Religion und Identität: Junge Marokkaner in Deutschland - das Beispiel Frankfurt 9783839455289

Identität und Religion: Gibt es einen Unterschied zwischen der religiösen Identität junger Marokkaner*innen in Marokko u

145 56 1MB

German Pages 110 Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Identität im islamischen Kontext
3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland
4. Untersuchungen zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland
5. Muslime in Deutschland
6. Die religiöse Praxis
7. Die Identität
8. Schlussfolgerungen
Anhang
Recommend Papers

Religion und Identität: Junge Marokkaner in Deutschland - das Beispiel Frankfurt
 9783839455289

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Abderrahmane Ammar Religion und Identität

Globaler lokaler Islam

Abderrahmane Ammar (Dr.), geb. 1982, Islamwissenschaftler und Soziologe, arbeitet in Berlin als TV-Journalist.

Abderrahmane Ammar

Religion und Identität Junge Marokkaner in Deutschland - das Beispiel Frankfurt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5528-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5528-9 https://doi.org/10.14361/9783839455289 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11

Einleitung...............................................................9 Von der »originalen Identität« zur »Patchwork-Identität« ............... 10 Subjekte fühlen sich »entbettet« ....................................... 12 Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster ................. 13 Erwerbsarbeit wird als Basis von Identität brüchig ...................... 13 »Multiphrene Situation« als Normalerfahrung ........................... 14 »Virtuelle Welten« als neue Realitäten .................................. 14 Das Zeitgefühl erfährt »Gegenwartsschrumpfung« ...................... 15 Pluralisierung von Lebensformen ....................................... 15 Veränderung der Geschlechterrollen .................................... 16 Verändertes Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft ................. 16 Individualisierte Formen der Sinnsuche ................................. 17

2. 2.1 2.2 2.3

Identität im islamischen Kontext ...................................... 21 Die religiöse Dimension der Identität .................................... 21 Individuelle Identität und kollektive Identität ........................... 22 Die kulturelle Dimension der islamischen Identität...................... 23

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland . 25 Die Merkmale der marokkanischen Identität ............................ 26 Die Frage der Identität in der marokkanischen Gesellschaft............. 27 Merkmale der marokkanischen Identität................................ 29 Der Salafi-Diskurs ...................................................... 31 Der arabisch-nationalistische Diskurs .................................. 32 Der Diskurs des politischen Islam ...................................... 34

3.7 Der Amazigh-Diskurs .................................................. 35 4.

Untersuchungen zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland .......................................................... 37 4.1 Geschichte der marokkanischen Migration nach Deutschland ........... 38 4.2 Die erste Generation ................................................... 39 4.3 Die zweite Generation.................................................. 40 4.4 Die dritte Generation ................................................... 41 5.

Muslime in Deutschland............................................... 43

6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15

Die religiöse Praxis ................................................... 45 Gebet ................................................................. 45 Moscheebesuch ....................................................... 48 Fasten im Ramadan ................................................... 50 Tarāwīh-Gebete ....................................................... 53 Memorieren des Korans ............................................... 53 Quellen des religiösen Wissens ......................................... 56 Anwendung der Scharia................................................ 58 Der politische Islam ................................................... 59 Almosengabe  ......................................................... 62 Pilgerfahrt ............................................................ 67 Ehen mit Nicht-Muslimen .............................................. 68 Homosexualität........................................................ 69 Meinung über militante Gruppen ........................................ 71 Der Islam als Lösung für die Probleme der Muslime und der Welt ........ 72 Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren.......................... 73

7. 7.1 7.2 7.3 7.4

Die Identität ........................................................... 77 Zur Lage der in Deutschland geborenen Jugendlichen .................. 80 Zur Lage der in Marokko geborenen Jugendlichen ....................... 81 Religiöse vs. nationale Identität ........................................ 82 Der Islam als Teil der deutschen Identität .............................. 86

8.

Schlussfolgerungen................................................... 93

Anhang ..................................................................... 101 Quellen ..................................................................... 101 Webseiten .................................................................. 104

1. Einleitung

Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien und der Politik nicht über den Islam und die Muslime gesprochen wird. Das Thema wird oft mit Integrations- und Identitätsfragen verbunden. Die Zahl derer, die salafistischen Bewegungen angehören oder mit ihnen sympathisieren, nimmt zu. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, wird häufig gestellt und auf unterschiedliche Weise beantwortet. Zu den etwa 4,5 Millionen Muslimen in Deutschland gehören auch Marokkaner, deren Zahl laut Statistiken 76.200 erreicht hat.1 In der vorliegenden Arbeit werden unterschiedliche Aspekte der Religiosität unter marokkanischen Jugendlichen und jungen Deutschen mit marokkanischen Wurzeln untersucht: ihre religiöse Praxis, deren bewussten und unbewussten Motive und Funktionen sowie ihre Auswirkungen auf politische Entscheidungen und Identitätsfragen, weil die Religiosität mehrere Bedeutungen und Funktionen hat und nicht nur reine Rituale und Überzeugungen betrifft. Eine davon ist die Selbstreferenz.2 Es geht auch um die Frage, ob die Religiosität und die Identitätsfragen Einflüsse aus der Heimat der Eltern haben oder ob es sich um neue und individuelle Formen handelt, die sich von den traditionellen Mustern entfernen und Einflüsse von westlichen Kulturen aufweisen. Über die Religiosität der Marokkaner in Deutschland gibt es kaum Studien. Die meisten Studien über Muslime in Deutschland konzentrieren sich auf die Mehrheit der türkischen Einwanderer. Das führt 1 2

Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2018. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hg.von André Kieserling, Frankfurt a.M. 2002, S. 13.

10

Religion und Identität

dazu, dass Ergebnisse verallgemeinert und kulturelle Besonderheiten nicht berücksichtigt werden. Als theoretischen Rahmen des Projekts werde ich den Begriff »Patchwork-Identität« von u.a. Heiner Keupp und den der »situativen Identität« von John Waterbury3 nutzen. Bei der Erforschung des religiösen Verhaltens bei jungen Menschen ist es notwendig, quantitative und qualitative Studien zu kombinieren.4 Meine Vermutung ist, dass die Marokkaner in Deutschland Angst haben, sich nicht konform zu verhalten. Ihr Verhalten richtet sich aber in erster Linie nach den Machtverhältnissen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Diese Arbeit ist die deutsche Zusammenfassung meiner Dissertation, die unter dem Titel Religiöses Verhalten und Fragen der Identität unter jungen Marokkanern in Deutschland – Das Beispiel Frankfurt vorgelegt und an der Universität Marburg und Marrakesch verteidigt wurde. Neben einem theoretischen gibt es dort einen qualitativen und einen quantitativen Teil, von denen hier nur der quantitative vorgestellt wird. Hierfür wurden in den marokkanischen Vereinen und Moscheen in Frankfurt insgesamt 300 Fragebögen verteilt (Zufallsstichprobe: 60 % Frauen und 40 % Männern zwischen 18 und 35 Jahre).

1.1

Von der »originalen Identität« zur »Patchwork-Identität«

In dem Buch Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne von Heiner Keupp vergleicht dieser die Ressourcen folgendermaßen: »In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle

3 4

John Waterbury: The Commander of the Faithful: The Moroccan Political Elite. A Study in Segmented Politics, Columbia University Press, New York 1970. Heinz Streib/Carsten Gennerich: Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim 2011, S. 32.

1. Einleitung

Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum ›Selbsttätig werden‹ oder zur ›Selbsteinbettung‹.«5 Keupp fügt hinzu, dass die Moderne für das Leben des Menschen laut Peter Berger einen großen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung bedeute.6 Diese freien Entscheidungen sind ein Zeichen von dem, was Adorno »das Ende des Identitätszwanges« nennt.7 Es handelt sich um das Streben nach »einer individuellen Souveränität gegenüber äußeren Zwängen in einer Gesellschaft, die von Klassenunterschieden bestimmt war und nicht allen Menschen dieses Recht auf Lebens-Souveränität einräumen kann«.8 Vor allem in der Spätmoderne sei »die soziale Welt pluraler und widersprüchlicher (…) nunmehr ist Flexibilität zum Zauberwort von Krisenlösungen geworden«.9 Diese Situation führt zu einem neuen Menschentypus: »So entsteht der Menschentyp des flexiblen Menschen, der sich permanent fit hält für die Anpassung an neue Marktentwicklungen, der sich zu sehr an Ort und Zeit bindet, um immer neue Gelegenheiten nutzen zu können. Lebenskohärenz ist auf dieser Basis kaum mehr zu gewinnen.«10 Diese Flexibilität hat das Ziel, ein Gleichgewicht zwischen der »Innenwelt« und der »Außenwelt« herzustellen. Deswegen erscheinen die Entscheidungen widersprüchlich. Der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) beschreibt diese Situation so: »Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgen5

6 7 8 9 10

Heiner Keupp: Ohne Angst verschieden sein können – Riskante Chancen in einer postmodernen Gesellschaft. Vortrag. Jahrestagung des dvb am 12. Oktober 1997 in Seeheim-Jugenheim, URL: www.mitglieder.dvb-fachverband.de/fileadmin/medien/scripte/Keupp_97.pdf (letzter Zugriff 15. 7. 2019), S. 4. Peter L. Berger: Sehnsucht nach Sinn: Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a.M. 1994; Keupp: Ohne Angst verschieden sein können, S. 50. Adorno (1967), S. 275, zit.n. Keupp, S. 17. Keupp, S. 21. Keupp, S. 277-281. Keupp, S. 14.

11

12

Religion und Identität

den Form. (…) Von allem sehe ich etwas in mir, je nachdem, wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ja in seinem Urteil darüber. Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte. (…) Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.«11 Und in seinem Buch Fröhliche Wissenschaften äußert sich Friedrich Nietzsche zum Thema sogar in Gedichtform: »Scharf und milde, grob und fein, vertraut und seltsam, schmutzig und rein, der Narren und Weisen Stelldichein: dies Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!«12 Als Gründe und Motivationen für die Entstehung dieser neuen Art von Identität als Merkmal der modernen Gesellschaft schildert Keupp neun Faktoren, die er als Umbruchserfahrungen in den spätmodernen Gesellschaften ausmacht.

1.2

Subjekte fühlen sich »entbettet«

Zusammengefasst ist damit gemeint, dass viele Menschen in der Phase der Modernisierung über eine Art »ontologische Bodenlosigkeit« verfügen.13 Der Begriff »Entbettung« geht auf Anthony Giddens zurück. Damit meint er: »Heraushebung sozialer Beziehungen aus

11 12

13

Michel de Montaigne (1998), S. 167f., zit.n. Keupp, S. 22. Siehe Heiner Keupp: Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft, Eröffnungsvortrag am 18. April im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010, URL: www.lptw.de/archiv/vortrag/2010/keupp-vom-ringenum-identitaet-in-der-spaetmodernen-gesellschaft-lindauer-psychotherapiewochen2010.pdf (letzter Zugriff 11. 12. 2018). Keupp, S. 47.

1. Einleitung

ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung«.14 Auch viele der politischen und wirtschaftlichen Krisen und Transformationen, die die Welt erlebt, wie der religiöse Fundamentalismus, der Rechtspopulismus usw., kann man – meiner Meinung nach – als Ausdruck der ontologischen Bodenlosigkeit betrachten.

1.3

Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster

Mit »Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster« meint Keupp, dass viele der Vorstellungen des Menschen, wie die über Erziehung, Sexualität, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Generationsbeziehungen, den Charakter des Selbstverständlichen verlieren.15 Dies führt dazu, dass diese Selbstverständlichkeiten problematisiert werden, was die Innen- und Außenwelt destabilisiert. Vieles wird hinterfragt und neue Muster werden ausprobiert.16

1.4

Erwerbsarbeit wird als Basis von Identität brüchig

Die Arbeit wird zwar von vielen Menschen als »Weg zum Glück«17 empfunden, aber Arbeit ist kein Garant mehr für eine stabile Identität. Es ist heute schwerer geworden, eine feste Stelle nach den gewünschten Vorstellungen zu finden. Wir leben in einem wirtschaftlichen Feld, in dem Zeitarbeit und Arbeitsvermittlungen eine große Rolle auf dem Markt spielen. Die Arbeitnehmer müssen daher flexibler sein, was bedeutet, heute noch in einer Schokofabrik zu arbeiten, die Woche darauf in einer Autofabrik und einige Wochen später wiederum für eine Weile zuhause bleiben zu müssen, weil keine Arbeit für einen da ist. Diese Situation 14 15 16 17

Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 3 1999, S. 33. Keupp, S. 47. Unter den Migranten, vor allem unter denen, die aus orientalischen Ländern stammen, werden andere Erfahrungen gemacht. Keupp, S. 48.

13

14

Religion und Identität

führt zu Frustration, nicht nur, weil man nicht die Arbeit ausübt, die man möchte, sondern auch, weil der Arbeitsplatz befristet und unsicher ist.

1.5

»Multiphrene Situation« als Normalerfahrung

Man macht jeden Tag viele Erfahrungen, die komplex sind und sich in kein »Gesamtbild mehr fügen«.18 Zu dieser Komplexität gehört auch der Multikulturalismus, der durch Zuwanderung immer mehr zunimmt. Die dadurch entstandene Situation bezeichnet der Psychologe Kenneth J. Gergen als »Multiphrenie«: »Mit ›Multiphrenie‹ wollte ich vor allem unsere derzeitige Erfahrung beschreiben, welche beschreibt, dass wir immer stärker Teil eines wachsenden Netzwerkes von Beziehungen werden, von direkten zwischenmenschlichen, aber auch von elektronischen und solchen aus zweiter Hand.«19 Auch unter den Migranten in Deutschland zum Beispiel treffen sich viele Kulturen – christliche, muslimische, jüdische und noch weitere. Dazu kommen Migranten, die den wechselseitigen Feindschaften und Vorurteilen beeinflusst sind: Araber, Türken, Perser usw.

1.6

»Virtuelle Welten« als neue Realitäten

In den Zeiten von Internet und Digitalisierung entstehen viele »virtuelle Gemeinschaften«20 , sei es aus beruflichen, politischen, wirtschaftlichen oder familiären Gründen oder nur zum Spaß. Es werden viele Inhalte und Informationen ausgetauscht, welche die Realität und die Wahrnehmung der Außenwelt beeinflussen. Die virtuelle Welt wird auch von Fundamentalisten und Populisten aller Couleur benutzt, um Nachrichten und Ideen zu verbreiten und dadurch Menschen für sich zu mobi-

18 19 20

Keupp, S. 48. Gergen (1994), S. 36, zit.n. Keupp, S. 49. Keupp, S. 49.

1. Einleitung

lisieren. Die virtuelle Welt und ihre Gemeinschaften werden vor allem auch durch neue Technologien wie Smartphones und Applikationen unter den jüngeren Generationen verbreiteter und beliebter. Mit Blick auf die Familien ist hier u.a. die Rede von »Kommunikationsrissen zwischen Eltern und ihren Kindern, die sich souverän in diesen virtuellen Welten bewegen und aufhalten«.21

1.7

Das Zeitgefühl erfährt »Gegenwartsschrumpfung«

Mit dem Begriff der »Gegenwartsschrumpfung«22 meint Keupp, dass die Bezüge des Menschen in der Moderne, der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sich verändern und die »Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit«23 zunimmt. In der Spätmoderne erreicht die gefühlte Zeit ein höheres Tempo. Der Mensch muss sich dem ständig anpassen.

1.8

Pluralisierung von Lebensformen

Die Pluralisierung ist sowohl ein Resultat des gesellschaftlichen Wandels als auch ein Faktor, der zu »unterschiedlichen Alternativen« führt. Daher sei es heute nicht mehr möglich, allgemeine Konzepte vom »guten« und »richtigen« Leben zu formulieren.24 Keupp nennt als Beispiel die sogenannten Patchwork-Familien, die eine neue Form von Familie sind, welche neben den traditionellen Familien existiert.

21 22 23 24

Keupp, S. 49. Der Begriff geht auf Hermann Lübbe zurück in seinem Buch Im Zug der Zeit: Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/Heidelberg 1994. Lübbe, zit.n. Keupp, S. 50. Keupp, S. 51.

15

16

Religion und Identität

1.9

Veränderung der Geschlechterrollen

Hinter diesen Veränderungen stehen vor allem Frauenbewegungen. Frauen übernehmen immer mehr Aufgaben in der Gesellschaft und in der Familie, die von Männern dominiert waren. Zugleich bekommen Männer, ob gewollt oder ungewollt, Aufgaben zugeteilt, die zuvor meist Frauen erledigt haben, sowohl privat als auch öffentlich. Und die »häuslichen Arrangements von Arbeitsteilung, Kindererziehung oder Sexualität werden Themen in politischen Arenen«.25

1.10

Verändertes Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft

Die traditionellen Muster von Bindungen des Einzelnen zu Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen verlieren ihre Bedeutung. Stattdessen entsteht eine sogenannte »Ego-Gesellschaft«,26 was aber nicht heißt, dass die Individuen weniger engagiert und verantwortungsbewusst sind. Dieses Risiko bleibt aber bestehen. Bei politischen, religiösen und gesellschaftlichen Themen und Fragen ist es wichtiger geworden, welche Bedeutung diese Fragen für die Personen selbst haben. Erst in zweiter Linie folgt die Gemeinschaft: »Individualisierung bedeutet zunächst einmal die Freisetzung aus Traditionen und Bindungen, die das eigene Handeln im Sinne dieser feststehenden Bezüge in hohem Maß steuern. Die einzelne Person wird zur Steuerungseinheit, und die Begründung ihres Handelns muss ihr sinnvoll und vernünftig erscheinen und darf sich nicht allein auf das ›man‹ traditioneller Normierung berufen.«27 Diese Phase findet auch einen intellektuellen Boden, vor allem, wenn es sich um das handelt, was der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917) kollektives Bewusstsein nennt.

25 26 27

Ebd. Ebd. Keupp, S. 52.

1. Einleitung

1.11

Individualisierte Formen der Sinnsuche

Eine Folge der oben genannten Veränderungen in der Gesellschaft ist die individuelle Sinnsuche. Eine große Rolle dabei spielt der Verlust des Glaubens an »Meta-Erzählungen«,28 was einen »individualisierten Sinn-Bastler« erzeugt.29 Viele »absolute Wahrheiten« werden bezweifelt und infrage gestellt, weil im Laufe der Zeit immer neue Erkenntnisse und Resultate gewonnen werden, die den alten Versionen widersprechen. Hierdurch »erleben sich die Subjekte als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert werden«.30 Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene sind viele Systeme eingeführt worden, die als ideale Formen (Marxismus, Sozialismus, Liberalismus usw.) für die Gesellschaft betrachtet wurden. Viele politische Krisen haben aber gezeigt, dass sie dieses nicht sind. Das gilt auch für andere Bereiche, die für die Sinnstiftung wichtig sind, wie die Religion und die Religiosität. Der Glaube an Gott, das Paradies und die Hölle, das Leben nach dem Tod bzw. das ewige Leben etc. hat nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher, und oft hat er sogar gar keine Bedeutung mehr.31 Die von Keupp erwähnten Faktoren reichen aber nicht aus, um eine Art Patchwork-Identität zu erzeugen und zu erleben, weil 28

29 30 31

Der Begriff geht auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard (1924-1998) zurück. »Le sens général qu’on en tirerait est que le récit de l’histoire universelle de l’humanité ne peut pas être affirmé sur le mode d’un mythe, qu’il doit rester suspendu à un idéal de la raison pratique (la liberté, l’émancipation), qu’il ne peut pas se vérifier sur des preuves empiriques, mais seulement sur des signes indirects, des analogies qui signalent dans l’expérience que cet idéal est présent dans les esprits, et que la discussion de cette histoire est »dialectique« au sens kantien, c’est-à-dire sans conclusion. L’idéal n’est pas présentable dans la sensibilité, la société libre ne peut pas plus être montrée que l’acte libre, et en un sens la tension entre ce qu’on doit être et ce qu’on est restera toujours aussi forte.« Jean-François Lyotard, Le postmoderne expliqué aux enfants, Paris 1988, S. 77. Keupp, S. 52. Keupp, S. 53. Die Rede hier ist vor allem vom Christentum im Westen.

17

18

Religion und Identität

die Identitätsarbeit und die Identitätsbildung »nicht einfach der Vollzug eines biologischen Programms [sind]. Es handelt sich vielmehr um einen Entwicklungsprozess, der eng damit zusammenhängt, wie in einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche die personale Entwicklung verläuft und gedacht wird.«32

Abb. 1: Kapitalsorten und Identitätsentwicklung – Drei Übersetzungskategorien

Keupp, S. 202

Die Voraussetzung dafür ist, dass man bestimmte Kriterien erfüllt, die Keupp Ressourcen nennt, nämlich ökonomische, materielle, kulturelle und soziale Ressourcen, die zur Entwicklung einer Identität führen. Dabei beruft sich Keupp auf den Begriff des Kapitals bei Pierre Bourdieu.33 Aber der Besitz dieser Ressourcen garantiere noch nicht die Identitätsentwicklung. Diese Ressourcen bzw. dieses Kapital würden zuerst in andere Kapitalsorten verwandelt, und erst danach würden Sorten von »äußerem Kapital« in identitätsrelevante Sorten von innerem Kapital verwandelt.34 Die drei Varianten, die aus den Sorten von Kapital entwickelt werden, sind: der Optionsraum, die soziale Relevanzstruktur und die Bewältigungsressource: 32 33 34

Keupp, S. 70. Keupp, S. 198-202. Keupp, S. 202.

