). 48 Im Unterschied zu Russells Gegenüberstellung von ›Bewusstseinsraum‹ und ›phy­ sikalischem Raum‹ charakterisiert Leibniz seine Monaden natürlich als ohne Aus­ dehnung, ohne Gestalt und ohne Teile und bezeichnet sie daher als »les veritables Atomes de la Nature«; Leibniz, Monadologie, S. 110 (3). 46

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Es gibt einen eigenen Raum für die Welt meiner Wahrnehmungen, und daneben den objektiven Raum der Physik; und genau wie Leibniz bin auch ich der Ansicht, dass mein Wahrnehmungsraum sich objektiv in einem winzigen Teil des physikalischen Raums befindet.49

In Anlehnung an Einsteins relativistische Physik ist für Russell bereits die raumzeitliche Ordnung der Natur mit einer bestimmten kausalen Struktur der Wirklichkeit verbunden, weshalb es absurd erscheint, die Generierung von Wahrnehmungen, Gedanken, Gefüh­ len und anderen Bewusstseinsphänomenen als unabhängig von diesen Zusammenhängen zu verstehen. Wenn sich Naturprozesse nur durch kausale Beziehungen raumzeitlich verorten lassen, dann müssen Wahrnehmungsgehalte, Gedanken u. ä. im Gehirn sein, und für Russell steht fest, »dass wir überhaupt nur das bemerken und beobachten können, was in unserem Kopf vorgeht, und sonst nichts«.50 Wenn ›Ereignisse‹ die ontologische Basiskategorie sind, was durch die Theorien der modernen Physik gestützt wird,51 dann muss sich auch ›Bewusstsein‹ als eine komplexe Vernetzung von Gehirnprozessen rekonstruieren lassen, die – als Besonderheit – durch die Fähigkeiten ›Erinnerung‹ bzw. ›Gedächtnis‹ »in beiden Zeitrichtungen durch ›Erinnerungsketten‹ verbunden sind«52. Russell erkennt an, dass wir hinsichtlich unseres eigenen Bewusstsein über ein besonders unmittelbares Wissen verfügen, kann dies aber dadurch erklären, dass es dabei nicht nur um ein abstraktes Wissen über logi­ sche Strukturen, sondern auch um ein konkretes und phänomenales Wissen über qualitative Eigenschaften von Dingen geht.53 In der Dar­ stellung seines Selbstverständnisses als gereifter Philosoph bekennt sich Russell also sehr deutlich zu einem moderaten Szientismus bzw. Russell (1973), S. 24. Ibid., S. 25. Russell verkennt hier die wesentliche Differenz zwischen unseren sub­ jektiven Erfahrungen und dem objektivierbaren naturwissenschaftlichen Wissen über neurophysiologische Prozesse, die bis heute einen wichtigen Bezugspunkt für die ver­ schiedenen Ansätze in der Philosophie des Geistes bildet. Selbst Vertreter eines ›har­ ten Naturalismus‹ wie Smart oder Lewis erkennen diese Differenz prinzipiell an. Für Thomas Metzinger steht fest, dass unser Selbstverständnis als bewusste und freie Wesen auf von unserem Gehirn produzierten Illusionen beruht, hinter denen unbe­ wusste Selbstorganisationsprozesse wirksam sind, die wir als solche weder bemerken und beobachten können. Vgl. Metzinger (2009). 51 Vgl. Russell (2003c). 52 Ibid., S. 26. 53 Russell stützt damit die bis heute kontrovers diskutierte Annahme, dass es ein besonderes Wissen aus der Perspektive der ›Ersten Person‹ gibt. 49

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Naturalismus und betont die Erklärungsleistungen moderner natur­ wissenschaftlicher Theorien, auf die sich jede zeitgemäße Philosophie einlassen muss. Spekulative Betrachtungen schließt er nicht grund­ sätzlich aus, wie etwa der Bezug auf Leibniz deutlich macht, bindet sie aber ein in sein Verständnis einer wissenschaftlichen Philosophie und lehnt jede Art einer überlegenen Kritik der Philosophie an den Ein­ zelwissenschaften ab.

III. Alfred North Whitehead: Vom Logizismus zur Philosophie des Organismus Die gedankliche Entwicklung von Alfred North Whitehead führt von den frühen Arbeiten an einer logizistischen Begründung der Mathe­ matik über verschiedene Ansätze einer wissenschaftstheoretischen Reflexion moderner physikalischer Theorien und erste Versuche einer ganzheitlichen Naturphilosophie zu den reifen systematischen Ent­ würfen einer prozessphilosophischen Metaphysik bzw. Organismus­ philosophie und damit verknüpften Überlegungen zur Kulturtheorie. In seiner logisch-mathematischen Phase (1898–1914) bezieht sich Whitehead über die konkreten Probleme der mathematischen Logik hinaus auch auf deren Relevanz für die wissenschaftliche und philo­ sophische Deutung der Natur.54 Zudem versucht er in Bezug auf Einsteins Relativitätstheorien, eine alternative Geometrie zu entwi­ ckeln, die ein neues Verständnis der Grundbegriffe ›Raum‹, ›Zeit‹ und ›Materie‹ und so eine Betonung des prozessualen Charakters der Wirklichkeit ermöglichen kann.55 Die sich aus dem Bezug der mathematischen Logik auf die empirische Welt ergebenden Wider­ sprüche versucht Whitehead in seiner naturphilosophischen Phase (1915–1922) durch systematische Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Natur zu überwinden: Die vornehmlichste Aufgabe […] besteht darin, den Begriff der Natur, aufgefaßt als ein komplexes Faktum für die Erkenntnis, zu erläutern, die grundlegenden Entitäten und grundlegenden Relationen zwischen 54 In On Mathematical Concepts of the Material World von 1906 heißt es zu Beginn: »The object of this memoir is to initiate the mathematical investigation of various possible ways of conceiving the nature of the material world« (MCMW, 465). 55 Vgl. insbesondere Whiteheads Aufsatz »Raum, Zeit und Relativität« in Die Ziele von Erziehung und Bildung.

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den Entitäten […] darzulegen und sicherzustellen, daß die somit vorgeführten Entitäten und Relationen zur Darlegung aller Relatio­ nen zwischen in der Natur vorkommenden Entitäten geeignet sind. (CN, 38/46)

Grundlegende Entitäten sind zunächst Raum, Zeit und Materie› wirk­ lich basal sind aber Ereignisse: »[T]he ultimate facts of nature […] are events connected by their spatio-temporal relations« (PNK, 4). Über eine reduktionistische oder eine auf eine fragwürdige Metaphy­ sik bezogene Wissenschafts- und Naturphilosophie hinaus betont Whitehead die Bedeutung einer umfassenden Erfahrung der Natur: »Für die Naturphilosophie ist alles Wahrgenommene in der Natur. Wir können es uns nicht aussuchen.« (CN, 29/25) Wichtige Folge­ rungen sind der Bezug aller theoretischen Begriffe auf die Erfahrung der Natur und die Formulierung einer allgemeinen ›Theorie der Relativität‹ anhand eines neuen Verständnisses von Raum, Zeit und Materie: »Natur ist das, was wir in der Wahrnehmung durch die Sinne zur Kenntnis nehmen. In dieser Sinneswahrnehmung wird uns etwas bewußt, was nicht gedacht und gegenüber dem Denken, dem es vorliegt, eigenständig ist.« (CN, 3/6) Unsere Erfahrung zeigt uns die Natur zunächst als ungeordnet, ihre Verarbeitung durch das Denken soll eine Ordnung der Natur begründen, wobei Whitehead verschiedene Aspekte unterscheidet: Das ›primäre Denken‹ bezieht sich rezeptiv auf die sinnliche Wahrnehmung, das ›sekundäre Den­ ken‹ entwirft aktiv Konzepte, um die Erfahrungen zu ordnen. Die Erfassung der relationalen Strukturen der Realität steht insofern in einer Kohärenz zur Organisation des Denkens. Die Sinneswahr­ nehmung ist Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur: »Our recognitions are the ultimate facts of nature for science« (PNK, 56). Die so vermittelte Erkenntnis zeigt uns die Natur aber nur in ihrem ›erscheinenden Charakter‹ (apparent character), darüber hinaus geht es darum, sie auch in ihrem ›verursachenden Charakter‹ (causal character) zu erfassen. Dies ist allerdings allgemein schwierig und zeigt eine Schwäche der naturwissenschaftlichen Methodologie. Whitehead verweist auf den Zusammenhang zwischen beiden Cha­ rakteren und verdeutlicht damit den zentralen Unterschied zwischen Objekten und Ereignissen: [T]here is the appearance of the drop of water. This is character No. 1 of the event, the apparent character, and is a material object. Again there is the character of the event which is the cause of character No. 1. This is character No. 2 of the event and is its causal character (PNK, 183).

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Die Naturwissenschaften können für Whitehead keine präzise Natur­ beschreibung liefern, da sie das genaue Verhältnis zwischen erschei­ nender und verursachender Natur nicht erfassen können. Die Natur wird nur physikalisch erklärt, ihre mentale Dimension gilt als illu­ sionär, was nach Whitehead zur ›Bifurkation‹ der Natur führt, einer Zweiteilung »in die in das Bewußtsein aufgenommene Natur und diejenige Natur, die die Ursache des Bewußtseins ist.« (CN, 31/27) In der Philosophie zeigt sich diese Bifurkation im Dualismus zwischen Geist und Natur und in einer Substanz-Attribut-Ontologie, die auch von den neuzeitlichen Naturwissenschaften übernommen wurde: »[W]ir sehen uns selbst als wahrgenommene Attribute von Dingen, und Materiestückchen sind die Dinge, deren Attribute wir wahrneh­ men« (CN, 26/23). Whitehead hält den traditionellen philosophi­ schen Dualismus zwischen Geist und Natur und sein Weiterleben innerhalb der naturwissenschaftlichen Methodologie für falsch: »Wir können nämlich den Inhalt und seine internen Relationen analysie­ ren, wir können jedoch nicht erklären, warum es Erkenntnis gibt.« (CN, 31/27) Geist und Natur stehen in Wechselwirkung zueinander: Der Geist geht aus der Natur hervor, in seinem Wahrnehmen und Erkennen ist die Kreativität der Natur wirksam und wird in besonderer Weise realisiert. Er ist insofern ein komplexes Ereignis in einer als Prozess verstandenen Natur: »Unsere Erkenntnis der Natur ist eine Handlungs- (oder Verlaufs-)erfahrung.« (CN, 185/139) Das antike Verständnis von ›Substanz‹ wird nach Whitehead in der neuzeitlichen Wissenschaft auf die Vorstellung von ›Materie‹ übertragen, wobei Raum und Zeit einen vorgegebenen Rahmen zur Verteilung der Mate­ rie bilden (›Behälter-Theorie‹). Weder zentrale Begriffe der Dynamik noch ›Ereignisse‹ als basale Entitäten lassen sich so zureichend erfas­ sen. Wichtige naturwissenschaftliche Theorien des 19. und 20. Jahr­ hunderts wie die Elektrodynamik, die Relativitätstheorien, die Quan­ tentheorie und etwas später die nichtlineare Thermodynamik und die Selbstorganisationstheorien verweisen auf die Problematik des klas­ sischen Materieverständnisses. Die Natur ist durch Veränderung bestimmt und weist eine kontinuierliche Ordnung auf, weshalb wir sie mit dem Konzept einer passiven und zeitlosen Materie nicht beschreiben können. Statische Materieteile und Punkte im Raum sind Abstraktionen aus Ereignissen, ohne reale Entsprechung: »[W]e do not perceive isolated instantaneous facts, but a continuity of existence, and that it is this observed continuity of existence which guarantees the persistence of material.« (PNK, 7 f.) Das biologische Konzept des

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Organismus ist für Whitehead der Ausgangspunkt für ein Verständ­ nis der Natur, das ihrer Aktivität und Dynamik gerecht wird und auch die raum-zeitliche Kontinuität der Entitäten erklären kann: »Iron and a biological organism are on a level in requiring time for functioning. There is no such thing as iron at an instant. To be iron is a character of an event« (PNK, 23). In der reifen Phase seines metaphysischen Denkens (1923– 1947) betont Whitehead noch stärker als vorher die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber den Wissenschaften und bestimmt in unterschiedlichen Herangehensweisen ihr Verhältnis innerhalb der historischen Entwicklung und in Bezug auf seinen Entwurf einer ganzheitlichen Metaphysik. Im Vorwort zu Wissenschaft und moderne Welt verweist er darauf, dass eine wichtige Funktion der Philosophie ihre Kritik an bestehenden Kosmologien ist: Dabei handelt es sich um die Aufgabe, unterschiedliche Anschauungen von der Natur der Dinge in Einklang zu bringen, umzugestalten und zu rechtfertigen. Philosophie muß auf der genauen Erforschung der elementaren Vorstellungen und auf der Bewahrung des gesamten Tat­ sachenmaterials beharren, um unser kosmologisches Schema gestalten zu können. (SMW, vii/7)

Auch im Vorwort zu Prozeß und Realität bezieht sich Whitehead auf das Motiv einer ›vollständigen Kosmologie‹, ein philosophisches System zu entwerfen, »in dem die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen mit jenen Begriffen von der Welt in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in den Naturwissenschaften haben« (PR, xii/22). Es geht also darum, verschiedene Perspektiven auf die Wirklichkeit in einem synoptischen Sinne zu betrachten, miteinander zu vermitteln, aber auch in ihren unterschiedlichen Orientierungen anzuerkennen. Jenseits empiristischer Verengungen des Verständnisses von Erfahrung gilt es, die Pluralität menschlicher Erfahrungen zu berücksichtigen und angemessen zu reflektieren. Im Kontext einer ganzheitlichen Vermittlung zwischen verschiede­ nen Perspektiven sind auch ästhetische, ethische und religiöse Erfah­ rungen als solche zu respektieren und in eine umfassende Kosmologie als ›Theorie der Natur‹ oder ›Theorie der Welt‹ einzubetten. Im Folgenden gehe ich knapp auf zwei vor allem historische Rekonstruktionen des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wis­ senschaft in Wissenschaft und moderne Welt und Abenteuer der Ideen und dann etwas ausführlicher, aber notwendig skizzenhaft, auf den

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Entwurf einer ganzheitlichen Metaphysik in Prozeß und Realität ein. In Wissenschaft und moderne Welt betont Whitehead die engen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Wissenschaften und der Entwicklung der Philosophie in der Neuzeit. Er macht aber auch deutlich, dass gerade René Descartes, der wichtige Beiträge für beide Bereiche lieferte und sich – entgegen der späteren Rezeption – vor allem als Wissenschaftler verstand,56 durch seinen Dualismus zwischen Körper und Geist maßgeblich die scharfe Abgrenzung der Philosophie von den Naturwissenschaften prägte: Die zunehmenden Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften liefern ›objektives Wissen‹ und stützen einen wissenschaftlichen Materialismus, wäh­ rend die Philosophie sukzessive ihre allgemeinen kritischen und systematischen Funktionen verliert und sich auf die ›subjektive Sphäre‹ des Geistes beschränkt. Seit dem 19. Jahrhunderts wird diese Gegenüberstellung zwischen wissenschaftlichem Materialismus und Cartesianischem Ego durch Entwicklungen in den Wissenschaften und der Philosophie immer zweifelhafter, wobei Whitehead vor allem auf die funktionalistische Deutung des Bewusstseins bei William James verweist (SMW, 144/168).57 James richtet sich explizit gegen Descartes’ Dualismus und liefert damit der von Whitehead inten­ dierten »organischen Theorie der Natur« (SMW, 144/169) einen Anknüpfungspunkt. Er betont, dass die Verknüpfung von Teilen zu einem Ganzen, wie sie sich bei Organismen und im besonderen Maße bei mit Bewusstsein ausgestatteten Organismen findet, nicht auf diese beschränkt, sondern allgemein in der Natur wirksam ist: Bewußsein wird also die Funktion des Erkennens sein. Was aber erkannt wird, ist bereits ein Erfassen von Aspekten des einen realen Universums. Diese Aspekte sind Aspekte anderer Geschehnisse, die einander wechselseitig modifizieren, und zwar jedes einzelne die ande­ ren. In dem Muster von Aspekten stehen sie in ihrem Muster des wechselseitigen Bezogenseins. (SMW, 151/176 f.)

Whitehead macht deutlich, dass eine ›organische‹ bzw. ›organistische Theorie der Natur‹ sich kritisch gegen den Materialismus richten 56 In einem Gespräch, das er 1648 mit dem jungen Studenten Frans Burman führte, äußert er sich wie folgt: »Es ist zu beachten, dass man sich nicht so sehr den Medita­ tionen und den metaphysischen Dingen widmen sollte. [...] Andernfalls lenken sie den Geist zu sehr von den Gegenständen der Physik [...] ab [...]. Es ist aber höchst wünschenswert, dass die Menschen sich gerade dieser Untersuchung widmen, denn daraus entsteht Nutzen für das Leben«; Descartes, Gespräch, S. 70. 57 Vgl. James (2006).

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muss und sich nicht auf beständige Dinge und Substanzen beziehen kann, sondern Ereignisse und ihre dynamische Entwicklung als basale ›Bausteine‹ der Realität ansehen muss. Der Begriff des elektroma­ gnetischen Feldes in der modernen Physik liefert einen anderen Anknüpfungspunkt für diese Perspektive, der in der Physik selbst nicht berücksichtigt wird: »Die Gesetze, die dieses Feld bedingen, sind nichts anderes als die Bedingungen, denen die allgemeine Aktivität des Weltflusses genügen muß, wenn sie sich in den Geschehnissen individualisiert. Die Physik vollzieht eine Abstraktion. Die Wissen­ schaft übersieht, was etwas an sich ist.« (SMW, 152 f./179) Eine ange­ messene philosophische Interpretation wichtiger Begriffe und Kon­ zepte der modernen Physik kann daher für Whitehead zu einer ›organischen Theorie der Natur‹ und zur Auszeichnung von ›Ereig­ nissen‹ als »Letztelemente[n]« führen (SMW, 155/181). In Abenteuer der Ideen bezieht sich Whitehead vor allem auf die antike Philosophie als wesentlichen Hintergrund des erst in Neuzeit und Moderne konstituierten Verhältnisses zwischen Philo­ sophie und Wissenschaft. Zunächst betont er ganz allgemein, dass Philosophie und Wissenschaft zwei unterschiedliche Aspekte der einen großen Unternehmung des menschlichen Geistes repräsen­ tieren. Platon und Aristoteles prägen durch ihre unterschiedlichen philosophischen Ansätze stark die Begriffe, Methoden und Zielset­ zungen der in langwierigen Entwicklungen konstituierten Einzelwis­ senschaften, wobei Aristoteles vor allem für Systematisierung und begriffliche Explikation steht, während Platon für Whitehead eher für einen ›undogmatischen Ansatz‹ steht, der die Probleme des ›dogmatischen Fehlschlusses‹ reflektiert: »Jene wohlgefügte, ein für allemal gültige Zusammenordnung von Allgemeinheiten, die eine vollendete Metaphysik ergeben würde, kann uns nicht gelingen. Aber was wir hervorbringen können, sind partielle Systeme eingeschränk­ ter Allgemeinheit.« (AI, 145/284) Die Vorstellung, auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis zu Gewissheiten kommen zu können, hält Whitehead für eine große Täuschung, der wir uns nur durch eine ›undogmatische Philosophie‹ im Sinne Platons entziehen können: Unser letztes und tiefgreifendstes Problem besteht darin, uns einen Begriff von einem vollständigen [παντελής] Faktum zu machen. Wir können uns einen solchen Begriff nur mit Hilfe unserer fundamentalen Vorstellungen über das Wesen der Wirklichkeit bilden, bleiben dabei also auf die Philosophie angewiesen. (AI, 158/304)

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In Prozeß und Realität bezieht sich Whitehead auf die Programmatik seiner ›spekulativen Philosophie‹ und verfolgt den Anspruch, ein allgemeingültiges System von Ideen zu entwerfen, anhand dessen sich alle Elemente unserer Erfahrung deuten lassen.58 Er setzt sich von den Letztbegründungsansprüchen der philosophischen Tradition ab und betont im Sinne einer ›revidierbaren Metaphysik‹,59 dass es in seinem Verständnis einer spekulativen Philosophie – ähnlich wie in den Naturwissenschaften – nicht um letzte Gewissheiten, sondern um einen Fortschritt im Erkennen geht: »Das richtige Kriterium hierfür ist aber nicht die Endgültigkeit, sondern der Fortschritt.« (PR, 14/51) Der empiristischen Kritik am spekulativen Denken hält Whitehead entgegen, dass es keine pure Faktizität gibt und dass insofern nicht nur die Philosophie, sondern auch die naturwissenschaftliche For­ schung durch Weltbilder und interpretative Entwürfe bestimmt ist: »Wenn das Denken auf den Plan tritt, findet es Interpretationen als Angelegenheiten der Praxis vor.« (PR, 14/51)60 Der Entwurf eines spekulativen Systems richtet sich einerseits rezeptiv auf bestehende Welterklärungen, weshalb auch für Whiteheads Prozessphilosophie affirmative Bezüge zu modernen naturwissenschaftlichen Theorien – insbesondere zu physikalischen Feldtheorien und Einsteins Relativi­ tätstheorien – von großer Bedeutung sind. Andererseits unterwirft er diese einer grundlegenden Kritik und verfolgt den Anspruch einer umfassenden Beschreibung, innerhalb derer theoretische Betrach­ tung und praktische Orientierung prinzipiell verknüpft werden kön­

58 »Spekulative Philosophie ist das Bemühen, ein kohärentes, logisches und notwen­ diges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann.« (PR, 3/31) Vgl. hierzu die spätere Definition von ›Metaphysik‹: »Metaphysik ist nichts anderes als die Beschreibung der allgemeinen Prinzipien, die sich auf alle Einzelheiten der Praxis anwenden lassen« (PR, 13/48). 59 Vgl. Poser (1986). 60 In Die Funktion der Vernunft von 1929 unterscheidet Whitehead zwischen prakti­ scher odysseischer und theoretischer platonischer Vernunft. Während erstere bewährte Methoden zur Lösung von Problemen verwendet, richtet sich die letztere in spekulativer Weise auf die Erweiterung von Erkenntnissen. Die odysseische Vernunft steht für Bewahrung und tendiert insofern zu einem Obskurantismus, die platonische Vernunft steht dagegen für Innovation, womit Whitehead in gewisser Weise die spä­ tere Unterscheidung von Thomas Kuhn zwischen ›normaler‹ und ›revolutionärer‹ Wissenschaft antizipiert; vgl. Kann (2001), S. 71 ff. sowie Hampe (2006), S. 242 ff.

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nen.61 Die auf Platon anspielende Vorstellung eines general good ver­ knüpft Whitehead dabei mit einem prozessphilosophischen Konzept von ›Gott‹ im Sinne eines der Welt immanenten und deren Kreativität bestimmenden Prinzips.62 Die Auszeichnung von ›Ereignissen‹ zur ontologischen Basiskategorie in den frühen naturphilosophischen Texten expliziert Whitehead in Prozeß und Realität durch den zentra­ len Begriff ›wirkliches Einzelwesen‹: »›Wirkliche Einzelwesen‹ – auch ›wirkliche Ereignisse‹ genannt – sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist.« (PR, 18/57) Whiteheads wirk­ liche Einzelwesen, die er selbst mit Leibniz’ Monaden vergleicht,63 sind bipolare Einheiten, durch die die schon in Der Begriff der Natur kritisierte ›Bifurkation der Natur‹ und damit auch die für die neuzeit­ liche Philosophie und Wissenschaft zentralen Dualismen zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Materie überwunden werden können. Die wirklichen Einzelwesen als basale ontologische Einheiten bilden Gemeinschaften, die Whitehead als ›Nexus‹ charakterisiert, die durch einen dynamischen Austausch bestimmt sind und den Bezugspunkt ihrer Erfassung auf unterschiedlichen Ebenen bilden. Alles, was über diese basalen ontologischen Zusammenhänge hinausgeht, lässt sich nicht mehr unmittelbar erfahren und gehört zu den abgeleiteten Abs­ traktionen.64 Die Ableitung abstrakter Formen und Begriffe ermög­ 61 »Die Moralität einer Weltanschauung ist untrennbar mit ihrer Allgemeingültigkeit verbunden. Der Widerspruch zwischen dem allgemein Guten und dem individuellen Interesse kann nur aufgehoben werden, wenn das Individuum so beschaffen ist, daß seine Interessen dem allgemein Guten entsprechen« (PR, 15/53). 62 Vgl. PR, 342 ff./611 ff.; Kraus (1998), S. 168 ff. 63 Wichtige Bezüge sind der subjektive Charakter durch die allgemeine Fähigkeit des ›Erfassens‹ (prehension) und die Vermittlung zwischen Wirkkausalität und Teleologie. Ein wichtiger Unterschied ist die Betonung der relationistischen Verknüpfung von actual entities zu größeren Ereigniszusammenhängen und letztlich zur gesamten Welt: »Die wirklichen Einzelwesen sind aufgrund ihres gegenseitigen Erfassens miteinan­ der verbunden.« (PR, 20/60) Über Leibniz’ Monadologie heißt es demgegenüber in Wissenschaft und moderne Welt: »Dieses System setzte also eine Ansammlung unabhängiger Einzelwesen voraus« (SMW, 155/182). 64 Wichtige ›abgeleitete Begriffe‹ sind die ›Urnatur Gottes‹, ›soziale Ordnung‹ und ›personale Ordnung‹, ›Werden‹, ›Bewusstsein‹, ›Denken‹ und ›Sinneswahrnehmung‹ (PR, 31 ff./79 ff.). Der abgeleitete Begriff ›soziale Ordnung‹ liefert die Grundlage für ein metaphysisches Verständnis von ›Gesellschaft‹: »Daher ist eine Gesellschaft für jedes ihrer Elemente eine Umgebung mit einem Ordnungselement darin, und sie besteht aufgrund der genetischen Relationen zwischen ihren eigenen Elementen fort.« (PR, 90/178) Dieser Begriff der Gesellschaft bildet einen wichtigen Hintergrund für Whiteheads Entwurf einer holistischen Metaphysik und seine Kritik an allen reduk­

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licht eine analytische Unterscheidung einzelner Tatsachen von ihrer Einbettung in einem dynamischen Zusammenhang, real sind diese aber nur durch die innerhalb des Zusammenhangs wirksame Kreati­ vität: Selbst-Realisierung ist die elementare Tatsache der Tatsachen. Eine Wirklichkeit realisiert sich selbst, und alles, was sich selbst realisiert, ist eine Wirklichkeit. Ein wirkliches Einzelwesen ist zugleich das Subjekt der Selbstrealisierung und das sich selbst realisierende Superjekt. (PR, 222/407)

Mit dem Neologismus ›Superjekt‹ wendet sich Whitehead kritisch gegen die klassische Substanzontologie und ihre Präsenz im natur­ wissenschaftlichen Verständnis der materiellen Welt. Die wirklichen Einzelwesen als basale ontologische Einheiten sind in einem ganz all­ gemeinen Sinne sowohl ein ›Subjekt‹, das erfährt und erfasst, als auch ein Superjekt, das Gegenstand des Erfahrens und Erfassens ist und in einer Parallele zu Leibniz’ Monaden eine Chiffre für die gesamte Welt bildet.65 Während die gesetzmäßige Ordnung der Welt bei Kant durch den Erkenntnisapparat des Subjekts konstituiert wird,66 besteht ein Subjekt bei Whitehead nur durch seine Verbundenheit mit einer vor­ gängigen und ganzheitlichen Welt und ist insofern eher ein Superjekt als ein von der Welt isoliertes Subjekt: »Für Kant taucht die Welt aus dem Subjekt auf; für die organistische Philosophie taucht das Subjekt aus der Welt auf – eher ein ›Superjekt‹ als ein ›Subjekt‹« (PR, 88/175). Mit der Auszeichnung der wirklichen Einzelwesen zur ontologischen Basiskategorie liefert Whitehead eine wirkliche Alternative zum klas­ sischen Verständnis von Substanz und allen substantialistischen Kon­ zeptionen in reduktionistischen Weltbildern, da sie nicht statischdinghaft, sondern nur dynamisch-prozessual in Bezug auf ihr Werden und ihre Entwicklung im größeren Zusammenhang begriffen werden tionistischen Erklärungen in der Philosophie und den Wissenschaften: Die kreative Entfaltung von Neuem ist ein gemeinsames Element der Realität, das die verschiede­ nen Ebenen in der Natur mit den höheren Graden von Kreativität in menschlichen Gesellschaften und menschlicher Kultur verbindet. Kritiker verweisen hier allerdings darauf, dass es schwer fällt, innerhalb einer solchen universellen Kosmologie die Besonderheiten menschlicher Kreativität und ihre normativen Implikationen ange­ messen zu berücksichtigen; vgl. Spaemann (1986), S. 178 ff. sowie Rescher (1996), S. 42 ff. 65 Vgl. Kraus (1998), S. 55 ff. 66 »[D]er Verstand schöpft seine Gesetze a priori nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor[.]«; Kant, Prolegomena, A 113; vgl. Kann (2001), S. 227 ff.

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können. Ein metaphysisches Prinzip von ›Kreativität‹ ist für Whitehead das universelle Prinzip, das die vielen einzelnen wirkli­ chen Einzelwesen zu einem großen Ereignis qua Welt verknüpft: »Es liegt in der Natur der Dinge, daß sich die vielen zu einer komplexen Einheit verbinden.« (PR, 21/62) Der gesamte Kosmos und die ver­ schiedenen Entitäten auf unterschiedlichen Ebenen der Komplexität sind eingebunden in einem beständigen und alle Trennungen und Unterscheidungen übergreifenden Prozess von ›Konkreszenz‹ im Sinne von ›zusammenwachsen‹.67 Whitehead deutet das Weltgesche­ hen mit einer immanenten Teleologie, die sich allerdings nicht auf eine verbindliche und als Ideal begriffene Ordnung bezieht, sondern jedem einzelnen Prozess ein individuelles Ideal zuspricht, wobei der jewei­ lige Verlauf durch eine bestimmte Kombination von ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹68 sowie das Wechselspiel zwischen Wirk- und Zweckkausalität bestimmt ist. Es geht also nicht um das Erreichen eines abstrakten Ziels, es geht vielmehr um einen Akt individueller ›Erfüllung‹ (satisfaction), wodurch die jeweilige Entität eine bestimmte Objektivierung hinsichtlich ihrer Bedeutung für den kos­ mischen Gesamtprozess erfährt. Die wirklichen Einzelwesen sind also ›objektiv‹ durch die in ihrer bisherigen Entwicklung erworbenen Eigenschaften, ›subjektiv‹ durch das Ziel, auf das sie sich im Rahmen ihrer jeweiligen Konkreszenz beziehen, und schließlich ›superjektiv‹ durch die jeweilige Erfüllung, die sie erreichen, und dadurch in bestimmter Weise ein Teil der universellen Kreativität werden (PR, 87/174). Whiteheads organistische Philosophie ist insofern dezidiert ganzheitlich, weil sie die Wechselwirkung jedes wirklichen Einzelwe­ sens im übergreifenden Zusammenhang betont,69 und auf eine Über­ windung dualistischer Unterscheidungen zwischen ›Geist‹ und ›Natur‹, ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ ausgerichtet, weil die basalen Entitä­ ten sowohl erfahrende ›Subjekte‹ als auch als ›Superjekte‹ objekti­ vierte und weltbezogene Gegenstände der Erfahrung sind. Beständig sind nicht die Subjekte bzw. Substanzen, beständig sind die Formen, die immer wieder in neue Relationen eingebunden werden. Hinsicht­ lich ihres subjektiven Charakters unterliegen die wirklichen Einzel­ Vgl. Kraus (1998), S. 3 und S. 107 ff. »Was unsere Erkenntnis anbelangt, gibt es keinen Grund, die wirkliche Welt als rein geordnet oder als rein chaotisch aufzufassen.« (PR, 110/214). 69 »Ein wirkliches Einzelwesen hat eine vollkommen bestimmte Bindung an jede Einzelheit des Universums« (PR, 41/94). 67

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wesen kontinuierlichen Prozessen des Werdens und Vergehens, hin­ sichtlich ihres objektiven Charakters erhalten sie jedoch eine Art von ›Unsterblichkeit‹ durch die Integration ihrer jeweiligen formalen Konstitution in die übergreifende kosmische Dynamik: »Die Wirk­ lichkeit erlangt im Vergehen Objektivität, verliert jedoch ihre subjek­ tive Unmittelbarkeit.« (PR, 29/76) Bei aller Betonung der prozes­ sualen Dimension der Realität und aller Kritik am klassischen Substanzdenken schließt Whitehead also keinesfalls das platonische Motiv beständiger ›Formen‹, ›Ideen‹ oder ›Allgemeinbegriffe‹ aus seiner organistischen Philosophie aus (PR, 39 ff./91 ff.). Es ist eine zentrale Funktion seines prozessphilosophisch verstandenen Gottes, zwischen zeitlicher Wirklichkeit und zeitloser Möglichkeit zu ver­ mitteln und für eine Präsenz der sog. zeitlosen Gegenstände in jedem Verwirklichungsprozess von wirklichen Einzelwesen zu sorgen. Durch seinen subjektiven Charakter ›entscheiden‹ sich wirkliche Ein­ zelwesen für die Verwirklichung bestimmter Potentialitäten in einem individuellen Grade und beeinflussen dadurch die späteren ›Entschei­ dungen‹ anderer wirklicher Einzelwesen.70 Erst eine solche ›Entschei­ dung‹ verleiht einer Entität Aktualität: »›Wirklichkeit‹ ist die Ent­ scheidung inmitten der ›Potentitalität‹« (PR, 43/98). Die zeitlosen Gegenstände haben insofern keine vom Geschehen unabhängige Existenz, sie sind – ähnlich wie die aristotelischen ›Formen‹ – nur durch ihren Bezug auf konkrete Verwirklichungsprozesse präsent.71 Lediglich begrifflich lassen sie sich unabhängig von einem Bezug zu zeitlichen Gegenständen erfassen. Die Bipolarität der wirklichen Ein­ zelwesen72 zeigt sich daher auch bei der Deutung des Werdens: Es wird im Sinne des physischen Pols durch die konkreten Bedingungen der wirklich Welt bestimmt und richtet sich im Sinne des mentalen Pols auf eine begriffliche Erfassung der Unbestimmtheit der zeitlosen Gegenstände. Die Annahme von zeitlosen Gegenständen, die einen unbestimmten Möglichkeitsraum repräsentieren, ist für Whitehead 70 »Die zeitlosen Gegenstände sind die reinen Potentiale des Universums; und die wirklichen Einzelwesen unterschieden sich in ihrer Realisierung von Potentialen voneinander.« (PR, 149/280). 71 Vgl. Kraus (1998), S. 28 ff., sowie Hampe (1990), S. 103 ff. 72 »Jede Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach bipolar, physisch und geistig […]. Die Integration der physischen und der geistigen Seite zu einer Einheit der Erfahrung ist eine Selbst-Gestaltung und diese wiederum ein Konkretisierungsprozeß, der aufgrund des Prinzips der objektiven Unsterblichkeit die Kreativität charakterisiert, die ihn transzendiert« (PR, 108/210).

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notwendig, um die prozessuale Entwicklung der wirklichen Dinge überhaupt verstehen zu können, womit er sich auf die Platonische Vermittlung zwischen ›noetischem‹ und ›sinnlichem Kosmos‹ bezieht, wie sie sich insbesondere im Timaios und im Sophistes fin­ det.73 Platons zentrale Bestimmung des Seienden durch das ›Vermö­ gen‹ (δύναμις), etwas zu bewirken bzw. zu erleiden,74 hält er für ein zentrales metaphysisches Prinzip, da es eine Verknüpfung zwischen den zeitlosen Gegenständen und den zeitlichen wirklichen Einzelwe­ sen ermöglichen kann: Platon bestreitet, daß ein »in schrecklicher Sinnlosigkeit bewegungslos verharrendes« Seiendes vorstellbar ist […]. Platon vertritt […] also die Ansicht, daß »Aktion und Reaktion« untrennbar zum Wesen des Sei­ enden gehören, wobei er allerdings noch »Leben und Geist« als Medium dieser Aktivität heranzieht. Die Vorstellung von einem Medium, das das ewig Seiende mit dem Fluß des Werdens verbindet, findet sich in Platons Dialogen in unterschiedlichen Formen immer wieder. (AI, 120 f./249)75

Diese enge Verknüpfung zwischen ›Sein‹ und ›Werden‹ bei Platon interpretiert Whitehead dahingehend, dass die Naturgesetze in den Dingen und Vorgängen selbst wirksam sind, sodass Platons Bestim­ mung des ›Seins‹ durch ein ›Vermögen‹, zu agieren oder zu reagieren, als »die Gründungsurkunde für die Auffassung, nach der die Gesetze der Natur immanent sind« (AI, 129/262), verstanden werden kann. Die formale Konstitution eines wirklichen Einzelwesens im Rahmen eines Verwirklichungsprozesses ist explizit durch ein solches imma­ nentes Gesetz bestimmt und lässt sich anhand von drei Phasen des ›Empfindens‹ analysieren (PR, 212 ff./385 ff.):76 In der reaktiven Phase verhält es sich rezeptiv zur wirklichen Welt und nimmt sie als Vgl. Kann (2001), S. 117 ff. Platon, Sophistes, 247d f. 75 Vgl. Sophistes, 249a. 76 Die wirklichen Einzelwesen bewirken eine atomistische Teilung des extensiven Kontinuums der Erfahrungswelt, sie haben gemäß dem Prinzip der Relativität aber auch an diesem Kontinuum teil und konstituieren es (PR, 61 ff./129 ff.). Räumliche und zeitliche Ausdehnung sind insofern anhand potentiell-relationistischer Kriterien zu deuten: »Die Atomisierung des extensiven Kontinuums ist zugleich seine Verzeit­ lichung; das heißt, sie ist der Werdensprozeß der Wirklichkeit zu dem, was an sich bloß potentiell ist.« (PR, 72/148) Löw (1990), S. 160, schreibt in seinem kommen­ tierenden Essay zu Der Begriff der Natur: »Raum und Zeit, so eine der Grundthesen des Buches, sind Abstraktionen aus den events, den Ereignissen«. 73

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eine Multiplizität verschiedener Zentren der Empfindung wahr, die zu einem komplexen Nexus verkoppelt sind. Die anderen Empfin­ dungen werden dabei noch als äußerlich erlebt und nicht in die eigene vereinzelte Unmittelbarkeit integriert. In der ergänzenden Phase kon­ kretisiert sich das individuelle Ideal der Erfüllung, sodass die fremden Empfindungen in eine Einheit des ästhetischen Genusses eingebun­ den werden können: »Was als fremd rezipiert wurde, ist als privat neu geschaffen worden.« (PR, 213/395) In der Phase der Erfüllung ver­ wirklicht das jeweilige wirkliche Einzelwesen sein individuelles Ideal und expliziert sein Verhältnis zum großen Ereigniszusammenhang, wobei »das erfüllte wirkliche Einzelwesen hinsichtlich aller Weisen des Empfindens und aller Einzelwesen im Universum eine bestimmte Haltung des ›Ja‹ oder ›Nein‹ verkörpert« (PR, 212/392). Der gesamte Prozess ist durch das individuelle Streben des jeweiligen wirklichen Einzelwesens bestimmt, was Whitehead in Bezug auf die physikali­ sche Sprache dadurch beschreibt, dass dessen ›vektorielle Offenheit‹ durch die Konstitution einer bestimmten Einheit einen ›skalaren Überbau‹ (scalar superstructure) erhält. Innerhalb der Physik lässt sich dieses Prinzip dadurch illustrieren, dass sich skalare Größen als von vektoriellen Größen abgeleitete Konstruktionen interpretieren las­ sen: So ergibt sich die physikalische Größe der ›Arbeit‹ aus der ›Kraft‹, die ›Temperatur‹ aus der ›Teilchengeschwindigkeit‹ und die ›elektri­ sche Stromstärke‹ aus dem ›Ladungsfluss‹. Allgemeiner kann man diesen Zusammenhang am Verhältnis zwischen dem Begriff des ›Weitergebens‹ (passing on) und dem Bestehen einer einzelnen iso­ lierten Tatsache verdeutlichen: Jedes wirkliche Einzelwesen strebt nach Erfüllung und dem Erreichen eines individuellen Ideals, aber ursprünglicher als dieses Streben ist das Weitergeben im Sinne eines metaphysischen Verständnisses von Kreativität, an der alle individu­ ellen Prozesse der Verwirklichung und Erfüllung partizipieren. Die einzelnen Prozessverläufe sind in unterschiedlichem Maße ›blind‹ und insofern nicht strikt determiniert, sie können durch affirmative Aneignung, aber auch durch Negation der Potentialitäten von zeitlo­ sen Gegenständen bestimmt sein. Je stärker ein Prozess durch Nega­ tion in diesem Sinn geprägt wird, umso ›blinder‹ ist er in seinem Ver­ lauf und umso größer ist die Distanz zu einer ›internen Intellektualisierung‹: Der Prozeß konstituiert dann ein blindes wirkliches Ereignis, und zwar ›blind‹ in dem Sinne, daß darin keine intellektuellen Vorgänge enthal­ ten sind, obwohl immer begriffliche Vorgänge angetroffen werden.

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Daher findet man immer eine Geistestätigkeit in Form der ›Vision‹, aber nicht immer in Form bewußter ›Intellektualität‹. (PR, 214/395)

Whitehead verknüpft den Begriff ›Organismus‹ in zweifacher Weise mit dem Begriff ›Prozess‹: Zum einen ist die Gemeinschaft der wirklichen Dinge ein Organismus, allerdings kein statischer, sondern ein unvollständiger Organismus, der sich in einem kontinuierlichen Prozess der Produktion und Gestaltung befindet. Die Prozessuali­ tät des Universums zeigt sich in diesem Sinn in seiner Expansion bezüglich wirklicher Dinge. Zum anderen zeigt sich jedes wirkliche Einzelwesen als ein organischer Prozess der Selbstrealisation, in dem sich entsprechend der Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos der große kosmische Prozess spiegelt und wiederholt: »Daher ist jedes wirkliche Einzelwesen, obwohl es hinsichtlich seines mikroskopischen Prozesses vollständig ist, aufgrund seiner objekti­ ven Einbeziehung des makroskopischen Prozesses doch unvollstän­ dig.« (PR, 215/397) Whiteheads liefert mit seiner Organismusphilosophie, die an dieser Stelle nur exemplarisch und skizzenhaft umrissen werden konnte, einen umfassenden ontologischen Rahmen, der sich kritisch gegen die Tradition des substantialistischen Denkens und die Leug­ nung der prozessualen Dimension richtet, aber auch darauf ausge­ richtet ist, die Grenzen wissenschaftlicher Abstraktionen aufzuzeigen und den Anspruch der Philosophie zu restituieren, »begründete Aus­ sagen über die Welt als Ganzes zu machen«.77 Er distanziert sich von allen Projekten philosophischer Letztbegründung und bezieht sich dabei auf seine Deutung der platonischen Philosophie als ›undogma­ tisch‹ (AI, 146 ff./286 ff.). Eindringlich verweist er im Vorwort zu Prozeß und Realität auf sein an Platon, aber auch am Gang der wis­ senschaftlichen Erkenntnis orientiertes Verständnis von Philosophie: Abschließend möchte ich daran erinnern, wie oberflächlich, schwach und unvollkommen alle Anstrengungen bleiben, die Tiefen in der Natur der Dinge auszuloten. In der philosophischen Diskussion ist die leiseste Andeutung dogmatischer Sicherheit hinsichtlich der Endgül­ tigkeit von Behauptungen ein Zeichen von Torheit. (PR, xiv/27)

Hinsichtlich des ›Streits der Systeme‹ in der Philosophie und die Wechselwirkungen mit unterschiedlichen kulturellen Strömungen verweist er in einer späten Passage – beinahe poetisch – auf die 77

Kann (2001), S. 237.

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Bedeutung einer multiperspektivischen Sicht der Realität: »Die Phi­ losophie darf nicht die Mannigfaltigkeit der Welt vernachlässigen – die Feen tanzen, und Christus wird ans Kreuz geschlagen.« (PR, 338/604) Im Blick auf das Verhältnis zwischen ›Beständigkeit‹ (per­ manence) und ›Fluss‹ (flux) betont Whitehead im Einklang mit dem antiken Denken, dass beide Aspekte wechselseitig aufeinander bezo­ gen werden müssen, um der Wirklichkeit gerecht zu werden.78 Zur Illustration verweist er auf Michelangelos vier symbolische Figuren in der Florentinischen Kapelle der Medici – ›Tag und Nacht‹, ›Morgen und Abend‹ –, die uns im Medium der bildenden Kunst die ›Dauer im Wandel‹ zeigen: »Der vollendete Augenblick ist unvergänglich im Vergehen der Zeit. Die Zeit hat ihren Charakter des ›stetigen Verge­ hens‹ eingebüßt; sie wird zum ›bewegten Bild der Ewigkeit‹.« (PR, 338/605)79 Whitehead knüpft an die großen Entwürfe der philoso­ phischen Tradition an, die Wirklichkeit in einer ganzheitlichen Per­ spektive zu fassen, der Pluralität ihrer Dimensionen gerecht zu wer­ den und letztlich auch Motive der theoretischen Weltdeutung mit solchen der praktischen Lebensorientierung zu verbinden.80 Mit Rus­ sell verbindet ihn das vertiefte Interesse an logisch-mathematischen Problemen und an einer philosophischen Interpretation naturwissen­ schaftlicher Theorie. Während bei Russell aber innerhalb seiner gedanklichen Entwicklung die Eigenständigkeit der Philosophie immer mehr zugunsten eines moderaten Szientismus in den Hinter­ grund tritt, betont Whitehead in seinem reifen Denken die besondere Bedeutung der Philosophie für die Verwirklichung einer ›Kosmologie‹ als ganzheitlicher Konzeption von der Welt. Wie nur ganz wenige Philosophen der Moderne erkennt Whitehead nicht allein die zentrale Bedeutung naturwissenschaftlicher Theorien für ein philosophisches Verständnis der Wirklichkeit an, er verweist auch auf alternative Interpretationen, verknüpft sie mit Motiven des spekulativen Den­ kens und zeigt so die Grenzen jedes reduktionistischen Naturalismus auf.81 Die durch die Verschränkung zwischen dem makroskopischen Prozess der universellen Kreativität und den mikroskopischen Selbstrealisationsprozessen der einzelnen wirklichen Einzelwesen generierte Ordnung ist nicht nur durch das Wechselspiel zwischen Vgl. Woyke (2008). Vgl. Platon, Timaios, 37d. 80 Verwiesen sei neben Platon und Aristoteles auf Leibniz, Kant und Schelling; vgl. Woyke (2013), S. 61 ff. 81 Vgl. Woyke (2014) sowie Rapp (1986). 78

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Beständigkeit und Fluss, sondern auch durch eine grundlegende Span­ nung im Verhältnis zwischen Verlässlichkeit und Erstarrung bestimmt (PR, 338 ff./604 ff.). Whiteheads prozessualistisches Den­ ken erweist sich insofern auch als dezidiert anti-fundamentalistisch: Eine erstarrte Ordnung ohne Dynamik ist das Ende aller Kreativität und aller Erneuerung, was er gegen Ende von Prozeß und Realität knapp an Bereichen der menschlichen Kultur wie Erziehung, Gesell­ schaftsentwicklung und Kunst zu verdeutlichen versucht: »Die Welt steht also der Paradoxie gegenüber, daß sie, zumindest in ihren höhe­ ren Wirklichkeiten, dringend nach Neuem verlangt und doch heim­ gesucht wird von der Angst vor dem Verlust der Vergangenheiten mit ihren Vertrautheiten und ihren Geliebten.« (PR, 340/608) Eine Reduktion der Deutung der Welt auf naturwissenschaftliche Erklä­ rungen ist eine Form der Erstarrung, verfehlt die konkrete Wirklich­ keit und verkürzt sie auf Abstraktionen, die ihrer phänomenalen Fülle, ihrer prozessualen Dynamik und ihrer Bestimmtheit durch univer­ selle Kreativität nicht gerecht werden können: Die Tatsache ist eine Abstraktion, zu der man gelangt, wenn man das Denken auf rein formale Beziehungen beschränkt, die schließlich als endliche Realität maskiert werden. Darum fällt Wissenschaft in ihrer Perfektion auf das Studium von Differentialgleichungen zurück. Die wirkliche Welt ist der Wissenschaft durch das Netz gegangen. (MT, 18/62)

Naturwissenschaftliche Erklärungen beziehen sich auf kausale, funk­ tionale und mechanistische Zusammenhänge und die Erfassung einer gesetzmäßig-regulären Ordnung der Natur, sie müssen daher von Zielen und Zwecken in der Natur – immanent und transzendent – ebenso abstrahieren wie von einem metaphysischen Begriff der Krea­ tivität und einem spekulativen Panpsychismus (MT, 127 ff./160 ff.). Vor allem zentrale Begriffe der modernen Physik, wie der des elek­ tromagnetischen Feldes oder der Raum-Zeit, können allerdings aus Whiteheads Sicht auch wichtige Anknüpfungspunkte für die speku­ lative Philosophie und eine stärkere Akzentuierung der prozessualen Dimension der Wirklichkeit liefern. Angesichts der großen naturwis­ senschaftlichen Erkenntnisfortschritte im 19. und 20. Jahrhundert ist Whitehead im Unterschied zu den wichtigen neuzeitlichen Philoso­ phen von Descartes bis Hegel mit einer klaren Unterscheidung der Naturwissenschaften von der Philosophie und einer zunehmenden Nivellierung der philosophischen Erkenntnis konfrontiert. Gerade deshalb setzt er sich affirmativ mit den zeitgenössischen Entwicklun­

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gen in der Physik und anderen Wissenschaften auseinander, ist aber darum bemüht, sie philosophisch zu interpretieren und in eine ganz­ heitliche spekulative Kosmologie zu integrieren.

IV. Vergleich und Bewertung Russell und Whitehead leisten wichtige Beiträge zur Ausformulie­ rung der modernen Logik und einer logizistischen Begründung der Mathematik. Diese grundlegenden Arbeiten nutzen sie sowohl für eine wissenschaftstheoretische Reflexion moderner naturwissen­ schaftlicher Theorie als auch für eine Übertragung auf wichtige Teilbe­ reiche der theoretischen Philosophie und ihre verschiedenen systema­ tischen Ansätze. Während Russell schon durch seine frühe Kritik an der idealistischen Metaphysik Bradleys den Weg einer wissenschaft­ lichen bzw. wissenschaftsorientierten Philosophie einschlägt und sich über verschiedene Etappen einem moderaten Szientismus bzw. Natu­ ralismus annähert, betont Whitehead innerhalb seines Denkweges immer stärker die Eigenständigkeit der Philosophie und ihre kriti­ sche Funktion gegenüber einseitigen Weltbildern. Der von Russell geprägte Modus einer wissenschaftlichen Philosophie bestimmt bis heute vor allem die verschiedenen Strömungen der analytischen Phi­ losophie und der Wissenschaftstheorie und ist auch darüber hinaus von besonderer Bedeutung für ein gegenüber den Einzelwissenschaf­ ten aufgeschlossenes und insofern zeitgemäßes Philosophieren. Der traditionelle Anspruch der Philosophie ›aufs Ganze‹ hat es allerdings schwer, wenn für die theoretische Welterkenntnis nur noch die Wis­ senschaften zuständig sind und der Philosophie lediglich bestimmte begrenzte Funktionen der Systematisierung und der Kritik zugespro­ chen werden. Whitehead verweist uns in dieser Hinsicht auf die alternative Perspektive, naturwissenschaftliche Theorien zwar ange­ messen zu rezipieren und zu interpretieren, aber auch zu versuchen, sie mit anderen Perspektiven auf die Natur bzw. die Wirklichkeit zu verknüpfen, für die Fragen der Lebensorientierung, der Stellung des Menschen in der Welt und der normativen Bewertung unseres Handelns relevant sind. Whitehead liefert vor allem durch seine spekulative Metaphysik einen wichtigen Hintergrund für die Restitution einer ›holistischen Naturphilosophie‹, was abschließend an vier Kriterien verdeutlicht

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werden soll:82 Der Anspruch einer starken systematischen Verein­ heitlichung erscheint grundsätzlich fragwürdig, weshalb in philoso­ phischer Sicht ein synoptischer Zusammenhang von Erkenntnissen, Perspektiven und Wissensformen zu bevorzugen ist. Whitehead bekräftigt eine solche Bevorzugung, wenn er den Entwurfscharakter seiner Metaphysik betont und sich affirmativ auf den ›undogmati­ schen Ansatz‹ der platonischen Philosophie bezieht. Russell vertritt demgegenüber vor allem in der Phase seines Logischen Atomismus einen starken systematischen Anspruch, den er auch nach seiner Distanzierung von der Logik in Human Knowledge nicht völlig aufgibt. In ihren Philosophien entwerfen Russell und Whitehead revisionistische Metaphysiken, wobei sich etwa in Bezug auf den Ereignisbegriff auch deutliche Parallelelen zeigen. Gegenüber den Naturwissenschaften verhalten sie sich prinzipiell affirmativ und plädieren nicht für eine ›neue Wissenschaft‹, sondern für alterna­ tive Formen der Interpretation und zumindest zum Teil auch für Ergänzungen durch unterschiedliche Perspektiven. Bei Russell tritt das Interesse an Ergänzungen und grundlegender Kritik an wissen­ schaftlichen Weltbildern allerdings sukzessive in den Hintergrund, während Whitehead innerhalb seines Denkweges die kritische Funk­ tion der Philosophie und ihre Rolle als Architektin menschlicher Weltentwürfe zunehmend auszeichnet.83 Eine Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ist für die Idee einer ›holis­ tischen Naturphilosophie‹ von zentraler Bedeutung. Whitehead ist sich, obwohl er eine solche Vermittlung nicht ausführlich vornimmt, dieser Relevanz bewusst, was sich etwa darin zeigt, dass er sich explizit auf den von Platon bekräftigten Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik, zwischen Weltdeutung und Lebensorientie­ rung bezieht und anhand des Verhältnisses zwischen Tradition und Innovation auf die Relevanz seiner Prozessphilosophie für das Ver­ ständnis und die Bewertung menschlicher Kultur und Geschichte verweist. Für den frühen Russell ist zwar die Philosophie noch eine Lebensform, die positive Auswirkungen auf unser Selbstverständ­ nis und unseren Umgang mit Anderen haben kann. Später trennt er aber scharf zwischen Philosophie als theoretischer Wissenschaft und persönlichen Aussagen über politische, moralische und weltan­ schauliche Fragen, was sich auch in Wittgensteins Gegenüberstellung 82 83

Vgl. Woyke (2013) sowie Woyke (2014). Vgl. SMW, S. x/8.

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zwischen ›roten‹ und ›blauen Büchern‹ spiegelt.84 Während Russell – wie mehrfach betont wurde – sich in seinem reifen Denken zu einem moderaten Szientismus bekennt, bietet Whitehead mit seinem Konzept einer spekulativen Philosophie einen wichtigen Ansatzpunkt für die Legitimierung und die synoptische Explikation einer pluralis­ tischen bzw. multiperspektivischen Philosophie, die sich affirmativ auf wissenschaftliche Theorien bezieht, darüber hinaus aber die Rele­ vanz zusätzlicher Perspektiven anerkennt und u.a. ästhetische, ethi­ sche, religiöse, lebensweltliche, kulturelle, historische Standpunkte und Interessen in eine umfassende Kosmologie einzubeziehen bean­ sprucht.

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Vgl. Mormann (2007), S. 34 ff.

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Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften bei Russell und Whitehead

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Dennis Sölch

Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell

I. Einleitung Mit jedem Kind, das geboren wird, kommt etwas genuin Neues in die Welt. Es führt uns die Möglichkeit vor Augen, das Leben auf eine bislang unversuchte und einzigartige Weise zu leben, die Welt zu verändern und zu verbessern. Erziehung stellt einerseits die Entfaltung dieses Neuen dar. Das Kind macht sich Sprache zu eigen, lernt Formen des Zusammenlebens kennen und eignet sich Kultur­ techniken an, die ihm einen weiten Horizont von Wegen eröffnen, sich auszuprobieren und sich zu einer Person zu entwickeln, die der Welt ihre eigene individuelle Note hinzufügt. Dazu bedarf es keiner menschheitsgeschichtlichen Innovationen. Wann immer das eigene Leben und Handeln Veränderungen erzeugt, Routinen aufbricht und sinnstiftende Perspektiven eröffnet, trägt es zur schöpferischen Erwei­ terung der menschlichen Erfahrungswirklichkeit bei. Insofern das Ergreifen bestimmter Möglichkeiten auch bedeutet, alternative Wege nicht einzuschlagen, geht jeder Erziehungsprozess andererseits mit einer Festlegung einher, die dem Erfahrungswachs­ tum Grenzen setzt. Wer den Großteil seiner Kindheit mit Theater­ spielen oder den Feinheiten des Schachspiels verbringt, wird sich kaum mehr zu einem Spitzensportler oder Weltklassemusiker ent­ wickeln. Erziehung verhilft dem Neuen nicht nur zur Entfaltung, sondern bindet es an das Bekannte zurück und macht es in vielerlei Hinsicht zu einem Neuen eines bestimmten Typs. Eine junge Frau, die den Entschluss fasst, Schriftstellerin zu werden, mag höchst ori­ ginelle Romane schreiben und die literarische Landschaft nachhaltig beeinflussen, doch sie werden eben als Romane erkennbar bleiben, die Verbindungen aufweisen zu den Romanen anderer Autorinnen und Autoren. Das Neue wächst im Verlauf der Erziehung aus dem

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Bestehenden hervor und fügt ihm etwas hinzu, auf dem künftige Bildungsprozesse aufbauen können. Sowohl Erziehung als auch Bildung, verstanden als die aktive und schöpferische Gestaltung des eigenen Lebens, stehen damit kon­ zeptuell an dem Punkt, in dem Möglichkeit und Verwirklichung, Kon­ kretes und Allgemeines, Neues und Bekanntes ineinander übergehen. Es sollte folglich wenig verwundern, dass die Beschäftigung mit Erziehung zum – heute bisweilen vernachlässigten – Kerngeschäft der Philosophie zählt. Philosophie und Erziehung sind seit jeher auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft. Das gilt nicht nur für die philosophische Pädagogik, die nach den Zielen, Voraussetzungen und Grenzen vor allem der institutionalisierten Erziehung fragt, oder für den Bereich der philosophischen Ethik, insofern hier normative Fragen der Erziehung, beispielsweise im Hinblick auf das besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehrern und Schülern, reflektiert werden. In beiden Fällen tritt die Philosophie als epistemische Auto­ rität auf, die den Erziehungsprozess quasi von außen betrachtet und auf (ethische) Probleme hin untersucht, ohne selbst thematisch zu werden. Die Beziehung zwischen Philosophie und Erziehung ist tatsächlich jedoch sehr viel fundamentaler und geht der Aufteilung der Philosophie in verschiedene Disziplinen, die Erziehung aus je unterschiedlicher Perspektive thematisieren, noch voraus. Sobald die Erziehung sich über den überschaubaren Bereich der Weitergabe einfacher Informationen und Kulturtechniken hinausbe­ wegt, um komplexe Fertigkeiten und Orientierungswissen zu vermit­ teln, ist sie aufgefordert, in den Bereich des Neuen vorzustoßen. Sie muss ausloten, welche Ziele und Werte als Orientierung bei der Bewältigung existenzieller und sozialer Fragen dienen mögen und welche Methoden sich bei ihrer Beantwortung als nützlich erweisen könnten. Das macht es nicht zuletzt erforderlich, die relevanten Begriffe zu klären und die zu lehrenden Inhalte zu rechtfertigen. Erziehung mündet also immer wieder in philosophische Reflexion. In diesem Sinne erwächst auch in Platons Menon die ethische Frage nach dem Wesen der Tugend aus einem pädagogischen Anliegen, nämlich dem Bestreben, Tugendhaftigkeit zu lehren und auf diese Weise durch Erziehung zur Charakterbildung beizutragen. Der sich entspinnende Dialog zwischen Menon und Sokrates reagiert damit auf ein spezifisches Problem, das sich im Verlauf des Erziehungspro­

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Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell

zesses stellt.1 Das Problem existiert in diesem Kontext nicht schon als ein ›genuin philosophisches‹, das nur akzidentell im Rahmen pädagogischen Handelns thematisch würde, sondern die philosophi­ sche Tätigkeit besteht hier gerade in dem Versuch, systematisch eine begriffliche Klärung des ins Stocken geratenen Erziehungsprozesses herbeizuführen. Folgt man Sokrates in dieser Herangehensweise, so verweist philosophische Reflexion weder auf eine epistemisch privilegierte Form des Nachdenkens über die Welt noch auf eine durch besondere Themen und Fragestellungen ausgezeichnete Wis­ senschaft; sie besteht vielmehr in dem Bemühen des Menschen, sich im Verlaufe von Entwicklungsprozessen lebensweltliche, moralische, ästhetische, religiöse oder andere Fragen verständlich zu machen und einer vorläufigen Lösung zuzuführen, die sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene weiter zu bewähren hat. Philosophie trifft also nicht primär dort auf Erziehung, wo es um spezifische Inhalte geht, die erst rational durchdrungen und dann vermittelt werden sollen, sondern ist in den Erziehungsprozess immer schon eingelassen. Ihr Ziel besteht in der »Aufhellung der unmittel­ baren Erfahrung« (PR, 33/4), soll also teils schlussfolgernd teils spekulativ Licht auf das werfen, was gerade im Entstehen begriffen ist und sich als wesentlicher Aspekt der Erfahrungswirklichkeit, auf den es zu reagieren gilt, allmählich abzuzeichnen beginnt. Dabei geht es entsprechend weniger um abschließende Gewissheiten als vielmehr um das gedankliche Ausloten der Bedeutung von Ideen, die in den Erziehungsprozess eingehen sollen und zumindest mittel­ bar Implikationen für unsere Handlungsgewohnheiten haben. Die Tätigkeit des Philosophierens kann in diesem Sinne als »ein Experi­ mentieren mit Begriffen«2 verstanden werden, das darauf abzielt, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und zu kontextualisieren, um gegebenenfalls das eigene Leben und die Gesellschaft, in die man hineingewachsen ist, verändern zu können. Diese Interdependenz von Erziehung und Philosophie hat entscheidende Konsequenzen, die weit über den engen Bereich der Erziehungsphilosophie hinausreichen: Wenn Philosophie aus Erziehungs- und Entwicklungsprozessen her­ vorgeht, in denen eine neue Weise entsteht, die Welt zu betrachten und zu beschreiben, und wieder in solche Prozesse mündet, dann ist das Projekt einer fundierenden Erkenntnistheorie, die den Rahmen 1 2

Vgl. Platon, Menon 70a–71a. Hampe (2014), S. 65.

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möglicher oder sinnvoller Reaktionen auf unsere Erfahrung im Voraus abstecken will, zumindest mit einem gewichtigen Fragezeichen zu versehen. Menschliche Erfahrung als ein fortlaufender und sich stetig verändernder Vorgang schließt jeden Anspruch auf die Vollständig­ keit und Endgültigkeit unseres Wissens prima facie aus. Pointiert heißt es dazu bei John Dewey, der systematische Wissenschaft und philosophisches Denken miteinander kontrastiert: »Erkenntnis, begründete Erkenntnis ist Wissenschaft, stellt Gegenstände dar, die geordnet, für die Vernunft erledigt sind. Das [philosophische] Denken jedoch blickt in die Zukunft.«3 Vergangenes mag zwar als Orientie­ rung dienen und Mittel bereitstellen, auf die situativ zurückgegriffen werden kann; der genuine Bereich menschlichen Denkens und menschlicher Kreativität aber liegt in der tentativen Erschließung des noch Unbekannten und lediglich vage Antizipierten, das uns auf der Suche nach neuer Erkenntnis begegnet. Philosophie ist das Abenteuer dieser systematischen Erschließung. Ihm wollen wir im Folgenden mit Blick auf Alfred North Whitehead und Bertrand Russell nachge­ hen.

II. Bertrand Russell und Alfred North Whitehead als Pädagogen Sofern die Philosophie die Auseinandersetzung mit der Erziehung nutzt, um ihre eigene Methodologie und ihre Reichweite kritisch zu reflektieren, kann sie nicht mit einem universalen Geltungsan­ spruch einhergehen. Die Allgemeingültigkeit ihrer Urteile ist das (regulative) Ziel ihrer Tätigkeit, nicht ihr Ausgangspunkt. Welche Form eine solche ›experimentelle‹ Philosophie annimmt, hängt ent­ sprechend wesentlich davon ab, von welchen konkreten Erfahrungen die Reflexion ihren Ausgang nimmt. Auch unterschiedliche erzie­ hungsphilosophische Konzepte und Theorien sind daher weniger als konkurrierende Modelle, sondern vielmehr als einander ergänzende Perspektiven zu betrachten, und eine vergleichende Untersuchung theoretischer Überlegungen zu Erziehung und Bildung mag zu verste­ hen helfen, in welcher Weise Philosophie und Erziehung jeweils von einer Auseinandersetzung mit ihrer komplexen und wechselseitigen 3

Dewey (2011), S. 420.

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Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell

Beziehung profitieren können. Bertrand Russell und Alfred North Whitehead scheinen für eine solche philosophische Betrachtung des Neuen, das sich in Erziehungskontexten zeigt, geradezu prädestiniert. Bei ihnen rücken nicht nur pädagogische Fragen stärker als im 20. Jahrhundert üblich in den Fokus, sondern für beide sind Erziehung und Bildung weit mehr als nur berufliche Verpflichtung qua ihrer Tätigkeit als Fachphilosophen; sie sind ihnen gleichermaßen eine Herzensangelegenheit und von systematischer Bedeutung: Die von Dora und Bertrand Russell gegründete Beacon Hill School war, ebenso wie etwa die von John Dewey gemeinsam mit seiner Frau geleitete Laborschule an der Universität von Chicago, sowohl Ort für die Umsetzung pädagogischer Theorie als auch Ausgangspunkt für deren kritische Überprüfung und Modifikation. Whitehead, der sich selbst väterlicherseits in einer Tradition von Pädagogen und Schulleitern sieht (ESP, 3), gründete zwar selbst keine Schule, war jedoch aktiv an zahllosen Kommissionen zur Reform des Schulund Universitätswesens beteiligt, und die praktische Tätigkeit in der Lehre sowie in den Kommissionen findet deutlichen Niederschlag in seinen erziehungs- und kulturphilosophischen Schriften. Während zur zentralen Rolle der Pädagogik für Deweys Philosophieverständnis bereits einige erhellende Arbeiten vorliegen,4 ist die philosophische Bedeutung von Fragen der Erziehung und Bildung bei Whitehead lediglich in Ansätzen,5 bei Russell nahezu überhaupt nicht untersucht worden.6 Den beiden Letztgenannten wollen wir uns im Folgenden ausführlicher widmen. Whiteheads und Russells enger persönlicher Kontakt, ihr gemeinsames Interesse an einer Liberalisierung des Bildungswesens, 4 Vgl. exemplarisch Bellmann (2007), das seit 1994 regelmäßig unter dem Titel Education & Culture erscheinende Journal of the John Dewey Society sowie die Beiträge im ersten Band der Critical Assessments von Deweys Philosophie in Tiles (1992). 5 Während Whiteheads Konzeption von schulischer bzw. universitärer Erziehung und Bildung sowie die sog. Stadienlehre einer rhythmischen Abfolge unterschied­ licher Etappen der geistigen Erschließung eines Gegenstandsbereiches fast schon als kanonischer Bestandteil der einschlägigen Forschungsliteratur gelten können, beschränkt sich die Untersuchung des Verhältnisses von Erziehungsphilosophie, Kulturphilosophie und Erkenntnistheorie bzw. Kosmologie üblicherweise darauf, die Stadien des Lernens mit den Phasen der Konkreszenz eines wirklichen Einzelwesens (actual entity) in Beziehung zu setzen. Whiteheads Philosophieverständnis selbst wird dabei zumeist nicht berührt. Eine demgegenüber deutlich weitere Perspektive nehmen lediglich Brumbaugh (1982) und Faber (2014) ein. 6 Eine Ausnahme bildet Frick (1990).

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ihre divergierenden philosophischen und politischen Ansichten und nicht zuletzt ihr unterschiedliches Temperament machen einen Ver­ gleich ebenso schwierig wie ertragreich. Das gilt umso mehr, als sie sich in wesentlichen Eckpunkten ihrer Kritik am bestehenden Schulund Universitätssystem einig sind, ihre Differenzen also weniger aus einer unterschiedlich starken Orientierung am bestehenden Bil­ dungssystem resultieren als vielmehr durch Divergenzen in den anthropologischen Grundannahmen, in der Gewichtung von Zielen und in der Berücksichtigung anderer Fachdisziplinen geprägt sind. Sowohl Russell als auch Whitehead monieren insbesondere, dass die Bedeutsamkeit schulischer und universitärer Bildung für die Zukunft des Landes und der Menschheit von den britischen Regierungen mas­ siv unterschätzt worden sei. Zudem fehle es auf politischer Ebene an einem Verständnis für die enge Verknüpfung von Erziehung und Bil­ dung mit allen zentralen Bereichen einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Die schlechte finanzielle und personelle Ausstattung der Bildungseinrichtungen, verbunden mit ihrer Kneblung durch rigide formale Vorgaben bei gleichzeitigem Mangel an einer klaren Vision für ihre Ziele, sei das Ergebnis dieser Fehleinschätzung und gleiche einer nationalen Katastrophe (AE, 13 f./54 f.). Ebenso kritisieren beide den vorherrschenden Dogmatismus in Lehrinhalten und -methoden, der in der Regel zu großes Gewicht auf standardisierte Prüfungen lege, in denen oftmals bloß auswendig gelerntes Fakten­ wissen abgefragt werde. Eine adäquate Berücksichtigung oder gar gezielte Förderung individueller Fähigkeiten und Talente werde dadurch zumindest erheblich erschwert. Schließlich sprechen sich auch beide explizit für einen koedukativen Unterricht aus und plä­ dieren für ein breites Curriculum, das naturwissenschaftliche Inhalte mit literarisch-philosophischer Bildung und künstlerisch-handwerk­ lichen Tätigkeiten verbindet. Die geteilten Überzeugungen hinsichtlich einer liberalen Aus­ richtung des Bildungswesens dürfen freilich nicht über die tiefgreifen­ den Unterschiede hinwegtäuschen. Diese schlagen sich bekanntlich am deutlichsten in den jeweiligen metaphysischen und erkenntnis­ theoretischen Ansichten nieder. Kaum eine Analyse illustriert die Differenzen ihrer grundlegenden Anschauungen über die Natur der Wirklichkeit so treffend wie die von Russell kolportierte Anekdote, der zufolge ihm Whitehead zu Beginn der gemeinsamen Zusam­ menarbeit an den Principia Mathematica als ›Schlange im Paradies mediterraner Klarheit‹ erschienen sei: Während für Russell der para­

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Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell

digmatische Ausblick auf die Welt bei schönem Wetter am hellen Mittag stattfinde, habe Erfahrung für Whitehead einen wesentlich fragmentarischen, diffusen Charakter und gleiche eher dem Zustand, wenn man am frühen Morgen gerade aus tiefem Schlaf erwacht.7 Logische und sprachliche Präzision sind aus Whiteheads Sicht dem­ nach zwar unabdingbar für die Klarheit des Denkens und die Lösung abstrakter Probleme, aber sie erlauben noch keine Rückschlüsse auf die Natur der Realität. Für die Principia Mathematica, die keinen Anspruch erheben, Aussagen über die empirische Wirklichkeit zu treffen, spielten die unterschiedlichen Auffassungen Russells und Whiteheads über das Verhältnis von Logik und Metaphysik also noch keine wichtige Rolle. Ebenso wie sich die fundamentalen Differenzen zwischen Russell und Whitehead erst mit dem Ende der Zusammenarbeit philoso­ phisch niederschlugen, begann auch die intensive Beschäftigung mit Erziehung und Bildung bei beiden erst nach Abschluss der gemeinsa­ men Arbeit an den Grundlagen der Mathematik. Im Fall von Russell lässt sich das pädagogische Interesse geradezu biographisch datieren: Mit der Geburt seines Sohnes John 1921 und seiner Tochter Kate 1923 werden die Fragen nach erzieherischen Idealen und Methoden mehr als rein akademische Probleme, denen Russell zuvor nur einen einzi­ gen kursorischen Aufsatz gewidmet hatte. Im Jahre 1926 erscheint On Education, Especially in Early Childhood und 1927 eröffnet er zusam­ men mit seiner Frau Dora unweit von Petersfield die bereits erwähnte liberale Beacon Hill School.8 Die zentralen Prinzipien, an denen sich Leben und Unterricht in Russells Internat orientieren, ähneln in wei­ ten Teilen jenen der Reformpädagogik in der Tradition Montessoris, Fröbels und Piagets, deren Texte die Russells zwar nicht gründlich studiert, aber immerhin mit Interesse gelesen hatten.9 Schülerinnen und Schüler werden nicht zum Besuch der Schulstunde verpflichtet, vielmehr zielen die Angebote in Sprachen, Naturwissenschaften und handwerklichen Tätigkeiten darauf ab, den Wunsch zu lernen zu wecken. Leistungsvergleiche gibt es nicht, um Konkurrenzdenken zu Vgl. Russell (1956), S. 41. Die ausführlichste Beschreibung der Schule findet sich in einem Bericht Dora Rus­ sells; vgl. Russell (1934). Interessante Einblicke bieten darüber hinaus die Schilde­ rungen in Frick (1990) und Hendley (1986), insb. S. 56–65. 9 Vgl. Russell (1975), S. 199. Eine Verortung der Beacon Hill School in der Strömung der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts liefert Gorham (2005). 7

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vermeiden. Stattdessen fördern die Lehrkräfte eigenverantwortlich durchgeführte Projekte zu selbstgewählten Themen und ermöglichen im Rahmen eines Schülerrates eine verhältnismäßig weitreichende demokratische Mitbestimmung. Nach Trennung der Ehe führt Dora die Schule bis 1943 weiter, während Bertrand sich vollständig daraus zurückzieht. Rückblickend macht er in seiner Autobiographie, neben den hohen Kosten des Schulbetriebs und den persönlichen Eheproble­ men, vor allem den hohen Anteil von »Problemkinder[n]«10 für das Scheitern der Schule verantwortlich, die eine gelungene Umsetzung der pädagogischen Prinzipien unmöglich gemacht hätten. Die damit implizit angesprochene Vorstellung des Verhältnisses von Theorie und Praxis wird später noch ausführlicher zu thematisieren sein. Das Ende des gemeinsamen Schulexperiments markiert zwar noch nicht das Ende von Russells pädagogischen und erziehungsphilosophischen Interessen, gleichwohl erscheint 1932 mit Education and the Modern World, das in England unter dem Titel Education and the Social Order veröffentlich wird, sein nicht nur bekanntestes, sondern auch sein letztes ausschließlich der Erziehung gewidmetes Buch. Während der Zweite Weltkrieg heraufzieht, verschiebt sich der Kontext von Russells Beschäftigung mit Erziehung. In zunehmendem Maße sind Fragen der Erziehung mit solchen der Politik verbunden und werden vor dem Hintergrund politischer Herausforderungen und Ziele diskutiert. Nicht zuletzt die Erfahrung der Kriegsbegeisterung vieler Menschen schlägt sich für ihn als überzeugten Pazifisten im Laufe der Zeit in der Überzeugung nieder, dass die Pädagogik im Dienste der Demokratie stehen müsse, sodass jene für Russell, oft­ mals in Verbindung mit der Verhaltenspsychologie, verstärkt instru­ mentellen Charakter annimmt. Die langjährige Beschäftigung mit Erziehungsfragen und sicherlich auch der große kommerzielle Erfolg seiner pädagogischen Schriften verschaffen Russell ein beachtliches Renommee, das dazu beiträgt, dass er von 1836 bis 1837 ehrenhalber zum Präsidenten der Union of Educational Institutions gewählt wird, die seinerzeit in den West Midlands für die Verbesserung der schuli­ schen Curricula, die Evaluation von Prüfungen und die Verbreitung technischer Erziehung zuständig gewesen ist.11 Im Falle von Whitehead wachsen die Aktivitäten im Bereich von Erziehung und Bildung wesentlich organischer als bei Russell aus sei­ 10 11

Russell (1973), S. 233. Vgl. Bone; Stevenson (2008), S. 336.

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Zum Verhältnis von Philosophie und Erziehung bei Whitehead und Russell

ner akademischen Beschäftigung hervor. Unmittelbar nach der Veröf­ fentlichung seiner Einführung in die Mathematik beginnt Whitehead, Vorträge über Didaktik und Methodik des Mathematikunterrichts zu halten, die sich thematisch rasch von ihrem fachspezifischen Fokus entfernen, um in den folgenden Jahren immer mehr nach den Zielen sowohl der schulischen als auch der universitären Bildung überhaupt zu fragen. Eine intime Kenntnis des Universitätssystems und der politischen Auseinandersetzungen über dessen Ausrichtung gewinnt er im Laufe seiner akademischen Karriere in zahllosen Funktionen, die ihm verschiedene administrative Verpflichtungen auferlegen. Ein Teil davon entspricht den üblichen Aufgaben eines Professors im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung: So fungiert Whitehead als Vorsitzender des Fachbereichs für Angewandte Mathematik am Imperial College of Science and Technology und Leiter des Borough Polytechnic Institute, der heutigen London South Bank University. Außerdem engagiert er sich von 1918 bis 1922 als Dekan der Natur­ wissenschaftlichen Fakultät sowie ab 1919 bis zu seinem Ruf an die Universität Harvard als Mitglied des Senats in London für die Belange der Universität. Darüber hinaus wachsen ihm nach und nach weitere Aufträge und Ämter zu, die nachdrücklich dokumentie­ ren, in welchem Maße Whitehead sich für die pädagogischen und bildungspolitischen Anliegen in seinem Umfeld verantwortlich fühlt. Zu diesen über die reine Universitätsverwaltung hinausgehenden Aufgaben zählen vornehmlich seine Tätigkeit als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Londoner Schulbehörde, der beispiels­ weise an der Lehrplanentwicklung mitwirkt, sowie als Leiter der ständigen Delegation für die Belange von Goldsmith’s College, seiner­ zeit einer der bedeutendsten Einrichtungen für die Lehrerausbildung in Großbritannien. Whitehead war, ebenso wie Russell, vertraut mit den pädago­ gischen Schriften Maria Montessoris und beeinflusst von den Ideen John Henry Newmans über die Freiheit der Forschung und die Notwendigkeit, Wissen in einem umfassenden, nicht ausschließlich spezialistischen Sinne zu lehren. Newmans Kritik an einer rigiden Arbeitsteilung im akademischen Betrieb, die zu einer »Verengung seines Gesichtskreises«12 führe, bleibt in vielerlei Hinsicht leitend für Whiteheads Sicht auf bildungstheoretische Fragestellungen. Auch seine eigenen Aktivitäten im Bereich von Erziehung und Bildung 12

Newman (1960), S. 115.

