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German Pages 344 [345] Year 2024
Hannah Judith Religion als Produkt der Evolution?
Religionswissenschaft Band 39
Hannah Judith (Dr. theol.), geb. 1994, ist Referentin für Ökumene im erzbischöflichen Ordinariat München. Gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes promovierte sie an der Paris Lodron Universität Salzburg, Österreich. Darüber hinaus war sie Gründerin und Moderatorin des dortigen Network of Young Scholars in Jewish-Christian Dialogue. Sie studierte Theologie an der Universität Bonn und am Theologischen Studienjahr Jerusalem.
Hannah Judith
Religion als Produkt der Evolution? Vom Spiegelverhältnis zwischen Evolutionsanthropologie und Fundamentaltheologie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dn b.de/ abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Felix Fleckenstein Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839470947 Print-ISBN: 978-3-8376-7094-3 PDF-ISBN: 978-3-8394-7094-7 Buchreihen-ISSN: 2703-142X Buchreihen-eISSN: 2703-1438 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Gewidmet dem 44. Theologischen Studienjahr Jerusalem und seinem Dekan Ulrich Winkler (†) Von und mit Euch habe ich gelernt, was es bedeutet, Theologin zu sein.
Inhalt
Vorwort ....................................................................................... 13 Einleitung ..................................................................................... 15 Das Forschungsfeld der evolutionären Anthropologie ............................................ 16 Offene Forschungsfragen ...................................................................... 18 Aufbau und Zielsetzung ....................................................................... 20
Teil I: Evolutionsanthropologische Modelle der Religionsentstehung 1. 1.1. 1.2. 1.3.
Kognitionswissenschaftliche Grundlagen ...............................................27 Theory of Mind (ToM) und Agency Detective Device (ADD).................................. 28 Kontraintuitive Konzepte als kognitive Interpretationsschlüssel ........................... 30 Kognitionswissenschaftliche Ableitungen zur Entstehung von Gotteskonzepten............ 32 1.3.1. Tod als kognitive Dissonanz ...................................................... 32 1.3.2. Kognitionspsychologische Funktionen von Religionsvollzügen ..................... 34 Exkurs: Der Code des Vergessens als evolutiver Erkenntnisprozess ......................... 37
2. Sozialevolutive Frageüberhänge ........................................................ 41 Exkurs: Der Entwicklungsfaktor ›Komplexität‹................................................... 42 2.1. Ein kritischer Blick in die Memtheorie .................................................... 45 2.2. Soziologische Grundlegungen von Émile Durkheim........................................ 49 2.3. Große Gehirne, große Gruppen und der Bedarf an Kooperation ............................ 53 Exkurs: Spieltheoretische Selektionstheorien und altruistisch orientierte kin selection ............ 55 2.4. Religion als Kooperationsfaktor in Großgruppen ...........................................57 2.4.1. Religion als gruppenselektive Adaption ........................................... 58 2.4.2. Kognitionspsychologische Ergänzungen .......................................... 60 2.4.3. Rituelle Gruppenpraktiken als Kooperationstreiber ................................ 63 2.5. Kollektive Intentionalität als Motor gemeinschaftlicher Vollzüge........................... 65 2.5.1. Kollektive Intentionalität nach Michael Tomasello ................................. 66 2.5.2. Sprachphilosophische und sozialpragmatische Öffnungen..........................72
3.
Ergebnissicherung. Religion als ein Faktor im evolutionsanthropologischen Komplex ..............................................77
4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion ......... 83 4.1. Religion als kognitiver Irrglaube? ........................................................ 84 4.1.1. Kognitionsbezogene Religionskritik bei Daniel C. Dennett.......................... 84 4.1.2. Kritische Konfrontation mit den evolutionsanthropologischen Ergebnissen ........ 86 4.1.3. Veränderte Frageperspektive. Der erkenntnistheoretische Ort der Religion......... 89 4.2. Die ›Achsenzeit‹ als Anwendungsfall religiöser Sinnperformanz? ......................... 92 4.2.1. Die Achsenzeitthese von Karl Jaspers ............................................ 93 4.2.2. Jan Assmanns heuristische Rezeption der Achsenzeitthese ....................... 96 Exkurs: Shmuel N. Eisenstadts modernitätstheoretische Neuauflage der Achsenzeitthese .....97 4.2.3. Robert Bellahs performative Religionshermeneutik................................102 Exkurs: Methodische Einordnung des Performanzbegriffs ..................................108 5.
Schlussfolgerung I: Methodologische Herausforderungen evolutiver Religionsverständnisse ..................................................... 117
Teil II: Methodologische Umstellungen als theologische Propädeutik 6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche.................125 6.1. Methodologische Konsequenzen einer performativen Religionshermeneutik ...............126 6.2. Ritual- und Symboltheorie als religionsevolutive Erkenntnistheorie........................128 6.2.1. Ursula Raos performanztheoretische Ritualforschung .............................128 6.2.2. Robert Cummings Nevilles Verständnis von ›symbolischer Wahrheit‹ ..............129 6.2.3. Ritualpraktiken als erkenntnistheoretische Paradoxie .............................130 6.3. Performative Religionshermeneutik im Horizont einer Metaphysik(-kritik) .................135 6.3.1. Realitätsbezüge im Gepräge wirkmächtiger Metaphern ............................135 6.3.2. Pragmatische Neuverortungen von Religionsvollzügen als Metaphysik(-kritik) ......138 7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung .............................143 7.1. ›Différance‹, oder: Vermessung der erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen ......144 7.2. Eine evolutionsbezogene Dekonstruktion theologischer Epistemologie .................... 147 7.2.1. Derridas Radikalisierung der Sprechakttheorie....................................148 7.2.2. Dekonstruktion als metaphysikkritisches Potenzial ...............................150 7.2.3. Derridas paradoxale (De-)Konstruktion von Transzendenzcodes ...................152 7.3. ›Différance‹-Geschehen und Offenbarungsgeschehen bei Derrida und Barth ..............155 7.3.1. Karl Barths Dekonstruktion des Analogiebegriffs ..................................155 7.3.2. Eine Heilsökonomie der Differenz ................................................158 7.3.3. Offenbarungstheologische Erkenntnistheorie und Evolutionsanthropologie ........164 7.4. Religiöse Vollzüge als wissenschaftstheoretische Reflexionsfolie.......................... 171 Exkurs: Interdependenz von Transzendenzcodierungen und Offenbarungstheologie in Dei Verbum ...................................................... 175
8.
Definitorische Vermessung. Das religionsevolutive Spannungsfeld als interdisziplinäres Erkenntnisfeld................................................... 179 8.1. Religiöse Codes – Projektionen oder Ausdruck transzendenter Performanz? ...............186 8.2. Das erkenntnistheoretische Differenzparadox – Theologischer Sonderweg oder interdisziplinärer Herausforderungshorizont? .......................................190 Exkurs: Erkenntnis im Prozess. Motivik und Komposition von Gen 3 ...............................192 8.3. Religiöse Vollzüge – Gefangene im System oder Auslöser systemischer Eigenwirksamkeiten? ......................................................196 9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹ ..............................201 9.1. Die Kontroverse zwischen Luhmann und Habermas im religionsevolutiven Spannungsfeld ................................................... 202 9.1.1. ›Sinn‹ als soziologischer und religionsevolutiver Grundbegriff bei Habermas ..... 206 9.1.2. ›Sinn‹ als soziologischer und religionsevolutiver Grundbegriff bei Luhmann ....... 210 Exkurs: Systemtheorie im religionsevolutiven Diskurs. Aktuelle Theoriebildungen Volkhard Krechs ................................................ 215 9.1.3. Kritische Zusammenschau ...................................................... 222 9.2. Transzendenter ›Sinn‹ als operativ-relationale Größe .................................... 226 9.2.1. Relationale Operativität bei Armin Nassehi....................................... 227 9.2.2. Religion als operative Sinnperformanz........................................... 230 10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie .... 235 Exkurs: Die methodologische Metapher des ›Spiegels‹ .......................................... 242
Teil III: Systematisch-theologische Erprobungen 11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld ............. 249 Exkurs: Einordnung der Überlegungen im Horizont des Gabediskurses ............................251 11.1. Das augustinische Offenbarungsverständnis als Differenzhermeneutik................... 257 11.2. Plädoyer für eine relationale Offenbarungspragmatik .................................... 267 11.2.1. Die Praxisgebundenheit der Offenbarungsrede und ihr Referenzanspruch ........ 269 Exkurs: Ist Evolution Offenbarung Gottes? Eine Verhältnisbestimmung ..................... 270 11.2.2. Relationale Referenzlogik als offenbarungsbezogene Diskursform ................ 277 11.3. Modell einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik................................. 286 12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie ................. 295 12.1. Christologische Skizzen im Lichte evolutionsbezogener Relationalität und Materialität .... 296 12.1.1. Die lukanische Emmauserzählung (Lk 24,13-35) .................................. 296 12.1.2. Chalkedonensische Differenzchristologie ........................................ 298 12.1.3. Christologie als relational-aktuale Offenbarungspragmatik ....................... 300 12.2. Kollektive Intentionalität und der Offenbarungsbezug der Kirche ......................... 304 12.2.1. Kirche als Beziehungskonstellation im lukanischen Doppelwerk .................. 305
12.2.2. Christologische und pneumatologische Konzilsekklesiologie...................... 308 12.2.3. Ekklesiologische Relativierungen als evolutionsanthropologische Anschlussmöglichkeit............................. 311 13.
Schlussfolgerung III: Potenziale des Diskurses zwischen evolutionärer Anthropologie und systematischer Theologie ................ 317
Literaturverzeichnis ........................................................................ 325 Abbildungsverzeichnis .......................................................................341
Abstract
Abstract [English version below] In den vergangenen 20 Jahren hat das Interesse evolutionsanthropologischer Forschungen an transzendenzbezogenen Praktiken und religiösen Systemen als Faktor der menschlichen Entwicklung stetig zugenommen. Die Rezeption dieser Forschungsarbeiten verweist auf ein Spannungsfeld zwischen Prozessen natürlicher Selektion, kognitiven Dispositionen des Menschen und der bewusst reflektierten Suche nach Sinn. Über eine erkenntnisphilosophische und sozialwissenschaftliche Propädeutik reflektiert die vorliegende Arbeit die methodologischen Herausforderungen, die aus diesem Spannungsfeld sowohl für theologische als auch für evolutionsbezogene Religionsmodelle erwachsen. Es wird deutlich, dass die evolutionäre Anthropologie die Religion auf ihre immanenten Kontingenzen verweist und ihre Wahrheitsansprüche auf diese Weise radikal relativiert. In diesem Zusammenhang stellt die vorliegende Arbeit die bisher nicht explizit behandelte Frage nach der erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Vollzüge im Evolutionsprozess. Auf dieser Grundlage ist es möglich, die evolutionsanthropologische Relativierung religiöser Sinnbezüge zugleich als theologieproduktiven Faktor zu verstehen. Sie führt zu einem relationalen und pragmatischen Offenbarungsmodell. Dieser theologische Zugang zum evolutionsanthropologischen Herausforderungsrahmen verweist schließlich auch auf die blinden Flecken evolutionstheoretischer Naturalismen und Funktionalismen. Die Arbeit stellt damit einen theologischen Beitrag dar, der in der Lage ist, sich interdisziplinär in aktuelle anthropologische und fundamentaltheologische Diskurse einzubringen. Abstract [English version] In the past 20 years, the interest of evolutionary anthropological research in transcendental practices and religious systems as a factor of human development has increased. The reception of this research portfolio points to a field of tension between the processes of natural selection, the cognitive dispositions of the human being and the consciously reflected search for meaning. By means of an epistemological and social-scientific propaedeutics, the present work reflects on the methodological challenges that arise from this field of tension for both theological and evolutionary models of religion. It becomes clear that evolutionary anthropology refers religion to its immanent contingencies and thus radically relativizes its truth claims. In this context, the present work poses the question of the epistemological location of religious practices in the evolutionary process, a question that has not been explicitly addressed so far. On this basis it is possible to understand the evolutionary anthropological relativization of religious meaning as
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productive for theology. It leads to a relational and pragmatic model of revelation. This theological approach to the evolutionary-anthropological challenges finally also points out the blind spots of evolutionary naturalisms and functionalisms. Thus, the work represents a theological contribution that is capable of interdisciplinary engagement in current anthropological and systematic-theological discourse.