1. Einleitung

Bei dem Optionsraum handelt sich um ein Netzwerk, in dem sich Personen versammeln und sich über mögliche Identitätsentwürfe und Projekte austauschen. Bei der subjektiven Relevanzstruktur geht es um »die Entscheidung, welche identitäts-relevanten Perspektiven ich für meine Person zulasse, erfolgt stets in einem – oft impliziten – Aushandlungsprozeß im sozialen Netzwerk«.35 Die Bewältigungsressourcen bieten in Orientierungskrisen Rückhalt und emotionale Stütze. Im Gegensatz zu Erik H. Erikson,36 James Marcia und anderen Theoretikern, die eine Frist für die Identitätsbildung gesetzt haben, glaubt Keupp, dass der Mensch in der Moderne und der Postmoderne nicht aufhört, seine Identität aufzubauen, um sich ständig anzupassen. Deswegen vergleicht Keupp diesen Prozess mit einer Baustelle. Es lässt sich hier fragen, ob die jungen Marokkaner in Deutschland über eine Patchwork-Identität verfügen oder nicht. Wenn das bejaht wird, wäre das ganz normal, weil sie mehr oder weniger unter denselben wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen leben wie alle anderen Menschen in Deutschland und dasselbe Bildungssystem durchlaufen. Würde es verneint, dann lässt sich ebenfalls danach fragen, woran das liegt.

35 36

Keupp, S. 203. Siehe Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1973.

19

2. Identität im islamischen Kontext

2.1

Die religiöse Dimension der Identität

Die Identität wird im islamischen Kontext auf zwei Ebenen bestimmt: religiös und kulturell. Auf der Ebene des Ideologisch-Religiösen steht der Islam mit seinen fünf Säulen: Bezeugen, dass es keinen Gott außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist, Ausführung des Ritualgebets fünfmal am Tag, Entrichten der Zakat-Abgaben, Fasten im Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka für diejenigen, die es sich leisten können. Ergänzt werden diese Säulen durch die Säulen des Glaubens: der Glaube an Gott und seine Engel, seine Bücher, seine Gesandten und das Jenseits (den Jüngsten Tag), das Schicksal und das Gute und Böse. Die religiöse Praxis, also die Ausübung der religiösen Pflichten und das Vermeiden von Sünden, bleibt in den Augen vieler Muslime ein wichtiges Kriterium. Viele Muslime glauben, dass die Vorherbestimmung des Schicksals durch Gott der klare Beweis dafür ist, dass der Mensch in seinem Verhalten und seinen Entscheidungen angetrieben und nicht frei ist. Diese Debatte erreichte ihren Höhepunkt in den Schulen von ǧabr (Zwang) und iḫtiyār (Wahl). Obwohl diese Debatte heute nicht mehr in derselben Weise geführt wird wie damals, kann man sagen, dass einige ihre Identität eher als Ausdruck von Zwang und nicht von Wahl betrachten. Die Marokkaner gehören meist zur Maliki-Rechtsschule, während die Iraner meist Schiiten sind, die Saudis Hanbaliten bzw. Wahhabiten. Der primäre Faktor für die Wahl der Rechtsschule ist das Geburtsland und die von der eigenen Familie bereits verfolgte Lehre bzw. Rechtsschule.

22

Religion und Identität

Auch wenn eine bestimmte Person in der Realität keine religiösen Riten ausübt, sind viele ihrer Verhaltensweise doch eng mit der Kultur der eigenen Familie und des Heimatlandes verbunden. Ob in arabischen oder nicht-arabischen Gesellschaften, so wird die individuelle und die kollektive Identität im islamischen Kontext nicht nur vom Glauben, von Geboten und Verboten, ḥalāl und ḥarām, beeinflusst, sondern zu einem großen Teil auch von der lokalen Kultur, den Bräuchen und Traditionen aus der vor-islamischen Zeit. Das religiöse Verhalten der Marokkaner unterscheidet sich von den religiösen Praktiken in der islamischen Welt aufgrund der kulturellen Besonderheiten des Landes. In Marokko koexistierten seit langer Zeit und bis heute verschiedene Kulturen wie Amazigh, Arabisch, Afrikanisch, Alhassania und Jüdisch. Dort werden religiöse Rituale praktiziert, die von diesen Kulturen betroffenen sind, wie zum Beispiel der Glaube an die Rolle der Schreine, der Heiligen und der Mystik. Die erste Generation marokkanischer Einwanderer ist mit diesen Werten gesättigt, sie hat sie in die Diaspora gebracht und versucht, sie auf ihre Kinder zu übertragen. Hier stellen sich jedoch folgende Fragen: Gibt es einen Unterschied zwischen der religiösen Identität junger Marokkaner in Marokko und marokkanisch-stämmiger Jugendlicher in Deutschland auf der Ebene von Theorie und Praxis, auf der Ebene von Text und Realität? Fühlen sie sich von der Autorität des Textes und der Tradition frei oder halten sie sich daran? Ist es eine Frage der Wahl und der Freiwilligkeit oder des Drucks und des Erzwingens?

2.2

Individuelle Identität und kollektive Identität

Die kollektive Identität hat in den islamischen Gemeinschaften eine große Bedeutung, sei es kulturell, religiös oder politisch. Der Koran ruft die Muslime dazu auf, sich zu vereinen, solidarisch zu sein und zusammenzuhalten, um die islamische Gemeinschaft stark zu machen. Hierzu gibt es viele Hadithe des Propheten. Laut der religiösen Sicht besteht der Vorteil der Gruppe darin, dass sie den Einzelnen vor äußeren Gefahren schützt und die Gruppe die

2. Identität im islamischen Kontext

Möglichkeit der Sünde verhindert. Der Gehorsam des Einzelnen gegenüber der Gruppe kommt vor dem Gehorsam der Gruppe gegenüber dem Individuum, mit Ausnahme des Befehlshabers der Gläubigen (amīr al-muʾminīn). Diese Sicht basiert auf der Beschaffenheit der Stämme und der Stammessysteme, die immer noch in allen islamischen Gesellschaften, insbesondere in ländlichen Regionen, bestehen. Diese Sicht geht von der Familie aus, in der der Vater als Herrscher gesehen wird, dem die Kinder und die Ehefrau gehorchen müssen. Obwohl diese Art von Respekt und Gehorsam durchaus positive Aspekte haben kann, gibt es auch negative Aspekte, wenn zum Beispiel Menschen unterdrückt werden, ihnen bestimmte Meinungen oder Entscheidungen aufgezwungen werden und jeder Aufruf zur Befreiung als Rebellion oder Sünde betrachtet und physisch oder moralisch geahndet wird. Generell erfordert die Untersuchung des Identitätsbegriffs die Einbeziehung des Kulturbegriffs, da ein Zusammenhang zwischen kollektiver und kultureller Identität besteht sowie ein Pluralismus, der sie gemeinsam durchdringt.1

2.3

Die kulturelle Dimension der islamischen Identität

Neben der religiösen Identität des Einzelnen und der Gruppe spielt die nicht-religiöse kulturelle Identität fern von den religiösen Texten eine wichtige Rolle in der Identität der Muslime. Diese Art von Identität ist eher eine nationale und regionale als eine religiöse Identität. Ein saudischer Muslim unterscheidet sich von einem marokkanischen Muslim, und ein marokkanischer Muslim unterscheidet sich von einem chinesischen oder türkischen. Der Grund für diese Unterschiede ist, dass jeder Staat seine eigenen sprachlichen, politischen und historischen Besonderheiten hat, die sich zum Beispiel in der regionalen und nationalen Literatur und Kunst manifestieren. Auch auf dem Gebiet der religiösen Praxis sind einige Beispiele zu nennen: marokkanische Koranlesung, Gebet auf marokkanische Wei1

Ḥasan al-Muǧāhid: Ǧak Bīrk [Jacques Berque], Marrakesch 2012, S. 150.

23

24

Religion und Identität

se auf der Ebene der Melodie, Koranlesung in der Moschee mit lauter Stimme, der Glaube an die Schreine (Heiligtümer) und Heiligen, der Einfluss des Sufismus usw., wie wir bereits erwähnt haben. Diese Unterschiede und kulturellen Besonderheiten der Muslime halten in der Diaspora an, und der beste Beweis dafür ist, dass die Muslime es meist vorziehen, in den ihnen kulturell am nächsten liegenden Moscheen zu beten. Marokkaner bevorzugen zum Beispiel meist zuerst die marokkanische Moschee, dann die arabische und dann die türkische. Der Übergang von kultureller und ethnischer Religiosität zu ideologischer Religiosität und umgekehrt bleibt eine Entscheidung, die mit individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen des Einzelnen verbunden ist.2 Diese Behauptung wird durch das Anliegen jeder Gemeinde bestätigt, eine eigene Moschee oder einen eigenen islamischen Verein zu gründen, der sich hauptsächlich an die Menschen des jeweiligen Landes richtet. In den arabischen und in den türkischen Moscheen werden die Predigten meist auf Türkisch und in den arabischen auf Arabisch gehalten. Während der Feldstudie begegneten wir einem Marokkaner, der wegen seiner Heirat mit einer Türkin dafür sorgt, mit seinen Kindern sowohl in der marokkanischen als auch in der türkischen Moschee zu beten. Für ihn soll der Besuch beider Moscheen seinen Kindern helfen, »die arabische und die türkische Kultur zu verstehen und sich darauf vorzubereiten, in Zukunft mit ihnen umzugehen«.

2

Al-Muǧāhid, S. 186.

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland leben heute etwa 7 Millionen Ausländer aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Religionen. Dazu gehören auch Marokkaner, die seit Anfang der 1960er Jahre meist als Gastarbeiter und seit Ende der 1980er Jahre meist als Studenten nach Deutschland gekommen sind. In der ersten Generation, die zum großen Teil nicht gut ausgebildet und ohne Sprachkenntnisse gekommen war, entstand die Notwendigkeit, für das Praktizieren des islamischen Glaubens und die islamische Erziehung Moscheen und Koranschulen zu schaffen. Laut aktuellen Forschungen1 versteht sich die Mehrheit der jungen Muslime in Deutschland zwischen 18 und 30 Jahren als sehr religiös. Im Vergleich zu Ergebnissen aus dem Jahr 2000 ist somit der Grad der subjektiven Religiosität deutlich gestiegen.2 Es ist auch zu beobachten, dass die Zahl der Konvertiten deutlich zunimmt. Trotz der Einbürgerung vieler Migranten, entweder durch den langen Aufenthalt der ersten Generation oder durch Geburten ab der zweiten Generation, bleibt die Frage nach der Identität und dem Kontakt zur deutschen Gesellschaft ein kompliziertes Thema.

1

2

Darunter die Studie des Bundesministeriums des Innern Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland, März 2012. Ebd.

26

Religion und Identität

Das religiöse Verhalten und die Identität wurden bei Marokkanern, wie auch bei anderen Migranten, durch die Erfahrungen der Vorfahren in den Herkunftsländern beeinflusst und an die Nachkommen weitergegeben.

3.1

Die Merkmale der marokkanischen Identität

Marokko ist für seine soziale und ethnische Vielfalt bekannt. Der französische Soziologe Paul Pascon (1923-1985) beschrieb die Gesellschaft des Landes als eine »zusammengesetzte Gesellschaft« (société composite).3 Laut Pascon ist das aber ein allgemeines Merkmal von »fragilen Gesellschaften«, die durch Instabilität gekennzeichnet sind: »Le pouvoir politique appartiendrait au sénat oligarchique et gérontocrate qui réunit à chaque occasion au cours de longues palabres

3

»La société marocaine est d’abord divisée, dans son corps moyen, en segments, supportant une sous-segmentation modérée (ethnie, région, villes, fraction, village, lignages, secteurs économiques, ateliers …). Représentons ces segments par des colonnes verticales qui visualisent des solidarités verticales. Mais ces colonnes sont divisées par des lignes, qui ne les franchissent pas. Ces lignes fragmentent les segments en catégories hiérarchiques (dominants/dominés, propriétaires/sans terre, hommes/femmes, âgés/jeunes) et visualisent des solidarités catégorielles horizontales à l’intérieur du segment, c’est-à-dire sans pouvoir se coaliser à travers les segments. La société marocaine est aussi divisée en catégories socio-économiques confinant à la formation de classes (patrons de l’industrie, grands propriétaires terriens modernes, grandes familles citadines de l’entreprise et du commerce, artisans, commerçants, tenanciers, ouvriers …). Représentons ces classes par des cases horizontales qui visualisent des solidarités latérales. Mais ces cases sont divisées par des lignes qui ne les franchissent pas. Ces lignes fragmentent les classes en catégories segmentaires (régions, ethnies, entreprises, familles …) et visualisent des solidarités de voisinage ou biologiques à l’intérieur de la classe sans pouvoir se coaliser à travers la classe.« Paul Pascon: Segmentation et stratification dans la société rurale marocaine, zuerst erschienen im Bulletin Économique et Social du Maroc 138-139 (1979), S. 105-119, URL: journals.openedition.org/sociologies/4326 (letzter Zugriff 6. 3. 2018).

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

(preuve que »la souveraineté s’élabore« car de quoi discuterait-on sinon du pouvoir?) les représentations, ou plutôt les chefs de chaque lignage. En fait la fédération est à la fois fragile et forte. Fragile car chacun n’est pas disposé à faire la moindre concession sans contrepartie car il engage son lignage, sa descendance. Les sacrifices qu’un individu peut accepter, il ne peut admettre de les imposer à un groupe dont il ne s’est pas politiquement et spirituellement dégagé; forte parce que le refus d’un accord entraîne l’exil, la soumission à d’autres.«4 Die Menschen, die in solchen Gesellschaften leben, müssen sich bewusst oder unbewusst ständig an die Komplexität der sozialen Welt anpassen und unterschiedliche Rollen spielen. Das führt zu dem, was John Waterbury, wie oben erwähnt, als »situative Identität« bezeichnet. Er meint damit, dass Marokkaner im Allgemeinen nicht als Individuen agieren, sondern nur mit der Gemeinschaft. Nicht nur im politischen Leben, sondern auch in der Gesellschaft allgemein treten viele in »die falsche Erscheinung«, weil jeder weiß, dass hinter jeder Initiative eine versteckte Agenda stecken kann. Man zeigt nicht alle seine Karten und man setzt nicht alles auf eine Karte, weil mein nicht weiß, was in der Zukunft passiert und wie eine Aussage oder ein Verhalten gegen die eigene Person benutzt wird. So sagen zum Beispiel Leute, die nicht religiös sind, das nicht öffentlich, weil das ihnen schaden könnte. Es geht dabei nicht nur um die Person selbst, sondern um ihre ganze Familie, ihr Dorf, ihre Stadt usw.

3.2

Die Frage der Identität in der marokkanischen Gesellschaft

In der am 13. September 1996 überarbeiteten Verfassung von Marokko heißt es: »Das Königreich Marokko ist ein vollständig souveräner islamischer Staat, seine Amtssprache ist Arabisch, und es ist ein Teil

4

Ebd.

27

28

Religion und Identität

des Großen Arabischen Maghreb«.5 Nach der letzten Änderung von 2011 wird die offizielle marokkanische Identität wie folgt bestimmt: »Das Regierungssystem in Marokko ist die konstitutionelle Monarchie, eine parlamentarische und soziale Demokratie. (…) Der Islam ist die Religion des Staates, und der Staat garantiert jedem die Freiheit, seine Religion zu praktizieren. (…) Das Motto des Königreichs: Gott, das Heimatland, der König. Arabisch bleibt die Amtssprache des Staates, und der Staat setzt sich dafür ein, sie zu schützen, sie zu entwickeln und ihre Verwendung zu fördern. Amazigh ist ebenfalls eine Amtssprache des Staates, als gemeinsames Kapital für alle Marokkaner.«6 Die Verfassungsänderung von 2011 erfolgte nach den von Marokko und einigen arabischen Ländern im Rahmen des sogenannten »Arabischen Frühlings« oder »Demokratischen Frühlings« erlebten Volksaufständen. Die vorgenommenen Änderungen zeigen, dass Marokko mit der Frage der individuellen und kollektiven Identität weiter beschäftigt ist und das Problem der Identität noch nicht gelöst ist. Dieses Problem beginnt einseitig, wird dann zu einer Klassen- oder Gruppenfrage und schließlich zu einer politischen Forderung. Die Frage der Identität ist eine wichtige Frage, die die Intellektuellen und Politiker in Marokko kontinuierlich beschäftigt und auch die Marokkaner in Deutschland betrifft. Die Hauptachsen des Identitätsdiskurses in Marokko sind: Der Salafi-Diskurs, der arabisch-nationalistische Diskurs, der islamische Diskurs und der Diskurs der Amazigh. Diese Diskurse finden Anklang bei den Marokkanern in der Diaspora und haben ihre Anhänger unter ihnen. Wir werden diese Diskurse in ihrer historischen Reihenfolge behandeln. Wie in allen arabischen und islamischen Ländern wurde auch die marokkanische Identität durch die politischen und historischen Veränderungen beeinflusst, die Marokko vor und nach der Kolonialzeit erleb5 6

Dustūr al-Mamlaka al-Marǧiʿiyya, URL: www.mcrp.gov.ma/constitution.aspx (letzter Zugriff 01. 03. 2019). Ebd.

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

te. Man kann zwischen den nationalen und religiösen Tendenzen sowie den politischen und kulturellen Strömungen unterscheiden. Nationalistische Impulse beruhen auf der Überzeugung eines »vereinten Volkes« mit einer einheitlichen Sprache, Kultur und Geschichte, das auf einem Land lebt, das seine »historische Heimat« ist.7 Diese ethnische und kulturelle Vielfalt hat die marokkanische Gesellschaft zu einer komplexen und pluralistischen Gesellschaft auf allen Ebenen gemacht. Vielfalt ist manchmal ein Vorteil, aber sie ist zugleich die Ursache vieler politischer, kultureller und ethnischer Störungen, die sich auf die Psyche von Individuen und Gruppen sowie auf ihr Verhalten innerhalb der Gesellschaft auswirken.

3.3

Merkmale der marokkanischen Identität

Die Vielfalt in der marokkanischen Gesellschaft beschränkt sich nicht nur auf ethnischen und kulturellen Pluralismus, sondern umfasst auch eine Pluralität der Klassen. In der marokkanischen Gesellschaft sowie in der marokkanischen Gemeinschaft in Deutschland dominieren die Armen und die Mittelschicht. Jedoch haben diese sozialen Schichten, einschließlich der Reichen, viele Gemeinsamkeiten in ihrem Verhalten, die von ihrer Vergangenheit sowie ihrem kulturellen, sozialen und religiösen Erbe beeinflusst werden. Pascon beschreibt Marokko, wie oben erwähnt, als eine »zusammengesetzte Gesellschaft«, was er auf die »Fragilität« der Gesellschaft und ihre ständige Suche nach Ausgewogenheit zurückführt. Wer in einer solchen Gesellschaft lebt, muss sich ständig an die Komplexität der sozialen Welten anpassen und eine Vielzahl von Rollen spielen, was nichts mit Schizophrenie zu tun hat. Dieser Pluralismus und die Komplexität der marokkanischen Gesellschaft führen zu dem, was John Waterbury die »situative Identität« der Marokkaner nennt. Ob es um Marokkaner im In- und Ausland geht oder um ihr religiöses oder politisches Verhalten: Die Sozialisation und 7

Muḥammad al-Kūḫī: Suʾāl al-Huwiyya fī Šamāl Ifrīqiyā: at-Taʿaddud wa-l-Inṣihār fī wāqiʿ al-Insān wa-l-Luġa wa-t-Taqāfa wa-t-Tārīḫ, Marrakesch 2014, S. 26.