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erfolgen nicht losgelöst von seinen akademischen Interessen, sondern werden zunehmend Gegenstand expliziter Betrachtung. Zwischen 1912 und 1924 entfaltet er eine rege Vortragstätigkeit und veröffent­ licht darüber hinaus nahezu jährlich Artikel zu Fragen und Heraus­ forderungen schulischer sowie universitärer Erziehung. Die erste einschlägige Publikation mit dem Titel »The Place of Mathematics in a Liberal Education« erscheint 1912 in der Premierenausgabe des kurzlebigen Journal of the Association of Teachers of Mathematics for the Southeastern Part of England. Thematisch weist der Essay mit der Forderung, die Vermittlung zentraler mathematischer Kon­ zepte an die konkrete Anwendung solcher Ideen auf exemplarische Probleme zu knüpfen, schon voraus auf einen zentralen Topos, der auch Whiteheads spätere erziehungsphilosophischen Überlegungen durchzieht, nämlich die Kritik an einem übermäßigen Fokus auf abstrakten Vorstellungen, deren Bezug zur konkreten Erfahrungswelt den Schülerinnen und Schülern unklar bleibt. Während die Vorträge und Aufsätze der Folgejahre sich im Wesentlichen an der Mathema­ tikvermittlung orientieren, erweitert sich der Blickwinkel spätestens mit seinem wohl bekanntesten Essay »Die Ziele von Erziehung und Bildung« deutlich. Ursprünglich als Vortrag vor der Mathematical Association gehalten, der Whitehead von 1915 bis 1917 als Präsident vorstand, zeigen sich hier zentrale Begriffe und Ideen, die in ähnlicher Form auch in den naturphilosophischen und metaphysischen Schrif­ ten aufgegriffen werden. Insbesondere wendet Whitehead sich gegen die Überfrachtung der Bildungseinrichtungen mit sog. »passiven Ideen« (AE, 1/39), die als isoliertes Faktenwissen gelehrt werden, ohne in jenen gedanklichen Strom von Ereignissen eingebunden zu sein, der das Leben der Kinder ausmacht. Eben solches bloß auswendig zu lernendes Wissen komme in zentralen Prüfungen zum Tragen, die zwar zu Fleiß herausfordern können, aber damit lediglich auf einen gegebenen Status Quo abzielen, ohne geistige Kreativität und systematisches Vorgehen zu fördern, die es erlauben würden, diesen Maßstab zu überschreiten. Die damit erreichte formale Gelehr­ samkeit sei nicht nur für den einzelnen Menschen schädlich, sondern führe letztlich zum »Untergang« (AE, 14/55) der Gesellschaft, die sich weder geistig noch ökonomisch weiterentwickle. Eine erste Zusammenstellung von sechs Aufsätzen zu Erziehung und Bildung sowie zwei wissenschaftstheoretischen Essays erscheint 1917 unter dem Titel The Organisation of Thought, die auch gemein­ sam nicht den Anspruch haben, eine systematische Theorie der Erzie­

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hungsphilosophie auszubuchstabieren. Vordringlich ist für White­ head die Praktikabilität seiner pädagogischen Ideen. »He did not care about the isms. Nor did he care how his own views on education might be classified, so long as they were carried out in practice.«13 Die gleichermaßen undogmatische wie engagierte Auseinandersetzung mit Erziehung und Bildung trägt dazu bei, dass Whitehead von Premierminister David Lloyd George in eine, ansonsten nahezu voll­ ständig von Altphilologen und Literaturwissenschaftlern besetzte, Kommission zur Bedeutung der klassischen Sprachen im britischen Erziehungswesen berufen wird. 1921 legt die Kommission ihren formalen Abschlussbericht vor, der ein düsteres Bild vom Stand des Latein- und Griechischunterrichts in Großbritannien zeichnet.14 Als Kommissionmitglied unterstützt Whitehead die Empfehlungen des Berichts, der eine deutliche Wiederbelebung der klassischen Sprachen in Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg bewirkt, und widmet der Frage nach der Bedeutung der klassischen Sprachen in einem modernen Curriculum kurze Zeit später unter dem Titel »The Place of the Classics in Education« zusätzlich einen eigenen Aufsatz. Der Essay, der erstmals 1923 im Hibbert Journal veröffentlicht wird, stellt vielleicht nicht unbedingt einen »one-man minority report«15 dar, weicht in der Begründung des Stellenwerts von Latein und Griechisch allerdings durchaus vom offiziellen Bericht ab. Während der Crewe Report aus der Perspektive des »vollständig ausgebildeten klassischen Gelehrten«16 argumentiert und die Vorzüge einer schon erworbenen Kenntnis der klassischen Sprachen zum zentralen Argument macht, bildet für Whitehead die unmittelbare, konkrete Relevanz des Spra­ chenlernens die einzig sinnvolle Begründung für ihre curriculare Verankerung (AE, 63/111). Das nachdrückliche Interesse Whiteheads an erziehungsphiloso­ phischen Fragen endet auch mit seinem Umzug in die Vereinigten Staaten nicht, wenngleich seine Kritik an bestimmten Aspekten der konkreten bildungspolitischen Praxis, beispielsweise dem System standardisierter Tests, deutlich in den Hintergrund tritt. Die Beru­ Lowe (1990), S. 44. So sei etwa die Stellung des Lateinischen an öffentlichen Schulen teilweise »sehr beunruhigend«, während das Griechische an weiterführenden Schulen entweder gar nicht unterrichtet werde oder »vom Aussterben bedroht« sei. Vgl. Crewe Report (1921), S. 269 [meine Übersetzung, DS]. 15 Brumbaugh (1966), S. 211. 16 Crewe Report (1921), S. 8 [meine Übersetzung, DS]. 13

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fung auf eine Professur in Harvard begrüßt er als Möglichkeit zur Ausarbeitung sowohl weiterführender philosophischer Ideen als auch allgemeinerer Überlegungen, »halb philosophisch und halb praktisch, wie etwa Erziehung und Bildung.«17 In vielen der philosophischen Hauptwerke, die in den folgenden Jahren Form annehmen, spielen entsprechende Themen eine Rolle, am prominentesten etwa in der Kritik spezialistischer Gelehrsamkeit in Die Funktion der Vernunft oder bei der Diskussion von Bedingungen des sozialen Fortschritts in Wissenschaft und moderne Welt. Unter seinen Vorträgen aus dieser Zeit sticht vor allem ein Beitrag über die Funktion von Universitäten heraus, den Whitehead 1927 vor der American Association of Colle­ giate Schools of Business hält und der die zunehmende Einbindung der Ökonomie in den akademischen Betrieb zum Anlass nimmt, um die Rolle der Universitäten überhaupt zu reflektieren. Es zeugt vielleicht einmal mehr von der Bedeutung, die Whitehead dem Thema beimisst, dass er das Angebot, den Vortrag in einem Sammelband zur Feier der Neueröffnung der Harvard Business School zu publizieren, mit der Begründung ablehnt, er wolle ein breiteres Publikum erreichen als jenes, das unmittelbar an wirtschaftlichen Fragen interessiert sei.18 Zwei Jahre später erscheint mit Die Ziele von Erziehung und Bildung Whiteheads bekanntestes und einflussreichstes Werk im Bereich der Pädagogik und Erziehungsphilosophie. Bezeichnenderweise ste­ hen auch in dieser zweiten Aufsatzsammlung bildungstheoretische Texte neben solchen zur Wissenschaftstheorie; ganz im Gegensatz zur klaren Trennung von Erziehung und Philosophie bei Russell. Schließlich wird 1947, in Whiteheads letztem Lebensjahr, mit den Essays in Science and Philosophy eine dritte Sammlung von Aufsätzen publiziert, die einen eigens dem Feld der Erziehung und Bildung gewidmeten Part enthält und einmal mehr die vermeintlich starren Fachgrenzen zwischen Pädagogik und Philosophie transzendiert. Dass Whiteheads lebenslanges Interesse an Erziehung und Bildung darüber hinaus in seiner eigenen pädagogischen Tätigkeit als Dozent zum Ausdruck kommt, wird vor diesem Hintergrund nicht verwun­ dern. Über die Vorlesungen und Seminare hinaus macht er es sich in Harvard zur Angewohnheit, Doktorandinnen und Doktoranden zu 17 Brief von A.N. Whitehead an Mark Barr vom 13. Januar 1924, zitiert in Hocking (1961), S. 508 [meine Übersetzung, DS]. 18 Vgl. den Brief von A.N. Whitehead an Wallace Brett Donham vom 7. Mai 1927, zitiert in: Hendley (2000), S. 184 [meine Übersetzung, DS].

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sich nach Hause einzuladen, wo »hot chocolate and wit«19 serviert werden, und auch Russell zufolge war Whitehead ein außerordentlich vollkommener Lehrer […] und förderte in einem Schüler das Beste zutage, dessen er fähig war. Nie übte er Zwang aus, er benahm sich nicht sarkastisch oder von oben herab oder legte sonstige Verhaltensweisen an den Tag, die sich bei weniger begabten Lehrern finden.20

III. Die gemeinsame liberale Agenda In pädagogischer Hinsicht teilen Russell und Whitehead nicht nur die Ablehnung des bestehenden englischen Schulwesens in seiner curricularen und didaktischen Ausgestaltung, sondern auch die posi­ tive Zielsetzung eines erziehungstheoretischen Liberalismus, der das orthodoxe System ersetzen soll. Ungeachtet der üblichen begrifflichen und konzeptuellen Differenzen zeigt sich in den Überlegungen bei­ der Denker ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung, auf deren Grundlage die späteren Differenzen überhaupt erst in vollem Umfang verständlich werden. Die gemeinsame liberale Agenda gewinnt ihre Kontur durch die fundamentale Kritik an vier eng miteinander ver­ wobenen Momenten moderner schulischer und universitärer Erzie­ hung und Bildung, die Whitehead und Russell als Grundübel und Hauptursachen für die diagnostizierte Bildungsmisere identifizieren, nämlich die Operationalisierung von Wissen, die Standardisierung von Unterricht sowie die das Bildungswesen zunehmend beherrschende Ökonomisierung und Leistungsorientierung. Mit Blick auf die Operationalisierung von Wissen wenden sich Whitehead und Russell gegen die Vorstellung, Erziehung bestehe primär in der Vermittlung bereits abschließend kategorisierter und systematisierter Daten und Informationen. Die Behandlung von sym­ bolisch gespeichertem und als Selbstzweck zu betrachtendem Wissen habe nicht nur motivational desaströse Konsequenzen, sondern stehe auch einem verinnerlichten Verständnis des Zwecks und der prinzi­ piellen Zusammenhänge des Gelehrten im Wege. Die Tendenz, die Vergangenheit in der Form kulturell oder wissenschaftlich erreichter Brennan (1978), S. 516. Russell (1972), S. 197 f. Wir weichen geringfügig von der nicht ganz treffenden Übersetzung ab. Siehe zum Abgleich das englische Original Russell (1967), S. 190.

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Erkenntnis festzuhalten, um sie fortan als zeitlos gültig in die Zukunft zu transportieren, sieht Russell insbesondere im Geschichtsunterricht exemplifiziert, der damit zugleich eine besondere Ideologisierungsge­ fahr mit sich bringe. Grundsätzlich gelte es in der Schule ebenso wie in der Wissenschaft, Vergangenes niemals zu einem dogmatischen Bestand zu erheben, dessen Wahrheitswert über jeden skeptischen Vorbehalt erhaben wäre. »Die Schulbildung sollte nicht nach einer passiven Kenntnisnahme toter Ereignisse streben, sondern nach einer Aktivität, gerichtet auf die Welt, die unsre Bemühungen schaffen sollen.«21 Es müsse grundsätzlich vermieden werden, Schülerinnen und Schüler einer Situation auszusetzen, in der sie permanent zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren haben, was ihnen von einer Autorität mitgeteilt wird. Kritischer Geist erwachse nur dort, wo Wis­ sen der methodischen Untersuchung unter- und nachgeordnet bleibt. Dieser Zurückweisung eines an der passiven Kenntnisnahme vergangener Ereignisse orientierten Unterrichts verleiht Whitehead in seinen erziehungsphilosophischen Schriften eine systematische Form. Analog zu Russells Rede von ›toten Ereignissen‹ prägt Whitehead den Begriff der ›passiven Ideen‹, d.h. solchen, »die bloß geistig aufgenommen werden, ohne nutzbar gemacht, geprüft oder in immer neuen Kombinationen zusammengewürfelt zu werden.« (AE, 1/39) Damit ist nicht primär ein bestimmter Typus von Ideen oder Vorstellungen bezeichnet, sondern die Art und Weise, wie Ideen in Lehr- und Lernzusammenhänge eingebracht werden. Sobald Wissen wie eine begriffliche Konvention behandelt wird, deren Ausgangs­ punkt, Genese und systematischer Kontext von den Rezipienten nicht mehr nachvollzogen werden können, wird die Möglichkeit untergra­ ben, mit dem erworbenen Wissen produktiv umzugehen und neue Erkenntnisse zu gewinnen.22 Der Operationalisierung von Wissen in Form vermeintlich kontextinvarianter Informationen begegnet Whitehead mit der Forderung, dass Wert, Nutzen und Relevanz des Gelernten für Schülerinnen und Schüler möglichst unmittelbar, also nicht erst am anvisierten Zielpunkt eines Bildungsprozesses, erfahrbar sein müssen. »Der Teufel, den es zu meiden gilt, ist das Einpauken allgemeiner Aussagen, die keinen Bezug zu individuellen persönlichen Erfahrungen haben.« (AE, 64/112) Im Sinne eines Organismusparadigmas gelte es, den Geist des Schülers als aus einer 21 22

Russell (1974b), S. 183. Vgl. Dunkel (1965), S. 96.

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Fülle individueller Erfahrungen und Erlebnisse hervorwachsend zu begreifen, um auf diese Weise zu gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche erst einen gleichermaßen kognitiven wie auch affektiven Zugang zu einem Erfahrungs- und Problemhorizont gewinnen kön­ nen, bevor systematische Mittel erarbeitet werden, die Erfahrung zu deuten und mit ihr umzugehen (SMW, 198/230). Die Distink­ tion separierter Wissensbereiche soll folglich der Anerkennung der Bedeutsamkeit bestimmter Phänomene nachgeordnet bleiben, wobei zugleich strikte Fachgrenzen immer wieder durch das Erfahren von Relevanz und Zusammenhang aufzulösen und zu überschreiten sind. Russell und Whitehead sind sich bewusst, dass ein solcher, durch­ aus als reformpädagogisch zu bezeichnender, Ansatz auf praktische Hindernisse stößt. Darin sehen sie allerdings kein grundsätzliches Problem, sondern vielmehr Anlass, auf weitere Miseren des Bildungs­ wesens hinzuweisen. Eng verbunden mit dem diagnostizierten Problem der Erset­ zung von Wissen durch bloße Formeln oder Informationen ist für Whitehead und Russell die zunehmende Standardisierung von Unter­ richt. Sobald ein Thema oder Sachverhalt als ein vollumfänglich vorliegender und begrifflich präzise zu fassender Gegenstand ange­ sehen wird, liegt es nahe, ihn zu schematisieren und entsprechend für die Vermittlung aufzubereiten. Damit werde jedoch suggeriert, zu jedem Problem oder Streitfall lägen fertige Antworten vor, die lediglich gelernt und abgewogen werden müssten.23 Wichtig sei jedoch gerade, die gegebenen Optionen zu hinterfragen und mögliche Alternativen auszuloten, indem Schülerinnen und Schüler konkurrie­ rende Sichtweisen kennenlernen und zu intelligentem Widerspruch motiviert werden. Neugier, Urteilsvermögen und der Umgang mit Komplexität entstehen erst aus der Erfahrung, dass die Welt stets weit mehr Themen bereithält, als ein Mensch sich jemals abschließend aneignen kann (AE, 29/73). Jeder mögliche Gegenstand erlaubt eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln sowie eine multiple Analyse und Bewertung, der eine standardisierte Aufbereitung nicht gerecht wird. Diese fördere vielmehr Hast und übermäßige Genauig­ keit, insbesondere dann, wenn Tests und Prüfungen darauf abzielen, sichtbares Wissen abzufragen.24 Standardisierte Prüfungsverfahren, darin sind Whitehead und Russell sich einmal mehr einig, seien zwar 23 24

Vgl. Russell (1974b), S. 113. Vgl. ibid., S. 114.

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geeignet, um Fleiß zu testen, aber denkbar ungeeignet, um wirkliches Verständnis abzufragen. Der Fokus auf schematische Daten und Infor­ mationen begünstige jedoch standardisierte Prüfungen und fordere die Lehrerinnen und Lehrer geradezu auf, bestimmte Theoreme oder kanonische Texte deshalb in den Unterricht aufzunehmen, weil sie sich hervorragend dazu eignen, Fragen zu ihnen zu stellen (AE, 80/130). Der Maßstab für die Auswahl von Unterrichtsgegenständen entfernt sich damit weiter von konkreten Lebenszusammenhängen und verliert sowohl in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schü­ ler als auch aus der Perspektive desjenigen, der nach systematischen Zusammenhängen zwischen unterschiedlichsten Fachbereichen fragt, erheblich an Relevanz. Dem Trend zur Standardisierung von Lehre und Prüfungen stellen Whitehead und Russell die Forderung nach einem breiten Spektrum an Wahlmöglichkeiten entgegen, das es erlaubt, Bildung stärker an individuellen Neigungen und Begabungen auszurichten. Statt einer weiteren Vereinheitlichung des Curriculums sollen unter­ schiedliche Pfade eröffnet werden, denen im Verlaufe der Entwick­ lung gefolgt werden kann. Unbenommen der Notwendigkeit, einige Inhalte und Methodenkenntnisse für alle verbindlich zu machen, sollen objektivierbare oder quantifizierbare Standards zugunsten der Vertiefung in bestimmten Bereichen zurückgenommen werden, sodass eine stärker naturwissenschaftliche Laufbahn in Schule und Universität ebenso möglich ist wie eine sprachliche, literarische oder künstlerische. Vehement fordern beide Denker darüber hinaus ins­ besondere die Abschaffung externer und normierter Prüfungen, die Whitehead expressis verbis als »tödlich« (AE, 5/44) charakterisiert, weil sie dazu führen, dass Lernen von vornherein auf reproduzierbares Prüfungswissen reduziert wird. Stattdessen gelte es, Prüfungen so zu gestalten, dass sie den regionalen und schulspezifischen Hintergrund berücksichtigen und zugleich den individuellen Fortschritt auch für die Schülerinnen und Schüler selbst erkennbar machen. Ein vernünftiges Bildungssystem zeichne sich dadurch aus, dass »jede Frage, die einem Schüler bei einer Prüfung direkt gestellt wird, durch den eigentlichen Fachlehrer des Schülers entweder konzipiert oder modifiziert wird«. (AE, 5/43) Daran schließt sich für Whitehead die weitergehende Forderung an, die einzelne Schule zur »wahren Bildungseinheit« (AE, 13/54) zu erheben. Jede Schule sollte die Möglichkeit erhalten, auf Grundlage der spezifischen Interessen und Kompetenzen des Kollegiums sowie unter Berücksichtigung des Einzugsgebiets, der

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Klassenzusammensetzung sowie regionaler Besonderheiten ihr eige­ nes Curriculum zu entwickeln und eigene Abschlusszeugnisse auszu­ stellen. Zwar sollten die Schulen regelmäßig überprüft werden, aber gerade nicht im Hinblick auf die Einhaltung verbindlicher allgemeiner Standards, sondern im Hinblick auf die individuelle Angemessenheit des Lehrplans und die konkrete Umsetzung der selbstgesetzten Ziele und Pläne. Während ministeriell erlassene Normen in erster Linie auf die Sicherung von Mindeststandards abzielen, deren Übertreffen aber zugleich erheblich erschweren, solle also primär auf die persönliche Kompetenz und den Einsatz derjenigen vertraut werden, die für die konkrete Unterrichtspraxis zuständig sind, um ihre individuellen Stärken bestmöglich zu nutzen. Whitehead und Russell sind sich bewusst, dass vor allem die Standardisierung des Unterrichts selten auf mangelndes Engagement oder fehlende Einsicht seitens der Lehrenden zurückzuführen ist, son­ dern in erheblichem Maß das Ergebnis einer Bildungspolitik darstellt, die kontinuierlich an der personellen und finanziellen Ausstattung der Bildungseinrichtungen spart. Entsprechend rückt drittens die Ökonomisierung des Bildungswesens ins Visier der geteilten liberalen Agenda, die beiden aus eigener Erfahrung bekannt war. Sparmaßnah­ men führen unmittelbar zu einem Personalmangel, der sich einerseits direkt proportional in einem schlechteren Betreuungsverhältnis aus­ drückt und damit andererseits der Operationalisierung und Standar­ disierung Vortrieb leistet. Wenn Lehrerinnen und Lehrer ein größeres Pensum an Aufgaben zu bewältigen haben, ist eine Schematisierung und Mechanisierung von Abläufen die am nächsten liegende Mög­ lichkeit, der Überarbeitung entgegenzuwirken. Unterricht wird dann entsprechend klassenunabhängig anhand von bereits vorliegenden Materialien durchgeführt, Prüfungen werden vereinheitlicht und so aufgebaut, dass möglichst wenig individuelle Korrekturarbeit not­ wendig ist, und die eigene Forschung und Weiterbildung, die in den Unterricht einfließen könnte, bleibt auf der Strecke. Menschen, die keine Erfahrung im Lehren haben, können sich keine Vorstellung machen von der Verausgabung an Geist, die durch einen wirklich lebendigen Unterricht verursacht wird. Sie glauben, daß man von Lehrern ganz gut ebensoviel Arbeitsstunden als von Beamten verlangen kann. Intensive Ermüdung und gereizte Nerven sind der

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Erfolg, und eine absolute Notwendigkeit, die Tagesarbeit mechanisch zu verrichten.25

Eine solche Mechanisierung des Unterrichtsgeschehens lässt sich frei­ lich nur dann umsetzen, wenn Disziplin und Gehorsam gewährleistet sind, die damit als notwendige Grundlage erst einmal sicherzustellen sind, anstatt sich aus der aktiven Einbindung der Schülerinnen und Schüler zu ergeben oder mitunter sogar vernachlässigbar zu sein. »Mit guter Disziplin ist es immer möglich, dem Geist der Schüler eine gewisse Menge an passivem Wissen einzutrichtern.« (AE, 5/44) Diese Disziplinierung verschärft allerdings das bereits angesprochene Problem der vorschnellen und übermäßigen Akzeptanz von Autorität in Angelegenheiten, die eigentlich nur dem gleichermaßen neugieri­ gen wie kritischen Denken unterworfen sein sollten. Die Ökonomisierung von Bildung schlägt sich jedoch nicht nur direkt in der Unterausstattung von Schulen und Universitäten nieder, sondern auch in der dezidierten Ausrichtung von Erziehung und Bil­ dung an ihrem ökonomischen Nutzen. In Übereinstimmung mit der Kritik an der Standardisierung von erzieherischen Abläufen weisen Russell und Whitehead die Idee zurück, Schule und Universität sollten direkt und unmittelbar auf die Erfüllung gegebener wirtschaftlicher Zwecke ausgerichtet sein, indem sie beispielsweise eine berufliche Qualifikation zum Ziel des Curriculums machen. Damit würde zwar für einen bestimmten Zeitraum der Bedarf an Personal sichergestellt, aber nur zum Preis einer perspektivischen Reduktion von Menschen und Bildungseinrichtungen zu bloßen Ressourcen. Eine solche Bil­ dungs- und Wirtschaftspolitik erweise sich schnell als verhängnisvoll, weil sie sich lediglich an den Erfordernissen des Status Quo orientiere, dabei jedoch Muße, Vergnügen und gedankliche Freiheit als notwen­ dige Voraussetzungen für Innovationskraft vernachlässige (AE, 57 f./106 f.). In der Ausbildung von Spezialisten für gegebene Funk­ tionen liege die Gefahr, an Bestehendem festzuhalten, anstatt sich auf mögliche Entwicklungen einzulassen. Jeder Berufszweig macht seine Fortschritte, aber es sind Fortschritte, die in der jeweiligen Schiene bleiben. Befindet man sich nun geistig in einer Schiene, so heißt das, in der Betrachtung einer gegebenen Menge von Abstraktionen zu leben. Die Schiene verhindert, daß man durch die Lande schwärmt, und die Abstraktion abstrahiert von etwas, dem man keine weitere Beachtung schenkt. (SMW, 197/228) 25

Ibid., S. 177.

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Ökonomischer Nutzen ergebe sich paradoxerweise erst dann, wenn er nicht zum expliziten Ziel gemacht wird, wenn also Freude als zentrales Movens erstklassiger Arbeit anerkannt werde und es Spiel­ raum für gedankliche und praktische Experimente gebe. Dies verlange freilich, ein gewisses Maß an Kontrolle und Planbarkeit aufzugeben und die kompetitive Dimension der Erziehung zugunsten größerer Freiheit zurückzunehmen. Das vierte Moment schulischer sowie universitärer Erziehung und Bildung im Fokus der Kritik ist daher die Leistungsorientierung, die im Zuge der Standardisierung und Ökonomisierung an Intensi­ tät zugenommen sowie diese wiederum verschlimmert habe. Die Gewohnheit, die Bewertung von Schülern und Studierenden durch die schulöffentliche Bekanntmachung ihrer Platzierung im Klassenoder Kursvergleich kenntlich zu machen, gepaart mit der Vergabe von Stipendien an die Bestplatzierten, habe letztlich zur Konsequenz, dass nicht mehr die individuelle Entwicklung, sondern das Übertref­ fen der anderen im Vordergrund steht. Der Fokus auf Präzision und sichtbar abprüfbares Wissen bleibe nicht nur an einem gege­ benen Leistungsstandard orientiert, der ein Übertreffen des Status Quo behindere, sondern führe auch zu einer Abnahme persönlicher und charakterlicher Qualität zugunsten sozialer Anpassung: Soziales Prestige gewinnt in diesem Fall derjenige, der im Leistungsvergleich an erster Stelle steht, und umgekehrt besteht das Ziel schulischer oder universitärer Leistung oftmals nicht primär in geistigem Fort­ schritt, sondern im Aufstieg in der sozialen Hierarchie. Die von individueller Disposition abhängigen Vorzüge, die Whitehead auch als »Stil« (AE, 12/52) bezeichnet, werden zuungunsten sozial veri­ fizierbarer Merkmale vernachlässigt.26 Russell, der wie Whitehead den anstrengenden Prüfungsmarathon des Mathematik-Tripos in Cambridge, dessen Gewinner als sog. Wrangler besonderes Prestige genossen, durchgemacht hatte, kommt zu dem vernichtenden Urteil, die englischen Public Schools hätten das System der kompetitiven Leistungsorientierung »bis zur Perfektion getrieben und damit die Intelligenz weitgehend dadurch sterilisiert, daß sie sie vor der Masse kriechen lassen.«27 Geistige Entwicklung wird also nur noch dann als solche anerkannt, wenn sie sozial, d.h. in erster Linie unmittelbar vom schulischen und universitären Umfeld, normiert ist. 26 27

Vgl. ibid., S. 111. Ibid., S. 38.

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Die bewusste Förderung direkter Konkurrenz zwischen Schüle­ rinnen und Schülern bleibt nicht ohne gesellschaftliche Folgen. Wenn die Lernenden früh daran gewöhnt werden, sich weniger als Mitglie­ der eines Teams, die sich gegenseitig helfen und ergänzen können, sondern als Konkurrenten um Geld und Karriereoptionen betrachten, steht kaum zu erwarten, dass die entsprechende Haltung mit dem Abschluss der formalen Bildung abgelegt wird. Die darin angelegte Doktrin von individueller Freiheit und unbeschränktem Wettbewerb ist, wie Whitehead in seiner ideengeschichtlichen Sozialphilosophie deutlich macht, der Koordination des gesellschaftlichen Zusammen­ lebens alles andere als zuträglich (AI, 33 ff./122 ff.). Eine solche Art der Förderung von Kompetitivität innerhalb einer sozialen Gruppe, so auch Russell in seinem populärwissenschaftlichen Aufsatz zur Technikfolgenabschätzung Icarus, setzt sich im Berufsleben fort. Wenn die größten Unternehmen von Menschen geleitet werden, die einerseits so reich sind, dass Geld ihnen gleichgültig sein kann, und andererseits von klein an auf Wettbewerb geeicht worden sind, dann darf es nicht verwundern, dass diese bereitwillig »aus Freude an der Rivalität«28 enorme ökonomische und soziale Verluste riskieren. Mit dem Blick auf die gesellschaftlichen Folgen pädagogischer Theorie und Praxis münden die kritischen Reflexionen von Erziehung und Bildung somit unweigerlich in Perspektiven, die über den unmittel­ baren Gegenstandsbereich pädagogischer Theorie hinausreichen.

IV. Von der Pädagogik zur philosophischen Reflexion Vor dem Hintergrund der grundsätzlich geteilten Kritik am bestehen­ den Erziehungssystem und den ähnlichen Überzeugungen in Bezug auf dessen notwendige Liberalisierung tritt mit besonderer Deutlich­ keit hervor, wie unterschiedlich die politischen und philosophischen Konsequenzen sind, die Whitehead und Russell aus ihrer pädago­ gischen Agenda ziehen, und in welchem Maße das pädagogische Geschehen überhaupt Gegenstand philosophischer Reflexion wird. Wir wollen abschließend also das Augenmerk auf die gesellschaft­ lichen Implikationen richten, die mit den jeweiligen Auffassungen einhergehen, um daran anknüpfend zu eruieren, inwiefern bei beiden Denkern jeweils von einer dezidierten Erziehungsphilosophie gespro­ 28

Russell (2005), S. 37.

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chen werden kann, zumindest in dem Sinne, dass das pädagogische Geschehen in all seinen Dimensionen in das jeweilige Verständnis von philosophischer Tätigkeit einfließt. Im Fall Russells nimmt die gesellschaftliche Komponente im Ausgang seiner Überlegungen zu Erziehung und Bildung die Form einer Dichotomie an, die eine fundamentale Differenz zwischen der Erziehung zum Individuum einerseits und der Erziehung zum Bürger andererseits aufmacht. »Im praktischen Alltag unterscheidet sich die Erziehung, die daraus resultiert, daß ein Kind als ein Individuum angesehen wird, sehr weitgehend von jener, die sich daraus ergibt, daß man es als künftigen Bürger betrachtet.«29 Als Individuum zeichne sich der Mensch in erster Linie durch sein Streben nach Wissen und Freude am Entdecken aus, also Eigenschaften, durch die anderen Menschen bestenfalls eine akzidentelle Rolle im eigenen Leben zuge­ wiesen wird, insofern sie zur Erweiterung der eigenen Kenntnisse beitragen. Mit dem Verständnis von komplexen Zusammenhängen und Kausalitätsbeziehungen gehe darüber hinaus ein Gefühl von Macht einher, sodass ein Individuum, wenn es sich denn im Verhältnis zu seinen Mitmenschen betrachtet, die Neigung zeige, den eigenen Willen zur Maxime für andere zu machen. Die »perfekte Form des Menschen«30 als Individuum, exemplarisch verkörpert durch die herausragenden Intellektuellen der Menschheitsgeschichte, zeichnet sich für Russell dadurch aus, Wissen, Emotion und Macht im höchsten Maße realisiert zu haben. Demgegenüber sei der Mensch als Bürger sich der Relativität seiner eigenen Empfindungen und seines eigenen Willens bewusst. Sein wesentliches Anliegen gelte entsprechend dem harmonischen Ausgleich unterschiedlicher Bestrebungen, sodass er in jeder Handlung zumindest prinzipiell an Kooperation denke. Wer aber stets auf Kooperation und Kompromiss aus ist, wird sich, so Russell, an gegebenen Zielen und Zwecken orientieren.31 Kurz, der Bürger scheint per se konservativ, insofern er den Status Quo würdigt und zu bewahren versucht. Die praktische Unvereinbarkeit beider Haltungen schlage sich nicht zuletzt in dem Paradoxon nieder, dass Regierungen üblicherweise den großen Individuen ihrer Geschichte besondere Verehrung entgegenbringen, aber gleichzeitig dafür Sorge tragen, in ihrem Einflussbereich die politische Radikalität eines George Washington oder Jesus möglichst frühzeitig zu unterdrücken. 29 30 31

Russell (1974b), S. 7. Ibid., S. 8. Ibid., S. 9.

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Russell lässt keinen Zweifel daran, dass er angesichts dieser Dichotomie dem Ideal eines großen Individuums, das eben die Züge der Verinnerlichung von Wissen, der lebendigen Zusammenschau von Kenntnissen und der persönlichen Qualität trägt, an denen sein liberales pädagogisches Programm in toto ausgerichtet ist, den Vorzug gibt. Umso erstaunlicher erscheint die abrupte Kehrtwende, die er am Ende der Gegenüberstellung vollzieht: Sub specie aeternitatis betrachtet, halte ich die Erziehung zum Indi­ viduum für erstrebenswerter als die zum Bürger; politisch, etwa im Zusammenhang mit den Erfordernissen der Zeit gesehen, muß die Heranbildung des Bürgers jedoch, wie ich fürchte, den Vor­ rang haben.32

Zuviel freie Entfaltung schade der sozialen Kohäsion. Zwar berge die Erziehung zu Bürgerbewusstsein stets die Gefahr der Unterdrü­ ckung der Einzelnen und der Intoleranz gegenüber Minderheiten, doch könne kein Zweifel daran bestehen, dass die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts die wichtigste Aufgabe der Politik und der – interventionistisch verstandenen33 – Erziehung darstelle. Insofern gedankliche Unabhängigkeit sich auch in der Lebensführung und der mangelnden Anpassung an soziale und institutionelle Struk­ turen niederschlage, fördere sie ein Auseinanderdriften der Menschen und mache dadurch Konflikte sehr viel wahrscheinlicher. Da aber, wie Russell eingesteht, konfligierende Ideale von Bürgerlichkeit zwischen unterschiedlichen Nationen ein mindestens ebenso großes zerstöreri­ sches Potential besitzen, sei es zwingend notwendig, einen Weltstaat zu errichten, der einer übergeordneten Weltregierung untersteht, um soziale Kohäsion auf globaler Ebene zu erreichen. Parallel dazu gelte es, ein weltweites Erziehungssystem zu errichten, an dessen Spitze eine internationale Universität steht, die nicht nur die Herausgabe jedes Lehrbuchs und die Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer zu kontrollieren habe, sondern darüber hinaus explizit die Förderung von Loyalität gegenüber der Weltregierung betreiben solle.34

Russell (1974b), S. 19. Vgl. Rockler (1993), S. 22. Vgl. dazu auch Russell (1973), S. 234: »Eine Schule ist wie die Welt: nur eine Regierung kann brutale Gewalt verhindern. Und so war ich gezwungen, die Kinder ständig zu überwachen, wenn sie keinen Unterricht hatten, um Grausamkeiten zu verhindern.« 34 Vgl. Russell (1942), S. 13. 32

33

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Offensichtliche kritische Einwände gegen eine solche politischpädagogische Autokratie weist Russell rasch dramatisierend zurück. Natürlich könne ein Weltstaat die Erziehung ebenso für seine Zwe­ cke einzuspannen versuchen, wie nationale Regierungen das tun, aber angesichts der Bedrohung der Welt durch einen Atomkrieg müssten mögliche Reformen warten.35 Auch die Entwicklung eines ausgewogenen und allen Anforderungen angemessenen Curriculums sei gegenüber der Friedenssicherung nachrangig: Zweifellos wird ein derartiges Erziehungssystem in jedem Falle für die nächsten ein- bis zweihundert Jahre gewisse unausgegorene Gedan­ kengänge mit sich bringen, die der Entwicklung des Individuums abträglich sind. Wenn aber die Alternative hierzu Chaos und Tod unserer Kultur bedeuten, lohnt sich dieser Preis.36

Eine solche quasi apokalyptische Alternative zur angemahnten Welt­ regierung fungiert allzu schnell als Diskussionsblocker, sodass man sich nur schwer des Gefühls erwehren kann, »that Russell wants to replace bigotry and narrow-mindedness with an intolerance of his very own«.37 Letztlich seien Schwierigkeiten bei der Implementierung der idealen politischen Ordnung bloß vorübergehender Natur und würden durch das Ideal einer wissenschaftlich-objektiven Autorität mehr als wettgemacht. Russell, der ansonsten nicht müde wird, die Gefahr des Nationalismus zu betonen, plädiert vehement für eine Weltnation und unterstellt in diesem Zuge eine neutrale, rein ratio­ nale Form der Weltanschauung, die mittels einer wissenschaftlich auf­ geklärten Weltregierung die Erziehung der Menschen zu Weltbürgern zu leisten vermögen sollte. Dieses Ideal einer neutralen Instanz, die eine weltweite Erziehung zu Bürgerinnen und Bürgern gewährleisten soll, verweist bei Russell jedoch auf eine grundsätzliche Schwierigkeit im Verhältnis von Philosophie und Erziehung. Im Gegensatz zu der phasenweise von ihm selbst vorgebrach­ ten Kritik an der Operationalisierung von Wissen sieht Russells globales Erziehungssystem eine Instanz vor, die einen epistemisch privilegierten Zugang zu allen wichtigen Lehrinhalten hat, also weiß, welche Art von Verständnis richtig ist und welche Konsequenzen bestimmte Kenntnisse bei der Bevölkerung hervorbringen. Damit 35 36 37

Vgl. Park (2013), S. 72. Russell (1974b), S. 19. Hendley (1986), S. 71.

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bleibt die Philosophie bzw. Wissenschaft der Erziehung äußerlich – sie wendet sich ihr als epistemische Autorität zu und prüft ihre Theorien an ihr, während sie selbst von der Interaktion wesentlich unberührt bleibt.38 Die konkrete Erfahrung dient in diesem Kontext als Prüfstein für abstrakte Theorien, nicht als Moment der Aneignung und schöpferischen Hervorbringung neuer Sichtweisen auf die Welt. Während für Whitehead, wie wir gleich sehen werden, das Abstrakte nur dann angemessen verstanden werden kann, wenn deutlich ist, wie es aus der konkreten Erfahrung hervorwächst, um damit zugleich als Abstraktion kenntlich zu bleiben, sieht Russell die Abstraktion selbst als ausschlaggebend an. In einer modernen Gesellschaft sei das Wissen wesentlich symbolischer und technischer Natur, und so müsse Erziehung entsprechend auf der Ebene des Abstrakten stattfinden. Das sei dem Menschen nicht natürlich, aber eben unabdingbar: An abstraktem Wissen finden nur wenige Gefallen, und dennoch ist es eben dieses abstrakte Wissen, das eine zivilisierte Gemeinschaft möglich macht. Der Erhalt einer derartigen Gemeinschaft verlangt daher eine Methode, welche die Kinder sich in einer Art verhalten läßt, die ihnen nicht von Natur aus eigen [natural] ist.39

Entsprechend gelte es also erst einmal, die bestehende gedankliche Ordnung zu akzeptieren, mithin das Allgemeine zur Norm für den Prozess individueller Entfaltung zu machen. Auch wenn Russell im Hinblick auf wissenschaftlichen Fortschritt konzediert, dass gän­ gige Begriffe und Methoden immer wieder durch Empirie befruch­ tet werden müssen, um nicht steril zu werden, bleibt ein solches experimentelles Vorgehen doch auf die Naturwissenschaften und die daran orientierte Philosophie beschränkt.40 Die rigide Unterordnung von Erziehung und Bildung unter die Politik und von Politik unter eine wissenschaftlich-philosophische Autorität wird von Russell nicht expressis verbis reflektiert. Dass sie dem Anspruch einer Pädagogik des individuellen Wachstums und der kreativen Selbstentfaltung zuwiderläuft, liegt freilich auf der Hand. So lässt sich Russells 38 In einem Interview anlässlich seines Rückzugs aus der Beacon Hill School erklärt Russell 1931: »Von meiner Seite aus war es ein Experiment. Ich schrieb ein Buch über Erziehung und wollte meine eigenen Theorien ausprobieren. Zu meiner eigenen Überraschung haben die Theorien gut funktioniert.« Russell, zitiert in Hemmings (1973), S. 80. 39 Russell (1974b), S. 29. 40 Vgl. Russell (1988), S. 265.

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Überlegung, der sich wesentlich von innen heraus vollziehenden Entwicklung von Individualität einen gleichermaßen moralischen wie auch epistemologischen Filter vorzuschalten, nicht anders denn als Selbstverrat an seinem eigenen Ideal liberaler Pädagogik verstehen. Dieser Diskrepanz zwischen den genuin pädagogischen Über­ zeugungen einerseits und der angemessenen philosophischen Betrachtung dieser Überzeugungen andererseits scheint Russell sich durchaus, zumindest in Ansätzen, bewusst gewesen zu sein. So wer­ den pädagogische Fragen und Einsichten zwar in keiner von Russells dezidiert philosophischen Schriften thematisiert, aber gerade dieses Ausblenden selbst hat einen guten Grund. Es verdankt sich vor allem Russells skeptischer Einschätzung, Fragen der Erziehung könnten mit den Mitteln der Philosophie nicht sinnvoll beantwortet werden. Philosophieren heißt für ihn, sich der Mittel logischer Analyse zu bedienen, die er erfolgreich im Bereich der Erkenntnistheorie oder der metaphysischen Voraussetzungen der empirischen Naturwissen­ schaft angewendet hatte. »Jedes wirklich philosophische Problem ist ein Problem der analytischen Klärung; und die diesen Problemen angemessene Methode besteht darin, dass man von den gegebenen Resultaten ausgeht, um von ihnen aus ihre Prämissen zu erschlie­ ßen.«41 Entsprechend muss Russell, ähnlich wie der frühe Wittgen­ stein, festhalten, dass die Philosophie beispielsweise zur Erziehung, Ethik oder zur Politik nichts zu sagen habe; und konsequenterweise kommt 1959 in Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens keiner dieser Bereiche überhaupt zur Sprache. Wenn Russell dennoch etwas zur Pädagogik oder Ethik sagt, dann sieht er seine Beiträge nicht als genuin philosophische Leistungen. Was er selbst dort zu sagen hat, sage er als Mensch, der an moralischen und politischen Fragen interessiert ist, nicht aber als Philosoph. »I did not write Social Reconstruction in my capacity as a ›philosopher‹; I wrote it as a human being who suffered from the state of the world, wished to find some ways of improving it, and was anxious to speak in plain terms to others who had similar feelings.«42 Ethik und Erziehungsphilosophie, Russell (1913), S. 482. Russell (1997), S. 55 f. Schon deshalb ist Fricks These, Russells Bildungskonzept stehe »in einem engen Zusammenhang mit seiner Philosophie«, mit Vorsicht zu genießen. Vgl. Frick (1990), S. 242. Woodhouse weist mit Blick auf Russells Beha­ viorismus zurecht darauf hin, dass dessen Erziehungsphilosophie mit dem großen Manko behaftet ist, einer kohärenten philosophischen Rahmenstruktur zu ermangeln. Vgl. Woodhouse (1992), S. 136 f. 41

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wie Russell sie versteht, können nicht mittels derselben Methoden betrieben werden wie Erkenntnistheorie oder Sprachphilosophie, und sie können folglich nicht denselben Ansprüchen genügen. Sofern Russell im Rahmen der Reflexion seiner pädagogischen Aktivitäten philosophisch tätig ist, geht es zumindest nicht um Philosophie, wie er sie verstanden wissen will.43 Je mehr wir uns dem Bereich ethischer und existenzieller Fragen nähern, in denen wir nicht mit großer Aussicht auf Erfolg nach Gewissheit und logischer Klarheit streben können, desto weiter entfernen wir uns aus Russells Perspektive vom Kerngeschäft der Philosophie, der Suche nach Gewissheit.44 Dem Prozess der Erziehung bleibt diese Perspektive notwendig äußerlich. Ganz im Gegensatz zu Russells scharfer Trennung zwischen der Philosophie als reiner Theorie und der Erziehung als praktischer Akti­ vität sieht Whitehead beide wechselseitig aufeinander bezogen. Klar­ heit und die präzise Verbalisierung allgemeiner Gewissheiten sind das regulative Ziel des Denkens, nicht ihr Ausgangspunkt, können also der konkreten Erfahrung nicht normativ vorgeschaltet werden, son­ dern diese bestenfalls anleiten. »Wenn man auf Klarheit um jeden Preis besteht, beweist man nur, daß man abergläubische Vorstellun­ gen von der Art und Weise hat, wie der Intellekt des Menschen funk­ tioniert.« (AI, 72/180) Sowohl im Stadium schulischer oder univer­ sitärer Bildung als auch in der Philosophie bleibt jedes Moment der Verallgemeinerung auf unhintergehbare individuelle und soziale Vor­ aussetzungen verwiesen, die zwar mitreflektiert, aber nicht vollstän­ dig aufgehoben werden können. Am Anfang jeder philosophischen Systematisierung steht die »Schwärmerei« (AE, 17 f./59) oder »Sammlung« (MT, 2/47), die ein Bewusstsein für jene Aspekte der Erfahrung schafft, die überhaupt der rationalen Durchdringung unter­ worfen werden können. Angesichts dieser Verwurzelung auch der abstrakten, theoretischen Erkenntnis in der konkreten, in den Lebens­ zusammenhang eingebundenen Erfahrung kann für Whitehead die 43 Vgl. dazu die Ausführungen von Charles Pigden zur Frage, ob Russell einen phi­ losophischen Beitrag zur Ethik geleistet hat, in Pigden (2003), insb. S. 483. Vor dem Hintergrund von Russells eigener Einschätzung verwundert es nicht allzu sehr, dass der Cambridge Companion to Bertrand Russell dessen jahrzehntelange Beschäftigung mit pädagogischen und im weitesten Sinne erziehungsphilosophischen Fragestellun­ gen in keinem einzigen Beitrag thematisiert. 44 Vgl. dazu Russells späte Reflexion über das Motiv seines philosophischen Schaf­ fens in Russell (1974a), S. 342: »Ich wollte Sicherheit [certainty], und dies auf eine Art und Weise, wie die Menschen religiösen Glauben suchen.« Vgl. auch Russell (1956), S. 54.

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Aufgabe von Schulen und Universitäten somit ausdrücklich nicht in der Vermittlung zweifelsfreien Wissens bestehen, sondern im Auf­ zeigen von Möglichkeiten der gedanklichen und praktischen Durch­ dringung der Lebenswirklichkeit. Sie sollen neue Ideale, neue Wege eröffnen, die Schülerinnen und Studentinnen im Laufe sowohl ihrer intellektuellen als auch ihrer persönlichen Entwicklung anstreben und verwirklichen können. Lehrerinnen und Professorinnen kommt dabei nicht zuletzt eine exemplarische Funktion zu (AE, 37/83). Sie demonstrieren bestimmte Arten und Weisen, sich die Welt zu erschließen, Probleme zu formulieren und zu lösen sowie Haltungen zu ihren Mitmenschen einzunehmen, ohne damit andere auf exakt diese Sichtweisen und Zugänge festlegen zu wollen. Insbesondere sollen sie sich bewusst sein, dass das auf eine offene Zukunft gerich­ tete Denken immer ein Moment der Spekulation beinhaltet und damit risikobehaftet ist. Entscheidungen sind unweigerlich Entscheidungen unter Unsicherheit, die die Praxis anleiten und von dieser korrigiert werden. Whitehead fasst das Verhältnis zwischen theoretischer Refle­ xion und praktischem Lebensvollzug als »Abenteuer« (AE, 94/145) und weist darauf hin, dass sowohl der einzelne Mensch als auch Gesellschaften als Ganze sich immer wieder auf solche Abenteuer einlassen müssen. In praktisch-politischer Hinsicht heißt das für Whitehead, dass sowohl Individuen als auch soziale Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Entwicklung notwendig offen sind. In einer dynamischen, sich fort­ während verändernden Welt muss eine Gesellschaft Entscheidungen über den Einsatz neuer Technologien, die Anpassung ihrer Institutio­ nen oder die Reaktion auf außenpolitische Konflikte treffen, ohne abschließende Gewissheit über die mittel- und langfristigen Konse­ quenzen erlangen zu können. Schließlich muss eine Gesellschaft nicht zuletzt auch das Wagnis eingehen, den jüngeren Generationen Freiräume für die Verfolgung eigener intellektueller und kultureller Interessen zu geben, indem sie dafür sorgt, dass an Schulen und Universitäten statt bloßer Gelehrsamkeit die »leuchtende Fackel« der Phantasie (AE, 97/149) weitergereicht wird. Damit ist immer auch das Risiko eines Verlustes an sozialer Kohäsion verbunden, doch anders als Russell hält Whitehead ein solches Risiko erstens für überschaubar und weist zweitens darauf hin, dass die Alternative zu einem solchen Abenteuer früher oder später in Stagnation und Verfall mündet. Überschaubar ist das Risiko deshalb, weil Gesellschaften weniger durch äußere, institutionelle Strukturen als vielmehr durch

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persönliche Beziehungen der Menschen untereinander und eine gemeinschaftliche Lebensweise konstituiert werden.45 Institutionen tragen zur Koordinierung der sozialen Aktivitäten bei und erlauben das Einbringen neuer Ideen in den gemeinsamen Horizont, aber sie sind, wie Nationen, ein zivilisatorisches Oberflächenphänomen (AI, 80/192). Alternativlos ist die Offenheit für Abenteuer, weil eine Gesellschaft strukturelle Stabilität nur auf Kosten von Intensität und Innovativität erreichen kann, und dies auch nur für einen begrenzten Zeitraum. Der Versuch, den Weg einer kreativen Entwicklung in Rich­ tung einer indeterminierten Zukunft durch erkenntnistheoretische oder moralische Gewissheitsansprüche im Voraus abzustecken und auf einen bestimmten Verlauf hinzuwirken, bedeutet, der organischen Entwicklung etwas Äußeres aufzupfropfen und sie in ihrer natürli­ chen Entfaltung zu behindern und zu hemmen. Mit einer für ihn ungewöhnlichen Schärfe konstatiert Whitehead, dass die Verteidigung der Moral immer das ideale Banner ist, unter dem sich die Dummheit zur Abwehr von etwas Neuem sammeln kann. Vermutlich haben sich schon vor ungezählten Jahrtausenden die ehr­ baren unter den Amöben geweigert, vom Wasser aufs trockene Land zu gehen – um dem vorauszusehenden Verfall der Sitten Einhalt zu gebieten. (AI, 268/468)

Einheit und soziale Kohäsion werden folglich nicht von außen, son­ dern von innen bewirkt; Institutionen helfen, die konkreten Aktivitä­ ten zu koordinieren, werden aber umgekehrt von diesen Aktivitäten modifiziert und gegebenenfalls aufgelöst. Natürlich teilt Whitehead Russells Ideal einer friedlichen Welt­ gemeinschaft, aber die Vorstellung, eine solche Einheit durch eine noch so rationale Autorität erzwingen zu wollen, liefe nicht nur seiner liberalen pädagogischen Agenda, sondern insbesondere der antidogmatischen und spekulativen Grundhaltung seiner Philosophie gänzlich zuwider. Die Entwicklung des Menschen und der Welt in Richtung einer Zukunft, die weder mittels der verfügbaren Begriffe vollständig zu erfassen noch durch vorhandene Institutionen gänz­ lich normativ einzuhegen ist, stellt zweifellos ein Abenteuer dar, das insbesondere die Gefahr des Auseinanderdriftens der Menschen innerhalb einer Gesellschaft in sich birgt. Daraus aber, wie Russell, nicht nur die Notwendigkeit eines einzigen Weltstaates, sondern zugleich jene der Errichtung eines weltweiten Erziehungssystems 45

Vgl. Sölch (2014), S. 30 ff.

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und der Förderung von Loyalität diesem gegenüber abzuleiten, treibt allenfalls den Teufel mit dem Beelzebub aus. Im Unterschied zu Russells strikter Kompartmentalisierung von Erziehung und Bildung einerseits sowie Philosophie andererseits findet sich bei Whitehead damit eine deutliche Kontinuität zwischen beiden Bereichen. Philosophie steht nicht außerhalb des Erziehungs­ prozesses, sondern ist dessen unabschließbare Systematisierung und Klärung sowie die mit ihm einsetzende spekulative Antizipation neuer Ziele der Entwicklung. Eine solche immanent verfahrende philosophische Erschließung der Erfahrung ist nicht auf einzelne Aspekte oder Dimensionen der Erfahrung beschränkt, sondern durch­ zieht sämtliche Lebensbereiche, einschließlich jene der Politik und Gesellschaft. Sie vollzieht sich stets als vorläufiger, tentativer und risikobehafteter Prozess, der – insofern er die einzelnen Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft nicht auf eine Norm festlegt, sondern die liberale Offenheit tatsächlich als Möglichkeit versteht, sich auszu­ probieren und bis dato unvorhergesehene Wege zu gehen –, immer auch zulässt, dass bestehende Formen des Zusammenlebens aufgelöst und verändert werden. Zugleich muss Philosophie den Prozess der Erziehung und Bildung soweit durchdringen, als sie das Denken von kognitiven und moralischen Begrenzungen befreit, die unsere kon­ krete Lebenswirklichkeit in vermeintlich voneinander unabhängige einzelne Erfahrungsbereiche kompartmentalisiert.46 Soziale Einheit kann für Whitehead entsprechend, ebenso wie die rationale Einheit unserer Erkenntnis der Welt, nur das ideale Ziel sein, aber nichts, das sich unter Verweis auf eine kontrollierende Instanz oder unhintergeh­ bare Prämissen verordnen ließe.

V. Konklusion Ungeachtet ihrer divergierenden philosophischen Anschauungen, eint Whitehead und Russell ein gemeinsames Interesse an den Zielen und Möglichkeiten institutioneller Erziehung und Bildung, dem beide ein für ihre Zeit überdurchschnittliches Maß an Aufmerksamkeit schenken. In kritischer Abwendung von der pädagogischen Praxis ihrer Zeit plädieren sowohl Whitehead als auch Russell für eine umfassende Liberalisierung des Bildungswesens, das sich von den 46

Vgl. Faber (2014), S. 123 f.

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Grundübeln einer Operationalisierung von Wissen, der Standardisie­ rung von Unterricht sowie der Ökonomisierung und Leistungsorientie­ rung verabschieden müsse, um der geistigen wie auch charakterlichen Entfaltung des einzelnen Menschen Raum zu geben. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese gemeinsame libe­ rale Agenda jedoch als mehr oder minder kontingente Schnittmenge auf der Oberfläche zweier fundamental unterschiedlicher Vorstellun­ gen vom Verhältnis zwischen Philosophie und Erziehung. Für Russell bleibt die Idee der freien Entfaltung von Individuen auf den engen Bereich frühkindlicher und schulischer Erziehung beschränkt. Sie kommt dort an ihre Grenzen, wo die Entwicklung verschiedener Persönlichkeiten und das Verfolgen individueller Ziele das Potential erodierender sozialer Kohäsion zeigt, dem Russell nur unter Rekurs auf eine als moralischer und epistemischer Maßstab fungierende Autorität glaubt Einhalt gebieten zu können. Damit bleibt die Phi­ losophie dem Erziehungsgeschehen zwangsläufig äußerlich – die methodologische Souveränität ihres Instrumentariums, insbesondere der logischen Analyse, bleibt selbst von der konkreten Erfahrung unbeeindruckt, sondern ist dieser vielmehr als regulative Instanz vorgeordnet. Angesichts der mangelnden philosophischen Reflexion seiner pädagogischen Konzeption samt ihrer kulturphilosophischen und epistemologischen Implikationen verwundert es nicht allzu sehr, dass Russells Beiträge zu Erziehung und Bildung bis heute kaum rezipiert werden und sich – nicht ganz zu Unrecht – dem Vorwurf aus­ gesetzt sehen, eher »Ratgeberliteratur«47 denn philosophisch gehalt­ volle Reflexion zu sein. Im Unterschied dazu stellen Philosophie und Erziehung für Whitehead keine kategorial verschiedenen und grundsätzlich isoliert zu betrachtenden Disziplinen dar. Vielmehr besteht Philosophie wesentlich in der systematischen Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven und Lebenserfahrungen, die idealiter zu einem ratio­ nalen Ganzen verbunden werden, sowie in der spekulativen Anti­ zipation neuer Möglichkeiten der Interaktion mit der unerschöpfli­ chen Erfahrungswirklichkeit. Zwar sieht auch Whitehead die Gefahr nachlassender Stabilität der bestehenden sozialen Strukturen, doch verwahrt er sich gegen eine russellsche Dramatisierung, die die Chancen einer offenen Entwicklung ausblendet. Gleichzeitig macht Whitehead darauf aufmerksam, dass freie Entfaltung der Individuen 47

Swertz (2020), S. 209.

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von vornherein in einem gemeinsamen Bezugsrahmen gelebter kul­ tureller, sprachlicher und historisch gewachsener Praxis stattfinde, die zwar nicht abschließend begrifflich und institutionell fixiert werden kann, aber einen völligen Verlust an sozialer Kohäsion mehr als unwahrscheinlich wirken lässt. Während für Russell der signifikante Fortschritt in der abgeschlossenen Kategorisierung von Erfahrung besteht, versteht Whitehead die rhythmische Abfolge von konkreter Erfahrung, systematischer Kategorisierung und kritischer Reflexion der Abstraktionen als fortlaufenden Prozess, der nur dogmatisch gestoppt werden kann. Sowohl in pädagogischer wie auch in philo­ sophischer Hinsicht erweist sich Whitehead damit als der ungleich modernere und anschlussfähigere Denker.

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Imagination, Namen und Entdeckungen. Bemerkungen zu Whitehead und Russell

I. Einleitung Alfred North Whitehead (1861–1947) und Bertrand Russell (1872– 1970) sind zweifelsohne zu den prägendsten Denkern ihrer Zeit zu zählen und gehören wohl auch heute noch zu den meistgelesenen und bekanntesten Philosophen. Dabei waren beide in den frühen Phasen ihrer akademischen Laufbahnen gar nicht so sehr an Philosophie interessiert, sondern vielmehr an Mathematik. Als Russell 1890 am Trinity College der Universität Cambridge sein Studium der Mathe­ matik aufnahm, war Whitehead dort bereits seit 1888 als Lecturer für Mathematik beschäftigt. In Whiteheads Vorlesung über Statik, die Russell 1890 als Student besuchte, kamen die beiden zum ersten Mal miteinander in Kontakt.1 Das sich daran anschließende lebenslange persönliche Verhältnis der beiden Männer zueinander lässt sich aus heutiger Sicht vielleicht am besten so beschreiben: Es war nicht unkompliziert.2 Das von gro­ ßer gegenseitiger Wertschätzung geprägte Lehrer-Schüler-Verhältnis der frühen 1890er Jahre – Russell beschrieb Whitehead später gar als einen »außerordentlich perfekten Lehrer«3 – verwandelte sich nach und nach in ein erst kollegiales und später auch freundschaftliches Verhältnis, an das sich ab etwa 1900 eine über zehn Jahre andauernde Vgl. Russell (2021), S. 83. Ähnlich formuliert es auch Landini (2016), S. 128. Für die folgende Darstellung vgl. Desmet; Irvine (2018), Irvine (2022), Lowe (1990) und Russell (2021). 3 Russell (2021), S. 88; meine Übers, JM. Aus Gründen der interpretatorischen und argumentativen Genauigkeit sowie der besseren Lesbarkeit wurden alle englischen Originalzitate in diesem Text, sofern nicht anders angegeben, von mir neu oder erst­ malig ins Deutsche übertragen. Auch bei Whitehead-Zitaten weiche ich gelegentlich von den gängigen deutschen Übersetzungen ab, insbesondere an den Stellen, an denen es um Imagination geht. 1

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intensive und produktive Zusammenarbeit anschloss, die zu dem gemeinsam verfassten Mammutwerk Principia Mathematica führte, das zwischen 1910 und 1913 in drei Bänden veröffentlicht wurde. Danach gingen Whiteheads und Russells Wege jedoch immer mehr auseinander, und auch wenn ihr persönliches Verhältnis nie schlecht war, so wurde es doch deutlich distanzierter. Die Gründe dafür waren vielfältig und sind auch in den äußeren Umständen der Zeit zu finden, insbesondere in den politischen Spannungen, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Folge hatten. Die unterschiedlichen Haltungen Whiteheads und Russells in Bezug auf den Krieg belasteten die Freundschaft der beiden und führten zu nachhaltigen Einschnitten in ihrem jeweiligen Leben. Die Haltung der Familie Whitehead in Bezug auf den Krieg war, dass dieser erforderlich sei, um den Frieden in Europa zu sichern. Insofern ist es nicht überraschend, dass auch alle drei Whitehead-Kinder – Thomas North (* 1891), Jessie Marie (* 1894) und Eric Alfred (* 1898) – im Krieg aktiv waren. Als Eric Alfred, der für das Royal Flying Corps im Einsatz war, im März 1918 fiel, war das ein großer Verlust für die Familie Whitehead. Russell, der im Unterschied zu Whitehead eine pazifistische Grundhaltung hatte, stellte ab 1914 seine Forschungstätigkeiten immer weiter zurück, bezog als Aktivist und Autor Stellung gegen den Kurs der britischen Regierung und verteidigte die Rechte von Kriegsdienstverweigerern. Seine Aktivitäten brachten Russell 1916 eine Geldstrafe sowie die Entlassung als Professor aus Cambridge und 1918 sogar einen fünf­ monatigen Gefängnisaufenthalt ein. Mit den Veränderungen des persönlichen Verhältnisses zwischen Whitehead und Russell ging eine Veränderung ihres fachlichen Ver­ hältnisses einher. Russell zufolge lag das auch daran, dass sich Whitehead im Zuge der Trauer um seinen Sohn philosophischen Fragen zuwandte und »nach Wegen suchte, dem Glauben an ein rein mechanistisches Universum zu entkommen«4, während Rus­ sells eigene Neigungen ihn eher in die entgegengesetzte Richtung zogen.5 Einer Beschreibung Charles Hartshornes folgend lässt sich Russells philosophische Grundhaltung als minimalistisch, skeptisch und positivistisch charakterisieren, der die maximalistische, spekula­ tive und metaphysische philosophische Grundhaltung Whiteheads

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Russell (2021), S. 84. Vgl. ibid.

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Imagination, Namen und Entdeckungen. Bemerkungen zu Whitehead und Russell

gegenüberstand.6 So gesehen ist Hartshornes folgende (auf einer Bemerkung Whiteheads aus dem Jahr 1940 basierende) Beschreibung der wechselseitigen Einschätzung der beiden wenig überraschend: »Menschen vom Typ Russell erscheinen die Whiteheads stets als wirrköpfig, und genauso sicher erscheinen Menschen vom Typ Whitehead die Russells als einfältig«7. Wie ich in diesem Beitrag anhand von zwei Beispielen zei­ gen möchte, lassen sich den verschiedenen Differenzen zwischen Whitehead und Russell zum Trotz zentrale Aspekte ihrer jeweiligen philosophischen Werke in einem größeren Rahmen zusammenführen und in systematischer Hinsicht weiterentwickeln. Ich gehe in drei Schritten vor: In einem ersten Schritt gehe ich auf den größeren Rah­ men ein, den ich für meine Argumentation zugrunde lege, nämlich das noch recht junge Forschungsfeld der Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen. In einem zweiten Schritt wende ich mich dem ersten Beispiel zu, nämlich dem Begriff der Imagination, der an verschiede­ nen Stellen in Whiteheads Werk eine Rolle spielt. Ich skizziere, wie sich Whiteheads Überlegungen in unser Verständnis wissenschaft­ licher Entdeckungen einfügen lassen, und erläutere, warum es in diesem Zusammenhang sinnvoll ist, zwischen zwei Arten von Imagi­ nation zu unterscheiden. In ähnlicher Weise befasse ich mich in einem dritten Schritt dann mit dem zweiten Beispiel, nämlich mit Russells Theorie der Namen, einem seiner bekanntesten und einflussreichsten philosophischen Beiträge. Dabei argumentiere ich erstens gegen die weitverbreitete Auffassung, dass Russells Theorie im Lichte der Argumente Kripkes als widerlegt zu betrachten ist, plädiere zweitens für eine neue (nämlich prädikativistische) Lesart der russellschen Theorie und skizziere drittens, wie uns diese Lesart hilft, Aussagen der Form ›A ist B‹ in wissenschaftlichen Entdeckungsprozessen besser zu verstehen.

II. Die Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen Den größeren Rahmen, in den ich die Auffassungen Whiteheads über Imagination und Russells über Namen einfügen möchte, bildet das 6 7

Vgl. Hartshorne (1954), S. 60. Ibid.

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Forschungsfeld der Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen.8 Um zu verstehen, worum es dabei geht, mag es hilfreich sein, sich einige der zentralen Fragen der allgemeinen (im Unterschied zur speziellen) Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen vor Augen zu führen; dazu zählen die folgenden: (1) Wie lassen sich wissen­ schaftliche Entdeckungen charakterisieren, und wie unterscheiden sie sich von nicht-wissenschaftlichen Entdeckungen? (2) Welche Rolle spielen Entdeckungen für Wissenschaft und Fortschritt? (3) Wie kön­ nen wir dazu beitragen, dass mehr wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden? Um deutlich zu machen, wie sich die erste Frage beantworten lässt, werde ich im Folgenden kurz und in Grundzügen meine Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen vorstellen. Ich habe überdies die Vermutung oder zumindest die Hoffnung, dass meine weiteren Ausführungen zu Whitehead über Imagination sowie zu Russell über Namen auch etwas Erhellendes zu den beiden anderen Fragen beitragen. In den letzten Jahren habe ich damit begonnen, eine Theo­ rie wissenschaftlicher Entdeckungen zu erarbeiten.9 Dieser Theorie zufolge handelt es sich bei wissenschaftlichen Entdeckungen um strukturierte Prozesse, die sowohl verzichtbare als auch unverzicht­ bare Strukturmerkmale umfassen; nur wenn ein Prozess alle der für wissenschaftliche Entdeckungen erforderlichen unverzichtbaren Merkmale aufweist, kann es sich bei dem Prozess um einen wissen­ schaftlichen Entdeckungsprozess handeln. Betrachten wir zur Illustra­ tion ein Beispiel: Für manche wissenschaftliche Entdeckungen (etwa in der Biologie)10 ist es unverzichtbar, dass ein Mikroskop verwendet wird. Das gilt aber nicht für alle wissenschaftlichen Entdeckungen, wie man sich leicht klarmachen kann, wenn man an typische Entde­ ckungen in anderen wissenschaftlichen Bereichen denkt, in denen man leicht auf ein Mikroskop verzichten kann, etwa in der Astro­ nomie, der Linguistik oder den Umweltwissenschaften.11 Insofern die Verwendung von Mikroskopen somit nicht allgemein erforder­ lich ist für wissenschaftliche Entdeckungen, handelt es sich bei der Vgl. u.a. Boström (2022), Friedrich (2022), Green (2022), Hahn (2022), Livio (2022), Michel (2019), Michel (2020a), Michel (2020b), Michel (2022b), Moore (2022), Münster (2022), Schmitt (2022), Strobach (2022) und Tapp (2022). 9 Vgl. insbesondere Michel (2022b). 10 Vgl. Michel (2019). 11 Vgl. dazu Michel (2022a).

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Verwendung eines Mikroskops auch nicht um ein unverzichtbares generelles Merkmal wissenschaftlicher Entdeckungen. Was aber sind nun die unverzichtbaren generellen Merkmale wissenschaftlicher Entdeckungen? Ich habe dafür argumentiert, dass die drei folgenden Strukturmerkmale für wissenschaftliche Entdeckungen unverzichtbar sind:12 Finden, Akzeptanz und Wissen. Auf diese drei Merkmale gehe ich im Folgenden kurz ein. Finden: Damit etwas eine neue Entdeckung sein kann, muss etwas gefunden werden. Das halte ich nicht nur für eine plausible Behauptung, sondern sogar für eine begriffliche (und notwendige) Wahrheit13 – denn wie sollte eine neue Entdeckung aussehen, bei der nichts gefunden wird? Ich gehe mithin davon aus, dass es keine Entdeckung – und damit auch keine wissenschaftliche Entdeckung – ohne ein Finden geben kann. Zudem lässt sich Finden auch als Aus­ gangspunkt eines neuen wissenschaftlichen Entdeckungsprozesses ansehen. Ich verstehe Finden als eine nicht-symmetrische zweistellige Relation zwischen einem Subjekt des Findens und einem Objekt des Findens – formal ausgedrückt: sFo. Dabei bezeichnet ›s‹ das Subjekt des Findens, ›o‹ das Objekt des Findens und ›F‹ die Relation des Findens. Das Subjekt des Findens kann ein (menschliches oder nicht-menschliches) Individuum sein oder auch eine Gruppe oder ein Team von Individuen. Das Objekt des Findens kann etwa ein Einzelobjekt sein (z.B. in der Archäologie) eine Art (z.B. in der Biologie), ein Beweis (z.B. in der Mathematik), eine Interpretation (z.B. in der Literaturwissenschaft), eine Methode (z.B. in der Chemie) oder eine Tatsache (etwa die, dass sich die Erde um die Sonne dreht). Da ein Objekt des Findens in der Regel nicht sein Subjekt des Findens findet, ist die Finden-Relation nicht-symmetrisch.14 Finden stellt aus meiner Sicht den ersten unverzichtbaren Bestandteil wissenschaftli­ cher Entdeckungsprozesse dar. Akzeptanz: Für eine neue wissenschaftliche Entdeckung ist ein Finden alleine allerdings nicht ausreichend. Ansonsten hätten wir es auch bereits bei jedem Fall eines alltäglichen Findens – etwa dem eines neuen Lochs in der Socke (der sog. Albert-Fall)15 – mit einer wissenschaftlichen Entdeckung zu tun. Und auch in nicht so alltägli­ 12 13 14 15

Vgl. Michel (2019); Michel (2022b). Vgl. Michel (2019); Michel (2020a); Michel (2022b). Vgl. Michel (2022b), S. 38. Vgl. Michel (2019); Michel (2022b).

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chen Fällen wäre es unplausibel anzunehmen, dass ein Finden alleine bereits ausreicht, damit etwas eine wissenschaftliche Entdeckung ist: Stellen wir uns vor, Kim spaziert alleine durch den Botanischen Garten und findet zufälligerweise in der Nähe einer Distel ein paar Käfer. Kim vermutet, derartige Käfer noch nie gesehen zu haben, nimmt die gefundenen Exemplare mit nach Hause und geht auf eigene Faust – ohne jemandem von dem Fund zu berichten – der Frage nach, ob die frisch gefundenen Käfer zu einer bereits entdeckten Art gehören oder nicht. Dabei kommt Kim zu der (zutreffenden) Feststellung, dass die betreffende Käferart in der Biologie unbekannt ist. Dennoch behält Kim die Exemplare für sich; niemand außer Kim weiß etwas von Kims Fund. Handelt es sich in diesem Fall um eine wissenschaftliche Entdeckung? Meiner Ansicht nach hat Kim keine wissenschaftliche, sondern nur eine rein private Entdeckung gemacht – allerdings eine, die als wissenschaftliche Entdeckung gelten würde, wenn die relevante wissenschaftliche Community Kenntnis davon hätte.16 Wie könnte nun aus Kims rein privater Entdeckung eine wissenschaftliche Entde­ ckung werden? Kurz gesagt müsste Kims Fund als neue wissenschaft­ liche Entdeckung von der relevanten wissenschaftlichen Community akzeptiert oder anerkannt werden. Dazu könnte Kim beispielsweise jemanden aus dem Gebiet der Koleopterologie (Käferkunde) über die gefundenen Käfer in Kenntnis setzen, sagen wir Prof. Schmitt. Sollte Schmitt ebenfalls zu der Einschätzung kommen, dass es sich bei Kims gefundenen Käfern um Exemplare einer bislang unentdeck­ ten Art handelt, so dürfen wir annehmen, dass Schmitt (vielleicht sogar gemeinsam mit Kim) die nächsten Schritte unternimmt, die in Schmitts Disziplin dafür erforderlich sind, damit ein Fund als neue Entdeckung akzeptiert wird. Nehmen wir für unseren Fall der Einfachheit halber an, dass Schmitt ein Paper verfasst, das nicht nur bestimmte Standards für wissenschaftliche Publikationen erfüllt, son­ dern u.a. auch eine Beschreibung der gefundenen Exemplare enthält, eine taxonomische Einordnung sowie einen Vorschlag zur Benennung der neuen Käferart. Nehmen wir weiter an, Schmitts Publikation wird von den Begutachtenden einer relevanten Fachzeitschrift zur Publika­ tion empfohlen und das Herausgeberteam der Zeitschrift folgt dieser Empfehlung: Mithilfe von Schmitts Unterstützung wurde in diesem Moment ein erforderlicher Prozess durchlaufen, der die Akzeptanz von Kims Fund als neuer wissenschaftlicher Entdeckung zum Ergeb­ 16

Vgl. dazu auch Green (2022).

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nis hat. Auch wenn ich hier – ähnlich wie beim Finden oben – nur kurz und in Grundzügen darauf eingehen kann, so sollte klar geworden sein, dass Akzeptanz aus meiner Sicht den zweiten unverzichtbaren Bestandteil wissenschaftlicher Entdeckungsprozesse darstellt. Wissen: Sobald ein Fund auf diese oder eine andere angemessene Weise als neue wissenschaftliche Entdeckung akzeptiert oder aner­ kannt ist, haben wir es mit einem neuen Fall wissenschaftlichen Wis­ sens zu tun, durch den der bisherige Wissensbestand des betreffenden Bereichs – in unserem Beispiel: der Koleopterologie – ergänzt, erwei­ tert oder auf andere Weise modifiziert wird. Abgesehen davon, dass ich das so gewonnene neue wissenschaftliche Wissen als konstitutiv für wissenschaftlichen Fortschritt ansehe,17 stellt es aus meiner Sicht einen Teil der nun veränderten Grundlage für neue Entdeckungen dar. So verstanden spielt Wissen eine doppelte Rolle in wissenschaftlichen Entdeckungsprozessen:18 Zum einen lassen sich wissenschaftliche Entdeckungen als Weg betrachten, der uns von einem anfänglichen Finden und anschließenden Akzeptieren zu neuem Wissen führt. So gesehen markiert neues wissenschaftliches Wissen das Ziel oder den Endpunkt wissenschaftlicher Entdeckungsprozesse. Zum ande­ ren sollten wir nicht übersehen, dass wir auch Hintergrundwissen benötigen, um überhaupt etwas zu finden. Insofern stellt Wissen die Voraussetzung oder den Ausgangspunkt für wissenschaftliche Entde­ ckungen dar. Das verdeutlicht, dass mein Bild von wissenschaftlichen Entdeckungen das eines dynamischen Prozesses ist, in dem Wissen sowohl den Ausgangspunkt als auch den Endpunkt bildet.19 17 Damit schätze ich die Situation deutlich anders ein als Niiniluoto, der in der Debatte um wissenschaftlichen Fortschritt eine Variante eines sog. wahrheitsapproximativen Ansatzes vertritt – vgl. Niiniluoto (2014); vgl. auch Niiniluoto (2019) – und zudem etwas anders als Dellsén, der in den letzten Jahren einen sog. noetischen Ansatz entwickelt hat, u.a. in Dellsén (2016) und Dellsén (2021); gleichwohl bin ich der Ansicht, dass Dellsén mit seinem Ansatz einen wichtigen Punkt macht. Meine Einschätzung scheint mir am ehesten kompatibel zu sein mit dem epistemischen Ansatz von Bird; vgl. Bird (2007), Bird (2008) und Bird (2019). Im Unterschied zu Bird und Dellsén habe ich aber die Vermutung, dass sich der noetische Ansatz in einen epistemischen Ansatz integrieren lässt. Die Ausarbeitung dieser Vermutung muss jedoch einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. 18 Vgl. Michel (2022b), S. 40. 19 Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Wissens in die­ sem Zusammenhang, auch bzgl. der Unterscheidungen zwischen Wissen-dass und Wissen-wie sowie individuellem Wissen und institutionellem Wissen, siehe ibid., S. 41–44.

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Das Ziel meiner Ausführungen in diesem Abschnitt war, ein generelles Bild des größeren Rahmens zu vermitteln, in den im Wei­ teren die Auffassungen Whiteheads über Imagination und Russells über Namen eingefügt werden sollen. Dabei dürfte zweierlei klar geworden sein: Zum einen ist für wissenschaftliche Entdeckungen charakteristisch, dass sie eine bestimmte Struktur aufweisen, die sie von nicht-wissenschaftlichen Entdeckungen unterscheidet. Zum anderen wartet in den Ausbuchstabierungen der verschiedenen Struk­ turmerkmale und ihrer Zusammenhänge noch viel Arbeit auf uns. Die folgenden Überlegungen im Anschluss an Whitehead über Imagina­ tion und Russell über Namen leisten dazu einen Beitrag.

III. Von Whitehead zu zwei Arten der Imagination Wie in Hartshornes einleitend genannter Beschreibung bereits anklang, wird Alfred North Whiteheads Werk immer wieder nicht nur als umfangreich, sondern auch als in verschiedener Hinsicht komplex und schwer verständlich angesehen. Dafür ließen sich meh­ rere Gründe anführen, von denen ich zwei hier hervorheben möchte, nämlich die Vielseitigkeit von Whiteheads Denken und den Anspruch der Kohärenz im Kontext der spekulativen Philosophie. Was die Viel­ seitigkeit von Whiteheads Denken betrifft, so lässt sich diese mithilfe der folgenden metaphorischen Beschreibung von Whiteheads Ehefrau Evelyn illustrieren: Sein Denken ist ein Prisma. Man darf es nicht nur von einer Seite aus betrachten, sondern muss es von allen Seiten, dann von unten und von oben betrachten. So betrachtet ist das Prisma, wenn man sich darum herum bewegt, voller wechselnder Lichter und Farben. Es nur von einer Seite betrachtet zu haben, hieße, es nicht betrachtet zu haben.20

In der Tat ist Whiteheads Denken durchzogen – oder, um noch mehr im Bilde zu bleiben: gefärbt – von seiner Beschäftigung mit teils ganz unterschiedlichen Bereichen; dazu zählen Mathematik, Physik, Biologie, Naturphilosophie, Bildung, Geschichte, Kultur, Ästhetik und Religion. Auch wenn sich immer wieder Kontinuitäten finden lassen, mag es angesichts dieser Vielfalt wenig überraschen, dass Whiteheads Werk entsprechend der Entwicklung seines Denkens oft 20

Price (2001), S. 14.

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in drei Phasen eingeteilt wird:21 erstens eine logisch-mathematische Phase (ca. 1884–1910), zweitens eine Phase der Beschäftigung mit Physik, Wissenschaftsphilosophie und Bildungstheorie (ca. 1910– 1924) und drittens (ab ca. 1924) eine metaphysische Phase. Neben dem eher allgemeinen Grund der Vielseitigkeit seines Denkens sehe ich einen weiteren, spezielleren Grund dafür, dass Whiteheads Werk komplex und schwierig erscheinen mag, in den Grundpfeilern seiner spekulativen Philosophie, die er in seiner metaphysischen Phase entwarf, vor allem in Process and Reality. Mit Blick auf meine nachste­ henden Überlegungen ist hier insbesondere der Aspekt der Kohärenz zu nennen, der für seine spekulative Philosophie grundlegend ist: Diese Vorlesungsreihe ist als Entwurf einer spekulativen Philosophie konzipiert. [...] Spekulative Philosophie ist das Bemühen, ein kohären­ tes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen [...]. [...] ›Kohärenz‹ hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung, daß die grundlegenden Ideen, anhand derer das Schema entwickelt wird, einander voraussetzen und isoliert betrachtet sinnlos wären. [...] Es wäre das Ideal spekulativer Philosophie, wenn sich ihre Grundbegriffe nicht so darstellten, als seien sie voneinander abstrahierbar. (PR, 3/31)

Man kann es vielleicht am besten so ausdrücken: Bereits durch seine Zielsetzung, eine spekulative Philosophie zu entwerfen, die ein auf die beschriebene Weise kohärentes System darstellt, erschwert Whitehead insofern ein genaueres Verständnis seines Vorhabens, als seine Grundbegriffe nicht isoliert voneinander zu betrachten sind. Aber auch wenn uns die Vielseitigkeit von Whiteheads Denken in Verbindung mit dem Kohärenzanspruch seiner spekulativen Phi­ losophie mitunter vor interpretatorische Herausforderungen stellt, bin ich von der Fruchtbarkeit meiner folgenden Auseinandersetzung überzeugt, bei der ich ja genau mit der genannten Schwierigkeit konfrontiert bin, einen Begriff, der in Whiteheads Werk eine wichtige Rolle spielt – nämlich den Begriff der Imagination22 –, mehr oder Vgl. Desmet; Irvine (2018). Ich verwende duchgängig den Ausdruck ›Imagination‹, der dem whiteheadschen Ausdruck ›imagination‹ entspricht, auch wenn dieser in deutschen Standardüberset­ zungen immer wieder mit ›Phantasie‹ übersetzt wird (z.B. in Prozeß und Realität). Auch mit Blick auf derzeit geführte Debatten in der sog. Philosophy of Imagination teile ich die Einschätzung, dass es einen Unterschied zwischen Imagination und Phan­ tasie gibt. Kind und Kung etwa unterscheiden zwischen einer transzendenten und einer instruktiven Art der Verwendung von Imagination, wobei Phantasie zur ersten Art gehört; vgl. Kind; Kung (2016), S. 1. Im Sinne einer weiten Lesart des Begriffs der 21

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weniger isoliert zu betrachten. Mein Optimismus hat dabei mehrere Gründe: Erstens spielt der Begriff der Imagination, wie ich im Fol­ genden an beispielhaft ausgewählten Stellen belegen werde, in jeder Phase von Whiteheads Werk eine Rolle, und nicht erst in seiner metaphysischen Phase, in der er den genannten Kohärenzanspruch vorbringt. Insofern anhand der ausgewählten Stellen zweitens auch deutlich wird, dass der Begriff der Imagination bei Whitehead eng verbunden ist mit den Begriffen der Entdeckung, des Wissens und der Wissenschaft, zeigt sich, dass ich den Begriff der Imagination hier zumindest nicht vollständig isoliert betrachte. Drittens ist meine Analyse nicht als Argumentation gegen Whitehead misszuverstehen; vielmehr beabsichtige ich damit auch, zu einem besseren Verständnis seines Werks beizutragen. Dabei sehe ich meine Vorgehensweise übrigens ganz im Einklang mit dem methodologischen Pragmatismus Whiteheads, der oft übersehen wird.23 Dass der Begriff der Imagination bereits in Whiteheads logischmathematischer Phase relevant ist, zeigt sich beispielsweise in seinem 1898 erschienenen Buch A Treatise on Universal Algebra24, in dem er u.a. befindet, dass »die gesamte Mathematik in der Organisation einer Reihe von Hilfsmitteln besteht, die der Imagination im Denkprozess dienen« (UA, 12). Zwei Sätze später bringt Whitehead dies interes­ santerweise auch gleich in einen thematischen Zusammenhang mit Entdeckung und Wissenschaft (ohne es allerdings weiter auszufüh­ ren). Er schreibt: Die Entdeckung der geometrischen Darstellung der algebraischen komplexen Quantität ist zwar für die Logik der Algebra unwesentlich, war aber durchaus wesentlich für die modernen Entwicklungen der Wissenschaft. (UA, 12)

Imagination bei Whitehead weiche ich daher von den Standardübersetzungen ab (vgl. auch Fn. 3 oben). 23 Das ist insofern erstaunlich, als Whitehead an verschiedenen Stellen auf den Ein­ fluss hinweist, den vor allem William James’ Pragmatismus auf sein Denken hatte. Vgl. dazu auch Brioschi (2020) (insbesondere § 2.2) sowie Kann (2010) und Sölch (2011). 24 Im Vorwort seines Buches dankt Whitehead Russell für das Lesen vieler der in dem Buch enthaltenen mathematischen Beweise, »insbesondere in den Teilen, die mit der nicht-euklidischen Geometrie zu tun haben« (UA, xi). Auch aufgrund dieses Buches wurde Whitehead 1903 in die Royal Society gewählt (https://catalogues.royalsoci ety.org/CalmView/Record.aspx?src=CalmView.Catalog&id=EC%2f1903%2f16) [Stand: 27.12.2022].