Vorwort
Den Stundenaufwand einer Dissertation vermag jedes schnöde Zeiterfassungssystem abzubilden. Das Herzblut, die Mühe und die Emotionen nicht nur der Verfasserin, sondern auch der vielen, vielen Menschen in ihrem Umfeld, sind schwieriger darzustellen. Sie gerinnen in Namen, Erinnerungen, Personen und Gesprächen – kurz: in Beziehung. Dass Theologie auch als Wissenschaft ohne diese Beziehungen leer wäre, haben mich nicht nur die fachlichen Bezüge dieser Arbeit gelehrt, sondern insbesondere die Menschen, die mich und mein Theologietreiben während der letzten Jahre begleitet haben – ihnen möchte ich noch vor jedem wissenschaftlichen Wort meinen Dank aussprechen: An erster Stelle gilt dieser Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Gregor Maria Hoff, dessen überbordende Freude an theologischen Gedankenexperimenten mich nach unserer Begegnung im 44. Theologischen Studienjahr Jerusalem zu der Bauchentscheidung ›Diss in Salzburg‹ gebracht hat – die beste Entscheidung, die ich treffen konnte! Dass mich sein scharfes Denken, Fragen, Forschen und seine zuverlässige Betreuung durch die Promotionszeit getragen haben, empfinde ich als großes Glück. Für die wichtigen kulturwissenschaftlichen und religionstheologischen Einblicke möchte ich darüber hinaus meinem Zweitbetreuer Herrn Prof. Dr. Franz Gmainer-Pranzl danken. Herrn Prof. Dr. Martin Breul danke ich für das mir schon am Beginn der Arbeit entgegengebrachte, wohlwollende Interesse an meinem Projekt und besonders für die Mühe des Zweitgutachtens. Für die ideelle und finanzielle Förderung, die mein Forschungsvorhaben erst ermöglicht hat, danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ferner danke ich dem Verein AGENDA Forum katholischer Theologinnen e.V. für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses für die Umsetzung dieses Buchprojektes. Ein besonderer Dank gilt auch meinen akademischen Weggefährt*innen aus dem Umfeld des fundamentaltheologischen Doktorandenkolloquiums und des theologischen Exzellenzprogramms in Salzburg: Julia Feldbauer, Elisabeth Höftberger, Manuel Kuhn, Johannes Lackner, Sarah Pieslinger und Andrea Schmuck. Eure Anregungen haben meine Arbeit entscheidend vorangebracht. Danke, dass ihr den persönlichen und akademischen Kontakt aller pandemischen Widrigkeiten zum Trotz gepflegt habt und wir uns so gegenseitig immer wieder motivieren konnten!
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Dass ich bei der Erstellung dieser Arbeit auch außerhalb von Salzburg zahlreiche persönliche und wissenschaftliche Kontakte dazugewonnen habe, ist schließlich dem Nachwuchsnetzwerk Dogmatik und Fundamentaltheologie und insbesondere dem Koordinationsteam, dem ich zwei Jahre angehören durfte, zu verdanken. Danke für die ›Laborgespräche‹ und ›unfertigen Gedanken‹, die ich mit euch, Dr. Cornelia Dockter, Felix Fleckenstein, Tom Sojer und Dr. Stephan Tautz, teilen durfte. Dass Felix Fleckenstein darüber hinaus die Mühen des Korrekturlesens mit der perfekten Mischung aus präzisen Rückfragen und wohlwollendem Zuspruch auf sich genommen hat, ist einen eigenen Dank wert. Meine Familie hat mir als erstes ein Zuhause, Geborgenheit und Wissbegierde mit auf den Weg gegeben. Dafür bin ich zutiefst dankbar meinen Eltern Martina und Hendrik Judith, meiner Großtante Käthe Wermers und meinem Großonkel Paul Wermers (†). Dass ich mit meiner Oma Hedwig Wermers eine der bodenständigsten Alltagstheolog*innen kenne, hat einen enormen Einfluss auf meinen Weg gehabt. Dass meine Tante Andrea Brinkhaus-Wermers mir schließlich über die Musik gezeigt hat, was KircheSein und Gottesbeziehung bedeuten kann, bedarf eines eigenen Dankes. Meiner Schwiegerfamilie – Ute und Peter Wolf mit Elisabeth, Judith und Matthias – danke ich für den Zuspruch und alle rheinische Fröhlichkeit. Mein Zuhause, das ist auch mein Mann Johannes: Ohne deine Geduld und deinen Zuspruch hätte ich nicht nur so manches Mal meinen Mut und mein Selbstbewusstsein fahren lassen, ohne dich hätte ich sicherlich auch oft vergessen, dass es ein Leben außerhalb der Wissenschaft gibt. Danke, dass du dein Leben mit mir teilst und im Gottvertrauen darauf baust: »Wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt, zwei sind ihm gewachsen und eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell.« (Koh 4,12). Theologie geschieht in Beziehungen und mit Theologie ist man nie einfach fertig – das ist anstrengend, weil emotional und rational fordernd, und: Es ist einfach wunderbar! Die dafür notwendige Zielstrebigkeit und die erforderliche Prise Humor haben mich meine Studienkolleg*innen und die Studienleitung im 44. Theologischen Studienjahr Jerusalem 2017/18 gelehrt. Ohne euch wäre ich nicht nur eine schlechtere Theologin geworden – vermutlich hätte ich ohne euch auch nie ganz kapiert, was das ist – ›Theolog*in sein‹. Danke, dass ihr meine Geschwister seid: Cedric Büchner, Martina Edenhofer, Anne-Kathrin Fischbach, Lucas Gaa, Dominik Gantenbein, Florence Gantenbein, Simon Gleichauf, Simeon Gloger, Leon Hanser, Lukas Hennecke, Johannes Judith, Paula Kautzmann, Antonia Klumbies, Simon Manderla, Valerie Mitwali, Jakob Nehring, Julia Pape, Felix Read, Jonathan Steilmann, Emma Wagner, Ulrich Winkler (†). Euch ist diese Arbeit gewidmet. Augsburg, im September 2023 Hannah Judith
Einleitung
»Is religion a product of our evolution? The very question makes many people, religious or otherwise, cringe, although for different reasons. Some people of faith fear that an understanding of the processes underlying belief could undermine it. Others worry that what is shown to be part of our evolutionary heritage will be interpreted as good, true, necessary or inevitable. Still others, many scientists included, simply dismiss the whole issue, seeing religion as childish, dangerous nonsense.«1 Die Kontroversen rund um das Themenfeld ›Religion und Evolution‹, die Pascal Boyer hier anspricht, beschäftigen ihn als Psychologen, Anthropologen und Religionswissenschaftler nicht zufällig: Der von ihm bearbeitete Fächerkanon wirbelt die angedeutete Diskussion in den letzten 20 Jahren immer stärker auf. Boyer skizziert den Spannungsreichtum der Verhältnisbestimmung zwischen Evolution und Religion, mit dem es auch die vorliegende Arbeit zu tun hat. Sie arbeitet sich daran ab, was überhaupt in welchem Forschungskontext und mit welchen Interessen und methodischen Vorannahmen unter dem Begriff ›Religion‹ subsumiert wird, wie transzendenzbezogene Handlungen und Modelle funktionieren und ob und wie Schlagwörter wie ›gut‹ oder ›gefährlich‹, ›wahr‹ oder ›falsch‹, ›Sinn‹ oder ›Unsinn‹ überhaupt begründet mit der Analyse von Religion(en) in Bezug gebracht werden können. Boyer reißt auch Konfliktlinien zwischen Glaubensdiskursen und den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Interpretationsweisen an. Die zitierte Aussage steht damit wie eine spannungsreiche Überschrift über dieser Forschungsarbeit. Das vorliegende Buch versucht aus theologischer Sicht, Licht in dieses auf den ersten Blick ›cringe‹ Themenfeld zu bringen. Auf welche Rezeptionsgrundlage es dabei rekurriert, warum sich das daraus abgeleitete Frageportfolio als fundamentaltheologisch und zugleich interdisziplinär höchst relevant erweist und welcher Aufbau sich daraus ergibt, sollen die folgenden drei einleitenden Abschnitte transparent machen.
1
Pascal Boyer, Religion. Bound to believe?, in: NATURE 455 (2008) 1038f., hier: 1038.
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Das Forschungsfeld der evolutionären Anthropologie Das Forschungsfeld der evolutionären Anthropologie geht der Entstehung von menschlichen Kultur- und Sozialsystemen nach. Dabei vereint es verschiedene Disziplinen und Methoden und nimmt interdisziplinäre Verknüpfungen vor. Beteiligt sind etwa Neuropsychologie, Evolutionsbiologie, Kognitionswissenschaft sowie Kulturwissenschaften, Soziologie, Ethnologie und Archäologie. Das Forschungsinteresse liegt schwerpunktmäßig auf der Analyse des evolutiven Zusammenspiels zwischen biologischen Rahmenbedingungen, dem kognitiven Fähigkeitszugewinn der frühen Menschen2 und der damit verbundenen soziokulturellen Komplexitätssteigerungen. Es ergeben sich produktive Überschneidungen zwischen naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Methoden. Biologische Voraussetzungen, komplexer werdende Gesellschaftssysteme, kulturelle Codes und ihre kognitive Erfassung erscheinen als »overlapping realities«3 . Anders als bei nicht interdisziplinär orientierten evolutionstheoretischen Untersuchungen, versuchen evolutionsanthropologische Neuorientierungen, die neuronalen und genetischen Entwicklungsmodelle mit weiterführenden Erkenntnissen etwa zu kognitiven, sozialen und kulturellen Faktoren der Evolution zusammenzudenken. Im Rahmen evolutiv arbeitender Kognitionswissenschaften geht es etwa um die Frage, »wie sich Verstehen als kognitive Fähigkeit während der Vorgeschichte und der Geschichte des Menschen zu einer wichtigen Dimension des menschlichen Denkens entwickelte und wie sich diese Fähigkeit heute während der Ontogenese in einer Generation von Kindern nach der anderen entwickelt.«4 Es ergibt sich auf diese Weise eine Neujustierung eines Großteils dieser disziplinenübergreifenden Forschungen seit den 1990ern und verstärkt den 2000er Jahren. In der interdisziplinären Rahmung evolutionärer Anthropologien lässt sich auch ein gesteigertes Interesse für die entwicklungsgeschichtliche Rolle menschlicher Transzendenzbezüge und ihrer rituellen sowie normativen Ausdrucksformen beobachten. Es wird die Frage gestellt, welche Entwicklungsbedingungen zur Entstehung von Transzendenzbezügen in menschlichen Kulturen geführt haben und welche eigenständige evolutive Motorenfunktion ›religiöse‹ Weltdeutungen in der komplexen soziokulturellen Evolution menschlicher Gesellschaften einnehmen. Durch die Weitung der 2
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Zumeist beziehen sich die im Folgenden konsultierten Studien auf Entwicklungsschübe, die ab 400.000 v. Chr. mit dem Auftreten des homo heidelbergensis einsetzen und sich in der Folge bis in die Zeit um 100.000 v. Chr. hinein erstrecken, in der erstmals vom modernen Menschen die Rede sein kann. So sieht etwa Michael Tomasello an dieser Stelle den entscheidenden Entwicklungsschritt vom sogenannten ›Last Common Ancestor‹ zwischen Menschen und Primaten zur genuin menschlichen Entwicklung. Sie macht er zuvorderst an der Fähigkeit zu komplexer Kooperation fest und grenzt seinen zeitlichen Bezugspunkt entsprechend ein: »From there we posit two new ›environments of evolutionary adaptedness’ that selected for humans’ ultra-cooperativeness: one focused on face-to-face collaboration in early humans from around 400,000 years ago, and the other focused on culture in modern humans from around 100,000 years ago.« (Michael Tomasello, Becoming Human. A Theory of Ontogeny, Cambridge (MA)/London 2019, 11). Robert N. Bellah, Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge (MA) 2011, 8. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition (Stw 1827), Frankfurt a.M. 2006, 9.