29

30

Religion und Identität

die soziale Struktur, in der der Einzelne aufgewachsen ist, spielen hier eine entscheidende Rolle. Marokkaner teilen innerhalb und außerhalb der Städte, der Dörfer und der Heimat viele Gemeinsamkeiten in ihren Beziehungen zum Heiligen, zum Anderen und zur Macht. In seinem Buch The Commander of the Faithful: The Moroccan Political Elite stellt John Waterbury fest, dass viele Werte einen traditionellen und StammesCharakter haben und der Autorität eines Führers, ob Vater oder Stammesführer, unterliegen. »Kristallisiert die Grundgefühle in Marokko über Zugehörigkeit zu einem Stamm oder einer Religion und in einigen Fällen, etwa zu einem Ort, einer Stadt, einer Straße oder Familie … Die Marokkaner können in der Regel nicht frei als Individuen handeln und fühlen sich nicht wohl und nicht sicher außer, wenn sie sich in die Gruppe integrieren, was ein Element der Konstanten der marokkanischen Geschichte darstellt. Kein Einzelner – mit Ausnahme von den Heiligen oder den reisenden Schülern (Studenten) hat eine wichtige Rolle in der Gesellschaft gespielt.«8 Deshalb sind viele der vorherrschenden Verhaltensweisen in Marokko nicht von der Logik des gemeinsamen Prinzips oder der gemeinsamen Ideologie geprägt, sondern vom Gleichgewicht der Macht und von Einflüssen der Freundschaft, der Verwandtschaft und des Interesses. Auch wenn Marokkaner migrieren, bringen sie diese Logik mit sich. Patriarchalische Gruppen neigen eher nicht zur permanenten Feindseligkeit gegenüber ausländischen Gruppen (Fremden) und Zweierbeziehungen. Dasselbe gilt auch gleich für die Ausländer oder Verwandten (Bekannten), dort entscheiden nur die Umstände die Auswahl von Verbündeten und Feinden und es ist nicht überraschend, dass die Neutralitätsposition, die niemals absolut sein kann, einen großen Wert hat. Die Einrichtung und der Schutz von Netzwerken komplexer Allianzen bilden eine wichtige Aktivität und eine Kunst für die Marokkaner. Das gesellschaftliche und politische Leben konzentriert sich auf diese Prozesse, die nicht ohne Tricks und Intrigen sind. Jeder kennt die genauen 8

Waterbury: The Commander of the Faithful, S. 76f.

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

Regeln dieses Spiels und das fordert die Entdeckung der wahren Motive, die von dem Teilnehmer hinter vorgeblichen Motiven geschickt versteckt sind. Jeder sieht im Voraus, dass eine Initiative hinter sich versteckte Motive tragen kann. Daher herrscht eine versteckte Vorsicht in allen Beziehungen zwischen den Marokkanern selbst und auch gegenüber Ausländern. »Dynastische patriarchalische Gruppen neigen eher nicht zur permanente Feindseligkeit gegenüber ausländischen Gruppen (Fremden) und Zweierbeziehungen. Dasselbe gilt auch gleich für die Ausländer oder Verwandten (Bekannten), da entscheidet nur die Umstände, die Auswahl von Verbündeten und Feinden und es ist nicht überraschend, dass die Neutralitätsposition, die niemals absolut sein kann einen großen Wert hat. Die Einrichtung und Schutz von Netzwerken komplexer Allianzen bildet eine wichtige Aktivität und eine Kunst für die Marokkaner. Das gesellschaftliche und politische Leben konzentriert sich auf diesen Prozessen, die nicht ohne Tricks und Intrigen sind. Jeder kennt die Regeln dieses präzisen (genauen) Spiels und das fordert die Entdeckung der wahren Motive, die von dem Teilnehmerhinter angeblichen Motiven geschickt versteckt sind. Und jeder sieht im Voraus, dass eine Initiative hinter sich versteckte Motive tragen kann.«9

3.4

Der Salafi-Diskurs

Der Salafi-Diskurs in Marokko wird von mehreren Personen vertreten wie Abū Šuʿayb ad-Dukkālī und Muḥammad Belʿarbī (= Ibn al-ʿArabī) al-ʿAlawī sowie später ʿAllāl al-Fāsī und Muḥammad ibn al-Ḥasan alWazzānī. Der Salafi-Diskurs zielt darauf ab, die arabische und islamische Identität der Marokkaner vor allem Fremden zu beschützen. ʿAllāl al-Fāsī meint mit Befreiung nicht die Befreiung von der Autorität der Eltern oder des Stammes oder von alten Texten und dem alten

9

Ebd., S. 76f.

31

32

Religion und Identität

Religionsverständnis, sondern die Freiheit vom Kolonialismus und die Meinungsfreiheit gegenüber den Kolonialisten. »Der Freiheitskampf soll das Denken der marokkanischen Öffentlichkeit beschäftigen und dass ein freies Marokko, das die freien Marokkaner genießen, das erste Ziel ist, wofür das Volk (Publikum) arbeiten muss.«10 Für Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī war der Titel des Salafis in der arabischen Gesellschaft ein ehrenvoller Titel und gleichbedeutend mit Patriotismus und Verteidigung der Heimat gegen den Kolonialisten. »Es gab keinen Titel, der für seinen Träger ehrenwerter war als der Titel ›der Salafi‹. Er überlegte den Titel Patriotismus, denn Patriotismus ein unterstützender Teil des Salafismus war während das Salafismus zumindest als religiöses und soziales Verhalten nicht unbedingt Bestandteil des Patriotismus war. Mit anderen Worten, der Salafist war patriotisch und noch mehr.«11

3.5

Der arabisch-nationalistische Diskurs

Der arabisch-nationalistische Diskurs in Marokko und den nordafrikanischen Ländern wurde durch den nationalistischen Diskurs aus dem Nahen Osten beeinflusst, insbesondere aus Syrien und den Nachbarländern wie Libanon, Irak und Ägypten. Theoretiker dieses Diskurses stützen sich zur Verteidigung ihres Projekts auf die Idee der »Einheit der Sprache« und der »Einheit der Geschichte« neben dem »gemeinsamen Schicksal«. Der nationalistische Diskurs schloss die religiöse Dimension aus zwei Gründen weitgehend aus: Erstens gibt es Gruppen in der arabischen Welt, die nicht dem Islam angehören, sondern dem Christenund Judentum, zweitens besteht der Wunsch, andere Nationalismen,

10 11

Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī: An-Naqd ad-Dātī, Cairo 1952, S. 38f. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Dīn wa-Dawla wa-Taṭbīq aš-Šarīʿa, Studienzentrum der Arabischen Union (The Centre for Arab Unity Studies CAUS), Beirut 1996, S. 173.

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

insbesondere den aus Iran und der Türkei, auszuschließen, wo die meisten Menschen ebenfalls der islamischen Religion angehören.12 In Marokko war Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī einer der bekanntesten Verfechter des arabischen Nationalismus, der arabischen Einheit und des Panarabismus. In seiner Sicht der arabischen Identität führt al-Ǧābirī aus, dass er seiner Meinung der europäischen Einheit entsprechen könnte.13 Im Gegensatz zum Salafi-Diskurs, der sich auf die Einheit der Nation, auf die Grundlage der Religion des Islam und auf die Verherrlichung der arabischen Sprache konzentriert, weil sie die Sprache des Korans ist, heiligt der arabisch-nationalistische Diskurs die arabische Identität einmal im Namen der islamischen Religion und einmal im Namen der arabischen Herkunft oder Zugehörigkeit. Al-Ǧābirī drückt dies aus, wenn er über Nordafrika und insbesondere die Amazighs spricht, die seiner Meinung nach dem arabischen Nationalismus angehören, weil sie Muslime sind. Doch der arabisch-nationalistische Diskurs scheiterte politisch und geistig trotz aller Versuche arabischer Intellektueller und Politiker als Einheitsprojekt zwischen Ägypten, Syrien und dem Irak. Muḥammad al-Kūḫī glaubt, dass der Nationaldiskurs das Gegenteil von dem erreicht hat, was er anstrebte: »Infolgedessen war der arabische Nationalismus als Diskurs und Ideologie nicht in der Lage, das zu beseitigen, was er von Beginn an beseitigen wollte. An vorderster Front steht der religiöse und sektiererische Konfessionalismus, der im Orient immer noch stark und vielleicht sogar noch stärker ist als zuvor.«14 In Marokko führte der arabisch-nationalistische Diskurs zur Entstehung des Amazigh-Diskurses, der eine Reaktion auf den Versuch war, die Amazigh-Komponente einzudämmen oder ganz auszuschließen. Während der arabisch-nationalistische Diskurs in Marokko gescheitert ist, spielen der islamische Diskurs und der Islamismus

12 13 14

Al-Kūḫī: Suʾāl al-Huwiyya fī Šamāl Ifrīqiyā, S. 33f. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Masʾalat al-Huwiyya: Al-ʿUrūba wa-l-Islām wa-lĠarb, Beirut 4 2012, S. 11-15. Al-Kūḫī: Suʾāl al-Huwiyya fī Šamāl Ifrīqiyā, S. 39.

33

34

Religion und Identität

weiterhin eine Rolle bei der Gestaltung der politischen und kulturellen Identität der Marokkaner in Marokko und in der Diaspora.

3.6

Der Diskurs des politischen Islam

Der Diskurs des politischen Islam wird vor allem repräsentiert von ʿAbd as-Salām Yāsīn durch die Vereinigung der Gerechtigkeit und Wohltätigkeit (Ǧamāʿat al-ʿadl wa-l-iḥsān), der größten politischen Gruppe in Marokko. Zu dem Diskurs gehören auch ʿAbd al-Karīm al-Ḫaṭīb und seine Kameraden, die die Bewegung der Vereinigung und Reform gründeten, aus der die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) hervorging. In einer Botschaft in Amazighisch an die Amazighs von Marokko aus dem Jahr 2005 liest sich Yāsīns Vision von der Identität des Marokkaners wie folgt: »Meine amazighischen Brüder und Schwestern, Friede, Barmherzigkeit und Segen Gottes auf Euch. Gott hat uns mit Ihnen, meine muslimischen Leute (muslimisches Volk), zu den Glücklichen gemacht. Was hat mich dazu veranlasst, mit Ihnen in Amazighisch zu sprechen? Ich muss Ihnen sagen, wer ich bin und was ich will? Ich wurde vor 70 Jahren in Marrakesch von amazighischen Eltern (eines Amazigh-Vaters und einer Amazigh-Mutter), Gott segne sie, geboren. Ich besuchte mein Dorf jedoch oft in meiner Jugend. Meine Vorfahren sind seit einer langen Zeit alle Amazigh, einschließlich Sidi Slimane, Gott segne ihn, dessen Grab in Abaynou in Tiznit liegt. Er starb vor 600 Jahren, Gott segne ihn. Gott teilte die Menschen in Gläubige und Ungläubige auf. Einige sagten aber, die Menschen sind Ethnien und Rassen, und unsere Rasse ist die beste und ehrenvollste.«15 Diese Sicht der Identität wird nicht nur von Anhängern der Vereinigung der Gerechtigkeit und Wohltätigkeit vertreten, sondern von allen Strömungen des politischen Islam. Das ist eine Gemeinsamkeit zwischen 15

www.aljamaa.net/ar/document/2262.shtml (letzter Zugriff 22. 3. 2019).

3. Herausforderungen an die Identität bei Marokkanern in Deutschland

den Islamisten und den Salafisten, die versucht haben, diese Sicht der Identität in ihren politischen und religiösen Programmen in Marokko und in der marokkanischen Gemeinschaft im Ausland zu verbreiten.

3.7

Der Amazigh-Diskurs

Zusammen mit den nationalistischen, salafistischen und islamistischen Strömungen tauchte der Amazigh-Trend in Marokko in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren auf. Muḥammad Šafīq ist einer seiner bemerkenswertesten Gründer. In einem Brief von ihm an ʿAbd as-Salām Yāsīn betont Šafīq die Bedeutung der Amazigh-Sprache und lehnt die Kombination zwischen der Zugehörigkeit zum Islam, zum Arabismus und zum arabischen Nationalismus ab.16 Für Šafīq haben die Marokkaner ihre speziellen Eigenschaften, die sie trotz ihrer Religion nicht aufgeben. Diese Besonderheit spiegelt sich im großen Einfluss der Amazigh-Kultur auf die marokkanische Kultur im Allgemeinen wider. Daher streben die Marokkaner stets danach, die religiösen Lehren an die in Marokko vorherrschenden Traditionen und Bräuche anzupassen. Viele Marokkaner, besonders Studenten und die gebildeten Eliten, wurden von Šafīqs Ideen beeinflusst, die die Amazigh-Kulturbewegung an den marokkanischen Universitäten und Kulturverbänden gründeten, um sie als nationale Kultur anzuerkennen. In diesem Zusammenhang kann die intellektuelle Debatte erwähnt werden, die ʿAbd as-Salām Yāsīn und Muḥammad Šafīq in Yāsīns Dialog mit einem Amazigh-Freund und An meinen Bruder in Islam von Muḥammad Šafīq zusammengebracht hat, ohne die Botschaft des AmazighAktivisten Aḥmad ʿAṣīd an seinen Lehrer Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī in dem Buch Briefe an die Elite: Über Amazigh, Religion und Politik von 2011 zu vergessen.

16

Muḥammad Šafīq in: Ilā Sadīq Amaziġī [An meinen Amazigh-Bruder], Casablanca 1967, S. 12.

35

4. Untersuchungen zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland

In den letzten Jahren wurden in Deutschland eine Reihe von Studien zu Muslimen im Allgemeinen und zu muslimischen Jugendlichen im Besonderen durchgeführt. Diese Studien teilen sich in solche, die von offizieller deutscher Seite wie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführt wurden, und solche, die von Institutionen und NGOs von politischen Parteien oder unabhängigen Organisationen stammen.1 Darüber hinaus gibt es Studien, die von deutschen Universitäten entweder in Form von Forschergruppen oder als Hochschularbeiten und Hochschulforschungsstudien durchgeführt wurden. Weiterhin gibt es Werke von Autoren, die sich für Islamthemen interessieren. Bevor die wichtigsten Studien des letzten Jahrzehnts vorgestellt werden, von denen einige eine politische Debatte ausgelöst haben und deren Ergebnisse die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ver-

1

Beispiele: Nähere Angaben: URL: religionsmonitor.de/pdf/Religionsmonitor_Deutschland.pdf (letzter Zugriff 15. 3. 2019); nähere Angaben: URL: www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.p df (letzter Zugriff 15 .3 . 2 019); C hristian Pfeiffer/Dirk Baier/Sören Kliem: Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland: Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention (Januar 2018), URL: www.zhaw.ch/storage/shared/sozialearbeit/News/gutachten-entwicklun g-gewalt-deutschland.pdf (letzter Zugriff 15. 3. 2019).

38

Religion und Identität

ärgert haben, lassen sich einige allgemeine Beobachtungen zu diesen Studien machen: • • •

4.1

Sie wurden ohne den Beitrag von Muslimen verfasst. Sie richten sich oft an nicht-muslimische deutsche Leser. Grund für solche Studien sind auch Sicherheitsbedenken, insbesondere nach den Ereignissen vom 11. September 2001, an denen auch Muslime aus Deutschland beteiligt waren.

Geschichte der marokkanischen Migration nach Deutschland

Am 21. Mai 1963 wurde in Bonn zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko ein Abkommen geschlossen, das sich damals nur auf Arbeitsverträge in Kohlezechen und Stahlwerken bezog. Die Unternehmen, die Marokkaner beschäftigten, hatten die Reisekosten nach Deutschland zu übernehmen und stellten Unterkünfte für jeweils drei Personen zur Verfügung. Verglichen mit Gastarbeitern aus anderen Ländern wie der Türkei, Italien, Griechenland und osteuropäischen Ländern sind die Aspekte der marokkanischen Migration nach Deutschland nicht alle dokumentiert und viele Details bleiben – mit Ausnahme von mündlichen Zeugnissen der Arbeiter selbst oder ihrer deutschen Kollegen – unbekannt. Laut dem Statistischen Bundesamt erreichte am 31. Januar 2012 die Zahl der Marokkaner in Deutschland ohne deutsche Staatsangehörigkeit 65.050; der Anteil der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 35 Jahren betrug 40 % (26.549). Die Marokkaner mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit konzentrieren sich hauptsächlich in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Der Anteil der Migranten aus Marokko ohne deutsche Staatsangehörigkeit belief sich in Hessen auf 41,2 % der Männer und 39,3 % der Frauen, in Nordrhein-Westfalen auf 40,1 % der Männer und 38,9 % der Frauen. Bis zum erwähnten Datum waren 1.687

4. Untersuchungen zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland

Männer und 1.165 junge Marokkaner zwischen 18 und 35 Jahren als deutsche Staatsbürger registriert.2

4.2

Die erste Generation

Die meisten Angehörigen der ersten Generation sind Arbeiter, die im Rahmen des genannten Abkommens nach Deutschland gekommen sind. Ihre Deutschkenntnisse waren schwach und ihre sozialen Beziehungen beschränkten sich auf ihre Landsleute und ihre Arbeitskollegen. Trotz der sprachlichen Herausforderungen und der Schwierigkeiten mit Behörden aufgrund der großen Entfernung von ihrer Heimat und der bestehenden kulturellen Unterschiede haben die meisten diese Herausforderungen gemeistert, um ihre Familien finanziell unterstützen zu können. Da es bei der Arbeit der meisten Migranten in den Fabriken und Minen auf Körperkraft ankam, fiel ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt leicht. Sie begannen, zur Zusammenkunft Moscheen zu errichten, die meist in aufgelassenen Fabriken untergebracht waren. Es kennzeichnet diese Generation, dass sie in Deutschland lebte, im Fühlen und Denken aber an Marokko als das Land ihrer Herkunft und ihrer dort verbliebenen Familie gebunden blieben.3 Die Migranten begannen ihre Arbeit meist am frühen Morgen und legten sich am Abend erschöpft zum Schlafen nieder. Als sie 1973 auch daran denken konnten, ihre Frauen und Kinder nach Deutschland zu holen,4 führte dies zu einer tiefgreifenden Veränderung in ihrem Leben. Ihre Häuser wurden zu so etwas wie einem eigenen Land im Kleinen, Frauen und Kinder hatten marokkanische Filme und Musik mit2 3 4

Quelle: Statistisches Bundesamt. Abdelkader Rafoud: 50 Jahre marokkanische Migration: Dokumentation mit Fotos, Frankfurt a.M. 2010, S. 62. Khatima Bouras-Ostmann: Marokkaner in Deutschland – ein Überblick, in: Jenseits von Rif und Ruhr: 50 Jahre marokkanische Migration nach Deutschland, hg.von Andreas Pott, Khatima Bouras-Ostmann, Rahim Hajji und R. Soraya Moket, Wiesbaden 2014, S. 34.

39

40

Religion und Identität

gebracht, und schließlich begannen die Familien, sich gegenseitig zu besuchen und miteinander die in Marokko üblichen Feste zu feiern. Obwohl die aus Marokko immigrierten Arbeitskräfte zu Beginn ausschließlich Männer waren, die erst später ihre Frauen nachholten, überstieg dann aufgrund von deren hoher Geburtenrate bald die Zahl der Frauen die der Männer.

4.3

Die zweite Generation

Als zweite Generation bezeichnet man die Kinder der ersten, die entweder in Marokko geboren wurden und später ihren Eltern nach Deutschland gefolgt sind oder die in Deutschland zur Welt kamen, nachdem die Väter ihre Ehefrauen nachgeholt hatten. Die meisten dieser Kinder haben deutsche Kindergärten und Schulen besucht. Die Mehrzahl hat jedoch nicht das Abitur oder eine Hochschule erreicht. Deshalb haben sie den Weg der Berufsausbildung eingeschlagen. Andere wiederum haben die Schule abgebrochen, um arbeiten zu gehen. Manche in Marokko geborene Personen haben dort die Schule verlassen, um den Anschluss in deutschen Schulen zu finden, was nicht immer leicht war. Aber die Kinder, die in aller Kürze Deutsch gelernt haben, sind nun oft dabei, für ihre Eltern auf Ämtern und beim Arzt zu übersetzen und Schreiben in Verwaltungsangelegenheiten zu beantworten.5 Die erste Generation war zunächst nicht darauf aus, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Dieser Wunsch kam erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre wegen der Kinder auf. Viele Eltern rechneten damit, dass sie nicht nach Marokko zurückkehren würden, sie mussten also ihre Kinder durch die deutsche Staatsbürgerschaft schützen. Mit der Zeit bemerkten sie, dass ihnen diese Zugehörigkeit auch Privilegien verschaffte und größtenteils ihre Rechte schützte. Zu den Faktoren, die Marokkaner dazu bewegten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, gehört auch, dass sie zugleich die marokkanische Staatsangehörigkeit behalten konnten. Allerdings 5

Ebd., S. 65.

4. Untersuchungen zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland

wurde Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft in der ersten Generation auch häufig Opportunismus und Undankbarkeit gegenüber ihrer Herkunft vorgehalten.

4.4

Die dritte Generation

Im Unterschied zur ersten und zweiten sind die meisten Marokkaner der dritten Generation in Deutschland geboren und aufgewachsen. Deutsch sprechen sie wie ihre Muttersprache. Was ihr Selbstverständnis betrifft, gleicht es in mancherlei Hinsicht – so in der Frage der Identität – den älteren Generationen.6 Alle drei Generationen haben sich miteinander verwobenen Konflikten zu stellen wie Heirat, Religiosität, Familie und anderen Problemen, die zu Hause, in der Moschee und im öffentlichen Raum auftreten. Der Sozialarbeiter Abdelkader Rafoud nennt eine Reihe von Differenzen, die er bei den Marokkanern in Frankfurt festgestellt hat: •





6 7

Im Gegensatz zur zweiten Generation sind die Eltern heute toleranter gegenüber Frauen und Töchtern, die ausgehen oder gelegentlich spät nach Hause kommen. Die Familien haben inzwischen Verständnis für den Wunsch ihrer Töchter aufgebracht, die Heirat bis zum Ende von Schule und Ausbildung zu verschieben. Aufgrund günstiger Rahmenbedingungen trat das Studium oft an die Stelle von manueller Arbeit, was zu einer Generation von Ärzten, Anwälten, Ingenieuren und Politikern führte.7 Die Jüngeren, Frauen wie Männer, machen einen wichtigen Teil der Marokkaner in Deutschland aus. Mehr als 35 % von ihnen gehören zur Alters-

Rafoud: 50 Jahre marokkanische Migration, S. 65. Ebd., S. 66f.