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Auch in Whiteheads bildungs- und wissenschaftstheoretischen Über­ legungen spielt der Begriff der Imagination eine wichtige Rolle, wie sich besonders deutlich in seiner Beschäftigung mit der Aufgabe der Universität zeigt.25 Ihre Aufgabe erschöpfe sich nämlich nicht bloß in Lehre und Forschung, sondern es gehe auch entscheidend darum, dass sie »die Verbindung zwischen Wissen und dem Lebenshunger bewahrt, indem sie Jung und Alt in der imaginativen Betrachtung der Gelehrsamkeit zusammenbringt« (AE, 93/144). Entscheidend sei dabei, wie an der Universität Wissen vermittelt werde. Whitehead zufolge sollte das im Idealfall auf eine Weise geschehen, bei der Imagination – Whitehead differenziert hier nicht zwischen z.B. Krea­ tivität, Vorstellungsvermögen und Phantasie – eine entscheidende Rolle spielt. Kurz gesagt: Der Lehrkörper einer Universität sollte Whiteheads Ansicht nach am besten nur aus kreativen Lehrenden bestehen, die sowohl über Fachwissen als auch über Lebenserfah­ rung verfügen und vor allem ihre Studierenden dazu anregen, ihren Einfallsreichtum einzusetzen, um so phantasievoll wie kritisch mit dem erworbenen Wissen umzugehen. Die ureigenste Funktion einer Universität bestehe in der »imaginativen Aneignung von Wissen«, ansonsten sei sie »nichts – zumindest nichts Nützliches« (AE, 96/148). Ergänzt wird diese Sicht durch Whiteheads Ausführungen in seiner metaphysischen Phase, insbesondere in Whiteheads Opus magnum. An vielzitierter, als Flugbahnmetaphorik geläufiger Stelle taucht der Begriff der Imagination dort im Zusammenhang mit Wissenschaft und Entdeckung auf: Die wahre Methode der Entdeckung ist wie der Flug eines Flugzeugs. Sie startet vom Boden der Einzelbeobachtung, macht einen Flug durch die dünne Luft der imaginativen Generalisierung und landet wieder, um eine erneute, durch rationale Interpretation präzisierte Beobach­ tung zu machen. (PR, 5/34)

Es ließen sich hier ohne größere Probleme weitere Stellen zum Beleg und zur Illustration anführen. Ich denke aber, dass anhand der genannten Stellen schon hinreichend deutlich wird, dass dem Begriff der Imagination in Whiteheads Werk eine zentrale Rolle zukommt, die in enger Verbindung mit den Begriffen der Entdeckung, des Wissens und der Wissenschaft zu sehen ist. Nicht zuletzt liegt das an der bildhaften Sprache, die Whitehead verwendet. Dies begründet 25 Siehe dazu Whiteheads Aufsatz »Universitäten und ihre Funktion« sowie weiter­ führend auch die anderen Aufsätze in Die Ziele von Erziehung und Bildung.

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allerdings wohl auch, dass nicht ganz klar wird, was genau Whitehead eigentlich mit ›Imagination‹ meint. Um den bildhaften Vergleich, den Whitehead uns in seiner Flug­ bahnmetaphorik präsentiert, besser in den Blick nehmen zu können, hilft es, ihn vor dem Hintergrund meiner oben skizzierten Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen zu betrachten. Indem Whitehead die »wahre Methode der Entdeckung« mit dem »Flug eines Flugzeugs« vergleicht, wird deutlich, dass es ihm nicht um das Ergebnis oder das Objekt einer Entdeckung geht, sondern um den Entdeckungspro­ zess, der für Whitehead mit einer Einzelbeobachtung beginnt (bzw. »startet«). Im Rahmen meiner Theorie werden Entdeckungen eben­ falls als Prozesse verstanden, die zumindest oft mit Beobachtungen beginnen – ich spreche allgemeiner von einem ersten Finden, das den Ausgangspunkt eines wissenschaftlichen Entdeckungsprozesses mar­ kiert. Für Whitehead geht es dann weiter »durch die dünne Luft der imaginativen Generalisierung«. Auch wenn es sich hier um ein schönes und irgendwie auch nachvollziehbares Bild handelt, ist ohne Weiteres nicht klar, was genau Whitehead hier im Sinn hat – welche dünne Luft, welche imaginative Generalisierung? Vor dem Hinter­ grund meiner Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen lässt sich dies so interpretieren: Um von einer anfänglichen Einzelbeobachtung bzw. einem ersten Finden dahin zu kommen, dass das betreffende Objekt des Findens von einer relevanten Scientific Community als neue Entdeckung akzeptiert werden kann, muss man es zunächst gedanklich und sprachlich fassen. Insofern aber für neue Objekte des Findens charakteristisch ist, dass diese bislang noch nicht gedanklich und sprachlich erfasst wurden, ist das betreffende Subjekt des Findens nun mit der Herausforderung konfrontiert, genau das zu leisten. Doch wie kann es gelingen, eine anfängliche Einzelbeobachtung gedanklich und sprachlich so zu erfassen, dass dadurch die Akzeptanz des Gefundenen als neue wissenschaftliche Entdeckung ermöglicht wird? An dieser Stelle wird klar, was Whitehead meint: Wir müssen unsere Imagination bemühen, und zwar mit dem Ziel, das Objekt des Findens allgemein einzuordnen – das ist die erforderliche ima­ ginative Generalisierung, von der Whitehead spricht. Und indem wir unsere Imagination bemühen, verlassen wir den sicheren Boden wissenschaftlichen Wissens – wir befinden uns dann gewissermaßen in der dünnen Luft, von der Whitehead spricht. Sobald wir unser Ziel erreicht haben, landen wir, mit Whitehead gesprochen, wieder und

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wenden das Ergebnis unserer Imagination auf weitere Fälle an und überprüfen es. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lassen sich Whiteheads Überlegungen als Hinweis darauf verstehen, im Rah­ men unserer Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen auch darüber nachzudenken, wie wir von einem anfänglichen Finden, das den Aus­ gangspunkt eines Entdeckungsprozesses markiert, dazu kommen, dass das Gefundene als neue Entdeckung akzeptiert wird. Für diesen Übergang benötigen wir Imagination. Was das genau heißen soll, bleibt allerdings bislang weiter unklar. Ich denke, dass wir einen ersten Schritt in Richtung der Besei­ tigung dieser Unklarheit gehen können, indem wir zusätzlich eine Unterscheidung in den Blick nehmen, die Mary Morgan (in einem anderen Zusammenhang) vorgebracht hat, nämlich die Unterschei­ dung zwischen Surprise und Confoundment.26 Diese Unterscheidung lässt sich so charakterisieren: Während Fälle von Surprise in wissen­ schaftlichen Kontexten überraschend sind, so handelt sich um einen Fall von Confoundment und nicht bloß von Surprise, wenn er »sowohl überraschend als auch unerklärlich innerhalb des gegebenen Bereichs der Theorie«27 ist. Übertragen auf unseren Kontext können wir sagen, dass Kims oben beschriebener Käferfund ein Fall von Surprise ist, aber keiner von Confoundment. Die Entdeckung der Kernspaltung hingegen scheint ein Beispiel für Confoundment zu sein.28 Es liegt nahe, vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung davon auszuge­ hen, dass Fälle von Confoundment zwar besonders gegen bestehende Erwartungen verstoßen und sich besonders schwer in bestehende Wissensstrukturen einfügen lassen (mehr als Fälle von Surprise), aber wahrscheinlich meistens auch die wertvollsten Neuerungen mit sich bringen.29 Was können wir nun aus der Surprise-Confoundment-Unter­ scheidung für den Begriff der Imagination zu Beginn eines wissen­ schaftlichen Entdeckungsprozesses lernen? Betrachten wir zur Beant­ wortung dieser Frage zwei Fälle. Vgl. Morgan (2005); da diese Unterscheidung zum einen in der Debatte etabliert ist und sich zum anderen nicht leicht ins Deutsche übertragen lässt, verwende ich die englischen Ausdrücke. 27 Ibid., S. 324. 28 Dazu auch Michel (2022b), S. 35. 29 Vgl. Ritson (2020). 26

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Nehmen wir als ersten Fall den oben skizzierten Fall der Käfe­ rentdeckung durch Kim und Prof. Schmitt. Zu Beginn des Entde­ ckungsprozesses haben wir es klarerweise mit einem Fall von Surprise zu tun: Kim und Prof. Schmitt sind vielleicht überrascht (vielleicht sogar auf unterschiedliche Weise), aber ihr Fund lässt sich im Rah­ men der bestehenden Theorien und Taxonomien der Koleopterologie erklären. Trotzdem haben sie es mit einem neuen Phänomen zu tun, das sie beobachtet haben, und sie müssen nun ihre Imagination bemü­ hen, um das Phänomen auf eine Weise in die bestehenden Theorien und Taxonomien einzubringen, die von der Scientific Community akzeptiert wird. Dazu ist eine Form der Imagination erforderlich, die wir insofern hauptsächlich als kontrafaktisches Räsonieren charakteri­ sieren können, als es dabei vor allem darum geht, sich vorzustellen, was wäre, wenn man den neuen Fund auf diese oder jene Weise in die Taxonomie einbringen würde, und was wäre, wenn man den neuen Fund auf diese oder jene Weise beschreiben würde, und was wäre, wenn man den neuen Fund so oder so benennen würde, usw. Die erforderliche Imagination in einem Surprise-Fall scheint zwar in einer kreativen Leistung zu bestehen, allerdings findet diese in einem festen Rahmen statt, nämlich dem Rahmen der zugrunde liegenden Theorie, die ja nicht verändert wird. Anders verhält es sich in einem Fall von Confoundment, der ja nicht nur ein Fall von Surprise ist (also überraschend), sondern auch noch einer, der – im Fall einer neuen Entdeckung – nicht im Rahmen der bestehenden Theorien des betreffenden wissenschaftli­ chen Bereichs erfasst werden kann (man denke etwa an das oben genannte Beispiel der Entdeckung der Kernspaltung). Da der theore­ tische Rahmen in so einem Fall nicht mehr tragfähig ist, ist reines kontrafaktisches Räsonieren wie oben beschrieben nicht mehr ausrei­ chend (bzw. möglich). Stattdessen umfasst die kreative Leistung im Rahmen der Imagination nun auch, einen neuen Vorschlag für den theoretischen Rahmen zu erarbeiten, der eine Erklärung für das neue Phänomen liefert (und zudem mit anderen Annahmen kompatibel ist). Die Art von Imagination, die in einem solchen Confoundment-Fall erforderlich ist, besteht ebenfalls in einer kreativen Leistung, aller­ dings in einer, die ein narratives Element enthält, denn es muss ja auf dem Weg zur Etablierung einer neuen Theorie gewissermaßen eine neue Geschichte erzählt werden. Diese skizzenhaft vorgebrachten Überlegungen verdeutlichen, dass wir es im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Entdeckungen

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mit zwei Arten von Imagination zu tun haben, die wir voneinander unterscheiden können. Einerseits geht es um kontrafaktisches Räso­ nieren vor dem Hintergrund eines bestehenden Theorierahmens, andererseits geht es darüber hinaus darum, eine Narration zu eta­ blieren, die zum Ziel hat, einen neuen und passenden Theorierahmen zu entwerfen. In beiden Fällen geht es um Imagination und Kreativi­ tät, aber nur im zweiten geht es um Phantasie. Wie wir gesehen haben, lassen sich Whiteheads Überlegungen zum Begriff der Imagination in den größeren Rahmen meiner Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen einfügen und systematisch weiter­ entwickeln. Auch im Lichte neuerer Debatten zur Frage, welche Rolle Imagination in der Wissenschaft spielt,30 scheint es sich dabei um ein vielversprechendes Unterfangen zu handeln. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich auch Russells Überlegungen zu Namen, und zwar speziell zu Eigennamen, in diesen Rahmen einfügen und systematisch weiterentwickeln lassen. Anders als Whiteheads Überlegungen aller­ dings, die an der Schnittstelle von Finden und Akzeptanz eingefügt werden konnten, zeige ich, wie sich Russells Überlegungen an der Schnittstelle von Akzeptanz und Wissen einfügen lassen.

IV. Von Russell zur Rolle wissenschaftlicher Artnamen Betrachten wir zunächst noch einmal unser Beispiel der Käferentde­ ckung, um zu verstehen, worin der Zusammenhang zwischen Eigen­ namen und wissenschaftlichen Entdeckungen besteht. Nehmen wir dazu an, dass wir uns an einer bestimmten Stelle im Entdeckungspro­ zess befinden, und zwar an der Stelle, an der Kim die Käferexemplare bereits gefunden und sich mit Prof. Schmitt – unter Zuhilfenahme ihrer imaginativen Fähigkeiten (vor allem kontrafaktisches Räsonie­ ren, s.o.) – gerade darauf verständigt hat, auf welche Weise die neue Art aus ihrer Sicht am besten beschrieben und systematisch eingebracht werden sollte. Als nächsten Schritt in ihrem Entdeckungs­ prozess möchten die beiden nun einen Vorschlag zur Benennung der neuen Art machen. Dabei sind sie sich darüber im Klaren, dass der neue wissenschaftliche Artname nicht nur unter Berücksichti­ gung der relevanten biologischen Nomenklaturregeln vorzubringen 30

Vgl. Levy; Godfrey-Smith (2020); Stuart (2020).

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ist, sondern auch noch andere Eigenschaften aufweisen darf, z.B. (versteckte) Hinweise auf Merkmale der neu entdeckten Art.31 Kim und Prof. Schmitt könnten zudem die Frage in ihre Überlegungen einbeziehen, ob es bereits Trivialnamen für diese Art gibt – ein reales Beispiel wäre hier der deutsche Trivialname von Lilioceris lilii, nämlich ›Lilienhähnchen‹, der auch einen Hinweis auf die typische Fraßpflanze dieser Zirpkäferart beinhaltet. Abgesehen von den verschiedenen biologischen Regeln, Vorga­ ben und Gepflogenheiten, die Kim und Prof. Schmitt kennen und beachten müssen, stellen sich an dieser Stelle in ihrem Entdeckungs­ prozess aber auch einige vor allem sprachphilosophische Fragen. Dazu zählen die folgenden: Wie werden neue wissenschaftliche Artnamen eingeführt, wie funktionieren sie und wie verhalten sie sich zu ihren entsprechenden Trivialnamen, sofern vorhanden? Wie wurde beispielsweise der Name ›Lilioceris lilii‹ eingeführt und wie verhält er sich zu dem Namen ›Lilienhähnchen‹? Worin besteht, mit Frege gesprochen,32 der Erkenntniswert von Aussagen der Form ›Α ist B‹, etwa der Aussage ›Lilioceris lilii ist das Lilienhähnchen‹? Handelt es sich bei solchen Aussagen, wie oft angenommen wird, um Identitätsaussagen? Oder wie sollten wir das ›ist‹ in diesen Aussagen verstehen? Insofern es sich überdies bei Artnamen (anders als bei Eigennamen) um generelle (und nicht um singuläre) Ausdrücke han­ delt, stellt sich außerdem die Frage, wie sich Artnamen zu Eigennamen verhalten und wie sie sich analysieren lassen. Spätestens hier zeigt sich die thematische Verbindung von Eigennamen und wissenschaft­ lichen Entdeckungen, die ich nun unter Zuhilfenahme von Bertrand Russells Theorie der Eigennamen näher betrachten möchte. Dabei möchte ich herausarbeiten, inwiefern Russells Theorie sich auf eine Weise verstehen und weiterdenken lässt, die gute Antworten auf die genannten Fragen bereithält. Aus Platzgründen wird es allerdings bei einer Skizze bleiben müssen.33 31 Man kennt das vielleicht von anderen Käferarten, z.B. Titanus giganteus, Scarabaeus sacer oder Agra schwarzeneggeri. 32 Vgl. Frege (2002). 33 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Teile der russellschen Überlegungen, die mir im Kontext wissenschaftlicher Entdeckungen hier relevant erscheinen. Ich spare dabei eine Reihe von Punkten aus, u.a. im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen idealer Sprache und natürlicher Sprache, auf verschiedene formale Darstel­ lungen innerhalb von Russells (und Whiteheads) Werk und auf mögliche ontologische Implikationen von Russells Theorie (etwa bzgl. der Position des Haecceitismus). Auch

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Beginnen wir mit der üblichen Darstellung bzw. der Standard­ lesart von Russells Theorie. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Russell zwischen zwei Arten von Eigennamen unterscheidet, nämlich zwischen gewöhnlichen und logischen Eigennamen. In beiden Fällen handelt es sich um singuläre Ausdrücke. Gewöhnliche Eigennamen sind für Russell Namen wie ›Sir Walter Scott‹ und ›Sokrates‹, während logische Eigennamen das Personalpronomen ›ich‹ und vor allem die Demonstrativa ›dieses‹ und ›jenes‹ sind. Letztere bezeichnen Russell zufolge unmittelbar Sinnesdaten eines erlebenden Subjekts, beispielsweise eine spezielle Schmerzempfindung oder ein bestimm­ tes Farberlebnis.34 Mit Blick auf gewöhnliche Eigennamen gilt Russell gemeinhin als Anhänger einer Kennzeichnungstheorie, auch bekannt als ›Theo­ rie definiter Beschreibungen‹ oder kurz ›Beschreibungstheorie‹.35 Unter definiten Beschreibungen bzw. Kennzeichnungen werden dabei standardmäßig Ausdrücke der Form ›der/die/das F‹ (z.B. ›der erste Präsident der USA‹) verstanden, während Ausdrücke der Form ›ein/ eine F‹ (z.B. ›ein ehrlicher Mensch‹) als indefinite Beschreibungen angesehen werden.36 Ausdrücken wie diesen ist zwar in sprachphi­ losophischen Debatten die mit großem Abstand meiste Beachtung zuteil geworden, jedoch machen sie nur einen Teil aller definiten bzw. indefiniten Beschreibungen aus, nämlich singuläre Beschreibungen. Insofern wir es im Zusammenhang mit Entdeckungen aber oft nicht mit Einzelobjekten zu tun haben, die wir mit singulären Beschrei­ bungen bezeichnen, sondern z.B. mit Arten und anderen generellen Phänomenen, ist der Hinweis auf weitere Fälle von Beschreibungen werde ich weder auf die Verbindungen zwischen Russells und Freges Namenstheorien genauer eingehen – vgl. aber Michel (2015) – noch auf bestimmte Details in der Argumentation Kripkes, die hier nicht relevant sind; eine ausführliche Darstellung findet sich in Michel (2011). 34 Vgl. Russell (1910–1911), S. 109–111. 35 Anders als an anderer Stelle, z.B. Michel (2011), bezeichne ich aus Gründen des größeren interpretatorischen Spielraums – vor allem mit Blick auf eine prädi­ kativistische Lesart – Russells Theorie hier nicht als Kennzeichnungs-, sondern als Beschreibungstheorie. 36 Insofern es üblich ist, im Anschluss an Russell davon auszugehen, dass die Ver­ wendung des bestimmten Artikels in definiten Beschreibungen eine Eindeutigkeits­ bedingung beinhaltet – vgl. Russell (1905), S. 481 –, werden definite Beschreibungen formal in der Regel mithilfe des Jota-Operators dargestellt, z.B.: ιxFx – lies: ›dasjenige x, für das Fx gilt‹. Diese Notation kommt übrigens bereits in den Principia Mathema­ tica zur Anwendung (PM, 173). Sie ist allerdings nicht unumstritten, vgl. Sainsbury (1979), Sharvy (1980), Neale (1990) und Graff (2001).

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an dieser Stelle wichtig: Zu den definiten Beschreibungen zählen auch Ausdrücke der Form ›die Fs‹ (Pluralausdrücke, z.B. ›die Detektive‹ oder ›die Tiere im Zoo‹) sowie Ausdrücke der Form ›der/die/das F‹, bei denen ›F‹ ein Kontinuativum ist (ein nicht-zählbarer Substanzaus­ druck, z.B. ›Wasser‹, ›Gold‹, ›Musik‹, ›Obst‹, ›Polizei‹). Wir bleiben aber zunächst bei singulären Ausdrücken. Um die Standardlesart von Russells Beschreibungstheorie besser zu verstehen, ist es hilfreich, zwischen zwei Versionen der Beschrei­ bungstheorie für gewöhnliche Eigennamen zu unterscheiden, näm­ lich zwischen Beschreibungstheorien der Bedeutung von Eigennamen (B1) einerseits und Beschreibungstheorien der Referenz von Eigenna­ men (B2) andererseits.37 B1: Eigennamen sind synonym (d.h. bedeutungsgleich) mit definiten Beschreibungen, die kompetente Mitglieder einer Sprachgemein­ schaft mit ihnen assoziieren. B2: Der Referent eines Eigennamens ist dasjenige, das die definite Beschreibung erfüllt, die ein kompetentes Mitglied einer Sprach­ gemeinschaft mit dem Eigennamen assoziiert. Seine Ansicht beschreibt Russell in seinem berühmten Aufsatz »Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description« wie folgt: Gewöhnliche Wörter, sogar Eigennamen, sind normalerweise eigent­ lich Beschreibungen. Das heißt, der Gedanke im Kopf einer Person, die einen Eigennamen richtig verwendet, kann generell nur explizit ausge­ drückt werden, wenn wir den Eigennamen durch eine Beschreibung ersetzen. Außerdem variiert die Beschreibung, die erforderlich ist, um den Gedanken auszudrücken, bei verschiedenen Menschen oder bei ein und derselben Person zu verschiedenen Zeiten. Das einzig Konstante (solange der Name richtig verwendet wird) ist der Gegenstand, auf den sich der Name bezieht. Solange dieser jedoch konstant bleibt, macht die betreffende Beschreibung üblicherweise keinen Unterschied für die Wahrheit oder Falschheit der Aussage, in der der Name vorkommt.38

Es sind Passagen wie diese, die die Standardlesart von Russells Theorie der gewöhnlichen Eigennamen motivieren. Russell vertritt demnach die Auffassung, dass gewöhnliche Eigennamen in Wirk­ lichkeit nichts anderes sind als abgekürzte oder verkleidete definite 37 38

Vgl. Michel (2011), S. 95. Russell (1910–1911), S. 114.

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Beschreibungen und dass gewöhnliche Eigennamen mithin synonym oder bedeutungsgleich mit abgekürzten oder versteckten definiten Beschreibungen sind. Russell wird daher in der Regel als Anhän­ ger der ersten oben genannten Version einer Beschreibungstheorie betrachtet (B1). Nimmt man darüber hinaus an, wie dies üblicher­ weise geschieht, dass die Bedeutung eines Ausdrucks seine Referenz festlegt, impliziert die stärkere Version der Beschreibungstheorie (B1) ihre schwächere Version (B2). Insofern kann Russell auch als Anhänger von B2 betrachtet werden und wird daher üblicherweise insgesamt als Anhänger einer Beschreibungstheorie für gewöhnliche Eigennamen angesehen. Russells Beschreibungstheorie war insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr einflussreich. Das lag auch daran, dass sich mit ihrer Hilfe verschiedene philosophische Probleme und Rätsel in der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik als faden­ scheinig erwiesen und auflösen ließen. Mithilfe der russellschen Ana­ lyse ließ sich z.B. zeigen, wie die Oberflächengrammatik eines Satzes über seine zugrunde liegende logische Struktur hinwegtäuscht – man denke etwa an den berühmten Satz ›Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahlköpfig‹. Dieser Erfolg fand vor allem Anklang in der sog. Ordinary Language Philosophy, in der man die Hoffnung hatte, dass sich auch weitere, klassische philosophische Probleme lösen ließen, indem man die sprachlichen Missverständnisse aufklärte, auf denen diese vermeintlich beruhten. In den frühen 1970er Jahren erlitt Russells Beschreibungstheorie allerdings einen herben Rückschlag, als Saul Kripke im Rahmen einer Vorlesungsreihe, die später als Naming and Necessity veröffentlicht wurde, die Beschreibungstheorie – oder wie Kripke sie auch nannte: »die Frege-Russell-Sicht«39– mit drei Arten von Argumenten atta­ ckierte.40 Zu den wichtigsten Ergebnissen der Argumentation Kripkes zählen kurz gesagt die folgenden drei. K1: Eigennamen sind sog. rigide Designatoren, d.h. singuläre Aus­ drücke, die in allen möglichen Welten dasselbe Objekt bezeich­ nen.41 Kripke (1980), S. 27. Vgl. Michel (2011), Kap. 3. 41 Auch wenn es im Zusammenhang der vorliegenden Darstellung keine große Rolle spielt, sei der Vollständigkeit halber zweierlei angefügt: Zum einen beinhaltet die Charakterisierung rigider Designatoren eigentlich auch die Bedingung, dass das 39

40

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K2: Weder die Beschreibungstheorie der Bedeutung von Eigennamen (B1) noch die der Referenz von Eigennamen (B2) ist haltbar, denn anders als Beschreibungen enthalten Eigennamen kein deskriptives oder informatives Element – Kripke zufolge haben Eigennamen keine von ihrer Referenz verschiedene Bedeutung. K3: Seine Argumentation führt implizit zu dem Schluss, »dass bestimmte generelle Ausdrücke [...] eine größere Verwandtschaft mit Eigennamen haben, als gemeinhin angenommen wird«42. Dies betrifft vor allem sog. Ausdrücke für natürliche Arten wie ›Wasser‹, ›Tiger‹ und ›Gold‹ sowie wissenschaftliche Bezeich­ nungen wie ›H2O‹ und ›Molekularbewegung‹. Im Lichte dieser Ergebnisse erschien Russells Beschreibungstheorie trotz ihrer früheren Verdienste lange als systematisch unhaltbar. Ich bevorzuge es jedoch, Kripkes Argumentation als Herausforderung zu betrachten, und denke, dass seine Argumentation vor allem die genannte Standardlesart der russellschen Theorie betrifft. Dass Rus­ sells Theorie somit alles andere als unhaltbar ist, zeige ich, indem ich im Folgenden skizziere, wie man auf K1–K3 reagieren kann und welche Konsequenzen sich daraus sowohl für die russellsche Namenstheorie als auch für meine Theorie wissenschaftlicher Entde­ ckungen ergeben. Zu K1: Kripke argumentiert dafür, dass Eigennamen rigide Desi­ gnatoren sind (K1). Dieses Ergebnis steht für ihn im Widerspruch zu den Ansichten Freges und Russells, die er miteinander vermengt und als »Frege-Russell-Sicht« bezeichnet (s.o.). Abgesehen von den interpretatorischen Schwierigkeiten, die mit dieser Vermengung ver­ bunden sind, lässt sich auf Kripke erwidern, dass K1 nicht als im Widerspruch zu Russells Sichtweise gesehen werden muss, und zwar insbesondere dann nicht, wenn man eine Lesart von Russell zugrunde legt, die von der Standardlesart abweicht. Eine Variante, wie sich dies ausbuchstabieren lässt, findet sich in der Argumentation von Rosemarie Rheinwald: Motiviert durch ihre Beobachtung scheinbar widersprüchlicher Bemerkungen Russells zu Eigennamen43 verfolgt betreffende Objekt in der jeweils betrachteten möglichen Welt existieren muss. Zum anderen gibt es auch definite Beschreibungen, die rigide Designatoren sind, z.B. ›die Quadratwurzel aus 64‹ sowie mithilfe des indexikalischen Ausdrucks ›tatsächlich‹ rigidifizierte Kennzeichnungen wie ›der tatsächliche Erfinder des Reißverschlusses‹. 42 Kripke (1980), S. 134; meine Hervorhebung, JM. 43 In Russell (1905) und Russell (2010).

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Rheinwald das Ziel, Russells Theorie auf eine kohärente Weise zu rekonstruieren und so eine angemessene Lesart zu etablieren. Dazu legt sie eine Interpretation von Russells Theorie zugrunde, in der systematisch zwischen idealen (oder logisch perfekten) Sprachen und der gewöhnlichen (oder natürlichen) Sprache unterschieden wird.44 Entsprechend ließen sich bei Russell gewöhnliche Eigennamen wie ›Sokrates‹ auf zwei Weisen beschreiben, nämlich aus der Sicht einer idealen Sprache und aus der Sicht der gewöhnlichen Sprache. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen argumentiert Rheinwald, dass man auch die Sichtweise der gewöhnlichen Sprache anlegen sollte, wenn man Russells Auffassung von gewöhnlichen Eigennamen in den Blick nimmt. Dieser Argumentation folgend wird klar, »dass Russells Theorie der gewöhnlichen Eigennamen keine Beschreibungstheorie ist, sondern eher das, was wir heute eine Theorie der direkten Referenz nennen«45, die mit Kripkes Annahme, dass Eigennamen rigide Desi­ gnatoren sind, kompatibel ist. Kurz gesagt zeigt Rheinwald damit, wie sich auf der Grundlage einer gut motivierten Russell-Lesart, die von der Standardlesart abweicht, dafür argumentieren lässt, dass Kripkes Theorie – bzw. K1 – nicht im Widerspruch zu Russells Theorie steht; Rheinwald zufolge sind die Theorien sogar äquivalent.46 Zu K2: Mit Blick auf K2 lässt sich erwidern, dass B1 und B2 nicht die einzigen Varianten sind, wie man eine Beschreibungstheorie ausbuchstabieren kann, auch wenn das durch die Ausführungen Kripkes suggeriert wird. Seltsamerweise ist in der umfangreichen exegetischen Literatur zu Naming and Necessity bislang so gut wie unbeachtet geblieben, dass Kripke selbst kurz eine weitere Variante einer Beschreibungstheorie behandelt, nämlich im Rahmen seiner Vgl. Rheinwald (2012), S. 175. Rheinwald (2012), S. 178. 46 Vgl. Rheinwald (2012), S. 181. Auch wenn das für meine Zwecke hier nicht erfor­ derlich ist, sei darauf hingewiesen, dass sich Rheinwalds Argumentation an verschie­ denen Stellen kritisieren ließe, etwa in Bezug auf ihre Russell-Interpretation oder auf ihre Äquivalenzbehauptung bzgl. der Theorien von Kripke und Russell. Mit Blick auf ihre Russell-Interpretation ließe sich z.B. einwenden, »dass dabei Russells Hauptpro­ jekt der logischen Analyse der Normalsprache nicht angemessen gewürdigt wird«; Newen (2012), S. 168. Mit Blick auf die Äquivalenzbehauptung zwischen Kripkes und Russells Theorien ließe sich z.B. einwenden, dass rigide Designation nicht dasselbe ist wie direkte Referenz. Insofern Rheinwald allerdings Russells Theorie als Theorie der direkten Referenz interpretiert und direkte Referenz rigide Designation impliziert – aber nicht umgekehrt; dazu Soames (2010), S. 98 – bleibt Rheinwalds genereller Punkt bestehen, wenngleich die Äquivalenzthese falsch wäre. 44 45

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Beschäftigung mit einem Vorschlag des britischen Logikers William Kneale.47 Mindestens ebenso seltsam ist, wie kurz und wenig sub­ stanziell Kripkes Kritik an Kneales Bemerkung ausfällt, bevor er Kneales Vorschlag verwirft und nicht mehr thematisiert.48 Aber worin besteht nun Kneales Vorschlag? Am Rande seiner Ausführungen zur Unterscheidung der Modalitäten de re und de dicto, »die von mittel­ alterlichen Logikern häufig verwendet wurde« und die er selbst für »nicht sehr unterhaltsam«49 hält, macht Kneale folgende Bemerkung: Warum sollten wir eigentlich annehmen, dass der Sinn des Namens hier irrelevant ist, wenn selbst gewöhnliche Eigennamen von Men­ schen nicht, wie John Stuart Mill meinte, Zeichen ohne Sinn sind? Während es informativ sein mag, einem Menschen mitzuteilen, dass der berühmteste griechische Philosoph Sokrates genannt wurde, ist es offensichtlich unbedeutend, ihm mitzuteilen, dass Sokrates Sokra­ tes genannt wurde; und der Grund dafür ist einfach, dass er Deine Verwendung des Wortes ›Sokrates‹ am Anfang Deiner Aussage nicht verstehen kann, wenn er nicht bereits weiß, dass es ›das Individuum namens Sokrates‹ bedeutet.50

Kneales Bemerkung lässt sich als folgender Vorschlag zur Charakte­ risierung der Bedeutung von gewöhnlichen Eigennamen verstehen: die Bedeutung eines Namens N ist ›dasjenige, das den Namen N trägt‹. Immerhin können wir uns sicher sein, dass Sokrates ›Sokrates‹ genannt wird – zumindest im Deutschen –, und Entsprechendes scheint auch für alle anderen Dinge zu gelten, die einen Namen haben. Auf der Grundlage von Kneales Vorschlag können wir – im Unterschied zu Kripkes Ansatz (vgl. K2) – zwischen der Referenz und der Bedeutung von Eigennamen unterscheiden. Man kann sagen, dass Kneales Vorschlag auf eine Beschreibungstheorie von Eigenna­ men hinausläuft, die in neueren Debatten auch als Prädikativismus bekannt geworden ist (im Unterschied zum sog. Referentialismus,

Vgl. Kripke (1980), S. 68–70. Zu den wenigen Ausnahmen derjenigen, die sich explizit mit Kripkes KnealePassage befasst haben, zählen Wreen (1989) und Geurts (1999). Beide reagieren auf die Kritik von Kripke an Kneale und verteidigen auf verschiedene Weise eine aktualisierte Version von Kneales Theorie der Eigennamen. Für Weiterentwicklungen siehe insbesondere Bach (2015) und Graff Fara (2015). 49 Kneale (1966), S. 622. 50 Ibid., S. 629 f. 47

48

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z.B. bei Kripke),51 da sich Eigennamen diesem Ansatz zufolge als Prä­ dikate verstehen lassen (und nicht als Individuenkonstanten, wie bei Kripke). Zwar ist auch dieser Vorschlag mit verschiedenen Problemen konfrontiert (inkl. Kripkes), allerdings scheinen sie relativ leicht zu lösen zu sein.52 Für unseren Kontext ist vor allem interessant, dass es sich bei Kneales Vorschlag um eine von B1 und B2 verschiedene Vari­ ante der Beschreibungstheorie handelt, die erstens nicht von Kripkes Argumentation gegen B1 und B2 betroffen ist (vgl. K2), die zweitens plausibel ist und die drittens mit Russells Theorie kompatibel ist – Russells Theorie kann sogar als ihr Ursprung angesehen werden.53 Zu K3: Auf S. 134 von Naming and Necessity behauptet Kripke, seine Argumentation führe implizit zu dem Schluss, es gebe eine grö­ ßere Verwandtschaft zwischen Eigennamen und generellen Ausdrü­ cken als gemeinhin angenommen (K3). Diese Verbindung ist für den größeren Zusammenhang interessant, den wir hier betrachten: wis­ senschaftliche Entdeckungen, für die (neue) generelle Namen einge­ führt werden. Abgesehen davon aber, dass Kripkes Behauptung m.E. nur dürftig gedeckt ist – was genau rechtfertigt seinen Schluss? –, stellen sich einige technische bzw. formale Fragen. Eine dieser Fragen, die mir in unserem Zusammenhang relevant erscheint, ist die, wie wir mit dem ›ist‹ in Aussagen wie ›Lilioceris lilii ist das Lilienhähnchen‹ oder ›Wasser ist H2O‹ umgehen sollten. Insofern Kripke zwar auch die in diese Aussagen involvierten sog. Ausdrücke für natürliche Arten als rigide Designatoren ansieht, aber nur eine Charakterisie­ rung rigider Designatoren für singuläre Ausdrücke liefert,54 stellt sich die Frage, wie er z.B. mit folgendem Rätsel umgehen will:55 Eis verhält sich zu H2O genauso wie sich Wasser zu H2O verhält. Wenn wir aber nun annehmen, dass Wasser mit H2O identisch ist, dann ist auch Eis mit H2O identisch, und wir kommen zu dem absurden Ergebnis, dass 51 Die prädikativistische Sicht findet sich nicht nur in Kneale (1962), sondern auch (in verschiedenen Ausbuchstabierungen) in Sloat (1969), Burge (1973), Hornsby (1976), Loar (1976), Bach (1981), Katz (2001), Bach (2002), Matushansky (2008), Bach (2015) und Graff Fara (2015). 52 Vgl. z.B. Green (2021), S. 92–94. 53 Vgl. Bach (1981), S. 371. Abgesehen davon bietet eine prädikativistische Lesart einige Vorzüge gegenüber Kripkes Ansatz, etwa eine einfachere Analyse von Sätzen wie ›In diesem Raum befinden sich drei Alfreds‹ – vgl. Burge (1973), S. 429 – und ›Ich fand Yusuf Islam am besten, als er Cat Stevens war‹. 54 Vgl. u.a. Kripke (1980), S. 48. 55 Vgl. Johnston (1997) und Soames (2002), Kap. 11.

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Wasser Eis ist. Auch wenn ich hier nicht weiter ins Detail gehen kann, sollte auch vor dem Hintergrund meiner obigen Ausführungen bereits deutlich geworden sein, dass mir (a) eine prädikativistische Lesart auch von generellen Namen (›Lilioceris lilii‹, ›Lilienhähnchen‹, ›Was­ ser‹, ›H2O‹ usw.) attraktiver erscheint als Kripkes Vorschlag und dass ich (b) vor dem Hintergrund dieser Lesart glaube, dass das ›ist‹ in den betrachteten Aussagen nicht als das ›ist‹ der Identität betrachtet wer­ den sollte, sondern eher als das ›ist‹ der Explikation.56 Vor diesem Hintergrund kann ich mich Russells Bemerkung anschließen: »Es ist eine Schande für die Menschheit, dass sie sich dazu entschlossen hat, dasselbe Wort ›ist‹ für diese beiden völlig verschiedenen Ideen zu verwenden«57. Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaft vorgetragenen Aus­ führungen können wir damit Folgendes festhalten: (1) Kripkes Rigi­ ditätsthese muss kein Problem für Russells Beschreibungstheorie darstellen. (2) Russells Beschreibungstheorie muss nicht im Sinne von B1 oder B2 verstanden werden, sondern besser im Sinne einer prädikativistischen Lesart. (3) Eine prädikativistische Analyse von generellen Namen58 erscheint aussichtsreicher als Kripkes Analyse – insbesondere wenn wir in den genannten Aussagen der Form ›A ist B‹ nicht von Identität ausgehen. Auch wenn wir damit nicht alle der zu Beginn dieses Abschnitts angeführten sprachphilosophischen Fragen beantwortet haben,59 sollte doch klar geworden sein, dass wir mithilfe einer prädikativis­ tischen Lesart einer auf generelle Namen erweiterten russellschen Beschreibungstheorie die Funktionsweise von Namen, die im Kon­ text wissenschaftlicher Entdeckungsprozesse eingeführt werden, gut erklären können – auch mit Blick auf das Verhältnis von theoretischen Namen (z.B. biologische Artnamen) und vortheoretischen (z.B. Tri­ vialnamen). Von einer Ausarbeitung dieser Überlegungen ist somit zu erwarten, dass noch klarer wird, worin der Zusammenhang von Akzeptanz und Wissen im Kontext wissenschaftlicher Entdeckungs­ prozesse besteht. Etwa im Sinne Carnaps; vgl. Carnap (1959), S. 15. Vgl. auch Simonian (2005). Russell (1920), S. 172. 58 Wie sich Russells Beschreibungstheorie erweitern lässt, hat Richard Sharvy (1980) gezeigt. 59 Etwa bzgl. der Einführung von Artnamen; dafür ist m.E. eine pragmatische bzw. sprechakttheoretische Ergänzung erforderlich, vgl. auch Michel (2019), § 6. 56 57

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V. Schlussbemerkung Whiteheads und Russells persönliche und fachliche Wege trenn­ ten sich nach einer intensiven gemeinsamen Phase der kollegialen Zusammenarbeit und Freundschaft immer mehr. Wie sich zentrale Aspekte ihrer jeweiligen philosophischen Werke dennoch in einem größeren Rahmen zusammenführen lassen, nämlich im Rahmen meiner Theorie wissenschaftlicher Entdeckungen, habe ich hier skiz­ ziert: Whiteheads Überlegungen zum Begriff der Imagination helfen uns dabei zu verstehen, wie es einem Subjekt des Findens gelingen kann, einen anfänglichen Fund im Rahmen eines wissenschaftlichen Entdeckungsprozesses gedanklich und sprachlich auf eine Weise zu fassen, dass die erforderlichen Schritte in Richtung der Akzeptanz des Gefundenen als neue wissenschaftliche Entdeckung gegangen werden können bzw. der erforderliche Akzeptanzmechanismus in Gang gesetzt wird. Zudem hilft uns die prädikativistisch gelesene und auf generelle Namen erweiterte russellsche Beschreibungstheorie dabei, die Funktionsweise von Namen zu verstehen, die wir im Zuge wissenschaftlicher Entdeckungsprozesse verwenden und einführen. Darüber hinaus habe ich sowohl die Vermutung als auch die Hoffnung, dass meine Ausführungen hier nicht nur von Nutzen sind für die Philosophie wissenschaftlicher Entdeckungen, sondern auch zu einem besseren Verständnis einiger Aspekte im Werk Whiteheads und Russells beitragen können.60

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Jan G. Michel

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II.

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Roland Braun

Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead: Von der Substanz zum Subjekt, von der causa sui zur self-causation

I. Einleitung Von einer ausführlichen Rezeption der Philosophie Baruch de Spino­ zas kann weder bei Russell noch bei Whitehead gesprochen werden. Beide greifen einzelne Elemente aus dem Denken ihres Vorgängers auf, und sie tun dies hauptsächlich in der Absicht, ihre eigenen Entwürfe und philosophischen Ansichten daran zu schärfen. Den beiden historisch wirkmächtigen Vorwürfen gegen den Spinozismus, die Gleichsetzung mit dem Materialismus einerseits, dem Atheismus andererseits, folgt keiner der beiden.1 Fragmente des spinozistischen Hauptwerks Ethica treten in ihren Schriften in zweierlei Gestalt auf: Einerseits dienen sie der Kontrastierung und Abgrenzung, anderer­ seits verdienen sie Zustimmung. Positive wie negative Aspekte an Spinozas Philosophie fallen Russell und Whitehead dabei in unter­ schiedlicher Weise auf. Weil es Russell um eine Darstellung des Lehrgebäudes Spinozas im Überblick zu tun ist, bemüht er sich um Repräsentativität, er zeichnet den spinozistischen Gedankengang von der Ontologie über die Emotionstheorie bis zu moralischen Hand­ lungsanweisungen nach. Während Spinoza für seine Überlegungen Kontinuität reklamiert, er der Ansicht ist, von Gott wie vom Men­ schen gleichermaßen rational nachvollziehbar und einsichtig zu han­ deln, bricht Russells Interpretation das System seines Vorläufers auf: Vgl. den Beitrag von Günter Gawlick zum »Spinozismus« im Historischen Wörter­ buch der Philosophie, Bd. 9, insb. Sp. 1399: »Häufiger [...] wird ›S.‹ in einer weiteren Bedeutung verwendet und steht dann – wie J.G. Walch formuliert – für ›diejenige Art der Atheisterey, da man nur eine, und zwar materialische Substanz statuiret[.]‹«. 1

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Hier die Metaphysik, da die Ethik. Sein erklärtes Ziel liegt dabei darin zu kritisieren, was zu kritisieren ist, aber auch zu retten, was zu retten ist, ohne dass das Kritisierte das zu Rettende tangiert. Whiteheads Rezeption des Spinozismus ist von der Rücksichtnahme auf philoso­ phiegeschichtliche Präsentationsmuster frei. Er kann sich an der Metaphysik Spinozas abarbeiten, ohne auf dessen Ethik eingehen zu müssen. Infolgedessen schärft sich sein Blick für die Substanzonto­ logie, die in Spinozas System ihren monistischen Höhepunkt erreicht, bevor Leibniz die Substanzen ins Unendliche zersplittert. Eine Frage treibt Whitehead in besonderem Maße um: Was hat es mit Spinozas Substanzkonzept auf sich, dass es den Schritt in ein pluralistisches Universum herausfordert? Ebenso wie Russell verteilt Whitehead Lob und Tadel an die Adresse seines Vorgängers. Als eine weitere Gemein­ samkeit fällt auf, dass sowohl Whitehead als auch Russell unter dem Namen Spinozas mehr als eine Idiosynkrasie verstehen, er dient ihnen vielmehr als kategoriale Beschreibung einer äußerst wirkmäch­ tigen Ausrichtung philosophischen Denkens, dem substanzontologi­ schen. In diesem Sinne möchte ich zeigen, dass Whiteheads und Rus­ sells Auseinandersetzung mit dem Substanzbegriff eng mit dem Denken Spinozas verknüpft ist. Russells wie Whiteheads Kritik an der philosophischen Fixierung auf die Substanz macht sich an etwas fest, das als das Subjekt-Prädikat-Schema bezeichnet wird. Es gilt nach­ einander das Substanzdenken Russells (II.) wie auch Whiteheads (III.) im Rahmen ihrer Ethica-Rezeption einzuführen, um anschließend auf die unterschiedlichen Bewertungen, die Spinozas Philosophie von beiden Seiten erfährt, einzugehen (IV.). Der vorliegende Aufsatz ver­ sucht zu verdeutlichen, inwiefern Russells wie auch Whiteheads kri­ tischen Bewertung des in Spinozas Monismus gipfelnden Substan­ zialismus einerseits theoretischen Mehrwert abwirft, andererseits aber an interpretatorische Grenzen stößt.

II. Russell: Das Subjekt-Prädikat-Schema und die Ontologie der Substanz Das Bild, das Russell von Spinozas Werk einfängt, ist um einiges materialreicher als das seines Kollegen Whitehead. Dem entspricht, dass Russell nicht nur einmal, sondern mehrmals die Geschichte des Fachs Philosophie zusammenzufassen sucht – und zwar in An

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

Outline of Philosophy, Philosophie des Abendlandes und Denker des Abendlandes. Russell beschäftigt sich mit den politischen Schriften Spinozas,2 mit den metaphysischen Grundlagen der Ethica,3 ihrer Methode4 und Affektenlehre5. Dabei tritt seine Präferenz für einzelne ethische Postulate, Leitfäden oder Anweisungen an den Leser, ein besseres, freieres Leben zu führen, deutlich hervor.6 Die ontologische Einbettung, die Spinoza diesen Regeln mitgegeben hat, wird nicht nur vernachlässigt; Russell empfiehlt dem Leser sogar, sie nicht auf ihre metaphysischen Ursprünge, die er für obskur hält, zurückzuverfolgen, ihre Wurzeln im System gleichsam abzukappen.7 Spinozas praktische Philosophie reduziert sich auf hilfreiche Empfehlungen, auf Verhal­ tensregeln und Klugheitskalküle: Wenn es uns aber bestimmt ist, etwas zu ertragen, was über das gewöhnliche Menschenlos hinausgeht (oder hinauszugehen scheint), dann ist Spinozas Grundsatz, an das Ganze oder zumindest an Größe­ res als den eigenen Kummer zu denken, sehr nützlich. In gewissen Zeiten wirkt es sogar tröstlich, sich zu vergegenwärtigen, dass das menschliche Leben mit allem, was es an Bösem und Leidvollem umfasst, ein unendlich kleiner Teil des Lebens des Universums ist. Sol­ che Betrachtungen mögen nicht ausreichen, eine Religion zu gründen, aber in einer Welt der Leiden führen sie auf den Weg der Genesung und dienen als Heilmittel gegen das lähmende Gift der tiefsten Verzweif­ lung.8

Da im weiteren Verlauf diejenigen Schnittstellen herausgearbeitet werden sollen, an denen Russell und Whitehead Gemeinsamkeiten aufweisen, bleibt die ethische Dimension der Philosophie Spinozas außen vor, wohingegen ihre metaphysischen Implikationen in den Vordergrund rücken. Während Spinozas Ethik Russells Zustimmung findet, spielt sie für Whitehead keine Rolle. Letzterer fokussiert Vgl. Russell (1999), S. 578 f., vgl. Russell (1995), S. 271–273. Vgl. Russell (1999), S. 579 f., vgl. Russell (1995), S. 273–275. 4 Vgl. Russell (1999), S. 580 f. vgl. Russell (1995), S. 273. 5 Vgl. Russell (1999), S. 581–586, vgl. Russell (1995), S. 274 f. 6 Vgl. Russell (1999), S. 586 ff. 7 Vgl. Russell (1927), S. 264: »For my part, I [Russell] have no doubt [...] that monism is derived from a faulty logic inspired by mysticism.« Vgl. Russell (1999), S. 586: »Bei einer kritischen Würdigung der philosophischen Bedeutung Spinozas ist es notwen­ dig, seine Ethik von seiner Metaphysik zu trennen und zu untersuchen, wieviel von der Ethik bestehen bleibt, wenn man die Metaphysik ablehnt.« 8 Russell (1999), S. 589. 2

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seine Aufmerksamkeit auf den substanzontologischen Unterbau von Spinozas Denken. Im Folgenden soll daher Russells Rezeption auf den Gesichtspunkt enggeführt werden, der im Hinblick auf Whitehead relevant ist, den Begriff der Substanz. Für die rationalistischen Philo­ sophen Descartes, Spinoza und Leibniz bildet dieser Begriff einen ihrer wichtigsten gemeinsamen Bezugspunkte, Russell diskutiert das Konzept oftmals im übergreifenden Rahmen des 17. Jahrhunderts.9 In diesem Sinne empfiehlt sich ein Seitenblick auf Spinozas zeitweiligen Gesprächspartner, Gegenspieler und Nachfolger in der Philosophie, den Universalgelehrten Leibniz. Russell unterhält zu Leibniz eine besondere Beziehung: Als einer der Ersten wertet er die Entdeckung einer zweiten, ›esoterischen‹ Ebene des leibnizschen Schaffens unterhalb der bekannten ›exoterischen‹ durch den fran­ zösischen Fachhistoriker Couturat aus, insbesondere in A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz.10 Durchgängige Motive dieses Buches wie auch der Besprechungen Leibniz’ in den nachfolgend ver­ fassten Philosophiegeschichten bestehen in der Gegenüberstellung von Substanz und Relation, Monismus und Pluralismus. Als Haupt­ vertreter des Substanzmonismus, an dem Leibniz sich abarbeitet, imponiert niemand anderer als Spinoza.11 Inkompatibilitäten des Monismus mit dem Begriff ausgedehnter Dinge führen Leibniz zur gegenteiligen Annahme eines Pluralismus: Er [Leibniz] begründete das damit, daß Ausdehnung eine Vielheit einbegreife und daher nur einem Aggregat von Substanzen zugehö­ ren könne; jede einzelne Substanz müsse ohne Ausdehnung sein. Demgemäß glaubte er an eine Unzahl von Substanzen, die er ›Mona­ den‹ nannte.12

Vgl. Russell (1927), S. 253 ff. Vgl. Russell (1900), S. 126 sowie Russell (1999), S. 591–599: »Leibniz’ populäre Philosophie ist in der Monadologie und in den Principes de la Nature et de la Grâce zu finden […]. Ich komme nun zu Leibniz’ esoterischer Philosophie […]. Eine Tatsache ist bemerkenswert: er verstand spätere Philosophen und Gelehrte so zu täuschen, dass die meisten Herausgeber, die aus der ungeheuren Menge seiner Manuskripte Einzel­ nes veröffentlichten, nur dem den Vorzug gaben, was die hergebrachte Interpretation seines Systems stützte; als unwichtige Versuche des Philosophen verwarfen sie hin­ gegen alles, was ihn als einen weit tieferen Denker offenbart, als er selbst in den Augen der Welt sein wollte.« 11 Vgl. Russell (1999), S. 592 und S. 603 f. 12 Ibid., S. 592. 9

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

Doch auch Leibniz, so Russell, falle in ein logisches Schema zurück, das ihn daran hindert, den Spinozismus zu überwinden. Russell nennt es das Subjekt-Prädikat-Schema. Mit Boethius’ Übersetzung der Ausdrücke hypokeίmenon und katëgorëma als subiectum und praedicatum gewinnt das aristotelische Unterfangen, die Verbindung der Vielheit der Attribute mit der Einheit des Subjekts auch auf die Vielfalt der Aussageweisen der einen vom anderen auszudehnen, erhöhte Brisanz. Im Falle der aristotelischen Vorlage ist unklar, »ob er [Aristoteles] von einem prädizierten Wort oder […] von einem prädizierten Attribut als dem sachlichen Korrelat eines prädi­ zierten Wortes spricht«13. Infolge der latinisierten Fassung überwiegt dagegen die Verschmelzung sprachlicher und metaphysischer Attri­ bution. Als Darunter- oder Zugrundeliegendes werden Subjekt und Substanz identifiziert: Diese Überlegung leitet Russells Analyse des Subjekt-Prädikat-Schemas an. Weil Aussagesätze Eigenschaften an ein Satzsubjekt prädizieren, nimmt man irrtümlich an, dass auch in der Wirklichkeit Eigenschaften auf etwas verweisen, dem sie inhärieren. Man substantiviert dieses ›etwas‹ zum ›Etwas‹. Während man die Eigenschaften wahrnimmt, entzieht sich das Etwas, dem sie zugehören, ins Unbekannte, es kann nicht selbst zum Gegenstand einer sinnvollen Aussage gemacht werden. Doch führt dieser Mangel nicht zu einer Abwertung des Substanzbegriffs, im Gegenteil: Im Umkehrschluss verfällt man auf den Gedanken, dass das, wovon sich nichts aussagen lässt, allen Aussagen zugrunde liegt. Die Ontologen begehen in Russells Sicht den schwerwiegenden Fehler, dasjenige, von dem sie am wenigsten wissen, zur grundlegendsten Kategorie zu ver­ klären.14 Im Hintergrund seiner Kritik an der bisherigen, von diesem Modell irregeleiteten Denktradition steht seine Überzeugung, mittels logischer Analyse die Subjekt-Prädikat-Struktur der Alltagssprache aus der Philosophie eliminieren und durch symbolische Notationen ersetzen zu können. Seine Zusammenarbeit mit Whitehead an einem Grundlagenwerk der Mathematik, den Principia Mathematica, geben davon ein beeindruckendes Zeugnis. Im vorliegenden Zusammen­ hang ist allerdings weniger die Lösung des Problems als das Problem selbst, das Subjekt-Prädikat-Schema in seiner Anwendung auf die metaphysische Grundkategorie der Substanz, von Relevanz. 13 Vgl. den Beitrag von Hermann Weidemann zur »Prädikation« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 1196. 14 Vgl. Russell (1999), S. 223.

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Das Konzept der Substanz findet sich zwar bei den drei Hauptver­ tretern der frühneuzeitlich-rationalistischen Philosophie, Descartes, Spinoza und Leibniz, in unterschiedlicher Weise ausgeprägt, nichts­ destotrotz ist es für alle drei von grundlegender Bedeutung.15 Russell zufolge leitet es sich aus der irrtümlichen Übertragung der SubjektPrädikat-Struktur der Sprache auf die Struktur der Welt ab. Manche Worte fungieren sowohl als Subjekte als auch als Prädikate, z.B. ›blau‹ in ›Blau ist eine Farbe‹ oder ›Der Himmel ist blau‹. Anders sieht es bei Eigennamen aus. Eigennamen stehen immer an Subjekt-, nie an Prä­ dikatstelle. Sie sind wie geschaffen dazu, Substanzialität anzuzeigen. Substanzen zeichnen sich dadurch aus, sich in der Zeit durchzuhalten, zu persistieren, Werden und Vergehen nicht unterworfen zu sein. Wahre Aussagen sind entweder allgemeiner oder partikularer Natur. Bei allgemeingültigen Sätzen lassen sich Subjekt und Prädikat mitein­ ander vertauschen, z.B. die Aussage, dass Menschen sterblich sind, damit, dass Sterblichkeit menschlich ist. Beide Sätze sind allgemein wahr. In partikular-wahren Sätzen dagegen inhäriert das Prädikat im Subjekt, so beispielsweise ›sterblich‹ in ›Sokrates‹ in dem Satz, dass Sokrates sterblich ist.16 Leibniz’ Ansatz ist nun der, dass alles, was Sokrates je widerfahren ist, durch die Prädikate einer Aussage ausge­ drückt werden kann, in der Sokrates das Satz-Subjekt ist: »All diese Prädikate zusammengenommen ergeben den ›Begriff‹ Sokrates.«17 Dies stößt Leibniz’ megalomanisches Projekt, Tatsachenwahrheiten (vérités de fait) als logisch vollständig analysierbare darzustellen, überhaupt erst an.18

Für Descartes sei auf die Behandlung von Substanz, Akzidenz, Attribut, Modus und Qualität in Descartes, Mediationen, S. 170, und Descartes, Prinzipien, S. 61, S. 65 sowie S. 77 verwiesen. 16 Russell (1999), S. 599 f. 17 Ibid., S. 600; vgl. Leibniz (1996), Bd. I, S. 74–77: »Gott, der den individuellen Begriff oder die haecceitas Alexanders erkennt, darin zu gleicher Zeit die Grundlage und den Seinsgrund aller Prädikate erkennt, die man von ihm wahrhaft aussagen kann, wie zum Beispiel, daß er den Darius und den Porus besiegte, so weitgehend, daß er darin apriori (und nicht durch Erfahrung) erkennt, ob er eines natürlichen Todes oder durch Gift gestorben ist, was wir nur durch die Geschichte wissen. Wenn man so die Verknüpfung der Dinge recht bedenkt, kann man sagen, daß es zu jeder Zeit in der Seele Alexanders Überreste dessen gab, was ihm zugestoßen ist und Zeichen dessen, was ihm noch zustoßen würde und sogar Spuren von allem, was sich im Weltall ereig­ net, obwohl es nur Gott zukommt, alles dies wiederzuerkennen.« 18 Vgl. Curley (1969), S. 84–87. 15

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

Der Begriff ›Sokrates‹ umfasst beides: Subjekt des Satzes zu sein wie auch die Ansammlung aller seiner Prädikate auszumachen. Das Subjekt-Prädikat-Schema leistet einen Rationalitätstransfer von Subjekt zu Substanz, von Prädikat zu Qualität, Akzidenz, Eigenschaft. Es macht sowohl die Metaphysik als auch die Methode von Spinozas Substanzmonismus aus: Spinozas Metaphysik ist das beste Beispiel für das, was man als ›logischen Monismus‹ bezeichnen könnte – die Lehre nämlich, daß die Welt als Ganzes eine einzige Substanz ist, deren einzelne Teile logisch nicht allein existieren können. Diese Ansicht stützt sich letzten Endes auf die Überzeugung, daß jeder Satz nur ein Subjekt und ein Prädikat hat, was uns zu dem Schluß führt, daß Beziehungen und Pluralität illusorisch sein müssen. Spinoza glaubte, die Natur der Welt und des menschlichen Lebens ließe sich logisch aus selbstverständlichen Axiomen ableiten; wir sollten die Geschehnisse genau so hinnehmen wie die Tatsache, daß 2 und 2 gleich 4 ist, da sie beide gleichermaßen das Ergebnis logischer Notwendigkeit seien. Als Ganzes kann man diese Metaphysik unmöglich anerkennen; sie ist unvereinbar mit moderner Logik und wissenschaftlicher Methodik. Tatsachen sollen durch Beob­ achtung, nicht durch Schlüsse festgestellt werden; wenn wir erfolgreich auf Zukünftiges schließen, tun wir das mit Hilfe von Prinzipien, die nicht logisch notwendig, sondern uns durch empirische Data suggeriert sind. Und den Substanzbegriff, auf dem Spinoza aufbaut, kann weder die Wissenschaft noch die Philosophie heutigentags akzeptieren.19

Russells Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit an die Adresse Spinozas soll nicht unwidersprochen bleiben, dafür sei auf die abschließende Bewertung verwiesen. Fürs Erste sei erwähnt, was Wissenschaft und seriöses Philosophieren in Russells Augen ausmacht: »Pluralism is the view of science and common sense, and is therefore to be accepted if the arguments against it are not conclusive.«20 Doch gleichzeitig mache sich in der Person Leibniz’ derjenige, der mit seiner Monaden­ lehre nahe daran war, Substanzen und Monismus zugunsten von Aggregaten und Pluralismus zu verabschieden, des Rückfalls in das Subjekt-Prädikat-Denken schuldig. Spinoza liege zwar falsch, seine Philosophie erwachse aus dem Gebrauch von Subjekt und Prädikat,

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Russell (1999), S. 586. Russell (1927), S. 264.

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aber wenigstens folgerichtig.21 Whitehead wird aus Leibniz’ Scheitern die Konsequenzen ziehen.

III. Whitehead: Pluralistisches und subjektivistisches Prinzip versus spinozistischen Monismus Whiteheads philosophisches Hauptwerk Prozeß und Realität stellt in weiten Teilen, insbesondere in dem zweiten, »Diskussion and Anwen­ dung« genannten, Abschnitt, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte rationalistischen, empiristischen und pragmatistischen Denkens dar.22 Spinoza spielt darin eine Sonderrolle. Er taucht zwar unter den klassischen Philosophen der Neuzeit neben Descartes, Locke, Hume und Leibniz auf. Doch Whitehead trägt keine kritische Masse an Material zusammen, sodass es nicht verwundert, dass Spi­ noza bislang allenfalls eine randständige Beachtung in Untersuchun­ gen gefunden hat, die sich Whiteheads Auseinandersetzung mit Vor­ gängerpositionen widmen.23 Geht man die Spinoza-Referenzen in Prozeß und Realität der Reihe nach durch, erstaunt dies nicht. Whiteheads Blick auf seinen Bezugsautor ist auf einen einzigen Sach­ verhalt fixiert: das Verhältnis der Substanz als causa sui zu den die Substanz affizierenden Modi (PR, 73 f./151; 81/163; 150/282; 21 Vgl. Russell (1999), S. 603: »Die Subjekt-Prädikat-Logik, von der alle diese frü­ heren Philosophen ausgingen, berücksichtigt die Beziehungen entweder überhaupt nicht oder aber sie erbringt falsche Argumente zum Beweis, daß Beziehungen nichts Wirkliches sind. Leibniz macht sich einer besonderen Inkonsequenz schuldig, indem er die Subjekt-Prädikat-Logik mit dem Pluralismus kombiniert, denn der Satz ›Es gibt viele Monaden‹ fällt nicht unter die Subjekt-Prädikat-Form. Um konsequent zu sein, müßte ein Philosoph, der überzeugt ist, dass alle Sätze unter diese Form fallen, Monist wie Spinoza sein.« Vgl. Bennett (1984), S. 56–60, zu Substanz, Prädikation und Aggregation. 22 Zu Empirismus und Pragmatismus bei Whitehead siehe Sölch (2014), insb. Kapitel 5. 23 Letztere liegen vor mit Lotter (1996) und Kann (2001). Als Ausnahme kann ver­ merkt werden: Hampe (1992), S. 22–27, worin als exemplarische Vertreter der in Abenteuer der Ideen auftauchenden Unterscheidung von Immanenz- und Auferlegt­ heitsauffassung der Naturgesetze (AI, 111 ff./236 ff.) Spinoza und Newton einander gegenüber gestellt werden. Zur Theorie immanenter Gesetze vgl. Hampe (1996), S. 7: Die Theorie geht davon aus, dass dann, wenn »die Individuen ihre Natur ändern, [...] sich auch die Gesetzmäßigkeiten zwischen ihnen« ändern, sie unterscheidet sich von der Auferlegtheitskonzeption entlang der Achse innere/äußere Relationen.

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

200/371; 222/406). In der Lehre der Modi verortet Whitehead einen Bruch im System (PR, 6 f./37).24 Zugleich seien die Modi unhinter­ gehbar: »Und doch ist immer eine Vielheit der Modi erforderlich, wenn das Schema überhaupt unmittelbare Relevanz für die vielen Ereignisse in der erfahrenen Welt behalten soll« (PR, 7/37 f.). Eine Präferenz für Pluralismus, dafür, von der wirklichen Erfahrung aus­ zugehen, deutet sich bei Whitehead genauso wie bei Russell an. Darüber hinaus impliziert Wirklichkeit für Whitehead immer auch das Erfassen der Wirklichkeit, wie sie das wissenschaftliche Weltbild (Physik, Chemie, Biologie etc.) darbietet.25 Zustimmung und Abgren­ zung zum spinozistischen Entwurf werden markiert: Die organistische Philosophie steht Spinozas Denkschema sehr nahe. Allerdings unterscheidet sie sich dadurch von ihm, daß sie die Sub­ jekt-Prädikat-Formen des Denkens verläßt, soweit sie auf der Vor­ aussetzung beruhen, diese Form sei eine direkte Verkörperung der elementarsten Kennzeichnung des Tatsächlichen. Daraus folgt, daß das ›Substanz-Qualität‹-Konzept umgangen wird; und die morpholo­ gische Beschreibung wird durch die Beschreibung dynamischer Pro­ zesse ersetzt. Auch werden Spinozas ›Modi‹ nun zu den schieren Wirklichkeiten, so daß uns ihre Analyse, auch wenn sie das Verständnis fördert, nicht zur Entdeckung eines höheren Realitätsgrades führt. (PR, 7/38)

Man findet die gleiche Konstellation wie bei Russell vor: Der Sub­ stanzmonismus wird mit der Unterscheidung von Substanz und Akzi­ denz (Qualität, Eigenschaft) und diese wiederum mit dem SubjektPrädikat-Schema in Verbindung gebracht; jedes nachfolgende Glied der Argumentationskette zeichnet für das vorhergehende verantwort­ lich, d.h., was Substanzen und Akzidenzien sind, erklärt der Rekurs auf die grammatikalische Form. Die Realitäten der wahrgenommenen Welt, insbesondere die Ergebnisse der Naturwissenschaft, zwängen jedoch einen dem monistischen diametral entgegengesetzten Stand­ punkt herbei, nämlich den pluralistischen. Whitehead fügt hinzu: Spi­ noza erkannte die Vielfalt der Erfahrung; dies zeige die Unhintergeh­ barkeit der Modi an. Ihm unterlief jedoch ein Fehler, indem er diese als aus der Substanz ableitbar einführte, als affectiones substantiae. Weil Der Vorwurf, Spinoza deduziere die Modi nicht ordnungsgemäß aus der Substanz bzw. weise die Substanz nicht als Ursache derselben auf, sondern setze die Modi als daseiend, findet sich auch andernorts, z.B. in Färber (1999), S. 136 und S. 164. 25 Vgl. Hampe (1990), S. 18–28 und S. 213–221. 24

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dessen Deduktion nicht gelungen ist, eine Lücke zwischen Substanz und Modalwelt klafft, sei es angebracht, die Modi in ihrer Vielfalt zu nehmen, sie nicht einer höheren Realität unterzuordnen.26 Da sie das Subjekt-Prädikat-Schema a limine ausgrenzt, gelinge der Orga­ nismusphilosophie, was der Monadolgie versagt bleibt und Spinozas Monismus konterkariert: sie baut ein pluralistisches Universum auf, das aus lauter wirklichen Einzelwesen besteht.27 Whitehead macht am Rationalismus ein weiteres Defizit aus: Da im Subjekt-Prädikat-Schema die Prädikate zusammengenommen den Begriff der Substanz ausmachen, stellt sich die Frage, was die Substanz dann noch außerdem sei. Dieses Problem wurde zuerst von Locke aufgeworfen und von Russell wieder aufgegriffen.28 Whitehead spannt ein Tableau zwischen Rationalismus und Empirismus auf, er lässt Locke auf Descartes reagieren – was historisch seine Rich­ tigkeit hat. Descartes revolutioniert die Philosophie, indem er das »subjektivistische Prinzip« einführt. Dabei kommt ein weiteres Mal das Subjekt-Prädikat-Schema zum Tragen: Das subjektivistische Prinzip folgt aus drei Prämissen: (i) Der Aner­ kennung des ›Substanz-Qualität‹-Konzepts als das elementare ontolo­ gische Prinzip. (ii) Der Anerkennung der aristotelischen Definition einer ersten Substanz, die immer ein Subjekt und niemals ein Prädikat sein soll. (iii) Der Annahme, daß das erfahrende Subjekt eine erste Substanz ist. (PR, 157/295)

Descartes analysiert die Aussage ›Ich denke‹ (cogito) entlang des substanzontologischen Schemas. Das Ich als erste Person Singular bedeutet eine Vgl. PR, 81/163: »Die organistische Lehre [...] hat auch eine gewisse Affinität zu Spinoza; aber Spinoza stützt seine Philosophie auf die monistische Substanz, von der die wirklichen Ereignisse untergeordnete Modi sind. Die organistische Philosophie kehrt diesen Standpunkt um.« 27 Vgl. PR, 73 f./151: »Daher ist die organistische Philosophie pluralistisch, im Gegensatz zu Spinozas Monismus[.]« Lotter (1996), S. 183–205, vertritt die These, dass Whitehead wesentlich mehr Affinitäten seiner Philosophie zur Monadenlehre Leibniz’ bewusst geworden wären, hätte er Leibniz nicht durch die Brille von Russells Exposition gelesen. Leibniz sei unter den klassischen Denkern der aussichtsreichste Kandidat dafür, die Rolle eines Ahnherrn der whiteheadschen Kosmologie einzuneh­ men. 28 Vgl. Russell (1999), S. 223: »›Substanz‹ bezeichnet in Wirklichkeit nur das ver­ einfachte Verfahren, Vorgänge gebündelt zusammenzufassen. […] Kurz, ›Substanz‹ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von SubjektPrädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.« 26

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individuelle Substanz [...], die durch ein universales Wesensattribut – cogitatio – bzw. dessen modi, die verschiedenen cogitationes, bestimmt wird. Wahrnehmungen von anderen Substanzen werden dann als Modifikationen dieses Wesensattributs bestimmt.29

Andere Substanzen tauchen in der Ich-Perspektive gar nicht als sol­ che, sondern als Modi auf, was Whitehead mit Santayana vom ›Solip­ sismus des gegenwärtigen Augenblicks‹ reden lässt (PR, 81/163; 158/296). Den Solipsismusverdacht verstärkt ein berühmtes Beispiel aus der zweiten cartesischen Meditation, in der der Meditierende bezweifelt, dass die vom Fenster aus gesehenen auf der Straße vorübergehenden Männer und Frauen etwas anderes sein könnten als unter Hüten und Mänteln verborgene Automaten (PR, 48 f./107 f.).30 Descartes inauguriert die für den Rationalismus eminente Unter­ scheidung zwischen natürlichem Sehsinn und geistigem Sehen – den Augen des Geistes, auf die auch Spinoza rekurriert.31 Man sieht einer­ seits nur mit dem Verstand ›richtig‹, wenn man von den Hüten und Mänteln auf Menschen und nicht auf Automaten schließt, anderer­ seits sieht man von jeglichem Individuellem ab, denn das, was man geistig erschließt, ist nichts als ein Konglomerat von Universalien: In dieser Passage wird angenommen, daß Descartes – das Ego, um das es geht – ein Besonderes ist, das nur durch Universalien charakterisiert wird. Daher sind seine Eindrücke – um Humes Wort zu verwenden – Kennzeichnungen durch Universalien. Es gibt also keine Wahrneh­ mung eines besonderen wirklichen Einzelwesens (PR 49/108).

Lockes Einwand lautet wie folgt: Wenn von einer Substanz nicht angegeben werden kann, was sie neben der Charakterisierung durch ihre Qualitäten (Attribute, Eigenschaften, Prädikate) denn sonst noch sei, die Substanz als solche gar nicht identifizierbar ist, wird sie zur unerkennbaren Größe, zu einem ›know not what‹.32 Whitehead adap­ tiert Lockes Kritik33 und ergänzt sie um Humes skeptischen Einwand, dass die Schlussfolgerung auf die »wirklichen Einzelwesen« (nicht: Lotter (1996), S. 165. Siehe zur cartesischen Verwendung von substantia in der Definition von Subjekt auch den entsprechenden Beitrag von Brigitte Kible im Histori­ schen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 379. 30 Vgl. Descartes, Meditationen, S. 35: »Was aber sehe ich außer Hüten und Mänteln, unter denen sich Automaten verstecken könnten?«. 31 Spinoza, Ethik, E1p15s: »Fassen wir sie aber ins Auge, wie sie im Verstand ist[.]«. 32 Vgl. Locke, Versuch, S. 366 ff. 33 Vgl. Lotter (1996), S. 166 ff. 29

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Automaten) unplausibel sei (PR, 49/108). Spinozas monistische Auflösung des Substanzenpluralismus rekonstruiert Whitehead als Depotenzierung des Besonderen, um das es in der zweiten cartesiani­ schen Meditation geht. Am rationalistischen Substanzbegriff fallen daher drei Defizite auf: Erstens führt er zu einem Solipsismus, der dem festen Glauben des common sense an eine empirische Grundlage menschlicher Erfahrung widerspricht (Descartes), zweitens zur Uner­ kennbarkeit des ›know not what‹ (Locke) und drittens zum Monismus (Spinoza) (PR, 48/107). Eine bemerkenswerte Wendung nimmt die Spinoza-Diskussion an der Stelle, an welcher Whitehead auf die Substanz als Ursache ihrer selbst eingeht: Causa sui zu sein bedeutet, daß der Konkretisierungsprozeß seine eigene Grundlage für die Entscheidung über die qualitative Ausstat­ tung der Empfindungen ist. Er ist schließlich verantwortlich für die Entscheidung, durch welche irgendein Anreiz für das Empfinden Wirk­ samkeit erlangen kann. Die dem Universum inhärente Freiheit beruht auf diesem Element der Selbst-Verursachung. (PR, 88/175)

Auch an anderen Stellen verbindet Whitehead Elemente miteinan­ der, die in Spinozas System nicht nur nicht zusammengehören, son­ dern geradezu diametral zueinander in Opposition stehen. Während die Modi als die mundanen Singularitäten zum einen am ehesten Whiteheads wirklichen Einzelwesen entsprechen, sind sie zum ande­ ren dadurch, dass sie in ihrem Sein wie in ihrem Tun von anderen Modi determiniert sind, von der Bestimmung der Substanz, von sich selbst determiniert zu sein, ausgeschlossen. In Whiteheads Fassung werden just diese beiden Momente – ein wirkliches Einzelwesen zu sein einerseits, Ursache seiner selbst zu sein andererseits – in Eins gesetzt.34 Dabei nimmt er den Umweg über die Zweckursäch­ lichkeit, die er an die Stelle der spinozistischen Selbstverursachung treten lässt.35 Man kann nicht umhin, die befremdliche Terminologie festzustellen, derer Whitehead sich angesichts der spinozistisch-sub­ Vgl. PR, 150/282: »Ein wirkliches Einzelwesen ist zugleich das Produkt der wirkenden Vergangenheit und, mit Spinozas Ausdruck, causa sui. Jede Philosophie anerkennt in der einen oder der anderen Form diesen Faktor der Selbst-Verursachung in dem, was sie als eine elementare wirkliche Tatsache auffaßt.« 35 Vgl. PR, 222/406: »Diese Zweckursache ist ein dem Empfinden inhärentes Element, das die Einheit dieses Empfindens begründet. Ein wirkliches Einzelwesen empfindet so wie es empfindet, um das wirkliche Einzelwesen zu sein, das es ist. Auf 34

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stantiellen causa sui befleißigt. Es ist die Rede von der Entscheidung, die ein ›wirkliches Einzelwesen‹ trifft; von einer vergangenen Zeit, von der Final- oder Zweckursache. Alle diese Faktoren machen das wirkliche Einzelwesen zur causa sui, zur Substanz im Sinne Spinozas. Whitehead führt damit mehrere Momente in den Substanzbegriff ein, die die Ethica geradewegs daraus auszuschließen sucht, wie ein Blick in das Werk zeigt: Handlungsfreiheit hat Spinoza zufolge nichts mit Entscheidung, sondern einzig und allein mit dem Determiniert-Sein aus der eigenen Natur heraus zu tun;36 ein fakultativer Wille, der sich für oder gegen etwas entscheidet, ist ein verworrener Allgemein­ begriff;37 Zeit wird aus der Substanz bzw. Gott ausgeschlossen;38 Zweckursachen werden dem Gespött preisgegeben.39 Offensichtlich eignet Whitehead sich das Gedankengut seines Vorgängers auf recht phantasievolle Weise an. Wie ist eine solche Operation zu bewerten, wie müssen diese und andere hier vorgestellte Manöver im Theorie­ feld einsortiert werden? Die abschließenden Darlegungen versuchen die Stärken wie auch die Schwächen der gesichteten Spinoza-Rezep­ tion abzuschätzen.

diese Weise erfüllt ein wirkliches Einzelwesen Spinozas Begriff der Substanz: es ist causa sui.« 36 Vgl. Spinoza, Ethik, E1df7: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Not­ wendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird[.]«. 37 Vgl. ibid., E2p48s: »In gleicher Weise läßt sich beweisen, daß es im Geist kein unbedingtes Vermögen einzusehen, zu begehren, zu lieben usw. gibt. Daraus folgt, daß diese und ähnliche Vermögen entweder reine Einbildungen oder nichts als metaphysische Entitäten sind, anders formuliert nichts als Allgemeinbegriffe, die wir aus besonderen Dingen zu bilden gewohnt sind. So haben Verstand und Wille zu dieser und jener Idee oder zu diesem und jenem Wollen denselben Bezug wie Steinheit zu diesem oder jenem Stein oder wie Mensch zu Peter und Paul.« 38 Vgl. ibid., E1p19d: »Gott ist nämlich (nach Definition 6) eine Substanz, die (nach Lehrsatz 11) notwendigerweise existiert, d.h. (nach Lehrsatz 7) zu deren Natur es gehört zu existieren, oder (was dasselbe ist) aus dessen Definition folgt, daß er existiert; mithin ist er (nach Definition 8) ewig.« 39 Vgl. ibid., E1app: »Da alle Vorurteile, die ich hier zu besprechen gedenke, von dem einen abhängen, daß nämlich die Menschen gewöhnlich annehmen, alle natürlichen Dinge handelten, wie sie selbst, um eines Zweckes willen, und sogar für ausgemacht halten, Gott selbst leite alles auf irgendeinen Zweck hin – sagen sie doch, Gott habe alles um des Menschen willen gemacht, den Menschen aber, damit dieser ihn verehre –, so will ich vor allem dies eine Vorurteil in Augenschein nehmen.«

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IV. Die Vergegenwärtigung der Philosophie Spinozas durch Russell und Whitehead und ihre Grenzen Nacheinander sollen die Einsatzpunkte Russells und Whiteheads nochmals durchlaufen werden, allerdings wechselt das Register, indem die in ihren Schriften vorgenommenen philosophiehistori­ schen Einordnungen des Spinozismus einem Vergleich mit Deutun­ gen von Seiten Dritter unterzogen werden. Dies rückt einige zentrale Aspekte des Rationalismus wieder gerade. Die Verschreibungen und Verzeichnungen, denen Spinozas geistiges Bild sowohl bei Russell als auch bei Whitehead unterliegt, treten hervor. Zunächst zu dem beide gleichermaßen interessierenden Punkt, dem Subjekt-Prädikat-Schema. Mehreres spricht gegen die Annahme, dass Spinoza latent oder manifest davon Gebrauch gemacht hätte – von der trivialen Feststellung, dass Spinozas Sätze sich bestimmter grammatikalischer Figuren bedienen, einmal abgese­ hen. Wie bereits Wolfson festgestellt hat, taucht der Subjektbegriff bei Spinoza an keiner Stelle auf.40 Das Verdachtsmoment richtet sich daher auf den Substanzbegriff als einen, dem etwas auf eine Art und Weise zugehört, für das die Inhärenz der Prädikate im Subjekt vorbild­ lich ist. Russell denkt dieses Etwas als qualitative Bestimmtheit: Similarly we assign qualities to Peter: we say he is wise and tall and blond and so on. All these qualities, we feel, cannot subsist in themselves in the void, but only when there is a subject to which they belong; but Peter would remain Peter even if he became foolish or short or dyed his hair. Thus Peter, who is regarded as a ›substance‹, is self-subsistent as compared with his qualities and states, and he preserves his substantial identity throughout all sorts of changes.41

Erklärungsbedürftig ist, was Russell bei der Rede von den Qualitä­ ten im Sinn hat: Attribute oder Modi, die Spinoza anders als sein Vorgänger Descartes ontologisch unterscheidet. Descartes hat eine semantische, keine ontologische Differenzierung im Sinn, wenn er ›Modus‹, ›Qualität‹ und ›Attribut‹ als synonyme, lediglich hinsicht­ lich des weiteren Zusammenhangs zu unterscheidende Ausdrücke definiert.42 Der einzige Hinweis, den Russell gibt, betrifft die Zuge­ 40 41 42

Vgl. Wolfson (1960), S. 72. Russell (1927), S. 254. Vgl. Descartes, Prinzipien, S. 61.