Einleitung
Perspektive auf die evolutive Entwicklung und Funktion religiöser Systeme im Hinblick auf Kognitionsprozesse und kollektive Verständigungsmechanismen, kommt es auch hier zu stetigen interdisziplinären Kooperationen.5 So verhilft etwa die Rezeption ethnologischer und archäologischer Ergebnisse sowie ihre Konfrontation mit der kognitionspsychologischen Primatenforschung zu einer neuen Betrachtung gesellschaftlicher Kooperationsmechanismen und Kulturtechniken. Dabei werden die biologisch-selektiven Mechanismen der Kognitionsentwicklung nicht verneint. Sie werden jedoch mit weiteren Entwicklungsfaktoren verknüpft. Kognitive Dispositionen des Menschen werden in diesem Zuge als ein Teil der verwobenen Entwicklung eines kreativen Umgangs mit evolutivem Selektionsdruck verstanden, der zur Etablierung transzendenter Deutungsmuster führen kann. Im Verbund mit kulturellen und sozialen Techniken reagieren Transzendenzcodes demnach auf die wachsende gesellschaftliche Komplexität, mit der die frühen Menschen zunehmend konfrontiert waren. Religion6 kann gemäß dieser interdisziplinären Betrachtungsweise nicht mehr als reines Nebenprodukt evolutiver Zufälle aufgefasst werden. Vielmehr erweist sich die Datenlage als Grund zur Annahme, dass religiöse Praktiken und Narrative eng mit der Entwicklung der menschlichen Kognition und Intentionalität in Verbindung stehen.7 Vor diesem Hintergrund bedarf es neuer analytischer Instrumente, mit denen menschliche Erfahrungen und ihre kognitive Verarbeitung mit soziokulturellen Identitätsbildungen zusammengedacht werden können. Zudem ist es sinnvoll, eine Auswertung der Vielschichtigkeit der Faktoren, die evolutive Schübe auf dem Weg zum modernen Menschen prägten, vorzunehmen. Bis dato herrscht in den verschiedenen Strömungen der evolutionären Anthropologie dabei häufig Uneinigkeit über die genaue Einordnung, 5
6
7
Vgl. Adele Abrahamsen – William Bechtel, History and Core Themes, in: Keith Frankish – William M. Ramsey (Hgg.), The Cambridge Handbook of Cognitive Science, Cambridge 3 2013, 9–28, hier: 9f. Im Folgenden wird der Begriff ›Religion‹ zunächst im dargestellten, weitesten Sinne für Spuren und Mechanismen einer transzendenzbezogenen Weltdeutung und Sozialkonstruktion verwendet. Dabei entspricht dieser erste weite Verwendungsrahmen den Kontroversen um das Religionsverständnis, die auch in der evolutionären Anthropologie aufgeworfen und in weiten Teilen nicht konzise eingeholt werden. Einen guten Überblick über diese definitorische Unklarheit und die damit verbundenen religionswissenschaftlichen Diskussionen liefert Michael Bergunder, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: ZfR 19//1/2 (2011) 3–55. Bergunder verweist hier auf die Normativität, die auch mit vermeintlich neutralen Religionsdefinitionen einhergeht (vgl. ebd., 47f.). Diese Erkenntnis macht die Betrachtung der in den rezipierten Studien und Modellen implizit angelegten Religionsverständnisse so interessant und relevant. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird vor dem Hintergrund der diffusen Begriffsverwendung im rezipierten Forschungsfeld daher ein wichtiger Fokus auf der Entwicklung einer kritischen, interdisziplinär ausgewogenen, auch theologisch anschlussfähigen Religionsdefinition angesichts evolutionsanthropologischer Erkenntnisse liegen (vgl. dazu Kapitel 8). Sie versucht, dem Anspruch Bergunders gerecht zu werden, der dazu auffordert, die Kontroversen um den Religionsbegriff sowie die historische und perspektivenbezogene Kontingenz seiner Füllung selbst mit zum Gegenstand der Forschung zu machen. Er hält fest: »Differenzen über den genauen Inhalt des Gegenstandes ›Religion‹ werden dabei zu Fragen der angemessenen Interpretation historischer Quellen und damit ebenfalls historisiert und in der konkreten religionsgeschichtlichen Arbeit verortet.« (ebd., 55). Vgl. Boyer, Religion, 1039.
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Definition und Bedeutung von Transzendenzbezügen im Rahmen der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Zwischen selektionstheoretisch argumentierenden Funktionalismen und der starken Betonung einer intentional organisierten Sinnstiftung ist in den vergangenen zwanzig Jahren eine große Bandbreite an Theoriebildungen entstanden. Grundsätzlich stimmen diese darin überein, unter ›Religion‹ zunächst die menschliche Fähigkeit zu einer metaperspektivischen Weltbearbeitung zu verstehen, die im weitesten Sinne auf eine transzendente Sphäre zurückgreift, um jenseits des kontingenten Welterlebens normative und sinnstiftende Sicherheit zu generieren. Dabei liegt der Fokus des evolutionsanthropologisch erschlossenen Religionsverständnisses auf ihrer Komplexitätsbearbeitungsfunktion. Das wäre trivial – wenn sich nicht die Herausbildung von Transzendenzbezügen als evolutionsanthropologischer Motor kennzeichnen ließe. Er kommt im Zuge von Handlungskoordination zum Tragen und bestimmt so den Aufbau von Sozialität und Beziehungsmustern entscheidend mit. Im Verlauf der vorliegenden Überlegungen wird sich jedoch zeigen, dass viele der rezipierten Theorien trotz ihres Interesses für den Sinnbezug und das metaperspektivische Planungs- und Reflexionsbewusstsein des Menschen in ihrer Beschäftigung mit Religiosität in naturalistischen Erklärungsmustern verbleiben. Die konkrete Wirklichkeitsrelevanz religiöser Systeme wird ausgeklammert, obwohl ihre Transformationskraft im Verlauf der Entwicklung des Menschen im Rahmen der dargelegten kognitionspsychologischen und soziokulturellen Studien deutlich zutage tritt. Entgegen einer naturalistischen Engführung menschlicher Religionspraktiken zeigt sich in der interdisziplinären Öffnung des Diskurses daher, dass sich das Alleinstellungsmerkmal menschlicher Welterschließungsfähigkeit weder rein subjektivistisch oder naturalistisch noch konstruktivistisch-funktionalistisch auflösen lässt.
Offene Forschungsfragen Die angedeutete Problemskizze führt zum Interessenschwerpunkt dieser Arbeit. Er bezieht sich auf die in der evolutionären Anthropologie und systematischen Theologie angewandten Subjekt8 - und Wahrheitsbegriffe sowie die durch sie eingetragenen spezifischen wissenschaftstheoretischen Vorannahmen. Es ergeben sich neue Reflexionsansprüche, denen sich sowohl evolutionsanthropologische Beiträge natur- und humanwissenschaftlicher Couleur als auch die philosophische und theologische Erkenntnistheorie zu stellen haben. Die vorliegende Arbeit versteht sich als theologischer Beitrag im dargestellten interdisziplinären Feld. Sie reagiert auf das wachsende Interesse an der evolutiven Rolle von Transzendenzbezügen in der kognitiven und sozialen Entwicklung des Menschen. Sie versteht die interdisziplinären Öffnungen, die in der Beschäftigung mit der Entstehung religiöser Systeme verfolgt werden, als Chance und Herausforderung für die Fundamentaltheologie. Es gilt, die in den bis dato nur spärlich theologisch rezipierten Studien herausgearbeitete evolutive Kontingenz eines jeden religiösen Systems ernstnehmen. Zu8
Dabei wird keine klassische Subjekt- beziehungsweise Bewusstseinsphilosophie avisiert. Vielmehr ist das gesamte Setting der vorliegenden Arbeit evolutionär und anthropologisch aufgesetzt.
Einleitung
gleich kann eine theologische Perspektive evolutionsanthropologische Religionsdefinitionen mit den Auswirkungen ihrer eigenen Ergebniskomplexe konfrontieren. Aus fundamentaltheologischer Sicht stellen sich dabei vor allem Fragen zur erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Praktiken und Narrative im Spannungsfeld aus funktionalen Reaktionsmechanismen und metaperspektivischen Sinnperformanzen. Diese Verortung betrifft sowohl die menschlichen Religionspraktiken und ihre Rolle für die Entwicklungsgeschichte als auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser evolutiven Rolle von Transzendenzbezügen. Das vorliegende Vorhaben zielt daher eine doppelte Reflexionsleistung an, die schließlich in einem dritten Schritt auch eine neue theologische Modellierung erforderlich macht. Es ergibt sich ein Dreiklang aus Rezeption, Reflexion und theologischer Modellbildung, der die vorliegende Arbeit in ihrem Argumentationsgang prägt. Das Rezeptionsinteresse gilt zunächst den konkreten evolutionsanthropologischen Methoden zur Analyse von Transzendenzbezügen und den daraus abgeleiteten Religionsverständnissen. Die untersuchten Ansätze markieren religiöse Vollzüge als wirksame soziale Faktoren zur Komplexitätsbearbeitung in Gesellschaften. Transzendenzcodes überführen demnach Erfahrungen der Endlichkeit sowie den Bedarf an sozialen Vertrauensstrukturen jenseits familiärer Direktkommunikation in Großgruppen in ein übergeordnetes Sinngefüge. Auf diese Weise übersteigen sie materiale und soziale Immanenzen. So kommt es etwa zu Ahnen- und Göttervorstellungen, die Autoritäten einführen, mit deren Hilfe gesellschaftliche Normen und Handlungsweisen gefestigt werden. Viele der im Folgenden betrachteten Modelle können dabei nachzeichnen, dass eine bloße Einführung solcher Bezüge und Sinnhorizonte nicht ausreicht, um gesellschaftliche Resilienz zu garantieren. Vielmehr entfalten Transzendenzbezüge erst auf einer pragmatischen Erfahrungs- und Aushandlungsebene ihre sozialsystemische Wirksamkeit. Sie sind auf konkrete Riten und kollektiv geteilte Narrative verwiesen, die einer stetigen Aktualisierung bedürfen. Es lässt sich empirisch nachweisen, dass solche Aktualisierungen eine wirksame Veränderung sozialer Strukturen zur Folge haben. Die Einführung transzendenter Reflexionsmuster hat den Gang der menschlichen Entwicklung den Modellen zufolge daher über selektive Automatismen hinaus nachhaltig geprägt. Die Rede von einer transzendenten Bedeutungssphäre mit einer relevanten Eigenwirksamkeit ist damit grundsätzlich auch evolutionsanthropologisch anschlussfähig. Das in dieser kurzen Skizze aufgerufene Religionsverständnis hinterfragt ontometaphysische Vorannahmen der Theologie. Es ordnet Transzendenzbezüge streng sozialsystemisch in evolutive Mechanismen ein. Zugleich eröffnet sich bei einem Blick auf die blinden Flecken der skizzierten Erkenntnisse ein erkenntnistheoretischer Fragehorizont, der auf bis dato unbearbeitete Forschungsfragen verweist, denen sich die vorliegende Arbeit stellen wird: -
Wenn das gesellschaftliche Ausgangssetting im Rahmen metaperspektivischer Sinnhorizonte transzendiert wird, nehmen die verwendeten Codes für sich selbst nicht nur eine immanente Bearbeitungsfunktion in Anspruch. Sie rekurrieren vielmehr auf einen übergeordneten, immanente Sozialsysteme übersteigenden Transzen-
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denzraum. Kann diese Aufsprengung von Funktionalismen erkenntnistheoretisch als eigener Ort im Rahmen der menschlichen Evolution erschlossen werden? Kann religiöse Sinnbildung im Rahmen einer theologischen Argumentation vor dem evolutionsanthropologischen Hintergrund als eine »nützliche Nutzlosigkeit«9 erschlossen werden, ohne einen unwissenschaftlichen Ausschluss der selektiven und funktionalen Entstehungsfaktoren religiöser Bezüge vorzunehmen? Ist vor dem Hintergrund evolutionsanthropologischer Erklärungen der Rolle und Entstehung von Transzendenzbezügen die Rede von ›Glaubenswahrheiten‹ und ›religiösem Sinn‹ philosophisch zu rechtfertigen und vernünftig zu erschließen? Was bedeuten die im Folgenden zu erörternden evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Umstellungen im Religionsverständnis für den christlichen Offenbarungs- und Gottesbegriff?