41

42

Religion und Identität

stufe zwischen 25 und 35 Jahren, gefolgt von der zwischen 35 und 40 Jahren.8

8

Für weitere Informationen siehe: URL: www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Wissenschaft-Publikationen/MLDVollversion.pdf?_blob=publicationFile (letzter Zugriff 20. 6. 2019).

5. Muslime in Deutschland

Laut offiziellen Statistiken aus dem Jahr 2011 leben vier Millionen Muslime in Deutschland. Nach Konfessionen und Strömungen lassen sie sich wie folgt unterteilen:1 Tab. 1: Zugehörigkeiten der Muslime in Deutschland nach religiösen Strömungen Religiöse Strömung

Prozentsatz in Deutschland

Sunniten

72

Schiiten

7

Alawismus

14

Sufismus

0.2

Ibadismus

0.5

Ahmadismus

1.5

Sonstige

5.1

Zwar geht die sichtbare Präsenz von Muslimen in Deutschland als Folge der Arbeitsmigration auf die frühen 1970er Jahre zurück, doch schon zuvor lebten seit den 1920er Jahren Muslime in Deutschland, vor allem in Berlin. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um politische Flüchtlinge.2 Die Identitätsfrage stand ihnen vor Augen, vor allem, 1 2

Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland, im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Nürnberg (BAMF) 2008, S. 99. Bernd Bauknecht: Muslime in Deutschland von 1920 bis 1945, Köln 2001, S. 9.

44

Religion und Identität

wenn sie ihre eigene Kultur mit der für sie neuen deutschen Kultur verglichen. In der Fremde beschäftigt man sich viel mehr mit der Frage der Identität als im eigenen Land. Das betrifft aber nicht nur die eingewanderten Muslime, sondern gleichermaßen auch die einheimischen Deutschen. Gerhard Höpp hat in einem Artikel die Erregung beschrieben, die durch einige Aspekte der Anwesenheit von Muslimen im Berlin der 1920er Jahre ausgelöst wurde, und er fasst dies in folgenden Punkten zusammen: •



3

Die Anwesenheit von Muslimen in Berlin und ihre Aktivitäten haben in der Stadt Ansätze zu einem Geist der Erneuerung und der Reformen ermöglicht. Die Unterstützung des Nationalsozialismus durch Muslime beschränkte sich nur auf bestimmte Personen.3

Ebd., S. 10f.

6. Die religiöse Praxis

6.1

Gebet

Mehr als die Hälfte der in diesem Projekt Befragten hält das Gebet ein, aber nicht unbedingt täglich oder pünktlich. Als Gründe für Auslassungen oder Verschiebungen werden die Arbeit und das Studium angegeben. Nur 10 % beten regelmäßig. Einige beten auch nur freitags oder zu den religiösen Festen. Laut einer vergleichbaren Studie über junge Deutsche, von denen 67 % protestantische Schüler sind, beten diese mindestens einmal pro Woche.1 Der Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen liegt hier hauptsächlich darin, dass Muslime fünfmal am Tag beten, während Nicht-Muslime diese Vorgabe nicht haben. Ein weiterer Unterschied ist das Motiv, das die Betenden in dem Gebet sehen. So beten christliche Schüler oft in schwierigen Situationen, während Muslime oft in Situationen beten, in denen sie sich zufrieden und glücklich fühlen.2 In den letzten Jahren gab es in Deutschland Debatten über das Beten an Schulen und Universitäten. Während einige das als Teil der Religionsfreiheit sehen, betrachten es andere als eine Provokation. Das Gebet bedeutet für viele Hoffnung. Insbesondere drücken Sie damit Gott gegenüber ihre Dankbarkeit aus. Aus soziologischer Sicht ist das Gebet jedoch kein entscheidendes Kriterium, um zu bestimmen,

1 2

Friedrich Schweitzer u.a.: Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht, Münster 2018, S. 91. Ebd., S. 96f.

46

Religion und Identität

Abb. 2: Das Gebet bei Frauen und Männern

inwieweit eine Person religiös ist oder nicht. Viele Menschen praktizieren die Religion nicht, haben aber doch strenge Einstellungen zu Themen wie Dschihad, Homosexualität usw. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass Männer häufiger beten als Frauen (88 % der Männer und 57 % der Frauen). Zugleich ist der Anteil derer, die gar nicht beten, bei Frauen höher als bei Männern (5 % der Männer und 12 % der Frauen). Für die nicht-muslimischen Jugendlichen gilt hier genau das Gegenteil: Frauen sind hier mehr dem Gebet verpflichtet als Männer.3 Was den Bildungsgrad angeht, so haben Jugendliche, die angegeben haben, dass sie nicht beten, häufig Abitur oder einen Universitätsabschluss. Je höher der Bildungsgrad, desto geringer der Prozentsatz des regelmäßigen Betens, und umgekehrt. Bei nicht-muslimischen Studenten und Jugendlichen ist genau das Gegenteil der Fall: Mit abnehmendem Bildungsniveau nimmt der Grad der Beschäftigung mit dem Gebet ab.4

3 4

Ebd., S. 91. Ebd., S. 93.

6. Die religiöse Praxis

Was den Herkunftsort angeht, lassen sich einige Muster erkennen. Zum Beispiel sind die Menschen aus Rabat und Casablanca beständiger als die aus Nador. Deshalb gilt die Vorstellung, dass die Religiosität in großen Städten geringer ist als in kleinen, nicht für die Marokkaner in Deutschland. Selbst in den westlichen Gesellschaften haben das Leben in der Stadt und das vorherrschende Muster der industriellen und technischen Ökonomie die Religiosität dieser Menschen nicht beseitigt.5 Darüber hinaus ist die Form der Religiosität, die in der Stadt auftritt, durch Organisation gekennzeichnet und wird durch bewusste Entscheidungen geführt, da die Mehrheit der Gläubigen dort Ingenieure, Ärzte und andere Arten gebildeter Menschen sind.

Abb. 3: Das Gebet nach Bildungsniveau

In Marokko hat die Zahl der Sympathisanten und Unterstützer der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) im Vergleich zum letzten Jahrzehnt in den Dörfern und Kleinstädten zugenommen. Auch wenn die Anhänger der PJD nicht mit der islamistischen Ideologie verbunden oder eigentlich nicht konservativ sind, bestätigt ihre Wahl einer Partei mit islamischem Bezug, dass sie ihren persönlichen Interessen folgen. Es ist auch ein Indikator für die Bereitschaft 5

Für mehr dazu siehe: Jean-Pierre Sironneau: Sécularisation et Religions Politiques, with a Summary in English, Berlin 1982, S. 147.

47

48

Religion und Identität

der Menschen, sich an politische Akteure mit religiöser Autorität oder an Geistliche zu wenden, die eine politische Agenda haben, wenn es um konkrete Probleme wie Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Schulsystem, Justiz usw. geht.

6.2

Moscheebesuch »Seit ich nach Deutschland gekommen bin, gehe ich regelmäßig in die Moschee und vor allem während Ramadan. Ich bleibe dort nach dem Abendgebet und dem kollektiven Fastenbrechen und mache das Tarawih-Gebet. Es ist eine Gelegenheit andere Menschen kennenzulernen und von der Routine und dem Studium wegzukommen. Ich gestehe, dass ich dabei auch genug Geld spare.« Hamid, Student

Ungefähr 45 % der Befragten, Männer wie Frauen, besuchen die Moschee. Ihr Anteil nähert sich aber manchmal dem Anteil derer an, die das nicht tun. Dennoch liefert die Regelmäßigkeit des Moscheebesuchs kein wahres Bild des Grades der Religiosität. So kann jemand, der nicht in die Moschee geht, religiöser sein als jemand, der regelmäßig in der Moschee betet. Oft ist die Moschee auch ein Ort, an dem die Besucher Geschäfte, Cafés und Restaurants besuchen. Sie ist also nicht nur ein Ort des Betens und Gottesgedenkens, sondern auch ein Treffpunkt sowie ein Raum für Austausch und Freizeit. Die Moscheen sind in Deutschland, wie in Marokko, fast nur Männern vorbehalten, da es fast ausschließlich Männerräume gibt. Mit Ausnahme älterer Frauen, oft schon im Rentenalter, die freitags beten gehen, und junger Mädchen, die häufig am Wochenende Arabischund/oder Religionsunterricht erhalten, sind es meist Männer, die unter der Woche in den Moscheen anwesend sind. Die vorherrschende Meinung unter Muslimen in Deutschland und Marokko, wie auch in anderen arabischen und muslimischen Ländern, ist, dass das Gebet in der Gemeinde in der Moschee für Frauen nicht obligatorisch ist. Zu den Faktoren, die Frauen davon abhalten, die Moschee zu besuchen, zählen aber auch ihre familiären Verpflichtungen, weshalb ihnen

6. Die religiöse Praxis

meist die Zeit fehlt. Dennoch sind junge Frauen häufiger in Moscheen zu finden als junge Männer.

Abb. 4: Moscheebesuch nach Herkunftsstadt

Für den Religionsunterricht spielen die Moscheen keine große Rolle. Das Internet ist heute aus verschiedenen Gründen zu einem der wichtigsten Medien geworden, um mehr über die Religion zu lernen. Das gilt oft auch für das Erlernen der arabischen Sprache, da es dort viele Übersetzungen gibt. Während die Imame in den Moscheen in Deutschland in ihren Predigten meist Arabisch oder Türkisch sprechen, wählen die Salafisten in ihren Predigten im Internet oft die deutsche Sprache. Erfolgreich sind sie damit vor allem bei der dritten Generation von Muslimen, die diese Sprache gut versteht. Mit Blick auf das Verhältnis von Gebet und Bildungsniveau ist klar zu erkennen, dass junge Marokkaner mit einem niedrigen Bildungsniveau häufiger die Moschee besuchen als solche mit einem höheren Niveau. Bei einem Bildungsniveau vom Abitur bis zur Universität wird die Moschee nur gelegentlich besucht. Aus Fes stammende Jugendliche in Deutschland gehen am häufigsten in die Moschee, dicht gefolgt von solchen aus Rabat. Meine Feldforschung hat gezeigt, dass junge Marokkaner, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland sind, unabhängig von der Stadt, aus der

49

50

Religion und Identität

sie stammen, seltener in die Moschee gehen als solche, die schon länger im Lande sind. Dies kann folgende Gründe haben: • •



6.3

Die Arbeitsstelle und das Erlernen der Sprache stehen im Mittelpunkt und haben Priorität bei den jungen Einwanderern. Manche Moscheen sind in den Berichten deutscher Sicherheitsbehörden als Orte genannt, an denen Extremisten Anhänger rekrutieren und versuchen, Neuankömmlinge auszunutzen, insbesondere durch Hilfestellungen bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit. Die Moscheen werden meistens von älteren Menschen geleitet. Sie bestimmen dort die Regeln und haben das Sagen. Deshalb sind die Moscheen für viele junge Menschen wenig attraktiv, im Vergleich zu Cafés, wo sie sich freier bewegen und ausdrücken können.

Fasten im Ramadan

Zu den religiösen Pflichten, die viele Muslime regelmäßig befolgen, gehört das Fasten im Ramadan. Obwohl die meisten andere Gebote wie das Gebet und Verbote wie das des Trinkens von Alkohol nicht achten, fasten sie im Ramadan, auch ohne zu beten. Einige verheimlichen es nicht, wenn sie nicht oder nur manchmal fasten. In deutschen Städten sieht man nur selten junge Marokkaner, die im Ramadan öffentlich essen. Einige unterlassen dies aus Rücksicht auf die Gefühle der Fastenden und andere, um eine Reaktion aus ihrer muslimischen Umgebung zu vermeiden, weil das Nichtfasten als Provokation verstanden wird. In Frankfurt konnte ich beobachten, dass die Tendenz, das Essen in der Öffentlichkeit während des Ramadans zu verteidigen, unter marokkanischen Abiturienten und Studenten präsenter ist als bei Marokkanern auf einem anderen Bildungsstand, insbesondere unter den Jugendlichen mit linker Orientierung und den Anhängern der AmazighKulturbewegung. Die erhobenen Daten zeigen, dass die Fastenraten von Männern und Frauen ähnlich sind; es fasten jedoch 6 % mehr Männer (88 % der

6. Die religiöse Praxis

Abb. 5: Das Fasten im Ramadan im Allgemeinen

Männer und 82 % der Frauen). Nur 5 % der Männer gaben an, dass sie nicht fasten. So wie das Gebet kein entscheidendes Kriterium für den Grad der Religiosität eines Menschen ist, gilt das auch für das Fasten im Ramadan. Das Fasten ist für die meisten jungen Menschen eher eine kulturell motivierte Praxis, die mit der Tradition zu tun hat, als eine wichtige Säule des Islam. Unabhängig von ihrem Bildungsniveau gaben die Befragten im Allgemeinen an, dass sie im Ramadan fasten. Nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen mit Abitur fastet nicht. Obwohl die Befragten mit einem höheren Bildungsniveau seltener regelmäßig beten, fasten sie im Ramadan. Dieses Phänomen ist in allen muslimischen Gemeinschaften, auch in der Diaspora, weit verbreitet. Mit Ausnahme der Jugendlichen aus Nador fasten fast alle der Befragten. Nur rund 5 % gaben an, dass sie nicht fasten. Die Befragten aus Rabat und Fes sind dem Fasten am meisten verpflichtet. Eines der Kriterien, an dem sich Muslime orientieren, um zu beurteilen, wie fromm jemand ist, ist das Fasten außerhalb des Ramadans. Bei dieser Studie antworteten etwa 45 % der Befragten, dass sie auch an anderen Tagen

51

52

Religion und Identität

Abb. 6: Das Fasten im Ramadan unter Frauen und Männern

außerhalb des Ramadans regelmäßig fasten. 20 % von den Befragten fasten regelmäßig. Generell ist die Zahl derer, die außerhalb des Ramadans fasten, höher als derer, die es nicht tun. Frauen fasten außerhalb von Ramadans häufiger als Männer (55 % der Frauen und 24 % der Männer). Entsprechend ist der Prozentsatz derjenigen, die dies nicht machen, bei Männern höher als bei Frauen (37 % der Männer und 22 % der Frauen). Je höher das Bildungsniveau desto seltener das Fasten außerhalb des Ramadans. Diejenigen mit einem höheren Bildungsniveau besitzen ein sogenanntes »symbolisches Kapital«.6 Dagegen versuchen jene mit einem niedrigen Bildungsniveau, durch das Verrichten zusätzlicher religiöser Gebote zu zeigen, dass sie mehr Ausdauer, Geduld und Engagement in der Religion haben. Mehr als die Hälfte der Befragten aus Fes und Rabat gaben an, außerhalb des Ramadans zu fasten. Das heißt, dass die jungen Muslime aus kleineren Städten weniger für ihre Religion tun als die aus größeren Städten.

6

Pierre Bourdieu: Choses dites, Paris 1987, S. 160.

6. Die religiöse Praxis

6.4

Tarāwīh-Gebete »Leider mache ich aus mehreren Gründen kein Tarawih-Gebet. Vor allem, weil ich weit weg von der Moschee wohne. Ich bin meistens müde nach der Arbeit und den 18-Fasten-Stunden und kann nach dem Fastenbrechen nicht mehr rausgehen. Ich mache das Nachtgebet und gehe schlafen.« Younes, Funktionär

Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen und der Entfernung der Moschee besuchen 60 % der Befragten die Tarāwīḥ-Gebete im Ramadan, obwohl diese spät am Abend stattfinden. Viele beten nur während des Ramadans und betrachten den Monat als Anregung, um sich von den Sünden zu reinigen. Es ist zu beobachten, dass sich das Fasten von seiner religiösen Bedeutung immer mehr entfernt. Der Ramadan dient nun zu viel mehr als nur dem Fasten an sich. Er dient eher der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Nach dem Gebet gehen viele noch in ein Café oder zum Kartenspielen. Die Männer gehen häufiger zum Tarāwīḥ-Gebet in die Moschee als die Frauen (67 % der Männer und 58 % der Frauen). Und der Prozentsatz derjenigen, die das Tarāwīḥ-Gebet gar nicht verrichten, ist bei den Frauen höher als bei den Männern (6 % der Männer und 15 % der Frauen). Die Mehrheit der Befragten verrichtet die Tarāwīḥ-Gebete, und das unabhängig von ihrem Bildungsgrad. Das liegt daran, dass die meisten Befragten im Ramadan fasten. An der Spitze der Teilnahme an diesen Gebeten steht die Gruppe, die über den niedrigsten Bildungsstand verfügt, gefolgt von Hochschulabsolventen und Grundschulabsolventen.

6.5

Memorieren des Korans

Mit dem Auswendiglernen des Korans ist nicht unbedingt gemeint, ihn vollständig auswendig zu lernen, sondern nur einige wichtige Suren, wie dies an den Koranschulen und den öffentlichen Schulen in Marokko und anderen islamischen Ländern praktiziert wird. Anders als

53

54

Religion und Identität

in Marokko, wo die Schüler religiöse Texte auswendig lernen müssen, machen das die meisten Marokkaner in Deutschland und anderen Ländern der Diaspora aus eigener Initiative. Die Eltern sind oft daran interessiert, dass die Kinder einige Suren auswendig lernen, um das Gebet verrichten zu können. Die Umfrage zeigt, dass 70 % der marokkanischen Jugendlichen in Frankfurt eine größere Zahl von Suren auswendig gelernt haben. Bei den Geschlechtern zeigt sich eine Annäherung des Prozentsatzes des Auswendiglernens des Korans (76 % der Männer und 72 % der Frauen). Nur 13 % der Männer und Frauen gaben an, keine Suren auswendig gelernt zu haben. Das liegt oft nicht am fehlenden Willen, sondern an mangelnden Arabischkenntnissen, des Weiteren besuchen sie keine Moscheen oder Schulen, die Arabisch- und/oder Koranunterricht anbieten. Einige versuchen aber trotzdem, den Koran auf Basis der lateinischen Schrift auswendig zu lernen oder ihn im Internet zu hören. Bemerkenswert ist, dass viele derer, die keinen Schulabschluss haben, dennoch einen Teil des Korans auswendig gelernt haben. Das geschieht oft durch aktives Zuhören in der Moschee. 40 % der Befragten gaben jedoch an, dies nicht gemacht zu haben.

Abb. 7: Auswendiglernen des Korans

6. Die religiöse Praxis

Abb. 8: Auswendiglernen des Korans bei Frauen und Männern

Im Allgemeinen haben 60 % der Befragten Suren auswendig gelernt, unabhängig vom Grad der Bildung. Alle Befragten aus Rabat und Fes konnten einen Großteil des Korans zu 100 % auswendig, gefolgt von den Menschen aus Nador, wo es 90 % waren. Bei Marokkanern aus den anderen Städten sind es 50 %, die den Koran größtenteils auswendig können. Wie beim Beten und Fasten ist auch das Auswendiglernen des Korans kein Kriterium, um zu beurteilen, ob jemand besonders konservativ oder religiös ist. In Frankfurt konnte ich beobachten, dass viele strenge Salafisten weniger Teile des Korans auswendig gelernt haben als andere junge Muslime, die als moderat oder nicht-religiös bezeichnet werden können. Der Koran und seine Interpretation sowie die Aussprüche des Propheten Muhammad haben einen großen Einfluss auf die religiöse Orientierung und die Einstellung.