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hörigkeit zu einem Subjekt – und damit dasjenige, was Descartes zufolge das Attribut ausmacht.43 Im Kontext von Spinozas System verfängt die Unterstellung, mit den Qualitäten könnten die Attribute gemeint sein, jedoch keineswegs, weil die Attribute der Substanz nicht wie Teile einem Ganzen zugehören.44 Ein ›Mehrwert‹ kommt der Substanz gegenüber den Attributen einzig dadurch zu, dass Spinozas Ethica zufolge in substantieller Essenz die Existenz eingeschlossen liegt, was von den Attributen nicht gilt.45 Weiterhin: Die Attribute stehen selbst in keinerlei Relation zueinander, sie sind vielmehr durch Beziehungslosigkeit ausgezeichnet.46 Es geht daher nicht an, sie mit Eigenschaften zu vergleichen, z.B. den personalen Eigenschaften Peters, die sich im Gegenteil dadurch auszeichnen, einander wechsel­ seitig zu ergänzen, zusammen ein ›stimmiges‹ Bild Peters zu ergeben. Die Gleichsetzung der Attribute mit Qualitäten verfängt nicht. Spinoza zufolge zeichnen sich einzig Modi dadurch aus, in etwas anderem zu sein und durch dieses andere auch begriffen zu werden.47 Damit drängt sich die Frage auf, ob sich Russells Kriterium, einem Subjekt bzw. einer Substanz zuzugehören, auf die spinozistischen Modi anwenden lässt. Russell denkt die Qualitäten Geisteskraft, Größe und Haarfarbe als kontingente Modifikationen des Subjekts bzw. der Substanz ›Peter‹. Es besteht keine Notwendigkeit, spezifi­ sche Modifikationen (vernünftig, groß, blond) an Peter vorzufinden, andere kämen genauso in Frage. Gerade dadurch, von derartigen Kontingenzen nicht betroffen zu sein, hebt sich Peters Substanzialität ab. Spinoza folgt jedoch Descartes darin, den Wechsel der Zustände als sekundäres, nachrangiges Kriterium abzutun, und zwar für die 43 Descartes redet zwar von ›Substanz‹ und nicht von ›Subjekt‹, doch es ist, wie gesagt, der wesentliche Kritikpunkt Russells und Whiteheads am Subjekt-PrädikatSchema, dass die Rationalisten Substanz und Subjekt zusammenziehen. 44 Vgl. Macherey (1990), S. 125. 45 Vgl. Spinoza, Ethik, E1p7d: »[I]hre [der Substanz] Essenz schließt notwendiger­ weise Existenz ein, anders formuliert, zu ihrer Natur gehört es zu existieren.« 46 Vgl. Gueroult (1968), S. 70, zitiert nach Braun (2017), S. 160, Fn. 465: »[J]edes von ihnen [von den Attributen] ist die Affirmation einer unendlichen Vollkommenheit, umschlossen von einer Unendlichkeit anderer unendlicher Affirmationen, die ihr fremd sind, zu denen sie sich jedoch verbunden sieht in Gott und durch Gott, insofern dieser eine unendlich unendliche Natur hat.« Einzig auf substantieller Ebene also eignet ihnen Verbundenheit, nicht auf ihrer eigenen. 47 Vgl. Spinoza, Ethik, E1df5: »Unter Modus verstehe ich die Affektionen einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.«

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Beschreibung der Modi selbst, nicht allein der Substanz. Von den Modifikationen Peters bleiben nur diejenigen übrig, die sie als zuge­ hörig zu Ausdehnung oder Denken erkennen lassen, d.h., an den Modi interessiert nichts als ihr Attribut.48 Theorietechnisch wird man von den Modi an die Attribute zurückverwiesen. Letztere konzipiert Spinoza auf einem Abstraktionsniveau, das sie von ihrem Substrat ununterscheidbar macht, womit die Frage nach dem, was ihnen zugrunde liegt, leerläuft.49 Die Substanz Spinozas ist also, anders als Russell meint, nichts, was irgendetwas anderem als Grundlage dient, sie bürgt vielmehr dafür, die Attributssphären nicht auseinanderfallen zu lassen. Um dies auszudrücken, bedient Spinoza sich der distinctio formalis seines Vorgängers Duns Scotus, die die Attribute zwar unter­ scheidet, allerdings ohne dass dies zu einer realen Trennung zwischen ihnen und damit auch zu unterschiedlichen Substanzen führen würde. Russell übersieht die scholastische Unterscheidungskunst, die in der Ethica am Werk ist. Der distinctio formalis gelingt die paradoxe Ope­ ration, die Einheit dessen wiederzugeben, was sie unterscheidet.50 Das, worin die Modi Spinozas Ethica zufolge in E1df5 sind, ist zugleich das, wodurch sie begriffen werden; eine Erweiterung, die keinesfalls unterschlagen werden darf, besonders, wenn man die Komplementarität dieser Definition zu der vorherigen Definition in E1df3 bedenkt, welche das Durchsichbegriffenwerden der Substanz eigens betont.51 Dieses Kriterium (per se concipi) teilt die Substanz jedoch mit den Attributen.52 Die Komplexität der spinozistischen Ver­ hältnisbestimmung von Substanz, Attribut und Modus kann daher keinesfalls auf dem Niveau der sog. Containermetapher eingefangen werden. Die Indizien deuten darauf hin, dass das Verhältnis von Modus und Substanz nicht mit der klassischen Inhärenzrelation nach dem Subjekt-Prädikat-Schema verwechselt werden darf. Spinoza will nicht sagen, dass qualitative Bestimmtheiten der Substanz wie die wechselnden Prädikate einem persistierenden Subjekt zugehören. Vielmehr möchte er bereits auf der Ebene der Modi auf das hinaus, 48 Vgl. Descartes, Meditationen, S. 32–35. Dass Spinoza als Attribut bezeichnet, was Descartes eine a se seiende Substanz nennt, sei außen vor gelassen. 49 Vgl. Bennett (1984), S. 63. 50 Vgl. Deleuze (1993), S. 57–61. 51 Vgl. Spinoza, Ethik, E1df3: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet wird.« 52 Vgl. Cramer (1977).

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was sich in allem Wechsel durchhält, von dem her alle Veränderung als abgeleitetes Symptom verständlich wird. Descartes hat in der zweiten seiner Meditationen anhand des schmelzenden Wachses einen Purifizierungsprozess von den sekundären zu den primären Eigenschaften beschrieben, der auch das Verhältnis von Wechselndem und Persistierendem gegenüber der traditionellen Philosophie neu fasst. Spinozas Modi, seine Attribute und die Substanz müssen in diesem Kontext verstanden werden, nicht in dem der aristotelischen Antike. Kurz: Auch dann, wenn man unter Russells qualities Spinozas Modi begreift, läuft die an die Ethica adressierte Supposition, ein Schema von Subjekt/Substanz und Prädikat/Modus zu gebrauchen, ins Leere. Der Deduktionsanspruch, den Russell Spinoza unterstellt, ent­ puppt sich bei genauerem Hinschauen ebenfalls als fragwürdig. Rus­ sell macht die Inkompatibilität von Spinozismus und Wissenschaft daran fest, dass wissenschaftliche Fakten nicht logisch deduziert, sondern empirisch induziert werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass Spinoza weder die Unterscheidungen von Induktion und Deduktion noch die von Tatsachenerkenntnis und Vernunftwahrheiten derartig strikt handhabt. Er skizziert seinem Briefpartner Boyle, einem experi­ mentierfreudigen Naturwissenschaftler, eine Position, die heutzutage unter dem Stichwort theory-ladenness firmiert. Spinoza gesteht den Experimenten Boyles nur dann eine erklärende Wirkung zu, »wenn man vorher die mechanischen Grundsätze der Philosophie kennt und weiß, daß alle körperlichen Veränderungen nach den Gesetzen der Mechanik erfolgen«53. Aus empirischer Erfahrung allein lassen sich diese Einsichten nicht erzielen. Das Experiment nimmt nicht allein die Kraft des Verstandes in Anspruch – es ist kein experimentum mentis –, sondern Erfahrungen in sich auf. Es geht bei naturwissenschaftlich gewonnener Empirie um ›gesuchte‹ Zufälle im Sinne Bacons.54 Wis­ sen über Neues, über noch unbekannte Sachverhalte, ist weder aus Spinoza, Briefwechsel, Ep. 13. Vgl. Goldenbaum (1991), S. 101 f., Fn. 59; nach Oldenburgs Mitteilung in Ep 11 hat Boyle sich Bacons Methode zu eigen gemacht: »Es sei außerdem ein großer Unter­ schied zwischen gelegentlichen Experimenten, bei denen man nicht weiß, was die Natur dazu beiträgt und was zufällig dazukommt, und solchen Experimenten, bei denen die bewirkenden Kräfte genau bekannt sind.« Im ersten Band von Bacons Novum Organum heißt es, dass die reine Erfahrung, wenn sie zustößt, Zufall, wenn sie dagegen gesucht wird, Experiment heißt. Vgl. den Beitrag »Experiment« von Ger­ hard Frey im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 868 ff. 53

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Gesetzes- noch aus Faktenkenntnis allein zu generieren, da beispiels­ weise die Feststellung, dass die Sonne »über 600 Erddurchmesser von uns entfernt ist«55, genauso vom optischen Gesetz, dass Körper umso kleiner erscheinen, je größer ihre Distanz zum Betrachter ist, wie von den empirischen Untersuchungen der Astronomen über die Entfernungen im Universum abhängt. Das Beispiel zeigt, dass dann, wenn wir aus eigenen Forschungen oder vom Hörensagen keine Erfahrungen aufnehmen würden – z.B. dass die Sonne viel weiter weg ist als sie erscheint –, wir aus der Imagination, sie sei bloß 200 Fuß entfernt, nicht herausfinden könnten, selbst wenn uns die Gesetze perspektivischer Sicht bekannt wären.56 Spinozas System ist empirischer gebaut, als ihm aufgrund der geometrischen Methode gemeinhin unterstellt wird.57 Es fällt auf, dass Russell abseits des Subjekt-Prädikat-Arguments nur einen einzigen anderen Weg einschlägt, um die substanzmonis­ tische Position zu unterminieren. In seiner letzten Überblicksdarstel­ lung zur Philosophiegeschichte heißt es: »Es wird gezeigt, daß sie [die Substanz] unendlich sein muß, sonst würden ihre Begrenzungen Einfluß auf sie haben.«58 Eine Rekapitulation der spinozistischen Got­ tesbeweise lässt nur eine Stelle als Beleg in Frage kommen: den achten Lehrsatz des ersten Buchs der Ethica, insbesondere dessen erste Anmerkung.59 Spinoza scheint sich mit seinen Beweisen der Existenz Gottes in die anselmische Tradition einzureihen, die Gott unter dem Gedanken eines ens perfectissimum einbegreift. Zu Gott als höchst vollkommenem Wesen gehört, das zu sein, »über das hinaus Größeres Spinoza, Ethik, E2p35s. Vgl. Curley (1979), S. 46 f. 57 Vgl. Hirschberger (1980), S. 132: »Spinoza hat seine Substanzmetaphysik nicht, wie oft behauptet wurde und eine flüchtige Beobachtung seiner Methode in der Ethik es auch nahelegen könnte, so konstruiert, daß er [...] seine Alleinheitsanschauungen von oben nach unten voranschreitend, mit Hilfe rein logischer Folgerungen alles Wei­ tere dekretiert hätte, im Widerspruch natürlich mit der vielberufenen Erfahrung. Tat­ sächlich ging sein Weg genau umgekehrt. Er sah die Erfahrung und ihre Konkretheit so gut wie jeder Empiriker. Aber er sah noch mehr, nämlich die Bedingungen der Erfahrung und alles Einzelnen, und diese ontologischen Gründe herauszustellen ist das Unternehmen seiner Metaphysik.« 58 Russell (1995), S. 273. 59 Vgl. Spinoza, Ethik, E1p8s1: »Weil endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist und unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur, folgt allein schon aus Lehrsatz 7, daß jede Substanz unendlich sein muß.« Zur Ergänzung: 1p7 gibt an, dass es zur Essenz einer Substanz gehört, zu existieren. 55

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nicht gedacht werden kann«60. Auch die Tatsache, dass Spinoza ein substantiell-»unbedingt[es]« (absolute) Unendliches, Gott, einem »in seiner Gattung«61 (in suo genere) Unendlichen, dem Attribut, kon­ trastiert, könnte zur Abstützung dieser Interpretation herangezogen werden. Selbiger Befund stünde jedoch mit einer weiteren Behaup­ tung Spinozas in Spannung, die in einem Brief an Tschirnhaus unter Verweis auf die Ethica aufgestellt wird und die Überlegenheit seiner genetischen Substanzdefinition gegenüber einer solchen konstatiert, die Existenz und Notwendigkeit Gottes einzig über die Definition eines vollkommenen Wesens laufen lässt.62 Um das Unendliche zu verstehen, sei es vielmehr nötig, es als genetischen Prozess und nicht als etwas Vorliegendes zu fassen. Die Affirmation unendlicher Existenz würde nur unvollständig begriffen, wenn man den an anderer Stelle eröffneten Weg gehen und das Unendliche als etwas auslegen würde, das seine Existenz genauso mit Notwendigkeit einschließt, wie eine Chimäre ihre Existenz mit Notwendigkeit ausschließt.63 Vielmehr ist Gueroult zu folgen und die Spontaneität des causa sui-Seins hinzuzufügen, die mit Gottes Not­ wendigkeit zusammenfällt.64 Das Unendliche ist keines, das schon vorliegt (generatum), sondern der »faҫon dont il se produit (per generationem)« gleich, es ist »infinie en acte«.65 Russell übersieht, dass Spinoza das Argument lediglich in einem Scholium, d.h. einer reinen Ergänzung, unterbringt. Die Anmerkungen und Corrolarien, die den ›eigentlichen‹ Beweisgang flankieren, können in besonderem

60 Anselm von Canterbury (2005), S. 27. Vgl. den Beitrag »Vollkommenheit« von Thomas Sören Hoffmann im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 1120. 61 Spinoza, Ethik, E1df6expl. 62 Vgl. Spinoza, Briefwechsel, Ep. 60 sowie Spinoza, Ethik, E1df6: »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d.h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz aus­ drückt.« 63 Vgl. Spinoza, Ethik, E1p8s1. 64 Vgl. ibid., E1p17c2: »Es folgt zweitens, daß allein Gott eine freie Ursache ist. Allein Gott existiert nämlich aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur (nach Lehrsatz 11 und Folgesatz 1 zu Lehrsatz 14), und allein er handelt aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur (nach vorigem Lehrsatz). Mithin ist (nach Definition 7) allein er eine freie Ursache.« 65 Gueroult (1968), S. 71 f.

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Maße als Dialogofferten des Autors an seine Leser bzw. potentiellen Diskussionspartner einsortiert werden.66 Russells Deutung des Monismus der Substanz hält damit einer genaueren Betrachtung nicht stand. Wie sieht es dagegen mit der von Whitehead vorgenommenen aus? Auch hier steht zunächst das Subjekt-Prädikat-Schema im Vordergrund. Whitehead benutzt es, um den rationalistischen Substanzbegriff in die empiristisch kriti­ sierte Reihe eines ›know not what‹ zu stellen. Locke ging ihm darin voran. Gueroult zufolge entgeht Spinoza jedoch konzeptuell diesen Fallstricken, denn die attributiv erfüllte Substanz ist so wenig ein ens simplicissimum wie ein ens perfectissimum: Gott [d.h. die Substanz] ist also ein buntes ens realissimum, nicht ein reines ens simplicissimum, unaussprechlich und unbeschreiblich, wo alle Unterschiede sich auflösen würden. Es gibt also keinen anderen einfachen Begriff als den der prima elementa, aus denen er zusammen­ gesetzt ist, das heißt aus seinen Attributen, die, jedes durch eine einzige Art, zu sein, definiert, keine konstituierenden Elemente beinhalten und von denen jedes in sich selbst eine einfache homogene Sache ist. Gott ist im Gegenteil […] ein komplexer Begriff, weil man ihn mittels dieser prima elementa konstruieren kann, die Objekte einfacher Begriffe sind.67

Whiteheads Blick auf die Rationalisten verdankt sich in weiten Teilen seinem Vorgänger Locke; die Einflüsse des Empirismus erweisen sich als zu stark, um Spinozas Verständnis der Substanz aufzudecken; ihrem negativ erfüllten Sinn, der über den Ausschluss des Verursacht­ seins der die Substanz zusammensetzenden Attribute durch irgend­ etwas anderes erfolgt68, wird Whitehead nicht gerecht; er verfehlt darüber hinaus die Traglast, die der sechsten Definition im ersten Buch der Ethica, dem ontologischen Grundgerüst, zukommt. Sein weiteres Manöver, die Umschrift der causa sui zur self-cau­ sation, verdient eine abschließende Betrachtung. Darauf, dass mit Entscheidung, Zeit und Finalität Größen in die spinozistische Meta­ physik Einzug halten, die dieser fremd sind, wurde bereits hingewie­ sen. Bei einer Metaphysik, die in dem Maße auf Prozessualität abstellt 66 Diese Deutung machte erstmals Schnepf (1996) stark; vgl. auch Schnepf (2003). Schnepf beschränkt seine These nicht auf Scholien und Corrolarien. 67 Gueroult (1968), S. 234, zitiert nach Braun (2017), S. 178; kritisch dazu Macherey (1990), S. 125 ff. 68 Vgl. Walther (1971), S. 32–42.

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wie diejenige Whiteheads, verwundert es nicht, wenn der Faktor Zeit als konstitutives Moment in das Werden bzw. die concrescence des Universums einbezogen wird. Denn dass sich im Kontext von Prozeß und Realität nicht anders von Entscheidung reden lässt als temporal, verdeutlicht Rohmer in seiner Studie zu Whitehead: Wenn eine aktuale Entität aber diese Unentschiedenheit entscheidet, also frei entscheidet, ob sie einst Z gewesen sein wird, – bevor Z noch jemals war – dann muß ihr begrifflicher Pol doch auch etwas für seine Entscheidung für oder gegen Z zur Grundlage gehabt haben. Und diese Grundlage ist eben Whitehead zufolge die reine Möglichkeit von Z, die zukünftige Möglichkeit, daß Z einst gewesen sein könnte[.]69

Etwas wird, was es ist: diese bekannte Formel Nietzsches kann Whitehead untergeschoben werden – und wird es auch.70 Whitehead fügt Spinozas Konzept einer causa sui Elemente ein, die auf ein Verschreiben derselben deuten. Zu untersuchen ist, ob die Verschie­ bungen und Verzerrungen, denen das rezipierte Werk unterliegt, im vertretbaren Rahmen bleiben oder nicht. Letztlich stellt es ein Grundmotiv des hermeneutischen Verdachts dar, dass die zweiein­ halb Jahrhunderte, die die beiden Denker Spinoza und Whitehead voneinander trennen, gar nicht verlustlos überbrückt werden können. Anders formuliert: Es geht nicht nur etwas verloren, es wird auch etwas gewonnen, wenn eine vorhergehende Philosophie ins Visier einer ihr nachfolgenden gerät. Missverständnisse müssen zwar nicht, können aber produktiv sein.71 69 Rohmer (2000), S. 157 f. »Aktuale Entität« steht hier für »wirkliches Einzelwesen« (actual entity). 70 Vgl. ibid., S. 176: »Insofern das Universum sich einerseits selbst voraussetzt und andererseits im Einholen dieses sich-vorausgesetzten Realgrundes ideell immer erst wird, was es ist, ist Nexus nur ein anderer Ausdruck für die Kontinuität der spezifi­ schen Einheit des Universums, welches sich durch die Unterschiedenheit von einzel­ nen Ereignissen herstellt bzw. fortpflanzt.« 71 Vgl. Schröder (1987), S. 18, Fn. 27: »Die Frage nach der Angemessenheit der jewei­ ligen Rezeption muß gestellt werden, da ermittelt werden soll, ob Spinozas Philoso­ phie in ihrer authentischen Gestalt oder aber transformiert und (gegebenenfalls fruchtbar) mißverstanden in der Folgezeit wirksam war. [...] In Bezug auf die Spino­ zarenaissance der 1780er Jahre ist die Frage nach der ›Richtigkeit‹ der Rezeption allerdings von zweitrangiger Bedeutung, wenn nicht gar deplaziert: Der historische Abstand Herders und seiner Zeitgenossen von Spinoza und die völlige Verschieden­ heit der Problemhorizonte läßt Akzentverschiebungen und Mißverständnisse von vornherein erwarten. Mit Beispielen einer Rezeption im engeren Sinne ist in der Lite­ ratur dieser Zeit kaum zu rechnen. Zu Recht wird m.E. stattdessen häufig von der

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Luhmann ist das Verdienst zuzuschreiben, Whitehead und Spi­ noza unter dem Gesichtspunkt ihrer Stellung zu den Konzepten Teleologie, Werden und Zeitlichkeit einander angenähert zu haben. Sein Gedanke ist, in abgekürzter Form, der, dass teleologisches, auf Finalursachen bezogenes Denken im Übergang zum mechanis­ tischen Weltbild nicht einfach verschwindet, sondern durch funktio­ nale Äquivalente, z.B. Dichotomisierung in Form qualitativer Duale oder binärer Schematismen, aufgefangen wird.72 Spinoza stellt zwar einerseits von Final- auf Wirkursachen um, adaptiert die Asymmetri­ sierungsleistung teleologischer Modelle aber andererseits dadurch, dass er zwei funktionsäquivalente Strategien der Unterbrechung von Selbstreferenz, Zwecke und Binarität, miteinander kombiniert.73 Das andere Mittel, das Spinoza die von causa sui und conatus perseve­ randi apostrophierte Selbstreferenz zu unterbrechen hilft, ist die Spinoza-Renaissance im späten 18. Jahrhundert gesprochen; denn der Begriff der Renaissance konnotiert das Mißlingen des Versuchs, historische Distanz zu überbrü­ cken: Die Skulptur des Praxiteles wurde ebensowenig in der Donatellos wiedergebo­ ren, wie Herders ›Gott‹ Spinozas ›Deus‹ zu neuem Leben erweckte, so daß weniger nach der Korrektheit der Reproduktion spinozanischer Theoreme als vielmehr nach der Fruchtbarkeit der (kaum vermeidlichen) Mißverständnisse und Transformationen zu fragen ist.« 72 Vgl. Luhmann (1981), S. 37–40, zur Rekapitulation dieses Zusammenhangs: Reine, pure Selbstreferenz droht durch ihr In-sich-selbst-Kreisen in einen circulus vitiosus zu verfallen, den Luhmann unproduktiv nennt. Ein solcher Zirkel erklärt nicht, wie Neues in die Welt kommt, wie Information entsteht. Der Kommunikationstheo­ retiker hat aber davon auszugehen, dass informative Werte existieren. Das Vorliegen von Information muss folglich erklärt werden können; auf der Basis von Selbstreferenz kann es sie aber nur geben, wenn Selbstreferenz abgebrochen wird. Damit ist die sys­ temische Nahtstelle von Selbstreferenz und Teleologie markiert. Teleologie erfüllte über Jahrtausende die Funktion, selbstreferentielle Zirkel zu vermeiden. Zweckdenken funktionierte, indem es Symmetrie aufbrach. Diese Funktion zu erfüllen, so Luhmanns Pointe, gelingt aber ebenso über Dichotomisierungen, wie sie ausgegliederte Teilsys­ teme wie Recht, Wissenschaft, Kunst etc. in Form binärer Schematismen anbieten: Recht (und nicht unrecht), wahr (und nicht falsch), schön (und nicht hässlich) etc. Sie stellen sich als »funktional äquivalente Strategien der Behandlung des Grundproblems der Selbstreferenz« dar, sie genügen den Bedingungen für Störung und Asymmetri­ sierung der Interdependenz, »daß dritte Möglichkeiten ausgeschlossen und der Durch­ griff auf die Einheit der Dichotomie unterbunden« werden. 73 Vgl. Luhmann (1981), S. 40, zu Spinoza, Ethica, E1app: »Die Projektion solcher Zweckursachen als Intentionen Gottes führe nur zu Enttäuschungen, die dann mit binären Schematismen wie gut und böse, Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ord­ nung und Verwirrung, Schönheit und Hässlichkeit, aufgefangen würden. Aber weder die Indirektheit des zum Teil scheiternden Wirkens auf Zwecke hin noch diese Duale seien mit einem adäquaten Begriff Gottes vereinbar.«

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Zeit, die allerdings eine Zeit der Modi, keine der Substanz ist.74 Die Spinoza-Forschung hat Luhmanns theoretische Intuitionen mitt­ lerweile bestätigt. Insbesondere Kisser hat gezeigt, dass ein jeder Modus, folglich auch ein jeder conatus perseverandi, immer an etwas vorkommt, das notwendig in Kontakt mit seiner Umwelt steht. Auf diese Weise entfaltet sich Selbstreferenz, verzeitlicht sich modal die substantielle Zeitlosigkeit.75 Was Luhmann hier aber vor allem anderen relevant werden lässt, ist dessen Anlehnung an Whitehead im Zuge des Nachdenkens über Verzeitlichungsstrukturen und die teleologischen Rudimente eines jeden Handlungsvollzugs bzw. kommunikativen Aktes.76 Whiteheads kosmologischer Entwurf wird auf ein Mindestmaß an Teleologie heruntergebrochen, Kommunikation bzw. Handlung wird ein Mini­ malsinn an Zukunftsbezug injiziert, der zwar gegenüber den klassisch finalursächlichen und physikotheologischen Konzeptionen enttäu­ schen muss, dafür aber die Nähe zu den Phänomenen wahrt.77 In der Whitehead-Forschung kann neuerdings Ähnliches beobachtet wer­ den. So geht es Sölch darum zu zeigen, inwiefern »die von Whitehead selbst vorgenommene Differenzierung zwischen subjektiver Form und subjektivem Ziel«78 verschwimmt, womit auch die in der Ziel­ vorstellung mitgeführte Zukunftsantizipation luhmannesk in den Bereich des präsentisch-perspektivischen Erlebens gleichsam hinein­ gezogen wird. Weiterhin ist zugunsten des luhmannschen Zusam­ mendenkens von Whitehead und Spinoza anzuführen, dass der Ent­ 74 Vgl. Luhmann (1981), S. 32 f.: »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, verschiedene semantische Formen der Asymmetrisierung und in diesem Sinne also verschieden­ artige (aber funktional äquivalente) Interdependenzunterbrecher. Einer der wichtigs­ ten ist die Zeit. Die reine Selbstreferenz kennt, wie der conatus perseverandi Spinozas, aus sich heraus keine Zeitgrenze, also auch keine Finalität. Sie hat in sich selbst keinen Grund aufzuhören. Sie temporalisiert sich erst auf Grund der Notwendigkeit eines Umweltkontaktes. Wenn sich aber Zeit als irreversibel aufdrängt und sie darüber hinaus kausal strukturiert wird, gilt: daß die Wirkung von der Ursache, aber nicht die Ursache von der Wirkung abhängt. Eine etwaige Rückwirkung trifft die Ausgangslage an einer anderen Zeitstelle und somit als eine andere.« 75 Vgl. Kisser (1998), S. 98–103. 76 Vgl. Luhmann (1984), S. 393 ff. 77 Vgl. Luhmann (1984), S. 382–392, mit einer Fülle alltäglicher Beispiele. 78 Sölch (2014), S. 252; vgl. ibid.: »Zwar ist die Form die Art und Weise, in der ein physisches Empfinden von einem wirklichen Einzelwesen empfunden wird, während die Synthese von bedingter Herkunft und antizipierter Zukunft durch das Ziel bestimmt wird; doch das spezifische Wie des Erfassens stellt als individuelle Perspek­ tive bereits ein Was dar, das sich von allen anderen Perspektiven unterscheidet.«

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wurf einer Kosmologie ebenfalls wiederholt qualitative Duale wie z.B. ›wirkliches Einzelwesen‹/›zeitloser Gegenstand‹, ›kausale Wirk­ samkeit‹/›vergegenwärtigende Unmittelbarkeit‹, ›physische Empfin­ dungen‹/›begriffliche Empfindungen‹ etc. anführt und zueinander in Beziehung setzt. Die Diskrepanz zwischen Whiteheads organismischem Werden und Spinozas scheinbar statischem System lässt sich somit zu einem Teil abbauen. Deckungsgleichheit kann nicht erzielt werden, sie herzustellen, wäre auch nicht zu wünschen. Vielmehr soll deutlich geworden sein, inwiefern Whiteheads Aufnahme der spinozistischen Philosophie zwar gewisse Verschiebungen im Theoriegefüge mit sich bringt, welche jedoch erstens weder unzufällig noch zweitens unge­ rechtfertigt erfolgen. Die Systemtheorie als tertium comparationis von Substanzontologie und Prozessphilosophie kann ein gemeinsames Bezugsproblem – Selbstreferenz als causa sui resp. self-causation – aufweisen, an das sich Lösungsvorschläge anheften, die zwar ver­ schieden sind, aber auch vergleichbar. In Whiteheads Werk widerfährt der Paradoxie der causa sui eine wahre Renaissance: keine redundante Wiederholung, sondern eine informative Wiederaneignung. Zwar verdankt sich der Blick, den Whitehead auf Spinoza wirft, einer Interpretationsoptik, die die Differenz zwischen dem, was als origi­ nales Gedankengut der Ethica präsentiert wird, und dem, was sich den Eigensinnigkeiten der Organismusphilosophie verdankt, oftmals überspielt. Damit werden jedoch zugleich Momente des Spinozismus sichtbar, die andernfalls nicht zu sehen wären. Während Russells Aneignung der Ideen Spinozas von einem vereinfachten Bild des Rationalisten ausgeht und teils auf falsche Gleise führt, zeugt Whiteheads Verwendung verschiedener Denkfigu­ ren der Ethica von theoretischer Imaginationskraft. In beiden Fällen wird Spinoza übercodiert: durch das Subjekt-Prädikat-Schema, den anselmischen Gottesbeweis, nietzscheanisches Werden-was-man-ist etc. Im Unterschied zu Russell hat Whitehead jedoch ein System zur Hand, welches ihm erlaubt, Spinozas Begrifflichkeiten direkt in seine eigenen zu überführen, selbst wenn dabei bedeutende Umak­ zentuierungen zum Tragen kommen, wie hier an der Umschrift der causa sui zur self-causation gezeigt. Russell dagegen rückt seinen Vor­ gänger allein schon aus dem Grund, dass er Philosophiegeschichten schreibt, in historische Distanz. Man könnte sagen: Russell referiert, Whitehead integriert. Russells Wirkung sollte gleichwohl nicht unter­

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

schätzt werden. Er war es, der bereits zur Jahrhundertwende mit dem Subjekt-Prädikat-Schema eine Linie auszog, der Whitehead folgte.

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Die Spinoza-Rezeption bei Russell und Whitehead

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Pierfrancesco Basile

Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden

I. Einleitung Wie viele seiner Zeitgenossen nahm Whitehead an, dass Leibniz mit seiner Monadenlehre eine treffende Theorie der grundlegenden Prinzipien der Realität vorgelegt habe.1 Aber in der Annahme der prästabilierten Harmonie sah er das größte Hindernis für die Akzep­ tanz jener Theorie. In seiner metaphysischen Trilogie – Wissenschaft und moderne Welt (1925), Prozeß und Realität (1929) und Abenteuer der Ideen (1933)2 – konstruierte er eine höchst komplexe Theorie der Realität und unseres Platzes in ihr. In diesen Werken präsentierte er auch eine Analyse der Stärken und Schwächen von Leibniz’ Sys­ tem der Monaden, verbunden mit einer positiven Theorie monadi­ scher Interaktion. Whitehead war ein Mann von beeindruckender Begabung und Bildung. Außerdem hatte er das Glück, während einer Zeit, in der Naturwissenschaft und Philosophie in Cambridge aufblühten, dort zu arbeiten und in engem persönlichen Kontakt mit herausragenden Kollegen zu stehen.3 Allerdings verfügte er nicht über eine eigentli­ 1 Monadische Metaphysiken werden auch von Ward (1911) sowie Carr (1922 und 1930) befürwortet. Selbst absolute Idealisten wie Francis Herbert Bradley nehmen Leibniz dahingehend ernst, dass seine Theorie der Monaden als pluralistische Alter­ native zu ihren eigenen Varianten eines monadischen Idealismus interpretiert werden kann; vgl. Basile (2014). 2 Für ein vollständiges Verständnis von Whiteheads Metaphysik sollte man auch einige seiner kürzeren und weniger anspruchsvollen Bücher konsultieren, vor allem Wie entsteht Religion? (1926), Kulturelle Symbolisierung (1927), Die Funktion der Vernunft (1929) und Denkweisen (1938). 3 Für biographische Informationen siehe Lowe (1985 und 1990). Die kritische Edition von Whiteheads Schriften, deren erste zwei Bände bereits erschienen sind, lässt weiteres interessantes Material für den vorliegenden Zusammenhang erwarten.

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che Ausbildung als Philosoph oder als Historiker der Philosophie. Wir wissen wenig bis gar nichts über seine privaten Studien und Überlegungen. Der wertschätzende Ton in vielen Passagen4 seiner Werke legt nahe, dass er einige von Leibniz’ Schriften sorgfältig gelesen haben muss. Meines Wissens beziehen sich jedoch alle in seinem gedruckten Werk vorkommenden Anspielungen auf Leibniz ausschließlich auf die Monadologie.5 Was sein akademisches Wissen über Leibniz’ Philosophie anbe­ trifft, verdankt Whitehead dieses offenbar zwei Büchern: Einerseits Louis Couturats La Logique de Leibniz (1903), andererseits Bertrand Russells A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz (1900). Beide Denker heben hervor, wie bedeutsam Leibniz’ Logik für ein umfassendes Verständnis seiner Philosophie ist. Die Theorie der Monaden, erklärt Russell, erscheint wie eine Fabel, solange man nicht erkennt, dass sie aus wenigen simplen Annahmen folgt, deren wichtigste in der logischen Theorie besteht, nach der alle Propositio­ nen die Subjekt-Prädikat-Form aufweisen. Wie wir sehen werden, hat Russells Interpretation Whiteheads Verständnis von Leibniz’ Metaphysik entscheidend geprägt.6

4 Ein hervorzuhebendes Beispiel ist das folgende: »Leibniz erbte von seinen Vorgän­ gern das Gedankengut von zweitausend Jahren und damit wirklich mehr gedankliche Vielfalt als jeder andere vor ihm. Seine Interessen reichten von der Mathematik bis zur Theologie, von der Theologie zur politischen Philosophie, und von der politischen Philosophie zur Physik. Diese Interessen stützen sich auf profundes Lernen. Es muß noch ein Buch geschrieben werden, dessen Titel ›Leibniz’ Geist‹ lauten sollte.« (MT, 3/47 f.). 5 Von ›Anspielungen‹ ist hier insofern die Rede, als man in Whiteheads Werken eine elaborierte systematische Diskussion von Leibniz’ Theorien vergeblich sucht; alles, was Whitehead anbietet, sind sporadische Kommentare. 6 Bezugnahmen auf Leibniz finden sich auch in Russells The Principles of Mathematics (1903) – ein Buch, das Whitehead offenbar sorgfältig studierte. Ebenfalls könnte er Robert Lattas Leibniz: The Monadology and Other Philosophical Writings (1898) gelesen haben; das Buch enthält eine lange Einführung in Leibniz’ Theorien ebenso wie eine Anthologie, die sich nicht bloß auf die Monadologie und andere metaphysische Schriften beschränkt, sondern auch die Einleitung zu den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand umfasst, in der Leibniz als Phänomenologe ante litteram auftritt.

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Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden

II. Whitehead über den Niedergang der spekulativen Vernunft in der frühneuzeitlichen Wissenschaft Whitehead erklärt die aus seiner Sicht aktuelle Relevanz von Leibniz’ Metaphysik in Wissenschaft und moderne Welt. Einer der Faktoren, die den großen Wissenschaftlern des 17. und 18. Jahrhunderts ihre monu­ mentalen Entdeckungen ermöglichten, sei ihre strikte Weigerung gewesen, sich mit einfachen spekulativen Fragen zu beschäftigen. In ihren physikalischen Untersuchungen registrierten sie empirische Regularitäten und akzeptierten diese als reine Fakten. Solches Vor­ gehen rechtfertigte sich pragmatisch durch den Erfolg der Wissen­ schaften, natürliche Entwicklungen vorherzusagen. Aber für einen völlig rationalen Geist – einen, der Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes ernst nimmt – kann diese Methode nicht zufriedenstellend sein. Vernunft in ihrer höchsten Form zielt darauf ab zu verstehen; die Akzeptanz einer bloßen Regularität als factum brutum lässt sie nicht zur Ruhe kommen. In Wissenschaft und moderne Welt erörtert Whitehead das his­ torische Schicksal dieser starken Konzeption von Rationalität als der Suche nach letztmöglicher Erklärung. In demselben Kontext registriert er eine tiefe Bedeutung im gewaltsamen Tod des Renais­ sancedenkers Giordano Bruno unmittelbar vor dem Aufstieg der modernen Wissenschaften: Giordano Bruno war der Märtyrer, doch die Sache, für die er litt, war nicht die der Wissenschaft, sondern der freien, phantasievollen Spekulation. Sein Tod im Jahr 1600 kündigte das erste Jahrhundert moderner Wissenschaft im strengen Sinn des Ausdrucks an. In seiner Hinrichtung lag eine unbewußte Symbolik: Die nun folgende Stim­ mung des wissenschaftlichen Denkens war voller Mißtrauen gegen seine Art des allgemein Spekulativen. (SMW, 1/11)

Der Niedergang der spekulativen Vernunft im frühneuzeitlichen Den­ ken kann am einfachsten an der Art und Weise verdeutlicht werden, in welcher man sich der Frage nach der letztlichen Natur der Dinge annäherte. Die modernen Wissenschaften rekurrierten auf den mate­ rialistischen Atomismus als ontologisches System, das sie unkritisch aus dem Altertum übernahmen. Für den begrenzten Zweck, natürli­ che Phänomene zu ordnen und vorherzusagen, war diese Ontologie bestens geeignet. Fundamentale Fragen aber vermochte sie nicht zu beantworten.

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Pierfrancesco Basile

Auf einer materialistischen Basis ist es beispielsweise unmöglich zu verstehen, warum es lebende, erfahrungsfähige Organismen geben sollte. Die Vorstellung bewegungsloser Bestandteile von Materie enthält nichts, mittels dessen wir sehen würden, wieso sie Leben und Erfahrung hervorbringen sollten. Die gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Bestandteile von Materie zueinander können zwar als im Verlauf der Evolution zunehmend komplexer werdend wahr­ genommen werden. Das Problem, den Übergang von einem rein materiellen Aggregat zu einem lebenden, fühlenden Organismus zu verstehen, bleibt ungelöst. »[E]ine durchgängige Evolutionsphilo­ sophie« ist für Whitehead »in Wahrheit mit dem Materialismus unvereinbar [...]. Der ursprüngliche Stoff oder das Material, von dem eine materialistische Philosophie ausgeht, ist der Evolution unfähig.« (SMW, 107/130) Nach Whitehead ist es nicht möglich, Materialist zu sein und sich gleichzeitig für rational zu halten – zumindest nicht, wenn das Wort ›rational‹ in seinem tiefen, spekulativen Sinn verstanden wird. Whiteheads antimaterialistische Argumentation weist starke Ähnlichkeiten mit dem Mühlenbeispiel auf, das Leibniz in der Mona­ dologie, § 17, anführt – ein Argument, das Whiteheads Aufmerksam­ keit auf sich gezogen haben dürfte, auch wenn er es nicht explizit dis­ kutiert: Betrachte die materielle Maschine so ausgiebig du willst, vergrößere sie und tritt imaginär in sie ein; du wirst dort nichts finden, was erklärt, wieso die materielle Maschine auch denken sollte. In einem Brief vom 30. Juni 1704 an Lady Masham formuliert Leibniz, den Vorschlag Lockes kommentierend, Gott könne Materie mit einer Kraft zu denken ausstatten, selbigen Punkt sogar noch stärker: It is true that the illustrious Locke maintained in his excellent Essay [...] that God can give matter the power [force] of thinking, because he can make everything we can conceive happen. But then matter would think only by a perpetual miracle, since there is nothing in matter in itself, that is, in extension and impenetrability, from which thought could be deduced, or upon which it could be based.7

Gott könnte der Materie die Fähigkeit verleihen zu denken; die Mate­ rie könnte niemals selbstständig Denken generieren. Wieso? Wenn der Materie lediglich ihre Ausdehnung und Undurchdringlichkeit zukäme, wäre die Herkunft des Geistes aus dieser Materie eine bloße Tatsache. Wären also Materie und Geist verbunden, könnte diese 7

Leibniz (1989), S. 290, meine Hervorhebung, PB.

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Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden

Verbindung nur durch einen externen Akteur (Gott) hergestellt und auch nur in Bezug auf diesen erklärt werden: God, in the case of thinking matter, must not only give matter the capacity to think, but he must also maintain it continually by the same miracle, since this capacity has no root [racine], unless God gives matter a new nature.8

Leibniz und Whitehead beschäftigen sich beide mit dem Problem, das heute als das ›schwierige‹ Problem des Bewusstseins bekannt ist. Ihr Argument ist weitreichend: Sein Anspruch der Konsistenz führt in der einen oder anderen Weise zu der Folgerung, dass der Geist ein grundlegendes Merkmal der Realität sein muss. Die Prinzipien der Dinge können, wie Whitehead es formuliert, nicht »qualitätslose Wirklichkeit« (PR, xiii/24; 29/75) sein, also Entitäten, die vollständig ohne Geist sind. In aller Kürze lässt sich die Leibniz-Whiteheadsche Kritik am Materialismus wie folgt zusammenfassen: (1) Es muss eine Erklärung von allem, was existiert, geben, die sowohl seine Existenz selbst als auch die Art und Weise dieser Existenz umfasst. (2) Mentale Ereignisse (wie Gedanken, Erinnerungen, Sinneswahr­ nehmungen, Emotionen) existieren ohne jeden Zweifel. (3) Es gibt offensichtlich nichts im Konzept eines materiellen (bloß ausgedehnten) Atoms oder in dem der Kombination einzelner Atome zu größeren materiellen Aggregaten, das erklären könnte, wieso mentale Ereignisse existieren sollten. (4) Folglich kann der Materialismus – verstanden als die Annahme, dass nur materielle Atome wahrhaft existieren und dass alles Weitere unter Bezug auf sie erklärt werden muss – nicht das letzte Wort über die Natur der Dinge sein. Eine solche Argumentation ist natürlich nicht immun gegenüber Ein­ wänden. Es liegt nahe zu fragen, wieso (1), das Prinzip des zureichen­ den Grundes, überhaupt als erstrangig akzeptiert werden sollte (dies würde in eine komplizierte Diskussion darüber münden, was unter einer ›Erklärung‹ zu verstehen ist). Eliminative Materialisten würden (2) bestreiten wollen, während Anhänger einer Theorie radikaler Emergenz (3) ablehnen würden. Dennoch hat die Argumentation 8

Ibid., teils meine Hervorhebung, PB.

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offensichtlich eine prima facie-Plausibilität und ist ebenso gut wie andere, die in der Philosophie geläufig sind. Whitehead wusste sehr wohl, dass rein philosophische Argu­ mentationen niemals sich erfolgreich entwickelnde Wissenschaften von ihrem Kurs abbringen würden. Aber er lebte in einer Zeit wis­ senschaftlicher Revolution. Wie viele seiner Zeitgenossen – und durch seine solide naturwissenschaftliche Ausbildung, die vermut­ lich wesentlich umfassender war als die der meisten – realisierte Whitehead, dass die jüngsten Entwicklungen in der Biologie (die Theorie der Evolution) und der Physik (Quantenphysik, Relativitäts­ theorie) jede Basis für den Glauben an eine so simple Theorie der Realität wie den Materialismus des 17. Jahrhunderts zerstört hatten. Diese Theorie, so Whitehead, ist »der wissenschaftlichen Situation, in der wir uns heute befinden, ganz und gar unangemessen« (SMW, 17/29). Philosophen, so folgerte er nicht ohne polemischen Unterton, müssen sich weder auf historische Studien noch auf eine detaillierte aber sterile Analyse isolierter technischer Probleme beschränken; vielmehr sollten sie sich mit der Konstruktion eines neuen metaphy­ sischen Schemas beschäftigen (PR, xiv/26).

III. Eine fundamentale Spannung in Leibniz’ Metaphysik Das Buch, in dem Whitehead größte Sorgfalt darauf verwendet, seine neue Ontologie sowohl vollständig als auch präzise zu formulieren, ist Prozeß und Realität. »Das ist alles in allem«, sagt Whitehead dort, »die aus Leibnizens Monadologie zu ziehende Lehre. Seine Monaden stellt man sich am besten als Verallgemeinerungen der zeitgenössischen Geistesbegriffe vor.« (PR, 19/60) Es scheint natürlich, diese Passage als eine Anspielung auf ein Argument zu betrachten, das Leibniz in den ersten drei Absätzen der Monadologie entwickelt: Die Monade, von der hier die Rede sein soll, ist nichts andres, als eine einfache Substanz, die als Element in das Zusammengesetzte eingeht. Sie ist einfach, d.h. sie hat keine Teile […]. Einfache Substanzen muß es aber geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusam­ mengesetzte ist nichts andres, als eine Anhäufung, ein Aggregat der einfachen. Nun kann es da, wo gar keine Teile vorhanden sind, weder Ausdehnung, noch Gestalt noch auch eine mögliche Teilbarkeit geben.

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Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden

Die Monaden sind also die wahrhaften Atome der Natur und, mit einem Worte, die Elemente der Dinge.9

Leibniz sagt uns hier, dass die grundlegenden Prinzipien der Realität (Monaden) keine räumliche Ausdehnung besitzen können. Ausge­ dehnte Dinge sind unendlich oft teilbar, während die grundlegen­ den Konstituenten der Realität (Substanzen) keine Einzelteile haben können. Die materiellen (ausgedehnten) Atome der modernen Wis­ senschaft sind nützliche Abstraktionen, doch können sie nicht als metaphysisch grundlegend betrachtet werden. Wie Leibniz in einem Brief vom 20. Juni 1703 an de Volder schreibt, kann es Körper […] wie etwa die Atome der Demokriteer oder die vollkom­ menen Kügelchen der Cartesianer […] in der Natur nicht geben; sie sind nichts andres als unvollständige Gedankenbildungen von Philoso­ phen, die nicht tief genug in das Wesen der Dinge eingedrungen sind.10

Whitehead stimmt dieser Sichtweise zu. Nach seinem Verständnis nimmt Wissenschaft einen abstrakten Blick auf die Natur der Dinge ein. Wissenschaftliche Theorien liefern uns eine Beschreibung der strukturellen Aspekte der Realität, aber sagen nichts über die innere Natur der Dinge aus, die jene Struktur untermauern. »Die Wissen­ schaft übersieht, was etwas an sich ist. Ihre Einzelwesen werden lediglich im Hinblick auf ihre äußere Realität betrachtet, das heißt, im Hinblick auf ihre Aspekte in anderen Dingen.« (SMW, 153/179) Wis­ senschaftliche Konzepte als adäquate Charakterisierungen der Dinge zu betrachten bedeutet, das Abstrakte (d.h. das ›Unvollständige‹) mit dem Konkreten zu verwechseln – ein Fehler, den Whitehead wieder­ holt als »Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit« bezeichnet (PR, 7/39; vgl. SMW, Kap. 3). Die im vorigen Kapitel betrachtete Argumentation gegen den Materialismus, die auf dem Prinzip des zureichenden Grundes auf­ baut, ist hinsichtlich ihrer positiven metaphysischen Implikationen mehrdeutig. Die Position, der zufolge rein materielle Partikel nicht die Existenz des Geistes erklären können, zeigt, dass das Konzept von Materie als bloße Ausdehnung einer Revision bedarf. Die Argu­ mentation liefert an sich jedoch keinen Schlüssel für die erforderliche Richtigstellung. Sie ist ebenso verträglich mit der Annahme, dass 9 10

Leibniz, Monadologie §§ 1–3; vgl. Leibniz (1966), S. 435. Leibniz (1966), S. 322 f.

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(1) die grundlegenden Prinzipien der Realität sowohl eine mentale als auch eine physische Seite haben, wie auch mit der radikaleren Position, dass (2) solche Prinzipien ausschließlich mental sind.11 Das Argument zu Beginn der Monadologie scheint deutlicher metaphysi­ sche Implikationen zu haben. Um zu den grundlegenden Prinzipien der Realität zu gelangen, so scheint nun die Anweisung zu lauten, müssen wir die Ebene des Materiellen vollständig verlassen. Leibniz könnte damit so verstanden werden, dass er eine Form von panpsychischem Idealismus oder, wie man es vielleicht besser nennen sollte, Mentalismus vertrete, d.h. eine Theorie, der zufolge Monaden bewusstseinsartige Entitäten sind. Aus dieser Sicht wird in der Monadologie unser eigener Geist ein paradigmatisches Beispiel für Substanz: »Wollen wir die Bezeichnung ›Seele‹ allem geben, was in dem allgemeinen […] Sinne Perzeptionen und Begehrungen hat, so könnte man alle einfachen Substanzen oder geschaffenen Monaden Seelen nennen.«12 Leibniz’ Beschreibungen der spirituellen Monaden in der Mona­ dologie sind kurz, aber suggestiv. Jede Monade ist eine einzigartige, eigengesetzliche Synthese von Perzeptionen.13 Ihr Innenleben besteht aus fortdauernder Aktivität,14 insofern jede Monade dabei von einem inneren Streben (appetition) nach neuen Perzeptionen angetrieben wird.15 Whitehead äußert sich beifällig zu diesem Verständnis einer Monade als einer erfahrungsbasierten Prozesseinheit: »Jedes mona­ dische Gebilde ist eine Weise des Prozesses, die Welt zu ›empfinden‹, sie in einer Einheit des komplexen Empfindens unterzubringen, die in jeder Hinsicht bestimmt ist.« (PR, 80/162) Doch von seiner eigenen Metaphysik sagt er auch: »Dies ist eine Theorie der Monaden; sie unterscheidet sich aber von derjenigen Leibnizens, da sich dessen

11 Diese beiden Optionen weisen Parallelen zu einer Forschungsdebatte auf, die sich darum dreht, ob Leibniz im Hinblick auf Körper Substanzrealist oder reiner Idealist gewesen sei. Diese komplexe Debatte kann hier freilich nicht wiedergegeben werden. Whitehead selber scheint allerdings zu übersehen, dass das Konzept der Monaden auf zwei Weisen interpretiert werden könnte. 12 Leibniz, Monadologie § 19, vgl. Leibniz (1966), S. 440. 13 Vgl. Leibniz, Monadologie § 78 sowie Leibniz (1966), S. 453. 14 Vgl. Leibniz, Monadologie § 11 sowie Leibniz (1966), S. 437. 15 Vgl. Leibniz, Monadologie § 15 sowie Leibniz (1966), S. 438 f. Leibniz erklärt in dem erwähnten Brief an de Volder, dass »die wahren Begriffe der Dinge durch diese neue Philosophie, die aus bloß materiellen oder passiven Inhalten Substanzen macht, völlig auf den Kopf gestellt werden«; Leibniz (1966), S. 322.

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Monaden bewegen. In der organistischen Theorie werden sie ledig­ lich.« (PR, 80/162) An dieser Stelle ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Konzept der Bewegung bzw. Veränderung und dem Konzept des Werdens festzuhalten. Dies unterstreicht, was Whitehead als fundamentale Spannung in Leibniz’ Metaphysik auffasst: Einerseits sind Leibniz’ Monaden geistähnliche Verläufe von Erfahrung, ande­ rerseits, so Whitehead, werden sie von Leibniz in Anknüpfung an Aristoteles als Substanzen vorgestellt, denen Eigenschaften bzw. Attribute inhärieren. In dieser Konzeption bewegen bzw. verändern sich Monaden, d.h., jede Monade ist eine permanente Substanz, die alte Eigenschaften verliert und neue annimmt. Mit dieser aristotelischen Vorstellung der ontologischen Struk­ tur von Monaden ist Whitehead aus mehreren Gründen unzufrie­ den. Wie sollte es möglich sein, eine energetische Monade mittels des statischen Begriffs eines zugrundeliegenden Trägers einzufan­ gen? Der Begriff einer Substanz als Träger von Eigenschaften steht im Widerspruch zu Leibniz’ anderer fundamentaler Idee, nach der eine Substanz wesentlich ein zu Aktivität fähiges Seiendes ist. Und wie sollten Kategorien wie ›Substanz‹ und ›Eigenschaft‹ überhaupt dazu dienen können, immaterielles Seiendes zu beschreiben? Diese Kategorien wurden von einfachen Menschen in einfachen Zeiten entwickelt, um mit gewöhnlichen materiellen Objekten wie Steinen, Bäumen und Bergen umgehen zu können. Diese Konzepte haben zwar einen großen praktischen Nutzen, aber intendieren keine tiefe ontologische Bedeutsamkeit. Das größte Hindernis dabei, Monaden als Substanzen zu verste­ hen, liegt für Whitehead aber in ihrer erfahrungsbasierten Natur. Die Vorstellung von Monaden, die eine Perspektive verkörpern, ist ein durch und durch relationales Konzept. Wir erfahren die Welt, indem wir Aspekte aufgreifen und sie zu der Einheit einer neuen Perspek­ tive integrieren. Für Whitehead muss dieser Prozess eine Art von wirklicher Beziehung zwischen erfahrendem Subjekt und erfahrenem Objekt beinhalten. Aber in einem metaphysischen Schema, das ledig­ lich die Existenz von Eigenschaften und ihnen zugrundeliegenden Trägern anerkennt, ist für Relationen kein Platz. Innerhalb eines solchen Schemas, diagnostiziert Whitehead, kol­ labiere die Realität zu einer Pluralität aus voneinander isolierten Sub­ stanzen:

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Die Lehre von der individuellen Unabhängigkeit realer Tatsachen hat ihren Ursprung in der Vorstellung, daß die Subjekt-Prädikat-Form der Darstellung eine metaphysisch grundlegende Wahrheit vermittelt. (PR, 137/260)

Aus Whiteheads Sicht hat Leibniz also die Wahrheit über die letzten Konstituenten unserer Realität erkannt, doch fehlt ihm die Begriff­ lichkeit, um sie auszudrücken. Schlimmer noch, die Konzepte, auf die er zurückgreift – die Begriffe einer Substanz und ihrer Eigen­ schaften –, implizieren einen metaphysischen Standpunkt, der das genaue Gegenteil von demjenigen ist, den er ausdrücken möchte. Diese aristotelischen Begriffe betonen die Permanenz gegenüber der Bewegung, Trägheit gegenüber Aktivität und, für die vorliegenden Ausführungen besonders wichtig, gegenseitige Isolation gegenüber wechselseitiger Bezogenheit. Nur mit der »Entmachtung« der Sub­ stanz-Eigenschafts-Ontologie, stellt Whitehead fest, »können wir die Vorstellung individueller Substanzen zurückweisen, von denen jede ihre innere Welt von Qualitäten und Sinneswahrnehmungen hat« (PR, 160/300). Nach Whitehead entwickelte Leibniz die Lehre der prästabilier­ ten Harmonie, nach welcher die Perzeptionen der einzelnen Monaden durch Gott aufeinander abgestimmt wurden, eben zu dem Zweck, jene Widersprüchlichkeit im Kern seiner Metaphysik aufzufangen. Denn diese Theorie erlaubt Leibniz zu behaupten, dass Monaden erfahrungsbasiert verbunden sind, aber gleichzeitig zu bestreiten, dass sie kausal aufeinander einwirken. Ihm standen daher zwei verschiedene Sichtweisen zur Verfügung. Die eine war, daß die letzte reale Entität eine organisierende Aktivität ist, die alles mögliche zu einer Einheit verschmilzt, so daß diese Einheit die Realität ist. Die andere Sichtweise bestand darin, daß die letzten realen Entitäten Substanzen sind, die Qualitäten unterhalten. Die erste Sichtweise beruht auf der Anerkennung innerer Relationen, die alle Realität aneinander binden. Die zweite steht im Widerspruch zur Rea­ lität solcher Relationen. Um diese beiden Sichtweisen zu verbinden, waren seine Monaden fensterlos; und ihre Leidenschaften spiegelten das Universum lediglich aufgrund der göttlichen Einrichtung einer prästabilierten Harmonie. (SMW, 155/182)

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Für Whitehead ist die Theorie prästabilierter Harmonie ein Kunst­ griff, dessen einziger Sinn darin liegt, einen offenkundigen Wider­ spruch im System zu verbergen.16 Aufgrund der engen Verbindung zwischen Leibniz’ Theorie der prästabilierten Harmonie und seiner Annahme der Existenz Gottes könnte diesbezüglich vermutet werden, dass Whiteheads Zurückwei­ sung jener Theorie auch in der typisch modernen Abneigung begrün­ det sein mag, Gott als Erklärungsprinzip heranzuziehen. Dem ist aber nicht so: Whitehead selbst geht aus von einem Gott, wenngleich sein Gott nicht der des traditionellen Christentums ist; nach Humes vernichtender Kritik in dem ›Meisterwerk‹ Dialogues Concerning Natural Religion (PR, 343/613) muss es, wie Whitehead in Prozeß und Realität argumentiert, einen radikal neuen Weg geben, die Beziehung von Gott und Welt zu begreifen. Wie die folgenden beiden Kapitel außerdem zeigen werden, haben die Gründe für die Zurückweisung von Leibniz’ prästabilierter Harmonie nichts mit einer voreingenom­ menen Feindseligkeit gegenüber Theologie zu tun, sondern sind im Kern philosophisch begründet.17

IV. Russell und Whitehead über die Metaphysik der Substanz In seinem Verständnis von Leibniz’ Monaden als Substanzen mit wechselnden Eigenschaften ist Whitehead stark von Russells A Criti­ cal Exposition of the Philosophy of Leibniz beeinflusst. Russell betont, Man könnte argumentieren, dass dieser Widerspruch notwendigerweise in Whiteheads System erneut auftauchen wird, nur in leicht abgeänderter Form. Da die Substanz-Eigenschafts-Denkweise in der grammatischen Struktur unserer Sprache auftaucht, steht Whitehead vor dem Problem, seine metaphysischen Visionen in den Begriffen einer Sprache zu formulieren, welche die metaphysischen Annahmen beinhaltet, die er explizit zurückweist. Whitehead ist sich dieser Schwierigkeit durch­ aus bewusst; eventuell – stellt er fest – müsse der Philosoph die Alltagssprache ›neu gestalten‹ (redesign), um sie seinem Zweck anzupassen (PR, 11/45). Es sollte aber hervorgehoben werden, dass dieses Problem nicht bloß in Whiteheads Philosophie, sondern in vielen Systemen revisionärer Metaphysik (im Sinne Peter F. Strawsons) auftritt. Siehe dazu die kurzen, aber einleuchtenden Bemerkungen in Kraus (1988), S. 1–8, wie auch die scharfsinnigen Ausführungen in Simons (1998). 17 Für eine leicht verständliche Einführung in Whiteheads neuartige Konzeption von Gott wie auch für diesbezügliche Aspekte seiner Theorie, die hier nicht behandelt werden, siehe Sprigge (2006), S. 409–472. 16

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dass eine Ontologie, die nur Substanzen und Eigenschaften kennt, generell für die Metaphysik ungeeignet sei, da auf ihrer Basis nur zwei metaphysische Systeme konstruierbar seien – entweder Leibniz’ Theorie der Pluralität voneinander unabhängiger Monaden oder Spinozas Theorie einer einzigen allumfassenden Realität. Da beide Theorien schlicht falsch seien, argumentiert Russell weiter, muss der Metaphysiker das Substanz-Eigenschafts-Denken zurückweisen und völlig neue ontologische Grundannahmen entwickeln: Spinoza [...] had shown that the actual world could not be explained by means of one substance; Leibniz showed that it could not be explained by means of many substances. It became necessary, therefore, to base metaphysics on some notion other than that of substance – a task not yet accomplished.18

Whitehead nimmt dieses Argument beinahe wortgetreu an einer ganzen Reihe von Textstellen auf, etwa in Der Begriff der Natur: Einige philosophische Schulen, die unter dem Einfluß der aristoteli­ schen Logik und Philosophie stehen, bemühen sich voranzukommen, ohne irgendwelche Relationen außer derjenigen des Substanz-Attri­ but-Verhältnisses einzuräumen. Danach sollen alle dem Augenschein vorliegenden Relationen in die gleichzeitige Existenz von Substanzen und den mit ihnen kontrastierenden Attributen aufgelöst werden. Es ist ziemlich offensichtlich, daß die Leibnizsche Monadologie das unaus­ weichliche Ergebnis einer solchen Philosophie ist. Wenn man den Pluralismus nicht mag, dann gibt es nur eine Monade. (CN, 150/114)

In expliziter Form lässt sich Russells Kritik am Substanz-Eigen­ schafts-Denken wie folgt rekonstruieren: (1) Relationen können nicht mittels der Konzepte von Substanz und Eigenschaft analysiert werden. (Als kurze Illustration kann der Satz ›A ist höher als B‹ dienen: Es scheint naheliegend, ihn als die Konjunktion von ›A hat die Höhe X‹ und ›B hat die Höhe Y‹ zu verstehen. Russell hingegen behauptet, dass diese Analyse unvollständig ist, wenn nicht zusätzlich angegeben wird, was für eine Relation zwischen den beiden Höhen X und Y besteht.) (2) Wenn die letzten Konstituenten der Dinge bloße Träger von Eigenschaften sind, müssen Relationen als nicht real verwor­ fen werden. 18

Russell (1900), S. 126.

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(3) Auf dieser Basis kann die Welt entweder als eine einzige Substanz aufgefasst werden (Spinoza) oder als Pluralität beziehungsloser Substanzen (Leibniz). (4) Da beide Theorien (Spinozas Monismus und Leibniz’ Pluralis­ mus) völlig absurd sind, muss die Annahme, dass nur Substanzen und ihre Eigenschaften real sind, als unzutreffend zurückgewie­ sen werden. In der Erörterung dieser Argumentation konzentriert sich Russell auf (1) und (2). Besonders ringt er mit der Frage, ob es überhaupt wahr sei zu sagen, dass Leibniz die Existenz bzw. Realität von Relationen bestreite; denn Leibniz sagt nicht, dass Relationen ›irreal‹ sind, son­ dern bloß, dass sie ›ideal‹ sind. Laut Russell erkannte Leibniz, dass Relationen nicht auf Eigenschaften reduzierbar sind. Er hätte somit eigentlich zugestehen müssen, dass Relationen zu den grundlegenden Elementen der Realität gehören. Aber sein sturer Glaube an die Sub­ jekt-Prädikat-Logik hinderte ihn daran. Zerrissen zwischen seinen eigenen Einsichten und seinem aristotelischen Hintergrund, suchte er nach einer Kompromisslösung. So gelangte er zu der Behauptung, dass Relationen ›ideal‹ seien – d.h. ›halb real‹ oder ›semi-real‹. Für Russell ist dies lediglich eine philosophisch wenig bedeutsame Ausflucht, die eines großen Logikers unwürdig sei.19 Im Hinblick auf (3) stellt Russell fest, dass Leibniz’ Monaden­ lehre und Spinozas Monismus logisch nicht gleichwertig sind, da nur Spinozas Theorie eine kohärente Form von Substanzmetaphysik darstelle. Inkohärent ist Leibniz’ Theorie deshalb, weil Leibniz seine Monaden als Komponenten desselben Universums versteht. Die Idee der Einheit der Monaden in einer einzigen Welt ist nur sinnvoll, wenn der Begriff des gegenseitigen Bezogenseins der Monaden eingeführt wird. Um Einheit ohne Rückgriff auf Relationen zu behaupten, müsste Leibniz alle Monaden auf Attribute bzw. Eigenschaften einer einzigen Substanz reduzieren und so selbst zum Monisten werden. Diese frühe Kritik der traditionellen aristotelischen Theorie sollte beizeiten zur Entwicklung einer relationalen Logik führen, wie sie in den Principia Mathematica (1910–1913) niedergelegt ist. Die Implikationen von Russells früher Kritik werden in Prozeß und Realität weiterentwickelt, wo Whitehead erklärt, der neuen relationa­ 19 Dieser Aspekt von Russells kritischer Interpretation von Leibniz’ Philosophie hat erhebliche Aufmerksamkeit erfahren: Siehe z.B. Parkinson (1965), Ishiguro (1972), Mates (1986), Mugnai (1992) und Rescher (2003).

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len Logik müsse eine neue relationale Metaphysik zur Seite gestellt werden; deshalb ist in seinen Ausführungen »das ›Bezogensein‹ der ›Qualität‹ übergeordnet« (PR, xiii/25). Überraschenderweise sagt Russell wenig bis nichts, um (4) zu begründen – die These, dass Monismus und Monadenlehre offen­ sichtlich falsch seien. Und doch ist selbige These unverzichtbar, damit die Argumentation der reductio funktionieren kann. Whitehead bemerkt, dass eine weitere Begründung dieses Punktes notwendig ist. Was die metaphysischen Ansätze von Bradley und Leibniz, wie er sagt, extrem unglaubwürdig werden lässt, ist, dass beide Alternativen Erfahrung mit einer gewissen Aura von »Scheinhaftigkeit« (PR, 190/353) auszeichnen. Dieser Vorwurf muss vor dem Hintergrund von Whiteheads Theorie von Erfahrung verstanden werden. Nach Whitehead nehmen wir fortwährend viele Dinge um uns herum wahr (ein Monismus ist somit ausgeschlossen), die auf verschiedene Art und Weise auf uns einwirken (kausal voneinander unabhängige Monaden sind so ebenfalls ausgeschlossen). Im Gespräch mit Kollegen in Harvard formulierte Whitehead diesen Punkt wie folgt: »Being tackled at Rugby, there is the Real. Nobody who hasn’t been knocked down has the slightest notion of what the Real is.«20 Wenn wir eine derart schmerzvolle Erfahrung machen, sind wir absolut sicher – mit einer Lebhaftigkeit, der wir uns nicht erwehren können –, dass von uns unabhängige kausale Kräfte auf uns einwirken. Die Sichtweise, dass wir eine direkte Apprehension im Sinne des bewussten Erfassens externer kausaler Kräfte besitzen, ist eine Vorstellung des common sense; philosophisch ist sie gewagt. In der Nachfolge Humes sind Philosophen eigentlich daran gewöhnt, unsere Erfahrung kausaler Prozesse als ein Erfahren der Abfolge unabhängi­ ger Ereignisse zu betrachten. Dies ist etwa dann der Fall, wenn jemand zwei aufeinander einwirkende Objekte betrachtet, wie in Humes Lieblingsbeispiel zweier Billardkugeln. Es sieht aber völlig anders aus, wenn wir selbst Teil der kausalen Interaktion sind; in diesen Fällen sind wir in der Lage, Kausalität von ›innen‹ zu betrachten. Dies passiert z.B. dann, wenn Licht einen Menschen blinzeln lässt: »Der Mensch wird seine Erfahrung erklären, indem er sagt: ›Der Blitz brachte mich zum Blinzeln‹; und wenn man seine Behauptung 20

Vgl. Hocking (1963), S. 15.

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bezweifelt, wird er erwidern, ›Ich weiß es, weil ich es empfunden habe‹.« (PR, 175/327) Natürlich können wir nicht erwarten, ein klares und eindeuti­ ges sensorisches Bild dieser Kräfte in derselben Art und Weise zu haben, wie wir klare und eindeutige Sinneswahrnehmungen von Rot haben, wenn wir ein rotes Objekt betrachten. Für Whitehead zeigt dies aber nur, dass Humes Analyse gewöhnlicher menschlicher Erfahrung in der Begrifflichkeit von Sinneseindrücken allzu begrenzt ist. Die Art von Erfahrung, die wir machen, wenn wir zu Boden fallen oder brutal mit einem harten Gegenstand geschlagen werden, kann kaum als Apprehension voneinander unabhängiger Sinneseindrücke betrachtet werden. Daher sollte zwischen der »Wahrnehmungsweise der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit« (die ein Bewusstsein von Sinnesdaten beinhaltet) und der »Wahrnehmungsweise der kausalen Wirksamkeit« (die ein Bewusstsein kausaler Kräfte beinhaltet) unter­ schieden werden (PR, 172/322). Diese Unterscheidung erscheint unabweisbar. Es gibt in der Tat eine dynamische Dimension in unserer Erfahrung, der traditionelle empiristische Theorien nicht gerecht werden.21 Erfahrung beschränkt sich nicht auf die Betrachtung von Dingen, sondern beinhaltet auch, aktiv und passiv in Handlungszusammenhänge involviert zu sein – wir sind nicht bloße Zuschauer, sondern eben auch Handelnde. Es mag dennoch argumentativ schwach erscheinen, an die Erfahrung kausaler Wirksamkeit zu appellieren, um damit Leibniz’ Lehre der kausalen Isolation der Monaden auszuhebeln. Können wir die Theorie der prästabilierten Harmonie auf die gleiche Weise entkräften, wie Dr. Johnson hoffte, Berkeleys Immaterialismus widerlegen zu können – indem wir einfach einen Stein lostreten? Die Antwort auf diese Frage lautet natürlich ›nein‹. Leibniz könnte einfach zugestehen, dass unsere Erfahrungen kausale Wirksamkeit suggerieren, aber dennoch bestreiten, dass dies uns zu Zeugen der Existenz wirklicher kausaler Verhältnisse mache.22 21 Leibniz reagiert darauf, indem er erstens insistiert, dass die Natur von Substanz in Kraft bestehe und zweitens das in seiner Lehre zentrale Moment des Strebens (appeti­ tion) aufweise; seine Monaden haben ein dynamisch-erfahrungsbasiertes Innenleben. 22 Ganz analog könnte Spinoza erwidern, dass er nicht die Existenz vieler aktiver Wesen bestreitet, sondern diese nur als ›Modi‹ und nicht als ›Substanzen‹ betrachtet. Spinoza scheint sich seine eine Substanz in jedem Fall nicht als Träger von wechselnden Eigenschaften vorgestellt zu haben, sondern eher als ein dynamisches Konstrukt; vgl. Basile (2012).

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Es muss daher festgehalten werden, dass in Whiteheads Analyse von Erfahrung keinerlei Beweis liegt. Der beste Weg, seinen Ansatz zu lesen, ist daher der, sie als ernsthafte Einladung zu verstehen, die eigenen Erfahrungen näher zu betrachten und für sich selbst zu entscheiden, welche Interpretation die adäquatere ist.23 Wenn man Whiteheads Theorie in dieser Weise betrachtet, lässt sich kaum bestreiten, dass sie traditionellen empiristischen Ansätzen überlegen ist. Zudem wird deutlich, dass er eine sehr ernste Frage aufwirft. Wenn unsere alltägliche Erfahrung unausweichlich eine konstante Apprehension kausaler Vorgänge nahelegt, wie könnten wir dann jemals an Leibniz’ Theorie der Nichtexistenz kausaler Interaktion glauben? Um an diese Lehre zu glauben, müssten wir einen unserer natürlichsten epistemischen Instinkte zum Schweigen bringen, was gewiss nicht leicht ist.

V. Leibniz und Whitehead über die Natur von Kausalität Die Kritik von Russell und Whitehead an Leibniz steht und fällt mit der Feststellung, dass dieser seine Monaden als Substanzen, als Träger wechselnder Eigenschaften, konzipierte. Russell liefert wenig an schlüssiger Evidenz, um diese Interpretation zu stützen. Logische Überlegungen sind für die Metaphysische Abhandlung wichtig, aber für die Monadologie und die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade weitgehend irrelevant. Russell gesteht sogar zu, dass Leibniz in der Korrespondenz mit de Volder anscheinend kurz davor stehe, eine Prozessmetaphysik der einzelnen Ereignisse anzunehmen, da sich die Monaden tendenziell in eine Serie ihrer perzeptiven Zustände auflö­ sen.24 Whitehead scheint sich dessen nicht bewusst zu sein, wenn er Leibniz’ Theorie der kausalen Unabhängigkeit der Monaden kritisiert. In Denkweisen bemerkt er beispielsweise: Whitehead gibt dies in seiner offenen und wenig dogmatischen Art zu, indem er sagt: »Man kann den Charakter, der dem Datum im Erfahrungsakt zuzusprechen ist, nicht sorgfältig genug untersuchen.« (PR, 157/294). 24 In einem Brief vom 24. März/3. April 1699 an de Volder erwähnt Leibniz »etwas der Seele Ähnliches«, bestehe doch »deren Natur […] darin, das dauernde Gesetz für eine fortlaufende Reihe von Veränderungen zu bilden, die sie ohne Anstoß durch­ läuft«; Leibniz (1966), S. 292. Für eine neuere Diskussion von Leibniz’ Theorie der Beziehung zwischen einer Monade und dem Gesetz, das die Abfolge ihrer Änderungen bestimmt, siehe Whipple (2010). 23

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Die reine Vorstellung von der Übertragung einer Qualität ist voll­ kommen unverständlich. Gehen wir davon aus, daß zwei Ereignisse tatsächlich entfernt voneinander bestehen, so daß eines von ihnen ohne Bezug auf das andere verstanden werden kann. Dann wird alle Vorstel­ lung von Verursachung oder einem Bedingungsgefüge zwischen ihnen vollkommen unverständlich. (MT, 164/194)

Dies ist eine Anspielung auf jene entscheidende Stelle in der Monado­ logie, wo Leibniz erklärt, wieso Monaden nicht von außen beeinflusst werden können: Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten könnte. Die Bestimmungen können sich weder von den Substanzen loslösen, noch außerhalb ihrer sich ergehen, wie es früher die sinnlichen Spezies der Scholastiker machten. Es kann daher weder eine Substanz, noch eine Bestimmung von außen in eine Monade ein­ treten.25

Diese Passage kann als Beleg für die These gelesen werden, dass Monaden für Leibniz Träger von Eigenschaften sind und ebenso dafür, dass eine enge Verbindung zwischen dieser aristotelischen Konzep­ tion und der Zurückweisung direkter kausaler Interaktion besteht. Leibniz beschäftigt sich hier mit demjenigen Typ von Kausalität, in dem eine Substanz A auf eine bereits existierende Substanz B einwirkt, etwa um eine Änderung bei B zu bewirken. Er bestreitet, dass Monaden in dieser Art und Weise aufeinander bezogen sein können, mittels der folgenden Argumentation: (1) Kausalität (im Sinne der Fähigkeit einer Substanz, eine Verände­ rung im Zustand einer anderen Substanz herbeizuführen) invol­ viert den Transfer eines beliebigen Elements von einer Substanz A zu einer anderen Substanz B. (2) Innerhalb einer aristotelischen Substanz-Eigenschafts-Ontolo­ gie muss das transferierte Element entweder die aktive Substanz oder eine ihrer Eigenschaften sein. (3) Substanzen können nicht zum Teil einer anderen Substanz wer­ den; denn Substanzen sind einfach, d.h. nicht zusammengesetzt. Also muss das transferierte Element eine Eigenschaft sein. (4) Während des Transfers von Substanz A zu Substanz B muss es einen Moment geben, in dem die transferierte Eigenschaft weder

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Leibniz Monadologie § 7 sowie Leibniz (1966), S. 436.

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zu A noch zu B gehört. Das aber ist unmöglich, da Eigenschaften einen Träger benötigen, dem sie inhärieren. (5) Folglich ist auf der Basis einer aristotelischen Substanz-Eigen­ schafts-Ontologie direkte kausale Interaktion zwischen Monaden unmöglich, da weder Substanz noch Eigenschaft ausgetauscht werden können. Für jemanden, der von der Existenz kausaler Relationen überzeugt ist, wirkt diese Begründung wie eine weitere Argumentation gegen die (in Prämisse (2) enthaltene) These, dass Substanzen Träger von Eigenschaften sind – genauso wird sie von Whitehead gelesen. Es ist hervorzuheben, dass Whitehead das genannte Argument nicht, wie er von seinem logischen Standpunkt her durchaus könnte, als Widerlegung der Prämisse (1) versteht – des Kausalitätsmodells der Einströmung (influx), das Leibniz von den späten Scholastikern übernimmt. Whitehead teilt tatsächlich mit Leibniz die Ansicht, dass Kausalität eine Art von Einströmung, einen Transfer von Elementen der kausal aktiven Substanz zu der passiven, involviert. In dem Versuch, de Volder seine Zurückweisung direkter monadischer Inter­ aktion zu erklären, sagt Leibniz in dem oben erwähnten Brief: »Eine eigentliche Einwirkung der Substanzen auf einander gebe ich nicht zu, da sich begrifflich nicht einsehen läßt, wie eine Monade die andre beeinflussen könnte.«26 Die Aufgabe, der Theorie der prästabilierten Harmonie eine Alternative gegenüberzustellen, wird für Whitehead zu der Frage, wie monadische Einströmung sinnvoll in Kategorien gedacht werden kann, die sich von Substanz und Eigenschaft unter­ scheiden.27 Dies leistet seine Theorie wirklicher Einzelwesen, die sich in ihren wechselseitigen Akten des Erfassens konstituieren. Leibniz (1966), S. 326. Whitehead wirft Leibniz auch den folgenden Widerspruch vor: »Entscheidend jedoch ist, daß sich kein Grund dafür finden läßt, warum die oberste Monade, eben Gott, von der absoluten Isolation, dem gemeinsamen Schicksal aller übrigen Mona­ den, ausgenommen sein sollte. Die Monaden sind nach Leibniz fensterlos. Warum haben sie Fenster, durch die sie Gott sehen; und warum hat Gott Fenster, durch die er sie sehen kann?« (AI, 134/268 f.) Whitehead wird Leibniz hier kaum gerecht. Einer­ seits haben Leibniz’ Monaden nicht die Fähigkeit, auf Gott einzuwirken; es ist insofern unzutreffend, dass Gott »Fenster« hat, »durch die er sie sehen kann«. Andererseits schreibt Leibniz in der Monadologie Gott explizit die Kraft zu, Monaden zu erschaffen, sie in der Existenz zu erhalten und sie zu zerstören. Aber diese Fähigkeiten unter­ scheiden sich erheblich von den kausalen Kräften, deren Besitz Leibniz den Monaden abspricht. Das Kausalitätsmodell der Einströmung beinhaltet eine ontologische Ana­ 26

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VI. Konklusion Wenn sich ein kurzes Fazit auf Whitehead beschränkt und Russell unberücksichtigt lässt, geschieht dies nicht aus Willkür oder mit der Intention einer Abwertung Russells. Vielmehr trägt die Konzen­ tration auf Whitehead der Tatsache Rechnung, dass er es ist, der seine – von Russell angeregte – Leibniz-Kritik in eine eigene sys­ tematische Metaphysikkonzeption einfließen lässt, wie sie sich in einer vergleichbaren Weise bei Russell nicht findet. Das vorliegende Fazit konzentriert sich also auf die bei Whitehead gegebene spezifi­ sche Reichweite der Möglichkeit, von Leibniz zu lernen, und damit auf einen Ausblick hinsichtlich der Frage, inwieweit eine im Sinne von Whiteheads monadischem Neuansatz konzipierte Metaphysik zukunftsweisend sein kann. Aus Whiteheads Sicht hat Leibniz die Wahrheit über die grund­ legenden Prinzipien der Realität zum Ausdruck gebracht, aber seiner Theorie der Monaden eine Form gegeben, die sie sowohl innerlich inkohärent als auch empirisch unzureichend erscheinen lässt. Wäh­ rend die erste Behauptung zweifelhaft ist, ist die zweite berechtigt. Whiteheads kühner und origineller Versuch, Leibniz’ Theorie der Monaden zu verbessern, indem er sie mit Fenstern ausstattet, ist jedoch ebenfalls nicht zufriedenstellend. Im Gegensatz zu seiner Auffassung ist es wohl nicht ganz einfach, die Lehre von der prästabi­ lierten Harmonie aus Leibniz’ Metaphysik zu verbannen. Aber ist eine Leibnizsche Theorie der Realität im gegenwärtigen philosophischen Klima überhaupt in Betracht zu ziehen? Diese Frage muss positiv beantwortet werden. Philosophen des Geistes ringen immer noch darum, einen Platz für das Bewusstsein innerhalb der physischen Welt zu finden. Die Tatsache, dass sich die menschliche Subjektivität einer Einbindung in einen materialistischen Rahmen widersetzt, deutet darauf hin, dass uns ein angemessenes Verständnis der Materie und nicht des Geistes fehlt. Wie Whitehead zu Recht bemerkte, ist Leibniz’ Kritik an der Metaphysik der frühneuzeitlichen Wissenschaft eine einfache, aber doch erhabene Lektion in spekulati­ vem Denken – eine, die wir nicht zuletzt im Hinblick auf unseren Begriff der Natur mit ihren Komponenten von Geist und Materie lyse der Fähigkeit einer Substanz, die Natur einer anderen Substanz zu verändern; die göttlichen Fähigkeiten sind von einer gänzlich anderen Art.

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auch heute noch ernst nehmen sollten.28 All dies muss natürlich unter einen gewissen Vorbehalt gestellt werden, denn wir können nicht zu dem Schluss kommen, dass Leibniz’ Metaphysik in ihrer ursprünglichen Form wahr ist. Auf alle, die nach einer Alternative zum Materialismus suchen, werden die knappen Abschnitte von Leibniz’ Monadologie jedoch eine tiefe, zum Nachdenken anregende Faszination ausüben.29 Übersetzung von Paul Hasselkuß und Christoph Kann

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28 Thomas Nagel hat vor nicht allzu langer Zeit in einer Weise, die stark an Leibniz und Whitehead erinnert, für die Notwendigkeit plädiert, unseren Naturbegriff neu zu überdenken, indem er behauptet, dass »der Geist nicht nur ein nachträglicher Einfall oder ein Unfall oder ein Zusatz ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur«; Nagel (2012), S. 16. Er rechtfertigt diese Aussage sogar explizit mit dem Verweis auf das Prinzip des zureichenden Grundes, indem er im gleichen Zusammenhang behaup­ tet, dass »reiner Empirismus nicht genug ist« (ibid., S. 17). In Großbritannien sind die leibnizschen und whiteheadschen Themen von Sprigge (1983 und 2011) aufschluss­ reich diskutiert worden und tauchen auch bei Strawson (2006 und 2009) in prägnan­ ter Weise wieder auf. In den USA wurden solche Ansichten das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch von einer relativ kleinen, aber lebendigen Schule von Prozess­ denkern am Leben erhalten. Neben dem bereits genannten Griffin (1998) ist Harts­ horne (1970 und 1977) diesbezüglich ein besonders erwähnenswerter Philosoph. 29 Ich danke Pauline Phemister, Leemon B. McHenry, Jeremy Dunham und zwei mir unbekannten Gutachtern für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Auf­ satzes.