Die vorliegende Arbeit leitet aus diesem Fragenportfolio schließlich eine eigene theologische Modellierung ab. Sie verfolgt das Ziel, sich aus fundamentaltheologischer Perspektive interdisziplinär sowohl rezeptiv als auch reflexiv in den Diskurs einzubringen. Damit das möglich wird, nimmt sie zunächst erkenntnistheoretische Umstellungen im theologischen Religionsverständnis vor, indem sie es auf evolutive Grundannahmen zum menschlichen Transzendenzbezug bezieht. Wenn es gelingt, einen erkenntnistheoretischen Ort religiöser Praktiken und Narrative im Rahmen evolutiver Entwicklungsprozesse zu erschließen und interdisziplinär plausibel zu machen, können auch kritische Anfragen an die kognitions- und systemtheoretischen Leerstellen der evolutionären Anthropologie herangetragen werden. Es ergibt sich dann ein neues Verständnis des Transzendenzbezugs als sinnproduktives Phänomen der menschlichen Evolution. Das Moment der ihm innewohnenden Performativität muss dabei im Einklang mit den evolutionsanthropologischen Erkenntnissen freigelegt werden. Konkret wird es also darum gehen, metaphysisch angelegte Symbolisierungen als eingebunden in ein performativ wirksames Spannungsfeld aus systemischen Emergenzen und handlungsbestimmten Sinnbezügen zu plausibilisieren.
Aufbau und Zielsetzung Aus dem skizzierten Herausforderungsportfolio ergibt sich auch der rote Faden für den Aufbau und die Zielsetzung der Arbeit. Methodisch versteht sie sich wie gezeigt als ein theologischer Beitrag im interdisziplinären Feld der evolutionären Anthropologie. Dabei strebt sie in Bezug auf die Analyse der evolutiven Rolle von Transzendenzbezügen und religiösen Codierungspraktiken eine doppelte Reflexionsleistung an: Die Beschäftigung mit den kognitionswissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und religionswissenschaftlichen Studien zur Entstehung von Religion zielt auf eine fundamentaltheologische Reflexion der theologischen Axiomatik ab. Diese Axiomatik sowie das spezifisch theologische Religionsverständnis bieten zugleich einen kritischen Spiegel für die 9
Alison Gopnik, Kleine Philosophen. Was wir von unseren Kindern über Liebe, Wahrheit und den Sinn des Lebens lernen können, übers. v. H. Kober, Berlin 2010, 22f.
Einleitung
evolutionäre Anthropologie. Sie konfrontieren insbesondere funktionale Fokuspunkte mit der metatheoretischen Sinnsphäre, auf die sich religiöse Bezüge berufen. Es wird sich zeigen, dass diese Sinnbezüge nicht nur konsekutiv, sondern auch konstitutiv mit der sozialevolutiven Rolle der Religion verbunden sind. Die im Folgenden erarbeitete erkenntnistheoretische Neuverortung des Religionsverständnisses und ihre systematischtheologische Konkretion trägt daher dazu bei, sowohl die Theologie als auch die Evolutionsanthropologie vor einem naturalistisch festgeschriebenen Funktionalismus ebenso wie vor einem undifferenzierten metaphysischen Realismus zu bewahren. Damit verweist sie auf ein bis dato unbearbeitetes theologisches Desiderat, dessen Erschließung zugleich auf noch weitgehend unbehandelte Folgefragen für die evolutionäre Anthropologie hinweist. Zur Rezeption, Reflexion und fundamentaltheologischen Verarbeitung der Analysen zur Entstehung menschlicher Religiosität gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei aufeinander aufbauende Teile. Sie entfalten sich entlang der oben angeführten Rezeptionsund Reflexionsschritte: 1. Zunächst erfolgt eine überblickshafte Rezeption der Kernergebnisse evolutionärer Anthropologien der vergangenen zwanzig Jahre. Der Fokus liegt dabei auf den jeweils abgeleiteten Religionsverständnissen der Ansätze und ihren Erkenntnissen zu Entstehungsbedingungen und Effekten religiöser Praktiken und Narrative im evolutiven Prozess (Teil I). Im Rahmen dieses rezeptiven Teils wird eine Auswahl einschlägiger Theoriestränge vorgenommen. Sie nimmt zunächst insbesondere Verknüpfungen zwischen kognitiver Entwicklung und der Grundstruktur transzendenter Bezugsgrößen in den Blick (vgl. Kapitel 1 und 1.3). Darüber hinaus gilt die Betrachtung der sozialevolutiven Anwendungsbereiche dieser kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse. Dabei geht es unter anderem darum, inwieweit als transzendent verstandene Akteur*innen eine Rolle für den Umgang mit dem kognitiv immer bewusster werdenden Problem der Endlichkeit des Menschen spielen. Mit diesem Interessenfeld verbundene Religionstheorien interessieren sich zudem für die wachsende Gruppengröße menschlicher Sozialverbünde und die Rolle von Transzendenzbezügen in diesen komplexen Organisationsformen (vgl. Kapitel 2). Der rezeptive Teil mündet in einem ersten erkenntnistheoretischen Scharnierstück auf dem Weg zu einer theologischen Rezeption der evolutionären Anthropologie (= Scharnier I; vgl. Kapitel 4). Es fokussiert auf religionskritische Schlussfolgerungen, die sich in einigen Ansätzen an die erörterten Modellierungen der Religionsevolution anschließen. Diese Zuspitzungen ermöglichen es, auf offene Flanken einer rein naturalistischen und funktionalistischen Interpretation der vorliegenden Ergebniskomplexe zu verweisen (vgl. Kapitel 4.1). Aus dieser ersten kritischen Perspektive ergeben sich schließlich Impulse für eine veränderte erkenntnistheoretische Heuristik. Sie wird auf der Grundlage einer religionsevolutiven Verarbeitung der Achsenzeitthese aufgerufen, an die sich eine performative Religionshermeneutik anschließen lässt (vgl. Kapitel 4.2). Der erste Teil der Arbeit mündet im Anschluss an die eingeführte Heuristik in einer Kartierung der methodologischen Herausforderungen für ein evolutionsanthropo-
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logisch informiertes Religionsverständnis. Es sieht sich einem spannungsreichen Feld aus komplexen Co-Evolutionen, funktionalen und selektiven Bedingtheiten und evolutiv wirksamen, sinnbezogenen Deutungshorizonten gegenübergestellt (vgl. Kapitel 5). 2. In einem zweiten Schritt erfolgt die methodologische Reflexion der religionsevolutiven Kernpunkte und ihrer erkenntnistheoretischen Einordnung. Sie werden in ein kritisches Verhältnis zum Selbstverständnis religiöser Transzendenz- und Sinnvorstellungen gesetzt. (Teil II). Religionen beanspruchen für sich selbst, sich auf einen universalen, metaperspektivisch gültigen »Sinn des Sinns«10 zu beziehen. Aus dieser Axiomatik heraus generieren sie ihre Weltdeutungen zugunsten einer Komplexitätsbearbeitung im evolutiven Umwelt- und Sozialkontext. Ohne dieses transzendente Sinnmoment könnten sie die analysierten Wirkungen und die mit ihnen verbundenen Funktionen nicht erfüllen. Sie sind also konsequent in das evolutive Spannungsfeld aus Umwelt, Sozialsystem und intentionalen Akteur*innen einzuordnen, ohne es dabei einseitig aufzulösen. Es bedarf daher einer methodologischen Reflexion, in deren Zuge metaphysische und begriffslogische Hypotheken sowohl der Evolutionsanthropologie als auch der Theologie zutage treten: Die herausgearbeiteten Religionsverständnisse werden im Anschluss an die achsenzeitlichen Analysen des ersten Hauptteils zunächst auf performanz- und symboltheoretische (vgl. Kapitel 6) sowie dekonstruktionstheoretische (vgl. Kapitel 7) Paradigmen bezogen, um die erkenntnistheoretische Funktionsweise von Transzendenzbezügen im skizzierten Spannungsfeld nachzuzeichnen. Eine differenzhermeneutisch geschärfte Rezeption der Wort-Gottes Theologie Karl Barths eröffnet in diesem Zuge überraschende Verbindungslinien des christlichen Offenbarungsverständnisses mit einer dekonstruktiven Hermeneutik. Daraus ergeben sich Möglichkeiten einer theologischen Aufnahme der erkenntnistheoretischen Kontingenzen, die die Evolutionsanthropologie aufruft (= Scharnier II; vgl. insbesondere Kapitel 7.3). Aus diesen erkenntnisphilosophischen und schrifthermeneutischen Anschlüssen leitet die vorliegende Arbeit eine heuristisch orientierte Religionsdefinition ab (vgl. Kapitel 8), die Transzendenzbezüge als aktual-relationale Prozesse im Spannungsfeld zwischen systemischen Automatismen, selektiven Funktionalismen und eigenwirksamen Metaperspektiven auf das soziale und biologische Systems plausibilisiert. Dieses Spannungsfeld gewinnt entlang der Theoriekontroverse zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas weiter an Profil (= Scharnier III; vgl. Kapitel 9). In Verbindung mit dem Operativitätsverständnis Armin Nassehis erschließt sich ein sowohl evolutionstheoretisch als auch theologisch anschlussfähiges Verständnis operativer Sinnperformanzen (vgl. Kapitel 9.2.1 und 9.2.2). Aus den erarbeiteten methodologischen Rahmenbedingungen heraus kann schließlich plausibilisiert werden, dass die erkenntnistheoretische Neuverortung religiöser Codierungen ihre sozialsystemischen und sinnhermeneutischen Komponenten 10
Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 4 2017.
Einleitung
in ein interdependentes religionsevolutives Verhältnis setzt (vgl. Kapitel 10). Es vermittelt auch eine parallel verlaufende, produktive und kritische Beziehung zwischen Theologie und evolutionären Anthropologien. Sie ist beiden Fächergruppen von ihrem eigenen Untersuchungsgegenstand – der Religion – aufgegeben. Am Ende des zweiten Hauptteils ist damit auch ein neues fundamentaltheologisches Komplexitätsniveau erreicht, das schließlich einen Anschluss der christlichen Glaubenselemente an die evolutiven Bedingtheiten ihrer Entstehung ermöglicht. 3. Im dritten und letzten Teil der vorliegenden Arbeit können daher konkrete systematisch-theologische Überlegungen vorgenommen werden (Teil III). Die im zweiten Teil erfolgten Umstellungen verweisen zunächst auf die untrennbare Interdependenz zwischen der offenbarungstheologischen Erkenntnisform (= Glaubenspraktik/fides qua) und dem in der Offenbarungstheologie angesprochenen Erkenntnisgehalt (= Glaubensinhalt/fides quae). Aus der Analyse dieses Zusammenhangs heraus ergibt sich in Kapitel 11 die Möglichkeit eines stringenten Anschlusses offenbarungstheologischer Kernelemente an das religionsevolutive Spannungsfeld aus Systemkomponenten, Umweltbedingtheiten und performativen Handlungsvollzügen. Es erfolgt eine neue Akzentsetzung auf die beziehungsbasierte Erkenntnisform der Offenbarung. Eine solche systematisch-theologische Erprobung der Offenbarungstheologie lässt sich mit Bezug auf das biographisch orientierte Offenbarungsverständnis des Augustinus theologiegeschichtlich herleiten (Kapitel 11.1). Aus diesem theologiegeschichtlichen Auftakt heraus werden schließlich in Form eines Plädoyers für eine relationale Offenbarungspragmatik konkrete offenbarungstheologische Anschlussstellen an die Ergebnisse der vorliegenden Studie erörtert (Kapitel 11.2). Der Zeugnisbegriff Paul Ricœurs11 sowie die Unterscheidung verschiedener »Existenzweisen«12 durch Bruno Latour liefern dabei wichtige begriffliche und konzeptionelle Impulse. Die hervorgebrachte Modellierung versteht sich einerseits als eine Reaktion auf evolutionsanthropologische Herausforderungshorizonte und markiert andererseits die Rolle offenbarungstheologischer Logiken als evolutionsbezogene Prüffaktoren sowohl gegenüber voreiligen Konstruktivismen als auch gegenüber ontometaphysischen Kurzschlüssen (Kapitel 11.3). Um das eingeführte Offenbarungsmodell abschließend im Rahmen einer klassisch katholischen Dogmatik zu evaluieren, erfolgt eine knappe Argumentation seiner christologischen und ekklesiologischen Anschlussfähigkeit (Kapitel 12). Sie verdeutlicht zum einen die Bindung christlicher Transzendenzbezüge an materiale und sozialsystemische Bedingtheiten der Inkarnation (Kapitel 12.1). Zum anderen forciert sie beziehungsbasierte, kollektive Handlungsformen im Horizont eines katholischen Traditions- und Kirchenverständnisses (Kapitel 12.2). Durch den aufgeführten Dreischritt erfolgt eine stringente Orientierung der vorliegenden Studie entlang der klassischen fundamentaltheologischen Aufgabenbereiche. Im
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Vgl. Paul Ricœur, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg. v. V. Hoffmann, Freiburg i.Br./München 2008, 7–40. Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2018.