55

56

Religion und Identität

Abb. 9: Auswendiglernen des Korans nach Bildungsniveau

6.6

Quellen des religiösen Wissens »Mein Vater schickte meine Brüder jedes Wochenende in die Moschee, um die Lehre des Korans und die arabische Sprache zu lernen. Ich verbrachte meistens diese Zeit zuhause und half meiner Mutter im Haushalt. Damals wollte ich weder die Sprache noch das Gebet lernen. Während meiner Adoleszenz begann ich zu bedauern, dass ich den Islam und das Gebet verkannt habe. Ich habe eine Version des Korans in lateinischer Schrift gekauft und angefangen ein paar Suren zu lernen. Aber ich habe es nicht geschafft, die arabische Sprache zu lernen, weil ich Berber bin und die arabische Sprache mir zu schwer ist. Deshalb konzentriere ich mich aufs Auswendiglernen.« Nadia, Erzieherin

Die erste und wichtigste Quelle des religiösen Wissens ist der Imam mit 37 %. Viele Familien achten darauf, ihre Kinder so früh wie möglich in die nahe gelegenen Moscheen zu schicken. Andere nutzen die Sommerferien dazu, ihre Kinder in Koranschulen in Marokko gehen zu lassen. Daneben spielen die Eltern eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des religiösen Wissens mit rund 34 %. Medien wie das Internet

6. Die religiöse Praxis

spielen bei der untersuchten Stichprobe keine große Rolle. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Befragten die klassischen Quellen bevorzugen oder zu diesen greifen, weil sie keine Alternativen haben oder es ihnen von den Eltern so vorgegeben wird. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Debatte über den Islam häufiger im privaten und nicht im öffentlichen Raum stattfindet. Zu Letzterem zähle ich auch die muslimischen Vereine und die Moscheen, die meist geschlossene Gesellschaften bleiben. Öffentliche Orte, an denen über den Islam gesprochen wird, sind z.B. Universitäten, Konferenzen und politische Salons. Allerdings sind diese Orte meist nicht für jedermann zugänglich.

Abb. 10: Quellen des religiösen Wissens im Allgemeinen

Während bei den Befragten mit niedrigem Bildungsniveau die Eltern zu 100 % die einzige Quelle des religiösen Wissens sind, haben die mit einem höheren Bildungsniveau meist noch weitere Zugangswege zum Wissen. Bei den Jugendlichen mit Abitur ist das Internet eine der wichtigsten Quellen für religiöses Wissen. Der Imam ist die Hauptquelle für die Personen aus Nador und Rabat, gefolgt von den Eltern. Bei Menschen

57

58

Religion und Identität

Abb. 11: Quellen des religiösen Wissens bei Frauen und Männern

aus anderen Städten gibt es eine Vielzahl von Quellen: Bei denen aus Fes beispielsweise macht das Internet mehr als 20 % aus.

6.7

Anwendung der Scharia

Mit der Anwendung der Scharia, also des islamischen Rechts, ist gemeint, dass das Leben nach den religiösen Vorschriften strukturiert wird, darunter: das Einhalten der Gebote und Verbote, des Gebets, des Fastens, des islamischen Schlachtens und der Vermeidung von Zinsen (ribā). Rund 44 % der Befragten glauben, dass sie das islamische Recht in ihrem Leben anwenden, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben. Weil in Deutschland die Religionsfreiheit garantiert ist, gibt es dort keinerlei Konsequenzen, wenn man den Geboten nicht folgt. Mit der Zeit hat sich die deutsche Gesellschaft an manche der islamischen Sitten gewöhnt. Einige werden respektiert und andere infrage gestellt. Den Umfragen zufolge ist die Rate für die Anwendung der

6. Die religiöse Praxis

Scharia im Alltag bei den Frauen etwas höher als bei den Männern. Die Hälfte der Befragten ohne mittleres oder hohes Bildungsniveau antwortete mit Nein, die andere Hälfte mit Ja. Der Anteil der Anwendung ist unter jungen Menschen, die von außerhalb der kleineren Städte kommen, niedriger. Über 50 % aus Rabat, Nador und Fes geben an, dass sie die Scharia in ihrem täglichen Leben anwenden. Während der Feldstudie ergaben Fälle, dass manche entweder das Gefühl haben, nach der Scharia zu leben, oder dass sie ein eigenes Verständnis für die Anwendung der Scharia haben. So gibt es Leute, die Bankleistungen in Anspruch genommen haben oder nehmen wollen oder im Ramadan aufgrund der Länge des Sommertages nach einer bestimmten Anzahl von Stunden das Fasten abrechen, also nicht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten. Der Islam als Theorie und als Praxis sind voneinander zu trennen, weil das religiöse Verhalten nicht immer den tatsächlichen Vorschriften folgt. Man kann sagen, dass die Praxis mehr und mehr eine Art gesellschaftliche und kulturelle Tradition ist, die auch religiöse und politische Dimensionen hat.

6.8

Der politische Islam »Die islamischen Bewegungen in Deutschland profitieren von der Demokratie, um andere externe politische Ziele erreichen zu können.« Hicham, Pharmazeut   »Der Islam ist die Religion der Geborgenheit und des Friedens. Jedoch muss jeder Muslim den Islam verteidigen«. Miriam, Studentin   »Muslimische Länder werden von den Gegnern des Islams geraubt. Aus diesem Grund haben die Bewaffneten islamischen Organisationen das Recht darauf, gegen diese Regime zu kämpfen.« Zineb, Frisörin

Muslime, die in den Westen migriert sind, haben viele ihrer Sitten und Kulturen, aber auch die klassische Problematik von Religion/Islam und

59

60

Religion und Identität

Politik/Staat in der islamischen Welt mit in die Diaspora getragen. Nach Napoleons Expedition nach Ägypten (1798), während der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit der islamischen Länder (Mitte des 20. Jahrhunderts), die unter westlicher Besatzung standen, wurde die berühmte Frage von den muslimischen Reformern, Theologen, Politikern usw. gestellt: Warum hat sich der Westen in allen Bereichen stark entwickelt und die Muslime sind zurückgeblieben? Warum sind die muslimischen Staaten schwach geworden und warum herrscht bei ihnen Unordnung? Mit welchen Mitteln können die Muslime der Armut und der Ungerechtigkeit entkommen, um mehr Demokratie und mehr Wohlfahrtsstaat zu schaffen? Nach der Unabhängigkeit der islamischen Länder tauchten zwei wichtige Stimmen auf, die die politische und kulturelle Bühne beherrschten. Die erste Stimme ist der Meinung, dass die Muslime vom Westen lernen sollen, um sich entwickeln zu können. Die zweite Stimme ist der Meinung, dass die Rückschrittlichkeit der Muslime eine logische Konsequenz aus der Entfernung vom Kern des Islam ist und die Lösung daher aus einer kompletten Rückkehr zu den Lehren des Propheten Muhammad und zum Goldenen Zeitalter des Islam bestehen muss. Eine Trennung von Staat und Religion ist im konservativen Islam unmöglich, weil der Islam nach diesem Verständnis Religion und Staat (dīn wa-dawla) zugleich ist. Alle Versuche, diese zwei zu trennen, trifft auf scharfe Kritik von Seiten der Islamisten. Das berühmteste Beispiel für einen Versuch der Trennung ist ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq (1888–1966). In seinem Buch Der Islam und die Grundlagen des Regierens: Studie über das Kalifat und das Regieren im Islam lehnt er das System des Kalifats ab und erklärt, dass der Koran und die Prophetentradition keine festen Prinzipien liefern, um einen Staat zu führen. Religion und Politik waren in Marokko immer miteinander verbunden. Seit Jahrhunderten ist die Mālikiyya die offizielle Rechtsschule des Landes, die im Vergleich zur hanafitischen und zur hanbalitischen Schule moderat eingestellt ist. In Marokko hat sich der Islamismus in seiner heutigen Gestalt erst Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre etabliert. Als er Ende der 1970er Jahre erstarkte, zeigt sich

6. Die religiöse Praxis

auch die Resonanz der Islamischen Revolution in Iran von 1979. Diese hatte den Willen der marokkanischen Islamisten verstärkt. Das gilt vor allem für ʿAbd as-Salām Yāsīn, der in seinem Buch L’islam à l’heure de la révolution (1980) dafür plädierte, die Monarchie abzuschaffen und eine islamische Republik zu gründen. Seit den 1970er Jahren bedient sich die politische Opposition im Maghreb zunehmend islamischer Rhetorik, die die Legitimation der Staatsführung infrage stellt. Eine Islamisierung des öffentlichen Lebens soll demnach die mannigfaltigen nationalen Probleme lösen.7 Während einige junge Marokkaner in Frankfurt Religion und Politik für unteilbar halten (10 %), sehen sie andere als unvereinbar an (etwa 9 %). Ein weiterer Prozentsatz der Befragten bestreitet die Existenz eines politischen Islam oder einer auf dem Islam basierenden politischen Praxis (etwa 5 %). Der größte Teil der Befragten hat keine Antwort auf diese Frage gegeben, was bedeuten könnte, dass sie den Islam und Politik für zu einander passend halten. Das würde heißen, dass der Islam die Politik bedient und umgekehrt. Aus der Sicht von vielen Befragten muss die Politik in den islamischen Ländern und in der Diaspora die religiösen Grundlagen respektieren und sie zum Ausgangspunkt für die Ordnung im öffentlichen Raum machen. Während etwa 6 % der Männer sagen, dass Islam und Politik homogen sind, sehen dies Frauen häufiger (14 %). Je niedriger das Bildungsniveau, desto eher ist die Antwort auf die Frage »keine Ahnung«. Das kann ein Zeichen der Unsicherheit sein oder Ausdruck eines Mangels an Wissen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Der politische Islam ist in der islamischen Welt und auch im Westen überwiegend unter gebildeten Klassen wie Hochschulabsolventen entstanden. Während die Mehrheit der Salafisten ihre Aktivitäten auf Gebiete außerhalb der politischen Bühne beschränken und vorwiegend die Muslime im Westen dazu aufrufen, sich an die religiösen Lehren zu 7

Für mehr dazu siehe Mohammed Khallouk: Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas: Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden 2008.

61

62

Religion und Identität

halten, nehmen die Befürworter des politischen Islam im Westen wie die Anhänger der Muslimbruderschaft einen politischen Diskurs auf. Ihre politische Haltung war früher gegenüber den ersten Heimatländern (Marokko, Ägypten, Algerien usw.) kritisch formuliert, aber mit der Zeit zunehmend auch gegenüber den europäischen Ländern, wo sie leben, um ihre Existenz abzusichern. Es kommt dazu, dass die Islamisten im Westen sich als Verteidiger des Islam und der Muslime verstehen und es ihr Ziel ist, den Islam als Teil der westlichen Kulturen und Identitäten zu etablieren.8 Was die Anhänger des politischen Islam marokkanischer Herkunft in Deutschland betrifft, so gehören die meisten entweder der Vereinigung für Gerechtigkeit und Wohltätigkeit oder der Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) an. Während die Anhänger beider Gruppen ihre Arbeit und Botschaften nach Marokko richten und die in Deutschland lebenden Marokkaner dafür mobilisieren, konzentrieren sich die Mystiker und die Salafisten mehr auf die Muslime in Deutschland. Mitglieder der PJD in Deutschland beteiligen sich an den politischen Debatten in Marokko, insbesondere über ihre Vereine und die sozialen Medien. Die Mehrheit von ihnen kann innerhalb der Partei als konservativ und in ihren politischen Positionen radikaler eingestuft werden als die Mitglieder derselben Partei in Marokko.

6.9

Almosengabe  »Wem ich meine Almosenspende gebe, ist von einem Jahr zum anderen unterschiedlich. Da meine Familien in Marokko und in Deutschland nicht bedürftig sind, schicke ich das Almosen an Hilfsorganisationen, die in ein paar armen islamischen Ländern aktiv sind, wie z.B. in Somalia. Die Leute dort sind bedürftiger meiner Meinung nach.« Samira, Hausfrau

8

Tarek Ramadan ist dafür ein Beispiel.

6. Die religiöse Praxis

  »Meine Familie und Bekannten, die aus dem gleichen Dorf sind wie ich, sammeln jedes Jahr Spenden und schicken sie an die Dorfbewohner, die der Hilfe bedürftig sind, wie die Waisen usw. Dort wird das Geld aufgeteilt.« Mohamed, Ingenieur   Unser Verein unterstützt während des ganzen Jahres die Dorfbewohner im Atlasgebirge, vor allem in der Region von Saden und deren Umgebung. Wir haben unsere Dörfer verlassen, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern. Neben dem gesammelten Almosengeld helfen wir den Dörflern, indem wir sie auch pflegen und behandeln, Medikamente und Winterausrüstung für sie kaufen.« El Houssin, Vereinsvorsitzender Die zakāt al-fiṭr ist eine auferlegte Almosengabe, durch die das Fasten im Ramadan vollkommen wird, wie in einer Reihe von Hadithen angegeben ist. Nur etwa 12 % der Befragten gaben an, sie nicht zu bezahlen, während etwa 4 % sie nur manchmal bezahlen. Die Studie hat gezeigt, dass die Imame von Moscheen die Menschen im Ramadan daran erinnern, die zakāt al-fiṭr zu zahlen, weil das Fasten sonst »nicht vollständig« ist. Moscheen bieten die Möglichkeit, die zakāt al-fiṭr in bar zu bezahlen (5-7 Euro pro Person). Je häufiger jemand in der Moschee betet, desto bewusster ist ihm die Bedeutung der zakāt al-fiṭr am Ende des Ramadans und desto beharrlicher wird sie bezahlt. Die Daten zeigen, dass die Zahlung der zakāt al-fiṭr bei beiden Geschlechtern ungefähr gleich häufig ist. So bejahten das bei den Männern 76 % der Befragten, und 17 % verneinten es. Bei den Frauen sagten 72 % Ja und 10 % Nein, während 13 % keine Angaben machten. Unabhängig vom Bildungsniveau zahlen die meisten Befragten zakāt. Mit zakāt ist in erster Linie zakāt al-fiṭr am Ende des Ramadans gemeint. An der Spitze stehen mit 100 % jene, die Analphabeten sind, und unmittelbar danach die Hochschulabsolventen. Jene, die keine zakāt al-fiṭr zahlen, fasten auch nicht und fühlen sich daher nicht verpflichtet zu zahlen, oder die Eltern tun dies an ihrer Stelle. Im

63

64

Religion und Identität

Allgemeinen ist es die Mehrheit der Menschen aus Rabat, Nador und Fes, die sich verpflichten, zakāt zu zahlen. Die Befragten aus Rabat stehen mit 100 % an der Spitze jener, die zakāt al-fiṭr zahlen. Nur wenige der Befragten aus Nador (etwa 5 %) gaben an, dass sie nicht zahlen. Die Befragten aus Fes stehen an der Spitze derjenigen, die keine zakāt zahlen, mit etwa 20 %. Obwohl Moscheen und islamische Vereinigungen in Deutschland, wie auch im Falle anderer europäischer Länder, es islamischen Gemeinschaften erlauben, dass die zakāt in der Moschee bezahlt oder an diese Vereinigungen und Institutionen überwiesen wird, zahlt etwa die Hälfte der Befragten zuerst an Familienmitglieder, dann an wohltätige Einrichtungen oder Moscheen, und zwar zu etwa 22 %. Während der Untersuchung war zu beobachten, dass sich Menschen aus derselben Region oder derselben Familie manchmal beim Sammeln und Übersenden von zakāt al-fiṭr an eine bestimmte Person oder Familie in Marokko abstimmen. Manche zahlen dagegen lieber an Bedürftige in Deutschland. Die Studie zeigt die Verteilung der Begünstigten von zakāt al-fiṭr nach Geschlecht. Bei beiden Geschlechtern profitiert am meisten die Familie. Zum Beispiel spenden Männer zuerst an die Familie (52 %), dann an Arme (29 %) und dann an einige Institutionen (11 %). Bei den Frauen macht die Familie 41 % aus, während die Institutionen mit 27 % folgen und die Armen mit 14 % auf dem letzten Rang stehen. In den meisten Fällen sind die Begünstigten von zakāt al-fiṭr die Familie, und die Vielfalt der Zielinstitutionen nimmt mit zunehmendem Bildungsgrad zu. Einige senden Geld an Vereine in Marokko oder in Deutschland oder an wohltätige und soziale Organisationen. Während junge Leute aus Fes und Nador über 50 % ihrer zakāt al-fiṭr an ihre Familien geben, tun das die Bewohner von Rabat an die Armen und an Institutionen. Einer der Gründe dafür ist, dass die Menschen in Fes und Nador Nachbarschaften und/oder Dörfern angehören, deren Bewohner miteinander verwandt sind. Für sie hat die Unterstützung der Angehörigen oberste Priorität. Diese Unterstützung ist nicht auf die zakāt alfiṭr nach dem Ramadan beschränkt, sondern wird das ganze Jahr über gegeben.

6. Die religiöse Praxis

Die vorherrschende Ansicht in Bezug auf Zinsen (ribā) ist, dass sie verboten (ḥarām) sind. Aber unter den Menschen aus Fes, Nador und anderen Städten gibt es Leute, die sie zu mehr als 20 % für erlaubt (ḥalāl) halten. Der höchste Prozentsatz an Befragten, die sie für verboten halten, findet sich unter denen aus Rabat mit 65 % und aus Nador mit 60 %. Viele muslimische Juristen haben Zinsen verboten.

Abb. 12: Meinung über Zinsen

Der Islam verbietet den ribā, weil er nicht auf dem Prinzip der Gewinn- und Verlustbeteiligung beruht. In der Umfrage gaben 45 % der Befragten an, dass Zinsen für sie verboten (ḥarām) sind, verglichen mit 10 %, die sie für erlaubt (ḥalāl) halten. 7 % nahmen keine Position ein, und 34 % gaben keine Antwort, vielleicht, weil sie privat von Zinsen profitieren und das aus Verlegenheit nicht sagen wollten. In der letzten Zeit sind in der Diaspora einige Fatwas für Muslime aufgetaucht, von denen manche den Vorteil von Bankvorteilen zu nutzen erlauben, wenn man keine Alternative findet, zum Beispiel beim Kauf einer Wohnung oder eines Autos. Frauen bewerten Zinsen im Vergleich zu Männern eher als verboten (48 % der Frauen, 41 % der Männer). Ein großer Teil beider Geschlechter gab nicht an, ob Bankzinsen

65

66

Religion und Identität

Abb. 13: Meinung über Bankzinsen unter Frauen und Männern

für sie ḥalāl oder ḥarām sind (31 % der Frauen, 41 % der Männer). Das Thema wird oft unter Ehepartnern diskutiert, die ein Eigenheim in Deutschland oder Marokko kaufen möchten. Im Gegensatz zum Fasten außerhalb des Ramadans und zum regelmäßigen Beten scheinen junge Menschen, die nicht über ein Mindestbildungsniveau wie zum Beispiel die Grundschule verfügen, in Bezug auf die Bankleistungen sanfter zu sein als andere. Unter denjenigen mit Universitätsabschluss sehen nur 18 % Zinsen als verboten an. Personen auf Universitätsniveau versuchen oft, eine Wohnung oder ein Auto zu kaufen, die ihrem sozialen Niveau entsprechen, ohne in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Mit dem Thema Bankkredite gehen sie häufig pragmatisch um, ohne religiöse Bedenken. Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau üben oft schlecht bezahlte Berufe aus. Wenn sie beispielsweise ein Auto, ein Mobiltelefon oder einen Computer kaufen möchten und ihr Gehalt nicht ausreicht, um den Preis zu zahlen, greifen sie zurück auf die Finanzierung mit Krediten.

6. Die religiöse Praxis

»Ich sehe keinen Grund, bei der Bank einen Kredit aufzunehmen oder Geld anzulegen, um Zinsen zu bekommen. Ehrlich gesagt, ich verzichte auf die Zinsen, die durch irgendeine Bankangelegenheit entstehen. Das ist Haram und ich möchte auch nicht, dass diese Zinsen ein Grund für meine Seelenqual werden. Die Zinsen bringen sowieso keinen Segen.« Mohammed, Busfahrer (Rabat)   »Ich weiß nicht, ob die Zinsen Haram sind oder nicht. Manche sagen mir, dass sie Haram sind, weil sie gegen die Scharia verstoßen, und manche sagen mir, dass wir in einem nichtmuslimischen Land leben und daher sind die Zinsen erlaubt. Hierzu habe ich bislang keine endgültige Entscheidung getroffen. Manchmal profitiere ich von den Zinsen ohne zu wissen, ob es gut ist oder nicht.« Abdelkarim, Koch (Nador)

6.10

Pilgerfahrt

Wie viele Muslime weltweit hoffen auch viele junge Muslime in Deutschland, in ihrem Leben die Pilgerfahrt zu vollziehen. Dieses Ritual wird oft mit dem Ruhestand und dem Lebensabend verbunden, um sich in Vorbereitung auf den Tod von seinen Sünden zu reinigen. Darüber hinaus hat der Titel »Pilger« einen gesellschaftlichen Wert, den viele suchen. Von den Befragten gaben etwa 9 % an, dass sie die Pilgerfahrt nicht vollziehen wollen. Zu dieser Gruppe gehören junge Menschen, die keine anderen obligatorischen Pflichten wie Gebet und Fasten ausüben und eher eine Art kulturellen Islam praktizieren, keinen religiösen. Eine andere Gruppe besteht aus Menschen, die zwar den Rest der obligatorischen Pflichten ausüben, aber die Pilgerfahrt für einen verzichtbaren Luxus halten. Generell beabsichtigen drei Viertel von beiden Geschlechtern, die Pilgerfahrt zu vollziehen (76 % der Männer und 75 % der Frauen). Ein kleiner Prozentsatz machte keine Angaben (10 % der Männer und 7 % der Frauen).