188 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Von Leibniz lernen: Whitehead und Russell über Geist, Materie und Monaden

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

I. Interne Relationen und Pluralismus: eine Inkonsistenz bei Whitehead? Im Jahre 1952 kritisiert William P. Alston einen schwerwiegenden Mangel in Whiteheads Spätphilosophie: Diese sei gekennzeichnet durch eine fundamentale Inkonsistenz zweier grundlegender Prinzi­ pien, nämlich des Principle of Internal Relatedness und des Principle of Pluralism.1 Das Principle of Internal Relatedness besagt laut Alston, dass alle Relationen, in denen ein gegebenes wirkliches Geschehnis zu anderen Entitäten stehe, diesem Geschehnis ›intern‹ seien – und zwar in dem Sinn, dass sie einen Teil seiner wesensmäßigen Natur ausmachen. Mit anderen Worten: Dem Principle of Internal Relatedness zufolge sind die Relationen des wirklichen Geschehnisses zu anderen Entitäten wesentlich für dessen Identität.2 Doch dieses Prinizip, so Alston weiter, besagt damit nicht nur, dass jedes wirkliche Geschehnis nur durch seine Relationen zu anderen Entitäten genau das sei, was es ist. Vielmehr erfordere es zudem im Umkehrschluss, dass all die anderen Entitäten, mit denen das gegebene wirkliche Geschehnis in Relatio­ nen steht, genau das sind, was sie sind, um das jeweilige Geschehnis zu genau dem zu machen, was es ist – und zwar kraft ihrer Relationen.3 Nur so erklären sich für Alston Whiteheads Behauptungen, dass jedes ›wirkliche Einzelwesen‹ aller anderen Einzelwesen bedürfe, und dass zur Individuation jedwedes Einzelwesens alle anderen Einzelwe­

1 2 3

Vgl. Alston (1952), S. 535. Vgl. ibid. Vgl. ibid., S. 536.

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sen in die Beschreibung jenes selben einbezogen werden müssen.4 Das Principle of Internal Relatedness erweist sich so für Alston als gleichbedeutend mit dem ›Principle of Mutual Immanence‹: Dieses besage, dass wirkliche Geschehnisse wechselseitig ineinander – oder zumindest in Teilen voneinander – gegenwärtig sind.5 Das Principle of Pluralism auf der anderen Seite basiert Alston zufolge auf der Annahme, dass die Welt aus »many acts of experi­ ence«6 bestehe. Nun könne zwar jeder von diesen Akten als eine Synthesis von Mannigfaltigem begriffen werden, doch in erster Linie als beschränkte Synthesis, denn »each of them [is] exclusive of much that it might be and is not«7. So hat jedes wirkliche Geschehnis qua act of experience nicht nur ein Vermögen »of fusing the many into the one«, sondern zugleich die Funktion »of placing itself as one among the many«.8 In dieser Mannigfaltigkeit der Vielen nun spielen Whiteheads wirkliche Geschehnisse nach Alston die Rolle von »ultimate constituents of the world«9. Auf Grundlage dieses Befundes behauptet Alston, dass das Principle of Internal Relatedness augenscheinlich die Negation des Principle of Pluralism impliziert. Denn auf der einen Seite folge aus dem Principle of Internal Relatedness, dass jedes wirkliche Geschehnis qua Synthesis alle anderen einbegreife: Wenn alle Relationen, in denen jedwede Entität zu anderen steht, intern sind, müsse jede Entität qua Geschehnis letztlich alle anderen in sich aufnehmen, und zwar »as ingredients in its nature«10. Alstons Meinung nach hat das Principle of Internal Relatedness damit zur Folge, dass die Existenz mindestens einer Wirklichkeit (actuality) gefordert werden muss, die das Charakteristikum hat, »all-inclusive«11 zu sein. Nun treffe dieses Charakteristikum zwar eigentümlicherweise zu auf »any actual entity we can specify«12. Aber selbst wenn damit zugestanden wird, dass sich überhaupt Entitäten von anderen abgrenzen lassen, ermöglicht diese Position nach Alston nicht, eine Vielheit von Entitäten anzuerkennen, Vgl. ibid., S. 538. Vgl. ibid., S. 537. 6 Ibid., S. 540. 7 Ibid., S. 537. 8 Ibid. 9 Ibid., S. 537. 10 Ibid., S. 543. 11 Ibid. 12 Ibid. 4 5

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

die als fundamentale Bestandteile der Welt gelten. Die Konsequenz aus dem Principle of Internal Relatedness ist daher für Alston »the denial of the Principle of Pluralism«13. Unter der Voraussetzung, dass die kontradiktorische Verneinung von ›Pluralismus‹ ›Monismus‹ heißt, behauptet Alston also, dass Whitehead sich aufgrund seiner Akzeptanz interner Relationen unge­ wollt einem Monismus verpflichte. Die Annahme, dass diese Konse­ quenz gemeint ist, soll nun im Folgenden, um des Arguments willen, gemacht werden.14 Mit der soeben skizzierten Argumentation scheint sich Alston Prämissen zu verschreiben, die ab der Wende zum 20. Jahrhundert in prominenter Weise von Bertrand Russell vertreten wurden.15 Die­ sen interessiert der Relationsbegriff vornehmlich aus einem Grund, nämlich dem, »that current arguments against realism and plura­ lism almost all depend upon the doctrine of internal relations.«16 Werde die Annahme interner Relationen aufgegeben, dann erweise sich die Frage, wieviele Dinge existieren, als bloß »empirisch«17; sie muss dann nämlich nicht aus apriorischen Gründen zugunsten eines Monismus im Sinne der Existenz nur eines ›großen Ganzen‹ beantwortet werden. Und empirisch betrachtet ist laut Russell keine Annahme unbestreitbarer wahr als die, »that many things exist«18. Um diesem Befund philosophisch Rechnung zu tragen, hält es Russell für nötig, davon auszugehen, dass einzelne Dinge zwar als Termini in Komplexe eingehen können, nicht aber selbst als unendlich komplex gelten dürfen. Sofern die Termini in Komplexe eintreten, gehen sie auch Relationen zu anderen Bestandteilen des Komplexes ein; sie sind

Ibid. Ausgeklammert werden demnach weitere Alternativen, wie z.B. diejenige eines Nihilismus. 15 Bemerkenswerterweise hat Russell vorher selbst eine Theorie interner Relationen vertreten, die er erst mit dem Anfang 1899 im Moral Sciences Club vorgetragenen Aufsatz »The Classification of Relations« widerruft. Eine ausführliche Diskussion dieser Wende findet sich bei Galaugher (2013), insb. Kapitel 1 und 2. Der Aufsatz »The Classification of Relations« wird dort im zweiten Kapitel besprochen. Als maßgeblich für Russells Beschäftigung mit Relationen gilt seine Auseinandersetzung mit Leibniz. Für eine konzise Darstellung dieser Auseinandersetzung siehe den entsprechenden Abschnitt bei Alcantara (2011). 16 Russell (1911), S. 160; vgl. Russell (2010b), S. 138. 17 Russell (1911), S. 160. 18 Ibid. 13

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aber nicht selbst so komplex, dass ihre Relationen zu den anderen Bestandteilen zu ihren jeweils eigenen Merkmalen gehören.19 Die eben skizzierte Position begünstigt für Russell einen Plu­ ralismus auf realistischer Grundlage.20 Dabei weise sie vor allem eine Annahme zurück, die kennzeichnend für die Gegenposition sei, nämlich das »axiom of internal relations«21. Dieses lasse sich folgendermaßen zusammenfassen: »Every relation is grounded in the natures of the related terms«22. Der von Russell vorgeschlagenen Explikation gemäß folgt aus diesem Axiom, dass sich aus dem Beste­ hen des Sachverhalts, dass zwei Dinge in Relation zueinander stehen, eine intrinsische Komplexität eines jeden dieser Dinge ableiten lassen muss, denn der Sachverhalt »implies something in the ›natures‹ of the two objects, in virtue of which they have the relation in question«23. Dies wiederum könne einerseits bedeuten, »that every relation is really constituted by the natures of the terms or of the whole which they compose«, oder andererseits »that every relation has a ground in these natures«24. In beiden Lesarten aber führe die Akzeptanz des Axiom of Internal Relations letztlich zu der Auffassung, »that there are no relations at all«25. Relationen ›gibt‹ es nicht, außer im Sinne ihrer Anlage in den jeweiligen wesensmäßigen Attributen ihrer Termini. Damit negiert das Axiom of Internal Relations in Russells Interpreta­ tion die Realität von Relationen und erweist sich als inkompatibel mit jeder Form von Pluralismus qua Akzeptanz der Annahme real verschiedener Einzeldinge in der Welt. Russells Überlegung lässt sich dabei in etwa folgendermaßen zuspitzen: Indem die (und zwar alle) Entitäten untereinander verbunden sind, ihre (und zwar alle ihre) Verbindungen aber nur aufgrund der intrinsischen Komplexität der verbundenen Entitäten (und damit letztlich jeder Entität) bestehen,

Vgl. ibid., S. 159. Vgl. ibid., S. 160. 21 Russell (1910b), S. 160. 22 Ibid. 23 Ibid., S. 160 f. 24 Ibid., S. 162. 25 Ibid., S. 163. Russell nimmt hier kritisch Bezug auf die von Francis Herbert Bradley vertretene Position, welche er als paradigmatisch für den Monismus interpretiert. Russells Kontroversen mit Bradley werden im Folgenden ausgeklammert. Sie finden sich gut aufgearbeitet bei Candlish (2007). Von besonderem Interesse für die Frage nach der Bestimmung des Relationsbegriffs und seiner Funktionen sind dort das zweite und das siebte Kapitel. 19

20

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

ist alles und jedes mit jedem und allem derart verflochten, dass es im indefinit komplexen Einen, dem ›großen Ganzen‹, aufgeht. Mit Russell scheint der oben zitierte Alston nun mindestens die folgende Überzeugung zu teilen: 1.

Die Akzeptanz interner Relationen lässt keine pluralistische Weltsicht zu.

Sofern nun, wie eben vorausgesetzt, ›Pluralismus‹ der ausschließende Gegenbegriff zu ›Monismus‹ ist, lässt sich diese Überzeugung auch so formulieren: 2.

Die Akzeptanz interner Relationen erzwingt einen Monismus.

Offen bleibt hierbei zunächst noch, aus welchen Gründen diese beiden Formulierungen von Alstons und Russells Überzeugung Geltung beanspruchen sollen. Handelt es sich um logische Notwendigkeiten? Oder um sachlich bedingte Dringlichkeiten aufgrund von Spezifika einer zugrundeliegenden Ontologie? Um solche und damit verbundene Fragen in den weiterführenden Abschnitten diskutieren zu können, werden im Folgenden einige Leitfragen isoliert, anhand derer sich die eingangs zitierte Kritik an Whitehead einer Beurteilung unterziehen lässt. Eine weitere Quali­ fikation der vorläufigen Formulierungen dieser Leitfragen wird auf Grundlage einer Klärung der Begriffe ›interne Relation‹ und ›Monis­ mus‹ weiter unten vorgenommen.

II. Kritische Leitfragen Zur Beurteilung der einleitend zitierten Kritik Alstons an Whitehead – und damit auch der von Alston mit Russell geteilten Prämis­ sen – lässt sich grundsätzlich bei zwei Fragestellungen ansetzen: Die erste richtet sich auf ihre historische, die zweite auf ihre systemati­ sche Berechtigung. (1) So lässt sich erstens fragen: Liegt die von Alston konstatierte Inkonsistenz tatsächlich vor? Mit anderen Worten: Beansprucht Whitehead überhaupt, die beiden konfligierenden Prinzipien gleichermaßen aufrechtzuerhalten? (2) Die zweite Leitfrage hingegen könnte lauten: Handelt es sich bei Alstons Befund tatsächlich um eine Inkonsistenz? Anders ausge­

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drückt: Stehen die beiden scheinbar konfligierenden Prinzipien überhaupt im Widerstreit? Fiele die Antwort auf Frage (1) negativ aus, so dürften sich wei­ tere Überlegungen zur Berechtigung von Alstons Kritik erübrigen – zumindest bei vornehmlich exegetischen Erkenntnisinteressen. Alstons Kritik wäre in diesem Falle aufgrund von philologischer Ungenauigkeit in Frage zu stellen, nicht aber hinsichtlich ihrer Prä­ missen. Eine negative Antwort auf Frage (1) zu geben, entspricht im Grundsatze der von Lewis S. Ford in The Emergence of Whitehead’s Metaphysics angewandten Verteidigungsstrategie. Ford ist der Auffas­ sung, dass Whitehead noch 1925 in Wissenschaft und moderne Welt tatsächlich keinen Pluralismus, sondern einen Monismus vertritt.26 Dieser Monismus nun habe für Whitehead in der Tat problematisch werden müssen: Insofern unter dessen Prämissen jedes Geschehnis A  vollständig durch seine Beziehungen zu allen anderen Geschehnissen bestimmt sei (und umgekehrt jedes einzelne andere Geschehnis B  durch seine Beziehungen zu allen weiteren inklusive A ), ergebe sich nämlich eine ziemlich deterministische Weltsicht.27 Diese konfligiere jedoch mit Whiteheads zunehmender Prozessorientierung,28 und zwar insbesondere mit Blick auf die Aspekte der Kreativität und des Werdens.29 Whiteheads Idee des kreativen Prozesses ist Ford zufolge jedoch erst mit der Möglichkeit tatsächlich theoretisch einzulösen, jedes Geschehnis qua Synthesis zumindest in zeitlicher Hinsicht klar nach Phasen der Diversität und der Einheitsstiftung zu differenzieren. Erst Whiteheads vollständige Ausarbeitung der Theorie der Atomizi­ tät der Zeit auf dem Stand von Prozeß und Realität stellt laut Ford die Möglichkeit bereit, Geschehnisse hinsichtlich zeitlich atomarer Qualitäten als diejenigen fundamentalen Bestandteile der Welt zu individuieren, für welche Alston sie hält. Mit dieser Interpretation ist Alstons Kritik an Whitehead entschärft, ohne dass in Frage gestellt wurde, dass das Principle of Internal Relatedness in einem Konflikt oder gar Widerspruch zum Principle of Pluralism steht. Ford ist der Meinung, dass Whitehead vielmehr einfach gar nicht den Anspruch 26 27 28 29

Vgl. Ford (1984), S. 99 f. Vgl. ibid., S. 63. Vgl. ibid., S. 28. Vgl. ibid., S. 64.

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habe, beide zugleich aufrechtzuerhalten: »[Alston’s] argument igno­ res any development. [...] At no time does Whitehead espouse the inconsistency Alston charges him with.«30 Bei positivem Befund zur oben genannten Frage (1) hingegen würde die Beantwortung von Frage (2) dringlicher erscheinen. Wenn Whitehead nämlich doch beansprucht, sowohl das Principle of Internal Relatedness als auch das Principle of Pluralism aufrechtzuerhalten, bleibt zu untersuchen, ob diese beiden Prinzipien denn tatsächlich in der von Alston beschriebenen Art und Weise miteinander konfli­ gieren. Sollte sich herausstellen, dass Whitehead in der Tat beide Prinzipien zugleich zur Grundlage insbesondere seiner Spätphiloso­ phie macht, so bliebe erstens herauszustellen, ob es sich dabei wirklich um einen Mangel seines Ansatzes handelt, und zweitens zu fragen, inwiefern Whiteheads Philosophie einer Revision bedarf oder ob nicht gar Russells offenbar konträre Position dem Denken Whiteheads vorzuziehen ist. Ließe sich jedoch zeigen, dass bei Whitehead zwar beide Prinzipien vertreten werden, ihr (scheinbarer) Widerstreit aber keinen Mangel seiner Philosophie darstellt, so bliebe umgekehrt zu fragen, welcher Wert den Prämissen Alstons und zu guter Letzt auch der Position Russells zuzugestehen ist. Eine positive Antwort auf Frage (1), die eine negative Antwort auf Frage (2) nahelegt, wird in der unmittelbaren Erwiderung von Ivor Leclerc auf Alston aus dem Jahre 1952 angedeutet. So ist Leclerc der Auffassung, dass Whiteheads Principle of Internal Relatedness gerade nicht einen pluralistischen Ansatz negiere. Der Grund dafür liegt nach Leclerc darin, dass das von Whitehead vertretene Principle of Internal Relatedness nicht der Interpretation entspricht, die Alston gibt: »If one actual entity be internally related to another it does not follow, nor is it Whitehead’s view, that the latter must be internally related to the former.«31 Ganz im Gegenteil, so Leclerc, indem er neben dem Gegensatzpaar von Pluralismus vs. Monismus auch einen Gegenbe­ griff zu dem der internen Relation ins Spiel bringt: »Whitehead maintains that the latter actual entity must be externally related to the former.«32 Leclerc zufolge konfligiert Whiteheads Principle of Internal Relatedness also ganz und gar nicht mit dessen Principle of Pluralism, sondern erzwingt (necessitates) geradezu einen Pluralismus wirklicher 30 31 32

Ibid., S. 57. Leclerc (1952), S. 298. Ibid., S. 298; meine Hervorhebung, ASH.

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Einzelwesen, »which are externally related to any particular present actuality, but to which the present actuality is internally related.«33 Vergleichbare Überlegungen finden sich in dem erwähnten Beitrag von Jean-Pascal Alcantara aus dem Jahre 2011: Zwar sei Russell der Meinung gewesen, »that he had definitively got rid of internal relations«34. Whitehead aber leiste insbesondere in den Kapiteln X und XI von Wissenschaft und moderne Welt »a subtle rehabilitation of the internal relations, however not exclusive of external relations«35. Ähnlich wie Leclerc ist Alcantara der Mein­ ung, dass Whiteheads »main conceptual innovation« in der These bestehe, »that some relations could be internal in one direction but external from the converse side«36. Demnach gibt Whitehead nach Leclerc und nach Alcantara nicht etwa das Principle of Internal Related­ ness zugunsten eines Principle of Pluralism auf, sondern die sowohl von Alston und Russell als auch von Ford akzeptierte Prämisse, dass interne Relationen wechselseitig, d.h. für alle beteiligten Geschehnisse mit gleichem Impetus intern sind. Und wenn diese Voraussetzung aufgegeben wird, folgt aus der Akzeptanz interner Relationen offen­ sichtlich nicht die Negation eines Pluralismus. Um zu einer Einschätzung der eben skizzierten Alternativen zu gelangen, lässt sich nun schlagwortartig eine dritte Leitfrage formulie­ ren, welche Frage (2) konkretisiert: (3) Erzwingt die Akzeptanz interner Relationen wirklich einen Monismus?

III. Differenzierung der kritischen Leitfragen Nach der obigen Zusammenstellung vorläufiger Leitfragen der vor­ liegenden Untersuchung soll im Folgenden deren Bedeutung näher bestimmt werden. Zu klären sind hierfür in erster Linie zwei zentrale Begriffe, nämlich derjenige der internen Relation und derjenige des Monismus. Um deren Klärung in Angriff zu nehmen, ist es zunächst zweckmäßig, auf zwei stillschweigende Voraussetzungen in Russells Axiom of Internal Relations und Alstons Principle of Internal Related­ 33 34 35 36

Ibid., S. 299. Alcantara (2011) S. 174. Ibid. Ibid.

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

ness hinzuweisen. Beide gehen erstens offenkundig davon aus, dass mit der Akzeptanz interner Relationen das Bestehen nicht-interner Relationen ausgeschlossen wird. Sowohl Alston als auch Russell lesen den jeweiligen Grundsatz als eine starke Internalitätsthese: 1.

Alle Relationen sind intern. (starke Internalitätsthese)

Diese Voraussetzung ist es, die Russell zu der Überlegung führt, dass aus internen Relationen ein Monismus folge: Indem alle Dinge untereinander verbunden sind und alle ihre Verbindungen intern sind, d.h. nur aufgrund ihrer intrinsischen Komplexität bestehen, ist alles und jedes mit jedem und allem derart verflochten, dass es im indefinit komplexen Einen, dem ›großen Ganzen‹, aufgeht. Eine weitere Voraussetzung, die sich sowohl bei Alston als auch bei Russell ausmachen lässt, ist zweitens die Annahme der beidseitigen und auf die besonderen Relata begrenzten Wirksamkeit interner Relationen: 2.

Eine interne Relation ist ›wesentlich‹ für alle ihre Relata, und nur für diese. (beidseitige Internalitätsthese)

Werden beide Annahmen zusammengenommen, dann ergibt sich die problematisierte Konsequenz: Wenn alle Relationen intern sind, erweist sich jedwede Relation, in der A  und B  stehen, offenbar als wesentlich sowohl für A  als auch für B  – und nur für A  und B . Nimmt man aber an, dass die Akzeptanz interner Relationen nicht zwangsläufig eine starke und/oder eine beidseitige Internalitätsthese etabliert, lassen sich die oben formulierten Leitfragen (1) und (2) vorläufig folgendermaßen spezifizieren: (1) Beansprucht Whitehead überhaupt, das Principle of Internal Rela­ tedness zugleich mit dem Principle of Pluralism aufrecht zu erhal­ ten? Und wenn ja, vertritt er dabei eine starke und/oder eine beidseitige Internalitätsthese? (2) Stehen das Principle of Internal Relatedness und das Principle of Pluralism überhaupt miteinander im Widerstreit? Trifft dies nur für die starke und/oder die beidseitige Internalitätsthese zu? Dies vorausgeschickt, kann im Folgenden der Begriff der internen Relation einer näheren Betrachtung unterzogen werden, um anschlie­ ßend erneut zu fragen: (3) Erzwingt die Akzeptanz interner Relationen wirklich einen Monismus?

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III.1 Was heißt ›interne Relationen‹? Einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Relationsbegriffs und seiner Differenzierung in ›interne‹ und ›externe‹ Varianten leistet im Jahre 1920 Russells und Whiteheads Zeitgenosse George Edward Moore. Im Folgenden werden zunächst einige Thesen Moores zusammen­ gefasst und mit Stellungnahmen Russells verglichen, um zu einer näheren Qualifikation von Leitfrage (3) zu gelangen. Unter Bezug auf aktuellere Forschungsbeiträge werden anschließend weitere Dif­ ferenzierungen der Bestimmung des Begriffs der Internalität von Relationen vorgenommen, mittels derer sich unterschiedliche onto­ logische Interpretationen der starken (bzw. auch einer schwachen) Internalitätsthese ausmachen lassen.

III.1.1 Moore contra Russell in Sachen Relationen Im Zentrum des Interesses von Moore steht die Beantwortung der Frage, wie die Behauptung zu verstehen sei, dass eine Relation, in der ein Terminus A  zu einem weiteren Terminus, etwa B , steht, intern ist. Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, stellt Moore zunächst Überlegungen zum Begriff der Relation als solchem an. Diese knüpfen teilweise an eine Unterscheidung an, die auf Russells Auseinandersetzungen mit der Logik (und Ontologie) von Relationsausdrücken zurückgeht. Bereits ab der Jahrhundertwende stellt die Diskussion von Rela­ tionsausdrücken für Russell eine Möglichkeit bereit, sich von Logiken zu distanzieren, die von einer Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen ausgehen – und davon, dass Sätze dazu dienen können (wenn nicht müssen), von einer Substanz die Zugehörigkeit eines Attributs aus­ zusagen. Prädikate, die Attribute eines als Substanz interpretierten Subjektausdrucks bezeichnen, sind typischerweise einstellig: Es han­ delt sich um Eigenschaftsausdrücke wie etwa ›ist einen Meter lang‹. Wenn dieser Ausdruck als Prädikat Verwendung finden soll, muss er einem Gegenstand zugesprochen werden: ›Der Gegenstand x  ist einen Meter lang.‹ Im Unterschied dazu erfordern Relationsausdrücke wie ›ist länger als‹ oder ›ist größer als‹, ›befindet sich auf‹ oder ›befindet sich unter‹, aber auch ›gibt‹, ›liebt‹, ›trägt‹ usw. offensicht­ lich den Bezug auf mehr als einen Gegenstand: ›Der Gegenstand x  ist länger als der Gegenstand y .‹; ›Der Gegenstand x  befindet sich

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

unter dem Gegenstand y .‹; ›Der Gegenstand y  trägt den Gegenstand x .‹ Für Vertreter einer Logik auf Grundlage der Annahme einer Sub­ jekt-Prädikat-Struktur von Sätzen sind solche Ausdrücke laut Russell problematisch. Denn für Vertreter solcher Logiken gibt es, so Russell weiter, im Grunde nur zwei Möglichkeiten, mit Relationsausdrücken umzugehen: eine monadistische und eine monistische.37 Während der monadistische Ansatz eine Proposition, die einen Relationsausdruck enthält, in zwei Propositionen mit jeweils einem einstelligen Prädikat auflöst, verlegt sich der monistische Ansatz darauf, den Relationsausdruck als einstelliges Prädikat für ein zusam­ mengesetztes statt für ein einfaches Subjekt zu interpretieren: Given, say, the proposition a Rb , where R is some relation, the mon­ adistic view will analyse this into two propositions, which we may call ar 1 and br 2, which give to a  and b  respectively adjectives supposed to be together equivalent to R. The monistic view, on the contrary, regards the relation as a property of the whole composed of a  and b , and thus equivalent to a proposition which we may denote by ab r .38

Mit anderen Worten: »The monistic theory holds that every relational proposition a Rb  is to be resolved into a proposition concerning the whole which a  and b  compose.«39 Wie Russell zu Recht betont, gerät der monistische Ansatz in Erklärungsnot, wenn die thematischen Relationsausdrücke asym­ metrische Verhältnisse bezeichnen.40 So bezeichnen etwa die beiden Sätze ›Der Gegenstand x  befindet sich unter dem Gegenstand y .‹ und ›Der Gegenstand y  befindet sich unter dem Gegenstand x .‹ offenkundig verschiedene Sachverhalte. Unter der monistischen Interpretation jedoch, dass die beiden Sätze jeweils eine Aussage über x  und y  zusammen machen, wäre anzunehmen, dass das Ergebnis in beiden Fällen denselben Sachverhalt bezeichnet; schließlich sind die Bestandteile nur das Ganze aus x  und y  sowie ein einstelliges Prädikat. Andererseits ließe sich wohl behaupten, dass ›Der Gegenstand x  befindet sich unter dem Gegenstand y .‹ unter bestimmten Umständen durchaus als Äquivalent für ›Der Gegenstand y  trägt den Gegenstand 37

38 39 40

Vgl. Russell (1903), S. 221. Ibid. Ibid, S. 224. Ibid., S. 224 f.

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x .‹ interpretiert werden kann; die monistische Auffassung der Relationsausdrücke jedoch müsste (sofern die Möglichkeit von Synonymität nicht in Rechnung gestellt würde) davon ausgehen, dass hier zwei verschiedene Sachverhalte bezeichnet werden, da das Prädikat in beiden Sätzen nicht dasselbe ist. Für eine monadistische Interpretation wären solche Probleme nun allerdings auch nicht ohne Weiteres zu lösen. Wenn ›Der Gegen­ stand x  befindet sich unter dem Gegenstand y .‹ als Konjunktion von zwei Sätzen zu deuten wäre, von denen jeweils einer dem Gegenstand x  und einer dem Gegenstand y  ein einstelliges Prädikat beilegt, dann müssten die einstelligen Prädikate gewissermaßen mit einem Richtungsindex zu versehen sein, um die Gesamtbedeutung des Satzes herzustellen. Eine naheliegende Lösung für solche Probleme wäre es, in einem Relationsausdruck die Relation als eigenständiges Element neben beiden Termini anzuerkennen. Wie nun aber Moore in seinem Beitrag zunächst festhält, kommt der Aussage, dass zwei Termini A  und B  zueinander in Relation stehen, in keinem Falle die Bedeutung einer bloßen Auflistung der Elemente eines Aggregats von drei Entitäten – den beiden Termini und der Verbindung – zu.41 Diesen Befund kann auch Russell nicht ignorieren. Zwar will Russell in den Principles of Mathematics neben Menschen, Zeitpunkten, Zahlen, Klassen, Chimären oder ähnlichem auch Relationen zu denjenigen Einheiten, Individuen oder Entitäten zählen, die als eigenständige logische Subjekte in Sätzen vorkommen können und unter diesem Gesichtspunkt als »immutable and indestructible«42 gelten müssen. Relationen sind demnach für Russell selbst Termini, die individuiert werden können, und zwar aufgrund von »numerical identity with themselves and numerical diversity from all other terms«43. Aber auch Russell sieht, dass ein Unterschied gemacht werden muss zwischen »a relation in itself« und »a relation actually relating«44. Eine Relation als Terminus zu benennen und sie zum logischen Subjekt oder einer selbstständigen Entität zu machen, ist zwar möglich, bildet aber nicht das ab, was die Relation leistet, insofern sie als Relation auftritt: In die­ 41 42 43 44

Vgl. Moore (1919–1920), S. 41. Ibid. Ibid. Ibid., S. 49.

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ser Funktion stellt sie die Einheit eines Satzes oder eines Sachverhaltes her. Man betrachte etwa den Satz » A  differs from B .«45. Die Analyse ergibt für Russell allem Anschein nach nur drei Bestandteile: » A , difference, B «46. Doch dieser Tripel ist »merely a list of terms, not a proposition«47. Was dagegen den Satz » A  differs from B .« ausmacht, ist gerade Folgendes: Der Satz ist »essentially a unity, and when analysis has destroyed the unity, no enumeration of constituents will restore the proposition«48. Nur im Satzzusammenhang ist es der Fall, dass eine Relation ihre Termini A  und B  aktual verknüpft. Analoges ließe sich für die mittels Relationsausdrücken dargestellten Sachverhalte behaupten. So bezeichnet Russell auch noch im Jahre 1924 die Auffassung als absurd, »that the relation is a third term which comes between the other two terms and is somehow hooked on to them«49. Was also bedeutet die Aussage, dass zwei Termini A  und B  zueinander in Relation stehen? Offensichtlich kann die Einheit eines relationalen Satzes oder eines relationalen Sachverhalts nur dann konstatiert werden, wenn die Relation nicht als eigenständige Entität neben ihren Termini betrachtet wird. Ein Ansatz, die problematische Einheit herzustellen, bestünde darin, davon auszugehen, dass die Aussage, dass zwei Termini A  und B  zueinander in Relation stehen, einen Sachverhalt ausdrückt, welcher überhaupt nicht weiter in ein­ zelne Konstituenten zu zerlegen ist, sondern als in sich komplex gilt, sofern er aktual besteht. Für Russell wäre das Zugeständnis einer der­ artigen intrinsischen Komplexität wohl undenkbar. Eine intrinsische Komplexität streitet Russell nämlich zunächst den Gegenständen ab, die in einem bestehenden Sachverhalt in Relation zueinander treten. Für relationale Sachverhalte gilt: »[T]hey do not imply that the two objects have any complexity, or any intrinsic property distinguishing them from two objects which do not have the relation in question«50. Widersetzte sich ein relationaler Sachverhalt jedweder Analyse, dann ließe sich schließlich auch ein anderer Punkt nicht in Rechnung stellen – und zwar die von Moore hervorgehobene Beobachtung, dass 45 46 47 48 49 50

Ibid. Ibid. Ibid., S. 50. Ibid. Russell (2010b), S. 140. Russell (1910b), S. 161.

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offenkundig die Möglichkeit besteht, dass ein gegebener Terminus A  ein- und dieselbe Relation nicht nur zu einem einzigen Terminus B  hat, sondern zu mehreren verschiedenen Termini, wie etwa ein Vater die Relation der Vaterschaft zu jedem einzelnen seiner Kinder.51 Für Moore verbietet es sich aber aufgrund der eben erläuterten Überlegungen, die Möglichkeit anzunehmen, dass Relationen gewis­ sermaßen neben primitiven Termini als Komponenten von Sachver­ halten zum Inventar der Welt gezählt würden. Daher entscheidet er sich dafür, anstelle von Relationen zunächst vielmehr relationale Eigenschaften von Termini und Sachverhalten zu verhandeln.52 Was nun sind relationale Eigenschaften? Moore gibt folgende Erläuterung: I think there is no difficulty in understanding what I mean by a relational property. If A  is father of B , then what you assert of A  when you say that he is so is a relational property – namely, the property of being father of B ; and it is quite clear that this property is not itself a relation, in the same fundamental sense in which the relation of fatherhood is so; and also that, if C  is a different child from B , then the property of being father of C  is a different relational property from that of being father of B , although there is only one relation, that of fatherhood, from which both are derived.53

Dieser Ansatz schließt nun allerdings nicht aus, dass das Bestehen eines relationalen Sachverhaltes im Sinne der von Russell kritisierten monadistischen Auflösung von Relationsausdrücken abhängig ist von mehreren ihrerseits nicht-relationalen Sachverhalten, die darin beste­ hen, dass je einem Gegenstand eine gewisse Eigenschaft zukommt – selbst wenn diese Eigenschaft eine relationale ist. Wird Moores Vorschlag jedoch vorläufig akzeptiert, lässt sich die Bedeutung des Ausdrucks spezifizieren, dass ein Terminus A  zu einem weiteren Terminus B  in Relation steht: Der Terminus A  besitzt eine gewisse Eigenschaft φ . Die Eigenschaft φ  ist eine relationale Eigenschaft, sie besteht in A s Verbundensein mit B . Bleibt zu klären, was die problematische Zusatzannahme dieser Behauptung bedeuten kann, dass die per φ  bestehende Relation intern sei. Als möglicher Kandidat für eine Antwort kommt für Moore die seinerzeit (und nicht nur 51 52 53

Vgl. Moore (1919–1920), S. 44. Vgl. ibid., S. 45. Ibid.

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seinerzeit) geläufige Explikation in Frage, dass interne Relationen das Wesen oder die Identität ihrer Termini bedingen. Problematisch wird diese Formulierung für Moore vor allem dann, wenn sie in die kontrafaktische Paraphrase gekleidet wird, dass A  nicht A  wäre, wenn A  nicht in Relation zu einem weiteren Terminus B  stünde.54 Unter der starken Voraussetzung, dass interne Relationen für alle verbundenen Termini intern sind, wäre dann umgekehrt auch B  nicht B , wenn B  nicht zu A  in Relation stünde. Dann aber hat die Aussage, dass ein Terminus A  nicht er selbst wäre, wenn er nicht eine bestimmte relationale Eigenschaft φ  besäße, laut Moore folgende Konsequenz: Wenn der Terminus A  die relationale Eigenschaft φ  nicht hätte, würde es auf A  auch nicht zutreffen, dass A φ  nicht hat.55 Im weiteren Sinne analoge Überlegungen stellt Russell mit Blick auf den Begriff der Externalität von Relationen an: Das Vorliegen einer externen Relation kann nicht durch die Formulierung ausge­ drückt werden, dass zwei Terme sich selbst gleich blieben, wenn sie nicht in einer bestimmten Relation zueinander stünden; »for being what they are, they have the relation, and therefore whatever does not have the relation is different«56. Etwas radikaler versucht Russell bereits früher diese Überlegung zu begründen: Gegeben, dass zwei bestimmte Termini in einer bestimmten Relation zueinander stehen, ist die Behauptung, sie stünden nicht in dieser Relation, schlichtweg falsch. Aber ex falso quodlibet, also: »[If] they are so related, the hypothesis that they are not so related is false, and from a false hypothesis anything can be deduced«57. Moore geht nun letztlich davon aus, dass die Rede von Relatio­ nen eines Terminus, die dessen Wesen oder Identität bedingen, letzt­ lich nur dahingehend interpretiert werden kann, dass ein Terminus X, der eine relationale Eigenschaft φ  nicht hat, nicht identisch mit einem Terminus A sein kann, der die relationale Eigenschaft φ  hat:

54 55 56 57

To say of a given relational property φ  that it […] is internal to a given term A  which possesses it, is to say that from the proposition that a thing has not got φ  it follows that that thing is different from A . In other words, it is to say that the property of not possessing φ , and the property

Vgl. ibid., S. 46. Vgl. ibid., S. 47. Russell (2010b), S. 140. Russell (1910b), S. 166.

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of being different from A  are related to one another in the peculiar way in which the property of being a right-angled triangle is related to that of being a triangle, or that of being red to that of being coloured.58

Wie auch Russell einige Jahre früher festgestellt hatte, folgt so zumin­ dest die numerische Verschiedenheit der Termini einer ›internen‹ Relation von solchen Entitäten, die die entsprechende relationale Eigenschaft nicht aufweisen. Hingegen ist mit der numerischen Diversität der Termini einer Relation keineswegs ihre qualitative Diversität erwiesen – es sei denn das Axiom of Internal Relations werde bereits in seiner starken Lesart vorausgesetzt.59 Bemerkenswert an Moores Erörterung der Thematik ist nun vor allem ein Gesichtspunkt: Moore hält die Generalisierung für unzuläs­ sig, dass daraus, dass der Terminus A  die relationale Eigenschaft φ  hat, folgt, dass jeder beliebige andere Terminus X   die Eigenschaft φ  nicht hat.60 Moore setzt demnach nicht voraus, dass das Axiom of Internal Relations in dem starken Sinne interpretiert wird, der das Axiom erst zur Zielscheibe von Russells Angriffen macht. Vielmehr bietet die Auslotung der Reichweite dieser Annahme für Moore eine Möglichkeit, zwischen internen und externen Relationen zu differenzieren, ohne sich damit bereits auf die These festzulegen, dass es entweder nur interne oder nur externe Relationen gibt. Denn Moore geht davon aus, dass sowohl Fälle denkbar sind, in denen mit der Behauptung, dass A  die relationale Eigenschaft φ  hat, zugleich ausgeschlossen werden soll, dass ein anderer Terminus X   mit A  identisch ist, als auch Fälle, in denen dies nicht zutrifft. In den erstgenannten Fällen darf die durch die relationale Eigenschaft φ  gestiftete Relation als intern verstanden werden; in allen anderen aber lässt sich von externen Relationen sprechen.61 Moores Argumentation schließt dabei augenscheinlich nicht aus, dass es sowohl interne als auch externe Relationen gibt: Allem Anschein nach lässt sich die Klasse der Relationen (zumindest exten­ sional) also in interne und externe aufteilen. Das Bestehen interner Relationen zuzugestehen, impliziert demnach offenkundig nicht, das Bestehen externer Relationen abzustreiten. Damit lässt sich die weiter oben formulierte Leitfrage (3) weiter qualifizieren: 58 59 60 61

Moore (1919–1920), S. 48. Vgl. Russell (1910b), S. 166. Vgl. Moore (1919–1920), S. 52. Vgl. ibid., S. 54 f.

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(3) Erzwingt die Akzeptanz interner Relationen (aus sachlichen oder logischen Gründen) einen Monismus, wenn ›Akzeptanz inter­ ner Relationen‹ nicht zugleich ›Negation von externen Relatio­ nen‹ bedeutet?

III.1.2 ›Indirekt‹ und ›direkt konstitutive‹ interne Relationen Die Bedeutung des Ausdrucks ›intern‹ als Prädikat für Relationen ist nach den obigen Überlegungen noch nicht abschließend geklärt. Um seiner Klärung näher zu kommen, mag eine Unterscheidung zweier Aspekte aufgenommen werden, die in aktuelleren Debatten um den Status von Relationen oft gemacht wird. Differenziert wird hier einerseits der Aspekt der ontologischen Abhängigkeit zwischen Relation und Relata; andererseits der Gesichtspunkt der Struktur von Wahrheitsbedingungen für einen Satz, der das Bestehen eines relationalen Sachverhaltes behauptet. So werden etwa in den von David Yates verfassten Partien der Einleitung zu dem mit Anna Mar­ modoro herausgegebenen Band A Metaphysics of Relations (2016) zwei Definitionsversuche vorgeschlagen: I1: R(x ,y ) is internal1 iff R(x ,y ) is essential to x  and y . I2: R(x ,y ) is internal2 iff ›R(x ,y )‹ is made true by monadic properties of x  and y .62

Die zweite hier aufgeführte Begriffsbestimmung I2 verweist offen­ kundig auf Russells weiter oben diskutierte Unterscheidung zwischen monadistischen und monistischen Modellierungen von Relations­ ausdrücken. Sie besagt, dass die Wahrheit des Satzes, der einen relationalen Sachverhalt ausdrückt, nicht von der Wahrheit oder Falschheit der Prädikation mehrstelliger Prädikate, sondern nur von der Wahrheit oder Falschheit der Prädikation einstelliger Prädikate abhängt, welche intrinsische Eigenschaften der Termini bezeichnen. Mit anderen Worten: ›R(x ,y )‹ erfordert keinen eigenen relationalen truthmaker.63 Als extern gelten dabei im Gegenzug Relationen, die einen relationalen truthmaker erfordern. Wenn z.B., so Yates, für alle Objekte einer gegebenen Sphäre ihre jeweilige (intrinsische) Länge angegeben wird, ist es nicht nötig, einen zusätzlichen truthmaker 62 63

Vgl. Marmodoro; Yates (2016b), S. 8. Vgl. ibid., S. 3 und S. 7.

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für die (relative) Längenangabe zu fordern, dass Objekt A  kürzer ist als Objekt B . Die Relation zwischen A  und B  ist damit intern2. Wenn aber die Behauptung zur Debatte steht, dass zwischen Objekt A  und Objekt B  ein räumlicher Abstand von einem Meter liegt, wird die Lösung schwieriger: Entweder man geht davon aus, dass A  die Eigenschaft besitzt, einen Meter weit von B  entfernt zu sein und dass B  die Eigenschaft besitzt, einen Meter weit von A  entfernt zu sein; die Behauptung, dass A  und B  einen Meter voneinander entfernt sind, würde dann dadurch wahr, dass beide Eigenschaften vorliegen. Oder man geht dazu über, das Bestehen des Lageverhältnisses zwischen A  und B  als truthmaker zu akzeptieren; in diesem Falle wäre keine Reduktion auf intrinsische Qualitäten mehr möglich und die Relation wäre – im Sinne eines Gegenbegriffs zu intern2 – extern2. Weniger klar ersichtlich ist auf den ersten Blick, was die erste Begriffsbestimmung I1 besagt. Denn im Gegensatz zu I2 thematisiert sie nicht den Satz, der das Bestehen eines relationalen Sachverhaltes ausdrückt und der hinsichtlich seiner Wahrheitsbedingungen mög­ licherweise auf eine Konstellation nicht-relationaler Sachverhalte zurückgeführt werden kann, welche ihrerseits durch die Prädikation einstelliger Prädikate zum Ausdruck gebracht werden können. Viel­ mehr ist in I1 die Relation selbst angesprochen, die sich in einem relationalen Sachverhalt manifestieren soll, dessen Bestehen durch einen Satz ausgedrückt wird. Damit werden implizit die Fragen aufge­ worfen, ob und inwiefern es erstens überhaupt so etwas ›gibt‹ wie diese Relation – und unter welchen modalen Vorzeichen sich die Antwort auf die erste Teilfrage ausdrücken lässt. So löst Yates die Verwendung des Ausdrucks ›essentiell‹ in I1 dahingehend auf, dass die Existenz der Termini das Bestehen des relationalen Sachverhaltes notwendigerweise mit sich bringt: »If R is internal1, then necessarily, if either x  or y  exists, then R(x ,y )«64. Die Relation selbst ›gibt‹ es bzw. ›existiert‹ also in diesem Falle genau dann, wenn ihre Termini exis­ tieren, und zwar notwendigerweise. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass es die Relation nicht im starken Sinne ›gibt‹, denn ihr Bestehen hängt von denjenigen Merkmalen ab, welche ihre Termini bestimmen. Werden diese Merkmale instantiiert, dann auch die Relation. Weiter bleibt nun allerdings zu fragen, inwiefern die themati­ schen Merkmale samt der durch sie gestifteten Relation als ›essentiell‹ 64

Ibid., S. 8.

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für ihre Termini gelten können. Hier lässt sich auf einen Beitrag von François Clementz zurückgreifen, der (zum Zweck der Erörterung von Russells Positionierung zum Problem interner Relationen) drei Frage­ stellungen auflistet, die unter Bezug auf das Problem der Internalität von Relationen verhandelt werden können: (i)

(ii)

(iii)

Zunächst lässt sich untersuchen, ob sich Relationen (seman­ tisch) auf Eigenschaften ihrer Termini bzw. ob sich der Gehalt von mehr- auf den von einstelligen Prädikaten zurückführen lässt. Die Frage lautet also, »si les relations peuvent être, d’une manière ou d’une autre, réduites aux qualités – ou, si l’on préfère, aux propriétés monadiques – de leurs termes.«65 Zweitens kann zur Debatte stehen, ob und in welcher Weise eine Relation, in der ein Terminus zu einem oder mehreren anderen steht, als konstitutiv für dessen ›Essenz‹ qua seiner Selbst-Gleichheit gelten darf. Zu diskutieren ist in dieser Hin­ sicht, »si les relations qu’une chose entretient avec d’autres doivent être tenues pour constitutives, en quelque manière, de son essence ou de son identité.«66 Die dritte Fragestellung schließlich richtet sich darauf, ob alle oder zumindest einige Relationen (qua relationale Eigenschaf­ ten) in Eigenschaften (nicht-relationaler Art) be- oder (ontolo­ gisch) gegründet sind, d.h. »si les relations en général – ou, à défaut, certaines catégories d’entre elles – peuvent être conside­ rées comme fondées sur les propriétés (non-relationelles) de leurs termes.«67

Während sich Frage (i) auf die logische Struktur und die Semantik von Relationsausdrücken konzentriert, lässt sich Frage (iii) als onto­ logisches Pendant der ersten Frage interpretieren. So entspricht (i) in etwa der von Yates vorgeschlagenen Begriffsbestimmung I2, und (iii) ergänzt die Struktur für deren ontologische Interpretation. Dem Begriff der wesentlichen oder essentiellen Rolle von Rela­ tionen für ihre Termini, welche in Yates’ I1 angesprochen wird, lässt sich hingegen ausgehend von Clementz’ Gebrauch des Ausdrucks ›konstitutiv‹ in (ii) beikommen. Hinweise zur näheren Bestimmung der Bedeutung des Ausdrucks ›konstitutiv‹ bietet Clementz andern­ 65 66 67

Clementz (2008). Ibid. Ibid.

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orts an: Hier geht der Autor bereits davon aus, dass sich im Sinne der Beantwortung von Frage (i) Relationen ausmachen lassen, deren Ausdruck auf ein jeweils einstelliges Prädikat zurückgeführt werden kann.68 Unter Berücksichtigung von Fragestellung (iii) lässt sich dann behaupten, dass die Relation in diesem Fall aufgrund oder kraft bestimmter (nicht-relationaler) Eigenschaften ihrer Termini besteht. Die aufgrund nicht-relationaler Eigenschaften bestehenden Verbindungen sind hier in einem indirekten69 Sinne konstitutiv für die Termini, d.h. »in some way or the other, critical to the identity of at least one of the terms«.70 Im Unterschied zu Yates geht Clementz erstens klar davon aus, dass nicht beide Termini der Relation hiervon betroffen sein müssen. Zweitens bringt Clementz’ Formulierung eine Einschränkung der von Yates ins Feld geführten Modalität der Notwendigkeit ins Spiel. Denn wie Clementz aufweist, gibt es keinen vorgängigen Grund, hier nicht auch Fälle zuzulassen, in denen eine Eigenschaft für einen Terminus konstitutiv wird, die ihm nur kontingenterweise zukommt.71 Deshalb ist ›konstitutiv‹ allem Anschein nach nicht einfach nur ein Substitut für ›essentiell‹. ›Indirekt‹ ist die konstitutive Funktion der Relation im eben beschriebenen Fall insofern, als der Relation selbst keine eigene Realität zugestanden wird.72 Wie sollte eine Relation auch anders wirksam sein als ›indirekt‹, wenn es sie eigentlich gar nicht gibt? Anders verhält es sich jedoch im Fall von, so Clementz’ Terminologie, direkt konstitutiven (directly constitutive) Relationen.73 In diesem Fall wird eine Relation nicht durch eine Eigenschaft gestiftet, die ihrerseits maßgeblich für die Selbst-Gleichheit mindestens eines ihrer Termini ist. Vielmehr konstituiert hier umgekehrt die Relation ihre Relata: »The relata, this time, depend on the relation itself for their existence, insofar as it is constitutive of their very nature«.74 Die Unterscheidung zwischen indirekt und direkt konstitutiven Relatio­ Vgl. Clementz (2014), S. 210. Clementz selbst verwendet hier nicht den Ausdruck ›indirekt konstitutiv‹; die Wahl einer derartigen Terminologie bietet sich aber an, weil sie ein Gegenstück zu Clementz’ Rede von ›direkt konstitutiven‹ Relationen bereitstellt. 70 Clementz (2014), S. 209. 71 Vgl. ibid., vgl. auch S. 210. 72 Vgl. ibid., S. 211. 73 Vgl. ibid., S. 210; vgl. auch S. 211. 74 Ibid., S. 211. 68

69

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nen in den beiden unterschiedlichen Antworten auf (ii) betrifft dem­ nach offensichtlich den spezifischen Zuschnitt einer ontologischen Interpretation von (i) in (iii): a) b)

Die erste Antwort auf Frage (ii) spricht den Relationen eine eigene Realität ab. Die zweite Antwort auf Frage (ii) scheint umgekehrt die Relata zu bloßen Fiktionen zu erklären.

Je nachdem, welche Antwort auf Clementz’ Frage (ii) akzeptiert wird, variieren dabei die ontologischen Konsequenzen aus Yates’ I1, wenn dort ›essentiell‹ durch ›konstitutiv‹ ersetzt und in der Bezeichnung des Gegenstandes der Konstitution die Konjunktion von x  und y  in eine Adjunktion aufgelöst wird. Die modifizierte Variante von I1 lautet: I1':

R(x ,y ) ist intern1 genau dann, wenn R(x ,y ) konstitutiv für x  oder y , d.h. mindestens einen Terminus von beiden, ist.

Bei den unterschiedlichen Interpretationen ergibt sich daraus: a) in I1': Es folgt die Irrealität der Relationen. b) in I1': Es folgt die Irrealität der Relata.

Doch noch ist offen, ob und inwiefern eine oder beide dieser Lesarten im Sinne einer Antwort auf Leitfrage (3) einen Monismus erzwin­ gen oder wenigstens begünstigen, wenn gemäß der im vorherigen Abschnitt diskutierten Einschränkung der Internalitätsthese nicht alle, sondern zumindest einige Relationen in einer Sphäre intern im Sinne von I1' sind. Denn unter dieser Einschränkung wäre im ersten Fall immer noch eine Vielheit von real existierenden Relata denkbar, im zweiten immer noch eine Vielheit von real existierenden Relatio­ nen.

III.2 Was heißt Monismus? Um die soeben entfaltete Problemstellung weiter diskutieren zu können, ist es erforderlich, nach dem Begriff der internen Relation nun auch den Begriff des Monismus einer eingehenderen Betrach­ tung zu unterziehen. Dazu wird zunächst Bezug auf Russells Posi­ tion und seine Auffassung von Monismus genommen. Es folgt die Diskussion eines aktuelleren Versuches, den seit Russell in Verruf geratenen Monismus durch begriffliche Präzisionen zu rehabilitieren.

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Zur Beantwortung von Leitfrage (3) trägt diese Untersuchung bei, insofern sie nach der Möglichkeit fragt, einen Monismus nicht exklu­ siv auf internen Relationen zu begründen.

III.2.1 Russells Verständnis von ›Monismus‹ Laut eigenen Angaben ist der Anspruch von Russells Monismus-Kri­ tik primär mit einer Positionierung in Fragen der Logik zu identifizie­ ren; doch diese zeitigt ontologisch relevante Konsequenzen. Russells Kritik richtet sich in erster Linie an die Auffassung, »that truth is one«75, eine Auffassung, die Russell als logischen Monismus bezeich­ net. Doch der logische Monismus ist »of course closely connected with ontological monism, i.e. the doctrine that Reality is one«76. Gegen beide Varianten artikuliert Russell im Wesentlichen folgenden Einwand, aus dem sich ablesen lässt, welche Merkmale und Thesen er der kritisierten Position zuschreibt: »It is a consequence of the monistic theory that the parts of a whole are not really its parts. Hence there cannot be any genuine whole on this theory, since nothing can be really a whole unless it really has parts.«77 Diesen Einwand gewinnt Russell zunächst aus der Betrachtung einer logisch-monistischen Wahrheitstheorie. Gemäß der Überzeu­ gung des logischen Monismus sei nichts ganz wahr (wholly true) außer der ganzen Wahrheit (whole truth). Unter dieser Voraussetzung wiederum akzeptiere der logische Monismus keine Einzelwahrheiten (isolated truths), wie etwa 2+2=4. Jeder wahre Satz sei nur dem Anschein nach für sich genommen wahr; in Wirklichkeit aber »only true in the sense that they form part of the system which is the whole truth«78. Die Wahrheit eines Satzes in diesem Sinne in Rechnung stellen zu wollen, würde allerdings erfordern, dass alle Relationen dieses einzelnen Satzes zu allen anderen einzelnen Sätzen im System der ganzen Wahrheit berücksichtigt würden – »and thus the partial truth from which we started would have developed into the one absolute truth«79. Da eine solche Vernetzung aber gemäß Russells Diagnose in der monistischen Betrachtung von Einzelwahrheiten 75 76 77 78 79

Russell (1910b), S. 150. Ibid. Ibid., S. 160. Ibid. Ibid.

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gerade nicht geleistet werden kann, muss dabei unklar bleiben, welche Gesichtspunkte und Beziehungen dafür verantwortlich sind, eine Einzelwahrheit überhaupt zum integralen Bestandteil des Systems der ganzen Wahrheit zu machen. Als Einzelwahrheiten sind Einzel­ wahrheiten also im logischen Monismus laut Russell nie ganz das, was sie innerhalb des Systems der ganzen Wahrheit sind – und deshalb sind sie auch nie ganz wahr, sondern allenfalls mehr oder weniger. Es handelt sich also weniger um Einzelwahrheiten denn um Teilwahrheiten (partial truths). Eben dieser Befund gilt aber Russell zufolge auch für jede Behauptung, die einen Satz überhaupt als Einzelwahrheit ausweisen will: The truth that a certain partial truth is part of the whole is a partial truth, and thus only partially true; hence we can never say with perfect truth ›this is part of the Truth‹. Hence there can be no sense of truth which is completely applicable to a partial truth, because everything that can be said about a partial truth is only a partial truth.80

Die ontologischen Analoga der so charakterisierten Position weist Russell auf, indem er seine Diskussion auf Sätze bezieht, die Relatio­ nen zwischen Teil und Ganzem ausdrücken. Gemäß den bisherigen Befunden müsse eine monistische Theorie davon ausgehen, dass der Satz ›a  ist Teil von W  ‹ nur eine Teilwahrheit darstellen kann, die nur mehr oder weniger, d.h. teilweise wahr ist. Doch Analoges gelte für die Realität des Teiles a  im Verhältnis zum Ganzen W  : »Not only is this proposition not quite true, but the part a  is not quite real.«81 Derselbe Befund betrifft selbstverständlich auch alle anderen Teile des Ganzen W  . Konsequenterweise müsse dann aber anerkannt werden, dass das Ganze W   als Ganzes aus Teilen zusammengesetzt sei, die sämtlich nicht ganz real seien – und folglich nicht in Wirklichkeit ein Ganzes aus Teilen sei: »Thus W   is a whole of parts all of which are not quite real. It follows that W   is not quite really a whole of parts.«82 Die Teile von W   seien nicht »self-subsistent«; sie hätten selbst kein Dasein.83 Deshalb lassen sich aber unter monistischen Prämis­ sen auch keine Teile des Ganzen W   aufzählen, denn schließlich ist jeder Satz, der a , b , c … als Teil von W   ausweist, selbst nur eine 80 81 82 83

Ibid. Ibid. Ibid. Vgl. ibid.

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Teilwahrheit. Auf den unausgegorenen Gedanken hingegen, dass ein Ganzes aus Teilen zusammengesetzt sei, von denen jeder einerseits ein echter Konstituent des Ganzen und andererseits »something on its own account«84 sei, könne – so Russell – dagegen wohl nur ein Uneingeweihter kommen. Diese in beinahe karikaturistischer Form zusammengefassten Probleme führt Russell nun letztlich darauf zurück, dass unklar sei, was der Monismus unter einem Ganzen verstehe und in wel­ chem Sinne er davon sprechen könne, dass ein Ganzes Teile habe.85 Ausschlaggebend ist Russell zufolge hier, dass der Monismus die Wahrheit oder ihr ontologisches Pendant als organische Einheit zu konzipieren beanspruche. Dieser liege die Auffassung des bedeutsa­ men Ganzen zugrunde.86 Ein bedeutsames Ganzes zeichne sich nun allerdings dadurch aus, dass jeder Teil genauso komplex sei wie das Ganze; der Grund dafür sei, dass schließlich jeder Teil das Ganze in sich einbeziehen muss. Folglich sei es erstens der Beliebigkeit anheimgestellt, ob man lieber a  als Teil von W   oder W   als Teil von a  bezeichnen möchte. Zweitens erfordere die Idee des bedeutsa­ men Ganzen zwar, dass das Ganze Teile habe; insofern es aber ein bedeutsames Ganzes ist, seien seine Teile nicht wirklich seine Teile, »since every statement about them, including the statement that they are its parts, must be more or less untrue«87. Letzten Endes erlaube der Monismus der Realität damit keinerlei Struktur. In einem Satz lässt sich Russells (überzeichnetes) Feindbild eines »rigid monism« mit der These zusammenfassen: »There is only one thing and only one proposition«88.

III.2.2 ›Priority Monism‹, interne und externe Relationen In der jüngeren Vergangenheit hat sich insbesondere Jonathan Schaf­ fer darum bemüht, den (zumindest in ›analytischen‹ Kreisen) seit Russell in Verruf gekommenen Monismusbegriff zu rehabilitieren. Zu Russells Einfluss äußert sich Schaffer dabei in einem Beitrag aus dem 84 85 86 87 88

Ibid. Vgl. ibid., S. 151. Vgl. ibid. Ibid. Ibid., S. 168.

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Jahre 2010 sehr deutlich: »Russell misinterpreted monism.«89 Rus­ sells Fehlinterpretation nun liege darin, dass er ›Monismus‹ auffasse als Theorie, die behaupte, »that exactly one thing exists«90. Gegen eine solche Auffassung mag in der Tat Vieles sprechen, angefangen mit der evidenten und nicht zuletzt von Russell zu Recht hervorgeho­ benen empirischen Beobachtung, dass es nun einmal ›viele Dinge gibt‹. Doch um diese Beobachtung theoretisch in Rechnung stellen zu können, ist es Schaffers Ansicht nach nicht notwendig, Russells Pluralismus zu akzeptieren.91 Vielmehr bedarf die Interpretation des Begriffs ›Monismus‹ einer Revision. ›Monismus‹ muss nämlich nicht die Theorie bedeuten, dass es genau eine Entität gibt, sondern kann auch dahingehend verstanden werden, dass genau eine Entität fundamental ist.92 Die Auseinandersetzung zwischen Pluralismus und Monismus betrifft demnach weniger die Frage nach dem ontologischen Inventar der Welt als diejenige nach der Richtung von Abhängigkeitsverhält­ nissen zwischen Welt und Inventar. Systematisch relevant für die beiden Positionen ist dabei ihre jeweilige Verschränkung von mereo­ logischen und metaphysischen Aspekten – die Verschränkung der Betrachtung von Beziehungen zwischen Teil und Ganzem und der Betrachtung der Beziehungen zwischen Grund und Folge, ›vor‹ und ›nach‹.93 Mit anderen Worten: Die Entscheidung für die monistische oder die pluralistische Position fällt mit der Antwort auf die Frage, »what is the ground of the mereological hierarchy of whole and part«94. Deshalb spricht Schaffer auch von einem ›Begründungs-‹ oder ›Prioritätsmonismus‹ bzw. ›-pluralismus‹ und hält auch an anderer Stelle fest: The priority monist holds that whole is prior to (proper) part, and that the maximal whole is ultimately prior. The priority pluralist holds that (proper) part is prior to whole, and typically holds that the minimal parts are ultimately prior. This is not a debate over what exists. Both sides may accept the same roster of existent beings[.]95

89 90 91 92 93 94 95

Schaffer (2010a), S. 46. Ibid. Vgl. ibid. Vgl. ibid. Vgl. ibid., S. 33, vgl. auch S. 38. Ibid., S. 38. Schaffer (2007).

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Bei den beiden Positionen handelt es sich für Schaffer also in erster Linie um »different ways of carving up the cosmos«96. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass es genau eine basale, aktuale und konkrete Entität gibt, und zwar die Welt als Ganzes.97 Dieser Ansatz führt zu einem Prioritätsmonismus qua »conjunction of the numerical thesis that there is exactly one basic object with the holistic thesis that the cosmos is basic.«98 Die zweite Möglichkeit dagegen geht davon aus, dass es viele basale, aktuale und konkrete Entitäten gibt und dass diese echte Teile des Kosmos sind.99 Hieraus ergibt sich ein Prioritätspluralismus qua »conjunction of the numerical thesis that there are at least two basic objects with the partialistic thesis that the cosmos is not basic«100. Schaffers Prioritätsmonismus entspricht somit nicht der These, »that the whole has no parts«, sondern der These, »that the whole is prior to its parts«101. In der historischen Betrachtung erkennt Schaffer eben diese Position vornehmlich in Theorien wieder, die auf der Idee der Welt als organischem Ganzen oder auf der Idee der Welt als integriertem System aufgebaut sind. Die Idee der organischen Einheit der Welt sei nämlich nur mit einem Prioritätsmonismus sinnvoll zu interpretieren, denn schließlich setze sie voraus, dass die Einheit Teile habe.102 Ein Organismus wäre wohl kein Organismus ohne einzelne Organe. In ähnlicher Weise kann die Idee der Welt als integriertes Ganzes nicht unter der Voraussetzung gedacht werden, dass es keine Teile gebe, die im Ganzen integriert sind. Systematisch macht sich Schaffer darüber hinaus mit einer Reihe von Argumenten für die Akzeptanz eines Prioritätsmonismus stark. Das erste beruht auf der Reflexion von »entangled systems in quantum mechanics«103. Schaffers zweites Argument thematisiert die Möglichkeit der Emergenz, also die Möglichkeit des Auftretens einer Eigenschaft, die einer Entität zukommt, welche zwar echte Teile hat, die aber durch die intrinsischen Eigenschaften dieser Teile und

Schaffer (2010a), S. 42. Vgl. ibid., S. 42. 98 Ibid. 99 Vgl. ibid., S. 43. 100 Ibid. 101 Ibid, S. 33. 102 Vgl. ibid., S. 68. 103 Ibid, S. 52. 96 97

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deren Relationen nicht determiniert ist.104 Das dritte und das vierte Argument beziehen sich jeweils auf Phänomene der Asymmetrie der Determination von Eigenschaften bzw. Entitäten. Zum einen führt Schaffer hier den Fall der Supervenienz an. Supervenienz ist laut Schaffer notwendig für echte Teile, nicht aber für ein Ganzes: »The asymmetry is that the proper parts must supervene on their whole, but the whole need not supervene on its proper parts«105. Zum anderen geht Schaffer davon aus, »that there must be an ultimate whole, but there need not be ultimate parts«106 – dass also eine Asymmetry of Existence besteht. Auf dieser Asymmetrie der Existenz beruht auch Schaffers letztes Argument für seine Variante von Monismus: Schaffers Meinung nach lässt sich zwar ein Szenario denken, in dem die Welt aus atomless gunk besteht, nicht aber eines, in dem an die Stelle der Welt worldless junk tritt.107 Schaffer hält es also für möglich, dass die Welt (oder der Kosmos) als ultimatives Ganzes aus etwas besteht, »every part of which has proper parts, and so is lacking any ultimate parts«108. Für unmöglich hält er aber die Variante, dass das ultimative Ganze nicht gegeben ist – d.h. dass es statt Welt (oder Kosmos) etwas gibt, »every whole of which is a proper part, so that there is no ultimate whole.«109 Schaffers Prioritätsmonismus hat demnach offensichtlich zwei wesentliche Voraussetzungen. Die erste lautet, dass es ein ultimatives Ganzes geben muss. Mit anderen Worten: Monismus qua »conjunc­ tion of the numerical thesis that there is exactly one basic object with the holistic thesis that the cosmos is basic«110 setzt allem Anschein nach voraus, dass der Kosmos zur Gänze aktual ist. Er ist nicht aufgrund eines Möglichkeitsspielraums erweiterbar. Die zweite Voraussetzung für Schaffers Argumentation knüpft an genau diesem Gesichtspunkt an. Schaffer verschreibt sich nämlich explizit einem ontologischen ›Fundamentalismus‹ (ontological foundationa­ lism), der den Grundgedanken abbilden soll, »that being needs an ultimate ground«111. 104 105 106 107 108 109 110 111

Vgl. ibid., S. 55. Ibid., S. 56. Ibid., S. 64. Vgl. ibid., S. 61. Schaffer (2007). Ibid. Schaffer (2010a), S. 42. Schaffer (2007).

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Unter den eben erläuterten Voraussetzungen bietet Schaffer an anderer Stelle eine (Neu-)Interpretation des Versuchs, ausgehend von der Akzeptanz interner Relationen einen Monismus zu begrün­ den. Das »argument from internal relatedness«, so Schaffer, »was one of the major nineteenth century neo-Hegelian arguments for monism«112 – und damit nachgerade die argumentative Zielscheibe Russells in der Entwicklung desjenigen Standpunkts, aus dem sich auch die Prämissen Alstons in seiner eingangs zitierten Kritik an Whitehead ableiten lassen. In Schaffers Rekonstruktion besteht die­ ses Argument aus zwei Schritten: »[F]irst, it is argued that all things are internally related in ways that render them interdependent.« Im zweiten Schritt »the substantial unity of the whole universe is inferred from the interdependence of all of its parts«113. Sachlich durchaus überzeugend ist diese Argumentation nach Schaffers Meinung unter zwei Bedingungen. Erstens darf die substantielle Einheit des gesam­ ten Universums nicht im Sinne des Existenzmonismus, sondern muss im Sinne des Prioritätsmonismus verstanden werden.114 Es geht also nicht darum, etwa im Rahmen eines organismischen Modells den Teilen ihr Dasein abzustreiten, sondern nur darum, ihre Angewie­ senheit aufs Ganze aufzuweisen. Zweitens ist die Konzeption der Interdependenz aller seiner Teile im Sinne einer Einschränkung zu interpretieren, und zwar im Sinne einer Einschränkung ihrer Kombinationsmöglichkeiten: »The guiding idea is that failure of free recombination is the modal signature of an integrated monistic cosmos.«115 Beliebigkeit der Kombinationsmöglichkeiten hingegen würde einen Grad an (modaler) Freiheit voraussetzen, der keinerlei notwendige Verknüpfungen zwischen irgendwelchen Entitäten aner­ kennt.116 Des Weiteren hätte die Aktualisierung einer Kombination zweier Entitäten in keinem Falle Auswirkungen auf die Konstellatio­ nen des restlichen Inventars der Welt.117 Beide Annahmen schreibt Schaffer den Befürwortern eines Pluralismus zu, der, ausgehend von Hume, ohne Notwendigkeiten in der Verbindung von Entitäten auszukommen beansprucht. Vertreter dieser Position müssen die 112 113 114 115 116 117

Schaffer (2010b), S. 341. Ibid. Vgl. ibid., S. 342. Ibid. Vgl. ibid., S. 352. Vgl. ibid., S. 354.

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Notwendigkeit einer (scheinbaren) Verknüpfung unterschiedlicher Entitäten dahingehend deuten, dass in Wirklichkeit die Relata der Verknüpfung identisch sind: »Given that there are no necessary connections between distinct existents, necessary connections show that the existent in question are not distinct.«118 Der Verfechter einer monistischen Position dagegen akzeptiert den Grundsatz der Beliebigkeit der Kombinationsmöglichkeiten nicht und übernimmt daher keine der beiden genannten Voraussetzungen. Als idealtypische Gegenüberstellung von Positionen im Diskurs des späten 19. Jahr­ hunderts fasst Schaffer zusammen: »In short: while the neo-Humean argues from pluralism to recombination, the neo-Hegelian should argue from failure of free recombination to monism.«119 Um das monistische Argument zu formulieren, lassen sich nach Schaffer nun allerdings mindestens zwei Schemata unterscheiden. Das erste macht Gebrauch von der starken Internalitätsthese. Es handelt sich um die Annahme, dass alle Relationen intern sind. Die entsprechende Argumentationsstrategie rekonstruiert Schaffer wie folgt: All things are related. All relations are internal relations. Thus all things are internally related.120

Wie die bisher im vorliegenden Beitrag angestellten Überlegungen gezeigt haben, ist es jedoch nicht unumgänglich, eine starke Inter­ nalitätsthese zu akzeptieren. Vielmehr ist es auch denkbar, interne Relationen anzuerkennen, ohne damit zu behaupten, dass alle Rela­ tionen intern sein müssen und es keine externen geben könne. Unter dieser Einschränkung kann die erste Argumentationsstrategie nicht akzeptiert werden. Allenfalls das zweite von Schaffer dargestellte Schema kommt in Frage:

Ibid, S. 350. Ibid. 120 Vgl. ibid., S. 361. Schaffer macht hier deutlich, dass er es für unerheblich für die Argumentationsstruktur hält, welche Bedeutung des Ausdrucks ›interne Relation‹ angenommen wird. Deshalb versieht er seine Verwendungen des Ausdrucks ›intern‹ mit einem Index: »internx« – und spezifiziert: »plug any conception of internality in for x «. 118

119

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All things are related by relation R. R is an internal relation. Thus all things are internally related.121

Die Schwierigkeit für diese Argumentationsstrategie besteht offen­ kundig darin, die erste Prämisse plausibel zu machen. Um das Argu­ ment zu akzeptieren, muss man davon ausgehen, dass es (mindes­ tens) eine Relation gibt, die tatsächlich alle Entitäten in der Welt als Termini hat. Ungeachtet dieser Schwierigkeit bleibt mit Blick auf das zweite Argumentationsschema aber mit Schaffer zunächst festzuhalten: Das zweite Schema etabliert dieselbe Konklusion wie das erste Schema – im Unterschied zu diesem aber schließt es nicht aus, sondern lässt zu, dass es nicht-interne, also externe, Relationen geben kann.122 Um einen Monismus im Sinne Schaffers aufrechterhalten zu können, ist es demnach nicht erforderlich, die Internalitätsthese in dem starken Sinne zu interpretieren, dass alle Relationen intern seien. ›Monismus‹ impliziert demnach nicht ›Negation von externen Relationen‹. Die Leitfrage (3) lässt sich damit nach ihrer ersten Erwei­ terung im vorherigen Abschnitt nun folgendermaßen modifizieren: (3) Erzwingt die Akzeptanz interner Relationen einen Monismus, wenn ›Akzeptanz interner Relationen‹ nicht zugleich ›Negation von externen Relationen‹ bedeutet und ›Monismus‹ nicht ›Nega­ tion von externen Relationen‹ bedeutet? Wenn nun ›Monismus‹ keine Negation von externen Relationen impliziert, dann kann auch eine monistische Theorie externe Relatio­ nen integrieren. Um die Theorie dennoch als monistisch ausweisen zu können, muss vielmehr nur mindestens eine Relation als intern anerkannt werden; möglicherweise also überhaupt nur eine interne inmitten einer indefiniten Anzahl externer Relationen. Doch die Akzeptanz wenigstens dieser einen internen Relation bleibt allem Anschein nach notwendige Bedingung: Kein Monismus ohne interne Relationen – und wenn es auch nur eine einzige ist, die sich als »perva­ sive enough«123 erweist, um alle Entitäten zu verbinden. Offen bleibt dabei selbstverständlich, welche interne Relation dies leisten sollte.

121 122 123

Vgl. ibid. Vgl. ibid. Ibid.

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IV. Zwischenfazit Ein vorläufiges Ergebnis der bisherigen Überlegungen besteht nach allem bisher Gesagten in der Annahme, dass die Akzeptanz interner Relationen, genauer gesprochen: mindestens einer internen Relation, eine notwendige Bedingung für die Verteidigung einer monistischen Position ist. Die Verteidigung einer monistischen Weltsicht erfordert demnach die Akzeptanz interner Relationen – aber es ist nicht der Fall, dass die Akzeptanz interner Relationen einen Monismus erzwingt. Diese Einschätzung gewönne insbesondere dann an Plausibilität, wenn gezeigt werden könnte, dass auch die Wahl einer pluralistischen Weltsicht grundsätzlich offensteht, wenn interne Relationen akzep­ tiert werden. Zu fragen bliebe also: Ist unter Voraussetzung der Akzeptanz interner Relationen auch ein Pluralismus möglich? Der im vorherigen Abschnitt zitierte Schaffer deutet an, dass diese Frage positiv zu beantworten sei, und zwar sogar auf Basis einer starken Internalitätsthese – wenn also alle Relationen intern sind. Während die Akzeptanz mindestens einer internen Relation notwendig für die Verteidigung einer monistischen Position ist, scheint eine pluralistische Position Schaffers Einschätzung zufolge auch ohne mindestens eine externe Relation vertretbar zu sein – und zwar genau dann, wenn Schaffers eigenes Bekenntnis zu einem ontologischen ›Fundamentalismus‹ nicht geteilt wird – wenn also die Annahme aufgegeben wird, dass Ketten von Abhängigkeits- oder Konstitutionsverhältnissen zwischen Entitäten terminieren müssen. Die Ablehnung eines solchen ontologischen ›Fundamentalis­ mus‹ erkennt Schaffer nun allerdings gerade bei Whitehead wieder: Er bezeichnet Whitehead (und McTaggart) als »pluralists who accept the internal relatedness of all things«.124 Den Grund dafür, dass sich Whitehead nicht zu einem Monismus bekenne, vermutet Schaffer darin, dass Whitehead mereologische Verhältnisse »without a maxi­ mal element«125 denke. Übertragen auf den metaphysischen Aspekt der von Schaffer diskutierten Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Teil und Ganzem geht Whitehead demnach offenkundig nicht davon aus, dass sich etwa der Kosmos als aktuale und abgeschlossene ›größte‹ ultimative Einheit bereits voraussetzen lässt. Unter der 124 Schaffer (2010b), S. 355, Fn. 17. Schaffer verweist hier auf Peter Simons’ einfluss­ reiche Studie Parts: A Study in Ontology; vgl. Simons (1987), S. 83. 125 Schaffer (2010b), S. 355, Fn. 17.

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Prämisse, dass es kein Ganzes gibt, können aber selbstverständlich auch nicht alle Teile von demselben abhängen. Naheliegend wäre hier nun selbstverständlich ein Pluralismus mit der Grundannahme: Wenn es keine ultimative ›größte‹ Ein­ heit gibt, so doch wenigstens ultimative ›kleinste‹ Einheiten, die externe Relationen zueinander unterhalten. Doch dies entspricht nicht Whiteheads Ansatz. Denn spätestens in den mittleren Schriften macht Whitehead deutlich, dass er nicht nur kein ultimatives maxi­ males Element, sondern auch keine ultimativen minimalen Elemente anerkennt. In der Tat scheint Whitehead hier die starke Internalitäts­ these zu vertreten, dass alles, was sich im Sinne von Grenzwerten von Reihen einander überlappender Elemente individuieren lässt, in internen Relationen zueinander steht – ohne dabei allerdings einen Monismus zu etablieren. Die nachträglichen Ergänzungen von Wissenschaft und moderne Welt jedoch enthalten Überlegungen, welche die starke Internali­ tätsthese relativieren: Es handelt sich um den Gedanken, dass die Unterscheidung zwischen internen und externen Relationen weniger als extensionale denn als intensionale zu begreifen sind: Es gibt nicht einerseits externe und andererseits interne Relationen, sondern es gibt Beziehungen, die unter bestimmten Gesichtspunkten für einige ihrer Termini entweder die Rolle einer extern oder die Rolle einer internen Relation erfüllen, und für einige andere ihrer Termini möglicherweise die gegenteilige Funktion. So kann Whitehead hier die starke und auch die beidseitige Internalitätsthese aufgeben. Unter den genannten Bedingungen nun sollte es für Whitehead möglich sein, weder ein maximales Element noch minimale Elemente, aber sowohl interne als auch externe Relationen anzuerkennen – und sich dabei nicht einem Monismus zu verpflichten. Inwiefern Whitehead diese Bedingungen tatsächlich einführt, soll im Folgenden abschließend skizziert werden.

V. Interne Relationen und Pluralismus: keine Inkonsistenz bei Whitehead? Soeben wurde im Sinne eines Zwischenfazits die Annahme formu­ liert, dass Whitehead weder ein maximales Element noch minimale Elemente, aber sowohl interne als auch externe Relationen anerkennt, ohne sich dabei einem Monismus zu verpflichten. Belege für die Plau­

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sibilität dieser Annahme sind im Folgenden anzuführen. Ansetzen lässt sich hierfür bereits bei Whiteheads mittleren Schriften.