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Rahmen einer demonstratio religiosa erörtert sie aktuelle Religionsverständnisse und erarbeitet mit einer eigenen Definition eine kritische Position im Hinblick auf den Inhalt, die Erkenntnisweise und die Begründbarkeit menschlicher Religion im Allgemeinen (Teil I und II). Um dieser Aufgabe fundamentaltheologisch gerecht zu werden, muss sich die vorliegende Studie schließlich im Rahmen eines interdisziplinär angewachsenen Komplexitätsniveaus des Religionsverständnisses mit methodologischen und erkenntnistheoretischen Umstellungen vertraut machen. Diesbezüglich bezieht sie sich auf soziologische, philosophische und religionswissenschaftliche Theoriebildungen. Daraus ergeben sich erste Scharnierfelder, in deren Rahmen christliche Religionsmarker der (personalen) Offenbarung und Schrifthermeneutik begründet in den interdisziplinären Diskurs eingespielt werden können. Die methodologischen Umstellungen verweisen entsprechend auf das Aufgabenfeld der demonstratio christiana (Teil II). Schließlich erfolgt auf dieser Grundlage der Übergang zur demonstratio catholica, indem konkrete systematisch-theologische Erprobungen der erarbeiteten erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Codierungen und Praktiken skizziert werden. (Teil III). Die vorliegende Arbeit zieht diese klassischen Aufgabenfelder der Fundamentaltheologie entschieden neu auf. Sie agiert nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch konsequent interdisziplinär: Über den gemeinsamen Gegenstandsbereich religiöser Narrative und Praktiken greifen Evolutionsanthropologie und Theologie im Verlauf zunehmend ineinander. Es stellt sich heraus, dass der Gegenstandsbereich der ›Religion‹ in seiner Rolle für die Entwicklung des Menschen nur dann adäquat erschlossen werden kann, wenn verschiedene methodische Zugänge interagieren. Theologische und evolutionsbezogene Methoden bewegen sich dann in einem kritisch-produktiven Verhältnis zueinander. Sie weisen sich gegenseitig auf blinde Flecken hin, die eine einseitige methodische Ausrichtung und erkenntnistheoretische Epistemologie mit sich bringen kann. Die in der vorliegenden Arbeit erschlossenen Interdependenzen versetzen damit sowohl das wissenschaftstheoretische Materialobjekt (den Gegenstandsbereich ›Religion‹) als auch die ihm zugeordneten Methoden und wissenschaftstheoretischen Epistemologien (Formalobjekt) in Bewegung. Auf dieser Grundlage erschließt sie ein neues theologisches Selbstverständnis. Wie Pascal Boyer zu Beginn dieser Einleitung die Herausforderungslage angerissen hat, vor der diese Arbeit steht, so lässt sich im Anschluss an Hans-Joachim Sander dieses Selbstverständnis als Zielrichtung der vorliegenden Arbeit festhalten: »Steht die Offenbarungsaussage zu jenen indexikalischen Defiziten, die sich erst durch die Evolutionsaussage aufheben lassen […], dann gewinnt sie eine Autorität, mit der sie widerständig wirkt. Dann kann sie ihr symbolisches Kapital einbringen, das die evolutionären Indizes als Indizes deutlich macht, also als Repräsentationen einer Realität in der Natur, die unausweichlich sind. Aber mit diesen Indizes ist noch nicht die Verarbeitung dieser Realität in den Identitäten gegeben, die auf symbolische Repräsentationen angewiesen sind.«13
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Hans-Joachim Sander, Die Macht der Evolution und die Ohnmacht der Offenbarung. Das heterotope Indizierungsdefizit der Schöpfung, in: Ulrich Lüke – Georg Souvignier (Hgg.), Evolution der Offenbarung – Offenbarung der Evolution (QD 249), Freiburg i.Br. 2012, 72–91, hier: 88.
Teil I: Evolutionsanthropologische Modelle der Religionsentstehung
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
Der erste Teil der Arbeit setzt sich zum Ziel, die bereits in der Einleitung skizzierten methodischen Öffnungen der evolutionären Anthropologie in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen und Diskussionspunkten nachzuzeichnen. Als Basis der Darstellungen dient das vorliegende erste Kapitel. Es präsentiert grundlegende Annahmen zur Funktionsweise der menschlichen Kognition in Bezug auf die Umweltwahrnehmung und auf soziale Interaktionen (Kapitel 1). Dabei fokussiert es die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Erklärung von Gotteskonzepten (Kapitel 1.3). In diesen Anwendungen erschließen sich erste Leerstellen der Modelle mit Blick auf die soziokulturellen Eigenwirksamkeiten, die religiöse Bezüge im Prozess der menschlichen Entwicklung hervorrufen (Kapitel 2). Vor diesem Hintergrund liegt schließlich ein besonderes Augenmerk auf den Studien von Michael Tomasello zur evolutiven und anthropologischen Rolle kollektiver Intentionalität und Kooperationsformen (Kapitel 2.5). Sie erweitern die im Verlauf des Kapitels erschlossenen Ansätze um die Einflussfaktoren bewusster Aushandlungsprozesse in sozialevolutiven Kontexten. Dieser erste Perspektivwechsel gegenüber rein selektionstheoretischen Modellierungen der Religionsevolution ermöglicht eine kritische Reflexion der kognitionswissenschaftlichen Kernthesen und ihrer Religionsdefinitionen (Kapitel 3) und verweist in der Folge auf noch offene erkenntnistheoretische Fragehorizonte (Kapitel 4). Die Grundlage einer interdisziplinären Beschäftigung mit der evolutiven Rolle religiöser Narrative und Praktiken bildet häufig die modular ausgerichtete Kognitionswissenschaft. Sogenannte modulare Ansätze gehen von verschiedenen kognitiven Verarbeitungsbereichen für spezifische Formen von Eindrücken aus.1 Die Grundlage für die kognitionswissenschaftlichen Annäherungen an die menschliche Entwicklung ist in diesem Feld also die Annahme mehrerer, spezialisiert eingesetzter ›mentaler Werkzeuge‹, anstelle eines einzigen ›mind‹.2 Sie beschreiben sowohl verschiedene Stufen von Wahr-
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Vgl. dazu einführend H. Clark Barrett, Evolutionary Psychology, in: Keith Frankish – William M. Ramsey (Hgg.), The Cambridge Handbook of Cognitive Science, Cambridge 3 2013, 257–274, hier: 259f. Vgl. Justin L. Barrett, Why Would Anyone Believe in God (Cognitive Sciences of Religion Series), Lanham (MD) 2004, 3.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
nehmung als auch verschiedene Möglichkeiten der kognitiven Verknüpfung von Wahrnehmungen mit bereits gesammeltem Erfahrungswissen. Im Folgenden sollen die gängigsten Modellierungen dieser kognitiven Verarbeitungsmechanismen in ihrer Anwendung auf religionsevolutive Fokuspunkte überblickshaft dargestellt werden. Laut Justin L. Barrett werden Umweltreize zunächst über die basale sinnliche Wahrnehmung von Informationen aufgenommen. In einem zweiten Schritt werden die kognitiven ›describers‹ aktiv, die den erhaltenen Reiz nach Eigenschaften im Sinne eines Erfahrungswissens einordnen. So entstehen erste Informationsverknüpfungen: Wenn etwa ein Stein wahrgenommen wird, so wird er auf der Grundlage von gerasterten Wahrnehmungserfahrungen als ein lebloses Objekt kategorisiert. Als solches wird es mit dem Erfahrungswissen über diese Objektkategorie verbunden – beispielsweise der Vorannahme, dass als lebloses Objekt Wahrgenommenes in der Regel die Eigenschaft besitzt, zu Boden zu fallen, wenn man es loslässt. Als dritte Kategorie mentaler Werkzeuge benennt Barrett schließlich sogenannte ›faciliators‹. Sie ordnen wahrgenommenen Gegebenheiten in sozialen Settings ein erwartbares Verhalten beteiligter Personen zu oder verknüpfen die Situation mit konkreten Zielen und Ansprüchen an die beobachtete Umwelt und/oder das soziale Gegenüber.3 Wenn es sich bei dem wahrgenommenen Stein etwa um einen wertvollen Edelstein handelt, dann wird aus dieser Kategorisierung heraus je nach sozialem Kontext beispielsweise die Ableitung gezogen, dass er einen wertvollen Besitz darstellt, der sozialen Ruhm aber auch Neid mit sich bringen kann. Im Rahmen modular argumentierender kognitionswissenschaftlicher Arbeiten nimmt diese dritte Kategorie eine zentrale Rolle ein, wenn es um das soziale Verhalten, die Gesellschaftsfähigkeit und das kulturelle Vermögen des Menschen geht.4 Diesem kognitionswissenschaftlichen Pfad folgend, sollen zwei anerkannte Kategorisierungsmechanismen (= kognitive Module) für die menschliche Sozialkognition näher in den Blick genommen werden: die Fähigkeit zum Bezug auf eine Theory of Mind (ToM) sowie die menschliche Agency Detective Device (ADD). Beide spielen im Rahmen modular orientierter Argumentationen zur Evolution von Religionen eine tragende Rolle. Sie konstruieren ein akteur*innensbasiertes Verständnis menschlicher Welterfahrung, das auf modulbedingten kognitiven Reaktionsregistern basiert. Diese legen Herausforderungshorizonte frei, die als evolutives Entstehungssetting religiöser Sozialfunktionen verstanden werden können (vgl. zu diesen religionsevolutiven Bezügen der folgenden Theoriegrundlagen Kapitel 1.3).
1.1.
Theory of Mind (ToM) und Agency Detective Device (ADD)
In der spezifischen Untersuchung religiöser Phänomene und Gottesbilder wird der Fokus auf zwei kognitive Module gelegt, mit denen die Wahrnehmung und Verarbeitung
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Vgl. ebd., 5. Der Vorschlag Barretts zur Unterteilung der verschiedenen kognitiven Funktionen in die hier angeführten Großkategorien ist sowohl in der Begriffswahl als auch der genauen Einteilung lediglich eine unter vielen solcher Kategorisierungen. An dieser Stelle dient er als ein Beispiel zum Verständnis modular orientierter Einteilungen menschlicher Kognitionswerkzeuge.