67

68

Religion und Identität

Für viele junge Leute ist die Pilgerfahrt zu einem Wettbewerbsfeld geworden. Das Thema ist heute nicht länger auf die Kategorie pensionierter Senioren beschränkt, die die Pilgerfahrt als Ausgangspunkt für die Vorbereitung auf den Tod betrachten. Die Studie zeigt, dass der Wunsch, die Pilgerfahrt zu vollziehen, umso größer ist, je niedriger das Bildungsniveau ist. Die Stichprobe der Befragten ohne Schulabschluss drückte zu 100 % aus, dass sie die Pilgerfahrt vollziehen möchte. Der niedrigste Prozentsatz wurde hier bei Hochschulabsolventen verzeichnet. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für den Wunsch, den Hadsch durchzuführen: Die erste ist religiös und die zweite gesellschaftlich und kulturell. Das religiöse Motiv ist der Wunsch, die fünf Säulen des Islam zu vervollständigen. Die Pilgerreise dient dazu, wenn es finanziell möglich ist, die Seele von ihren Sünden zu reinigen und eine neue Geburt zu erreichen. Die soziale und kulturelle Motivation unter muslimischen Einwanderern ist an die Pensionierungszeit gebunden. Man zeigt damit gegenüber seiner Umwelt seine Bereitschaft, die Reise des Lebens zu beenden und sich auf die Abreise vorzubereiten. Darüber hinaus hat der Titel »Pilger« in den muslimischen Gemeinden Wert und verleiht dem Träger einen besonderen Status. Viele junge Menschen mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau hoffen, dass sie es eines Tages schaffen, diesen Titel zu erlangen. Alle Befragten äußerten den Wunsch, die Pilgerfahrt zu vollziehen, insbesondere diejenigen, die aus Rabat und Nador stammen.

6.11

Ehen mit Nicht-Muslimen

Der Islam erlaubt die Ehe mit Nicht-Muslimen nur in bestimmten Fällen: Ein muslimischer Mann kann eine nicht-muslimische Frau heiraten, solange sie keine Atheistin ist. Umgekehrt kann eine muslimische Frau generell keinen nicht-muslimischen Mann heiraten. Dennoch hat die Zahl der muslimischen Frauen, die Nicht-Muslime heiraten, zugenommen. Einige Ehen haben die Unterstützung der muslimischen Familie, besonders wenn der Ehemann im Zuge der Heirat das Glaubens-

6. Die religiöse Praxis

bekenntnis ausspricht, um real oder auf dem Papier Muslim zu werden. Dieser Weg wird oft gewählt, um Kritik aus dem Umfeld der Frau zu vermeiden, sei es seitens der Familie oder anderer Muslime, insbesondere aus demselben Herkunftsland. Andere greifen auf die Zivilehe zurück, ohne nach religiöser Legitimität zu suchen. In der Umfrage haben etwa 26 % der Befragten keine Einwände gegen die Heirat zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen; 35 % sagten, das sei ihnen egal. Zu dieser Antwort können viele Erklärungen abgegeben werden, solange sie nicht in direktem Zusammenhang mit der Person steht, wie zum Beispiel die Ehe seiner Schwester oder Tochter, man zeigt Gleichgültigkeit oder akzeptiert oder respektiert zumindest die Entscheidungen anderer. Ein großer Teil der Befragten bestätigte, dass sie einer Ehe zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen gleichgültig gegenüberstehen. Ein Teil der Männer (29 %) befürwortet diese Art der Ehe sogar (bei Frauen nur 23 %). Viele ändern hierzu mit der Zeit aber auch ihre Einstellung. Fehlgeschlagene oder erfolgreiche Beispiele für Mischehen werden häufig herangezogen, um das Thema allgemein zu beurteilen. Obwohl junge Menschen ohne Schulabschluss häufig dem Beten und Fasten verpflichtet sind, sind sie in vielen Fällen flexibel, beispielsweise in Bezug auf die Heirat von Muslimen mit Nicht-Muslimen. Die höchste Ablehnungsrate für diese Art der Ehe wurde bei Hochschulabsolventen verzeichnet, gefolgt von Abiturienten.

6.12

Homosexualität

Während die deutschen Gesetze Homosexualität nicht unter Strafe stellen und homosexuelle Ehen anerkennen, regt das Thema unter Muslimen weiterhin viele Debatten an und teilt sie in einige wenige, die Homosexualität verteidigen, und eine Mehrheit, die sie verurteilen. Von den Befragten äußerte die Mehrheit Respekt vor Homosexuellen (rund 28 %). Aber Homosexuelle zu respektieren, bedeutet auch, die sexuelle Orientierung des Einzelnen zu respektieren, obwohl man möglicherweise dagegen ist.

69

70

Religion und Identität

Rund 24 % der Befragten sprachen sich nicht gegen Homosexualität aus, 17 % mochten sie nicht, und 4 % bezeichneten Homosexuelle als krank, während 26 % keine Antwort gaben. Während der Feldforschung habe ich einige Homosexuelle marokkanischer Herkunft getroffen, die ihr Leben abseits ihrer Familien und der marokkanischen Gemeinde in Frankfurt im Verborgenen leben. Eine Ausnahme ist ein junger marokkanischer Arzt, der sagt, dass viele seiner Landsleute sein persönliches Leben und seine Homosexualität respektieren, weil er ihnen gute medizinische Versorgung biete und sie gut behandele. In Bezug auf Homosexualität gehen die Meinungen auseinander. Bei den Männern werden Homosexuelle zu 29 % respektiert, 17 % hassen sie, 12 % geben an, dass sie krank seien, 6 % sprechen sich nicht gegen sie aus, und 35 % äußerten sich nicht dazu. Bei den Frauen werden sie zu 34 % respektiert, nicht dagegen sind 27 %, und 17 % hassen sie, während 20 % keine Meinung äußerten.

Abb. 14: Meinungen über Homosexualität bei Frauen und Männern

Jugendliche mit niedrigem Bildungsgrad erklären oft, dass sie Homosexualität respektieren und dass sie nicht dagegen sind. Für andere Gruppen variieren die Antworten zwischen Einstellungen ge-

6. Die religiöse Praxis

Abb. 15: Meinungen über Homosexualität nach Bildungsniveau

gen Homosexualität, Respekt und Ablehnung. Selbst die Befragten mit Universitätsabschluss sind zu 32 % gegen Homosexuelle. Nur 17 % der Hochschulabsolventen respektieren sie. Je höher das Bildungsniveau, desto größer ist die Ablehnung von Homosexualität Die Meinungen der Befragten aus Rabat variieren zwischen Respekt und Hass gegen Homosexuelle. 25 % der Befragten aus Fes sehen sie als krank an, und mehr als 35 % aus den anderen Städten berichten von Hass. Man kann sagen, dass viele junge Menschen, unabhängig von Herkunft, Bildung und Geschlecht, Homosexualität zwar theoretisch akzeptieren, in ihrer eigenen Familie Homosexuelle aber nicht tolerieren.

6.13

Meinung über militante Gruppen

In vielen muslimischen Ländern sind extremistische islamistische Gruppen entstanden, die zu Gewalt greifen, um ihre Ziele zu erreichen. Zu diesen Gruppen zählt der Salafi-Dschihadismus, der

71

72

Religion und Identität

versucht, die Regime in den muslimischen Ländern zu ändern oder einige westliche Länder aus verschiedenen Gründen zu bekämpfen. Die Mehrheit der befragten Frauen hält internationalen Dschihadismus für falsch (55 % der Frauen und 29 % der Männer). Während Männer, die dies in dieser Befragung ausdrücklich befürworten, abwesend sind, halten 10 % extremistische Dschihadistengruppen für richtig. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen besteht hier darin, dass Frauen ihre Positionen oft mutiger ausdrücken. Während der direkten Inspektion verbindet die Mehrheit der Frauen ihre Unterstützung bewaffneter islamischer Bewegungen in der Welt mit der Frage der Verteidigung des Islam und der Muslime sowie der Ablehnung von Ungerechtigkeit und Aggression gegen Muslime. Dies ist nicht auf Nicht-Muslime beschränkt, aber in den Augen vieler haben sich die Regime in den muslimischen Ländern zu weit von der Religion entfernt. Ein großer Teil der Befragten gab hier aber keine Auskunft oder gab an, unentschieden zu sein. Der höchste Prozentsatz derjenigen, die sich nicht festlegten, befand sich unter denen mit Universitätsabschluss. Befragte mit Grundschulabschluss und Abiturienten gaben eindeutig an, dass 20 % bzw. etwa 12 % der Befragten Recht haben. Alle Befragten, mit Ausnahme einer aus Nador stammenden Minderheit, lehnten bewaffnete Organisationen ab. 25 % beantworteten diese Frage nicht. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien sympathisieren viele junge Menschen mit bewaffneten und islamistischen Bewegungen, die gegen das syrische Regime kämpfen. Die libanesische Ḥizbullāh und die palästinensische Ḥamās haben auch das Mitgefühl von vielen marokkanischen Jugendlichen in Deutschland.

6.14

Der Islam als Lösung für die Probleme der Muslime und der Welt

»Das Ziel unserer Schöpfung ist die Gottesverehrung und Islam ist die wahre Religion, deswegen findet man darin seine innere Ruhe, Befrei-

6. Die religiöse Praxis

ung und Lösungen für jegliche weltlichen und religiösen Probleme.« Mourad, Arbeiter   »Dass der Islam nicht zeitgemäß sei, stimmt nicht. Der Grund für die Probleme der Muslime sind eher politisch, wirtschaftlich und sozial.« Majida, Anwältin   »Grund für die Probleme, mit denen Muslime konfrontiert sind, ist die Tatsache, dass sie sich von den Vorschriften des Islams entfernt haben, denn der Koran und Hadith bieten Lösungen dafür. Nicht nur im medizinischen Sinne, sondern im politischen und wirtschaftlichen Sinne bringt die Religion Heil«. Fatima, Köchin   Der Islam versteht sich selbst als die letzte von Gott offenbarte Religion für alle Menschen, die alle früheren Offenbarungen korrigiert und aufgehoben hat. In der Moderne haben islamistische Bewegungen – angeführt von der Muslimbruderschaft in Ägypten – den Slogan »Der Islam ist die Lösung« für die Auseinandersetzung mit bestehenden politischen Regimen kreiert. Dieser Slogan soll in allen Lebensbereichen nach islamischem Recht funktionieren, wirtschaftlich und politisch. Unter den Befragten glauben rund 38 %, dass der Islam die Lösung für die Probleme der Muslime und der Welt ist. Der Anteil derjenigen, die dem widersprechen, beträgt 15 %, während etwa 13 % dies nicht ausschließen. Einer jüngeren Studie zufolge stimmen 60 % junge muslimische Befragte darin überein, dass jede Religion die Wahrheit enthält. Aber 55 % der Befragten glauben, dass der Islam die richtige Religion ist.

6.15

Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren

»Sowohl aus der Schule damals als auch aus meiner Arbeit hatte ich immer deutsche Freundinnen, die wissen, dass ich eine Muslima bin, dass ich kein Alkohol trinke und kein Schweinefleisch esse. Eine von

73

74

Religion und Identität

ihnen ist eine Jüdin und die anderen sind Christinnen. Wir reden nicht über religiöse Dinge und wenn denn nur über christliche, jüdische oder muslimische Feste. Ich glaube, dass Religion eine Privatsache ist. Deswegen kann ich nicht damit anfangen, sie zu missionieren. Sie können sich selbst darüber informieren, hätten sie dran Interesse.« Fatima, Kleiderwarenverkäuferin   »Ich arbeite bei der Post als Fahrer und habe viele Kollegen, die nicht Muslime sind. Ich betrachte es schon als eine Aufgabe, ihnen den rechten Weg zu zeigen, so dass ich am Tag des Jüngsten Gerichtes im Reinen bin. Zu diesem Zweck versuche ich, ihnen den Islam näher zu bringen und in die Moschee in Begleitung mitzunehmen.« Mustafa, Berufsfahrer Die Überzeugung, dass der Islam die richtige und letzte Religion ist, veranlasst viele Muslime, andere zum Islam zu überreden. Sie glauben, dass dies eine Pflicht und eine Arbeit ist, für die sie eine göttliche Vergütung erhalten. Die Mehrheit der Befragten gab an, Nicht-Muslime nicht zur Annahme des Islam zu ermutigen. Aber 35 % tun dies. Der Prozess wird oft zwischen Freunden, Kollegen oder denen durchgeführt, die einen Muslim oder eine Muslimin heiraten wollen. Die Studie zeigt, dass die Einstellungen zwischen Männern und Frauen zu diesem Thema sehr unterschiedlich sind. Im Allgemeinen fordern etwa 65 % derFrauen Nicht-Muslime nicht auf, zum Islam zu konvertieren. Männer dagegen tun dies zu etwa 52 %. Die weniger und durchschnittlich Gebildeten unter den Befragten betrachten Religion nicht als eine persönliche Angelegenheit und glauben, dass es ihre Pflicht ist, andere auf den »richtigen Weg« und zur »richtigen Religion« zu bringen. Mit zunehmendem Bildungsniveau lässt das Interesse an diesem Thema nach. Oft fordern Muslime ihre nicht-muslimischen Freunde oder Kollegen »aus Liebe und Respekt für sie« dazu auf, zum Islam überzutreten, und weil sie dies als eine Pflicht unter Freunden verstehen. Das mangelnde religiöse Wissen der Ungebildeten macht ihre Bemühungen jedoch weniger effektiv. Daher begleiten sie die Nicht-Muslime oft zu ei-

6. Die religiöse Praxis

Abb. 16: Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren

Abb. 17: Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren, unter Männern und Frauen

75

76

Religion und Identität

nem spezialisierten Imam oder empfehlen ihnen den Koran oder andere religiöse Bücher. Es gibt eine Gruppe junger Deutscher, die auf diese Weise Muslime geworden sind.

7. Die Identität

»Ich habe eine marokkanische Mutter und einen deutschen Vater, welcher kurz vor der Eheschließung zum Islam konvertiert war, auch wenn er nie ein eifriger Praktizierende war. Als Produkt dieser Mischehe bin ich sogar von Migrantenkindern gemobbt. Meine jungverheiratete Mutter hatte bis zu ihrem vierzigsten Lebensalter, wo sie unter einer schweren Depression gelitten und noch dazu ihren Vater verloren hat, nicht viel für die Religion übrig. Nach der Scheidung von unserem Vater blieben mein Bruder und ich bei unserer Mutter, zu dieser Zeit habe ich festgestellt, dass die Religion zu ihrer wichtigsten Zuflucht geworden ist. Zu meiner Grundschulzeit hat meine Mutter angefangen, in die Moschee, wo ich das Beten und andere Sachen gelernt habe, zu gehen. Ich betrachte mich als eine deutsche Staatsbürgerin muslimischer Religion. Auf meine marokkanischen Wurzeln bin ich stolz. Trotzdem identifiziere ich mich am ehesten mit Deutschland, wo die Religionsfreiheit, sowohl für mich als auch für andere, garantiert ist.« Sarah, Studentin   »Mein Name ist Youssef, Sohn eines Marokkaners und einer Deutschen. Ich arbeite in einem Telekommunikationsunternehmen. Wegen seiner Probleme mit meiner Mutter hatte ich kein gutes Verhältnis zu meinem Vater gehabt. Vor ihrer Scheidung war ich regelmäßig in Marokko zu Besuch, trotzdem habe ich vieles von der marokkanischen Sprache verlernt. Mittlerweile ist mein Vater mit einer marokkanischen Frau verheiratet, und mit der er auch Kinder hat. Ich habe stark unter seiner tyrannisierenden Art gelitten. Er

78

Religion und Identität

war zwar nicht konservativ, war aber stolz auf seinem islamischen Hintergrund. Für mich ist die Religion nicht wichtig und spielt in meinem Alltagsleben keine Rolle. Dafür bin ich stolz ein Deutscher zu sein«. Youssef, Ingenieur   »Ich war zum Studieren nach Deutschland gekommen, auch wenn ich es nicht abgeschlossen habe. Ich bin mit einer deutschen Frau mit marokkanischen Wurzeln verheiratet und arbeite in einer Fabrik. Ich habe keine radikale Einstellung, obwohl ich religiös bin und möglichst regelmäßig bete. Ab und zu trinke ich Alkohol und bin überzeugt, dass die guten Taten die schlechten bereinigen. Ich fühle mich durch und durch als Marokkaner, da ich erst mit 24 Jahren nach Deutschland gekommen bin. Ich betrachte mich vorrangig als Muslim, und dann als Marokkaner. Kein Araber, sondern Berber. Für mich kommt die religiöse Identität zuerst, dann die nationale und kulturelle.« Abdelmajid, Informatiker Vielen Migranten und ihren in Deutschland geborenen Kindern liegt mehr an ihrer Identität, an ihrer Zugehörigkeit und an ihrer Herkunft als den Deutschen. Dieses Anliegen ist je nach Alter, Lebensumständen und persönlichen Erfahrungen verschieden. Die Beschäftigung mit diesem Thema beginnt oft schon mit der Adoleszenz und erstreckt sich über das ganze Leben. Von den Befragten gibt die Mehrheit (etwa 55 %) an, ihre Identität sei die von Marokkanern, gefolgt von denen, die die Frage unbeantwortet lassen (etwa 28 %), dann an dritter Stelle die Identität als Deutsche und schließlich die als Muslime neben anderen Identitäten mit gleicher Prozentzahl (ungefähr 1 %). Für die meisten der Befragten ist unter den verschiedenen Zugehörigkeiten die zu Marokko die wichtigste, aber das heißt nicht, dass die Religionszugehörigkeit keine Rolle spielt, was aus den Antworten auf die Frage hervorgeht, welche Art der Identität wichtiger sei: die nationale oder die religiöse? Obwohl viele der Befragten die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, bezeichnen sie sich nicht als Deutsche. Hat diese Art der Auswahl unter den möglichen Antworten etwas mit dem Geschlecht, der Bildung oder der marokkanischen Herkunftsstadt zu tun?

7. Die Identität

Abb. 18: Nationale und religiöse Identität

Die Befragten fühlen sich zu einem großen Teil als Marokkaner und nicht als Deutsche (79 % der Frauen und 47 % der Männer). Die nationale Identität wird auch häufiger genannt als die religiöse. Allerdings hat ein großer Anteil der Männer diese Frage nicht beantwortet. Bei den Frauen lässt sich hinsichtlich der religiösen Identität kein Prozentsatz ermitteln. Aber das heißt nicht, dass sie diese aufgegeben hätten. Für manche schließt die marokkanische Identität die religiöse auch ein. Was die deutsche Identität angeht, selbst wenn sie weniger stark vertreten ist, übersteigt der Prozentsatz bei den Frauen den bei den Männern (im Verhältnis von etwa 13 % zu 5 %). Die Mehrheit der marokkanischen Familien in Deutschland glaubt, gegenüber dem Einfluss der deutschen Kultur ihre Unabhängigkeit dadurch gewahrt zu haben, dass sie nach wie vor an die marokkanische Kultur gebunden sind. Je nachdem, wie die Befragten die bei ihnen vorherrschende Identität wahrnehmen, gibt es zwei Typen: Die einen sprechen von ihrer Identität als einer, die gegeben ist, die anderen als einer, die angestrebt wird. Während die Sicht des ersten Typs implizit auf Worte und Ta-

79

80

Religion und Identität

ten über die Zugehörigkeit zu Marokko angewendet wird, bleibt die offenkundig marokkanische Identität beim zweiten Typ als Wunsch. Das zeigt sich am deutlichsten bei der in Deutschland geborenen dritten Generation, vor allem bei Kindern deutsch-marokkanischer Ehen. Sie sprechen oft weder Arabisch noch Amazigh. Wenn sie ihre Zugehörigkeit zu Marokko anerkennen, dann tun sie das häufig aus Höflichkeit gegenüber den Eltern, in Anwesenheit anderer Marokkaner oder wenn sie eine Identitätskrise durchmachen und sich in der deutschen Kultur fremd fühlen. Die bewusste oder unbewusste Entscheidung für eine bestimmte Identität wird von zahlreichen Umständen diktiert und durch mehrere Faktoren beeinflusst. Oft hängt sie von einer Erinnerung an Vergangenes oder von einem Wunschtraum von Zukünftigem ab. Laut Bernhard Schlick ist die Rede von einem Land als Bezugspunkt der Identität eigentlich fehl am Platz: »So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat – letztlich hat sie weder einen Ort, noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. Heimat ist Utopie.«1

7.1

Zur Lage der in Deutschland geborenen Jugendlichen

Wenn sich die untersuchten Jugendlichen mit deutscher Staatsangehörigkeit als Marokkaner verstehen und nicht als Deutsche, liegt das manchmal an fehlender Anerkennung in Deutschland, wie bei denen, die Erfahrungen mit Rassismus oder Ausgrenzung gemacht haben, oder daran, dass sie – wie dies bei konservativen Gläubigen der Fall ist – den Eindruck gewonnen haben, dass Deutschland ihre Religion nicht respektiere, oder daran, dass sie sich in Marokko wohler fühlen (selbst wenn sich ihre Kontakte zu dem Land fast nur auf Ferienaufenthalte beschränken). In diesem Fall spielen Familie und Bildung eine 1

Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Frankfurt a.M. 2000, S. 32.