V.1 Differenzierung von Entitäten und Relationen Kennzeichnend für Whiteheads mittlere Schriften ist, dass die Welt (die Natur oder der Kosmos) nicht als Ganzes absolut gesetzt wird. Vielmehr erschließt sich der integrale Charakter der Welt (der Natur oder des Kosmos) kraft des Gewahrwerdens ihres (oder seines) Geschehens: »Das unmittelbare Faktum für das Bewußtsein ist näm­ lich das gesamte Naturgeschehen. Es ist die Natur als ein dem sinnlichen Bewußtsein gegenwärtiges und seinem Wesen nach im Fluß befindliches Ereignis.« (CN, 14/15). Wie Whitehead an anderer Stelle betont, beinhaltet dieses Bewusstsein des Geschehens dessen Dauer und dessen Objekte nicht etwa als per se geschiedene Faktoren: »We are not aware of two facts, namely, a period of time and also of things existing within that period. We are aware of nature enduring, or – in other words – of the passage of nature.« (TSM, 46) Doch hier macht das Denken selbstverständlich nicht Halt. Es differenziert aber nicht nur zwischen Dauer und Dauerndem. Denn jedes Geschehnis oder Ereignis bezieht eine Vielzahl von mehr oder weniger wirksamen Faktoren mit ein, von denen nur einige unmittel­ bar als Bestandteile bestehender Sachverhalte wiedererkannt werden können; andere gehen jedoch auf mittelbarere Weise in das Ereignis ein. Deshalb erfordert die Betrachtung bestehender Sachverhalte immer zwei Anwendungen der kognitiven Fähigkeit zur Unterschei­ dung: »Einmal die Auflösung des Faktums in seine Bestandteile und dann das Erfassen eines jeden Bestandteils des Faktums, indem es Relationen zu Entitäten unterhält, die nicht Bestandteile des Faktums, aber Ingredientien in ihm sind.« (CN, 14/15) Um nun sämtlichen oder doch zumindest einigen dieser mittelbar wirksamen Faktoren gerecht werden zu können, geht das Denken dazu über, diese vonein­ ander abzugrenzen und ihre Wirksamkeit anhand von Relationen zu Bestandteilen des betrachteten Sachverhalts zu erklären: »Die gedankliche Konzeption aller Faktoren in der Natur als gesonderte Entitäten, die bestimmte natürliche Beziehungen unterhalten, ist […] die ›Diversifikation der Natur‹« (CN, 15/16). Die Diversifikation der Natur und damit auch die Abstraktion von Entitäten und von Relationen dient dabei in erster Linie der Mög­

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lichkeit, einzelne wahrheitswertfähige Gedanken zu fassen. In diesem Sinne hält Whitehead an anderer Stelle fest: »Von Entitäten abgese­ hen, könnte es keine finiten Wahrheiten geben« (CN, 12/14). Entitä­ ten voneinander zu unterscheiden, ist demnach eine notwendige Vor­ aussetzung wahrheitswertfähigen Denkens. Es beinhaltet jedoch keineswegs das metaphysische Postulat voneinander unabhängiger irreduzibler Substanzen: »Das gesonderte Unterscheiden von einer Entität im Denken ist keine metaphysische Bekräftigung, sondern eine Vorgehensweise, die notwendig ist, um individuellen Aussagen einen finiten Ausdruck zu verleihen.« (CN, 12/13 f.) Die Isolierung von (Quasi-)Entitäten ist damit in erster Linie eine Orientierungs­ maßnahme – »das Mittel, mit dem die Uferlosigkeit des Unerhebli­ chen vom Denken ferngehalten wird« (CN, 12/14). Zu betonen ist hierbei, dass es sich bei dieser Orientierungsmaß­ nahme um eine Abstraktionsleistung handelt. So hält Whitehead 1919 fest: »Nature at an instant is a complex abstract conception which is useful for the simple expression of certain natural relations« (TSM, 46). Die Abstraktion besteht dabei im Grunde nur in der Angabe einer Methode, immer basalere (Quasi-)Entitäten zu differenzieren – näm­ lich in der Angabe einer »route of approximation« (TSM, 47), die sich aus einer unendlichen Reihe von einander überlappenden zeitlichen (oder räumlichen) Ausdehnungen ergibt. Was für Zeitpunkte gilt, gilt dabei auch für Raumpunkte, denn »[i]n fact absolute time is just as much a metaphysical monstrosity as absolute space« (PNK, 8). Auch in Wissenschaft und moderne Welt findet sich eine ver­ gleichbare Auffassung. Whitehead artikuliert sie hier im Zusammen­ hang seiner Kritik am »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit« (PR, 7/39; vgl. SMW, Kap. 3). Worin dieser Trugschluss besteht, erläutert Whitehead bekanntlich anhand des Paradigmas der einfa­ chen Lokalisierung von Materie in Raum und Zeit. Im Rahmen dieses Paradigmas gilt es als angemessen, von einem Stück Materie zu sagen, dass es sich eben dort befindet, wo es sich befindet – an einer spezifizierbaren endlichen Stelle in Raum und Zeit –, und zwar ohne dabei etwaige essentielle Relationen in Rechnung stellen zu müssen, die sich aufgrund seiner raumzeitlichen Situierung als Bezugnahmen auf andere räumliche oder zeitliche Gegebenheiten darstellen (SMW, 58/74). Problematisch ist für Whitehead hieran allerdings nicht in erster Linie das beschriebene System der Lokalisierung als solches, sondern seine Erhebung zu einem Paradigma, innerhalb dessen aus der geleisteten Lokalisierung auf die konkrete Existenz des Lokalisier­

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

ten geschlossen wird. Für unzulässig hält Whitehead eben diesen Rückschluss – also die Annahme der Existenz von konkret spezifi­ zierbaren, endlichen und gewissermaßen voneinander unabhängigen Termini raumzeitlicher Relationen. Dabei macht Whitehead deutlich, dass ihm keineswegs daran gelegen ist, in Abrede zu stellen, dass von Dingen und deren Relatio­ nen untereinander zu sprechen möglich ist. Möglich ist dies durchaus – nur darf man die isolierten Entitäten nicht als Konkreta missverste­ hen (SMW, 58/74). Der springende Punkt ist also, dass es sich bei der Isolierung (quasi-basaler) Entitäten und relationaler Schemata um Abstraktionen handelt, die den jeweiligen und jeweils zweckmäßigen Stand wissenschaftlicher Begriffsbildung widerspiegeln: Richtet man die Aufmerksamkeit auf eine abgegrenzte Gruppe von Abstraktionen, so hat das den Vorteil, daß man seine Gedanken auf klar umrissene, abgegrenzte Dinge mit eben solchen Relationen konzentriert. Mit logischem Denken kann man also eine Vielfalt von Schlußfolgerungen über die Beziehungen zwischen diesen abstrakten Einzelwesen ableiten. (SMW, 58/74)

In ähnlicher Art und Weise schließt Whitehead zwar die Möglichkeit aus, ein isoliertes Ereignis ohne Rücksicht auf seine Einbettung in Komplexe weiterer Ereignisse als konkret existent aufzufassen. Doch auch dies verbietet selbstverständlich nicht, Ereignisse als voneinan­ der unabhängige Entitäten zu reflektieren und das Schema von Rela­ tionen zwischen Ereignissen unter der Vorannahme ihrer wechselsei­ tigen Unabhängigkeit als Schema externer Relationen zu betrachten – sofern berücksichtigt wird, dass es sich dabei um Abstraktionen handelt (SMW, 123/148 f.). Letztlich dürfen also auch Ereignisse nicht als absolut gegebene, ultimative Elemente des Weltgeschehens gelten. Die Annahme »that there are definite entities which are events« wird vielmehr in erster Linie auch aus dem Grund gemacht, dass sie »essential for ratiocina­ tion« ist (PNK, 74). An diese Annahme sollten sich laut Whitehead noch keine ontologischen commitments knüpfen: This assumption must not be construed either as asserting an atomic structure of events, or as a denial of overlapping events. It merely asserts the ideal possibility of perfect definiteness as to what does or does not belong to an event which is the subject of thought, though such definiteness cannot be achieved in human knowledge. It is the claim which is implicit in every advance towards exact observation, namely that there is something definite to be known. (PNK, 74)

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Unter Bezugnahme auf den Begriff der Dauer formuliert Whitehead 1920: Jedes Ereignis dehnt sich über andere Ereignisse aus, und jedes Ereignis wird von anderen Ereignissen überdauert. So ist in dem Spezialfall von Augenblicken [durations] […] jeder Augenblick Teil anderer Augenbli­ cke, und jeder Augenblick hat andere Augenblicke, die seine Teile sind. Demnach gibt es keine maximalen und keine minimalen Augenblicke. Es gibt keine atomare Augenblicksstruktur, und die perfekte Definition eines Augenblicks, durch die sich seine Individualität hervorheben […] ließe, ist eine willkürliche Forderung des Denkens. (CN, 59/48)

Bemerkenswerterweise zieht sich zur Zeit von Whiteheads mittlerer Schaffensphase auch Russell auf eine durchaus vergleichbare Posi­ tion zurück. So gesteht er zu, dass sein Konzept von Pluralismus – genauer: Atomismus – nicht erfordere, dass der Ansatz bei der Zerlegung von augenscheinlich komplexen Sachverhalten jemals zu den ultimativen ›kleinsten‹ Entitäten gelangt, die sich zu Komplexen fügen: »I think it is perfectly possible to suppose that complex things are capable of analysis ad infinitum, and that you never reach the simple.«126 Und deshalb ist es zwar möglich, eine Logik aufzustellen, die das Konzept der Relation als mehrstelligem Prädikat zugrunde legt und monadische Zuschreibungen auf dieses zurückführt statt umge­ kehrt. Aber diese Möglichkeit birgt keinerlei ontologische Implikatio­ nen; sie diktiert nicht, dass, was unter logischen Gesichtspunkten als Relatum spezifizierbar ist, auch ontologisch als Konkretum existiert. Die Frage nach der Basis einer Ontologie und damit die Entscheidung für Monismus oder Pluralismus bleiben davon vielmehr gänzlich unberührt: »There is nothing in logic that can help us decide between monism and pluralism, or between the view that there are ultimate relational facts and the view that there are none.«127 Die Wahl einer monistischen oder einer pluralistischen Weltsicht wird dabei nachge­ rade zur Geschmackssache. So bekennt Russell schließlich: »My own decision in favour of pluralism and relations is taken on empirical grounds.«128 Russell (2010a), S. 31. Vgl. dort auch den Fragen- und Antwort-Teil: »Mr. Carr: You do not mean that in calling the thing complex, you have asserted that there really are simples? Mr. Russell: No, I do not think that is necessarily implied«. 127 Russell (2010b), S. 145. 128 Ibid. Vgl. auch den Fragen- und Antwort-Teil zu der »Philosophy of Logical Atom­ ism« in Russell (2010a), S. 14: »Question: Do you take your starting-point ›That there 126

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

An Whiteheads Verwendung des Begriffs der Prehension in Wissenschaft und moderne Welt wird deutlich, inwiefern Whitehead in der Tat nicht nur keine minimalen Elemente, sondern auch kein maxi­ males Element annimmt – sei es in metaphysischer oder in mereologi­ scher Hinsicht. Den Begriff der Prehension führt Whitehead eigenen Angaben zunächst nur vorläufig ein, und zwar um die wesentliche Einheit eines Ereignisses zu bezeichnen (SMW, 72/90). Eine Pre­ hension ist demnach nichts anderes als ein Ereignis – allerdings unter dem Gesichtspunkt, dass jedes Ereignis just aufgrund seiner Einbettung in (vornehmlich raumzeitliche) relationale Gefüge viel in sich aufnimmt und synthetisiert anstatt in spezifizierbarer und endlicher Abgrenzung neben anderen Ereignissen zu stehen. Dem­ entsprechend ist ein Ereignis qua Prehension stets ein Geschehen der Einheitsstiftung; offenkundig ist die Einheit, die gestiftet wird, dabei jedoch niemals abgeschlossen: Ein Erfassen [prehension] ist ein Prozeß der Vereinigung. Also ist die Natur ein expansiver Entwicklungsprozeß, der notwendigerweise von einem Erfassen zum anderen übergeht. Was erreicht ist, wird dadurch weitergegeben[.] (SMW, 72/90)

Mit anderen Worten: »So ist die Natur eine Struktur von Evoluti­ onsprozessen. Die Realität ist der Prozeß.« (SMW, 72/90) Wenn sich dieser Prozess aber stets weiter entfaltet, dann kann Whitehead nicht nur keine minimalen konkreten Elemente, sondern auch kein maximales konkretes Element voraussetzen.

V.2 Relationen zwischen Geschehnissen und Objekten Die soeben zusammengefasste Auffassung Whiteheads bleibt nicht ohne Bezüge auf seine Positionierung hinsichtlich der Frage, welcher Art die Relationen zwischen den stets nur vorläufig konkreten Enti­ täten sind. In der publizierten Fassung des siebten Kapitels von Wissenschaft und moderne Welt erklärt Whitehead: are many things‹ as a postulate which is to be carried along all through, or has to be proved afterwards? Mr. Russell: No, neither the one nor the other. I do not take it as a postulate that ›There are many things‹. I should take it that, in so far as it can be proved, the proof is empirical […]. I do not consider there is any logical necessity for there to be many things, nor for there not to be many things[.]«.

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Die Theorie der Beziehung zwischen Geschehnissen, zu der wir nun gelangt sind, beruht zunächst auf der Lehre, daß das Bezogensein eines Geschehnisses ganz aus inneren Relationen besteht, was das jeweilige Geschehnis angeht, jedoch nicht notwendigerweise, was die anderen Relata betrifft. (SMW, 122 f./148)

Tatsächlich ist es gerade die Einbettung in ein Gefüge interner Relationen, die für Whitehead erklärt, warum und inwiefern ein Ereignis eben genau da statthat wo es statthat und genauso statt­ hat wie es statthat. Und in dieser Hinsicht ist es für Whitehead offensichtlich akzeptabel, die (wenngleich nicht unproblematische) Begriffsbestimmung für ›interne Relation‹ zu übernehmen: »[O]hne diese Beziehung wäre das Geschehnis also nicht es selbst. Genau das ist mit dem Begriff der inneren Relationen gemeint.« (SMW, 123/148) Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass für Whitehead nicht im indirekt konstitutiven Sinne die Relation von ihren Relata abhängt, sondern umgekehrt jede Relation direkt konstitutiv für das Ereignis ist, das in sie eingeht: »Denn jede Beziehung geht in das Wesen des Geschehnisses ein« (SMW, 123/148). Als Prehensionen (wenngleich nicht notwendigerweise als Abs­ traktionen), d.h. qua wirkliche Geschehnisse, sind Ereignisse also untereinander intern verbunden. Doch wie oben bereits angeführt, gilt der Befund der internen Verbundenheit »nicht notwendigerweise, was die anderen Relata betrifft« (SMW, 122 f./148). Mit ›andere Relata‹ scheint Whitehead hier zu meinen: Relata, die von einem anderem Typus sind als Ereignisse. Solche führt Whitehead bereits in den mittleren Schriften ein, und zwar anhand der funktionalen Unter­ scheidung zwischen Ereignissen als Geschehen fürs Bewusstsein und Objekten als Gegenständen der Erkenntnis, die im Geschehen eines Ereignisses auszumachen sind. So führt Whitehead aus, dass im Zuge der Diversifikation der Natur abgesehen vom konkreten Geschehen von Ereignissen auch Objekte isoliert werden – also (Quasi-)Entitä­ ten, die sich im Gegensatz zu den je individuellen Ereignissen als sol­ che wiedererkennen lassen oder die sich wiederholen können (TSM, 51). Während Ereignisse hierbei als kontinuierlich weiter teilbar auf­ gefasst werden, stellen Objekte vorerst (quasi-)atomare Gegebenhei­ ten dar (TSM, 55), lassen sich als solche aber nur aufgrund ihrer Rela­ tionen zu Ereignissen identifizieren (TSM, 56). In Wissenschaft und moderne Welt erläutert Whitehead ausführ­ licher die Charakteristika unterschiedlicher Sorten von Objekten. Ein Sinnesobjekt etwa ist eine Entität, derer man sich als Gegen­

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stand eines Aktes der Sinneswahrnehmung bewusst wird (SMW, 70/88). Als Beispiele gibt Whitehead einen bestimmten Grünton, eine bestimmte Klanghöhe oder einen bestimmten Geruch an. Sin­ nesobjekte dieser Art haben als Faktoren am Geschehen teil, indem sie sich raumzeitlich realisieren – wenn sie Eintritt (ingression) in die Raum-Zeit halten (SMW, 70/88). Indem sich nun ein Ereignis als Prehension gewisser Aspekte seiner Raum-Zeit konstituiert, d.h. ein wirkliches Geschehnis wird, kann das Sinnesobjekt zur Komponente dieses Ereignisses werden. Wie Whitehead im nachträglich hinzugefügten zehnten Kapitel von Wissenschaft und moderne Welt unter Bezug auf frühere Schrif­ ten (PNK, Kap. V, Abschnitt 13) erläutert, dient die Isolierung von Objekten somit der Diversifikation der konkreten Einheit der Aktua­ lisierung eines Geschehnisses im Moment seiner Erfahrung – und damit der Bemühung um deren begrifflich-kognitive Verarbeitung: Bei jedem Anlaß des Erkennens [cognition] ist das, was erkannt wird, ein wirkliches Ereignis der Erfahrung, das durch eine Sphäre von Ein­ zelwesen abgewandelt wird, die diesen unmittelbaren Anlaß insofern transzendieren, als sie ähnliche oder andersartige Zusammenhänge mit anderen Erfahrungsereignissen haben. (SMW, 158/185)

Als Beispiel führt Whitehead hier erneut einen Farbton an, der sich in unterschiedlichen Vorkommnissen identifizieren lässt. Dieser Farbton kann in einem konkreten Geschehnis, z.B. in Verbindung mit der Aktualisierung einer bestimmten Gestalt, auftreten: »Zum Beispiel kann ein bestimmter Rot-Ton im unmittelbaren Ereignis mit Kugelförmigkeit einhergehen.« (SMW, 158/185). Es liegt nun auf der Hand, dass das hier aktualisierte Geschehnis (unter anderem) wesent­ lich durch die Relation des Farbtons und der Gestalt gekennzeichnet ist. Aber dies muss erstens keinesfalls bedeuten, dass die Relation zwischen Farbton und Gestalt eine notwendige ist – also notwendi­ gerweise instantiiert würde, sobald entweder der Farbton oder die Gestalt aufträten. Zweitens ist offenkundig, dass sowohl der Farbton als auch die Gestalt Relationen zu anderen Geschehnissen einge­ hen können, die sich in diesem Fall ihrerseits wesentlich durch sie gekennzeichnet erweisen; und zwar jeweils unabhängig voneinander. Mit anderen Worten: Die so isolierten Objekte transzendieren ihre individuellen Aktualisierungen, insofern sie jeweils auch für andere Geschehnisse zur Verfügung stehen. Die Geschehnisse aber werden genau durch diejenigen Relationen zu dem, was sie sind, welche die

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transzendenten Objekte in ihren Aktualisierungen untereinander – und damit durch die Relation zu den Geschehnissen – eingehen: »Und abgesehen von dem wirklichen Vorkommen derselben Dinge in anderen Ereignissen, steht jedes wirkliche Ereignis auch innerhalb einer Sphäre von anderen miteinander verbundenen Einzelwesen.« (SMW, 158/185) Zu berücksichtigen ist, dass Whitehead an dieser Stelle bereits zur Erörterung einer besonderen Art von Objekten übergegangen ist. Relevant für die Konstitution von wirklichen Geschehnissen sind hier nicht so sehr Sinnes-Objekte, sondern was Whitehead ›ewige Objekte‹ nennt. Die Bedeutung dieses Ausdrucks bestimmt Whitehead vorläufig als ähnlich der Bedeutung des philosophiege­ schichtlich vorbelasteten Ausdrucks ›Universalie‹ (SMW, 158 f. /185 f.). Es handelt sich um abstrakte Entitäten in dem Sinne, dass sie unabhängig von jedweder Aktualisierung in konkreten Geschehnissen begreiflich (comprehensible) sind (SMW, 159/186). Dabei lassen sich Unterscheidungen zwischen einfachen und kom­ plexen ewigen Objekten vornehmen, die jedoch ihrerseits nicht als absolut zu verstehen sind. Als einfach gelten ewige Objekte, insofern sie nicht im Verhältnis zu anderen, sondern für sich betrachtet werden; als Beispiel nennt Whitehead wieder einen bestimmten Farbton. Als komplexe ewige Objekte dagegen werden die relationalen Gefüge betrachtet, aufgrund welcher sich ein ewiges Objekt von anderen unterscheidet (SMW, 166/194). Der Aspekt der Einfachheit ewiger Objekte betrifft demnach deren jeweilige Individualität, der Aspekt ihrer Komplexität dagegen die Individualität, sofern sie sich durch Abgrenzung ergibt. Ewige Objekte transzendieren ihre Aktualisierungen im eben erläuterten Sinne (SMW, 159/186). Aber das bedeutet keinesfalls, dass es zwischen ewigen Objekten und wirklichen Geschehnissen keine Relationen gibt. Ganz im Gegenteil determinieren die ewigen Objekte überhaupt erst jedwedes aktuale Geschehen. Die Kraft, bestimmte Geschehnisse auf gewisse Weisen zu determinieren, kann ewigen Objekten dabei allerdings nur deshalb zukommen, weil sie erstens individuell bestimmt sind und sich damit zweitens vonein­ ander deutlich unterscheiden. Diese beiden Merkmale ergeben sich für Whitehead aus dem relationalen Wesen ewiger Objekte (SMW, 160/187). Das relationale Wesen von ewigen Objekten besteht in seinem »vollkommen abgegrenzten Status […] als ein Relatum in dem allgemeinen Beziehungsschema« (SMW, 164/192), lässt sich

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aber anhand jedes einzelnen ewigen Objektes ohne Berücksichtigung der anderen bestimmen. Das relationale Wesen eines ewigen Objekts gereicht dabei zu seiner Festlegung auf bestimmte Möglichkeiten, in wirkliche Geschehnisse Eingang zu haben und sie so zu prägen. Whitehead fasst zusammen: Zum Verständnis eines zeitlosen Gegenstandes muß man also folgen­ des kennen: (1) seine besondere Individualität, (2) seine allgemeinen Beziehungen zu anderen zeitlosen Gegenständen als geeignet, in wirk­ lichen Ereignissen realisiert zu werden, und (3) das allgemeine Prinzip, das sein Eintreten in besondere wirkliche Ereignisse zum Ausdruck bringt. (SMW, 159/186)

Aufgrund dieser drei Bestimmungen leistet ein ewiges Objekt bei Eingang in ein wirkliches Geschehnis einerseits einen einzigartigen Beitrag zu dessen Konstitution; doch kraft seiner eigenen abstrakten Individualität ist dieser Beitrag für alle wirkliche Geschehnisse, in die es eingeht, derselbe. Die abstrakte Individualität eines ewigen Objekts andererseits ergibt sich hierbei nur daraus, dass jedes ewige Objekt von allen anderen als das abzugrenzen ist, was es ist. Mit anderen Worten: Ein zeitloser Gegenstand, als ein abstraktes Einzelwesen betrachtet, kann nicht von seinem Bezug zu anderen zeitlosen Gegenständen und zur Wirklichkeit im allgemeinen getrennt werden, auch wenn er von seinen wirklichen Eintretensweisen in abgegrenzte wirkliche Einzelwesen losgelöst ist. (SMW, 159/187)

Ein ewiges Objekt A  ist determiniert hinsichtlich seiner Beziehungen zu jedem anderen ewigen Objekt; schließlich bestimmen diese sein relationales Wesen, hinsichtlich seiner Beziehungen zu jeglichen wirklichen Geschehnissen ist es jedoch nicht determiniert (SMW, 160/187). Zwar ist es aufgrund seines relationalen Wesens auf bestimmte Modi festgelegt, zu wirklichen Geschehnissen beizutragen – nicht aber darauf, in ein bestimmtes wirkliches Geschehnis Eingang zu finden. Diese zweifache Perspektive auf den Status von ewigen Objekten nun erlaubt es Whitehead, zwischen internen und externen Relationen in der Konstitution des wirklichen Geschehens zu diffe­ renzieren – und damit sowohl interne als auch externe Relationen anzuerkennen. Die Relationen zwischen ewigen Objekten sind intern: Da die Beziehungen A’s zu anderen zeitlosen Gegenständen auf bestimmte Weise in A’s Wesen liegen, müssen sie innere Relationen sein. Damit meine ich, daß diese Beziehungen für A konstitutiv sind;

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denn ein Einzelwesen, das in inneren Relationen steht, existiert ohne diese Relationen nicht als Einzelwesen. (SMW, 160/187)

Die Relationen von ewigen Objekten zu wirklichen Geschehnissen hingegen sind extern: »Nun kann ein Einzelwesen nicht in äuße­ ren Relationen stehen, solange in seinem Wesen nicht eine Unbe­ stimmtheit liegt, die solche äußeren Relationen duldet.« (SMW, 160/187) Und genau diese Unbestimmtheit kennzeichnet das Ver­ hältnis ewiger Objekte zu einzelnen Aktualisierungen – »in A’s Wesen [liegt] eine Geduld mit Beziehungen zu wirklichen Ereignis­ sen« (SMW, 160/187). Hinsichtlich der Relationen von ewigen Objekten untereinander vertritt Whitehead hier sogar eine starke und beidseitige Internalitäts­ these. Alle Relationen in diesem Bereich sind intern, und zwar für alle Relata: Das bestimmte Bezogensein des zeitlosen Gegenstandes A auf jeden anderen zeitlosen Gegenstand macht aus, wie A systematisch und auf­ grund der Notwendigkeit seiner Natur auf jeden anderen zeitlosen Gegenstand bezogen ist. Solches Bezogensein stellt eine Möglichkeit der Realisierung dar. Aber eine Beziehung ist eine Tatsache, die alle einbezogenen Relata betrifft, und sie kann nicht isoliert werden, als enthalte sie nur eins der Relata. Entsprechend gibt es eine allgemeine Tatsache des systematischen wechselseitigen Bezogenseins, die dem Charakter der Möglichkeit inhäriert. (SMW, 160 f./188)

Doch während die Relationen von ewigen Objekten zu wirklichen Geschehnissen nicht intern, sondern extern sind, sind die Relatio­ nen von wirklichen Geschehnissen zu ewigen Objekten ihrerseits intern; schließlich werden die Geschehnisse ja durch den Eingang bestimmter und nicht anderer ewiger Objekte konstituiert. Daher erläutert Whitehead: Daher ist das allgemeine Prinzip, das A’s Eintreten in das besondere wirkliche Ereignis a  zum Ausdruck bringt, die Unbestimmtheit, die im Wesen A’s liegt, was sein Eintreten in a  angeht, aber auch die Unbe­ stimmtheit im Wesen a′s hinsic htlich des Eintretens von A in a . Das synthetische Erfassen, das a  ist, entspricht also der Auflösung der Unbestimmtheit A’s in die Bestimmtheit von a . Dementsprechend ist die Beziehung zwischen A und a  eine äußere, was A betrifft, und eine innere in Bezug auf a . (SWM, 160/187 f.)

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VI. Fazit Wie soeben aufgezeigt, vertritt Whitehead bereits in Wissenschaft und moderne Welt erstens die Möglichkeit, sowohl interne als auch externe Relationen anzuerkennen sowie zweitens den Ansatz, die Internalität bzw. Externalität von Relationen in Abhängigkeit von ihrer Richtung zu differenzieren. Somit trifft es nicht zu, dass Whitehead im Sinne der einleitend zitierten Kritik von Alston ein uneingeschränktes Principle of Internal Relatedness vertritt. Vielmehr optiert Whitehead für eine schwache und nicht beidseitige Internalitätsthese. Wie in den vorhergehenden Abschnitten dargelegt wurde, erzwingt die Akzeptanz interner Relationen darüber hinaus keine monistische Ontologie – und zwar weder im Sinne der Existenz wie bei Russell noch im Sinne der Priorität wie etwa bei Schaffer. Jedoch bleibt die Akzeptanz mindestens einer internen Relation eine notwendige Voraussetzung für einen Monismus – eine notwendige Voraussetzung, die Whitehead auf dem Stand von Wissenschaft und moderne Welt also durchaus erfüllt. Dennoch ist es problematisch, Whiteheads hier vorgetragene ›organismische‹ Philosophie kohärent etwa als Priority Monism im Sinne Schaffers interpretieren zu wollen. Denn die Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, possibility und actuality, scheint es Whitehead zu erlauben, eine wei­ tere notwendige Bedingung für einen Priority Monism auszusetzen: den ontologischen ›Fundamentalismus‹. Bereits in den mittleren Schriften wird deutlich, dass Whitehead weder mereologisch noch metaphysisch gesprochen absolut ›kleinste‹ oder ›größte‹ Teile im Inventar der Welt anerkennt. Whitehead kann somit weder einen (atomistischen) Pluralismus der minimalen Elemente noch einen Monismus des umfassendsten maximalen Ele­ ments vertreten. In Wissenschaft und moderne Welt legt Whitehead nun zwar im Bereich des Möglichen durchaus eine Abgeschlossenheit des Bestands ewiger Objekte nahe; nur dann kann im Reich (realm) der ewigen Objekte von einem völlig determinierten und determi­ nierenden relationalen Schema ausgegangen werden. Im Bereich des Wirklichen jedoch scheint Whitehead charakteristischerweise zuzulassen, dass sich das wirkliche Geschehen aufgrund von teils kontingenten Bestimmungen fortentwickelt – ohne dabei vorauszu­ setzen, dass diese Entwicklung auf einen in sich abgeschlossenen Kosmos hin verläuft.

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Interne Relationen, Monismus und Pluralismus bei Whitehead und Russell

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Whitehead und Russell zur Philosophie der Materie1

I. Einleitung Mit der Entwicklung der Denkschulen der anglo-amerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts wurden Whitehead und Russell zu Symbolfiguren – Whitehead für den spekulativen und Russell für den analytischen Ansatz.2 Der eine beschäftigte sich mit der Konstruktion einer umfassenden Metaphysik; der andere betonte das Streben nach begrifflicher Klarheit mit den Mitteln strenger logischer und linguisti­ scher Analyse. Die antithetische Beziehung dieser beiden widerstrei­ tenden Parteien ist allerdings weniger offensichtlich, wenn wir die Ziele in den Blick nehmen, die Whitehead und Russell teilten, unmit­ telbar nachdem sie in ihrem Monumentalwerk Principia Mathematica an den Grundlagen der Mathematik zusammengearbeitet hatten. Beide waren nun mit einem anderen grundlegenden Projekt befasst, der Philosophie der Physik. Whitehead und Russell entwickelten, als offensichtlichste Konsequenz aus den revolutionären Fortschritten der modernen Physik, jeder für sich eine Ereignisontologie, doch waren sie unterschiedlicher Ansicht darüber, wie diese Ontologie als metaphysische Grundlage der Physik zu interpretieren sei. Das Ziel meines Essays ist es daher, die Affinitäten und Gegensätze in Whiteheads und Russells Ansichten darüber herauszuarbeiten, wie das ausgedehnte Universum, bestehend aus Materie und ›leerem‹ Raum, als eine Mannigfaltigkeit von Ereignissen zu denken sei. Ich zeige außerdem, wie viel von Russells Metaphysik durch Whiteheads Ich danke den Herausgebern für die Einladung, dieses Kapitel beizusteuern, sowie George W. Shields und John Lango für kritische Kommentare, die mir geholfen haben, den Text zu verbessern. 2 Siehe auch Lucas Jr. (1988), wo auf interessante Affinitäten und Kontraste zwischen dem spekulativen Whitehead und dem analytischen Russell eingegangen wird. 1

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frühere Arbeit beeinflusst war. Während Russell selbst diesen Einfluss großzügig anerkannte, wird er von Kommentatoren seiner Philoso­ phie selten zur Kenntnis genommen.

II. Revolte zum Pluralismus Die Entwicklung von Whiteheads und Russells philosophischem Denken kann mit Russell als eine »Revolte zum Pluralismus«3 gekennzeichnet werden. Wie er es ausdrückte, ist das Universum eher ein Haufen Schrot als ein Topf Sirup.4 Das ist nicht ganz Whiteheads Ansicht, aber die Theorie der zeitlichen Atomizität, die sich aus seiner früheren, holistischen Theorie entwickelte, fügt sich problemlos in eine allgemeine Beschreibung eines pluralistischen Universums ein. Für Whitehead ist das Universum eher wie Schrot im Sirup, wobei das Schrot aus vorherigem Schrot entsteht und nur für einen Sekunden­ bruchteil Bestand hat. Russell berichtet, dass er begann, sich mit den Grundlagen der Physik zu beschäftigen, nachdem er die Arbeit an den Grundlagen der Geometrie 1896 abgeschlossen hatte, aber da er sich unter dem Einfluss der damals in Großbritannien dominierenden philosophi­ schen Strömung, des Hegelianismus, befand, war der geringe Ertrag dieser Arbeit, wie er rückblickend sagte, »vollständiger Unsinn«5. Russell hatte die Vorstellung akzeptiert, dass die Wissenschaften auf einen Ausschnitt der Realität beschränkt seien und daher kaum mehr als Erscheinungen in der Realität des Absoluten produzierten. Diese Auffassungen wurden von britischen Hegelianern wie Francis Herbert Bradley, Bernard Bosanquet und Harold Joachim geteilt. Ihnen zufolge zerlegen die Wissenschaften die Wirklichkeit in Teile und beschäftigen sich daher nur mit Abstraktionen. Als Russell jedoch Hegels Ansichten zur Mathematik und Wissenschaft einer gründlichen Prüfung unterzog, begann er, an all dessen Auffassungen zu zweifeln. Als er sich schließlich von der unbestrittenen Autorität Hegels befreit hatte, nahm er im Zuge dessen die jeweils gegenteiligen Russell (1995), S. 42. [Im Sinne der Leserfreundlichkeit werden im Folgenden alle fremdsprachigen Zitate auf Deutsch wiedergegeben. Sofern nicht anders vermerkt, handelt es sich dabei um unsere Übersetzungen, FA und DH.]. 4 Vgl. Russell (1956a), S. 40 f. und S. 43. 5 Russell (1995), S. 32 f. 3

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extremen Positionen ein: der Realismus ersetzte den Idealismus, der Pluralismus den Monismus und die Doktrin der externen Relationen ersetzte die Doktrin der internen Relationen. Auch wies er die idea­ listische Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit der Erfahrung oder des Bewusstseins in der Totalität des Universums zugunsten der Vor­ stellung von Erfahrung als einem winzigen und kosmisch unbedeu­ tenden Teil des Universums zurück. Russell betrachtete all diese Neu­ erungen als wissenschaftlich fundierter und seinem zweiten Versuch über die Grundlagen der Physik wesentlich angemessener. Tatsäch­ lich waren Russell und Whitehead Teil der Bewegung, den Hegelia­ nismus zu Fall zu bringen; beide sahen in der Lehnstuhlspekulation der Hegelianer eine Art fehlgeleiteten Größenwahn, verglichen mit den erstaunlichen Erfolgen der Wissenschaften, insbesondere der Physik.6 Als James Clerk Maxwell und Albert Einstein das Programm der Physik neu bestimmten, bekam Russells Arbeit an den Grundlagen der Physik ein starkes Fundament. Nach eigener Auskunft begann er an diesem Punkt, unter maßgeblichem Einfluss von Whitehead, über die physikalische Welt nachzudenken.7

III. Die Ontologie der Relationen Russell identifizierte das Axiom der internen Relationen als die entscheidende Doktrin, die das klare Denken in der Mathematik und in der Konzeption der physikalischen Welt behinderte. Wie oben erwähnt, war dies ein zentraler Bestandteil seiner Revolte zum Plura­ lismus. Dementsprechend attackierte er die monistische Auffassung von Relationen in seinen Principles of Mathematics und insbesondere Bradleys Kritik von Relationen, der zufolge aller Anschein von Indi­ vidualität und Relation als Illusion zu verstehen sei. Das Axiom der internen Relationen behauptet nach Russell, dass »in jeder Bezie­ 6 Wie Russell, äußerte auch Whitehead, Hegels Bemerkungen zur Mathematik seien ihm wie »vollständiger Unsinn« vorgekommen. Wiederholt stritt er ab, in irgendeiner Weise direkt von Hegel beeinflusst zu sein, wobei er jedoch den Einfluss von Hege­ lianern wie Bradley, Haldane und McTaggart einräumte (ESP, 7; 115 f.). 7 Vgl. Russell (1995), S. 10. [Wir folgen hier und in den folgenden Zitaten aus My Philosophical Development weitgehend der Übersetzung von Eberhard Bubser in Rus­ sell (1995).]

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hung zwischen zwei Dingen primär ›interne‹ Wesenseigenschaften dieser Dinge zum Ausdruck kommen und – wenn man noch genauer hinsieht – letzten Endes eine Wesenseigenschaft des ›Ganzen‹, das durch die beiden Dinge gebildet wird«8. Er setzte diese metaphysische Doktrin mit der monistischen Theorie der Wahrheit gleich, weil nichts als wahr gelten kann, außer in Relation zum Ganzen. Russell macht dies wie folgt geltend: Wenn wir dagegen nur den Teil des Wesens von A betrachten, vermöge dessen A in der-und-der Beziehung zu B steht, muss es heißen, dass wir A ›als einen so-und-so auf B bezogenen Gegenstand‹ betrachten, und das ist eine abstrakte und nur partieller Wahrheit fähige Betrach­ tungsweise; denn im Wesen von A (das ja von A selber keineswegs unterschieden werden darf) liegt ja nicht nur seine Beziehung zu B begründet, sondern darüber hinaus auch seine Beziehungen zu sämtlichen übrigen Dingen dieser Welt. Man kann also nichts uneinge­ schränkt Wahres über A aussagen, wenn man nicht die gesamte übrige Welt mit in die Aussage aufnehmen will[.]9

Während Russells Angriff die monistische Theorie der Relationen überhaupt zum Ziel hat, scheint er Bradley die Doktrin der internen Relationen zuzuschreiben, und er nennt Appearance and Reality als eines der Schlüsselwerke im Würgegriff der monistischen Theorie.10 Bradley allerdings argumentierte in Appearance and Reality, dass weder interne noch externe Relationen die Natur der Realität korrekt beschreiben. Nur in der vom Denken unbeeinträchtigten, unmittelba­ ren Erfahrung begegnen wir der konkreten Realität in ihrer wahren Natur, aber da es Grade von Wahrheit und Realität gibt, verfälschen interne Relationen die Realität weniger als externe. Mit anderen Worten: interne Relationen repräsentieren die Realität eher als eines denn als vieles und sind daher als in höherem Maße wahr und real anzusehen, wenn auch immer noch relativ unwirklich. Wofür Bradley eigentlich argumentierte, war, dass Relationen, mit oder ohne ihre Terme betrachtet, zu Widersprüchen führen.11 Ungeachtet die­ ser kleinen Fehlinterpretation seitens Russell steht sein allgemeines Argument gegen die monistische Theorie. Ibid., S. 42. Ibid., S. 43. 10 Vgl. ibid., S. 44. 11 Vgl. Bradley (1978), S. 21–29 und S. 512–524. Detailliert untersuche ich Bradleys Argumente in McHenry (1992), Kapitel 4. Sprigge (2010) liefert eine kritische Bewer­ tung von Russells Auseinandersetzung mit Bradley. 8

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Whitehead und Russell zur Philosophie der Materie

Für Russell war das Hauptproblem derer, die die monistische Theorie vertraten, dass sie unbewusst annahmen, eine relationale Proposition habe Subjekt-Prädikat-Form, d.h., sie schreibe ein Prä­ dikat einem einzigen Subjekt zu, anstatt die Terme als separate Individuen in einer Relation zu betrachten. Unter dem Einfluss der monistischen Theorie, so Russell, werde die Relation zu »einer Eigen­ schaft, die dem Ganzen, bestehend aus a und b, zukommt, und als solche äquivalent zu einer Proposition, die wir mit (ab) r bezeichnen können«12. Bradley beispielsweise schreibt in The Principles of Logic, dass »in ›A geht B voraus‹ die ganze Relation A—B das Prädikat ist, und indem wir sagen, dass dies wahr ist, behandeln wir es als ein Adjektiv der realen Welt […]. [D]ie Realität, auf die das Adjektiv A—B bezogen ist, ist das Subjekt von A—B«13. Mit der »realen Welt« meint Bradley natürlich die totale Einheit im Absoluten, dem einzigen einzelnen Subjekt. In seiner Logik prädiziert jedes Urteil eine Eigenschaft oder Relation von einem letzten Subjekt, verfälscht aber im Zuge dessen die Realität. Russell behauptet, dass der Monist über die Proposition ›a ist größer als b‹ sagen würde, dass sie »eigentlich nichts über a oder b aussagt, sondern über die beiden zusammen. Wir bezeichnen das Ganze, dass die beiden bilden, mit (ab) und nehmen an, dass die Proposition besagt: »(ab) beinhaltet Verschiedenheit an Größe«14. Russell argumentiert jedoch überzeugend, dass Ansichten dieser Art dem Verständnis nur entgegenstehen. Sie werden asymmetrischen Beziehungen, die für das Verständnis von Ganzem und Teil, zeitlicher Abfolge, Verursachung und insbesondere zunehmender Größe in der Mathematik notwendig sind, nicht gerecht. Russell meinte, dass die neue Logik der Relationen, die von Peirce und De Morgan entwickelt und in den Principia Mathematica angewandt worden war, dem Denken Flügel verliehen habe, während die kategoriale Logik des Aristoteles es in Ketten gelegt habe.15 aRb drückt die Relation zwischen zwei Partikularien aus und nicht, dass das Subjekt a ein Prädikat – die Relation zu b – hat. Darüber hinaus ist es wichtig zu erkennen, dass die Formalisierung einer Relation als aRb zu lesen ist als »die Relation von a zu b«, und nicht als »a in Relation zu R in Relation zu b«. Bradleys Argumenten scheint 12 13 14 15

Russell (1956a), S. 221. Bradley (1922), S. 28. Russell (1956a), S. 225. Vgl. Russell (1956b), S. 53.

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der Fehler anzuhaften, die Relation zu vergegenständlichen, sie als eine Entität auf gleicher Stufe mit den Termen anstatt als eine aus dem konkreten Prozess gewonnene Abstraktion zu behandeln. Es liegt hauptsächlich an diesem Fehler, dass ihm Relationen nicht verständlich sind, z.B. indem sie zu infiniten Regressen führen, die ›beweisen‹, dass Relationen nicht real sind. Russell nahm also, wie er sagte, in Abgrenzung von allem, was Hegelianer behaupteten, die Auffassung an, dass externe Relationen essentiell seien, um fundamentale mathematische Begriffe zu ver­ stehen. Diese Auffassung wird auch zentral für seine Philosophie des logischen Atomismus, der zufolge die Welt aus einer Vielzahl voneinander unabhängig existierender Dinge besteht, die Qualitäten aufweisen und in externen Relationen zueinander stehen. Whitehead hingegen entwickelte zu der Dichotomie von internen und externen Relationen, die ich als »Russell-Bradley-Problem« bezeichnen will, eine dritte Alternative. Was einander ausschließende Optionen zu sein scheinen, kann zufriedenstellend in einer Theorie zusammenge­ fügt werden, die auf der Asymmetrie der Zeit beruht. An dieser Stelle trägt Whitehead eine radikal neue Theorie bei.16 Whitehead erkannte erstens, dass eine exklusive Auffassung von externen Relationen, wie sie Hume oder Russell vertraten, die grund­ legenden Entitäten der Ontologie als selbsterhaltend ansieht und daher nicht in der Lage ist, kausalen Einfluss, Erinnerung, genetische Vererbung und Evolution zu erklären. Diese Vorstellung, Entitäten könnten einfach hier in der Zeit oder dort im Raum lokalisiert sein und jeweils von rein externen Trägern aufrechterhalten werden, nannte er den »Trugschluß der einfachen Lokalisierung« (SMW, 49/64 f.; PR, 137/260). Hume beispielsweise behauptete, uns durch Wahrnehmung zugängliche Ereignisse seien distinkt, einzeln und auf nichts Weiteres angewiesen, das ihre Existenz gewährleiste.17 Russell bestätigt in »Beliefs: Discarded and Retained«, dass er dieser Auffas­ sung verpflichtet ist, wenn er mit Blick auf seine Analogie des SchrotDie Auffassung, nach der interne und externe Relationen grundlegend für die Asymmetrie von Prozess und Erfassen sind, wird in Charles Hartshornes Creative Synthesis and Philosophic Method explizit gemacht. Hartshorne berichtet, Russell habe ihm einmal gesagt: »Ein Philosoph kann ein absoluter Monist oder ein absoluter Plu­ ralist sein, aber ich sehe keinen rationalen Grund, sich für die eine oder die andere Auffassung zu entscheiden.« Doch hierbei handelt es sich um eine falsche Dichotomie, denn sie setzt so oder so Symmetrie voraus. Vgl. Hartshorne (1983), S. 216. 17 Vgl. Hume, Treatise, S. 233. 16

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Haufens anmerkt: »Ich denke immer noch, dass diese Auffassung im Großen und Ganzen richtig ist […]. [D]ie Welt besteht aus einer immensen Zahl von Einzelteilen und, sofern die Logik das zeigen kann, könnte jedes davon genauso sein, wie es ist, selbst wenn die anderen Einzelteile nicht existierten«18. Zweitens stimmte Whitehead Russells Klage, dass die Bedeutung der asymmetrischen Relation von früheren Philosophen vernachlässigt worden war, zu, und er machte deutlich, wie die asymmetrische Relation in seiner Metaphysik als grundlegendes Prinzip fungierte. Um das zu erreichen, gab er, anders als Russell, interne Relationen nicht auf. Als Whitehead in seiner späteren Metaphysik seine Position von einem vierdimensionalen Monismus zu einem Ereignispluralismus wandelte, war er, wie Rus­ sell bemerkte, dabei »erheblich von Bergson beeinflusst« und »beein­ druckt vom Aspekt der Einheit des Universums«19. Dies ist ein Verweis auf Whiteheads Entwicklung seiner Prozessontologie. Whiteheads wirkliche Ereignisse sind die ›Atome‹ seines Systems, und sein Begriff des Erfassens (prehension) ist die zentrale Idee, die die Relationen zwischen wirklichen Ereignissen ausdrückt. Erfasste Informationen (prehensions) sind in Prozeß und Realität definiert als »konkrete Tatsachen des Bezogenseins« (PR, 22/63). Entscheidend ist, dass Whiteheads Auffassung des Erfassens Relationen nicht als Abstraktionen behandelt, als eigenständige Entitäten, sondern als konkrete Funktionen wirklicher Ereignisse. Die Relation ist die Absorption vergangener wirklicher Ereignisse durch das gegenwär­ tige wirkliche Ereignis in seinem Prozess der Selbst-Erschaffung. Auf diese Art erwächst die Einheit des Universums von unten nach oben. Dies markiert die radikalste Abweichung von der Position, die Russell vertrat. Whiteheads Begriff des Erfassens bringt den schöpferischen Fortschritt des Universums zum Ausdruck, durch den die vielen in einem zeitlichen Prozess eines werden. Das gegenwärtige wirkliche Ereignis selektiert in seiner Konkreszenz die Daten der unmittelbaren Vergangenheit, während es eine neue Einheit erschafft. Auf diese Weise ist die Vergangenheit intern mit der Gegenwart verbunden, während andererseits die Gegenwart extern mit der Vergangenheit verbunden ist. Das bedeutet, jedes gegenwärtige wirkliche Ereignis erfasst das, was bereits in der Vergangenheit festgelegt ist, wodurch 18 19

Russell (1956c), S. 43 f. Ibid., S. 93.

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die Vergangenheit Teil der Gegenwart wird, aber die festgelegte Vergangenheit ist nicht mehr aktiv, weshalb das in ihrer Zukunft Liegende den vergangenen Ereignissen extern ist. Diese Überlegung ist eng mit Whiteheads Verständnis von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ verbunden. Ein gegenwärtiges Ereignis in einem Prozess des Werdens ist subjektiv unmittelbar, insofern es die Vergangenheit erfasst, aber sobald das Ereignis den Prozess des Werdens abschließt, vergeht es in subjektiver Unmittelbarkeit und wird ein Objekt oder Seiendes. Diese metaphysische Erklärung von Kreativität ist analog dazu, wie in der Biologie die Genetik die Vererbung von physischen Merkmalen erklärt; aber der entscheidende Punkt ist, dass dieser Prozess in Whiteheads Metaphysik teleologisch ist, denn die Erklärung dafür, wie Neues in der Welt entsteht, ist intern von dem subjektiven Ziel wirklicher Ereignisse getragen. In der Logik der Relationen kann Whiteheads Begriff des Erfas­ sens formalisiert werden als xRy, lies: ›x wird erfasst von y‹. Die formalen Eigenschaften des Erfassens sind: 1.

Asymmetrie — (x) (y) (xRy ⊃ ~yRx)

Für alle finiten wirklichen Ereignisse x und y gilt, wenn x von y erfasst wird, ist es nicht der Fall, dass y von x erfasst wird. Ein gegenwärtiges Ereignis erfasst ein vergangenes Ereignis, aber ein vergangenes Ereignis kann kein gegenwärtiges Ereignis erfassen, weil es nicht erfassen kann, was von seinem Standpunkt aus nicht existiert, und sobald ein Ereignis als Subjekt vergeht, wird es ein Objekt für zukünftige Ereignisse. Zeitgleiche wirkliche Ereignisse können einander nicht erfassen, weil Ereignisse, insofern sie gegenwärtig sind, sich in einem Prozess des Werdens befinden und noch nicht als bestimmte Entitäten existieren. 2.

Irreflexivität — (x)~(xRx)

Für alle finiten wirklichen Ereignisse x gilt, es ist nicht der Fall, dass x von x erfasst wird. Ein Ereignis, insofern es gegenwärtig ist, kann nicht erfassen, was noch nicht als Objekt existiert. 3.

Transitivität — (x) (y) (z) [(xRy ∙ yRz) ⊃ xRz]

Für alle finiten wirklichen Ereignisse x, y und z gilt, wenn x von y erfasst wird und y von z erfasst wird, dann wird x von z erfasst. Wenn ein wirkliches Ereignis einen unmittelbaren Vorgänger positiv erfasst hat und der Vorgänger seinen unmittelbaren Vorgänger positiv

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erfasst hat, dann hat das wirkliche Ereignis der Gegenwart die positive Erfassung seines Vorgängers erfasst. Die relationale Eigenschaft der Transitivität unterliegt einer Ein­ schränkung, wenn man Whiteheads Doktrin der negativen Erfassung berücksichtigt. Nach Whitehead selektiert ein wirkliches Ereignis im Prozess des Werdens die Daten, die mit seinem subjektiven Ziel kom­ patibel sind, und wird dabei alles, was mit seinem Ziel inkompatibel ist, aussondern. Wenn also z positive Erfassungen von x indirekt durch die Erfassung von y erfasst, kommt die Frage auf, ob z den gesamten Gehalt von x erschöpfend erfasst, da x kein unmittelbar benachbartes, angrenzendes Ereignis von z ist. Ein beinahe infinitesi­ mal kleiner Aspekt oder kleine Aspekte von x könnten negativ von z erfasst werden. Insofern würde nicht alles an x von z erfasst. Aber wenn y x positiv erfasst und z y positiv erfasst, ist die Vollständigkeit der transitiven Eigenschaft erhalten.20 Whiteheads Begriff des Erfassens als einer asymmetrischen Relation steht im Kontrast zu Theorien, in denen Symmetrie als grundlegend angenommen wird. So wird beispielsweise in der vierdi­ mensionalen Raumzeit von Einsteins Relativitätstheorie Zeit als eine Art Illusion behandelt. Innerhalb des Blockuniversums der Raumzeit sind alle Ereignisse intrinsisch gegenwärtig und nur relativ vergangen oder zukünftig. In einer solchen Theorie wird die Welt als eine zeitlose, vierdimensionale Entität verstanden. Früher oder später in der Zeit zu sein ist damit analog zum Nebeneinander im Raum. Mit anderen Worten: es gibt keine endgültige Realität, die unserer Erfahrung der Richtung von Zeit entspricht, da die Zeit eher wie der Raum behandelt wird. Außerdem beschreiben manche physikalischen Gesetze – nämlich solche, die, wie die Gesetze der klassischen Mecha­ nik, nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden – physikalische Prozesse gleichermaßen als zeit-umgekehrte Prozesse. Andere Gesetze der Physik wiederum basieren auf der Asymmetrie der Zeit. Dazu gehören die Gesetze der Thermodynamik, in denen Unordnung oder Entropie zunimmt, und die Ausdehnung des Univer­ sums in der Kosmologie. Die Frage ist nur, welche physikalischen Gesetze für die endgültige vereinheitlichte Theorie maßgeblich sind.21 Nachdem der Pluralismus in Whiteheads und Russells Posi­ tionen geklärt ist, zeige ich im Rest dieses Aufsatzes, welche Konse­ 20 Die Auffassung, dass Whiteheads Begriff des Erfassens in der Logik der Relationen ausgedrückt werden kann, wird unterstützt von John Lango in Whitehead’s Ontology. Siehe insbesondere Lango (1972), S. 1.

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quenzen sich aus dieser Doktrin für ihre Ansichten bezüglich der Grundlagen der Physik ergeben.

IV. Die raue und die sanfte Welt Als Whiteheads Fokus sich von der Mathematik zur Physik bewegte, wandte er logisch-mathematische Techniken auf seine grundlegenden Probleme an. In diesem Zusammenhang schreibt Dorothy Emmet: Whiteheads Naturphilosophie war einerseits geprägt von seinem Interesse an logisch-mathematischen Systemen, andererseits von sei­ nem Beharren auf der reichhaltigen, komplexen Welt der Erfahrung. Er wollte zeigen, wie erstere aus letzteren abstrahiert und auf sie bezogen werden konnten, ohne die Abstraktionen als reale Elemente zu behandeln.22

So fragte Whitehead etwa: »Wie trifft exaktes Denken auf die frag­ mentarischen, vagen Kontinua von Erfahrung zu?« (AE, 106/158 f.) Dies hielt er für die fundamentale Frage wissenschaftlicher Philoso­ phie. Victor Lowe hat selbiges in aufschlussreicher Weise als Whiteheads Doktrin der »rauen und der sanften Welt«23 bezeichnet. Die sanfte Welt ist die rationalistische Konzeption der Welt als Mate­ rie in Bewegung, beschrieben in den präzisen Begriffen der mathe­ matischen Physik. Die raue Welt ist die empiristische Konzeption der Welt als die Daten der Sinneswahrnehmung. Whiteheads Methode der extensiven Abstraktion wird zu Recht als eine Brücke zwischen den beiden gesehen. Punkte, Linien, Ebenen und Zeitpunkte sind allesamt Abstraktionen aus Erfahrungsdaten über Mengen abneh­ mender Gebiete. Ein Punkt zum Beispiel ist definiert als die Strecke einer ganzen Menge abnehmender Gebiete, wie Kreise und Quadrate, die sich ad infinitum übereinander erstrecken. Der Vorzug dieser Art, geometrische Entitäten zu definieren, besteht darin, dass sie als logi­ sche Funktionen von Extensionen anstelle von tatsächlichen Partiku­ larien in der Natur gesehen werden, während sie dieselbe mathema­ Ich argumentiere in The Event Universe, dass Whiteheads Metaphysik eine plausible Richtung für eine vereinheitlichte Theorie vorgibt. Diese involviert Modi­ fikationen sowohl der Quantenmechanik als auch der Relativitätstheorie; vgl. McHenry (2015). 22 Emmet (1996), S. 103. 23 Lowe (1966), S. 181.

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tische Arbeit leisten, die für die Physik benötigt wird. Betrachten wir beispielsweise die physikalische Erklärung einer gleichförmigen Kreisbewegung. Zu jedem Zeitpunkt ist die gegebene Geschwindig­ keit tangential zum Kreis gerichtet. In einem Zeitintervall Δt bewegt sich das Objekt entlang eines kreisförmigen Weges von einem Punkt zu einem anderen. Objekte in gleichförmiger Kreisbewegung existie­ ren, aber Zeitpunkte und räumliche Punkte werden nun vermittels extensiver Abstraktion als ideale Entitäten verstanden, die aus abneh­ menden Gebieten gewonnen sind. Dieses Projekt war grundlegend für Whiteheads drei Bücher Principles of Natural Knowledge, The Con­ cept of Nature und The Principle of Relativity, in denen er seine von Einsteins Relativitätstheorie beeinflusste Auffassung der physikali­ schen Welt als einer vierdimensionalen raumzeitlichen Mannigfal­ tigkeit darlegte. In diesen Werken zeigte er, wie die Geometrie der Raumzeit durch seine Methode der extensiven Abstraktion konstru­ iert und wie relative Bewegung vermittels unzähliger paralleler Zeit­ dauern, die unterschiedliche Zeitsysteme konstituieren, verstanden werden konnten.24 Dies entspricht den Inertialsystemen in Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Nach Whitehead vermeidet das Vorgehen, bei den Daten der unmittelbaren Erfahrung zu beginnen und Abstraktionen aus Sinnes­ daten zu gewinnen, das, was er den »Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit« (SMW, 51/66) nennt, nämlich Abstraktionen wie kon­ krete Dinge oder Bausteine des Systems zu behandeln. Er betrachtete die newtonsche Physik als Musterbeispiel für unzutreffende Konkret­ heit, weil sie nicht-empirische momentane Materiekonfigurationen als die Partikularien der Natur betrachtet. Der Physiker oder Philo­ soph, der davon ausgeht, es gäbe einen Vorrat präziser Begriffe, mit denen es anzufangen gelte, stellt die epistemologischen Fundamente auf den Kopf. Materie ist ebenso eine Abstraktion des Denkens wie Punkte und Momente. Russell erkannte schnell den Stellenwert von Whiteheads neuar­ tiger Erfindung und schreibt Whitehead zu, ihn aus seinem »dogma­ tischen Schlummer«25 erweckt zu haben. Sie wurde Teil der Maxime in seiner Erkenntnistheorie – »Wann immer möglich, ersetze Schlüsse auf unbekannte Entitäten durch Konstruktionen aus bekannten Enti­ Für eine Darstellung von Whiteheads Methode der extensiven Abstraktion siehe McHenry (1990). 25 Russell (1995), S. 77. 24

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täten«26. Wie er es im Vorwort zu Unser Wissen von der Außenwelt for­ mulierte: Das zentrale Problem, anhand dessen ich versucht habe, die Methode zu veranschaulichen, ist das Problem der Beziehung zwischen den rohen Sinnesdaten und dem Raum, der Zeit und der Materie der mathematischen Physik. Ich bin auf die Wichtigkeit dieses Problems durch meinen Freund und Kollegen Dr. Whitehead aufmerksam gemacht worden.27

Russell zollt Whitehead in seinen Schriften immer wieder Anerken­ nung für diese Idee, etwa wenn er schreibt: [I]n dem Maß, in dem die Physik den Anwendungsbereich und die Kraft ihrer Methoden erweitert, beraubt sie ihren Gegenstandsbereich der Konkretheit […]. Dr. Whitehead hat mehr als irgendein anderer Autor die Notwendigkeit aufgezeigt, die Abstraktionen der Physik rückgängig zu machen.28

Russell sah die Methode der extensiven Abstraktion als eine neue Anwendung mathemaischer Logik und, in einem sehr weiten Sinne, als Anwendung von Ockhams ›Rasiermesser‹ in der Physik, denn mit ihr müsse man die abstrakten Konstruktionen nicht als Teil des Inven­ tars der Welt betrachten.29 Die Elemente der Geometrie werden nicht zu den Entitäten gezählt, die unsere Ontologie anerkennt, sondern werden vielmehr als Abstraktionen oder Ideale des reinen Verstandes angesehen, die aus der Erfahrung gewonnen werden. Russell sah sie auch als eine Möglichkeit, Psychologie und Physik zu verbinden. Wenn wir uns im Denken von der rauen in die sanfte Welt oder von den rohen Sinnesdaten zu den Gegenständen der mathematischen Russell (1985), S. 161. Russell (1956b), S. v. 28 Russell (1954), S. 130. Trotz solchen Lobs für Whiteheads Methode der extensiven Abstraktion und obwohl er sie selbst in Unser Wissen von der Außenwelt angewandt hatte, liefert Russell in Philosophie der Materie eine Kritik der Methode bezüglich der Konstruktion von Punkten. Whitehead behauptet, dass jede Entität von anderen Ereignissen eingeschlossen ist und andere Ereignisse einschließt, dass es also keine Ober- oder Untergrenze von Ereignissen gibt. Russell monierte, dass es für diese Behauptung keine empirische Evidenz gebe, und konzipierte seine eigene Methode zur Definition von Punkten daher ausgehend von der Grundlage der »Ko-Punktuali­ tät« (»co-punctuality«) von Ereignissen; vgl. ibid., S. 292–302. Nachdem er seine Methode mit derjenigen Whiteheads verglichen hatte, kam er zu dem Schluss, dass dies keinen bedeutenden Unterschied mache; vgl. Russell (1995), S. 81. 29 Vgl. Russell (1995), S. 10, S. 77 f. und S. 81. 26 27

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Physik bewegen, bilden wir uns eine Vorstellung von der externen Welt, die empirisch fundiert, aber doch von der Theorie und von den idealen Konstruktionen des Mathematikers geprägt ist. Russell erweiterte den Anwendungsbereich von Whiteheads Methode der extensiven Abstraktion von der Mathematik auf die Physik. Ebenso wie er Punkte, Linien und Ebenen als logische Kon­ struktionen sah, waren auch die Partikel der mathematischen Physik und gewöhnliche physikalische Objekte logische Konstruktionen. Russell formulierte es so: »Die persistenten Teilchen der mathemati­ schen Physik betrachte ich als logische Konstruktionen, symbolische Fiktionen, die uns befähigen, sehr komplizierte Versammlungen von Fakten kurz auszudrücken[.]«30

V. Der Einfluss der modernen Physik auf Ontologie und Wahrnehmung Sowohl Whitehead als auch Russell glaubten, dass die Physik sich mit ihrer Übernahme des newtonschen Paradigmas von ihren empi­ rischen Grundlagen entfernt hatte, doch mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Einsteins spezielle und allgemeine Theorie der Relativität eingeläuteten Revolution ergab sich eine neue Gelegen­ heit, die Grundlagen der Physik zu überdenken. Zu eben diesem Problem schrieb Whitehead im Vorwort von Principles of Natural Knowledge: »Die moderne spekulative Physik mit ihren revolutionä­ ren Theorien zur Natur der Materie und zur Elektrizität hat die drängende Frage aufgeworfen: Welches sind die ultimativen Daten der Wissenschaft?« (PNK, v). Ähnlich schrieb Russell in Philosophie der Materie: »Da ist zuerst das erkenntnistheoretische Problem: was kennen wir für Tatsachen und Dinge, die für die Physik wichtig sind und zu ihrer empirischen Begründung dienen können?«31 Im Fortgang beider Werke lautet die Antwort auf die Frage: ›Ereignisse‹. Die erste wichtige Entwicklung, mit der die moderne Physik auf eine neue Ontologie Einfluss nahm, war Maxwells elektromagneti­ sches Feld. Tatsächlich war schon der Begriff eines Energiefeldes – der mit Faradays Experimenten mit Elektrizität und Magnetismus sei­ Russell (1918), S. 97. Russell (1954), S. 7. [Wir folgen hier und in den folgenden Zitaten aus The Analysis of Matter weitgehend der Übersetzung von Kurt Grelling in Russell (1929).].

30 31

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nen Anfang nahm und mit Maxwells mathematischen Gleichungen, welche die Vereinheitlichung im Elektromagnetismus ausdrückten, endete – eine höchst revolutionäre Idee, die den Zusammenbruch der klassischen Vorstellung von Atomen und der Leere einleitete. So etwas wie einen leeren Raum oder einen newtonschen Behälter gibt es nicht. Stattdessen ist der Raum ein Feld elektromagnetischer Energie. Für Whitehead verwies dieses physikalische Konzept auf das ontologische Konzept eines dem Energiefeld zugrundeliegenden Netzwerks von Ereignissen. Die in Maxwells Theorie erwogenen letztgültigen Tatsachen sind Ereignisse, die über den gesamten Raum hinweg auftreten (PNK, 25). Zugleich mit Whitehead sah Einstein, dass die physikalischen Fakten eine radikal neue Ontologie erforderlich machten. Die zweite Entwicklung, die auf eine Ontologie der Ereignisse hindeutete, bestand in Einsteins spezieller und allgemeiner Theorie der Relativi­ tät. Die spezielle Relativitätstheorie bestreitet, dass es ein kosmisches, instantanes ›Jetzt‹ bzw. einen privilegierten Bezugsrahmen gibt und ersetzt diese Annahme durch die Vorstellung unzähliger Bezugsrah­ men in relativer Bewegung, jeder mit seinem eigenen ›Jetzt‹. Die Idee des ganzen materiellen Universums, das in einem Augenblick existiert, wird somit fallengelassen. Mit der Verschmelzung von Raum und Zeit, die mit Minkowskis mathematischer Ausarbeitung der Theorie Einsteins erreicht wurde, ersetzt die vierdimensionale Auffassung zudem die dreidimensionale Auffassung der klassischen Physik. Dieser Konzeption der Raumzeit zufolge scheinen Ereignisse grundlegend zu sein, da alle physikalischen Objekte sich in vier Dimensionen erstrecken. Ein physikalisches Objekt wird als ›Raum­ zeit-Wurm‹ in einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit begriffen, von dem jeder räumliche und zeitliche Teil ein Ereignis ist. Schließlich wird in der Teilchenphysik, wo die Suche nach fun­ damentalen Teilchen immer höhere Energien offenbart, Materie auf Ereignisse reduziert. Die Quantentheorie führt – zumindest in eini­ gen ontologischen Interpretationen – zu dem Ergebnis, dass die Natur auf der fundamentalsten Ebene dematerialisiert zu sein scheint. Auf­ grund der extrem kurzen Lebensdauer subatomarer Teilchen in der modernen Physik bleibt nur sehr wenig übrig vom klassischen Kon­ zept der Atome als den beständigen und unzerstörbaren Bausteinen der Materie. Als Whitehead über diese Entwicklungen nachdachte, schrieb er in Prozeß und Realität, der Übergang entspreche

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der Ersetzung des Begriffs statischer Stoff durch den Begriff der flie­ ßenden Energie. Solche Energie hat ihre Struktur des Wirkens und Fließens und ist ohne eine solche Struktur unbegreifbar. […] Die mathematische Physik übersetzt die Aussage Heraklits: ›Alles fließt‹, in ihre eigene Sprache. Sie wird dann zu: Alle Dinge sind Vektoren. (PR, 309/556)

Russell schloss sich Whitehead an, indem er die Ansicht vertrat, dass nicht Substanzen, sondern Ereignisse in der Wahrnehmung erkannt werden und – auf dieser Grundlage aufbauend – Ereignisse die Basis eines Systems von Teil-Ganzes-Relationen bilden, welche die raum­ zeitliche Mannigfaltigkeit hervorbringen.32 Russell argumentierte entsprechend, dass wir ohne »eine Deutung der Physik, in welcher die Wahrnehmung die ihr zukommende Stellung erhält, […] kein Recht haben, uns auf die empirische Begründung zu berufen«33. Der Status der Physik würde deshalb durch eine Theorie der physi­ kalischen Welt, die Ereignisse mit Wahrnehmung zusammenbringt, erheblich verbessert. Russell schrieb, »dass alles, was wir annehmen, gewisse Merkmale aufweist, die mit unserem Erleben verknüpft sind[.]«34 Nach allem, was wir über die Physiologie wissen, erfahren wir äußere Objekte nicht direkt, sondern erschließen Objekte aus der Sinneswahrnehmung. Was wir wahrnehmen, sind Ereignisse, die z.B. durch Licht- oder Schallwellen ausgelöst werden. Dies ist die epistemologische Verbindung, die Russell suchte, um die Kluft zwischen Wahrnehmung und Physik zu schließen. Wissenschaft, so folgert er, beschäftigt sich mit Gruppen von Ereignissen und nicht mit Dingen, denn »die Gegenstände, die in der Physik mathematisch ursprünglich sind, wie etwa Elektronen, Protonen und Weltpunkte, stellen logisch komplexe Konstruktionen dar, die aus metaphysisch

32 Die Behauptung, dass Ereignisse in der Sinneserfahrung konkret gewusst werden, erfordert eine Differenzierung. Wir haben die Erfahrung von Ereignissen, die während der Dauer einer trügerischen Gegenwart auftreten, und diese Ereignisse können via Teil-Ganzes-Relationen in kleinere Ereignisse unterschieden werden, aber wir haben keine Erfahrung der basalen Ereignisse, die Whitehead in seinen späteren metaphy­ sischen Schriften »wirkliche Ereignisse« nennt. Whiteheads epochale Theorie der Zeit verlangt von minimalen Ereignissen oder Zeitepochen, dass sie Zenos Paradox der unendlichen Teilbarkeit vermeiden, und etabliert den Atomismus in seinem System; vgl. (PR, 69/142 f.). 33 Russell (1954), S. 7. 34 Ibid., S. 17.

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ursprünglicheren Elementen aufgebaut sind, welche man passend als ›Ereignisse‹ bezeichnen kann«35. Ziehen wir in Betracht, wie Wahrnehmung funktioniert, wider­ sprechen sich common sense und moderne Physik, denn unsere Alltagsvorstellung betont die ›Wahrnehmung‹ der Objekte, so wie sie sind, doch die Physik erzählt eine andere Geschichte. Unsere visuellen Rezeptoren sind z.B. nur für eine schmale Bandbreite elek­ tromagnetischer Strahlung empfänglich – ungefähr im Bereich des sichtbaren Lichts. Innerhalb dieser schmalen Bandbreite erscheinen die Entitäten, die wir sehen, als Objekte, nicht als Ereignisse, aber das elektromagnetische Feld selbst wie auch die Vielfalt der in ihm enthal­ tenen und durch es wahrgenommenen Entitäten haben überwiegend Ereignischarakter. Betrachtet man das gesamte Spektrum bekannter elektromagnetischer Phänomene – von Gammastrahlen bis zu Radio­ wellen –, wird deutlich, dass das, was wir wirklich wahrnehmen, in Ereignissen situierte Eigenschaften sind. In diesem Zusammenhang weist Russell auf eine weitere Schwierigkeit für den Alltagsverstand und den naiven Realismus hin, nämlich die Geschwindigkeit des Lichts nach der Relativitätstheorie. Die Vorstellung, dass wir ein gegenwärtiges physikalisches Objekt sehen, ist sehr schwer mit der wissenschaftlichen Tatsache zu vereinbaren, dass unsere Wahrneh­ mung etwas später – wenn auch nur sehr wenig später – als die Lichtemission des Objektes auftritt.36 Russell verdeutlicht das weiter, wenn er in Philosophie der Materie schreibt: Der gemeine Verstand meint – wenn auch nicht sehr ausdrücklich –, dass uns die Wahrnehmung unmittelbar äußere Gegenstände zeigt: wenn wir »die Sonne sehen«, so ist die Sonne das, was wir sehen. Die Wissenschaft hat sich eine andere Ansicht zu eigen gemacht, freilich ohne sich der Konsequenzen immer bewusst zu sein. Die Wissenschaft meint, dass, wenn wir »die Sonne sehen«, ein gewisser Vorgang von der Sonne ausgeht, den Raum zwischen ihr und unserem Auge durchläuft, seinen Charakter ändert, wenn er das Auge erreicht, ihn nochmals im optischen Nerven und im Gehirn ändert und schließlich das Ereignis hervorruft, das wir »Sehen der Sonne« nennen. Unser Wissen von der Sonne wird infolgedessen zu einem erschlossenen; unmittelbar erkennen wir das Ereignis, das in gewissem Sinne »in uns« ist.37

35 36 37

Ibid., S. 9. Vgl. ibid., S. 155. Ibid., S. 197.

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Da die Ereignisontologie und die moderne Physik im Widerspruch zum Alltagsverstand und zur gesamten Tradition der Substanzphilo­ sophie stehen, sind wir vor die Wahl gestellt. Was Russell anbelangt, gibt es jedoch »keinen Grund, die Physik für fehlerhaft zu halten«38. Whiteheads Theorie der Wahrnehmung stimmt mit der wissen­ schaftlichen Auffassung darin überein, dass jede Wahrnehmung eine Wahrnehmung der Vergangenheit ist. Sein metaphysisches Konzept des Erfassens ist eine Verallgemeinerung dieser Idee der Relativitäts­ physik, wenngleich es auch von den Phänomenen der Erinnerung, der genetischen Vererbung und der Evolution beeinflusst ist. Die Vergan­ genheit wird im Erfassen buchstäblich gegenwärtig, da das gegenwär­ tige Ereignis in seiner Selbsterschaffung aktiv Daten aus vergangenen Ereignissen auswählt. In der menschlichen Wahrnehmung erfasst das wirkliche Ereignis, welches die trügerische Gegenwart des eige­ nen Bewusstseins ist, die vergangenen wirklichen Ereignisse, die jemandes unmittelbare Umgebung konstituieren. Dies beinhaltet drei Elemente: ›kausale Wirksamkeit‹, ›vergegenwärtigende Unmittelbar­ keit‹ und ›symbolischen Bezug‹. Whitehead unterscheidet zwei verschiedene perzeptive Modi, die er »vergegenwärtigende Unmittelbarkeit« und »kausale Wirksam­ keit« nennt (PR, 176/328 f.). Vergegenwärtigende Unmittelbarkeit meint unser klares, deutliches Bewusstsein von den externen Bezie­ hungen in der mit uns gleichzeitigen Welt. Die Daten, die sie vermit­ telt, sind scharfe, eindeutige Vergegenwärtigungen räumlich lokali­ sierter und zeitlich abgeschlossener Sinnesgegenstände. Vergegenwärtigende Unmittelbarkeit liefert allerdings keine Information hinsichtlich der Kontinuität von Ereignissen, d.h. hinsichtlich der Relevanz des Vergangenen oder der Antizipation des Zukünftigen. Dies führte dazu, dass Whitehead einen ursprünglicheren und grund­ legenderen Modus der Wahrnehmung in Form von kausaler Wirk­ samkeit annahm. Vergegenwärtigende Unmittelbarkeit ist eine Aus­ arbeitung bestimmter Aspekte dessen, was im Fluss der Erfahrung schon gegenwärtig ist, und beinhaltet im Wesentlichen eine Projek­ tion von Bildern auf das Gegenwärtige. Wo uns die Evolution scharf­ sinnige Rezeptoren gegeben hat, richten wir unsere Aufmerksamkeit natürlicherweise auf das, was klar und deutlich in der Erfahrung gege­ ben ist, d.h. diverse Farben, Größen, Formen, doch dieser Modus per­ zeptiver Aktivität setzt den gesamten Kontext des Verlaufs in der Zeit 38

Ibid., S. 155.

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voraus. Kausale Wirksamkeit ist der Wahrnehmungsmodus, der ein­ fach als ein Gewahrsein des anhaltenden Erbes der gegebenen ver­ gangenen Welt empfunden wird. Es ist unsere Erfahrung der unmit­ telbaren Vergangenheit im Prozess des Gegenwärtig-Werdens. Das Zusammenwirken von vergegenwärtigender Unmittelbar­ keit und kausaler Wirksamkeit ist das, was Whitehead ›symbolischen Bezug‹ nennt. Ob es die Sonne ist, die wir sehen, oder ein Stein am Boden, wir nehmen ein durch Eigenschaften strukturiertes Ereignis wahr. Um noch einmal Russell zu zitieren: »[U]nmittelbar erkennen wir das Ereignis, das in gewissem Sinne ›in uns‹ ist.«39 Aber dieses Ereignis ist vergangen. Was, wie zum Beispiel in der Wahrnehmung eines grauen Steins, via kausale Wirksamkeit erfasst wird, ist ein historischer Vererbungsweg, der sodann – via vergegenwärtigender Unmittelbarkeit – auf das projiziert wird, was das gleichzeitige Gebiet zu sein scheint. Um das Argument auf den Punkt zu bringen, schrieb Whitehead: Der Terminus ›Stein‹ wird primär auf einen bestimmten historischen Weg in der Vergangenheit angewandt, der ein wirksames Element in diesem Begleitumstand darstellt. Auf das gleichzeitige Gebiet, das durch ›Grau‹ veranschaulicht wird, kann er nur unter der Vorausset­ zung zurecht angewandt werden, daß dieses gleichzeitige Gebiet die Verlängerung jenes historischen Weges in den vergegenwärtigten geometrischen Ort ist. (PR, 172/321)

Das heißt nicht, dass Whitehead und Russell dieselbe Auffassung von Wahrnehmung vertreten, obschon Russell sagt, er schließe sich Whiteheads Protest gegen die ›Verzweigung‹ oder ›Zweiteilung‹ (bifurcation) der Natur, die sich aus der kausalen Theorie der Wahr­ nehmung ergab, vollständig an.40 So hat Russell zum Beispiel keinen Begriff des Erfassens, der Whiteheads grundlegender Idee entspricht. Doch mit der Ablehnung der Substanzphilosophie und der Doktrin der primären und sekundären Qualitäten bedurften die Theorie des Elektromagnetismus und die Relativitätstheorie einer neuen Theorie Ibid., S. 197. Vgl. ibid., S. 257. Whiteheads Kritik an der ›Verzweigung‹ der Natur und seine Doktrin der primären und sekundären Qualitäten finden sich u.a. in Der Begriff der Natur, Kapitel 2. Dort argumentierte er, dass die repräsentative Theorie der Wahr­ nehmung der Kosmologie des siebzehnten Jahrhunderts zu einem epistemologischen Tod führte, da wir inadäquate Repräsentationen dessen ›erleiden‹, was hinter dem Schleier der Phänomene liegt, nämlich einer unerkennbaren Materie oder Substanz. 39

40

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Whitehead und Russell zur Philosophie der Materie

der Wahrnehmung, in der das, was erfahren wird, wie auch die Erfahrung selbst mittels Ereignissen erklärt wird.

VI. Ereignisse als Partikularien In Übereinstimmung mit Whiteheads und Russells Revolte zum Pluralismus sind Ereignisse die basalen, konkreten Partikularien ihrer jeweiligen Systeme. Partikularien, oder Individuen, sind einzigartige, nicht-wiederholbare Entitäten. Die metaphysische Kategorie des Par­ tikulars ist traditionell der Substanz zugeschrieben worden, jedoch hat, wie wir gesehen haben, die moderne Physik die Idee eines Partikulars revolutioniert. Die Wissenschaft hat die Substanz über­ wunden. Wie Russell bemerkte: »Solange wir noch an eine einzige universelle Zeit und einen einzigen universellen Raum glauben konn­ ten, war auch der alte Begriff der Substanz noch in gewisser Weise angemessen[.]«41 Partikularien werden normalerweise mit Universa­ lien oder abstrakten Objekten kontrastiert. Vorausgesetzt, dass Ereig­ nisse Substanzen als basale Partikularien ersetzt haben, können wir zwei Arten wiederholbarer Entitäten unterscheiden: Eigenschaften und physikalische Objekte. Whitehead hat zum Beispiel Ereignisse deutlich von Eigenschaften oder wiederholbaren Entitäten wie etwa den verschiedenen Farben, Formen, Tönen, Texturen und physikali­ schen Objekten als rekurrierenden Eigenschaftsmustern in der Natur unterschieden. In der Metaphysik von Prozeß und Realität werden Eigenschaften ›zeitlose Gegenstände‹ (eternal objects) und physikali­ sche Objekte ›Gesellschaften‹ (societies) genannt. Whitehead sah ein physikalisches Objekt als eine Abstraktion, als eine »Gesellschaft« von wirklichen Ereignissen an (PR, 89/176 f.). Was er einen ›Nexus‹ nannte, ist ein Zusammensein der elementaren Entitäten. Die Dinge, die eine Zeitspanne lang fortdauern – in der Metaphysik des Aristoteles als Substanzen und in der Relativitäts­ theorie als ›Raumzeit-Würmer‹ identifiziert –, sind Komposita der elementareren momentanen Dinge. Wirkliche Ereignisse werden und vergehen, während Gesellschaften fortdauern. Eine Gesellschaft, wie Whitehead sie definiert, ist die feste durchschnittliche Objektivierung der dominierenden Charakteristika, der zeitlosen Gegenstände, in den wirklichen Ereignissen, welche die Gesellschaft formen. Der sog. 41

Ibid., S. 286.

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leere Raum wäre ein Nexus wirklicher Ereignisse. So wie Whitehead die Struktur der Materie als aus den wirklichen Ereignissen entste­ hend erklärt, definiert er auch eine ›strukturierte Gesellschaft‹ als eine, die untergeordnete Gesellschaften und untergeordnete Nexūs mit einem bestimmten Muster struktureller Wechselbeziehungen beinhaltet. Ein Molekül, eine Zelle, ein Planet, ein Sonnensystem und eine Galaxie sind alles Beispiele strukturierter Gesellschaften. Jede Gesellschaft ist ein Organismus, der in der Umgebung einer anderen, größeren Gesellschaft beherbergt ist, die wiederum einer anderen als Organismus dient, usw. Die Spezialwissenschaften wie etwa die Phy­ sik, Chemie, Biologie, Geologie und Astronomie untersuchen jeweils eine Ebene der Gesellschaften oder Organismen und ihrer Umgebung – subatomare Partikel, Atome, Moleküle, Zellen, Pflanzen, Tiere, Pla­ neten, Galaxien bis hin zu den größten Gesellschaften wirklicher Ereignisse, deren unmittelbare Relevanz für uns nachvollziehbar ist, nämlich kosmische Epochen (vgl. PR, 91/180). Für Whitehead sind also die wirklichen Ereignisse die Partikula­ rien, und zeitlose Gegenstände, welche Gesellschaften definieren und ihnen Struktur geben, sind Eigenschaften, die mehr oder weniger die traditionelle Rolle von Universalien übernehmen. Die Ereignisse sind an einem Ort zu einer Zeit, während die Eigenschaften die recognita in Ereignissen sind. Sie sind dadurch unterschieden, dass sie an vielen Orten zu vielen Zeiten sein können bzw. – wie der Terminus ›zeitloser Gegenstand‹ impliziert – reine Potenziale sind, die für eine Ingression im zeitlichen Verlauf bereitstehen. Als Russell dieses Thema aufgreift, schreibt er: Man kann sich vorstellen, dass die Welt aus einer Vielzahl von Ganzheiten besteht, die in einem bestimmten Muster angeordnet sind. Ich nenne sie ›Partikularien‹. Die Anordnung oder das Muster ergibt sich aus den Beziehungen, die zwischen diesen ›Partikularien‹ bestehen. Klassen oder Reihen von ›Partikularien‹, zusammengefasst aufgrund einer Eigenschaft, die es bequem erscheinen lässt, von ihnen als Ganzes zu reden, sind das, was ich logische Konstruktionen oder symbolische Fiktionen nenne. Man soll sich die ›Partikularien‹ nicht analog zu Ziegeln in einem Gebäude vorstellen, sondern eher nach der Analogie von Noten in einer Sinfonie. Die letzten Bestandteile einer Sinfonie sind (abgesehen von Relationen) eben die Noten, von denen jede nur eine sehr kurze Zeit dauert. Wir können nun alle Noten zusammenfassen, die von einem Instrument gespielt werden; diese könnte man mit den sukzessiven Sinnesgegebenheiten vergleichen,

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die das naive Denken gewohnt ist, als sukzessive Zustände eines »Dinges« zu betrachten. Doch sollte man das »Ding« nicht »realer« oder »substanzieller« auffassen als z.B. die Rolle der Posaune.42

Dies ist vielleicht die Passage in Russells Schriften, die am klarsten zeigt, wie er Partikularien als Ereignisse und physikalische Objekte als logische Konstruktionen interpretierte. Unter Whiteheads Einfluss erkannte er, dass »der Stoff der physikalischen Welt aus ›Ereignissen‹ bestehen könnte, von denen jedes ein endliches Raum-Zeit-Volumen ausfüllte«43. »An die Stelle der Materie ist eine Abfolge von ›Ereig­ nissen‹ getreten«44. Nach dieser Auffassung erscheint Materie als qualitatives Charakteristikum von Ereignisfolgen. Ereignisse sind die Dinge, die sich als die ultimativen Partikula­ rien oder Bausteine der physikalischen Struktur qualifizieren, und nicht die Dinge, die selbst Struktur offenbaren, wie z.B. Transversaloder Longitudinalwellen, Moleküle, Atome u.ä. Russell sagt, dies bedeute nicht, dass ein Partikular keine Struktur hat, sondern nur, dass es nichts in den bekannten Gesetzmäßigkeiten seines Verhaltens und seiner Beziehungen gibt, das uns einen Grund liefert, auf eine Struktur zu schließen.45 Er verdeutlicht das erneut, wenn er sagt, keine Struktur zu haben heiße, keine raumzeitliche Struktur zu haben, d.h. Teile, die einander äußerlich in der Raumzeit sind.46 Die Struktur in den äußerlichen Teilen von Ereignissen ist dasjenige, worauf phy­ sikalische Formeln referieren. Formeln für Bewegung beziehen sich beispielsweise auf Veränderungen in Ereignisketten. Aus demselben Grund, aus dem Substanzen keine elementaren Partikularien sein können, können Ereignisse nicht als Punkte im Raum oder Momente in der Zeit verstanden werden; allerdings behauptet Russell, dass sie in weniger als einer Sekunde auftreten. Wären sie mehr als eine Sekunde lang, würden sie als eine Struktur von Ereignissen analysiert werden.47 Russells Auffassung von einem Ding hat auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Whiteheads Begriff einer Gesellschaft. Physikalische Objekte sind »Klassen oder Reihen von Partikularien, zusammenge­ 42 43 44 45 46 47

Russell (1918), S. 98. Russell (1995), S. 10. Ibid., S. 13. Vgl. Russell (1954), S. 277. Vgl. ibid., S. 286 und S. 293. Vgl. ibid., S. 286 f.