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
von sozialen Interaktionszusammenhängen erklärt wird. Sie beziehen sich auf die Neigung des Menschen, einen Großteil der wahrgenommenen Reize in akteur*innenbasierten Kategorisierungen aufzulösen. Stewart E. Guthrie geht davon aus, dass die Welt in ihren Unübersichtlichkeiten und Ambiguitäten vom Menschen eine angemessene Interpretation verlangt. Bei dieser Interpretation, so Guthrie, antizipiere der Mensch in der Regel belebte tierische oder menschliche Verursacher*innen für die wahrgenommenen Ereignisse. Diese Interpretation bewähre sich trotz vorhandener Fehlerquoten in der Mehrzahl der Fälle und habe sich im evolutiven Verlauf entsprechend verfestigt.5 Guthrie versteht die hohe dichte an Akteur*innenbezügen in der menschlichen Wahrnehmung als kognitive Disposition und stellt fest: »Faces and other human forms seem to pop out at us on all sides. Chance images in clouds, in landforms, and in ink blots present eyes, profiles or whole figures.«6 Die Hypersensibilität der menschlichen Kognition für akteur*innenbezogene Kategorisierungen von Wahrnehmungen ist zahlreichen Theorien zufolge ein wichtiger evolutiver Überlebensvorteil. Um diese Verknüpfung kognitionswissenschaftlicher Grundlagen mit evolutiven Vorteilsstrukturen nachzuvollziehen, genügt ein einfaches Beispiel: Wer ein Rascheln im Gebüsch wahrnimmt, tut gut daran nicht erst in aller Ruhe abzuwägen, ob dessen Urheber ein Luftzug oder ein gefährliches Raubtier war. Die kognitiv aufgespeicherte Erfahrung spricht vielmehr dafür, die Wahrnehmung des Geräusches direkt mit einem potenziell gefährlichen Lebewesen zu verknüpfen und entsprechend den potenziellen Gefahrenraum zügig zu verlassen. Sollte es sich um einen ›Fehlalarm‹ gehandelt haben, so ist außer der verwendeten Energie für das Verlassen des Ortes wenig verloren – kurz: die intuitive Verknüpfung diffuser Wahrnehmungen mit konkreten Akteur*innen ist lebensförderlich und daher evolutiv lohnenswert.7 Im evolutiven Entwicklungsverlauf setzten sich also, so die Theorie, solche akteur*innenbasierten Kognitionsmodule durch. Sie wurden demnach so bestimmend, dass sie die menschliche Wahrnehmung – mitunter im Sinne einer hypersensiblen Fehlleitung – entscheidend prägten. In diesem Zusammenhang ist häufig nicht nur vom kognitiven Agency Detective Device (ADD), sondern auch vom High Agency Detective Device (HADD) die Rede.8 Diese Bezeichnung deutet die Fehleranfälligkeit einer auf Akteur*innen gepolten Hypersensibilität unserer kognitiven Weltverarbeitung an. Aus der kognitiven Kategorisierung von Wahrnehmungen über akteur*innenbezogene Module entsteht den vorliegenden Theorien zufolge im Verlauf der Evolution in ei5 6 7 8
Vgl. Stewart E. Guthrie, Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, Oxford 1993, 3f. Ebd., 62. Vgl. Barrett, Anyone, 31f. Dieser Analysebegriff und die damit verbundene Annahme von übersensiblen Fehlannahmen im kognitiven System wurde eingeführt von Justin L. Barrett. Laut Barrett stellt sich diese fehlgeleitete weil hypersensible Tendenz wie folgt dar: »Our ADD suffers from some hyperactivity, making it prone to find agents around us, including supernatural ones, given fairly modest evidence of their presence.« (ebd., 31.) Auf die religionskritische Verwendung dieser Rede von kognitiver Fehlgeleitetheit wird in Kapitel 4.1 eigens eingegangen.
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ner mehrstufigen Entwicklung zudem intentional verfasstes Denken. Grob wird in diesem Zusammenhang zwischen einer ›first-order intentionality‹ und einer ›second-order intentionality‹ unterschieden. Ersterer Bewusstseinszustand umfasst die Selbstwahrnehmung des Individuums. Es weiß beispielsweise um den eigenen Hunger, oder um die eigene Bedrohungslage durch (angenommene) andere Akteur*innen. Der zweite Intentionalitätsstatus geht darüber hinaus, indem er auch Projektionen auf den Bewusstseinsstatus anderer Individuen ermöglicht. Diese kognitive Fähigkeit erlaubt es, den eigenen und den fremden Bewusstseinsstatus als voneinander getrennt und mitunter differierend zu erfassen.9 Die evolutiv gestufte Entwicklung dieser Fähigkeiten lässt sich aus der Beobachtung der ontogenetischen Entwicklung von Kindern ableiten. Erst ab einem gewissen Alter entwickeln Kleinkinder neben der bloßen Fähigkeit zur Detektion fremder Akteur*innen zusätzlich das kognitive Vermögen, Vermutungen und Zuschreibungen über deren Ansichten im Rahmen der jeweiligen Situation zu machen. Das heißt, sie unterstellen auch fremdem Verhalten mentale Ursachen und entwickeln Schlussfolgerungen auf die Reaktionen ihres sozialen Gegenübers. Sie sind in der Lage, eine ›Theory of Mind‹ (ToM) zu entwerfen.10 Auf die Evolution übertragen kann dieser ontogenetisch zu beobachtende Entwicklungsschub dabei helfen, die phylogenetische Weiterentwicklung des Menschen in Bezug auf sein planvolles Jagd- und Gruppenverhalten zu erklären. Sobald Menschen über das eigene Selbstbewusstsein hinaus auch fremdreferentielle Annahmen über das Verhalten ihrer Artgenoss*innen vornehmen konnten, wurde ihr Umgang mit wahrgenommenen Handlungsakteur*innen über primäre, akteur*innenbezogene Reaktionsmuster (wie etwa Fluchtreflexe) hinaus präziser. Bewusste Situationsanalysen machten es möglich, die jeweilige Lage auch im Hinblick auf Fremdabsichten zu betrachten.11 Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird diese hier skizzierte Entwicklung menschlicher Intentionalität im Zusammenspiel mit sozialen Selektionsmechanismen noch eine verstärkte Rolle für die Erklärung sinnbezogener, rituell gestalteter Handlungsmuster und Normenkataloge spielen.
1.2. Kontraintuitive Konzepte als kognitive Interpretationsschlüssel Einen wichtigen Angelpunkt bei der Übertragung der dargestellten Modellierungen auf die evolutive Entstehung transzendenzbezogener Weltdeutungen bildet die von Justin L. Barrett geprägte Bezeichnung religiöser Inhalte und Handlungen als »minimal counterintuitive«12 . Die dargestellten kognitiven Funktionsweisen bilden kognitive Muster aus, die bei der Einordnung von Wahrnehmungen intuitiv zum Einsatz kommen. So sind schon Kinder ab einem gewissen Alter dazu im Stande, von ihren kognitiven Einordnungsmecha-
9 10 11 12
Vgl. Robin Dunbar, The Human Story. A New History of Mankind’s Evolution, London 2004, 45. Vgl. dazu ebd., 43. Vgl. Daniel C. Dennett, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, übers. v. F. Born (Stw 2189), Berlin 2016, 145. Barrett, Anyone, 22.
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
nismen Gebrauch zu machen, um neue Beobachtungen zu bewerten. Wahrnehmungen unbekannter Tierarten werden dann zum Beispiel mit den Eigenschaften schon bekannter Tiere und ihrer Gruppierungen abgeglichen.13 Nehmen wir beispielsweise an, ein Kind beobachtet ein ihm bis dato unbekanntes Tier: einen Ara. Dass der Ara sich bewegt und Geräusche von sich gibt, spricht dafür, von einem belebten Wesen auszugehen. Darüber hinaus passt es in die Kategorie ›Tier‹, die sich im Rahmen belebter Subjekte von der Kategorie ›Mensch‹ unterscheiden lässt. Hat das unbekannte Tier wie in unserem Beispiel Federn und Flügel, so kann es zudem mit der Gruppe ›Vögel‹ assoziiert werden. Diese Assoziation funktioniert, obwohl die Größe sowie das bunte Gefieder des Aras stark von den dem Kind bis dato bekannten Vögeln, etwa Tauben, abweichen. Diese Verknüpfungsketten können als »intuitive assumptions«14 unserer Kognition bezeichnet werden. Zugleich zeigt bereits das Beispiel der abweichenden Größe und Gefiederfärbung des Aras gegenüber bekannten einheimischen Vogelarten, dass unsere kognitiven Systematisierungen im Stande sind, Assoziationsketten über minimale Abweichungen hinaus aufrecht zu erhalten und auf bestimmte gröbere Merkmale zu stützen. Diese kognitive Grunddisposition verweist einerseits auf die Möglichkeit, von bestimmten Eigenschaften über kleinere Abweichungen hinaus auf Konzeptualisierungen zu schließen. Andererseits können nur Phänomene eingeordnet und damit behalten und bearbeitet werden, welche nicht gänzlich von bekannten und kognitiv ›gefügigen‹ Schemata abweichen – salopp formuliert: Ein fiktives Monster hat es gegenüber einem Ara schwerer, in erlebnisbasierte Kategorien eingeordnet und als solches systematisch behalten, beschrieben und weitererzählt zu werden. Zugleich werden minimale Abweichungen von bekannten Konzepten als interessant erlebt – nicht umsonst schauen wir uns bunte Aras im Zoo an, Tauben empfinden wir in unseren Breiten dagegen als so ›klassische Vögel‹, dass die im Zoo ebenfalls umherfliegenden Exemplare beim Bericht eines Zooausflugs wohl eher keine Rolle spielen werden. In solchen Fällen spricht Barrett von »Minimally Counterintuitive Concepts«15 . Diese Konzepte versteht er auch in Bezug auf die menschliche Codierung von Transzendenz als den entscheidenden kognitionsbezogenen Faktor für ihre Funktionalität und Attraktivität im evolutiven Prozess. Bei gängigen und damit evolutiv betrachtet erfolgreichen Glaubensaussagen lässt sich seiner Theorie zufolge eine Abweichung von komplett intuitiv gefügigen, alltäglich erlebbaren Systematiken erkennen. So empfinden wir etwa die Aussage, dass jeder Mensch einmal sterben muss, nicht als besondere Glaubensaussage mit religiösem Gehalt. Die Aussage allerdings, dass jeder Mensch einmal sterben muss und dabei seine Seele den Körper verlässt, um weiterzuleben, erweitert die erste Aussage um einen kontraintuitiven, nicht einfach beobachtbaren Faktor.16 Zugleich fällt dieser Faktor kognitiv betrachtet nicht völlig ins Leere: Er entspricht der
13 14 15 16
Vgl. Ders., Exploring the Natural Foundations of Religion, in: Trends in Cognitive Sciences 4/1 (2000) 29–34, hier: 30. Ebd. Ders., Anyone, 22; vgl. dazu ebenso Pascal Boyer, Minds make Societies. How Cognition Explains the World Humans Create, New Haven (CT)/London 2018, 95f. Vgl. Pascal Boyer, Und Mensch schuf Gott, übers. v. U. Enderwitz u.A., Stuttgart 4 2017, 74f.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
allgemein mit personalen Akteur*innen verbundenen Erfahrung einer bleibenden Relevanz der Person über ihren Tod hinaus. Das Gleichgewicht zwischen kontraintuitiven Deutungsparadigmen und einem bleibenden Bezug zu üblichen personalen Konzeptionen erklärt demnach, warum sich die genannten Glaubensaussagen über verschiedene Religionstraditionen und Kulturräume hinweg herauszukristallisieren und durchsetzen konnten.17
1.3. Kognitionswissenschaftliche Ableitungen zur Entstehung von Gotteskonzepten Im Folgenden werden die religionsevolutiven Erklärungen, die aus dem aufgezeigten Zusammenspiel kognitiver Akteur*innenkonzeptionen, ihrer minimalen Überdehnung und der Entwicklung eines intentionalen Bewusstseins abgeleitet werden, näher betrachtet. Es erfolgt dazu eine Rezeption gängiger evolutionsanthropologischer Theorien zum menschlichen Umgang mit dem Tod, zum daraus erwachsenen Ahnenglauben und zur Funktionsweise personaler Götterkonzeptionen. Auf welcher kognitiven Grundlage konnten sich diese Konzepte entwickeln und warum halten und reproduzieren sich bestimmte Grundmuster von Glaubensaussagen über den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte hinweg?
1.3.1.