7. Die Identität

Abb. 19: Die Identitätsfrage bei Männern und Frauen

sehr wichtige Rolle, denn wenn die Eltern sich mit dem Land und der Kultur ihrer Herkunft besonders verbunden fühlen, dann sind auch die Kinder dafür empfänglicher.

7.2

Zur Lage der in Marokko geborenen Jugendlichen

Es ist nachvollziehbar, dass Menschen, die in Marokko geboren wurden, Marokko als ihr Land sehen und ihre Identität als von der marokkanischen Kultur geprägt. Nachvollziehbar ist auch, wenn sie sagen, dass ihre Identität gleichermaßen marokkanisch und deutsch ist. Das schließt nicht nur den Besitz beider Pässe ein, sondern auch ein echtes Zugehörigkeitsgefühl zu beiden Kulturen. Wenn jedoch ein Mensch, der in Marokko geboren wurde und dort aufgewachsen ist, kundtut, dass er deutscher Nationalität und seine Heimat Deutschland sei, kann das Vieles heißen. Es kann sein, dass die Person in Deutschland mehr Anerkennung findet, dass sie hier ihre Wünsche realisiert hat, was in Marokko vielleicht unmöglich oder schwierig war, oder dass sie denkt,

81

82

Religion und Identität

dass ihre Würde in Deutschland besser gewahrt wird als in Marokko. Diese Position kann also Unzufriedenheit mit Marokko zum Ausdruck bringen, aber das heißt nicht automatisch, dass die Beziehung zu Land und Kultur der Herkunft vollständig abgebrochen ist. Denn die Person kann zwar behaupten, nicht zu einer bestimmten Kultur zu gehören, aber ihre Verhaltensweisen und Gewohnheiten sagen das Gegenteil.2

7.3

Religiöse vs. nationale Identität

Etwa 48 % der Befragten haben erklärt, dass ihnen die religiöse Identität wichtiger ist als die nationale, und weniger als 18 % halten die nationale Identität für wichtiger. Darüber hinaus sagen etwa 3 %, dass ihnen die religiöse Identität nicht unbedingt wichtiger sei als die nationale. Dagegen haben 30 % die Frage unbeantwortet gelassen. Sobald die Befragten zwischen religiöser nationaler Identität unter mehreren vorgeschlagenen Ländern zu wählen haben, entscheidet sich die Mehrheit für die nationale, weil sie – zumindest in ihren Augen – die religiöse einschließt. Wenn ihnen aber nur die Wahl zwischen religiöser und nationaler Identität gelassen wird und sie sich für eine entscheiden müssen, wird die nationale Identität marginalisiert. Die Menschen erwarten von der Religion Antworten auf die Fragen des Lebens, die die Herzen der Menschen im Innersten bewegen: Was der Mensch ist, was der Sinn und das Ziel unseres Lebens sind, was gut und was schlecht ist, welchen Ursprung die Leiden haben und welchen Zweck, welches der Weg ist, um das wahre Glück zu erlangen, was der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tod sind und

2

Siehe Andrea Lobensommer: Die Suche nach »Heimat«: Heimatkonzeptionsversuche in Prosatexten zwischen 1989 und 2001, Frankfurt a.M. u.a. 2010, S. 93. Mit den Worten von Ortega y Gasset, die Welt des ,,Anderen‹ ist eine Welt, die auf uns Zwang ausübt, siehe Joachim Klose (Hg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 612.

7. Die Identität

was schließlich das Mysterium unserer Existenz, woraus wir unseren Ursprung nehmen und auf das zurück wir streben.3

Abb. 20: Ist die religiöse Identität wichtiger als die nationale?

Zahlreiche in Marokko durchgeführte Untersuchungen der letzten Jahre über die religiösen Werte in Marokko kommen zu einem wichtigen und sehr komplexen Ergebnis. Die jungen Marokkaner sind der Ansicht, dass ihre islamisch-religiöse Identität wichtiger und jeder anderen Frage übergeordnet sei. Auf die Frage im Rahmen einer soziologischen Forschung: »Wer steht Ihnen näher: ein marokkanischer Jude, ein palästinensischer Christ oder ein afghanischer Muslim?«, erhielten die Mitarbeiter des Berichts Islam im Alltag 2008 folgende Antworten: 88 % der Befragten antworteten, dass ihnen der afghanische Muslim näher stehe, 13 % der marokkanische Jude und 8 % der palästinensische Christ.4

3 4

Peter Hünermann, zit.n. Joachim Klose (Hg.): Heimatschichten: Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 381. URL: www.caus.org.lb/PDF/EmagazineArticles/rusdi_jarmoni_idafat %2035 %20final-2.pdf (letzter Zugriff 5. 10. 2018).

83

84

Religion und Identität

Unter den Erklärungen aus der Gruppe derjenigen, die die religiöse Identität für wichtiger halten als die nationale, sind folgende anzuführen: • •



Die wahre Welt ist das Paradies, und der Weg dorthin führt über den Glauben und die Religion, nicht über die Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit räumt der Brüderlichkeit Platz im Rahmen des Staates ein, während die Religion sich zur Brüderlichkeit im Islam öffnet. Es ist zwar möglich, die nationale Identität zu verlassen, die religiöse jedoch, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott betrifft, kann von niemandem aufgehoben werden.

Was die Erklärungen derjenigen betrifft, die die nationale Identität für wichtiger halten als die religiöse, sind folgende anzuführen: • • • •

Die nationale Identität eines muslimischen Landes schließt die religiöse als genauso wichtig ein. Ich bin nicht religiös. Was mich mit anderen verbindet, ist die Staatsangehörigkeit und nicht die religiöse Brüderlichkeit. Die religiöse Identität schließt die anderen Religionen aus oder hat zur Folge, dass eine Religion dominiert. Die nationale Identität kann anhand individueller Verhaltensweisen beurteilt werden, während die religiöse Identität an Metaphysik gebunden ist.

Der religiösen Identität den Vorrang vor der nationalen zu geben oder umgekehrt, kann man als den Versuch betrachten, »die inneren Anforderungen an das Individuum mit der Außenwelt in Balance zu bringen«.5 Dieses Arrangement kann sich mit der Zeit je nach den persönlichen Erfahrungen entwickeln, nach Erwartungen, Fällen des Scheiterns oder des Erfolgs und nach dem Grad der Akzeptanz in der Gesellschaft.

5

Ebd.

7. Die Identität

Wenn die Befragten zwischen der marokkanischen und der deutschen Identität zu wählen haben, entscheiden sie sich oft für die marokkanische, obwohl sie deutsche Staatsbürger sind. Das kann man auf die emotionale Bindung an Marokko zurückführen, eine Anhänglichkeit, die oft aus der Erziehung herrührt. An dieser Stelle sei auf die Erfahrungen junger Erwachsener verwiesen, die ich kennengelernt habe: Sara mit einer marokkanischen Mutter und einem deutschen Vater, Youssef mit einem marokkanischen Vater und einer deutschen Mutter und schließlich Abdelmajid mit marokkanischen Eltern. Zwei wichtige, die Identität des Individuums prägende Faktoren können zugleich aus ihrer religiös-nationalen und ihrer kulturellen Dimension hergeleitet werden: •





Der Geburtsort spielt eine wichtige Rolle. In Marokko geborene, dort aufgewachsene und erst später nach Deutschland gelangte Personen geben sich häufig als muslimische Marokkaner oder marokkanische Muslime zu erkennen, gelegentlich auch als deutsche Marokkaner oder marokkanische Deutsche. In gemischten Ehen sind die Kinder durch die Kultur der Eltern oder – vor allem in Scheidungsfällen – durch die Kultur eines Elternteils geprägt. Wenn die Eltern oder ein Elternteil religiös sind, prägt dies auch die Kinder. Auch die nationale Identität wird durch die Einstellungen und die Lebensumstände der Eltern bzw. eines Elternteils beeinflusst. Gibt es in Deutschland junge Erwachsene marokkanischer Herkunft, die in ihren religiösen Angelegenheiten und in ihrer Lebensführung frei sind, oder richten sie sich darin nach ihren Familien und ihrer sozialen Umgebung? Versuchen sie, die Einstellungen ihrer Familien, ihrer Freunde und ihrer Bekannten zu verändern, oder passen sie sich an und übernehmen sie deren Einstellungen? Die Antworten auf diese Fragen geben uns Auskunft darüber, ob die Befragten eher einem modernen oder einem traditionell ausgerichteten Autoritätsverständnis zugeordnet werden können. Das erste erfordert eine Freiheit des Wählens und eine Selbstständigkeit

85

86

Religion und Identität

des Entscheidens, während das zweite das Individuum mit bereits getroffenen Vorentscheidungen konfrontiert.

7.4

Der Islam als Teil der deutschen Identität »Ich war zum Studieren nach Deutschland gekommen, auch wenn ich es nicht abgeschlossen habe. Ich bin mit einer deutschen Frau mit marokkanischen Wurzeln verheiratet und arbeite in einer Fabrik. Ich habe keine radikale Einstellung, obwohl ich religiös bin und möglichst regelmäßig bete. Ab und zu trinke ich Alkohol und bin überzeugt, dass die guten Taten die schlechten bereinigen. Ich fühle mich durch und durch als Marokkaner, da ich erst mit 24 Jahren nach Deutschland gekommen bin. Ich betrachte mich vorrangig als Muslim, und dann als Marokkaner. Kein Araber, sondern Berber. Für mich kommt die religiöse Identität zuerst, dann die nationale und kulturelle.« Abdelmajid, Informatiker   »So wie die Muslime ein Teil von Deutschland sind, ist der Islam es auch. Wir sind hier als deutsche Staatsbürger geboren. Hier garantiert das Grundgesetz die Religionsfreiheit. Wer nicht bereit ist, meine Religion zu akzeptieren, ist nicht dazu bereit, mich zu akzeptieren.« Fatima, Studentin   »Der Islam ist kein Teil der deutschen Identität, weil sein Einfluss auf die deutsche Kultur, im Vergleich zum Christentum, sehr begrenzt ist. Für mich spielt das keine Rolle, umso wichtiger ist die Tatsache, dass die Rechtsstaatlichkeit religionsübergreifend vorrangig herrscht.« El Houssin, Fabrikarbeiter

Die Befragten aus Rabat, Nador und Fes sind meistens der Ansicht, dass der Islam Teil ihrer deutschen Identität ist. Was die anderen Städte betrifft, gehen die Antworten auseinander: 66 % haben mit Ja und 36 % mit Nein geantwortet, der Rest hat nicht geantwortet. Wie oben bereits erwähnt, spielt der Geburtsort eine zentrale Rolle in der Ausrichtung

7. Die Identität

individueller Verhaltensweisen und hat Einfluss auf die Persönlichkeit. Die Erfahrungen von Personen aus einem Dorf unterscheiden sich von denen aus einer Stadt. Und die Erfahrungen einer Person, die in einem Armenviertel aufgewachsen ist, ist nicht die gleiche wie die einer Person, die aus einem reichen Viertel der Mittelklasse stammt.

Abb. 21: Identität nach Herkunftsstadt

Auch in Deutschland unterliegen Verhaltensweisen und Entscheidungen des Einzelnen dem Leben in der Nachbarschaft.6 Persönliche Identität ermöglicht es, in einer gegebenen Gesellschaft, in einer Kultur und in einer Beziehung zu anderen in Zeit und Raum zu leben. Mit Ausnahme derjenigen Befragten mit niedriger Schulbildung, die zu gleichen Teilen mit Ja und Nein antworten, herrscht bei den übrigen die Ansicht vor, dass die religiöse Identität wichtiger ist als die nationale. Diese Wahl hängt nicht vom Bildungsgrad ab. Sogar bei den Gebildeten bleibt die Religion gegenwärtig, zumindest in ihrer kulturellen und ideologischen Dimension. Sie gilt als Beschützerin der nationalen Werte und der arabisch-islamischen Gemeinschaft. 6

Siehe Diderot, S. 70.

87

88

Religion und Identität

Laut Abdelkarim el-Khattibi kann sich das heutige arabische Denken nicht von seinen religiösen und theokratischen Grundlagen lösen, die die »Ideologie des Islam« kennzeichnen.7 Das gilt nicht nur für arabische Muslime, sondern auch für arabische Christen, die religiöse mit nationalen Werten verbinden: »Nicht praktizierende Christen neigen dazu, mehr positive als negative Ansichten im Hinblick auf Kirchen und religiöse Organisationen zu äußern, etwa dass diese der Gesellschaft nutzen, indem sie den Armen helfen und das Zusammenleben von Gemeinschaften fördern. Ihre Einstellungen gegenüber religiösen Einrichtungen sind nicht ganz so positiv wie diejenigen von praktizierenden Christen, aber sie neigen eher als konfessionslose Europäer dazu zu sagen, dass Kirchen und andere religiöse Organisationen positiv zur Gesellschaft beitragen.«8 Von den Befragten, die in Marokko geboren wurden, betrachten sich 30 % mit Wohnung in Rabat 30 % als Marokkaner und Moslems, und eine deutsche Identität ist in dieser Gruppe so gut wie nicht vorhanden. Dagegen sagen die Befragten aus anderen Städten, dass sie Marokkaner seien; nur 20 % der aus Fes Stammenden nennen sich Deutsche. Man kann dies als Zeichen dafür sehen, dass diese Gruppe sich für einen Teil Deutschlands hält, sich aber in Marokko dennoch anerkannt und glücklich fühlt. Andere dagegen nennen sich Deutsche, um ihren Ängsten und Enttäuschungen mit Blick auf das Land ihrer Herkunft und über den Islam als Religion Ausdruck zu verleihen. Die meisten der Befragten sehen den Islam als Teil ihrer deutschen Identität. Die Personen mit abgeschlossenem Studium und diejenigen, die keinen Abschluss haben, kommen beide auf die Quote von 50 %. Mit 80 % ist die höchste Zustimmungsrate zu dieser Ansicht bei denen mit Studienabschluss zu finden. Die Gruppe derer, die den Islam nicht

7 8

Abdelkarim el-Khattibi: An-nakd al Muzdawiǧ, Rabat 1990, S. 164. Christ sein in Westeuropa, in: Pew Research Center (29. 5. 2018), URL: www.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/7/2018/05/Being-Christian-inWestern-Europe-FINAL-GERMAN.pdf (letzter Zugriff 20. 12. 2019).

7. Die Identität

für einen Teil Deutschlands halten, setzt sich aus Studierenden und Abiturienten zusammen (32 % und 10 %).

Abb. 22: Der Islam als Teil der deutschen Identität

Der Vergleich der Geschlechter zeigt, dass ein beträchtlicher Teil (17 %) der Frauen und Männer die Frage unbeantwortet gelassen hat. Außerdem dominiert die Ansicht, die religiöse Identität sei wichtiger als die nationale, bei 52 % der Frauen und bei 41 % der Männer. Der Anteil der Frauen, die glauben, dass die religiöse Identität nicht unbedingt wichtiger sei als die nationale, übersteigt den der Männer. Einer der Gründe, warum Frauen in erster Linie an der religiösen Identität interessiert sind, ist der, dass sie oft die Erziehung der Kinder und Enkel übernehmen. Auch bei den Christen in Europa haben viele Statistiken festgestellt, dass die Frauen religiöser sind als die Männer. Auch dies steht im Zusammenhang damit, sicherzustellen, dass Erziehung die Aufgabe hat, Werte zu bewahren und diese den Kindern weiterzugeben. Allerdings haben Frauen im Westen infolge feministischer Bewegungen damit begonnen, es mit der Religion nach ihren eigenen Über-

89

90

Religion und Identität

zeugungen und frei von männlichen Blickrichtungen zu halten.9 Dagegen bleibt die kritische Betrachtung der Religion durch Frauen im Westen ebenso schwach wie in der islamischen Welt – einige Ansätze wie den von Amina Wadud ausgenommen, die versucht, den Islam vom männlichen Blickwinkel zu befreien: »Wir wissen, dass Frauen schon seit der Zeit des Propheten (ihm seien Gebet und Frieden) den Koran gelesen und auswendig gelernt haben. Aber wir wissen nicht, was die Frauen über den Koran denken, es gibt dafür keine Belege. Versuchen wir also, [diese] Wissenslücken zu schließen und eine Form der Lektüre zu erschaffen, die die Verschiedenheit der Geschlechter berücksichtigt und uns besser verstehen lässt, was der Koran für uns alle als Menschen bedeutet.«10 Die Mehrzahl der Befragten ist der Ansicht, dass der Islam zu ihrer deutschen Identität gehört. Dabei übersteigt die Quote der Männer die der Frauen (64 % gegenüber 50 %). Parallel dazu ist der Prozentsatz der Frauen, die nicht der Ansicht sind, dass der Islam zu Deutschland gehört, mit 10 % höher als der bei den Männern mit 5 %. Gleiches gilt für den Prozentsatz der Frauen, die diese Frage unbeantwortet gelassen haben. Obwohl die Frauen zuweilen religiöser scheinen als die Männer und der religiösen Identität mehr Gewicht geben als der nationalen, ändert sich ihre Wahrnehmung der Religion jedes Mal, wenn man darüber in einem politischen Kontext spricht. Man kann sagen, dass die jungen Frauen marokkanischer Herkunft zwischen religiösem Diskurs und seiner Praxis im pädagogischen und kulturellen Kontext auf der einen Seite und Diskurs und Praxis im politischen und ideologischen Kontext auf

9

10

Friederike Benthaus-Apel u.a.: Wechselwirkungen: Geschlecht, Religiosität und Lebenssinn: Qualitative und quantitative Analysen anhand von lebensgeschichtlichen Interviews und Umfragen, Münster 2017, S. 213. »Tafsīr al-Qurʾān … ḥaqq li-ǧamīʿ al-muʾminīn bi-l-islām nisāʾan wa-riğālan«, Interview mit Amina Wadud, in: Qantara (21. 2. 2013), URL: ar.qantara.de/content/hwr-m-lbhth-lmryky-fy-lqyd-wlflsf-myn-wdwd-tfsyr-lqranhq-ljmylmwmnyn-blslm-nsan-wrjlan (letzter Zugriff 9. 3. 2018).

7. Die Identität

der anderen Seite unterscheiden. In politischen Zusammenhängen erstreckt sich Identität für Aktivisten durch ihr Engagement gegenüber der Gesellschaft auf moralische Verpflichtungen.11 Die Befragten beziehen zwar bisweilen politisch Position, aber sie engagieren sich nur selten in politischen Parteien und kulturellen Vereinigungen.

11

Arturo Escobar: Territories of Difference: Place, Movements, Life, Redes, Durham 2008, Kindle-Positionen 3967-3971.

91

8. Schlussfolgerungen

Mit theoriegestützten Feldstudien kann man nun versuchen, Schlussfolgerungen aus den religiösen Verhaltensweisen und den Einstellungen zur Identität junger Marokkaner in Frankfurt zu ziehen. Unter den Schlussfolgerungen findet man solche, die sich unter die Kategorie dessen fassen lassen, was Linda Woodhead als »strategische Religiosität« oder »taktische Religion« bezeichnet. Sie hat dieses Konzept von dem französischen Soziologen Michel de Certeau übernommen, der den Unterschied zwischen strategischem und taktischem Verhalten so erklärt: »Taktisches Verhalten ist durch das Fehlen von Macht bestimmt, während strategisches Verhalten durch Machtbefugnis ermöglicht wird.«1 Woodhead überträgt diese Unterscheidung auf die Religion und sagt, dass Religion und Religiosität »ein Zusammenspiel von systematischen Praktiken, Sachen und Beziehungen« ergeben.2 Woodhead kennzeichnet das religiöse Verhalten autoritärer Männer als machtbesetzt und strategisch und das der von ihnen dominierten Frauen, die im Bereich der Religion nichts zu sagen haben, als taktisch. Wir sind der Ansicht, dass diese Charakterisierung auf alle machtbesetzten sozialen Beziehungen innerhalb der Familie und in den religiösen Institutionen angewendet werden kann. Auf der Basis einer Logik der Macht kann man von einem Gleichgewicht paradoxer Beziehungen sprechen, was in der von uns unter1

2

Linda Woodhead: Wie der Feminismus die Religionsforschung revolutioniert hat, in: Kornelia Sammet/Friederike Benthaus-Apel/Christel Gärtner (Hgg.): Religion und Geschlechterordnungen, Wiesbaden 2017, S. 37-48, hier: S. 46. Ebd.