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fasst aufgrund einer Eigenschaft, die es bequem erscheinen lässt, von ihnen als Ganzes zu reden«48, und hier gibt es keinen signifi­ kanten Unterschied zwischen mikroskopischen und makroskopischen Objekten, welche beide den Gesetzen der Physik in einem öffent­ lich beobachtbaren Raum unterliegen. Russells Beschreibung eines ›Dings‹ unterscheidet sich von Whitehead jedoch dahingehend, dass er physikalische Objekte als logische Konstruktionen aus den ›harten Daten‹ der Sinneserfahrung versteht. Zu sagen, dass sich vor mir ein Stein befindet, heißt z.B., etwas über die verschiedenen Erfah­ rungen zu sagen, die ich oder andere haben oder haben würden, aber über diese Struktur der Erfahrungen hinaus gibt es, wenn wir Aussagen über physikalische Objekte richtig verstehen, keinen Stein. Whitehead sah physikalische Objekte nicht als logische Konstruktio­ nen an. Unter der Voraussetzung von Russells Maxime – »Wann immer möglich, ersetze Schlüsse auf unbekannte Entitäten durch Konstruk­ tionen aus bekannten Entitäten«49 – sind Ereignisse und die Eigen­ schaften, die Ereignissen ihre Struktur geben, die bekannten Enti­ täten. Sie sind dasjenige, was wir wahrnehmen. Die unbekannten Entitäten werden als Konstruktionen verstanden, die aus Ereignissen abgeleitet werden, wie etwa geometrische Entitäten, die Teilchen der mathematischen Physik und physikalische Objekte. Hier ist Russells sparsamer Umgang mit Entitäten, die in der Ontologie der Physik verlangt werden, wieder inspiriert von Whiteheads Methode der extensiven Abstraktion.

VII. Schluss Sowohl Whitehead als auch Russell bieten eine Analyse von Mate­ rie als Ereignisstrukturen an. Ereignisse werden in der Sinneserfah­ rung konkret gewusst; Materie ist eine Abstraktion von konkreten Ereignissen. Russells Theorie der Ereignisse unterscheidet sich von derjenigen Whiteheads am meisten darin, dass Russell Ereignisse als extern verbunden ansieht, während Whitehead Ereignisse als intern wie extern im Einklang mit einer unumkehrbaren Richtung der Zeit verbunden ansieht. Russell verwendet zwei Analogien bei dem 48 49

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Versuch, seinen Pluralismus zu verdeutlichen, nämlich den Haufen Schrot und die Noten in einer Sinfonie. Beide Analogien scheinen im Kontext der Annahme zu funktionieren, dass die externen und die symmetrischen Relationen fundamental sind. Für Whitehead ist Asymmetrie, und nicht Symmetrie, die fundamentale Relation, da er den Prozess als wirklich ansieht. Als er seine Auffassung von seinem Vierdimensionalismus hin zu einem Ereignisatomismus seiner Prozessmetaphysik modifizierte, wurde der Zeitpfeil durch die erfassende Aktivität wirklicher Ereignisse erklärt. Dies ist eine Theorie, die Zeit ernstnimmt. Ich schließe meinen Essay mit der kurzen Betrachtung zweier Einwände und meiner Antwort auf diese Einwände. Zuerst ist die Behauptung fraglich, dass Ereignisse in der Erfahrung gewusst wer­ den oder dass Ereignisse die konkretesten Entitäten sind, von denen alles andere abgeleitet ist. Diese Behauptung ist mit dem Einwand konfrontiert, dass jeder Versuch, die konkreteste Entität zu entdecken, von einem Begriffsrahmen geprägt ist, der in der Erfahrung genau das findet, was durch diesen Begriffsrahmen privilegiert wird. ›Konkret‹ funktioniert in diesem Sinne in derselben Weise wie ›wirklich‹, doch es gibt nur Abstraktion und keinen archimedischen Punkt, um eine elementare Klasse von Entitäten fest zu etablieren. Whitehead und Russell bilden keine Ausnahme bei ihrem Versuch, die Grund­ lagen der Physik zu entdecken. Zweitens könnte, wenn die Ereignis­ ontologie von den Entwicklungen der modernen Physik abhängt, ein durch zukünftige wissenschaftliche Revolution hervorgerufener Paradigmenwechsel zu einer endgültigen Widerlegung der Ereignis­ theorie führen. Ein solcher Antifundamentalismus führt natürlich geradewegs in Relativismus und Skeptizismus.50 Weder Whitehead noch Russell brachten irgendeine Gewissheit bezüglich ihrer Theorien zum Ausdruck. Russell erklärt ausdrücklich, dass die sog. Wahrheiten der Physik keine dogmatischen Autoritäts­ aussagen sind, denn niemand hält die Physik seiner Zeit für infalli­ bel.51 Whitehead, immer den Prozess im Sinn, glaubte niemals, dass die Wissenschaft oder Philosophie an absolut sichere Grundlagen gelange (vgl. PR, 8/39 f.). Unsere gegenwärtigen Theorien werden mit Neuraths Schiff verglichen. So wie der beschäftigte Schiffer sein Die Ansicht, dass eine fundamentalistische Epistemologie fehlgeleitet ist, ist auf verschiedene Weise von Konventionalisten, Postmodernisten und sozialen Konstruk­ tivisten zum Ausdruck gebracht worden. Vgl. z.B. Rorty (1979). 51 Vgl. Russell (1946), S. 700.

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Schiff Planke für Planke umbauen muss, während er sich auf offener See über Wasser hält, übernimmt der Philosoph die fortlaufende theoretische Struktur, entdeckt Fehler in ihren Grundlagen und nimmt von innen heraus Anpassungen vor. Wissenschaftliche Theo­ rien und ihre philosophischen Implikationen in der ontologischen Spekulation werden anhand ihrer umfassenden Erklärungskraft, ihrer Fruchtbarkeit in der Anwendung, ihrer Hinführung zu weiteren Ent­ deckungen sowie ihrem letztendlichen Fortschritt im theoretischen Verständnis bewertet. Whiteheads und Russells Ereignisontologien sind an diesen Kriterien zu messen, nicht an irgendeinem Endgültig­ keitsanspruch. Übersetzung von Frauke Albersmeier und David Hommen

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Drachenlogik. Zur Konstruktion der Materie bei Whitehead und Russell

The essence of life is to be found in the frustrations of established order. The universe refuses the deadening influence of complete conformity. John Gardner: Grendel1

I. Einleitung In ihrer erhellenden Whitehead-Darstellung zitiert Isabelle Stengers speziell zum Materiebegriff: »›Creativity‹ is another rendering of the Aristotelian ›matter‹, and of the modern ›neutral stuff‹.«2 Tatsächlich beginnt, physisch wie meta-physisch gleichermaßen, die Konstruk­ tion des Materiebegriffs mit dem Urstoff im Sinne der griechischen Antike, letztlich also mit dem Verhältnis von Substanz und Subjekt.3 Die Materietagung in Palermo4 hat dies eindrücklich bestätigt. Auf dem Wege zu selbiger Einsicht wendet Whitehead bereits 1906 in On Mathematical Aspects of the Material World die Logik der Klassen und Relationen an, um Punkte des Raumes und Teilchen als physikalische Materie zu verstehen – nicht als letzte Entitäten, sondern als Konstruktionen, die auf konkretere Entitäten, Kraftfeldli­ nien gleich, gegründet sind. Und 1914 bezieht sich Russell auf das unveröffentlichte und verschollene englische Original des Aufsatzes Gardner (1989), S. 67. Stengers (2011), S. 255, die sich auf PR, 31/79 bezieht. 3 Vgl. Zimmermann (2012b). 4 Understanding Matter. Philosophical Perspectives (10.-13. April 2014, University of Palermo), siehe dazu Zimmermann (2014). 1

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»La théorie relationniste de l’espace«, in welchem es gleichfalls um die Konstruktion der Punkte im Raum geht.5 Wenn er auch später den Materiebegriff Whiteheads kritisieren wird, verdankt er doch seinen eigenen Ausgangspunkt dieser ersten Lektüre. Ein halbes Jahrhundert danach werden sich Aspekte der Auseinandersetzung zwischen Whitehead und Russell in einem Standardwerk der Relativitätstheo­ rie niederschlagen,6 ein Thema, das kürzlich wieder von Xin Wei Sha aufgenommen worden ist.7 Vor dem Hintergrund dieser Auseinan­ dersetzung soll das Feld der logischen Konstruktion von Materie aus heutiger Sicht beleuchtet werden. Tatsächlich werden wir sehen, dass der auf Whitehead und auch auf Russell zurückgehende Ansatz – jen­ seits des bisher zureichend konstatierten konzeptuellen Scheiterns ihres Mathematik-Verständnisses im Hinblick auf die logischen Wei­ terungen durch Gödel und die Folgen – an neuerlicher Aktualität gewonnen hat, nämlich gerade im Bereich der fundamentalen Physik. Ich zeige das im Folgenden in drei kurzen Abschnitten, die sich mit der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Betrachtung befas­ sen, mittels der Konstruktion des Materiebegriffs und mit den Ergeb­ nissen aus heutiger Sicht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Hin­ weis, der zwei britische (ich möchte sie ausnahmsweise nennen:) ›Sonderwege‹ der Forschung betrifft, welche die wechselseitige Rezeption zwischen den in Großbritannien und in Deutschland erziel­ ten Ergebnissen bis heute erheblich erschwert haben. Am Schluss gebe ich einen kurzen Ausblick auf künftige Überlegungen.

II. Die thematische Ausrichtung Bereits im ersten, 1991 erschienenen, deutschsprachigen Materialien­ band zu Whiteheads Prozeß und Realität wird dessen spekulative Phi­ losophie auf zureichend erschöpfende Weise in den zeitgenössischen Kontext eingeordnet und stellt sich hinsichtlich ihrer Ursprünge im Wesentlichen als Produkt einer Debatte heraus, die in der Hauptsache zwischen zwei Schulen der analytischen Philosophie in Cambridge und Oxford geführt worden ist (und heute noch teilweise geführt wird) und ursprünglich als Auflehnung gegen eine britische Variante 5 6 7

Vgl. Desmet (2010), S. 180. Vgl. Hawking; Ellis (1973). Vgl. Sha (2013), S. 132.

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Drachenlogik. Zur Konstruktion der Materie bei Whitehead und Russell

des Idealismus zu verstehen ist.8 (Es ist diese initiale Beschränkung auf einen im Grunde regionalen Diskurs, der heute noch grassiert, wie man etwa in den Sitzungen des traditionellen ›Moral Sciences Club‹ im Darwin College, Cambridge, beispielhaft erfahren kann, die ich hier ausnahmsweise als ›britischen Sonderweg‹ bezeichne.) Dabei fällt vor allem auf, dass Whitehead den Anspruch auf absolute Wahrheit nicht aufgeben möchte und ihn um den Preis einer theore­ tischen Approximation beibehält, welche zwar unterstellt, dass die Geltung der Letztgültigkeit in Frage zu stellen sei, das philosophische System aber zu einem offenen werden lässt, welches (wie Hampe sagt) »als ebenso revidierbar betrachtet werden [muss] wie naturwissen­ schaftliche Theorien.«9 Zugleich gibt es den Anspruch, eine Theorie der Subjektivität zu entwickeln, welche auf eine Theorie der Natur sich zu stützen imstande ist. Hampe sieht speziell bei Whitehead, der die Natur als kreativen Prozess zu denken unternimmt und als ständige Hervorbringung von Neuem begreift, eine gelungene Vermeidung des »Einfrierens« von Subjektivität in einen Hintergrund gleichsam ewiger Naturgesetze.10 Er weist darauf hin, dass Whitehead insofern nicht nur die drohende Alternative Henrichs (entweder eine Metaphysik der Subjektivität anbieten zu können oder einen der Subjektivität entfremdeten Naturalismus) zu umgehen in der Lage ist, sondern auch die auf ihn folgenden Ansätze angelsächsischer Provenienz seinen Ansatz nicht überbieten konnten und somit eine vergleichbare Synthese nicht zu leisten imstande waren. Und er merkt ganz richtig an, dass Whitehead dabei durchaus von der Denklinie Spinoza-Schelling her beeinflusst gewesen sein mag.11 In den späteren einleitenden Ausführungen speziell zu Whiteheads Theorie der Ausdehnung kommt Hampe dann noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen, nämlich auf den Zusammen­ hang zwischen der Metaphysik und der (mathematischen) Logik bei Whitehead (und im Übrigen auch bei Russell). Für Hampe ist in 8 Vgl. Hampe (1991a), S. 17. Freilich muss man hierbei stets mitbedenken, dass die ›kontinentale‹ Philosophie in Großbritannien oft einer missverstandenen bzw. miss­ verständlichen Interpretation ausgesetzt ist, während das Umgekehrte vermutlich auch von britischen Philosophen über die Rezeption ihrer eigenen Ergebnisse auf dem ›Kontinent‹ behauptet wird. 9 Ibid., S. 18. 10 Vgl. ibid., S. 26. 11 Vgl. ibid., S. 27. – Zumindest wird Spinoza von Whitehead öfter erwähnt, Schelling praktisch gar nicht.

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diesem Zusammenhang die »Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Raum der geometrischen Theorien und dem unserer sinnlichen Erfahrung«12 bedeutsam. »Dabei spielt,« wie er sagt, »die Theorie der Materie eine vermittelnde Rolle.«13 Insofern kommt er sofort auf die Schrift Whiteheads von 1906, On Mathematical Concepts of the Mate­ rial World, zu sprechen und fügt sie in einen gemeinsamen Kontext mit Whiteheads Arbeiten über die Maxwell-Theorie und die Relativi­ tätstheorie gleichermaßen ein, der als vorbereitende Einstimmung auf Prozeß und Realität aufgefasst werden kann. Der wesentliche Punkt ist hier allerdings, dass – ähnlich der inner-britischen Debatte über die Metaphysik zwischen Cambridge und Oxford – auch die mathema­ tische Debatte einer vergleichbaren Entwicklung folgt und durchaus einen britischen14 ›Sonderweg‹ begründet: Das hängt vor allem mit den ersten Erfolgen in der Vektoralgebra zusammen, die zunächst von William Hamilton und sodann (offenbar unabhängig) von Hermann Günther Grassmann vorangetrieben wurden. Zwei Punkte müssen hierbei aber genauer beachtet werden: Zum einen bewirken, trotz der wechselseitigen Kommunikation zwischen britischen und deutschen Mathematikern zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die Ausprägungen dieses mathematischen Sonderweges bis heute, dass Quaternionen wie im übrigen die Grassmann-Algebra (freilich auch der ganze Kalkül der Differentialformen) für deutsche Studierende eher spät zum Handwerkszeug von Mathematikern und Physikern gehören und noch in der seit über einem Jahrhundert die klassische Physik dominierenden Relativitätstheorie zwei verschiedene, wenn auch äquivalente, Kalküle nebeneinander existieren. Tatsächlich hat erst die Differentialtopologie Einiges für die Zusammenführung beider bewirkt.15 (Im Unterschied zur einsteinschen Theorie, die eher mit dem Tensor-Kalkül arbeitet, hat sich die Quantenphysik früher auf beide Ansätze eingestellt – vermutlich dem Rückgang deutschspra­ chiger Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet.) Hampe (1991b), S. 222. Ibid. 14 Weil noch heute die verfügbaren Stellen in Großbritannien in der Hauptsache von Oxbridge-Absolventen besetzt werden, bleibt die konstatierte Regionalität weiterhin erhalten und schlägt sich sogar in der internen Auseinandersetzung mit modifizierten amerikanischen Interpretationslinien der analytischen Philosophie nieder, wie man am Beispiel Rorty deutlich erkennen kann. 15 Ich gebe dazu einen kompakten Überblick in meinem Buch: Zimmermann (2004) – namentlich im vierten Kapitel dort. 12

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Zum anderen aber verweist Hampe zwar zu Recht auf den Einfluss der Mengentheorie, der sich erst wesentlich später, näm­ lich vor allem durch Cantor zum Ende des 19. Jahrhunderts hin, entfalten wird. Nicht erwähnt wird freilich, dass aus heutiger Sicht die wesentlich auf die Axiomatik der Schule Bourbaki gestützte Mengentheorie als Paradigma längst abgelöst worden ist durch den Kalkül der (mathematischen) Kategorien, namentlich in Gestalt der aktuellen Topos-Theorie, die mit einiger historischer Ironie genau zu jenem Aspekt zurückführen, den Hampe als ›prä-cantorisch‹ den Zeiten Hamiltons und Grassmanns zurechnet, aber als heute überholt ansieht: zum Aspekt einer characteristica universalis nämlich, wie sie zur Mitte des 19. Jahrhunderts in leibnizscher Tradition immer noch vorgeschwebt haben mag.16 Wir kommen darauf zurück. Was Whitehead betrifft, für den »Geometrie […] zuallererst die allgemeinste Wissenschaft von den Relationen zwischen den einfachsten Gegenständen unserer Erfahrung«17 ist, sodass unsere Erfahrung als relational in zweierlei Hinsicht angesehen werden kann, nämlich als eine sowohl in zeitlicher wie auch räumlicher Ordnung verfasste,18 spielen allerdings metrische Eigenschaften des Raumes keine wesentliche Rolle. Stattdessen geht es ihm um eine allgemeine Form der Relationalität von Erfahrungsgegenständen – was natürlich damit zusammenhängt, dass für ihn auch die theoretische Erfassung der Wahrnehmung selbst relevant ist, was sich vor allem in seiner Auseinandersetzung mit der einsteinschen Theorie niederschlägt. Die Konsequenzen hat Johan Siebers in seiner sehr beachtenswerten Dissertation The Method of Speculative Philosophy. An Essay on the Foundations of Whitehead’s Metaphysics dargestellt: Er weist vor allem darauf hin, dass Whitehead im Grunde »das Unsagbare sagen möchte«19 und daher versucht, die zugrundegelegte Erfahrung als »›togetherness in actuality‹«20 einzuführen. Schon hier deutet sich die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Substanz und Subjekt an, weil Whitehead nämlich gehalten ist, den Begriff der Aktualität (im Gegensatz zu dem der Realität) differenziert zu fassen. Er wird Vgl. Hampe (1991b), S. 224. Ibid., S. 226 f. 18 Vgl. ibid., S. 227. 19 Siebers (2002), S. 17. Bei deutschsprachigen Widergaben englischsprachiger Werke handelt es sich hier und im Folgenden um meine Übersetzungen, RZ. 20 Ibid., S. 26. 16 17

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auf diese Weise zum Begriff des Ereignisses (event) gelangen (als »das Auftauchen von etwas in die Wirklichkeit hinein« (SMW, 93/114)), sodass sich Aktualität schließlich als »jene Selbstverwirklichung« zeigt, »welche den Akt des Werdens recht eigentlich definiert.«21 In diesem Sinne wird dann die Aktualität auch zu einem »Übergang ins Neue«.22 Streng genommen, kann man sagen, dass der letztlich auf Leibniz zurückgehende Begriff der Relationalität bereits heutige Auffassun­ gen zu antizipieren imstande ist – freilich um den Preis einer Aufgabe der ursprünglichen Raum-Konzeption Spinozas. Dies liegt vor allem daran, dass Leibniz im Rahmen jener naturwissenschaftlichen For­ schung, die sich mit entsprechend relevanten Fragestellungen befasst (bis hin zu den heutigen Theorie der Quanten-Gravitation), immer noch ungleich präsenter ist als Spinoza, dessen System Einstein im Zuge der Entwicklung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie zwar viel verdankt, das aber in der nachfolgenden Debatte der zwanziger und frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts keine wesentliche Rolle mehr gespielt hat.23 Hampe hat seinerzeit vorgeschlagen, die Ontologie von Prozeß und Realität als Modell einer Alternative zu der Funktionsontologie der Principia Mathematica zu lesen (mit den ›wirklichen Einzelwesen‹ als Modellen der Variablen, den ›zeitlosen Gegenständen‹ als Model­ len prädizierender Zeichen und den ›Erfassungen‹ (prehensions) als Modellen der logischen Verknüpfungen), sodass man im Grunde dieses späte Hauptwerk auch als Produkt eines Scheiterns ansehen könne, nämlich des Scheiterns einer Ableitung der Geometrie aus dem Kalkül der Principia – daher auch der fehlende vierte Band der letzteren.24 In der Tat scheint mir stattdessen auch im Falle Whiteheads und Russells die oftmals bestätigte Regel zu gelten, dass alle großen Entwürfe wesentlich einer kleinen Anzahl von Grundge­ Ibid., S. 25, Fn. 25; vgl. auch S. 27. Ibid., S. 33–37. – Ob freilich der Akt selbst im wirklichen Einzelwesen als Substanz (ousía) verstanden werden kann, bleibt fraglich. Zwar betont Siebers ausdrücklich den aristotelischen Substanz-Bezug bei Whitehead (m.E. zu Recht), die Frage ist aber, ob die spezifische Differenz zwischen Substanz und Subjekt völlig präzise wiedergegeben wird – was vermutlich auch davon abhängt, ob man eher mit der Physik oder mit der Metaphysik des Aristoteles argumentieren möchte. In meinem oben zitierten Stich­ wort »Natursubjekt« im Bloch-Wörterbuch (vgl. Fn. 3 oben) habe ich dazu einiges ausgeführt. 23 Man siehe hierzu ausführlich Zimmermann (2000). 24 Vgl. Hampe (1991b), S. 237. 21

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danken und ihren formalen Prinzipien geschuldet sind, die durchgän­ gig erhalten bleiben. In diesem Sinne kann man den Übergang von den Principia zu den späten Konzeptionen Whiteheads und Russells wohl eher als kontinuierliche Weiterentwicklung des einen, initialen Ansatzes und weniger als diskrete Abfolge verschiedener Ansätze auffassen, allenfalls als Perspektivwechsel, selbst wenn zwischen bei­ den Protagonisten im Laufe der Zeit Divergenzen im Detail dingfest zu machen sind.

III. Die Konstruktion Die Bezeichnung ›logische Konstruktion‹ wird vor allem von Bertrand Russell benutzt, wenn er dazu übergeht, philosophische Theorien zu beschreiben, die in der Hauptsache so angelegt sind, dass sie als Analogie zur Konstruktion der Zahlen im Sinne der ›Frege-Rus­ sell-Definition‹ von 1901 aufgefasst werden können. Dabei ist zu beachten, dass sich jene Definition bereits auf das Mengenkonzept stützt.25 Es ist vor allem dieses Vorgehen, das Russell über 1914 hinaus beibehalten wird, auch im Zusammenhang mit der Konstruk­ tion von Raum, Zeit und Materie, und das verschiedene andere Philosophen beeinflusst hat, darunter Carnap und Quine. Dahinter steht im Wesentlichen die Idee einer ›rationalen Dynamik‹, die allein aus reiner Mathematik ableitbar ist.26 Genau in diesem Sinne ist die Konstruktion der Materie vergleichbar mit der Konstruktion der Zahlen als Klassen, nur mit dem Unterschied, dass materielle Objekte zugleich als Kollektionen von Sinnesdaten aufgefasst werden können. Mit einem Schwerpunkt auf der Sichtweise Russells hat Clive Kilmister vor einiger Zeit bereits ein nach wie vor maßgebliches, leider aber wenig beachtetes Buch geschrieben, in welchem die Haupt­ Dabei wird eine natürliche Zahl n als Menge mit n Elementen definiert, sodass sie im Grunde eine Äquivalenzklasse von endlichen Mengen unter dem Kriterium der Gleichhäufigkeit ihrer Elemente ist. 26 Dieser Idee folgen heute noch zum Teil angelsächsische Mathematiker und Phy­ siker von Penrose bis Tegmark. Auch Stephen Wolfram liegt auf dieser Argumentati­ onslinie, wenn er davon ausgeht, dass zelluläre Automaten praktisch alle welthaften Strukturen emulieren können. Mir scheinen diese Vorstellungen aber bei weitem zu platonisch orientiert. Sie gehen auch allzu leicht über den Umstand hinweg, dass Mathematik primär Repräsentationstechnik ist, ihre Objekte also eher Abbildung von Abbildungen sind, nicht aber konkret reale Entitäten. 25

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linie der argumentativen Entwicklung sehr konzis zusammengefasst ist. So schreibt Kilmister unter anderem: Russell came to see the need for truth in mathematics as part of his personal need for certain knowledge in any field. One could almost say that he selected mathematics for the establishment of this certain truth because it was the most hopeful area for it. This is the epistemological thread. There is also an ontological thread which is closely connected. Russell chose to establish the real existence of mathematical entities by using the real existence of relations. [...] Later the two threads join together in Russell’s main contribution which is that of finding a way in which Frege’s programme for providing a secure foundation for mathematics can be rescued from the contradictions which threatened to submerge it.27

Bei aller ursprünglichen Gemeinsamkeit in der Sichtweise und Argu­ mentation von Whitehead und Russell deutet sich hier vielleicht bereits ein wesentlicher Unterschied an, nämlich die Erwartungshal­ tung im Hinblick auf Wahrheit. Eine ausführliche Debatte würde den Rahmen des Vorliegenden sprengen. Deshalb sei hier lediglich angemerkt, dass die Vielschichtigkeit des Wahrheitsbegriffs sehr viel zu tun hat mit der Sicht auf das bereits erwähnte Verhältnis zwischen Substanz und Subjekt. Kilmister fährt fort: »Russell sees Leibniz as the principal example of a philosopher who uses logic as a basis for metaphysics. I shall argue that this feature of Leibniz, whether or not it is important in understanding him, is of the greatest importance for a study of Russell.«28 Das gilt wohl ohne Beschränkung der Allgemeinheit auch für Whitehead. Zum Teil haben wir das oben bereits gesehen. Und weiter: The book: Principles of Mathematics has two objects: 1) the proof that pure mathematics deals exclusively with concepts definable in terms of a very small number of fundamental logical concepts, and that all its propositions are deducible from a very small number of fundamental logical principles [...] 2) the explanation of the fundamental concepts which mathematics accepts as undefinable. This is a purely philosophi­ cal task.29

27 28 29

Kilmister (1984), S. 3. Ibid, S. 39 f. Ibid., S. 90 f., hier aus dem Vorwort der Principles zitierend.

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Soweit die Principia betroffen sind, überwiegt sicherlich noch die Gemeinsamkeit bei Whitehead und Russell. Diese hatten ja in ihrer Vorrede geschrieben: The mathematical treatment of the principles of mathematics, which is the subject of the present work, has arisen from the conjunction of two different studies, both in the main very modern. On the one hand we have the work of analysts and geometers, in the way of formulating and axiomatizing their axioms, and the work of Cantor and others on such matters as the theory of aggregates. On the other hand we have symbolic logic, which [...] has now, thanks to Peano and his followers, acquired the technical adaptability and the logical comprehensiveness that are essential to a mathematical instrument for dealing with what have hitherto been the beginnings of mathematics (PM, I, v).

Und es heißt dort weiter: »A very large part of the labour involved in writing the present work has been expended on the contradictions and paradoxes which have infected logic and the theory of aggreg­ ates.« (PM, I, vii) Es folgt die wesentliche, später als irrig erwiesene Bemerkung, sie hätten gezeigt, »that it is possible to construct a mathematical logic which does not lead to contradictions.« (PM, I, viii) Es geht also im Wesentlichen um eine Überprüfung jener Inferenzen, die zwischen Aspekten des grundlegenden Glaubens (basic beliefs) auf der einen Seite und unbeobachtbaren Entitäten (unobserved entities) auf der anderen Seite vorgenommen werden können – nicht nur, was Materie bzw. materielle Objekte angeht. Hiermit eng verknüpft sind die Inferenzen hinsichtlich von Punkten und Augenblicken, wie von Russell konstatiert.30 Die Konstruktion von Punkten kann hierfür als repräsentativ angesehen werden. In Our Knowledge of the External World schreibt Russell die Anregung hierzu Whitehead gut31 und arbeitet in der zweiten Auflage auch jene Modifikationen ein, die dieser zwischenzeitlich vorgenommen hat. Erst in The Analysis of Matter (Kap. 28) wird er Einwände finden, insofern er Punkte nicht als Grenzwert einer Reihe von Oberflächen auffasst, sondern als diese Reihe selbst versteht. Mithin ist für ihn ein Punkt die Menge aller eingeschlossenen Oberflächen(-Gebiete), von denen gesagt werden kann, dass sie den Punkt einschließen. (Ähnliches gilt dann für Volumina.) Die Operation ›Einschluss‹ erweist sich daher als eine

30 31

Vgl. Fritz (1952), Bd. 3, S. 180. Vgl. ibid. – mit Verweis auf Russell (1914), S. 114.

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transitive, nicht-symmetrische Relation, und jedes räumliche Objekt schließt auch sich selbst mit ein.32 An eben dieser Stelle kommt es zur Berührung mit der Logik Spencer-Browns33, die heute vor allem durch die Ansätze von Louis Kauffman verbreitet wird.34 Im Jahr 1922 veröffentlicht Whitehead eine Alternative zur einsteinschen Relativitätstheorie, die er ebenso kritisiert, wie er das zuvor mit der klassischen Physik im Allgemeinen bereits getan hatte. In dem Bestreben, einen ungerechtfertigten Dualismus zu vermeiden, hebt Whitehead, seinen Grundvorstellungen getreu, vor allem auf den tradierten unmittelbaren Erfahrungsinhalt ab, welcher materi­ elle Wahrnehmungen auf instantane, statische Momente beschränkt. Stattdessen möchte er diese Konzeption durch eine ersetzen, in wel­ cher die Erfahrung von Natur als in zeitlichen Portionen des Werdens bestehend aufgefasst werden kann. In diesem Sinne versucht er, auch das zu vermeiden, was er in der Regel mit der Bezeichnung ›Verzweigung‹ oder ›Zweiteilung‹ (bifurcation) belegt. So sieht er sich dazu aufgefordert, die Teilchen-Ontologie der tradierten klassischen Physik durch eine Ontologie zu ersetzen, die auf dynamisch mitein­ ander vermittelten Ereignissen basiert.35 Im Einzelnen heißt es bei Whitehead hierzu: [Nature is seen as] a becomingness of events which are mutually significant of each other so as to form a systematic structure […]. The structure is uniform because of the necessity for knowledge that there be a system of uniform relatedness, in terms of which the contingent relations of natural factors can be expressed. Otherwise, we can know nothing until we know everything. (PoR, 21, 29)36

Konsequenterweise, weil nämlich ein Ereignis ›vorbeigeht‹, ist das, was erhalten bleibt, ein Objekt. Während Relationen zwischen Ereig­ nissen notwendig uniform sind, ist dies für Relationen zwischen Vgl. Ibid., S. 182. Vgl. Spencer-Brown (1969). 34 Vgl. Kauffman (2013). Wir gehen an dieser Stelle auf die Details der Materiekon­ struktion nicht weiter ein. Beachtet werden muss jedoch, dass nach wie vor der Einwand bestehen bleibt, dass der logische Algorithmus zwar zu einem Materiebegriff führen kann, nicht aber zu konkret vorhandenem ›Stoff‹. 35 Ich folge hier im Wesentlichen der Argumentationslinie im ausführlichen Aufsatz von Bain (1998), insb. S. 548 f. 36 Zugleich legt Whitehead mit dieser Äußerung das Schwergewicht ganz klar auf die observable Welt, mithin auf die Modalität (bzw. Aktualität), nicht auf die (substantielle) Realität. 32

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Objekten nicht der Fall. Das physikalische Feld eines Ereignisses ist mithin das ›Feld der Aktivität‹, welches den Transfer von je situierten Objekten in Situationen nachfolgender Ereignisse reguliert. Bezogen auf ein Ereignis, kann man hier von einer Einflusssphäre sprechen. Es gilt also Folgendes: Insofar as nature is systematically related, it is a system of uniform relatedness; and in the second place, intelligibility is preserved amid the contingency of appearance by the breakdown of relatedness which is involved in atomicity. (PoR, 73)

Auf diese Weise können Uniformität wie auch Atomizität als aus Ereignissen und Objekten abgeleitet verstanden werden. Insofern wendet sich Whitehead kritisch gegen Einstein, indem er bezweifelt, dass die bei diesem angewandte methodische Abstraktion die tatsäch­ liche Bedeutung geometrischer bzw. temporaler Begriffe wirklich zu erfassen imstande sei. Zu diesem Zweck entwickelt er die ›Methode der extensiven Abstraktion‹ (letztendlich eine von Russell später auch so bezeichnete Methode der Konstruktion), in welcher geometrische Größen (Punkte, Linien, Ebenen, Volumina) durch die Konvergenzei­ genschaften überlappender Mengen definiert werden, die wesentlich aus Sinnesdaten bestehen.37 Demgemäß versteht sich insbesondere die Konstruktion der Kinematik als eine Methode, die geeignet ist, die extensiven Eigenschaften von ›Zeit-Systemen‹ aufzuklären, die ihrerseits nichts weiter als Ereignisse endlicher temporaler bzw. räum­ licher Ausdehnung sind. Sie sind deshalb auch Familien ›paralleler Dauern‹, die sich ihrerseits mit anderen Dauern, nicht aber mit endlichen Ereignissen überschneiden können. (Der Begriff der Dauer ergibt sich dabei unmittelbar aus der Erfahrung.) Mit dem weiteren Hauptbegriff der Kogredienz kann Whitehead dann einen Zusammen­ hang herstellen zwischen Zeit-Systemen einerseits und inertialen Bezugssystemen andererseits. Im Grunde wirft Whitehead Einstein vor, er habe in seinem Ansatz die erforderliche Uniformität verletzt – vor allem, indem er nicht zureichend präzise zwischen notwendigen und kontingenten Relationen unterschieden habe. Freilich erscheint die im Detail angebrachte Argumentation eher wie eine eigentümliche 37 Ausführlich hierzu Bain (1998), S. 553. – Dazu hat auch Hurley (1979) einiges im Detail ausgeführt. Den Aufsatz Whiteheads datiert er hierbei auf eine Tagung in Paris am 8. April 1914. Tatsächlich handelt es sich um den bereits erwähnten Aufsatz »La Théorie relationniste de l’espace«. Hurleys Auffassung gemäß erwähnt Whitehead in diesem Aufsatz erstmals die Methode der extensiven Abstraktion.

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Begründung des machschen Prinzips und leuchtet nicht unmittelbar ein.38 Entsprechend unanschaulich wird die spezielle ›Übersetzung‹ einer Beschreibung des Weges, den ein Teilchen m im Schwerefeld zurücklegt, von der Form

dJ2 = dGm2  −

2  Σ ΨM  dGM 2 .  c2

Hierbei steht dJ2 = Jab dxa dxb für das, was Whitehead »potentiellen Impetus« nennt, an einem Punkt x auf m wirkend, entsprechend der benachbarten Teilchen M in X. Darüber hinaus bedeuten dGm2 = Gab dxa dxb bzw. dGM2 = Gab dXa dXb vergleichbare linienelement-ähnliche Größen, wobei insbesondere Gab die Minkowski-Metrik ist. Zudem ist Ψ M = GM/w, mit G als newtonscher Gravitationskonstanten und w als Lorentz-invarianter Entfernung zwischen den Weltlinien von m und M. Wie Schild bereits vor längerem gezeigt hat,39 besteht die wesentliche Abweichung vom einsteinschen Ansatz in der Einführung eines retardierten Potentials, etwa dem Lienard-Wiechert-Potential des Elektromagnetismus vergleichbar. Am Ende kann man wohl die neuere Arbeit von Will heranziehen, um auch die empirischen Defi­ zite dieses Ansatzes zu belegen.40 (Man muss aber auch hinzufügen, dass der Ansatz Whiteheads, was selten Erwähnung findet, gleicher­ maßen gegen die Regeln der Ökonomie des formalen Graphismus verstößt, also im Grunde gegen die Regel vom Ockhamschen ›Rasier­ messer‹, denn der übliche Formalismus Einsteins, dem Whitehead »falsche« Abstraktion vorwirft, kann wesentlich sparsamer und im übrigen auch plausibler dargestellt werden.41) 38 Bain (1998), S. 556: »The necessary relations of any given factor F are those between F and all other factors that make F what it is; they comprise F’s identity as a factor. Contingent relations are those between F and other factors that could be dif­ ferent without affecting the identity of F. [T]he structure of necessary relations must be uniform such that knowing any part of the structure allows one to know the whole structure.« 39 Vgl. Schild (1956). 40 Vgl. Will (1993). 41 Das erkennt man vor allem gerade an der Linienelement-Eigenschaft des Darge­ stellten. Stattdessen wird der Weg eines Teilchens im Schwerefeld durch die geodäti­ schen Bewegungsgleichungen angegeben, die ihrerseits aus den Feldgleichungen bestimmt werden. Der Zusammenhang wird in der Regel durch ein Integral über die Dichte des Energie-Impuls-Tensors hergestellt, wenn für den letzteren der Ansatz

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IV. Neuere Implikationen In seinem Aufsatz zu Whiteheads On Mathematical Concepts of the Material World konzentriert sich Claus Michael Ringel auf die relationalen Grundstrukturen und stellt dabei die Frage nach dem ent­ scheidenden Bindeglied zwischen den Principia Mathematica einer­ seits und Prozeß und Realität andererseits, das er in dem genannten Werk von 1906 zu finden vermeint (bei allen ansonsten konstatier­ baren Unterschieden zwischen diesen beiden Hauptwerken).42 Dabei kommt ein Punkt ins Spiel, der außerhalb des angelsächsischen Forschungsbereiches oft übersehen wird, denn es stellt sich alsbald heraus, dass es wohl am ehesten noch die Algebra ist, welche eine Brückenfunktion zu spielen imstande scheint. Ringel weist mit Recht darauf hin, dass die Kosmologie Whiteheads nicht gerade systema­ tisch genannt werden kann, sondern eher essayistisch, dass aber gerade das, was bei Whitehead als ›Vektorielles‹ in Erscheinung tritt, die Gemeinsamkeit mit den Ansätzen aus dem Buch Universal Algebra unterstreicht. Und ganz zentral ist dabei die Herkunft der algebraischen Sichtweisen Whiteheads (der immerhin Mathematik am Trinity College, Cambridge studiert hat) aus jener Mathematik, welche wir bereits erwähnt haben und die mit den Namen Grassmann und Boole, allerdings auch Hamilton, verbunden ist. Es ist hier der auch in mathematischer Hinsicht bestehende ›britische Sonderweg‹ bereits erwähnt worden: In der Praxis führt das zur Kollision zweier mathematischer Formalismen, die zwar wechselseitig ineinander transformiert (d.h. übersetzt) werden kön­ nen, wegen der verschiedenen Vermittlungsweise aber immer wieder Anlass zur Irritation geben.43 Im Grunde wird die von Whitehead einer perfekten Flüssigkeit eingesetzt wird. Dieser wesentliche Aspekt, der unabhän­ gig davon auch durch ein Variationsprinzip angegeben werden kann, scheint mir in der hier zitierten Darlegung von Jonathan Bain nicht zureichend zum Ausdruck gebracht zu sein. Schon aus rein formaler Sicht scheint die oben angegebene Bezie­ hung zudem fragwürdig. Wenn wir uns auf Eddingtons Herleitung verlassen, können wir wohl von einer Äquivalenz zwischen dJ und dem einsteinschen ds ausgehen; vgl. Eddington (1924), S. 192. Naheliegend ist diese aber mitnichten, vor allem scheint sie aus heutiger Sicht tatsächlich nicht vorzuliegen, wenn Will zu Recht empirische Abweichungen zur Einstein-Theorie bemängelt. 42 Vgl. Ringel (2008). 43 Im Grunde handelt es sich um einen Zugang zur Differentialgeometrie und Differentialtopologie unter verschiedenen Perspektiven, nämlich jeweils aus Sicht des Tangentenbündels bzw. des Ko-Tangentenbündels, wobei es sich um duale Prinzipien

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eingeführte Methode der Extensiven Abstraktion als eine Konstruk­ tion von Punkten, die von höherdimensionalen Objekten ausgeht, dazu genutzt, die ›Punktualität‹ grundsätzlich in Frage zu stellen. (Dieser Gedanke taucht in neuerer Zeit öfter auch bei Roger Penrose auf.44) Stattdessen wird der Punkt als Komplex interpretiert, das heißt, Punkte werden durch die Menge der Geraden ersetzt, die durch einen Punkt hindurchgehen.45 Auf diese Weise aber verbindet sich der Ansatz mit dem weit früheren des Julius Plücker, der praktisch als Erfinder der ›Liniengeometrie‹ gilt. Dieser war Professor in Bonn, und er verstarb im Jahr 1868, demselben Jahr, in welchem Felix Klein dortselbst promoviert wurde. In diesem Jahr erschien auch das Buch Plückers Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linien als Raumelement, zu dessen Thematik ›Liniengeometrie‹ Klein seine Plücker gewidmete Dissertation anfer­ tigte. Es ist aber gerade Roger Penrose, der ein Jahrhundert nach Plücker diese Thematik mit dem Minkowski-Raum der speziellen Relativitätstheorie in Beziehung setzt, indem er den plückerschen Linienraum als dessen Komplexifizierung erweist (die für Penrose eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem Spinorkalkül der Raum-Zeit spielt). Damit nicht genug: Es gibt noch eine weitere whiteheadsche Konnotation, welche die neuere Onto-Epistemologie in Rechnung stellt. Der Bohm-Schüler Jeffrey Bub hat das in seinem Buch Interpre­ ting the Quantum World sehr anschaulich auf den Punkt gebracht, wenn er sagt: »There is no quantum world. There is only an abstract quantum physical description. It is wrong to think that the task of physics is to find out how nature is. Physics concerns what we can say about nature.«46

der Vereinigung von Tangentialräumen handelt. In der Hauptsache ist in diesem Sinne ein Tangentialraum ein Vektorraum, der eine differenzierbare Mannigfaltig­ keit in einem Punkte linear approximiert. Elemente des Ko-Tangentenbündels sind Differentialformen, welche den Regeln einer Grassmann-Algebra gehorchen. Eine Grassmann-Algebra mit trivialisierter Quadratform heißt Clifford-Algebra. Beide Algebren sind sowohl für eine Diskussion der Maxwell-Gleichungen als auch für Aspekte der Quantenphysik relevant. Quaternionen ergeben sich speziell aus der Clifford-Algebra Cl (2, 0). 44 Vgl. Penrose (2005). 45 Vgl. Ringel (2008), S. 9. 46 Bub (1997), S. 11. (Tatsächlich zitiert Bub hier Aage Petersen, der seinerseits Nils Bohr (1963) zitiert).

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In seinem eigenen Ansatz verfolgt Bub eine eher algebraische Linie, indem er den klassischen Zustand eines Teilchens als einen defi­ niert, der eine Teilmenge der Elemente in einer Booleschen Algebra auswählt. Und eine Eigenschaft des untersuchten Systems wird durch die charakteristische Funktion vorgegeben, die für die entsprechende Teilmenge gerade den Wert 1 annimmt. In diesem Sinne ist eine mögliche Welt nichts anderes als ein Ultrafilter, d.h. eine maximale Teilmenge dieser Art, die aus ›wahren Propositionen‹ besteht.47 Gerade eben diese Problemstellung des Randes zwischen mög­ lichen und unmöglichen Welten diskutiert Roger Penrose bereits in einem Aufsatz von 1994: So zeigt er unter anderem, dass die unmöglichen Welten Eschers, aufgefasst als deformierte Polyhedra, interpretiert werden können als imaginative Abbildung verschiedener Perspektiven auf Boolesche Algebren, die derart zu einer einzigen zusammengefügt werden können, dass sie eine Struktur bilden, die nicht in einen einzigen Booleschen Rahmen eingebettet werden kann, und zwar so, dass es eine Kodierung von Richtungen im Hilbert-Raum gibt, die einen Beweis für die Unmöglichkeit einer Einbettung zu erbringen imstande ist.48 Anders gesagt: Es kann eine Interpretation der propositionalen Variablen in einer klassischen Tautologie gegeben werden, in welcher sich die Tautologie als falsch erweist. Wie Bub sagt: »This is the way in which a quantum world is non-classical.«49 Die zu dieser Thematik abgegebenen Stellungnahmen in ver­ schiedenen Aufsätzen bestätigen in der Hauptsache die von uns im Vorliegenden vorangestellte Sichtweise: Stellvertretend hierfür können Aussagen zitiert werden, die in einem neueren Sammelband von John D. Barrow et al. zum Thema Science and Ultimate Reality. Quantum Theory, Cosmology, and Complexity gemacht worden sind. Dort stellt etwa Freeman Dyson fest, dass die Sprache der Quanten­ physik notwendig unvollständig ist. Und David Deutsch führt das genauer aus: Er weist darauf hin, dass eine Quanten-Observable weder eine reelle Variable ist (wie der klassische Freiheitsgrad) noch 47 Wir erinnern uns, dass ein Filter in einer Booleschen Algebra einer Menge wahrer Propositionen korrespondiert, die alle Konjunktionen von Propositionen in der Menge aller Propositionen enthält, welche durch irgendeine Proposition in der Menge impli­ ziert werden. Ich habe bei anderer Gelegenheit diese Zusammenhänge genauer erläu­ tert, zum Beispiel in Zimmermann (2010), S. 26–38 sowie ähnlich nochmals unter anderer Perspektive im sechsten Kapitel von Zimmermann; Wiedemann (2012a). 48 Penrose (2008). 49 Bub (1997), S. 94.

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eine diskrete Variable (wie ein klassischer Bit), sondern eine, auf die beide Aspekte gleichermaßen zutreffen. Bits, Boolesche Variablen und klassisches Prozessieren von Daten (computation) sind alle emergente Eigenschaften von Quanten-Bits, welche dem Phänomen der Deko­ härenz unterliegen. In einer größeren Realität ist die Antwort auf eine Ja-Nein-Frage niemals einfach nur Ja oder Nein, noch nicht einmal Ja und Nein in Parallele, sondern eine Quanten-Observable, die durch eine große hermitesche Matrix repräsentiert werden kann.50 Auf der ähnlichen Linie der Argumentation bewegt sich Linde, der daran erinnert, dass die Erkenntnis der Welt nicht mit Materie beginnt, sondern mit Wahrnehmungen (perceptions).51 Und schließlich Ellis: »Die kausale Hierarchie ruht inmitten der metaphysischen, letzten Realität (ultimate reality). Metaphysik geht der TOE voraus.«52 Roger Penrose hat viele dieser Gedanken einst im Zusammen­ hang mit der Entwicklung seiner »Twistor-Theorie«, die als ein Vorläufer der »Loop Quantum Gravity-Theorie« verstanden wer­ den kann, näher ausgeführt. Beispielsweise kann er mit einer ver­ gleichsweise einfachen Ausstattung des Theorie-Inventars Elemen­ tarteilchen der Ruhemasse Null (also selbstduale lineare Gravitation, selbstduale Maxwellfelder, Neutrinos, Skalarwellen und die entspre­ chenden Antiteilchen) durch eine Helizität klassifizieren, die unmit­ telbar durch Twistorfunktionen ausgedrückt wird. Auf Details kann hier an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden,53 aber es dürfte unschwer erkennbar sein, dass die neuere Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte Problemstellungen ins Gedächtnis zurückruft, die bei Whitehead und Russell bereits frühzeitig thematisiert, wenn auch nicht gelöst, werden.

V. Ausblick Aus heutiger Sicht ergeben sich mithin zwei gegenläufige Aspekte (die im Übrigen auch der andauernden Debatte über den Status der Ansätze von Whitehead und Russell einigermaßen entgegenste­ Vgl. Deutsch (2004), S. 93 und S. 100. Vgl. Linde (2004), S. 451. 52 Ellis (2004), S. 634. 53 Ich habe Näheres hierzu bei früherer Gelegenheit ausgeführt. Man siehe Zimmer­ mann (1998), vor allem im Anhang: »Prä-geometrische Aspekte der modernen Phy­ sik«, S. 183–228; etwa Abschnitt 2.6, S. 202 ff.

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hen): Zum einen verbleibt eine Unklarheit unter der metaphysischen Perspektive, zum anderen gibt es eine tradierte Verkennung des methodischen Vorgehens. Was das Erste betrifft, so muss festgestellt werden, dass das metaphysische Verhältnis von Substanz und Subjekt bis heute Anlass zu Missverständnissen gibt, die auch den Status des logischen Wahrheitsbegriffs und des Materiebegriffs im Allge­ meinen tangieren. Hier muss zu weiterer Arbeit aufgerufen werden. Hinsichtlich des zweiten sollte eingeräumt werden, dass die logische Konstruktion der observablen Welt, namentlich ihrer Hauptkatego­ rien Raum, Zeit und Materie, wesentlich relevanter und aktueller ist als aus dem historischen Kontext heraus zu erwarten wäre. Dazu noch eine kurze Schlussbemerkung: So gibt es zum Beispiel einen Ansatz, den einst (das heißt, vor zwanzig Jahren) Walter Fontana, damals einer der Protagonisten am Santa-Fe-Institut, für die Chemie vorgeschlagen hat und mit dem Namen ›Alchemie‹ (Algorithmische Chemie) bezeichnet: Die Idee ist dabei, Moleküle als symbolische Darstellungen von Operatoren auf­ zufassen, die auf chemische Stoffe wirken.54 In diesem Sinne gibt es eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem »chemischen Kalkül« und der Programmiersprache LISP, nämlich auf folgende Weise: Ein Ope­ rator Op = f wird durch seine Wirkung auf relevante Variablen defi­ niert, von der Form x, y, ...: f (x, y, …). Das Resultat ist dann die Aus­ wertung der Wirkung am Ort (x, y, …). Wenn man die Konsequenzen dieser Überlegung streng berücksichtigt, bekommt man eine Korre­ spondenztafel der folgenden Gestalt: Molekül

Symbolische Repräsentation eines Operators

Verhalten des Moleküls

Aktion des Operators

Chemische Reaktion

Auswertung eines Funktionsterms

Chemische Bindungseigen­ schaften

Algebraische Eigenschaften der Konnektiven

Lokalisierung einer Reaktion

Proposition

Stabiles Molekül

Schnittfreier Beweis der Proposition

54

Vgl. Fontana (1991).

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Komplementarität

Negation

Reaktion

Beweis mit Schnitt zwischen Proposition und Negation

Auf der linken Seite sind dabei Aspekte aufgelistet, die der phäno­ menologischen Chemie entstammen, während auf der rechten Seite das jeweilige logische Theorie-Äquivalent dargestellt ist. Wir sehen leicht, auf welche Weise Begriffe des logischen Kalküls der Propositio­ nen und Prädikate ins Spiel kommen, ohne den spezifischen Bereich der chemischen Reaktionen zu verlassen. Der Zusammenhang mit der Sprache LISP kommt dadurch zustande, dass die Standardform eines Befehls die Gestalt (op x y) annimmt, wobei die Leerstellen nunmehr signifikant sind. Operatoren können durch den Befehl (define (op name x) (op x y)) aufgerufen werden. Die zentrale Mächtigkeit von LISP besteht im Aspekt der Selbst-Rekursion, die Prozeduren gestattet, welche sich selbst aufrufen können. Daher ist die mit LISP assoziierte generische Logik der Lambda-Kalkül.55 Mit anderen Worten: Die konkrete Struktur der observablen Natur erweist sich als pragmatische Materialisierung eines logischen Sprachmodells. Die aktuale Welt ist somit der Welt der Funktionen isomorph, indem sie durch Operatoren abgebildet wird, die allein auf Propositionen basiert sind.56 (Aber wiederum: Wir sprechen hier nach wie vor lediglich über Techniken der logischen Repräsentation. Um Materialien wirklich herzustellen, bedarf es zudem des konkreten »Stoffs«.) Kommen wir zum Schluss: Isabelle Stengers hat die Transforma­ tion Whiteheads (im Unterschied zu jener Russells) vom Logiker und Naturphilosophen (letzteres im genuin britischen Sinne verstan­ den) zum Metaphysiker als eine Waghalsigkeit beschrieben, die ihrer Interpretation gemäß John Gardner in seiner eigentümlichen Beowulf-Fassung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er sowohl

55 Dieser Kalkül ist kürzlich von Louis Kauffman im Bereich der theoretischen Physik angewendet worden, vor allem im Zusammenhang mit Resultaten, die der Knotentheorie entstammen. Dieser Ansatz hat bereits dazu geführt, eine unmittelbare Verbindung zwischen fundamentalen Aspekten der Physik und Biologie herzustellen, am Beispiel der DNA-Replikation expliziert (ohne den Weg über die Chemie nehmen zu müssen). Man siehe u.a. Boi (2005). 56 Für eine Modellierung des deduktiven Forschungsprozesses habe ich kürzlich gemeinsam mit dem Kollegen Simon Wiedemann das erste am Computer spielbare Glasperlenspiel entwickelt. Man siehe Zimmermann; Wiedemann (2012a).

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die Worte des Drachen als auch die Worte des alten Priesters aus Whitehead-Zitaten formt.57 Sie sagt: John Gardner grasped the strange character of this audacity quite precisely: it is bereft of all excitement, of all appetite for destruction and scandal, simultaneously the word of a Shaper, or creator of forms who might perhaps be able to disarm Grendel’s hatred, and of the dragon, who, with his immemorial knowledge, knows the vanity of arguments that try to fixate time, found the order of things, refute or justify.58

Für Stengers wird die Rolle, welche die Metaphysik hierbei spielt, am besten durch die Erzählung vom alten Beduinen ausgedrückt, der sei­ nen drei Söhnen jeweils die Hälfte, ein Viertel und ein Sechstel seines Vermögens vererbt, das sich nach seinem Tode als eines erweist, das aus elf Kamelen besteht. Die Söhne suchen verzweifelt nach einer Möglichkeit, der Bestimmung zu folgen, ohne das Erbe zu zerstören oder es entgegen der väterlichen Absicht zu verwenden. Am Ende wenden sie sich auf der Suche nach Hilfe an einen weisen Mann in ihrem Dorf, der ihnen aber sagt, er könne auch nicht weiterhelfen – abgesehen davon, dass das Einzige, was er ihnen anbieten könne, sein eigenes, altes, schon krankes Kamel sei. Darauf haben die Söhne zwölf Kamele: Der erste nimmt sechs, der zweite drei, der dritte zwei. Das alte, kranke Kamel geben sie dem Weisen zurück. Dieses letztere Kamel steht für die Metaphysik, die es ermöglicht zu verstehen, was es bedeuten kann, eine Erbschaft zu teilen. Im Falle der Metaphysik aber geht es um das Erbe des menschlichen Wissens. Der Ansatz Whiteheads scheint von der Intention her diesem Anspruch im größ­ ten Maße gerecht werden zu können.

Bibliographie Bain, Jonathan (1998), »Whitehead’s Theory of Gravity«, in: Studies in History and Philosophy of Science Part B: Studies in History and Philosophy of Modern Physics 29/4, S. 547–574. Boi, Luciano [Hrsg.] (2005), Geometries of Nature, Living Systems, and Human Cognition. New Interactions of Mathematics with Natural Sciences and Huma­ nities, Singapore et al.: World Scientific Publishing. Bub, Jeffrey (1997), Interpreting the Quantum World, Cambridge: Cambridge University Press. 57 58

Offenbar Whiteheads Denkweisen entnommen. Stengers (2011), S. 5.

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Rainer E. Zimmermann

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Sébastien Gandon

Russells und Whiteheads Logizismus1

I. Einleitung Die Principia Mathematica wurden sowohl von Russell als auch von Whitehead verfasst. Oft heißt es, Russell sei für die philosophische Arbeit verantwortlich gewesen, während Whitehead sich um die technischen Parts kümmern musste. Dass es in der Phase vor der Veröffentlichung der Principia tatsächlich eine Arbeitsteilung gab, ist sicherlich wahr: Russell war für die ersten Teile der Principia verantwortlich, jene, die der Logik und der finiten Arithmetik gewid­ met sind, während Whitehead für die späteren, mathematischeren Teile zuständig war, die sich der Quantität, der Theorie der reellen Zahlen und der Geometrie widmen. Allerdings zeigt ein Blick auf die Korrespondenz zwischen den beiden Autoren, dass auch wenn der erste Impuls stets entweder von Russell oder von Whitehead ausging, kein Teil der Principia ohne Überarbeitung oder Korrektur durch den jeweils anderen blieb. Whitehead erörtert detailliert Russells unterschiedliche Versionen der Typentheorie und bestätigt, dass er Russells Kommentare zu seinem eigenen Manuskript über Quantität und Raum erhalten habe. Die Principia Mathematica waren also von Anfang an bis zum (veröffentlichten) Ende eine Gemeinschafts­ arbeit. Jene Darstellung, die den Philosophen Russell dem Techniker Whitehead gegenüberstellt, lässt weder Russells technischer Exper­ tise noch Whiteheads philosophischen Beiträgen gebührende Aner­ kennung zuteilwerden. Der Hauptgrund für die Kritik an dieser Darstellung liegt jedoch an anderer Stelle. Russell war, wie bereits gesagt, bei den ersten Teilen der Principia federführend, Whitehead bei den späteren Teilen. 1 Der vorliegende Aufsatz knüpft an eine Untersuchung an, die unter dem Titel »Rus­ sell and the Neo-Logicists« in den Annals of the Japan Association for Philosophy of Science, Vol. 25 (2017), S. 1–21 erschienen ist.

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Tatsächlich sind nur die ›russellschen‹ Teile viel gelesen und im 20. Jahrhundert entsprechend zur Kenntnis genommen worden, während die weitergehenden ›whiteheadschen‹ Abschnitte (über Reihen und Quantität) vollständig in Vergessenheit geraten sind. Russell gestand, er kenne lediglich sechs Leute, die die späteren Teile der Principia gelesen hätten.2 Und er hatte Recht: Ich bin gerne bereit zu wetten, dass das Exemplar der Principia Mathematica, das Sie, liebe Leserin bzw. lieber Leser, besitzen, (wenn Sie denn eines besitzen), das gleiche ist wie meines, nämlich die Principia bis Abschnitt 56! Diese hälftige Rezeption der Principia, d.h. die Verdunklung der whiteheadschen Teile, verdankt sich partiell der Tatsache, dass potentielle Leserin­ nen und Leser der Principia meinen, die philosophisch relevanten Abschnitte des Buches seien die ersten – jene, für die Russell verant­ wortlich war – und der Rest bestehe bloß aus technischen Details, die jeglicher philosophischen Bedeutsamkeit entbehren. Der vorliegende Aufsatz zielt wesentlich darauf ab, dieser Darstellung zu widerspre­ chen. Man kann, wie ich zeigen werde, nicht davon ausgehen, Russells und Whiteheads philosophisches Projekt verstehen zu können, ohne das philosophische Problem zu berücksichtigen, um das es in den späteren Teilen des Werkes geht. Philosophie steckt überall in den Principia – am Anfang, aber auch in den entlegeneren whiteheadschen Teilen des Buches. Wenn ich von Russells und Whiteheads Logizismus spreche, dann soll dies nicht implizieren, dass Russell und Whitehead unter­ schiedliche Vorstellungen davon gehabt hätten, was Logizismus ist. Natürlich waren Russell und Whitehead sich nicht in allen Dingen einig, aber ihre Differenzen hielten sie nicht davon ab, eine breite und kohärente Basis gemeinsamer Ansprüche und Ziele zu teilen. Genau diese große Menge geteilter Überzeugungen, die ihre gemeinsamen Ansichten über Mathematik prägen, wird mich im Folgenden beson­ ders interessieren. Im vorliegenden Artikel werde ich außerdem ein zweites, ver­ wandtes Ziel verfolgen. In der heutigen Philosophie der Mathematik stehen die von Benacerraf formulierten Probleme bezüglich der Natur mathematischer Objekte und mathematischen Wissens im Mittel­ punkt. Gegenwärtige Versionen des Logizismus stellen Versuche dar, diese Art von Problem zu lösen. Nun sind zuletzt Stimmen laut geworden, die sich gegen die Dominanz solcher Fragestellungen 2

Vgl. Russell (1988), S. 87.

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Russells und Whiteheads Logizismus

wie der von Benacerraf diskutierten im Mainstream der Philosophie der Mathematik aussprechen, weil sie der Auffassung sind, dass diese Art von Unterfangen den philosophischen Blick von den weiter fortgeschrittenen Teilen der Mathematik ablenke.3 Diese Position möchte ich verteidigen, indem ich nahelege, dass die whiteheadschen Teile der Principia sich mit einem Thema befassen, das mit der inne­ ren Organisation mathematischen Wissens zusammenhängt – ein Thema, das sich nicht mit Benacerrafs Problemstellung überschneidet und das heutzutage im Mainstream der Philosophie der Mathematik vernachlässigt wird. Im zweiten Abschnitt ziehe ich einen Vergleich zwischen dem Neo-Logizismus einerseits und der Version Russells und Whiteheads andererseits. Genauer gesagt lege ich dar, warum Heck, eine der bedeutendsten Stimmen unter den Neo-Fregeanischen Logizisten, behauptet, dass Freges Theorie der Quantität sowie Russells gesam­ ter Ansatz vernachlässigt werden können. Im dritten bis fünften Abschnitt mache ich einen historischen Exkurs und erläutere einige Hintergrundaspekte der entlegeneren Teile von Russells Principles of Mathematics sowie der Principia Mathematica, die uns ein besseres Verständnis des von Russell und Whitehead durchgeführten Projektes erlauben. Besonderen Wert lege ich auf die Tatsache, dass Russell und Whitehead keine Verfechter der Arithmetisierung der Mathematik waren. Im sechsten Abschnitt komme ich schließlich auf Hecks Argu­ ment zurück und erkläre, in welchem Maße Russells und Whiteheads Ansatz auch heute noch relevant ist.

Mancosu (2008), S. 1: »Das von Benacerrafs Schriften vorgegebene Programm für die Philosophie der Mathematik bestand darin zu erklären, wie wir, wenn es abstrakte Objekte gibt, Zugang zu ihnen haben könnten. [Eine Konsequenz] der Art und Weise, wie die Diskussion geführt worden ist, lautet, dass es von Seiten eines Epistemologen der Mathematik keines besonderen Augenmerks auf die mathematische Praxis zu bedürfen schien. Letzten Endes begegnet uns das Thema abstrakter Objekte bereits auf den elementarsten Ebenen der Arithmetik, der Geometrie und der Mengenlehre. Man könnte leicht den Eindruck gewinnen, dass es für die Lösung der zentralen Pro­ bleme des Faches irrelevant ist, den anderen Zweigen der Mathematik Beachtung zu schenken. Daraus resultierte eine äußerst beschränkte Auffassung von der mathema­ tischen Epistemologie innerhalb des Mainstreams der Epistemologie innerhalb der Philosophie der Mathematik.« [Im Sinne der Leserfreundlichkeit werden im Folgen­ den alle fremdsprachigen Zitate auf Deutsch wiedergegeben. Anmerkung des Übers.]. 3

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II. Hecks Diagnose Dass die Philosophiegeschichte nützlich sein und zu gegenwärtigen Debatten beitragen kann, versteht sich keineswegs von selbst. Richard Hecks letztes Buch über Freges Grundgesetze ist in dieser Hinsicht interessant, weil Heck explizit behauptet, dass man die entlegeneren Teile von Freges Werk (Die Theorie der reellen Zahlen) überspringen sollte.4 Genauer gesagt vertritt Heck die Ansicht, dass, wenn Freges Definition natürlicher Zahlen noch eine philosophische Bedeutung zukommt, dies nicht für Freges Analyse reeller Zahlen gelte, die in Teil III der Grundgesetze der Arithmetik erörtert wird.5 Heck erweitert seine Diagnose auf die russellsche Version des Logizismus. Ich hege Sympathie für Hecks mangelnde Ehrerbietung. Ich glaube wie er, dass Historiker erklären müssen, warum sie es für lohnenswert halten, ihre Zeit mit dem Kommentieren alter Bücher zu verbringen. Ich glaube jedoch, dass wir auch heute etwas über die Bedeutung und die Begrenzung unserer eigenen Konzeption des Logizismus lernen können, wenn wir den whiteheadschen Teilen der Principia (ebenso wie den weitergehenden Teilen der Principles of Mathematics und Freges Theorie der reellen Zahlen – wobei ich für den letzten Punkt dieser Aufzählung hier nicht direkt argumentieren werde) Beachtung schenken. Lassen Sie mich Hecks Position etwas genauer erläutern. Heck erklärt, dass Freges reelle Zahlen als lineare Transformationen eines zugrundeliegenden eindimensionalen metrischen Raumes verstan­ den werden können. Der wichtige Punkt hier ist, dass die Struktur R von einer zugrundeliegenden Struktur abgeleitet wird, von der sie ihre Eigenschaften erbt.6 Darin liegt die Quelle einer philosophi­ schen Schwierigkeit: Die offensichtlichere Frage lautet, woher man diesen zugrundeliegen­ den Raum nehmen soll, und die Frage wird umso drängender, sobald man feststellt, dass wenn die Gruppe linearer Transformationen wie 4 Heck (2012), S. 13: »Bevor wir fortfahren, möchte ich eine Entschuldigung aus­ sprechen […]. Wir werden die Grundgesetze nicht in Gänze betrachten. Ich werde nur sehr wenig über Teil III zu sagen haben, der sich mit den reellen Zahlen befasst […]. Das liegt nicht daran, dass der Stoff uninteressant wäre […], also bin ich eine Erklärung schuldig, warum ich ihn nicht behandle.« 5 Vgl. Frege (1998), Teil III. 6 Für weitere Ausführungen zu Freges Theorie vgl. Hale (2000) und Simons (1987).

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reelle Zahlen aussehen wird, die Struktur bereits isomorph zu den reellen Zahlen sein muss.7

So muss man beispielsweise, um die richtige Art von Kontinuität für die Gruppe linearer Transformationen (das heißt, für die reellen Zahlen) zu erhalten, die richtige Art von Kontinuität mit dem zugrun­ deliegenden Raum (im quantitativen Bereich) postulieren. Wenn der eindimensionale Raum mit der richtigen Art von Eigenschaften ausgestattet wird, dann ist die Definition formal korrekt. Aber Heck moniert, dass damit nichts gewonnen ist, weil das, was man durch die logizistische Definition zu erreichen versucht (nämlich die bekannten Eigenschaften der Struktur R), zu Beginn eingeführt werden sollte (indem die richtigen Bedingungen für den zugrundeliegenden Raum postuliert werden). Heck zufolge steht dieses Merkmal in scharfem Gegensatz zu dem, was man in Freges Definition natürlicher Zahlen findet. Sicher­ lich ist Freges historische Konstruktion (auf der Grundlage von Gesetz V) fehlerhaft. Aber Neo-Fregeaner erklären, dass Gesetz V von Frege dazu verwendet wird, um Humes Prinzip (im Folgenden »HP«) herzuleiten, und dass die Herleitung der Gesetze der Arithmetik aus HP korrekt ist.8 Wright hat Freges Theorem bewiesen: Die Axiome für Peanos Arithmetik9 können in der Prädikatenlogik zweiter Ordnung von HP abgeleitet werden.10 Was Heck am Fall der Arithmetik beeindruckt, ist, dass etwas so unschuldig Scheinendes wie HP uns mit der vollen Kraft der Arithmetik ausstattet. Im Gegensatz zu dem, was bei der Definition der reellen Zahlen passierte, muss man hier nicht die Existenz eines zugrundeliegenden Raumes postulieren, der isomorph zu N ist, um Heck (2012), S. 14. Humes Prinzip besagt, dass die Zahl, die zum Konzept F gehört, identisch mit der Zahl ist, die zu Konzept G gehört, wenn und nur wenn das Konzept F gleichmächtig ist mit dem Konzept G, oder in formaler Anordnung: Nx : Fx = Nx : Gx ↔ ∀x(Fx ≡ Gx). »Nx : ... x« bezeichnet den abstrakten Operator, der, wenn er auf ein sortales Konzept Fx angewendet wird, die Anzahl der Objekte angibt, die die Eigenschaft F haben. »≡« bezeichnet die Beziehung der Gleichmächtigkeit. 9 Heute ist »Peano Arithmetik« der richtige Name für eine Theorie erster Ordnung der Arithmetik. Ich folge hier den Neo-Logizisten und verwende »Peano Arithmetik«, um eine (Version der) Formalisierung zweiter Ordnung der Arithmetik zu bezeichnen (die der von Peano ausgeführten sehr nahe kommt). 10 Zum Neo-Logizismus und der Beziehung der neo-logizistischen Interpretation zu Frege vgl. Heck (2011). 7

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die natürlichen Zahlen zu erhalten. Insbesondere braucht man kein Unendlichkeitsaxiom zu postulieren.11 Dieser Punkt ist entscheidend für Heck. Frege charakterisiert die Zahlen im Sinne von HP und beweist dann direkt, dass es unendlich viele Zahlen gibt, auch wenn es keine Nicht-Zahlen gibt. Natürlich ist es wesentlich dafür, wie Frege diesen Trick bewerkstelligt, dass Zahlen Objekte sind. Nur dann wird HP endlos neue Zahlen auswerfen: Wir erhalten die Unendlichkeit der Zahlenreihe, indem wir Nx : (x = 0), Nx : (x = 0) ∨ (x = 1) und so weiter heranziehen. Das bedeutet, dass 0 und 1 innerhalb des Definitionsbereichs der Variable ›x‹ liegen müssen, die eine objekthafte Variable ist.12

Die Anwendung der gerade definierten ganzen Zahlen, um ihre Nachfolger zu abstrahieren, ist der Trick, der es Frege erlaubt, ›endlos neue Zahlen auszuspucken‹, ohne dabei auf ein Unendlichkeitsa­ xiom zurückzugreifen. Heck betont, dass dieses Merkmal Freges Konstruktion von derjenigen Russells abhebt. Im Jahre 1903 geht Russell (fälschli­ cherweise) davon aus, dass er einen Beweis für die Existenz einer unendlichen Anzahl von Entitäten gefunden habe.13 1912 begeht er nicht denselben Fehler, insofern das Unendlichkeitsaxiom nun stets als vorhergehende Bestimmung in einem Konditional auftritt. Beim Umgang mit der finiten Arithmetik vermeidet es Russell, diese Hypothese heranzuziehen, indem er auf eine aufwendige Strategie aufsteigender Typen zurückgreift.14 Aber sobald er zur reellen Analy­ sis kommt, muss Russell Konditionalsätze einführen. Heck hat somit Recht, wenn er sagt, dass Russell »sich auf ein Axiom berufen muss, das behauptet, es gäbe unendlich viele Dinge, die keine Zahlen sind, um zu beweisen, dass es unendlich viele Dinge gibt, die es sind«15, und dass dies in markantem Gegensatz zu dem steht, was Frege in den Grundgesetzen macht. Mit »Unendlichkeitsaxiom« meine ich die »Annahme, die sich wie folgt ausdrücken lässt: ›Wenn n eine beliebige Kardinalzahl ist, dann gibt es mindestens eine Klasse von Individuen mit n Termen.‹« Russell (1919), S. 131. Mit anderen Worten: Das Unendlichkeitsaxiom ist nicht dasselbe wie Zermelos Annahme, dass es eine unend­ liche Menge gibt. 12 Heck (2012), S. 14. 13 Vgl. Russell (1903), § 339. 14 Zu dieser Strategie, vgl. Landini (1998). 15 Heck (2012), S. 14. 11

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Es hat also etwas Besonderes auf sich mit der Neo-Fregeanischen Deduktion natürlicher Zahlen, das man nirgendwo sonst findet. Ontologisch gesprochen ist HP ein schwaches Prinzip in dem Sinne, dass es nicht durch sich selbst eine unendliche Anzahl von Objekten16 in einem zugrundeliegenden Raum setzt. Darüber hinaus ist HP mit dem Konzept der Abstraktion verbunden, das seit Aristoteles eine Schlüsselrolle in der Erkenntnistheorie spielt. Diese beiden Merkmale erklären, warum Freges Herangehensweise, von einer philosophischen Perspektive aus betrachtet, die bessere ist: Sicherlich spielt HP im Neo-Logizismus eine wichtige formale Rolle, aber erst seine ontologischen und epistemologischen Rollen machen Freges Theorem zu etwas, das all die philosophische Aufmerksamkeit verdient, die es bekommen hat.17

Freges Theorie der Quantität ist ebenso formal korrekt wie Russells Theorie der ganzen Zahlen. Aber beide Grundstrukturen sind onto­ logisch und epistemologisch wertlos. Der ontologische Mehrwert ist gleich null, weil man zuerst eine Menge von Objekten mit den Eigenschaften (Kontinuität oder Unendlichkeit) ausstatten muss, die man am Ende wieder herausbekommen will. Außerdem gibt es keine epistemologische Geschichte, die erklärt, woher man eigentlich weiß, dass der zugrundeliegende Raum kontinuierlich oder unendlich ist. Aus philosophischer Perspektive ist HP bzw. der Gebrauch, den Frege von ihm in den Grundgesetzen macht, konkurrenzlos. So lautet Hecks Argument. Lassen Sie mich dieses Argument umformulieren. Aus philoso­ phischer Perspektive lässt sich der Neo-Logizismus als einen Versuch verstehen, das Dilemma zu lösen, das von Benacerraf ausführlich dar­ gestellt wird.18 In seinem bereits erwähnten Artikel über mathemati­ sche Wahrheit setzt Benacerraf zwei Ziele, die er für jede Philosophie der Mathematik als zentral ansieht, nämlich erstens den Nachweis der Wahrheit von mathematischen Aussagen19 und zweitens Rechen­ Natürlich impliziert Freges Theorem, dass es eine unendliche Anzahl von Objekten gibt. Aber für sich genommen, losgelöst vom Kontext der Prädikatenlogik zweiter Ordnung, hat HP keine solche Konsequenz. 17 Ibid., S. 15. 18 Vgl. Benacerraf (1973). 19 Ibid, S. 666: »Jede Theorie mathematischer Wahrheit [sollte] in Übereinstimmung mit einer allgemeinen Wahrheitstheorie stehen […], die bezeugt, dass die Eigenschaft von Sätzen, die der Nachweis als ›Wahrheit‹ bezeichnet, tatsächlich ›Wahrheit‹ ist.« 16

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schaft über die Erkenntnis jener Wahrheiten.20 Benacerraf behauptet, dass wir jede dieser Bedingungen nur auf Kosten der jeweils anderen erfüllen können. Um den Nachweis der Wahrheit einer basalen arithmetischen Aussage erbringen zu können, muss man zuerst zuge­ stehen, dass es arithmetische Objekte gibt – aber da diese Objekte nicht wahrnehmbar sind, ist es nicht ganz leicht zu erklären, wie wir überhaupt etwas über sie wissen können. Andererseits bedroht jeder Versuch, eine vernünftige Erklärung für mathematisches Wis­ sen zu geben, die Vorstellung, dass mathematische Aussagen etwas über unabhängige mathematische Tatsachen zum Ausdruck bringen. Heck und den Neo-Logizisten zufolge erklärt HP, wie man sich auf Zahlen beziehen und arithmetisches Wissen erlangen kann, ohne sich auf eine unvernünftige intellektuelle Intuition verlassen zu müssen. Unter dem Titel »Benacerraf’s Dilemma Revisited« haben Hale und Wright den Neo-Logizismus als eine ›intellektuelle‹ Antwort auf Benacerrafs Dilemma präsentiert.21 Ihnen zufolge liefert uns HP eine plausible Lösung für Benacerrafs Dilemma, die sowohl einen extremen Platonismus als auch einen Fiktionalismus vermeidet. Russells Herangehensweise liefert uns nichts dergleichen. In den Principles of Mathematics ist Russell ein ausgewachsener Platoniker und verficht eine ziemlich unvernünftige Epistemologie, die auf der Bekanntschaft mit abstrakten Objekten basiert. Zur Zeit der Principia Mathematica ist Russells Position jedoch deutlich feiner und präziser, sodass sie durchaus mit Neo-Fregeanischen Ansätzen zur Lösung von Benacerrafs Dilemma konkurrieren könnte. Tatsächlich behauptet Russell dort nicht, dass Zahlen und Klassen Bona-fide-Objekte sind, 20 Ibid, S. 667: »Ein zufriedenstellender Nachweis mathematischer Wahrheit […] muss sich in eine Gesamtbetrachtung der Erkenntnis einfügen, und zwar in einer Weise, die verständlich macht, wie wir zu der mathematischen Erkenntnis gelangen, die wir de facto besitzen.« 21 Vgl. Hale; Wright (2002), S. 103 f.: »Zwei breit gefasste Ansätze scheinen möglich: intuitiv und intellektuell. Man könnte erstens vorschlagen, dass eine Epistemologie der Mathematik auf ein besonderes Vermögen zählen sollte – traditionell die ›Intui­ tion‹ – die ein Bewusstsein von Systemen abstrakter und insbesondere mathemati­ scher Objekte und ihrer charakteristischen Eigenschaften ermöglichen, ungefähr in der Weise, wie die gewöhnliche Sinneswahrnehmung uns ein Bewusstsein von gewöhnlichen konkreten Objekten und ihren Eigenschaften ermöglicht. Oder man könnte [zweitens] vorschlagen, dass uns der Zugang zu den Objekten der reinen Mathematik durch unsere allgemeinen Vernunft- und Verstandesfähigkeiten eröffnet wird.« Bei den beiden intellektuellen Herangehensweisen handelt es sich um den NeoLogizismus und Shapiros Ante-Rem-Strukturalismus.

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sondern sog. unvollständige Symbole. Diese Grundlage ließe sich weiter ausarbeiten, um eine nominalistische Antwort auf Benacerrafs Dilemma zu geben. Dies ist der vielversprechende Weg, den jüngst Kevin Klement eingeschlagen hat. 22 Da ich mich auf die ›whitehead­ schen‹ Abschnitte der Principia Mathematica konzentriere, werde ich diesen Weg hier nicht weiter verfolgen. Ich werde mich also an die offizielle, ›unvernünftige‹ epistemologische Position halten, die Russell 1903 vertreten hat (die er aber um den Zeitraum von 1910 bis 1913 herum im Hinblick auf logische Konstanten und logische Formen noch immer vertrat). In den weiteren Kapiteln dieses Aufsat­ zes werde ich daher Hecks Behauptung folgen, wonach der Gebrauch, den Frege von HP macht, uns Grund zur Hoffnung gibt, Benacerrafs Herausforderung ließe sich auf eine Weise meistern, die weder Rus­ sells logische Konstruktionen noch Freges Definition reeller Zahlen gelingt. Wenn das aber der Fall ist, dann kommt eine neue Frage auf: Sofern Russells Anliegen nicht von der Art von Interesse motiviert ist, die Heck ›philosophisch‹ nennt, von welchen Interessen war er dann motiviert? Falls Russell keine ergiebige Antwort auf Benacerrafs Dilemma anbietet, wie können wir dann philosophische Objekte so umdefinieren, dass es uns möglich wird zu sagen, dass wir das Gesuchte gefunden haben, wenn wir die Principles of Mathematics und die Principa Mathematica lesen? Bevor wir uns dieser Frage stellen, lassen Sie mich zwei Anmer­ kungen zur Neo-Fregeanischen Sichtweise machen: 1. Im Neo-Logizismus spielt die Arithmetik eine zentrale Rolle. Das liegt natürlich zum Teil an HP, aber es ist auch den Arbeiten der Arithmetisierer am Ende des 19. Jahrhunderts geschuldet, die gezeigt haben, dass die Kluft zwischen diskreter und kontinuierlicher Quantität nicht irreduzibel ist. Reelle Analysis und Geometrie, und dann wiederum auch die Mathematik als Ganze, können als das Studium komplizierter Strukturen auf der Grundlage von ganzen Zahlen angesehen werden. Sobald es tatsächlich gelingt, die Natur arithmetischen Wissens zu erklären, kann man die Erklärung auf die anderen Arten (geometrische etc.) mathematischen Wissens auswei­ ten. Arithmetisches Wissen ist nicht bloß ein Teil der Mathematik, es ist die Grundlage des gesamten Gebäudes. Natürlich möchte ich hier nicht die Tatsache infrage stellen, dass man die Mathematik als eine Ausweitung der Arithmetik darstellen kann. Worauf es mir 22

Vgl. Klement (2012) sowie Klement (2015).

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ankommt, ist lediglich die Tatsache, dass im Neo-Logizismus das mathematische Wissen als Ganzes als eine philosophisch unproble­ matische Ausweitung arithmetischen Wissens angesehen wird. Jede Frage nach der Art und Weise, wie die Mathematik zu ordnen ist, wie das zu systematisieren ist, was tatsächlich ein vielfältiger und facettenreicher Bereich ist, der aus mehreren verschiedenen Teilen besteht, wird als unwichtiges Detail betrachtet. Ich bin mir bewusst, dass ich die Sachlage etwas zu stark vereinfache: die Neo-Logizisten richten ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf ganze Zahlen; es gibt durchaus Versuche, die Mengentheorie oder die Theorie reeller Zah­ len herzuleiten.23 Aber diese Versuche spielen nur eine marginale Rolle in der andauernden Debatte, insofern diese Ausweitungen nicht von allen Neo-Logizisten mitgetragen werden24 – und auch insofern die Dispute über die Natur von Abstraktionsprinzipien sich zumeist auf HP und den Fall der Arithmetik konzentrieren. 2. Der zweite, verwandte, Punkt ist, dass im Neo-Logizismus die Hauptaufgabe darin besteht, eine Deduktionslinie zu konstruieren, die von der (durch HP erweiterten) Logik bis zur (arithmetischen) Mathematik reicht. Das heißt, die neo-logizistische Behauptung ist vor allem eine Existenzbehauptung: Gibt es einen Weg, um den mathematischen Inhalt aus der schmalen logischen Basis herzuleiten? Freges Theorem zeigt, dass es einen solchen Weg gibt. Das Scheitern des historischen Frege kann als die Entdeckung verstanden werden, dass die erwartete Herleitung tatsächlich nicht existiert hat. Natürlich möchte ich hier nicht bestreiten, dass alle Arten von Logizisten behaupten, es gebe einen deduktiven Pfad, der von der Logik hin zur Mathematik reicht. Was ich jedoch betonen möchte, ist, dass dieser Fokus auf die Existenz die Frage nach der Einzigkeit in den Hintergrund verbannt. Wenn sich herausstellte, dass mehr als ein Pfad existiert, wie wählt man dann den richtigen aus? Das ist ein Thema, das von den Neo-Logizisten nicht erörtert wird. Ich vereinfa­ che hier wiederum ein wenig zu stark: Es hat durchaus Debatten über die unterschiedlichen Wege gegeben, die Folge natürlicher Zahlen aus

Shapiro (2003) bietet eine Erörterung der Aussichten, die Mengentheorie auf das Abstraktionsprinzip zurückzuführen. Hale (2000) versucht, Freges Theorie der reellen Zahlen auf Abstraktion zu gründen. 24 Vgl. Wright (2000). 23

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Abstraktionsprinzipien herzuleiten.25 Aber es besteht kein Zweifel, dass das Problem, zwischen verschiedenen legitimen abstraktiven Konstruktionen zu vermitteln, nebensächlich ist im Vergleich mit dem verwandten Thema der Legitimität des Gebrauchs von Abstraktions­ prinzipien. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Neo-Logizismus das zentrale philosophische Problem in Folgendem besteht: Wie kann HP Benacerrafs Herausforderung meistern? Dies impliziert, dass arithmetisches Wissen und die Definition von ganzen Zahlen in HP im Mittelpunkt stehen. Verglichen mit diesem Thema sind die beiden anderen Fragen unbedeutend, nämlich: Wie ist mathematisches Wis­ sen zu strukturieren? Wie lässt sich eine Definition in einem Kontext auswählen, wenn mehr als eine möglich ist? In Abschnitt IV werde ich zu zeigen versuchen, dass diese beiden Nebenprobleme genau jene sind, die für Russells Denken in den entlegeneren Teilen der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica zentral sind. Vorher aber muss ich erklären, was in diesen wenig bekannten und wenig vertrauten Texten passiert.