Tod als kognitive Dissonanz
Modulare Theoriebildungen verknüpfen die Entstehung ritueller Handlungsweisen und transzendenter Gottesbilder mit einem kognitiv geprägten Konglomerat an Ursächlichkeiten. Viele der kognitionsbasierten Analysen fokussieren sich dabei auf die Entstehung eines ritualisierten Umgangs des Menschen mit dem Tod im Rahmen ausgefeilter Bestattungsriten. Anschließend an die oben dargestellten Thesen zur akteur*innenbasierten Kognition des Menschen, lassen sich Beweggründe für eine Ritualisierung der Bestattung und für die Transzendierung verstorbener Mitmenschen ableiten. Der Verbleib in gewohnten kognitiven Erklärungsmustern mit minimal kontraintuitiven Elementen dient, so die These, angesichts der Grenzerfahrung des Todes dazu, nicht direkt akteur*innenlogisch nachvollziehbare Geschehnisse in händelbare Deutungsmuster einzupassen.18 Daniel Dennett beschreibt zunächst das kognitive Problem, welches in der Konfrontation mit einem Leichnam entsteht: »Ein Leichnam ist eine ernstzunehmende Krankheitsquelle, und um uns davon fernzuhalten, haben wir einen angeborenen starken kompensatorischen Ekelmechanismus
17 18
Vgl. Barrett, Foundations, 31. Vgl. Reinhold Bernhardt, Religion als (Neben-)Produkt der Evolution? Die »Kognitive Religionswissenschaft« im Gegenüber zur Offenbarungstheologie, in: Ulrich Lüke – Georg Souvignier (Hgg.), Evolution der Offenbarung – Offenbarung der Evolution (QD 249), Freiburg i.Br. 2012, 242–259, hier: 242.
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
entwickelt. Von der Sehnsucht angezogen und vom Ekel abgestoßen sind wir beim Anblick des Leichnams einer geliebten Person hin- und hergerissen. Kein Wunder, daß diese Krise überall eine zentrale Rolle bei der Geburt von Religionen spielt.«19 Pascal Boyer verbindet diese mit dem Anblick eines Leichnams hervorgerufenen widersprüchlichen Reaktionsmechanismen direkt mit den dargestellten Grundkomponenten der modularen Kognitionstheorie.20 Aus der Konfrontation mit einem toten Mitmenschen sei demnach schon aus Gründen der entstehenden mentalen Dissoziationen ein Handlungszwang abzuleiten.21 So versuchen Boyer zufolge verschiedene Kognitionswerkzeuge, den Anblick unterschiedlich einzuordnen. Die Fähigkeit der Gesichtserkennung vermittele etwa die Erinnerung an den Namen und Status der Person, die im Leichnam erkannt wird. Die mentale Fähigkeit zur Erkennung von Akteur*innen (ADD) erwarte wiederum beim Anblick eines Menschen ein handelndes, weil denkendes und mit eigenen Intentionen ausgestattetes Gegenüber. Dagegen rufe die einordnende Wahrnehmung des Leichnams als tote Biomasse, von der eine Infektionsgefahr ausgeht, Ekel hervor.22 Zudem reagiere angesichts der Wahrnehmung der Leb- und Reaktionslosigkeit das kognitive System zur Wahrnehmung unbelebter Objekte – welches eigentlich mit Wahrnehmungen zu tun hat, bei denen die oben angesprochenen Akteur*innenzentren keine eigene kognitive Einordnung vornehmen. Kurzum: ein kognitiv-emotionales Chaos ist vorprogrammiert.23 Die gegeneinander laufenden kognitiven Deutungen des Leichnams erklären Boyer zufolge die mit der Bestattung verbundenen Entwicklungen streng reglementierter Riten. Aus ihnen kristallisierten sich zudem Vorstellungen des Fortlebens der verstorbenen Person heraus. Sie stellten den Versuch einer Versöhnung der kognitiven Gegenläufigkeiten dar. So spiegelten sich die konkurrierenden kognitiven Mechanismen etwa in den in allen Kulturen beobachtbaren differenzierten Personenkonzepten wider. Eine Person werde darin stets als Ganzes verschiedener Teilkomponenten (etwa ›Seele‹, ›Körper‹, ›Geist‹) betrachtet und benannt.24 Im Angesicht der im Tod eines Mitmenschen erlebten kognitiven Dissoziationen ermöglichen es diese Konzeptionen laut Boyer, verschiedene kognitive Erwartungshaltungen auf die entsprechenden Komponenten anzuwenden. Es sei dementsprechend möglich, den Komponenten des Menschen, denen intentionale Personalität zugesprochen wird, eine Fortexistenz nach dem Tod, abgelöst etwa von biologisch-körperlichen Komponenten, zuzusprechen. Pascal Boyer zieht aus
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Dennett, Bann, 148f. Vgl. Boyer, Mensch, 255. Vgl. ebd., 274f. Dieser ›Ekelmechanismus‹ in dissoziativer Verbindung mit den kognitiven Personenkategorisierungen kann laut Boyer mitunter auch hervorgerufene Schuldgefühle im Hinblick auf den Tod eines Angehörigen erklären: Die Tendenz zur Abwendung vom Leichnam widerspricht dem durch die personale Wahrnehmung des Leichnams gleichzeitig hervorgerufenen Bewusstsein, dass es sich doch eigentlich um ein personales Individuum handelt, welches (noch) nicht einfach den Platz geräumt hat und weiterhin eine emotionale und soziale Rolle spielt (vgl. ebd., 276). Vgl. ebd., 270f. 274–277. Für einen kurzen Überblick über ethnologische Erkenntnisse verschiedener, aber in ihrer Grundstruktur und -idee deckungsgleicher Personenkonzeptionen vgl. ebd., 268f.
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dieser Beobachtung eine direkte Schlussfolgerung auf die Entwicklung von Vorstellungen übernatürlicher Handlungsakteur*innen. Er resümiert: »Diese Gleichsetzung (die Toten, wie unsere Erkenntnissysteme sie wahrnehmen = übernatürliche Akteure) ist die einfachste und daher erfolgreichste Art und Weise, Vorstellungen vom übernatürlichen Wirken weiterzugeben.«25 Die Verstetigung dieser Jenseitsverlagerungen mündete den Theorien zufolge im Verlauf der Menschheitsgeschichte in eine Festigung von Ahnenvorstellungen und schließlich in von konkreten Todeserfahrungen losgelösten Götterkonzepten.26 So wurden aus den konkreten Verstorbenen abstraktere Vorstellungen von mächtigen, übernatürlichen Akteur*innen.27 Diese Grundlinien kognitionswissenschaftlich fokussierter Analysen der Entstehung von religiösen Konzeptionen prägen die definitorische Einordnung und das Religionsverständnis der evolutionären Anthropologie. Es lässt sich beispielhaft in folgender These des Kulturanthropologen Scott Atran zusammenfassen: »All religions follow the same structural contours. They all invoke supernatural agents […]. They all systematically, but minimally, violate modularized expectations […]. The evolutionary canalization of emotions, cognitions, and social commitments into a natural basin of possibilities, from which interacting individuals select their cultural paths, favors the emergence of religion for the life of our species.«28
1.3.2. Kognitionspsychologische Funktionen von Religionsvollzügen Die Fokussierung auf das Aufrechterhalten geistiger Assoziationsmuster durch die Konstruktion unsterblicher Ahnen, konnte im Rahmen kognitionspsychologischer Studien auch empirisch nachvollzogen werden. So konnte Jesse Bering nachzeichnen, dass dissonante Sinngehalte in Bezug auf physische und psychische Dispositionen bei Proband*innen jeweils unterschiedliche Zuspruchswerte hinsichtlich ihrer Plausibilität erreichen. Er konfrontierte seine Studienteilnehmer*innen mit unterschiedlichen Aussagekombinationen, die allesamt Szenarien kognitiver Dissonanz erzeugen: Eine erste Kategorie an Aussagen kombiniert physisches Unvermögen mit physischer Aktivität, beispielsweise: ›Der querschnittsgelähmte Mann vermag es, loszurennen‹. Eine zweite Aussagekategorie kombiniert dagegen physisches Unvermögen (bis hin zum physischen Tod) mit psychisch-emotionalen Aktivitäten, beispielsweise: ›Meine verstorbene Mutter ist sicher
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Ebd., 280. An dieser Stelle liefert Justin L. Barrett eine bewusst vage und deshalb zunächst sehr hilfreiche definitorische Eingrenzung dessen, was sich unter dem Begriff ›Gott‹ subsumieren lässt. Er hält fest: »By ›gods‹, I mean broadly any number of superhuman beings in whose existence at least a single group of people believe and who behave on the basis of these beliefs. Under this definition, I do not discriminate between ghosts, demons, chimeras […], or the supreme gods of religions.« (Barrett, Anyone, 21). Vgl. Boyer, Mensch, 394f. Scott Atran, In Gods We Trust. The Evolutionary Landscape of Religion (Evolution and Cognition), Oxford 2002, 266.
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
stolz auf mich.‹. Bering konnte beobachten, dass Aussagen, die die Dissonanz auf Ebene eines physischen Vermögens verorten (= erste Aussage), wesentlich seltener Zustimmung hervorrufen als Aussagen vom Typ des zweiten Beispiels, die sich ebenfalls mit physischem Unvermögen (sogar in Extremform des Todes) befassen, dieses aber mit einer Aussage zu emotionalem Verhalten koppeln. Letztere Aussagen fanden in seinen Studien wesentlich häufiger und schneller die Zustimmung der Proband*innen. Graphisch aufbereitet ergibt sich dabei für die Unterbrechungslatenz, die die jeweiligen Aussagen im Proband*innengespräch mit Blick auf die Antwortzeiten hervorriefen, ein deutliches Bild. Unabhängig vom religiös-konfessionellen oder agnostischen Selbstverständnis der Proband*innen (siehe die verschiedenen Kurven in Abbildung 1) ergibt sich in allen Gruppen folgender Gesamtzusammenhang: Dissonanzen im Bereich biologisch-physischer Unvermögen in Verbindung mit körperlichem Aktionsvermögen wurden mit Werten zwischen 85 und 100 % wesentlich häufiger abgelehnt, als das bei Verbindungen mit emotionalem (Emo), intentionalem (Des) und epistemischem, ich-bezogenem (Epi) Vermögen der Fall war.
Abbildung 1: Jesse BERING, Intuitive Conceptions of Dead Agents’ Minds. The Natural Foundations of Afterlife Beliefs as Phenomenological Boundary, in: Journal of Cognition and Culture 2/4 (2002) 263–308, hier: 285.