94

Religion und Identität

suchten Stichprobe das Verhalten in religiösen Fragen im Umgang von Eltern und Kindern betrifft, die Beziehungen zwischen dem deutschen Staat und den Migranten, dem marokkanischen Staat und den Migranten, der Geistlichkeit und der muslimischen Gemeinde, der marokkanischen Gesellschaft und dem Individuum, Männern und Frauen, Schwulen und Konservativen. Die Entscheidungsträger, gleich welcher Couleur, neigen dazu, den anderen strategisch bestimmte Wahrnehmungsweisen aufzuzwingen, indem sie ihnen einerseits Geld und Zeit für ihre Pläne zur Verfügung stellen, andererseits aber mit allen Mitteln, auch denen des Rechts und des Sanktionierens, ihre eigenen Ziele verfolgen. Die jeweils andere Seite indessen greift auf taktische Verhaltensweisen zurück, was an einigen Beispielen zu verdeutlichen ist. Eltern können in der Erziehung ihrer Kinder ihre Autorität einsetzen, um die Kinder zur Befolgung bestimmter Regeln zu erziehen, und dabei stützen sie sich vielleicht, wenn nötig, auf die Hilfe der Schule, der Moschee oder der öffentlichen Institutionen. Doch die Kinder neigen vielleicht dazu, sich dagegen aufzulehnen und vorgefertigte Verhaltensmuster abzulehnen. Mit Blick auf das religiöse Verhalten können die Kinder gehalten sein, zu Hause und in der Moschee ihren religiösen Pflichten nachzukommen, und gleichwohl suchen sie andere Orte auf, wo sie andere Verhaltensweisen praktizieren können, die den Erwartungen der Eltern und der Religion widersprechen, indem sie zum Beispiel Alkohol trinken und im Ramadan nicht fasten. Was Institutionen wie den deutschen und den marokkanischen Staat betrifft, so erwarten sie von den Bürgern und den Migranten, dass sie die Grundlagen des Staates, seine Gesetze und Institutionen, respektieren, wie auch den Gemeinsinn, der durch die Schule oder die Medien vermittelt wird. Trotzdem kann der Schüler diese Orientierungen in aller Öffentlichkeit oder auch stillschweigend ablehnen, ohne dies seinen Eltern zu offenbaren. Die Aneignung extremistischer religiöser Ideen, welche die staatlichen Institutionen nicht anerkennen, kann man als eine Art taktisches Verhalten betrachten, mit dem die Jugendlichen auf das Gefühl der Marginalisierung und der Nichtanerkennung reagieren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oft gehörten Behauptung, dass der Islam

8. Schlussfolgerungen

nicht zu Deutschland gehört. Was das Verhältnis der jungen Leute zu Marokko betrifft, kann die Übernahme extremistischer religiöser Lehren, die sich von der offiziellen Lehre Marokkos unterscheiden, als eine Form des Protests betrachtet werden. Einige Verhaltensweisen könnten durch die absolute Selbstsicherheit des Denkens oder der von außen zugeschriebenen Identität hervorgerufen worden sein, wie etwa im religiösen Bereich oder einigen politischen Systemen, aber eben auch als Angst vor Strafe im Falle der Auflehnung, und werden so zu einer Position, über die sie selbst und das Andere Besitz ergreifen wollen – sich selber fremd, da ja die jungen Marokkaner mit den jungen Deutschen nicht die gleichen komplexen zehn Erfahrungen teilen, von denen Keupp spricht. Aufgrund der Rolle, die das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft noch spielen, ist nicht möglich, von einer Bruchlinie zwischen der individuellen und der kollektiven Lebensweise zu sprechen. Dies und das Fehlen der Wahlfreiheit hält viele fernab von der Vielfalt der Lebensformen und der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten. Freiheit wird nicht immer als Pflicht gesehen. In Bezug auf die Geschlechterrollen sind den Marokkanerinnen in Frankfurt eine Fülle von Einschränkungen auferlegt, sowohl durch die arabische und berberische Kultur als auch durch den Islam, im Kreis der Familie, auf dem Arbeitsmarkt und in der Moschee. Die Stichprobe der Befragten unterliegt immer noch traditionellen Strukturen, Grenzziehungen, Ausschließungen und gemeinsamen Bindungen als grundlegenden Determinanten des Entscheidens und Verhaltens. Was die ›Meta-Erzählungen‹ betrifft, so kann man sagen, dass die Befragten weitgehend den großen traditionellen Theorien anhängen, um National- und Religionsgeschichte zu studieren und zu verstehen. Diese Bindung ist besonders offenkundig im religiösen Bereich, in dem das traditionelle Religionsverständnis unverändert vorherrscht. Es ist schwierig, die eine oder andere Kategorie als weniger oder mehr religiös einzustufen. Die religiösen Praktiken liefern kein Kriterium für ein derartiges Urteil. Obwohl nur 10 % der Befragten regelmäßig beten, übernehmen viele konservative und zuweilen auch extre-

95

96

Religion und Identität

mistische Positionen, selbst wenn sie gar nicht beten.3 Die verbreitete Meinung, dass gebildete Personen geistig offener sind als ungebildete, stimmt nicht, jedenfalls nicht im Fall der jungen Marokkaner in Frankfurt. So haben wir festgestellt, dass, je niedriger das Bildungsniveau ist, schwierigen Fragen wie Homosexualität eher mit Toleranz begegnet wird. Außerdem räumen die Personen mit niedriger Schulbildung der nationalen Identität den Vorrang vor der religiösen Identität ein, indem sie auf Anhieb erklären, sie seien Deutsche oder Marokkaner, während die religiöse Identität erst an zweiter Stelle kommt. Man kann kaum sagen, ob die Männer religiöser oder weniger religiös sind als die Frauen. Manchmal erscheint diese Gruppe als rigider und dann wieder als toleranter. Manchmal gibt es Widersprüchliches in den Antworten und Einstellungen. Man kann in Betracht ziehen, dass die gegebenen Antworten von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden, so etwa davon, welche persönlichen Vorerfahrungen und Vorstellungen den Befragten bei der Befragung gerade in den Sinn kamen. Gleichermaßen können sich die Antworten mit der Zeit ändern. Was sich da ändert, ist die Art und Weise, wie Religion und religiöses Verhalten im Denken repräsentiert werden. Aber die Verankerung der Religion im Alltagsleben bleibt – wie auch immer sie ausfällt – davon unberührt. Man kann zwei Formen der Religiosität erkennen, die sich wechselseitig nicht berücksichtigen: eine aus persönlichem Antrieb und eine aufgrund der mit der Religion verbundenen Ziele. Wer die erste Form praktiziert, will sein persönliches Heil verfolgen und rechtfertigt sein Desinteresse an der Aktivierung anderer damit, dass der Mensch heute sehr wohl Gut und Böse unterscheiden und seine Wahl treffen kann. Wer der zweiten Form zuneigt, empfindet Verantwortungsbewusstsein

3

Es gibt Beispiele dafür, dass Extremisten und Dschihadisten, die sich der terroristischen Organisation IS angeschlossen oder Terrorakte begangen haben, durchaus Alkohol und Drogen konsumierten. Während unserer Feldstudie gab es auch Situationen, in denen betrunkene Jugendliche in Bars Gespräche über religiöse Fragen begannen und dabei aus dem Koran oder den Hadithen zitierten.

8. Schlussfolgerungen

gegenüber den »Verführten« in seinen Reihen und »im rechten Weg« (so frei geäußert). Diese Überzeugung zieht Aktionen und Reaktionen nach sich, um das Ziel zu erreichen. Im Allgemeinen überwiegen bei den Befragten die Identität der marokkanischen Herkunft und die überkommenen Sitten. Dass daraus so etwas wie religiöse Indifferenz oder die Übernahme liberaler, laizistischer Ideologien erwächst, ist auf Einzelfälle beschränkt. Ansonsten ist die traditionelle Orientierung – bei stärkerer religiöser Akzentuierung – eher bei den jungen Leuten verbreitet, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, während die laizistischen Überzeugungen und Verhaltensweisen sowie gemäßigte Einstellungen bei denen überwiegen, die Deutschland in fortgeschrittenem Alter erreicht haben. Man kann kaum sagen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Grad der Religiosität und der Wahl der nationalen Identität (marokkanisch oder deutsch) gibt. Ein Teil der Konservativen fühlt sich stärker mit Marokko verbunden als mit Deutschland, bei einem anderen Teil ist es umgekehrt. Gleiches trifft für nicht-religiöse Personen zu. Der Grund dafür ist vielleicht grundsätzlich mit persönlichen Erfahrungen verbunden, aber die Auswirkungen der einzelnen Entscheidungen variieren. Die große Mehrheit der Befragten ist friedfertig und insgesamt gemäßigt. Selbst wenn junge Leute mit dschihadistischen Strömungen sympathisieren, heißt das nicht, dass sie selbst dazu bereit sind, sich diesen Organisationen anzuschließen oder aus religiösen Gründen Gewalt auszuüben. Plötzlich auftretender Extremismus und die Übernahme dschihadistischer Ideen bleiben gleichwohl möglich, wie zahlreiche Beispiele in den letzten Jahren gezeigt haben. Das liegt zum großen Teil an persönlichen Krisen-Erfahrungen, die die jungen Leute gemacht haben, zum Beispiel die Scheidung der Eltern, fehlender Schulabschluss, Arbeitslosigkeit, Drogen usw. Hier kann Unterstützung dieser Personen womöglich verhindern, dass sie extremistischen Ideen und Organisationen zum Opfer fallen. Keupps Theorie beruht im Wesentlichen auf der Möglichkeit, verschiedene Welten zu kombinieren, daraus bewusst das für sich selbst Geeignetste auszuwählen, und zu glauben, dass die Vielfalt der Aus-

97

98

Religion und Identität

wahl unter den gegebenen Bedingungen eine unumgängliche Notwendigkeit darstellt. Wenn wir das mit dem Thema Identität verbinden, sollte eigentlich das Festhalten an der Identität der Herkunft kein Hindernis bilden, auch andere Identitäten anzunehmen, also die deutsche, die französische, die niederländische oder welche auch immer. Allerdings brauchen die jungen Marokkaner im Ausland, insbesondere die der jüngeren Generation, dafür Vorbilder. In Deutschland sind Stimmen, die als Vorbild infrage kommen, oft auf zwei Typen beschränkt: • •

Stimmen, die für die islamisch-marokkanische Identität eintreten,4 Stimmen, die für die deutsche Identität und die Zugehörigkeit zu Deutschland als die unerlässliche Voraussetzung zur Integration eintreten.5

Stimmen, die einen Ausgleich von beiden Aspekten anstreben oder die Existenz von Gruppen akzeptieren, die in der Lage sind, den Erfordernissen beider Identitäten nachzukommen, sind so gut wie gar nicht vorhanden oder finden kaum Gehör. Abhilfe kann hier gelingen, wenn man Schulen und Vereinen eine wichtigere Rolle einräumt, wo es um Beiträge zu Diskussionen um Fragen der Identität, der Religion und der Zugehörigkeit geht. Jeder Versuch, für das eine oder das andere Modell einzutreten, sei es von offizieller Seite oder durch gesellschaftliche Akteure, ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Betroffenen nicht wirklich das Gefühl der Zugehörigkeit haben und als voller Teil der Gesellschaft anerkannt sind. Es ist offensichtlich, dass Religion vielfach Überzeugungen und Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen beeinflusst, aber umgekehrt wirken sich ökonomische, politische und soziale Strukturen auch auf religiöse Verhaltensweisen aus. Wenn Menschen sich an den Rand gedrängt fühlen oder mit ökonomischen, politischen und

4 5

Ein Beispiel dafür ist die deutsch-marokkanische Schriftstellerin Sineb El Masrar. Ein Beispiel dafür ist der in Deutschland lebende marokkanische Imam Abdul Adhim Kamouss.

8. Schlussfolgerungen

kulturellen Krisen konfrontiert sind, bleiben Religion, Religiosität und Identität als Mittel, um für sich selbst ins Gleichgewicht zu kommen.

99

Anhang

Quellen Al-Fāsī, M. A (1956): An-Naqd ad-Dātī, Cairo Al-Ǧābirī, M. A. (2012): Die Frage der Identität: Der Arabismus, der Islam und der Westen [Masʾalat al-Huwiyya: Al-ʿUrūba wa-l-Islām wa-l-Ġarb], Studienzentrum der Arabischen Union (The Centre for Arab Unity Studies CAUS), Beirut. Al-Ǧābirī, M. A. (1996): Dīn wa-Dawla wa-Taṭbīq aš-Šarīʿa. Studienzentrum der Arabischen Union (The Centre for Arab Unity Studies CAUS), Beirut. Al-Kūḫī, M. (2014): Die Frage der Identität in Nordafrika, der Pluralismus und die Verschmelzung in der Realität von Menschen, Sprache, Kultur und Geschichte [Suʾāl al-Huwiyya fī Šamāl Ifrīqiyā], Marrakesch. Al-Muǧāhid, H. (2012): Ǧak Bīrk [Jacques Berque], Marrakesch. Ammar, A. (2013): Koranexegese ist für alle Gläubigen [Tafsīr al-Qurʾān … Ḥaqq li-Ǧamīʿ al-Muʾminīn bi-l-Islām Nisāʾan wa-Riǧālan], Interview mit Amina Wadud, Qantara.de/Deutsche Welle (2013), URL: ar.qantara.de/content/hwr-m-lbhth-lmryky-fy-lqyd-wlflsfmyn-wdwd-tfsyr-lqranhq-ljmy-lmwmnyn-blslm-nsan-wrjlan. Bauknecht, B. (2001): Muslime in Deutschland von 1920 bis 1945, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 9, S. 9. Benthaus-Apel, F./S. Grenz/V. Eufinger/A. Schöll/N. Bücker (2017): Wechselwirkungen: Geschlecht, Religiosität und Lebenssinn: qualitative und quantitative Analysen anhand von lebensgeschichtlichen Interviews und Umfragen, Münster.

102

Religion und Identität

Bouras-Ostmann, K. (2014): Marokkaner in Deutschland – Ein Überblick, in: Jenseits von Rif und Ruhr, Wiesbaden, S. 34. Bourdieu, P. (1987): Choses dites, Paris. Die Verfassung des Königreichs Marokko [Dustūr al-Mamlaka al-Maġribiyya], www.mcrp.gov. ma/constitution.aspx (letzter Zugriff 1. 3. 2019). El-Khattabi, A. (1990): Die doppelte Kritik [An-Naqd al-Muzdawiǧ], Rabat. Erikson, E. H. (1973): Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. Escobar, A. (2008): Territories of Difference: Place, Movements, Life, Redes, Durham. Frindte, W./K. Boehnke/H. Kreikenbom/W. Wagner (2012): Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Ein sozial und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Ethnozentrismus und Antisemitismus in Migrationskontexten Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland, URL: www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/BF/Lehre/SoSe_2015/Islam/Lebenswelten_junger_Muslime.pdf (letzter Zugriff 24. 12. 2019). Giddens, A. (1999): Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. Haug, S./S. Müssig/A. Stichs (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Forschungsbericht 6, Nürnberg. John, W. (1970): The Commander of the Faithful: The Moroccan Political Elite – A Study in Segmented Politics, New York. Kemper, T./S. Pazun (2014): Bildungsbeteiligung und Schulerfolg marokkanischer Schüler, in: Jenseits von Rif und Ruhr, Wiesbaden, S. 33, 64. Keupp, H. (1999): Ohne Angst verschieden sein können. Riskante Chancen in einer postmodernen Gesellschaft, Vortrag, Jahrestagung des dvb am 12. Oktober 1997 in Seeheim-Jugenheim, hg.vom Deutschen Verband für Bildungs- und Berufsberatung e. V., URL: www.mitglieder.dvb-fachverband.de/fileadmin/medien/scripte/Keupp_97.pdf (letzter Zugriff 15. 7. 2019). Keupp, H. (2010): Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft, Eröffnungsvortrag am 18. April im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010 (www.lptw.de), URL: www.lptw.de/ar-

Anhang

chiv/vortrag/2010/keupp-vom-ringen-um-identitaet-in-der-spaetmodernen-gesellschaft-lindauer-psychotherapiewochen2010.pdf (letzter Zugriff 11. 12. 2018). Khallouk, M. (2008): Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas. Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden. Klose, J. (Hg.) (2014): Heimatschichten: Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden. Lobensommer, A. (2010): Die Suche nach ›Heimat‹: Heimatkonzeptionsversuche in Prosatexten zwischen 1989 und 2001, Ausgabe 2003, Frankfurt a.M. Lübbe, H. (2013): Im Zug der Zeit: Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Wiesbaden. Luhmann, N. (2000): Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. Lyotard, J. F. (1988): Le postmoderne expliqué aux enfants, Paris. Pfeiffer, C./D. Baier/S. Kliem (2018): Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland: Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention, URL: www.zhaw.ch/storage/shared/sozialearbeit/News/gutachten-entwicklung-gewaltdeutschland.pdf Pott, A./K. Bouras-Ostmann/R. Hajji/ S. Moket (Hgg.) (2015): Jenseits von Rif und Ruhr: 50 Jahre marokkanische Migration nach Deutschland, Wiesbaden. PRC (Pew Research Center) (2018): Christ sein in Westeuropa, URL: www.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/7/2018/05/BeingChristian-in-Western-Europe-FINAL-GERMAN.pdf Rafoud, A. (2010): 50 Jahre marokkanische Migration: Dokumentation mit Fotos, Kinzelbach. Šafīq, M. (1967): An meinen Amazigh-Bruder [Ilā Sadīq Amaziġī], Casablanca. Schlink, B. (2000): Heimat als Utopie 113, Frankfurt a.M. Schweitzer, F./G. Wissner/A. Bohner/R. Nowack/M. Gronover/R. Bos (2018): Jugend – Glaube – Religion: Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions-und Ethikunterricht, Münster.

103

104

Religion und Identität

Sironneau, J. P. (2011): Sécularisation et religions politiques 17, with a Summary in English, Berlin, S. 147. Statistisches Bundesamt, S. J. S. (2018): Jahrbuch (Destatis). Streib, H./C. Gennerich (2011): Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim. Vopel, S./Y. El-Menouar (2018): Der Religionsmonitor, Bertelsmann Stiftung, URL: www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/ueber-die-studie. Waterbury, J. (2004): Kommandant der Gläubigen. Die Monarchie und die marokkanische politische Elite [Amīr al-Muʾminīn: al-Malakiyya wa-nNuḫba as-Siyāsiyya al-Maġribiyya], Rabat. Woodhead, L. (2017): Wie der Feminismus die Religionsforschung revolutioniert hat, in: Religion und Geschlechterordnungen, Wiesbaden.

Webseiten www.deutsche-islam konferenz.de www.aljamaa.net/ar/document/2262.shtml www.bertelsmann-stiftung.de www.zhaw.ch

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Kapitalsorten und Identitätsentwicklung  .............................. 18 Abb. 2: Das Gebet bei Frauen und Männern .................................. 46 Abb. 3: Das Gebet nach Bildungsniveau ...................................... 47 Abb. 4: Moscheebesuch nach Herkunftsstadt................................. 49 Abb. 5: Das Fasten im Ramadan im Allgemeinen .............................. 51 Abb. 6: Das Fasten im Ramadan unter Frauen und Männern .................. 52 Abb. 7: Auswendiglernen des Korans ......................................... 54 Abb. 8: Auswendiglernen des Korans bei Frauen und Männern ................ 55 Abb. 9: Auswendiglernen des Korans nach Bildungsniveau ................... 56 Abb. 10: Quellen des religiösen Wissens im Allgemeinen ...................... 57 Abb. 11: Quellen des religiösen Wissens bei Frauen und Männern .............. 58 Abb. 12: Meinung über Zinsen ............................................... 65 Abb. 13: Meinung über Bankzinsen unter Frauen und Männern ................ 66 Abb. 14: Meinungen über Homosexualität bei Frauen und Männern ............ 70 Abb. 15: Meinungen über Homosexualität nach Bildungsniveau ................ 71 Abb. 16: Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren ...................... 75 Abb. 17: Andere auffordern, zum Islam zu konvertieren, unter Männern und Frauen ...................................................................... 75 Abb. 18: Nationale und religiöse Identität .................................... 79 Abb. 19: Die Identitätsfrage bei Männern und Frauen .......................... 81 Abb. 20: Ist die religiöse Identität wichtiger als die nationale? ............... 83 Abb. 21: Identität nach Herkunftsstadt ....................................... 87 Abb. 22: Der Islam als Teil der deutschen Identität ........................... 89

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Zugehörigkeiten der Muslime in Deutschland nach religiösen Strömungen................................................................. 43

Islamwissenschaft Abbas Poya (Hg.)

Koranexegese als »Mix and Match« Zur Diversität aktueller Diskurse in der tafsir-Wissenschaft 2017, 218 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4112-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4112-1

Ayse Uygun-Altunbas

Religiöse Sozialisation in muslimischen Familien Eine vergleichende Studie 2017, 484 S., kart., 4 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4047-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4047-6

Theresa Beilschmidt

Gelebter Islam Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland 2015, 270 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3288-0 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3288-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Islamwissenschaft Florian Kreutzer

Stigma »Kopftuch« Zur rassistischen Produktion von Andersheit (unter Mitarbeit von Sümeyye Demir) 2015, 236 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3094-7 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3094-1

Abbas Poya

Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext 2014, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2590-5 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2590-9

Sabine Schmitz, Tuba Işik (Hg.)

Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel 2015, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2561-5 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2561-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de