III. Russells epistemologischer Fundamentalismus auf den Kopf gestellt: Logizismus und Arithmetisierung Die Auffassung, dass Russell in den Principles of Mathematics und Whitehead in den Principia Mathematica das Programm der Arithme­ tisierung mittrugen, ist weitverbreitet. Anscheinend ist sie das aus gutem Grund. Russell selbst ist der Erste, der seinen Logizismus als eine Ausweitung der reduktivistischen Herangehensweise der Arithmetisierer dargestellt hat. In der Tat findet sich am Beginn von Russells Einführung in die mathematische Philosophie folgende Pas­ sage: Man kann die gesamte herkömmliche reine Mathematik, einschließ­ lich der analytischen Geometrie, als eine Reihe von Sätzen über die natürlichen Zahlen auffassen, d.h. die vorkommenden Ausdrücke lassen sich mit Hilfe der natürlichen Zahlen definieren. Und ihre Sätze lassen sich aus den Eigenschaften der natürlichen Zahlen unter 25 Vgl. Boolos’ Vorschlag, die Folge natürlicher Zahlen durch eine Modifikation von Freges Axiom V herzuleiten, in Boolos (1989) und die Analyse von Shapiro (1999).

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Hinzunahme der Begriffe und Sätze der reinen Logik ableiten. Es ist eine ziemlich neue Entdeckung, daß die ganze übliche reine Mathema­ tik sich aus den natürlichen Zahlen ableiten läßt […]. Vorderhand wollen wir die Arithmetisierung der Mathematik hinnehmen, obwohl diese Tat von der größten Wichtigkeit war. Nachdem die gesamte übliche reine Mathematik auf die Theorie der natürlichen Zahlen zurückgeführt worden war, war es die nächste Aufgabe der logischen Analyse, diese Theorie auf die geringste Zahl von Voraussetzungen und undefinierten Ausdrücken zurückzuführen, aus denen sie abgelei­ tet werden konnte.26

Russells Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Arithmetisierer (Dedekind, Cantor, Weierstraß) die gesamte Mathematik auf die Arithmetik gegründet haben. Von diesem Blickwinkel aus kann die Geometrie auf die Theorie der reellen Zahlen zurückgeführt werden, die wiederum auf die Arithmetik zurückgeführt werden kann: Geometrie Theorie der reellen Zahlen Arithmetik Russells Logizismus würde noch einen Schritt weiter gehen: Die gesamte Mathematik, einschließlich der Arithmetik, würde auf die Logik gegründet. Das Bild der Mathematik, das Russell zum Ausdruck bringt, sähe also wie folgt aus: Geometrie Theorie der reellen Zahlen Arithmetik Logik Tabelle 1: Logizismus und Arithmetisierung Das würde erklären, warum die Definition von ganzen Zahlen zen­ tral ist: Sobald die Arithmetik aus der Logik hergeleitet worden ist, können die Arbeiten von Cantor, Dedekind und Weierstraß dazu verwendet werden, um den Rest der Mathematik herzuleiten. Dieses Bild, in dem die mathematischen Disziplinen hierarchisch 26

Russell (2002), S. 8 f.

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aufeinandergestapelt und allesamt auf die Logik gegründet sind, ist das Standardbild. Bisweilen wird sogar der Logizismus mit diesem Schema gleichgesetzt. Es gilt jedoch zu bedenken, dass sich uns diese vertikale Struktur nicht aufzwingt. Man kann durchaus ein Logizist sein und es gleichzeitig ablehnen, der Arithmetik eine solche Bedeutung zuzusprechen. In der Tat ist die Vorstellung, dass sich die gesamte Mathematik aus der Logik herleiten lässt, vollkommen kom­ patibel mit einer Situation, in der die verschiedenen mathematischen Bereiche und Teildisziplinen nicht sämtlich auf die Arithmetik zurück­ geführt werden können. Entsprechend gibt das folgende Schema, in dem Geometrie und reelle Analysis direkt aus der Logik hergeleitet werden, ohne zuerst auf Arithmetik zurückgeführt zu werden, eine logizistische Sichtweise der Mathematik wieder. Arithmetik Theorie der reellen Zahlen Geometrie Logik Tabelle 2: Logizismus ohne Arithmetisierung In diesem Abschnitt besteht mein Ziel darin zu zeigen, dass dieses Bild genau das ist, das auch von Russell und Whitehead befürwortet wird. Ich möchte demonstrieren, dass Russell und Whitehead – im Gegensatz zu dem, was Russell in der Einführung in die mathematische Philosophie nahelegt – kein Arithmetisierungsprogramm befürwortet haben. Dass die Arithmetisierung der Mathematik kritisch beäugt wurde, lässt erstmals ein Brief von Whitehead an Russell erkennen, der auf den 14. September 1909 datiert ist: Die Bedeutsamkeit von Quantität wächst, je länger man darüber nachdenkt – die moderne Arithmetisierung der Mathematik ist durch und durch ein Fehler. […] Betrachtet man [mathematische Entitäten] als die einzigen Entitäten, dann hat das tatsächlich komplizierte Vor­ stellungen zur Folge, insofern alle möglichen Arten von Irrelevanzen damit einhergehen. – Kurz gesagt, die altmodischen Algebras, in denen von ›Quantitäten‹ die Rede ist, hätten Recht gehabt, wenn sie nur gewusst hätten, was ›Quantitäten‹ sind – doch sie wussten es nicht.27

Whitehead könnte sich kaum deutlicher ausdrücken: Die Arithmeti­ sierung ist ein Fehler. Aber der Absatz stammt nicht von Russell Das Original des bislang unpublizierten Briefes von Whitehead an Russell befindet sich in den Russell Archives der McMaster University im kanadischen Hamilton.

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und ist einem unveröffentlichten, privaten Brief entnommen. Sollten wir uns nicht mit Bedacht an das Standardbild halten und diese unorthodoxe Meinung außer Acht lassen? Tatsächlich stimmt das, was sich in den fortgeschrittenen Teilen der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica (die weiter unten kurz beschrieben werden) findet, mit dem überein, was Whitehead in seinem Brief sagt. Russell war derselben Auffassung wie Whitehead. Es sind also die hinlänglich bekannten Beschreibungen aus Russells Einführung in die mathematische Philosophie, die ein falsches Bild vom Inhalt der Principia Mathematica zeichnen, und nicht Whiteheads Behauptung. Die Einführung in die mathematische Philosophie sollte ein populärwissenschaftliches Buch werden, in dem Russell seine Position grob vereinfacht. Es ist allerdings bemer­ kenswert, dass Russell sogar hier bisweilen auf Alternativen zum Arithmetisierungsprogramm anspielt. Nachdem er beispielsweise eine rationale Zahl ›auf arithmetische Weise‹ definiert hat (als eine Äquivalenzklasse in N x N), erklärt Russell: Man braucht die Brüche […] am offensichtlichsten vielleicht bei Mes­ sungen. Mein Freund und Arbeitskollege Dr. A.N. Whitehead hat eine Theorie der Brüche entwickelt, die besonders für Messungen geeignet ist. Sie ist in den Principia Mathematica dargestellt.28

In seiner Einführung in die mathematische Philosophie hat Russell auf diese nicht-arithmetischen Konstruktionen lediglich angespielt und seine Leser auf die Principia Mathematica verwiesen, wo das Thema vollumfänglich behandelt würde.29 Lassen Sie mich seinem Ratschlag folgen und die Terra Incognita betreten. Ich werde mich auf die beiden wichtigen Beispiele der Theorie der reellen Zahlen in den Principia Mathematica und der Theorie des Raumes in den Principles of Mathematics konzentrieren.30 In beiden Fällen werden wir sehen, dass Russell und Whitehead sich ›der modernen Arithme­ tisierung‹ widersetzten. Ich werde mich jedoch, aus Platzgründen, Russell (2002), S. 75. Das gilt auch für eine andere Stelle der Einführung in die mathematische Philoso­ phie, an der Limites und Stetigkeit von Funktionen für solche Funktionen definiert werden, in denen der Begriff der Zahl nicht vorkommt. Vgl. ibid., S. 121. 30 Natürlich war Whitehead keineswegs Mitverfasser der Principles of Mathematics. Aber Whitehead war zuständig für die Geometrie in den Principia Mathematica, und er schrieb 1906 und 1907 zwei Abhandlungen über projektive und darstellende Geo­ metrie, die Russells Theorie des Raumes von 1903 wiederaufgreifen und erweitern. 28

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kurz fassen und nicht in Entwicklungen vertiefen, die im Detail allzu kompliziert sind.31

IV. Reelle Zahlen in den Principia Mathematica Wie definieren Russell und Whitehead rationale und reelle Zahlen in den Principia? Seinerzeit wurden Standardverfahren genutzt (z.B. Cauchy Folgen oder Dedekindsche Schnitte), um die reellen Zahlen vermittels der rationalen Zahlen zu definieren – die wiederum vermit­ tels der ganzen Zahlen definiert wurden. De facto stützten Russell und Whitehead sich im vierten Teil ihres Werkes stark auf die Methode der Dedekindschen Schnitte. In Abschnitt ∗275 beweisen die Autoren, nachdem sie eine formale Definition der Folge von Ordnungstyp η (d.h. die Folge, die isomorph zu Q ist) und der Folge von Ordnungstyp θ (d.h. der Folge, die isomorph zu R ist) gegeben haben, dass die Folge von Dedekindschen Schnitten einer η-Folge eine θ-Folge ist (PM, III, *275.21). Dieses Theorem ist lediglich eine neue Formulierung von Dedekinds Konstruktion von R als die Menge der Schnitte in Q. Macht dieser Gebrauch von Dedekinds Verfahren Russell und Whitehead zu Anhängern des Arithmetisierungsprogramms? Keines­ wegs. Der fünfte Teil der Principia Mathematica ist der allgemeinen Theorie der Reihen gewidmet. In diesem Stadium findet der Begriff der Zahl keine Erwähnung. Nur in Teil IV der Principia Mathematica werden rationale und reelle Zahlen definiert. Wie bei Frege werden reelle Zahlen in Teil IV der Principia Mathematica mit der Messung von Quantitäten in Verbindung gebracht. Während aber Frege die Definition einer reellen Zahl aus einer sehr spezifischen zugrundelie­ genden Struktur abgeleitet hat, unterscheiden Russell und Whitehead zwei Arten von Zahlen, nämlich die ›reinen‹ und die ›angewandten‹ Zahlen (PM, III, 407). Angewandte Zahlen ähneln Freges Zahlen in dem Sinne, dass man von ihnen einerseits sagen kann, dass sie Quan­ titäten messen, und andererseits, dass sie Transformationen (Russell und Whitehead verwenden den Ausdruck ›relations‹) zwischen den Elementen eines zugrundeliegenden Raumes sind. Reine Zahlen entsprechen allerdings nichts von dem, was sich bei Frege findet. Sie sind ebenfalls Relationen, aber der Definitionsbereich, in dem sie gelten, ist sehr allgemein und nicht durch Postulate eingeschränkt. 31

Vgl. dazu weiterführend Gandon (2012).

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Um die Unterscheidung zwischen reinen und angewandten Zah­ len klarer zu machen und um die Einsicht darzulegen, die maßgeblich ist für die Entwicklung Russells und Whiteheads, konzentriere ich mich auf rationale Zahlen. Die reine rationale Zahl m/n, wobei m und n zwei positive ganze Zahlen (n ≠ 0) sind, wird in ∗303.01 definiert (PM, III, 260). m/n =def {(R, S) | Rn∩Sm ≠ ∅} Die Definition greift auf den Begriff des relationalen Produkts zurück: wenn A und B zwei binäre Relationen (desselben Typs) sind, dann ist es möglich, die Relation A|B zu bilden, die derart ist, dass A|B(x, y), wenn und nur wenn es ein solches z gibt, dass A(x, z) und B(z, y). Das relationale Produkt ist also die Erweiterung des vertrauten Begriffs der Verkettung von Funktionen auf binäre Relationen. Nun ist Rn das relationale Produkt von R, n mal mit sich selbst multipliziert. Gemäß ∗303.01 haben zwei binäre Relationen R und S (desselben Typs) das Verhältnis m/n, wenn und nur wenn es mindestens zwei Objekte x und y gibt, derart, dass Rn(x, y) und Sm(x, y). Um diese Idee zu verstehen, stellen wir uns vor, dass R und S zwei orientierte Vektoren seien, die auf eine euklidische Linie wirken; dann haben R und S das Verhältnis m/n, wenn und nur wenn n Schritte der Länge R von einem Punkt a aus zu exakt demselben Punkt b führen wie m Schritte der Länge S.

Hier haben die Vektoren R und S das Verhältnis 2/3, weil drei Schritte der Länge R von a aus zu exakt demselben Punkt b führen wie zwei Schritte der Länge S. Die Definition ∗303.01 greift die Einsicht hinter der euklidischen Definition eines Verhältnisses auf und verall­ gemeinert sie. Nachdem sie Addition, Multiplikation und Folge für reine rationale Zahlen eingeführt haben (PM, III *304, *305, *306), machen sich Russell und Whitehead (mit Hilfe des Unendlichkeitsa­ xioms) daran zu beweisen, dass die Menge der Verhältnisse einen dichten archimedisch geordneten Körper hervorbringt. Das bedeutet,

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dass die reinen Verhältnisse der Principia Mathematica exakt diesel­ ben Eigenschaften haben wie unsere gewöhnlichen rationalen Zahlen. Der Unterschied zu Frege rührt von der Tatsache her, dass die relationale Struktur, auf die reine Verhältnisse angewandt wer­ den, nicht so spezifisch ist wie Freges zugrundeliegender Raum. Von typologischen Beschränkungen einmal abgesehen, unterliegt der Definitionsbereich, zu dem die Relationen R und S gehören, keinerlei Einschränkungen. Dieses Merkmal wird durch das obige Beispiel von Vektoren, die auf die euklidischen Linien wirken, leicht verdeckt. Tatsächlich ist es, anders als das Beispiel suggeriert, so, dass rationale Zahlen gar nichts messen: Zwei Relationen R und S können ver­ schiedene Verhältnisse haben, und ein und dasselbe Verhältnis kann zwischen R und zwei unterschiedlichen Relationen gelten. Als Mes­ sung von Relationen betrachtet, sollten dem Definitionsbereich der Relationen, auf den die rationalen Zahlen angewandt werden, ergän­ zende Einschränkungen auferlegt werden. Das ist der Grund, warum Russell und Whitehead sich in ihrer Untersuchung, in Abschnitt B, Teil VI der Principia Mathematica, auf Vektorfamilien, d.h. auf spezifischere Mengen von Relationen, konzentrieren, nachdem sie in Abschnitt A die Eigenschaften reiner Relationen dargelegt haben. Die allgemeine Theorie der Messung (bzw. die Theorie angewandter Zahlen), die die Resultate von Abschnitt A über reine Zahlen mit den Ergebnissen von Abschnitt B über Vektorfamilien zusammenführt, wird in Abschnitt C dargelegt. Während Frege von Anfang an mit sehr spezifischen quantitativen Definitionsbereichen (analog zu den Vektorfamilien in den Principia Mathematica) beginnt, definieren Russell und Whitehead zuerst einen sehr allgemeinen Begriff der Zahl (der mit all den üblichen arithmetischen Eigenschaften ausgestattet ist), der für jede beliebige relationale Struktur gilt; dann spezifizieren sie den Definitionsbereich der Relationen, um sicherzustellen, dass Zahlen, wenn sie so definiert sind, die Vektoren, auf die sie angewandt werden, messen (in einem Sinn, der zu Beginn von Abschnitt C definiert wird).32

32 In dieser Hinsicht entgeht Russells und Whiteheads Definition dem Vorwurf, den Heck an Freges Definition reeller Zahlen gerichtet hat: die Autoren der Princi­ pia Mathematica erlegen dem quantitativen Definitionsbereich keine besonderen Beschränkungen auf, um wieder die vertrauten ordinalen Eigenschaften der rationalen Zahlen zu erhalten.

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Russells und Whiteheads Konstruktion rationaler und reeller Zahlen ist knifflig und komplex,33 aber es ist, glaube ich, genug gesagt worden, um zu zeigen, dass Whitehead nicht herumfaselte, als er in seinem Brief an Russell konstatierte, dass »die Arithmetisierung der Mathematik durch und durch ein Fehler ist« und dass »die altmodischen Algebras, in denen von ›Quantitäten‹ die Rede ist, Recht gehabt [hätten], wenn sie nur gewusst hätten, was ›Quantitäten‹ sind«. In den Principia Mathematica werden rationale und reelle Zahlen nicht als auf ganzen Zahlen basierende mengentheoretische Konstruktionen betrachtet; sie werden vielmehr als Relationen von Relationen angesehen, und sie sind, auf sehr viel flexiblere Weise als bei Frege, mit der Messung von Quantitäten verbunden. Ich möchte etwas ergänzen. Die Verbindung, die in Teil VI der Principia Mathematica zwischen Zahlen und Quantitäten gemacht wird, wurzelt in der Geometrie, insbesondere im Thema der Einfüh­ rung von Koordinaten in einen geometrischen Raum. Das Problem der Verbindung zwischen synthetischen (euklidischen) und analyti­ schen (cartesischen) Herangehensweisen in der Geometrie nahm in der Mathematik des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle ein. Eine Art und Weise, mit diesem Thema umzugehen, bestand darin, das Koor­ dinatensystem als Resultat einer geometrischen Konstruktion einzu­ führen bzw. als das Resultat der Wiederholung einer geometrischen Konstruktion. Möbius konzipierte eine solche Methode, die nach ihm durch von Staudt verallgemeinert und systematisiert wurde. Im zweiten Band ihrer klassischen Projective Geometry gründen Veblen und Young die Klassifikation der verschiedenen projektiven Räume auf die Analyse der Eigenschaften des Möbiusnetzes (d.h. des durch die Möbiuskonstruktion generierten Koordinatensystems). Russells und Whiteheads Theorie der Messung im sechsten Teil der Principia Mathematica ist ausdrücklich ein Versuch, Möbius’ Verfahren zu einer sehr allgemeinen Art von (nicht notwendigerweise projektiver) Struktur zu erweitern, die als messbare Vektorfamilie bezeichnet wird. Tatsächlich definieren Russell und Whitehead in den zentralen Abschnitten *352 bis *355, die sich der Messung durch reelle Zahlen widmen, die Minimalbedingungen, die es ihnen erlauben würden, dem Begriff eines Möbiusnetzes Sinn zu verleihen.34 Anstatt das Für mehr zu dieser faszinierenden Theorie, vgl. Gandon (2012), Kapitel 5. Für eine Darlegung der verschiedenen Stadien ihrer Konstruktion verweise ich auf Gandon (2012), S. 151 ff.

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Möbiusverfahren als ein Werkzeug zur Klassifikation der verschie­ denen Arten von projektiven Räumen zu verwenden, beschreiben die Principia Mathematica das abstrakte und allgemeine Gerüst, das solch ein Verfahren umgibt. Trotz des Unterschiedes hinsichtlich ihrer Projekte gibt es eine echte Nähe zwischen Russell und Whitehead auf der einen Seite sowie Veblen und Young auf der anderen Seite: Die gemeinsame Inspirationsquelle finden sie in der reinen synthetischen Herangehensweise, die sich auf die geometrische Konstruktion von Koordinaten konzentriert. Das wiederum unterstreicht den Punkt, den ich machen möchte: Weit entfernt davon, in der Arithmetisierung der Analysis verwurzelt zu sein, liegt die Quelle von Russells und Whiteheads Lehre der rationalen und reellen Zahlen in der Tradition der reinen synthetischen Geometrie.

V. Geometrie in den Principia Mathematica Vor dem 19. Jahrhundert wurde die Mathematik als Wissenschaft von den Quantitäten definiert. Die Gattung der Quantität selbst wurde wiederum in zwei Arten unterteilt: die kontinuierlichen Quantitäten, deren Eigenschaften in der Geometrie untersucht wurden, und die dis­ kreten Quantitäten, deren Eigenschaften von der Arithmetik studiert wurden. Das Arithmetisierungsprogramm beendete diese Trennung, indem es nachwies, dass geometrische Quantitäten in Form arithme­ tischer Quantitäten definiert werden können. Hat Russell sich in den Principles of Mathematics diese Perspektive zu eigen gemacht? Hat er den Raum als eine numerische Struktur angesehen? In den Principles of Mathematics finden sich mindestens drei Charakterisierungen geometrischer Räume. Zuerst begegnet man einer arithmetischen Definition des Raumes. In § 474 wird ein nume­ risches Modell Rn eines euklidischen n-dimensionalen Raumes ent­ worfen: »Ausgehend von der Existenz von θ [die reelle Gerade als eine auf N basierende Mengenkonstruktion betrachtet] beweisen wir durch die Definition von komplexen Zahlen […] die Existenz der Klasse euklidischer Räume jeder beliebigen Zahl von Dimensio­ nen.«35 Dann konstruiert Russell, unter Verwendung von Standard­ verfahren, ein numerisches Modell eines projektiven Raumes ebenso wie verschiedene numerische Modelle von Räumen konstanter 35

Russell (1903), S. 498.

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Krümmung. Diese Art und Weise, Raum zu definieren, greift die Arithmetisierungssicht auf, der zufolge die Geometrie eine Erweite­ rung der Arithmetik ist. Aber dies ist nicht die einzige Definition des Raumes, der man in den Principles of Mathematics begegnet – und ebenso wenig ist es die am weitesten entwickelte. Im sechsten Teil des Buches, der sich der Geometrie widmet, erörtert Russell zwei andere Definitionen. In Kapitel 46 wird der Raum als eine rein ordinale Struktur definiert. Hier arbeitet Russell die Konstruktion aus, die in Paschs Vorlesungen über neuere Geometrie von 1882 dargelegt wird. Eine nichtmetrische Struktur (die als deskriptiver Raum bezeichnet wird) wird zuerst durch ein axiomatisches System definiert, das zwei nicht-logische Terme enthält: Punkte und die Betweenness-Relation. Sobald die sog. deskriptive Theorie entwickelt ist, werden Kongruenzaxiome eingeführt, um die volle Stärke der metrischen Geometrie zurückzu­ gewinnen.36 In den Principles of Mathematics zeigt Russell, wie eine Erklärung für die drei Undefinierbaren (Punkt, Betweenness, Kongru­ enz) gefunden werden kann, indem Variablen des richtigen Typs für die nicht-logischen Konstanten eingesetzt werden.37 Diese zweite Definition des Raumes ist logisch (insofern sie keinen nicht-logischen Term enthält), aber sie ist nicht arithmetisch: der Raum wird nicht mit einer numerischen Mannigfaltigkeit gleichgesetzt. Die letzte Definition des Raumes wird in Kapitel 45 erläutert. Sie basiert auf den Arbeiten von Pieri und beruht auf der Vorstellung, dass der projektive Raum (und im Anschluss daran jede beliebige Art von Raum)38 grundsätzlich eine Inzidenzstruktur darstellt. Die Einsicht, dass die reelle projektive Geometrie als die Theo­ rie der Inzidenzbeziehung zwischen Punkten, Geraden und Ebenen aufgefasst werden kann, wurde erstmals von dem deutschen Geo­ meter Georg von Staudt formuliert. Aber beim Beweis des sog. Ele­ mentartheorems der reellen projektiven Geometrie (welches besagt, dass eine projektive Transformation auf einer Linie fix ist, sobald die projektiven Bilder der drei Punkte fix sind) machte von Staudt einen Fehler, indem er für die reelle Gerade verallgemeinerte, was

Vgl. dazu Pasch (1882). Vgl. Russell (1903), S. 429 f. 38 Russell greift Kleins Ansicht auf, der zufolge die metrische Geometrie innerhalb eines projektiven Settings hergeleitet werden kann. 36 37

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ausschließlich für die rationalen Punkte auf der Linie gilt.39 Klein, der auf diese Unzulänglichkeit erstmals hinwies, ging davon aus, dass sich die Lücken in von Staudts Beweis durch die Einführung von ordinalen Hypothesen füllen lassen würden. Für Klein ging es in der projektiven Geometrie demnach um Inzidenz, aber ebenso auch um Ordnung. Pieri wies 1898 nach, dass Kleins Diagnose voreilig gewesen war. Er vervollständigt von Staudts Konstruktion, ohne zusätzliche, von außen kommende ordinale Annahmen einzuführen. Genauer gesagt gelingt es Pieri, eine Trennungsrelation (d.h. eine projektive Ord­ nung) auf der projektiven Geraden zu definieren, indem er der Art und Weise, wie Geraden sich auf der Ebene schneiden, Beschränkungen auferlegt. Dadurch stellt Pieri von Staudts Konzeption wieder her, der zufolge der projektive Raum eine Inzidenzstruktur ist. Diese schöne Erweiterung der Ansicht von Staudts bildet die Grundlage von Russells Definition der Geometrie als »das Studium von zweioder mehrdimensionalen Reihen«40. In Kapitel 45 der Principles of Mathematics erläutert Russell Pieris formale Theorie und zeigt, wie man, indem man die nicht-logischen Konstanten (Punkte, Geraden, Ebenen und ihre Inzidenzbeziehungen) durch entsprechende Arten von Variablen ersetzt, daraus eine rein logische Definition des projek­ tiven Raumes als Inzidenzstruktur gewinnen kann. Die Beziehung zwischen Inzidenz und Raum wird von Whitehead betont, der in der Einleitung zu The Axioms of Projective Geometry erklärt: Geometrie in dem äußerst weiten Sinne, wie er von modernen Mathematikern angelegt wird, ist ein Bereich dessen, was in gewisser Weise die allgemeine Wissenschaft der Klassifikation genannt werden könnte. Diese allgemeine Wissenschaft könnte wie folgt definiert werden: Gegeben sei eine beliebige Klasse von Entitäten K, wobei die Unterklassen von K eine neue Klasse von Klasse bilden, dann ist die Wissenschaft der Klassifikation das Studium der Mengen von Klassen, die so aus dieser neuen Klasse ausgewählt werden, dass sie gewisse ihnen zugeordnete Eigenschaften besitzen. Beispielsweise müssen im traditionellen aristotelischen Zweig der Klassifikation anhand von Arten und Gattungen die ausgewählten Mengen von der Klasse der Unterklassen von K (1) sich gegenseitig 39 Ich verweise auf Gandon (2012), wo das zweite Kapitel sich ausführlicher mit dieser komplizierten Geschichte befasst. 40 Russell (1903), § 352.

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ausschließen, und sie müssen (2) K erschöpfen […]. Die Bedeutsam­ keit dieses Prozesses der Klassifikation ist offensichtlich und wird von denjenigen, die über Logik schreiben, hinreichend betont. […] Die Geometrie ist die Wissenschaft der Kreuzklassifikation (crossclassification). Die fundamentale Klasse K ist die Klasse der Punkte; die ausgewählte Menge aus der Klasse der Unterklassen von K ist die Klasse der (geraden) Linien. Diese Menge der Unterklassen muss der­ art sein, dass zwei beliebige Punkte auf einer und nur einer Geraden liegen und dass jede beliebige Gerade mindestens drei Punkte besitzt. Diese Eigenschaften gerader Linien repräsentieren die Eigenschaften, die allen Zweigen der Wissenschaft gemeinsam sind, die im allgemei­ nen Sprachgebrauch ›geometrisch‹ genannt wird, wenn die modernen Geometrien mit einer endlichen Anzahl von Punkten berücksichtigt werden. (APG, 4 f.)

»Kreuzklassifikation« ist Whiteheads Ausdruck für Inzidenz (Inzi­ denzaxiome werden von ihm als Kreuzklassifikationsaxiome bezeich­ net). Der abstrakte und allgemeine Charakter der Definition und der Kontrast zwischen logischer und geometrischer Klassifikation hilft dabei, Russells Idee zu verstehen: Ein Raum ist nichts ande­ res als eine Klassifikation, in der die Elemente zu mehr als einer Untermenge gehören können. Der abschließende Verweis auf Geo­ metrien endlicher Felder, deren Entwicklung sich in den Arbeiten von Veblen und seinen Mitstreitern abzuzeichnen begann, zeigt, dass Whitehead sich der Reichweite seiner Definition bewusst war. Im endlichen Raum gibt es keine Kontinuität, keine Unendlichkeit, keine Ordnungsrelation – ein endlicher Raum ist ein Raum, weil er eine Inzidenzstruktur ist. Lassen Sie mich das bisher Gesagte zusammenfassen. Es gibt mindestens drei logische Definitionen des geometrischen Raumes in den Principles of Mathematics. Die erste definiert einen Raum als eine numerische Mannigfaltigkeit (Punkte sind n-Tupel reeller Zahlen, n>1). In den anderen beiden wird der Raum als ein Modell einer axiomatischen Theorie verstanden (in der keine nicht-logischen Konstanten vorkommen). In der zweiten wird der Raum als eine ordinale Struktur angesehen, während er in der dritten als eine Inzidenzstruktur betrachtet wird. Welche logische Charakterisierung hat Russell sich letzten Endes zu eigen gemacht? Seine endgültige und feste Überzeugung ist, dass der Raum, trotz der formalen Korrekt­ heit der ersten zwei Herangehensweisen, als eine Inzidenzstruktur

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definiert werden sollte.41 Dieser ›Von Staudt-Pieri-Linie‹ hat Russell sich letzten Endes angeschlossen. Die Definition des Raumes, die sich in den Principles of Mathematics findet, lässt sich mit dem Profil von Russell als Verfechter des Arithmetisierungsprogramms nicht in Übereinstimmung bringen. Russell hat 1903 zugestanden, dass die Geometrie in dieser Weise auf die Arithmetik ›reduziert‹ werden kann. Aber das ist nicht der Weg, für den Russell selbst sich entschieden hat. Im Gegenteil, seine letztliche Auffassung besteht darin, dass die reinen synthetischen Geometer, die die cartesische Sichtweise ablehnten, Recht hatten. Was können wir von dieser (sehr) kurzen Darstellung der zwei zentralen Theorien lernen, die in den entlegeneren Teilen der Princi­ ples of Mathematics und der Principia Mathematica entwickelt wer­ den? Das Bild, das man erhält, ist nicht das übliche, dem zufolge der Logizismus eine Fortführung der Arithemetisierung war. Natürlich hielten Russell und Whitehead an der Auffassung fest, dass die gesamte Mathematik auf die Logik zurückführbar sei. Aber diese Behauptung impliziert keineswegs, dass Russell und Whitehead der Meinung waren, dass die gesamte Mathematik zuerst auf die Arith­ metik zurückgeführt werden sollte. Ein globaler Reduktionismus ist mit verschiedenen lokalen Anti-Reduktionismen vereinbar. Russells und Whiteheads Logizismus ähnelt der weiter oben angeführten Tabelle 2, nicht jedoch Tabelle 1.

VI. Logizismen – Neue und Alte In Abschnitt II stimmen wir mit Heck überein, dass Russells und Whiteheads Logizismus aus einer von Benacerraf ausgehenden Per­ spektive keinem Vergleich mit dem Neo-Fregeanischen Logizismus standhält.42 So taucht einmal mehr die Frage auf: Wenn Russell nicht von einem mit Benacerraf vergleichbaren Ausgangspunkt motiviert wird, von welcher Art von Anliegen ist sein Vorgehen motiviert? 41 Das wird in Kapitel 44 deutlich, dem ersten Kapitel des fünften Teils, wo Russell die Geometrie als das allgemeine »Studium von zwei- oder mehrdimensionalen Rei­ hen« definiert; Russell (1903), § 352. Vgl. ebenso § 421, wo Russell Pieri das Verdienst zuschreibt, von Staudts Arbeit vollendet zu haben. 42 Man könnte und sollte, einmal mehr Klement folgend, dieser Diagnose auch nicht zustimmen. Aber da wir uns hier auf die Principles of Mathematics ebenso wie auf die Principa Mathematica konzentrieren, ist das an dieser Stelle für uns keine gangbare Option.

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Im Neo-Logizismus wird das mathematische Ziel als ein wohlde­ finiertes und homogenes verstanden: Arithmetik. Das Hauptproblem besteht darin sicherzustellen, dass zumindest ein Weg von der Logik zur Arithmetik existiert. In den Arbeiten von Russell und Whitehead sieht die Lage anders aus. Wie wir gerade gesehen haben, ist die Mathematik für sie tatsächlich kein homogener Wissensbestand. Die Mathematik verfügt über distinkte Bereiche (mindestens drei: Arithmetik, reelle Analysis und Geometrie)43, und das Hauptproblem besteht genau darin, die verschiedenen Unterdisziplinen miteinander zu verbinden. Im Fall von Russell und Whitehead beginnt man nicht mit einer vorgefertigten, klaren Aufteilung des mathematischen Feldes. Eine der schwierigsten philosophischen Aufgaben in den weiter fortgeschrittenen Teilen der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica besteht, ganz im Gegenteil, gerade darin zu erörtern und zu bestimmen, wie die Mathematik organisiert sein sollte44 – das zu lösen, was man als das ›architektonische Problem‹ bezeichnen könnte. Diese Frage führt unmittelbar zum Problem der Einzigkeit. Tatsächlich bedeutet die Auswahl einer Definition unter verschiedenen möglichen Definitionen bereits, eine Strukturierung des mathematischen Feldes gegenüber anderen möglichen vorzuzie­ hen. Mit anderen Worten sind die zwei am Ende von Abschnitt II aufgeworfenen Fragen – Wie ist das mathematische Wissen zu struk­ turieren? Wie ist eine Definition in einem Kontext auszuwählen, in dem viele verschiedene logisch möglich sind? – zwei Seiten derselben Münze: Indem man Letzterem (dem Problem der Einzigkeit) gerecht wird, löst man Ersteres (das architektonische Problem). Man könnte meinen, dass das architektonische Problem, obwohl es anerkanntermaßen eine wichtige Frage darstellt, kein genuin phi­ 43 Ich behaupte nicht, dass Russell und Whitehead der Meinung waren, die Mathe­ matik könne auf jene drei Bereiche reduziert werden. Arithmetik, reelle Analysis und Geometrie stellen hier bloß typische Beispiele für distinkte mathematische Diszipli­ nen dar. Es geht mir auch nicht darum zu bestimmen, wie Russell und Whitehead andere Disziplinen, wie etwa Algebra, Funktionentheorie, Topologie etc. reduzieren würden. Ich beschäftige mich lediglich mit den philosophischen Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man zugesteht, dass die Mathematik aus verschiedenen Teilen besteht. 44 Dass das eigentliche Problem nicht darin besteht, die Existenz eines Pfades von der Logik zur Mathematik sicherzustellen, sondern in der Auswahl des ›adäquateren‹ Pfades, ist etwas, das der Leser oder die Leserin erfährt, sobald er oder sie einen Blick über Teil II der Principles of Mathematics oder Abschnitt 56 der Principia Mathematica hinaus wirft.

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Russells und Whiteheads Logizismus

losophisches Problem ist. Insofern sich die Analyse auf Benacerrafs Herausforderung stützt, könnte man daher zum dem Schluss kom­ men, dass Probleme in der Philosophie der Mathematik von dem Platz handeln, den das mathematische Wissen als Ganzes im Korpus des menschlichen Wissens im Allgemeinen einnimmt – dass sie also nicht von der internen Struktur mathematischen Wissens han­ deln. Darüber hinaus könnte man auf der Tatsache insistieren, dass Mathematiker durchaus über die Struktur mathematischen Wissens sprechen – sie beweisen Vermutungen über die Vereinheitlichung der Mathematik, Sätze der Darstellungstheorie etc. Dies würde Phi­ losophen ein weiteres Argument an die Hand geben, um zu zeigen, dass das architektonische Problem als eine rein mathematische Ange­ legenheit betrachtet werden könnte und nicht weiter beachtet werden müsste. Dieser Gedankengang ist in den Entwicklungen von Heck in der Tat implizit enthalten: Freges Theorie der reellen Zahlen ist interessant, aber das Problem, auf das sie reagiert, ist vor allen Dingen ein mathematisches und kein philosophisches. Wie kann man auf diese Argumentation antworten? Mathematiker, soviel ist wahr, sprechen tatsächlich über die Organisation ihrer Wissenschaft, aber sie hören nie auf, unterschied­ licher Meinung zu sein über den Wert der Resultate, die sie zusam­ mengetragen haben. Dabei besteht die Schwierigkeit in dieser Ange­ legenheit nicht so sehr darin, überhaupt zu Resultaten zu gelangen, sondern vielmehr in der Einschätzung und Bewertung ihrer Relevanz angesichts des architektonischen Problems. Fragen über die Organi­ sation der Mathematik sind nicht wie Fragen darüber, ob die und die Vermutung bewiesen ist. Sie sind eher wie Fragen nach dem besten Beweis für das und das Theorem oder den besten Weg, um den und den Begriff zu definieren. Innerhalb der mathematischen Community herrscht kein Konsens darüber, wie diese Art von Frage­ stellung zu klären ist. Es gibt auch keine Einigkeit unter Mathema­ tikern hinsichtlich der besten Art und Weise, wie die Mathematik strukturiert werden sollte. Der Mangel an Konsens bezüglich dieser Frage führt dazu, dass Mathematiker (und auch Philosophen der Mathematik) üblicherweise eine von zwei gegensätzlichen Haltungen annehmen: Dogmatismus oder Skeptizismus. Der Dogmatiker hält sich an eine der verfügbaren Optionen und ignoriert dabei die ande­

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ren.45 Im Gegensatz dazu erkennt der Skeptiker den Pluralismus von Herangehensweisen an, bekennt sich aber zu Toleranz und lehnt es entsprechend ab, irgendeine Meinung bezüglich der Architektur der Mathematik zu vertreten.46 Das düstere Szenario drängt sich uns jedoch nur dann auf, wenn wir das architektonische Problem als eine rein mathematische Frage abtun, die durch Beweise und Theoreme entschieden werden kann. Russell und Whitehead waren anderer Ansicht. Sie meinten, gemein­ sam mit den Skeptikern, dass man nicht beweisen könne, welche Architektur besser ist als die andere. Aber sie glaubten dennoch, dass Tatsachen und Argumente auf beiden Seiten der architektonischen Kontroverse sorgsam in Betracht gezogen und rational abgewogen werden können, um zu einem fairen und wohldurchdachten Urteil zu gelangen. Russell und Whitehead waren nicht dogmatisch, weil sie aus dem logischen System heraus verschiedene logisch mögliche Organisationsformen des mathematischen Inhaltsbereichs darstell­ ten. Sie waren allerdings ebenso wenig Skeptiker, weil sie sich nicht damit zufriedengaben, die Pluralität der Ansichten darzustellen, son­ dern innerhalb der Debatte Stellung bezogen. Es ist auffällig, dass in den entlegeneren Teilen der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica die Logik und die Theorie der Relationen nicht bloß als Mittel verwendet werden, um die bestehende Mathe­ matik herzuleiten – sie werden als ein Rahmen verwendet, der dazu dient, die verschiedenen Organisationsformen der Mathematik, die von Mathematikern entwickelt wurden, aufzuzeigen und einander gegenüberzustellen. Die logische Rekonstruktion der verschiedenen Perspektiven lieferte Russell und Whitehead eine gemeinsame Basis, von der aus die mathematische und philosophische Debatte über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Ansätze fortgeführt werden kann. Letztendlich vertraten Russell und Whitehead eine bestimmte Ansicht bezüglich des architektonischen Problems. Aber ihre Ent­ scheidung basierte auf der Erörterung der Alternativen und wurde keinesfalls als das Ergebnis eines Beweises präsentiert. Der Skepti­ ker und der Dogmatiker teilen die Überzeugung, dass, jenseits von Beweisen, keine rationalen Argumente verfügbar sind. Im Gegensatz Diese Haltung könnte diejenige eines dogmatischen Arithmetisierers sein, der, wie von Whitehead in seinem Brief an Russell skizziert, nichts über den Nutzen von Zahlen in der Geometrie oder bei der Messung von Quantitäten hören möchte. 46 Als ein Beispiel für eine ›tolerante‹ Haltung könnte man auf Vailatis pragmatische Herangehensweise verweisen. Vgl. Arrighi et al. (2010). 45

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dazu glaubten Russell und Whitehead, dass das architektonische Problem Gegenstand einer rationalen Erörterung sein kann (und sein sollte), die allerdings nicht die Gestalt eines Beweises annehmen dürfe. Kurz gesagt, sie waren der Auffassung, dass das architektoni­ sche Problem in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie fällt. Was ihnen erlaubte, über Dogmatismus und Skeptizismus hinauszugehen, war die Vorstellung, dass das architektonische Problem ein philoso­ phisches Problem ist, das nicht durch Beweise und Theoreme gelöst werden kann. Ziehen wir die Theorie des Raumes zur Veranschaulichung heran. Es gibt drei Wege, den Begriff des projektiven Raumes zu definieren – als eine numerische Mannigfaltigkeit eines gewissen Typs, als eine ordinale Struktur eines gewissen Typs und als eine Inzidenzstruktur. Alle diese Definitionen sind formal untadelig; alle drei führen zu einer Reduktion der grundlegenden geometrischen Begriffe auf logische Konstanten. Dieser definitorische Pluralismus spiegelte nun die verschiedenen Arten und Weisen wider, wie Mathe­ matiker sich zu dem damaligen Zeitpunkt die Beziehung zwischen projektiver Geometrie und dem Rest der Mathematik vorstellten. Einige (wie z.B. Klein, Dini, Darboux) betrachteten die Geometrie auf ›cartesische‹ Weise, als eine Entwicklung der reellen Analysis oder Funktionentheorie; andere (wie z.B. Pasch und vielleicht auch Hilbert) glaubten, dass die Geometrie eine Wissenschaft der Ordnung ist, während wiederum andere (wie z.B. von Staudt, Pieri) schließlich die Geometrie als eine Theorie der Inzidenz ansahen. Jede dieser Auffassungen, die durch distinkte logische Konstruktionen in Russells System dargestellt werden, wurde von namenhaften Mathematikern verfochten, und somit herrschte also innerhalb der mathematischen Community zu der Zeit kein Konsens bezüglich des Themas. Nun entschloss sich Russell (und nach ihm auch Whitehead), den Inzi­ denzansatz zu stützen. Seine Gründe lauteten im Wesentlichen, dass der projektive Raum das fundamentale geometrische Konzept bildet47 und dass von Staudts Ansicht die einzige ist, die dem Rechnung trägt, was die Geometrie so besonders macht.48 Diese Argumente sind natürlich nicht zwingend: Man kann der Meinung sein, dass der projektive Raum ein sehr spezifisches Konzept ist, das früher

47 48

Vgl. Russell (1903), Kapitel 44 und 48. Vgl. ibid., S. 421.

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oder später von topologischen Strukturen abgelöst werden wird,49 oder man kann argumentieren, dass es der Inzidenztheorie nicht gelingt, das ›Wesen‹ des projektiven Raumes zu erfassen, und dass algebraische Ansätze hier größeren Erfolg versprechen.50 Mit ande­ ren Worten gibt es weder in den Principles of Mathematics noch in Whiteheads The Axioms of Projective Geometry einen logischen oder mathematischen Beweis dafür, dass der projektive Raum eine Inzidenzstruktur ist. Na und? Russell und Whitehead haben nie­ mals behauptet, sie würden beweisen, dass ihre Auffassung von der Geometrie die einzig mögliche sei. Sie haben, ganz im Gegenteil, Raum für alternative Auffassungen gelassen. Für sie war das fragliche Problem kein mathematisches, und das ist genau der Grund, warum Russell und Whitehead sowohl von den Skeptikern als auch von den Dogmatikern abwichen. Sieht man Russells und Whiteheads Position als Antwort auf ein philosophisches Problem, dann ist sie zwar nicht unbedingt zwingend, aber nichtsdestoweniger rational, da ihre Argumentation ihren Ausgang von einem sorgfältigen Vergleich der Vorzüge und Defizite der anderen möglichen Hypothesen nimmt. Die Vorstellung, dass das architektonische Problem, das hinter den Projekten Russells und Whiteheads stand, eine rein mathemati­ sche Angelegenheit sei, lässt sich nicht aufrechterhalten. Man könnte in der Tat zu dem Schluss gelangen, dass jeder Versuch, eine trenn­ scharfe Demarkationslinie zwischen philosophischen und mathema­ tischen Problemen zu ziehen, notwendig zum Scheitern verurteilt ist: Probleme bezüglich der internen Organisation der Mathematik betreffen üblicherweise gleichermaßen die Mathematik und die Phi­ losophie. Wie weiter oben bereits gesagt, haben Mathematiker etwas zum architektonischen Problem beizutragen, und es macht wenig Sinn zu hoffen, in dieser Angelegenheit weiterzukommen, wenn man ihre Ergebnisse unberücksichtigt lässt. Aber mehr noch: Mathemati­ ker aus unterschiedlichen Schultraditionen reden oftmals aneinander vorbei, und es mangelt an einer Plattform für Diskussionen innerhalb der mathematischen Community. Hier gibt es Spielraum für die Philosophie. In den entlegeneren Teilen der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica verwenden Russell und Whitehead das logische System als ein Instrument, um die verschiedenen Arten und Das war bereits Poincarés Auffassung; vgl. Poincaré (1928). Gegeben sei ein Körper F, dann ist der projektive Raum P(Fn+1) die Struktur Fn+1 – {0} / ∼, wo ∼ die Äquivalenzbeziehung u ∼ v ist, derart, dass u=λv, für u, v ∈ Fn+1 −{0}, und λ ∈ F. 49

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Russells und Whiteheads Logizismus

Weisen, der mathematischen Landschaft Konturen zu verleihen, zu artikulieren und zwischen ihnen zu vermitteln.

VII. Konklusion Lassen Sie mich die Ausführungen kurz zusammenfassen. Benacer­ rafs Herausforderung nimmt eine zentrale Rolle auf der Agenda der gegenwärtigen Philosophie der Mathematik ein.51 Der Neo-Logi­ zismus wird häufig als eine attraktive Replik auf das Dilemma präsentiert, und in dieser Hinsicht betont Heck zurecht die Kluft zwischen Freges Konstruktion der ganzen Zahlen und dem Rest der alten logizistischen Konstruktionen. Wenn man die Philosophie als eine Antwort auf Benacerrafs Dilemma ansieht, dann scheint den gesamten Principia Mathematica und insbesondere dem, was ich einleitend als die entlegeneren Teile der Principia bezeichnet habe, nur ein patrimoniales, abgeleitetes Interesse zuzukommen. Ich habe die Sache umgedreht und versucht, aus dem, was Russell und Whitehead entwickelten, neue Antworten auf bekannte Probleme zu extrahieren, und zwar auf Probleme, die heute nicht länger (oder nicht genug) behandelt werden. Eine sorgfältige Lektüre der mathematischen Teile der Principles of Mathematics und der Principia Mathematica zeigt, dass der Logi­ zismus nicht als eine Erweiterung der Arithmetisierung verstanden werden sollte. Russell und Whitehead beginnen nicht mit einer vor­ gefertigten, klaren Auffassung davon, wie die bestehende Mathematik strukturiert ist. Ganz im Gegenteil, das architektonische Problem war ein integraler Bestandteil der logizistischen Aufgabe, und es ist genau dieses Problem (welche Form sollte man dem mathematischen Material geben?), das optional wird, wenn man Benacerrafs Dilemma in die Mitte der philosophischen Bühne stellt. Ist dieses Problem inzwischen obsolet geworden? Seit den Zeiten von Russell und Whitehead haben sich Logik und Mathematik in vielerlei Hinsicht stark verändert. Das konzeptuelle Instrumentarium und das logische Gerüst, die in den Principia Mathe­ matica entworfen wurden, scheinen heute nicht länger relevant zu sein. Aber das architektonische Problem ist nach wie vor ein aktuelles Problem – das, wie es scheint, heute sogar noch größer ist als zu 51

Vgl. dazu das Vorwort von Mancosu (2008).

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Beginn des letzten Jahrhunderts. In der Tat ist die Mathematik sehr viel heterogener geworden, als sie es damals war: Die Zahl der mathe­ matischen Unterdisziplinen ist förmlich explodiert, und durch das Aufkommen neuer Methoden (wie beispielsweise computergestützte Beweise) hat die Fragmentierung des Bereichs mathematischen Wis­ sens zugenommen. Außerdem herrscht heute sogar noch weniger Konsens unter Mathematikern über die Architektur der Mathematik als zur Zeit der Entstehung der Principia Mathematica. Russells und Whiteheads Anspruch, ein Mittel für die Mathematik bereitzustellen, um die verschiedenen Arten und Weisen, ihr Material zu systemati­ sieren, zu diskutieren und vergleichen zu können, bleibt auch heute noch ein berechtigtes philosophisches Unterfangen. Übersetzung von Dennis Sölch

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Russells und Whiteheads Logizismus

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Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik? Die Principia Mathematica als Sackgasse und Brücke

I. Die Thematik der folgenden Betrachtungen kommt in einer recht bekannten Bemerkung Gödels zum Ausdruck: It was only in Principia Mathematica that full use was made of the new method [of symbolic logic] for actually deriving large parts of mathematics from a very few logical concepts and axioms. […] It is to be regretted that this first comprehensive and thorough going presentation of a mathematical logic and a derivation of Mathematics from is so greatly lacking in formal precision in the foundations […] that it presents in this respect a considerable step backwards as compared to Frege.1

Zugespitzt kann man die Forschungslage heute so kennzeichnen: Wer meint, Freges logische Schriften (insbesondere die Grundgesetze der Arithmetik) seien gescheitert, hat sie nicht gelesen oder befindet sich nicht auf der Höhe der Debatte.2 Wer meint, die Principia Mathema­ tica seien die Grundlage der (formalen) Mathematik, hat sie nicht gelesen oder befindet sich nicht auf der Höhe der Debatte.3 Auf der einen Seite muss man sich hüten, aus der Perspektive des nächsten Jahrhunderts selbstgefällig auf die Principia hinunter Gödel (1944), S. 126. Russell hat auf diesen Aufsatz nicht reagiert, da er betont, sich seit etwa 1920 nicht mehr mit Logik zu befassen. 2 Eine prototypische Arbeit zur Rekonstruktion und Verteidigung von Freges Grund­ gesetzte der Arithmetik liefert Heck (2011). 3 Eine diesbezüglich prototypische Auseinandersetzung mit Russells Philosophie der Mathematik findet sich bei Hylton (2005). 1

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zu schauen, nur um Whiteheads und Russells Konfusionen vorzufüh­ ren. Auf der anderen Seite bleibt es aus systematischer Perspektive richtig, diese Konfusionen zu bemerken, und so stellt sich erst die (spannende) Frage, wie im Verhältnis dazu der Einfluss der Principia zu erklären ist.

II. Einem (unter Philosophen) landläufigen Vorurteil zufolge, teilte sich die Arbeit bei den Principia Mathematica so auf: Russell hatte eine Philosophie der Mathematik und Whitehead war wesentlich bei der Durchführung des Programms beteiligt. Dieses Vorurteil scheint in zwei Hinsichten falsch zu sein. Whitehead hatte eine Philosophie der Mathematik, wie sie sich in seinem Buch An Introduction to Mathe­ matics (1911) und dem »Mathematics«-Artikel in der Encyclopedia Britannica ausdrückt. Und Russell hatte nicht nur eine Philosophie der Mathematik, sondern formulierte in seiner mathematisch-logisch aktiven Zeit (ungefähr zwischen 1900 und 1920) eine Vielzahl von Ansätzen in schneller Reihenfolge. Russell beginnt mit einer pluralistischen Ontologie als Fundament und endet mit einem sprach­ lich-logischen Atomismus. Einige der wichtigen Etappen sind The Principles of Mathematics (1903), Manuskripte zur ›Substitutions­ theorie‹ (1906), anschließend »On Denoting« (1905), »Mathemat­ ical Logic as Based on a Theory of Types« (1907), die Principia Mathematica, 1. Auflage (1910–1913), mit 90-seitiger allgemeiner Einleitung, An Introduction to Mathematical Philosophy (1918) und schließlich die Principia Mathematica, 2. Auflage (1925–1927), mit neuer Einleitung. Je tiefer man einsteigt, umso mehr ist man gespalten zwischen der Anerkennung für Russells Hartnäckigkeit, schwierige Fragen zu verfolgen, und dem Erstaunen über die fehlende Urteilskraft, die bizarrste Annahmen als grundlegend einbaut (etwa, dass logische Partikel als Objekte in abstrakten Propositionen vorkommen, die Behauptung der Existenz aller – auch fiktiver – Gegenstände, variable Gegenstände, die Variablen entsprechen sollen, usw.) und kurz zuvor Offensichtliches wenig später als absurd brandmarkt. Die Entwicklung ging selbst für Russell einmal zu schnell: In den Principia Mathematica präsentiert Russell eine Theorie zur Hierarchie propositionaler Funktionen, schreibt direkt anschließend einen fran­

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Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik?

zösischen Artikel mit einer anderen Theorie, übersetzt diesen zurück und integriert dessen Theorie in die Einleitung der Principia, sodass Einleitung und Principia unterschiedliche Theorien präsentieren!

III. Blicken wir zum Vergleich auf Whiteheads Philosophie der Mathe­ matik. Im 20. Jahrhundert unterscheidet man eine Reihe von Philo­ sophien der Mathematik, darunter mindestens die folgenden: den Realismus (in der Spielart des Platonismus), den Formalismus, den Intuitionismus, den Konstuktivismus bzw. Operationalismus, den Logizismus, den Realismus (in der Spielart des Strukturalismus), den Nominalismus (als empiristischen Physikalismus) sowie den Nominalismus als Fiktionalismus. Frege ist sich in den Grundlagen der Arithmetik und den Grund­ gesetzen der Arithmetik über die Gegensätze im Klaren – Whitehead scheinbar nicht; er vermengt die Standpunkte. Whitehead ist auf der einen Seite mitverantwortlich für die – oben von Gödel beklagte – formale Inexaktheit der Principia. Ein Beispiel ist die Erläuterung bzw. Definition von ›Aussagen‹ in den Principia. Whitehead wollte »the explanation to be as non-committal as possible«4. Er unterstützt Russell in deren Universalitätsanspruch, sodass sogar auch intensio­ nale Kontexte (wie ›meinen, dass‹) in den Bereich der Aussagen der Principia eingeschlossen werden sollen. Whitehead möchte eine praxisorientiertere Einführung in die Mathematik liefern. Während er gelegentlich die Rolle eines knappen Formalismus betont, trifft man in der Einführung eher Einschätzungen wie diese: Der Grund für diese Unfähigkeit unserer Wissenschaft ihrem Rufe nachzuleben ist der, daß ihre fundamentalen Begriffe dem Schüler nicht losgelöst von dem technischen Beiwerk erklärt werden, das erfunden worden ist, um ihre genaue Darstellung in besonderen Fällen zu erleichtern. (IM, 5 f.)

Whitehead verfolgt zugleich verschiedene Definitionen der Mathe­ matik und mischt Philosophien der Mathematik. Während er etwa mit dem Hinweis »For the future mathematics is logic«5 das Postulat 4 5

Brief Whiteheads an Russell von 1907, zitiert in Potter (2000), S. 139. Whitehead (1910), S. 237.

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des Logizismus betont, gibt es im Encyclopedia Britannica-Artikel auch eindeutig realistische Formulierungen: »Wir müssen wissen, daß 2 existiert, bevor wir beweisen können, daß man sie durch irgendeine Prozedur erreicht.« (PhM, 126). Im selben Artikel finden sich die beiden folgenden Thesen, die genau der Selbstdefinition des Formalismus entsprechen: »[Mathematik als die] ›Wissenschaft, die sich mit der logischen Ableitung der Folgerungen aus den allgemeinen Prämissen allen vernunftgemäßen Schließens befaßt‹« (PhM, 137), »Mathematische Sätze sind von dem folgenden Typus: ›Wenn x, y, z … diese und diese Bedingungen erfüllen, dann gelten für sie diese und diese anderen Bedingungen‹« (PhM, 137). In seiner Universal Algebra hieß es entsprechend: »The sole concern of mathematics is the inference of proposition from proposition.« (UA, vi) Daneben finden sich im Enzyclopedia Britannica-Artikel, bezüglich dessen betont sei, dass es sich nicht um einen historischen Abriss möglicher Philosophien der Mathematik, sondern um eine systematische Dar­ stellung handelt, strukturalistische Bemerkungen wie »In der einen Mathematik sind die Hypothesen gegeben, denen eine Menge von Dingen genügen muß, und es wird eine Gruppe von interessanten Folgerungen gesucht« (PhM, 143) und sogar solche, die intuitionis­ tisch klingen: »[J]eder Begriff, der als Grundbegriff aufgefaßt wird, erfordert einen besonderen Akt des Glaubens« (PhM, 133). Über Klassen schreibt Whitehead dort: »Die Kardinalzahl der Klasse a ist eine bestimmte Klasse« (PhM, 127), »Die Kardinalzahlen bilden eine Klasse.« (PhM, 128) – usw. Whitehead verwendet hier einen naiven Klassenbegriff, zu einer Zeit, in der Russell und die Prin­ cipia Mathematica offiziell eine ›no class‹-Theorie vertreten: es gibt keine Klassen, nur als abkürzende Redeweise für propositionale Funk­ tionen. Scheinbar besteht also eine Differenz zwischen Whitehead und Koautor Russell. Aber auch nur scheinbar. In Wahrheit sind Russell und Whitehead nicht nur nominell Koautoren. Russell betont, dass beide zu jeder Zeit alle Entwicklun­ gen der Principia geteilt hätten.6 Tatsächlich standen sie im (unter anderem brieflichen) Austausch – und Whitehead bejubelt jeweils die neuesten Entwicklungen von Russells Philosophie der Mathematik. Beispiel 1, 1903: Russell ›eliminiert‹ Klassen, es steht im Raum, dass so das Russell-Paradox scheinbar nicht mehr auftreten kann. 6

Vgl. Monk (1996), S. 191.

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Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik?

Whitehead jubelt: »Heartiest congratulations Aristoteles secun­ dus«7. Beispiel 2, 1906: Whitehead unterstützt Russells Substitutions­ theorie, als Russell sie schon wieder verlassen hat, wobei die Substitutionstheorie – selbst für Russells schnelle Abfolge von Konzeptionen – eine besonders kurze Lebensdauer hatte. Beispiel 3, 1907: Whitehead schreibt über Russells »Mathemati­ cal Logic as Based on the Theory of Types«, Russells Analyse der Extensionalität »is beyond all praise. It must be right«8. Russell sagt selbst kurz darauf über diese Theorie: »There is nothing in it of whose falsehood I feel convinced«9, aber er hat sich schon wieder von ihr verabschiedet. Manchmal gibt es scheinbare Differenzen (etwa zwischen Russells Ambiguität der Typen und Whiteheads Andeutung einer Unterschei­ dung zwischen Aussagen in der Theorie und Aussagen über die Theorie. Hier scheint Whitehead ein Grundproblem der Principia klarer zu sehen als Russell. Whitehead scheint kaum Schritt halten zu können mit Russells Theorienabfolge. Ironischerweise widerfährt Russell zu dieser Zeit Ähnliches mit Wittgenstein. Wittgensteins Kritiken beschleunigen die Veränderungen in Russells Auffassungen und führen mit zu den Verschlimmbesserungen der 2. Auflage der Principia.

IV. Eine Zwischenbilanz zu Russells und Whiteheads Philosophie der Mathematik zu Zeiten der Principia Mathematica könnte bis hierhin so aussehen: Das gängige Vorurteil, dass eher Russell die Philosophie und die Richtung der Principia bestimmt hat, liegt nicht ganz daneben, denn Whiteheads eigene Ansätze sind sehr schwach entwickelt und eher unklar. Interessanter scheinen jedoch die beiden folgenden Konsequen­ zen obiger Darlegung: Es zeigt sich, dass eine Fülle teilweise recht merkwürdiger Philosophien der Mathematik mit ein und demselben Formalismus (zumindest in der Durchführung der Principia) einher­ 7 8 9

Telegramm von Whitehead an Russell, zitiert in ibid., S. 168. Brief Whiteheads an Russell vom 16.6.1907, zitiert in Landini (2021), S. 143. Zitiert in Potter (2000), S. 138.

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gehen. Whitehead scheint hier (und mit seiner Einführung in die Mathematik) das Paradigma des ›working mathematician‹ zu bilden (d.h. des Mathematikers, der sich in die Praxis stürzt mit wenig Rücksicht auf die Feinheiten der Grundlagen). Der Typ des ›working mathematician‹ spielt auch heute in der Wirklichkeit der Mathematik und selbst des Mathematikstudiums eine größere Rolle als der Typ des formalen Grundlagentheoretikers.

V. Die Principia Mathematica muss man im Detail ihrer Durchführung als Sackgasse ansehen. Die Principia scheitern im Wesentlichen (im Vergleich zur heutigen Standardmengenlehre ZFC oder anderen Sys­ temen, wie dem NBG, das mit einer Unterscheidung von Mengen und ›echten Klassen‹ arbeitet) an der Typentheorie. Der Logizismus in den Principia Mathematica misslingt: entwe­ der (wie in der 1. Auflage) durch ein dubioses (d.h. sicher nicht rein logisches) ›Axiom der Reduzierbarkeit‹ oder (wie in der 2. Auflage) durch das Scheitern der Charakterisierung der natürlichen Zahlen (dies besagt Myhills Theorem) – im Übrigen im Unterschied zum Erfolg von Freges Grundgesetze der Arithmetik (nach Modifikation von ›Grundgesetz V‹), wo eine Herleitung der Peano-Arithmetik gelingt! Die von der Typentheorie erzwungene Typenunterscheidung zwischen »x□ x« (eine Formel 1. Stufe) »ϕ ê □ ϕ ê  « (eine Formel 2. Stufe) und »□ ϕ Ψ ϕ □ ϕ x ∧  x □ x  « (eine Formel 1. Stufe und dabei 2. Ordnung), wobei alle Formeln eine leere Menge als Extension besitzen, die nun aber – sozusagen, weil sie von unterschiedlich getypten Entitäten leer sind – verschieden zu behandeln sind, führt in der einfachen und der verzweigten Typentheorie zu unendlich vielen Definitionen der »0« und der Zahlen, und damit zur dubiosen Theorie der ›Ambiguität der Typen‹ (dass alle diese Zeichen zwar Verschiede­ nes bedeuten, aber von uns nahezu einheitlich verstanden werden, inklusive eben solcher Ambiguität selbst des logischen Vokabulars wie »nicht«, »und«, »□ « etc.) Und es kommt noch schlimmer: Die Typentheorie wird in den Principia Mathematica als Teil des Formalismus eingeführt. All­ gemeine Aussagen über Typen sind aber gar nicht innerhalb der Hierarchie möglich, wenn überhaupt. Die Theorie ist mindestens pragmatisch inkonsistent. Vor formaler Inkonsistenz schützt nur die

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Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik?

Inexaktheit der Principia – eine Ironie der Logikgeschichte gegenüber Frege. Gegeben das Axiom der Reduzierbarkeit sollte sich eigentlich Grellings-Paradox herleiten lassen. Dies kann nur blockiert werden, insofern nicht alle prädikativen Funktionen Namen in der Theorie besitzen. Gegeben Russells Theorie der propositionalen Funktionen als Ausdrücke von 1918 sollte das aber so sein! Nach der 2. Auflage haben sich Russell und Whitehead nicht mehr mit (der Philosophie der) Mathematik befasst. Russell äußerte schon 1932 Unverständnis für Gödels Unvollständigkeitstheoreme und wollte 1944 nicht mehr auf Gödels Kritik der Principia eingehen. Whiteheads drückt dagegen in »Mathematics and the Good« eine späte Einsicht aus: [Russell] hatte eine Sicherheitsvorschrift [rule of safety] entdeckt. Lei­ der kann diese Vorschrift nur unter der Voraussetzung zum Ausdruck gebracht werden, daß der Begriff der Zahl über die Beschränkungen der Vorschrift hinaus anwendbar ist. Denn die Zahl »drei« in jedem Typus gehört selbst zu verschiedenen Typen. Auch jeder Typus ist selbst ein von allen anderen Typen unterschiedener Typus. Es ist also gemäß der Vorschrift die Konzeption von zwei verschiedenen Typen ebenso wie die Konzeption von zwei verschiedenen Bedeutungen der Zahl drei sinnlos. Weiter folgt, daß unsere einzige Art, die Vorschrift zu verste­ hen, Unsinn ist. (PhM, 76 f.; ESP, 103)

Woher kommt dann der gute Ruf der Principia Mathematica? Trotz aller erwähnten Kritiken scheinen die Principia einen guten Ruf zu genießen – oder nicht? Hier muss man zwischen ihrem Ruf in der Mathematik und dem in der Philosophie unterscheiden. In der Mathematik spielten die Principia keine große Rolle. So schreibt B.A. Bernstein in einer Rezension der 2. Auflage: »When one considers the caliber of our authors and the fact that the Principia has occupied a prominent place on mathematical shelves for fourteen years, one wonders that the book has influenced mathematics so little.«10 Das liegt zum einen an den Idiosynkrasien in den Axiomen der Principia, »principles based on views opposed to those forced on mathematicians by the work of Peano, Pieri, Hilbert, Veblen, Huntington«11. Das liegt zum anderem am Phänomen des ›working mathematician‹, für den die ungenaue Grundlegung der Principia keine Rolle spielt. 10 11

Bernstein (1926), S. 711. Ibid., S. 712.

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In der Philosophie scheinen die Principia einen guten Ruf zu genießen. Das liegt nicht daran, dass sie oft gelesen werden. Es liegt eher daran, dass sie zum einen als Brücke dienten, und zum ande­ ren propagandistisch/pädagogisch Frege übertreffen. Die Principia ziehen ihren guten Ruf daraus, dass die bald folgenden exakteren Logikbücher von Church (der u.a. die Redundanz eines aussagen­ logischen Axioms der Principia zeigt) und Carnap (zusätzlich ein Frege-Schüler) sowie insbesondere die Grundzüge der theoretischen Logik der Formalisten Hilbert und Ackermann an sie anknüpfen. Diese Teile der Principia sind unabhängig von der Typentheorie! In der Mengenlehre lässt sich die Typentheorie mittels einer Mengenlehre wie ZFC vermeiden: es zeigt sich dort der Vorteil der kumulativen Hierarchie. Das System NBG klingt nur nach einer ver­ wandten Typenunterscheidung. (Russell selbst spielte einmal mit der Idee eines entsprechenden ›Limitation of Size‹-Axioms.) Selbst Qui­ nes Lob, der bezüglich der Principia einmal von einem ›Monument des Intellektes‹ gesprochen hat, steht im Kontext seiner Mengenlehre NF, die gerade über die Principia hinweg will. Das Bewusstsein von nötigen Typunterscheidungen, das diese Systeme fundiert, scheint hingegen auch einen positiven Eindruck bezüglich der Rede von einer Typentheorie in den Principia hinterlassen zu haben, auch wenn keiner dieser Typentheorie gefolgt ist bzw. sie heute kaum jemand überhaupt noch im Detail kennt. Letztlich kennen viele die Principia vornehmlich durch Gödels Aufsatztitel »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, I«.

VI. Jenseits ihrer Philosophie gründet der (indirekte) Erfolg der Principia in zwei anderen Faktoren: 1.

2.

Sie verwenden eine Notation (teils aus der Tradition, teils von Peano u.a.), die wesentlich lesbarer ist als Freges Begriffs­ schrift. Frege konnte nur ein Enthusiast (wie Wittgenstein) oder ein Schüler (wie Carnap) lesen. Notationen dieser Art haben sich durchgesetzt. Die Principia bringen den prinzipiellen Nachweis, dass substan­ tielle Teile der Mathematik formal-logisch herleitbar sind. Freges Exaktheit und Präzision führt demgegenüber dazu, dass es nur

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Teilen Whitehead und Russell eine Philosophie der Mathematik?

elementarere Bereiche behandeln kann. Eben das brachte das Eingangszitat Gödels zum Ausdruck. Die Principia besaßen inso­ fern eine starke motivierende Wirkung. Die Verwirrungen in der Philosophie der Mathematik haben dem nicht im Wege gestanden. Sie haben aber sowohl Whitehead als auch Russell an der Philosophie der Mathematik verzweifeln lassen. Während Whitehead sich schließlich doch bei Russell beklagt »I am in a fog as to where you are«,12 resümiert Russell in Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens: »Die überwältigende Gewißheit, die ich in der Mathematik zu finden gehofft hatte, wich mehr und mehr einer kaum weniger überwältigenden Verwirrung.«13

Bibliographie Bernstein, B.A. (1926), »Whitehead and Russell’s Principia Mathematica«, in: Bulletin of the American Mathematical Society 32, S. 711–713. Gödel, Kurt (1944). »Russell’s Mathematical Logic«, in: Paul Arthur Schilpp [Hrsg.], The Philosophy of Bertrand Russell. La Salle: Open Court, S. 123–154. Heck, Richard (2011), Frege’s Theorem, Oxford: Oxford University Press. Hylton, Peter (2005), Propositions, Functions, and Analysis. Selected Essays on Russell’s Philosophy, Oxford: Oxford University Press. Landini, Gregory (2021), Repairing Bertrand Russell’s 1913 Theory of Knowledge, Cham: Palgrave Macmillan. Monk, Ray (1996), Bertrand Russell. The Spirit of Solitude, New York/London: The Free Press. Potter, Michael (2000), Reason’s Nearest Kin. Philosophies of Arithmetic from Kant to Carnap, Oxford: Oxford University Press. Russell, Bertrand (1959), My Philosophical Development, London: George Allan & Unwin; dt. Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens (1973), E. Bubser [Übers.], München: Nymphenburger. Whitehead, Alfred North (1898), A Treatise on Universal Algebra, with Applica­ tions, Cambridge: Cambridge University Press. Whitehead, Alfred North (1910), »The Philosophy of Mathematics«, in: Science Progress in the Twentieth Century 5, S. 234–239. Whitehead, Alfred North; Russell, Bertrand (1910–1913), Principia Mathemat­ ica, Vol. I-III, Cambridge: Cambridge University Press. Whitehead, Alfred North (1949), Philosophie und Mathematik. Vorträge und Essays, F. Ortner [Übers.], Wien: Humboldt. Brief Whiteheads an Russell über die verzweigte Typentheorie vom 6.1.1908, zitiert in Monk (1996), S. 189, Fn 4. 13 Russell (1973), S. 220. 12

327 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .

Manuel Bremer

Whitehead, Alfred North (1958, Orig. 1911), An Introduction to Mathematics, London/Oxford: Oxford University Press; dt. Einführung in die Mathematik (1958), B. Schenker [Übers.], München: Lehnen Verlag. Whitehead, Alfred North (1968, Orig. 1947), Essays in Science and Philosophy, New York: Greenwood Press.

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Personenindex

Berücksichtigt werden Nennungen sowohl im Fließtext als auch in den Fußnoten. Alfred North Whitehead und Bertrand Russell werden im Index nicht gesondert aufgeführt, da beide im gesamten Band durchgängig Erwähnung finden. Ackermann, Wilhelm 30, 326 Alcantara, Jean-Pascal 193, 198 Alston, William P. 27, 191-193, 195-199, 218, 233 Anselm von Canterbury 158-159, 164 Aristoteles 25-26, 35, 41-42, 57, 62, 66, 145, 150, 157, 177-178, 180-181, 185-186, 241, 255, 265, 270, 293, 307, 323 Ayer, Alfred 12 Bach, Kent 130-131 Bacon, Francis 157 Bain, Jonathan 274-277 Barrow, John D. 279 Basile, Pierfrancesco 21, 26, 169, 183 Benacerraf, Paul 29, 288-289, 293-295, 297, 309, 311, 315 Bennett, Jonathan 148, 156 Bergson, Henri 10, 243 Berkeley, George 48, 183 Bernstein, B.A. 325 Bird, Alexander 115 Boethius, A. M. S. 145 Bohm, David 278 Boole, George 277, 279, 280 Boolo, George 297 Bosanquet, Bernard 238 Boyle, Robert 157 Bradley, Francis H. 14, 16-18, 39-40, 68, 169, 182, 194, 238-242 Braun, Roland 12, 25-26, 155, 160

Bremer, Manuel 21, 29-30 Brumbaugh, Robert S. 79, 85 Bruno, Giordano 171 Bub, Jeffrey 278-279 Burman, Frans 56 Candlish, Stewart 194 Cantor, Georg 42, 269, 273, 298 Carnap, Rudolf 30, 39, 132, 271, 326 Cassou-Noguès, Pierre 19 Church, Alonzo 30, 326 Clementz, François 209-211 Couturat, Louis 144, 170 Curley, Edwin M. 146, 158 De Morgan, Augustus 241 Darboux, Jean Gaston 313 Dedekind, Richard 298, 301 Dellsén, Finnur 115 Descartes, René 25, 43, 56, 67, 144, 146, 148, 150-152, 154-157, 175, 304, 309, 313 Desmet, Ronny 109, 117, 266 Deutsch, David 279-280 Dewey, John 78-79 Dini, Ulisse 313 Duhem, Pierre 36 Duns Scotus, Johannes 156 Dyson, Freeman 279 Eddington, Arthur Stanley 277 Einstein, Albert 37, 51-52, 58, 239, 245, 247, 249-250, 268-270, 274-277

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Ellis, George F.R. 266, 280 Emmet, Dorothy 246 Escher, Joachim 279 Faber, Roland 79, 103 Faraday, Michael 249 Färber, Andreas 149 Fontana, Walter 281 Ford, Lewis S. 27, 196, 198 Frege, Gottlob 11, 16, 37, 124-125, 127-128, 271-272, 289-296, 301, 303-304, 309, 311, 315, 319, 321, 324-326 Frey, Gerhard 157 Frick, Jürg 79, 81, 99 Fröbel, Friedrich Wilhelm August 81 Galaugher, Jolen 193 Galilei, Galileo 46 Gandon, Sébastien 21, 28-29, 301, 304, 307 Gardner, John 28, 265, 282-283 George, David Lloyd 85 Geurts, Bart 130 Gödel, Kurt 266, 319, 321, 325-327 Gorham, Deborah 81 Graff / Graff Fara, Delia 125, 130-131 Grassmann, Hermann Günther 268-269, 277-278 Grattan-Guinness 20 Griffin, David Ray 188 Griffin, Nicholas 38 Gueroult, Martial 155, 159-160 Hale, Bob 290, 294, 296 Hamilton, William 268-269, 277 Hampe, Michael 9, 12, 15, 58, 62, 77, 148-149, 267-270 Hartshorne, Charles 110-111, 116, 188, 242 Heck, Richard G. 289-295, 303, 309, 311, 315, 319 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15-17, 27, 39-41, 67, 218, 238-239, 242 Heinemann, Anna-Sophie 13, 27 Hendley, Brian 81, 86, 97 Henrich, Dieter 267 Heraklit 251

Herder, Johann Gottfried 161-162 Hilbert, David 30, 279, 313, 325-326 Hirschberger, Johannes 158 Hoffmann, Thomas Sören 159 Horstmann, Rolf-Peter 12-13, 16 Hoyningen-Huene, Paul 35-36 Hume, David 148, 151, 179, 182-183, 218-219, 242, 291 Huntington, Edward Vermilye 325 Hurley, Patrick J. 275 Hylton, Peter 319 Irvine, Andrew David 109, 117 James, William 37, 56, 118 Jesus von Nazareth/Christus 66, 95 Joachim, Harold 238 Johnson, Samuel 183 Kann, Christoph 11, 58, 60, 63, 65, 118, 133, 148 Kant, Immanuel 15, 35-36, 42, 48, 60, 66 Kanterian, Edward 19 Kanzian, Christian 12, 14 Kauffman, Louis 274, 282 Kilmister, Clive 271-272 Kind, Amy 117 Kisser, Thomas 163 Klein, Felix 278, 306-307, 313 Klement, Kevin 295, 309 Kneale, William 130-131 Körner, Stephan 13 Kraus, Elizabeth M. 59-62, 179 Kripke, Saul 111, 125, 127-132 Kuhn, Thomas 58 Kung, Peter 117 Lady Masham, Damaris 172 Landini, Gregory 109, 292, 323 Lango, John 237, 245 Latta, Robert 170 Leclerc, Ivor 27, 197-198 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21, 26, 28, 50-52, 59-60, 66, 142, 144-148, 150, 169-188, 193, 269-270, 272 Linde, Andrei Dmitrijewitsch 280 Locke, John 148, 150-152, 160, 172 Lotter, Maria-Sibylla 148, 150-151

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Personenindex Löw, Reinhard 63 Lowe, Victor 85, 109, 169, 246 Lucas Jr., George R. 22, 237 Luhmann, Niklas 26, 162-163 Mach, Ernst 36 Mancosu, Paolo 289, 315 Marmodoro, Anna 207 Maxwell, James Clerk 28, 239, 249-250, 268, 278, 280 McHenry, Leemon B. 19, 27-28, 188, 240, 246-247 McTaggart, John McTaggart Ellis 15-17, 40, 221, 239 Meinong, Alexius 18 Menon 76 Metzinger, Thomas 51 Michel, Jan 10, 20, 25, 30, 112-113, 115, 121, 125-127, 132 Michelangelo 66 Mill, John Stuart 14, 130 Möbius, August Ferdinand 304-305 Montessori, Maria 81, 83 Moore, George Edward 11, 15-16, 20, 37, 39, 200, 202-206 Morgan, Mary 121 Mormann, Thomas 9, 38, 47, 70 Mueller-Goldingen, Christian 19, 22 Nagel, Thomas 188 Neurath, Otto 259 Newen, Albert 12, 129 Newman, John Henry 83 Newton, Isaac 48, 148, 247, 249-250, 276 Nietzsche, Friedrich 161, 164 Niiniluoto, Ilkka 115 Pasch, Moritz 306, 313 Peano, Giuseppe 273, 291, 324-326 Penrose, Roger 271, 278-280 Peirce, Charles Sanders 14, 241 Piaget, Jean 81 Pieri, Mario 306-307, 309, 313, 325 Pigden, Charles R. 100 Platon 10, 16, 35, 40, 44, 57-59, 62-63, 65-66, 69, 76-77, 271, 294, 321 Plessner, Helmuth 35, 45

Plücker, Julius 278 Poincaré, Henri 36, 314 Poser, Hans 36, 58 Quine, Willard Van Orman 37, 39, 47, 50, 271, 326 Rapp, Friedrich 66 Rescher, Nicholas 60, 181 Rheinwald, Rosemarie 128-129 Ringel, Claus Michael 277-278 Rohmer, Stascha 161 Rorty, Richard 259, 268 Runggaldier, Edmund 12, 14 Russell, Dora 79, 81-82 Russell, Frank 15 Russell, John 81 Russell, Kate 81 Santayana, George 151 Savigny, Eike von 12 Schaffer, Jonathan 27, 214-221, 233 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 66, 267 Schild, Alfred 276 Schnepf, Robert 160 Schröder, Winfried 161 Sellars, Wilfrid 39 Sha, Xin Wie 266 Shapiro, Stewart 294, 296-297 Sharvy, Richard 125, 132 Siebers, Johan 269-270 Simons, Peter 179, 221, 290 Skrbina, David 20 Soames, Scott 129, 131 Sokrates 76-77, 125, 129-130, 146-147 Sölch, Dennis 10, 20, 24, 30, 102, 118, 133, 148, 163 Spaemann, Robert 60 Spencer-Brown, George 274 Spinoza, Baruch de 25-26, 141-164, 180-181, 183, 267, 270 Sprigge, Timothy L.S. 179, 188, 240 Staudt, Karl Georg von 304, 306-307, 309, 313 Stengers, Isabelle 265, 282-283 Stout, George Frederick 15 Strawson, Galen 188

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Strawson, Peter F. 13, 179 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 159 Tully, Robert E. 12 Veblen, Oswald 304-305, 308, 325 Volder, Burchard de 175-176, 184, 186 Ward, James 15 Washington, George 95 Weidemann, Hermann 145 Weierstraß, Karl 298 Whipple, John 184 Whitehead, Eric Alfred 110 Whitehead, Evelyn 116 Whitehead, Jessie Marie 110

Whitehead, Thomas North 110 Wiedemann, Simon 279, 282 Will, Clifford M. 276-277 Wittgenstein, Ludwig 11-12, 37, 69, 99, 323, 326 Woodhouse, Howard 99 Woyke, Andreas 10, 23-24, 35, 38, 66, 69 Wreen, Michael J. 130 Wright, Crispin 291, 294, 296 Yates, David 207-211 Young, John Wesley 304-305 Zimmermann, Rainer E. 19, 28, 265, 268, 270, 279-280, 282

332 https://doi.org/10.5771/9783495995839 .