Auch in seinen qualitativen Befragungen zu den mit dem Glauben an ein Leben nach dem Tod verknüpften Personenkonzeptionen, konnte Jesse Bering aufzeigen, dass im Rahmen von Auferstehungskonzeptionen physische Dispositionen ausgeblendet werden. Unabhängig von ihrer eigenen religiösen Prägung, gaben die Befragten an, dass der Verlust physischer Kapazitäten für den Glauben an ein jenseitiges Fortbestehen von Personen unerheblich sei. Psychologisch-voluntative Dispositionen galten dagegen
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
der Mehrzahl der Befragten als existentiell und damit auch im Rahmen einer jenseitigen Existenz zwingend fortbestehend.29 Diese Ergebnisse fügen sich in die Annahmen einer starken mentalen Fokussierung auf Intentionen und Interaktionen von und mit Akteur*innen (vgl. das Modell einer ToM) ein. Es scheint damit erwiesen, dass – konturiert durch unsere Erfahrungsgrundlagen – der Verzicht auf physiologische Funktionsweisen wesentlich einfacher vorstellbar und damit kognitiv integrierbar ist als der Verlust emotional-voluntativer Identitätsmarker. Das entspricht laut Bering der Tatsache, dass der Verlust intakter Körperfunktionen, sei es verletzungs- oder altersbedingt, zur unmittelbaren alltäglichen Erfahrungswelt gehört und uns in unserer akteur*innenstrukturierten Alltagskognition wenig bis gar nicht betrifft.30 Hier schließen sich Berings Ergebnisse an das Postulat minimal kontraintuitiver religiöser Konzeptionen an. Bezogen auf die evolutive Rolle religiöser Jenseitskonzeptionen bedeutet das zunächst, dass sie klar abhängig von der kognitionspsychologischen Weiterentwicklung der ersten Menschen sind. Im Rahmen einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die mentale Konstitution des Gegenübers, ergibt sich auch ein gesteigertes Potenzial für kognitive Dissonanzen. Diese spielen insbesondere in der Konfrontation mit dem Tod eines mental und intentional verstandenen Mitmenschen eine Rolle. Als minimal kontraintuitive Konzeptionen setzen sich in diesem Zuge Modelle eines Fortbestands emotional-voluntativer Komponenten des Personseins durch. Sie münden in den kognitiv anschlussfähigen größeren Zusammenhängen des Ahnenglaubens und damit zugleich in eine kognitionspsychologische Reintegration transzendenter Akteur*innen in das wahrnehmungsordnende modulare System. Neben den direkten Effekten kognitiver Dispositionen kann auch auf weitere Punkte der anthropologischen Evolution verwiesen werden. Sie betreffen die menschliche Angewiesenheit auf ein Dasein in Beziehungskomplexen. Diese Angewiesenheit wird erst im Rahmen der kognitiven Bezüge auf fremde Mentalität und Intentionalität bewusst und im gleichen Moment zu einem zeitbedingten Problemhorizont. Er begünstigt eine narrative und rituelle Konstruktion resilienter Beziehungsgefüge als Bezugsrahmen auch über den Tod hinaus. Sie gestalten sich in Form von transzendenten, minimal kontraintuitiven Jenseitskonzeptionen aus. Die Anwendung der evolutiven Kognitionsforschung auf die Religionsentstehung verweist hier auch auf erkenntnistheoretische Effekte menschlicher Kognitionsformen. Die Entdeckung seiner Grenzen führt den Menschen zugleich zu einer kollektiv abgesicherten Entgrenzung in den Raum codierter Unendlichkeit hinein. Sie verweist den Menschen erstmals auf seine Rolle im evolutiven Prozess. Die kooperative Bearbeitung evolutiver Grenzen stellt »auch die Eigenwirklich-
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Vgl. das experimentelle Setting und die Zusammenfassung der entsprechenden Ergebnisse detailliert bei Jesse Bering, Intuitive Conceptions of Dead Agents’ Minds. The Natural Foundations of Afterlife Beliefs as Phenomenological Boundary, in: Journal of Cognition and Culture 2/4 (2002) 263–308. Vgl. ebd., 288. Bering nimmt entsprechend eine analytische Aufteilung in EIA (easy-to-imaginethe-absence-of) und DIA (difficult-to-imagine-the-absence-of) Kriterien vor, die in seiner Untersuchungsreihe einen Rahmen für das Postulat minimal kontraintuitiver Konzeptionen von Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod bieten (vgl. ebd., 283f.).
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
keit und die Reichweite von Gedanken unter Beweis […].«31 Damit spielen gesellschaftliche Settings und die sekundäre Ausdeutung kognitiver Dissonanzen erstmals selbst eine evolutive Rolle, denn sie lösen relevante Änderungen des evolutiven Gesamtgefüges aus. Auf diese soziokulturellen Eigenwirksamkeiten und ihre Relevanz für die evolutionsanthropologischen Forschungskontexte wird im Verlauf der Arbeit noch weiter einzugehen sein. Im Rahmen klassischer modularer Erklärungsmodelle werden sie häufig nicht eigens theoretisiert. ***
Exkurs: Der Code des Vergessens als evolutiver Erkenntnisprozess Die Überlegungen Berings verweisen auf den Problemhorizont des potenziellen Verlustes auch emotional-voluntativer Identitätsmarker im Angesicht des Todes. Dieser Erlebnishorizont eröffnet den anthropologischen Problemkomplex einer permanenten Fragilität menschlicher Kognition. Spätestens mit dem Tod wird deutlich und relevant, was auch im Leben als präsente Erfahrung gelten kann: Eine permanente Gefahr des Vergessens weist jederzeit auf den Ausfall nicht nur physischer, sondern auch übergreifender mentaler Identitätskonstruktionen hin.32 Obwohl man diese Leerstellenerfahrung als anthropologischen Grundvollzug bezeichnen könnte,33 führt sie zu bleibenden kognitiven Dissonanzen, die permanent mental vor Augen stehen, weil sie eine permanente Gefährdung für die Stabilität individueller und kollektiver Identitäten darstellen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die kognitive und narrative Bearbeitung dieser Leerstelle als ein anthropologischer Grundvollzug markieren.34 Sie setzt ein kognitives Zusammenspiel aus aktivem Vergessen und selektivem Erinnern voraus, das in den Konzeptionen eines (veränderten) Fortlebens nach dem Tod seinen Widerhall findet. Die zitierte Studienlage konnte nachzeichnen, inwieweit eine Betonung emotionaler Identitätsmarker gegenüber der physischen Abhängigkeit des Lebens eine kognitive Integration des Todes ermöglicht. Ohne einen »Filter des Vergessens«35 wäre eine konkrete Erinnerungsproduktion etwa in Form von Ahnenkulten jedoch undenkbar. Die bewusste
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Gregor M. Hoff, Glaubensräume. Topologische Fundamentaltheologie, Bd. II/1: Der theologische Raum der Gründe, Ostfildern 2021, 173. Zum Tod als ›Grundtrauma‹, in dem Vergessen und Erinnern sich narrativ konstituieren vgl. Dieter Mersch, Paradoxien des Erinnerns und Vergessens, in: André Blum – Theresa Georgen – Wolfgang Knapp – Veronika Sellier (Hgg.), Potentiale des Vergessens, Würzburg 2012, 73–89, hier: 85f. Vgl. Christine Abbt, Vergessen, in: Natalie Pieper – Benno Wirz (Hgg.), Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einleitung in die Philosophie, Freiburg i.Br./München 2014, 189–213, hier: 203–206. Das deutet auf die Zentralität sprachlicher Ausdrucksformen für die Kontingenzbearbeitung des Menschen hin. In ihrem Rahmen wird der Zwischenraum zwischen Erinnern und Vergessen kollektiv verstehbar gemacht, indem er zur Sprache gebracht wird. Vgl. zur existentialen Rolle sprachlicher Vollzüge einführend Hans-Joachim Höhn, Zeit und Sinn. Religionsphilosophie postsäkular, Paderborn 2010, 112–114. Aleida Assmann, Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge 9), Göttingen 2016, 43.
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Steuerung zwischen Erinnerung und Vergessen ermöglicht es, Gegengeschichten zum im Tod zunächst als final erlebten Vergessen zu entwerfen. Aus ihnen erwächst hier eine neue Zeitperspektivierung, denn: »Im Erinnern des Vergangenen als einem Vergessen der Vergänglichkeit entfaltet sich die Erfahrung der Dauer.«36 Im Erleben eines potenziell finalen Vergessens durch den Tod personaler Akteur*innen wird auch das evolutiv-konstruktive Moment interpersonaler Beziehungen bewusst. Die erinnerte Person erhält erst durch die Leerstellenerfahrung des Kollektivs einen persönlichen, identitätsstiftenden Wert.37 Transzendenzbezogene Ahnenerzählungen stellen eine narrative Verarbeitung dieser bleibenden Relevanz der vom Vergessen bedrohten Identitäten dar. In diesem Rahmen kommt es zur rituellen Kollektivierung des Vergessens. Sie kann als ein narrativer und praktischer Versuch der Beherrschung der Zeit verstanden werden.38 Hier deuten sich komplexe, multilineare Verbindungslinien in den evolutiven Entwicklungen des Menschen an: Das narrative System des Erinnerns schafft im Spannungsfeld mit dem evolutiv entstehenden Endlichkeitsbewusstsein eigene Bezugspunkte. Sie wirken auf den kognitiven und sozialevolutiven Fortgang der Entwicklung zurück. Das geschieht einerseits auf Grundlage der kognitiven Fähigkeit der Akteur*innendetektion. Anderseits verschiebt der Einzug eines transzendenten Horizonts die mit diesem Bewusstsein einhergehenden Verlusterfahrungen in einen überzeitlichen Erfahrungsraum. Damit steht eine evolutionsbezogene These im Raum: Indem der kollektive Perspektivwechsel das Vergessen als »Normalfall in Kultur und Gesellschaft«39 unterläuft, verändert er auch die selektiven Vorgänge der menschlichen Evolution. Die selektive Logik wird mit gegenläufigem Sinn angefüllt und die intentionalen Vollzüge des Menschen so resilienter gegenüber den biologisch bedingten Verlusterfahrungen. Der kognitiv und sozial relevante »Gedächtnisrahmen«40 verändert sich im Spannungsfeld aus Vergessen und Erinnern nachhaltig. Die Fähigkeit zur Problematisierung des Verlustes als Verlust stellt erst die evolutive Bedingung der Möglichkeit sozialer Identitäten und schließlich auch resilienter Selbst- und Gesellschaftsvollzüge dar.41 Sie beruhen auf Formen bewussten Erinnerns im Rahmen ritualisierter Transzendierungen. Hier eröffnet sich eine neue methodische Einordnung der evolutionsanthropologischen Prozesse: Sie werden selbst zu erkenntnisgenerierenden Vollzügen. Die transzendenten Erinnerungsmarker rufen das Spannungsfeld zwischen ablaufender Endlichkeit und ihrer unendlichen Unabschließbarkeit narrativ und praktisch ins Bewusstsein. In diesem Sinne liefern personale Konzepte der Transzendenz permanent Strategien der Selbst- und Gruppenvergewisserung angesichts der gleichzeitig erlebbaren mentalen 36
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Christine Abbt, ›Bannwald der Erinnerung‹. Zur Poetik des Vergessens, in: André Blum – Theresa Georgen – Wolfgang Knapp – Veronika Sellier (Hgg.), Potentiale des Vergessens, Würzburg 2012, 117–131, hier: 120. Vgl. Dies., Vergessen, 196. Vgl. Marc Augé, Die Formen des Vergessens, übers. T. Bardoux (Fröhliche Wissenschaft bei Matthes & Seitz), Berlin 2013, 67. Assmann, Formen, 30. Ebd., 42. Vgl. ebd., 58f.
1. Kognitionswissenschaftliche Grundlagen
Unauflösbarkeit personaler Endlichkeiten anthropologischer Grundvollzüge. Um diesen Effekt einlösen zu können, bedürfen die kollektiven Praktiken einer stetigen Aktualisierung, das heißt sie sind bleibend an materiale und soziale Umstände und ihre Deutung gebunden und versehen sie zugleich mit einer Metaperspektive. Es wird deutlich: Die kognitive Entwicklung des Menschen weist an dieser Stelle über ihre evolutionsinterne Funktionalität hinaus, indem sie diese als von stetigem Vergessen bedroht erlebt. Vor diesem Hintergrund erweist sich Religion selbst als ein evolutiver Erkenntnisprozess. In ihrer Bezugnahme auf Intentionalität und Personalität wird sie zum treibenden Faktor eines neuen Weltbewusstseins. Erst mit der Problematisierung des potenziell unwiderruflichen Vergessens im Tod, erscheint die Kognition als fragiles Moment der Menschlichkeit, das zugleich mit unauflösbaren, bleibenden Emotionen verbunden ist. Der Versuch, dieses neue Bewusstsein im Rahmen eines transzendent ausgelagerten Erinnerungsraumes mit bleibendem, erinnerungswürdigem Sinn aufzufüllen, eröffnet eine metaperspektivische Betrachtung des Menschseins. Der Mensch wird sich bewusst, dass er von multilinearen Abhängigkeiten bedroht und im Rahmen der sozialen Einbettung des Einzelnen zugleich bleibend mit einem potenziellen (Erinnerungs-)Wert versehen ist. ***
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2. Sozialevolutive Frageüberhänge
Aus den thematisierten personalen Jenseitskonzeptionen ergeben sich wie bereits angedeutet soziokulturelle Frageüberhänge gegenüber den kognitiv-modularen Grundannahmen. Sie werden im Rahmen der rezipierten kognitiven Theoriebildungen nicht explizit gemacht. Eine detaillierte Reflexion auf die mit den Ahnenkonzeptionen verbundenen soziokulturellen Eigendynamiken wird oftmals erst in der weiteren, interdisziplinären Reflexion der kognitionswissenschaftlichen Theorien vorgenommen. Im Folgenden sollen daher die interdisziplinären Erweiterungen der dargelegten Theoriegrundlagen fokussiert werden. Sie konzentrieren sich auf die Relevanz der ersten Transzendenzbezüge des Menschen für den Ausbau sozialevolutiver Resilienz in Gruppenzusammenhängen. An dieser Stelle begegnen verschiedene Verknüpfungen kognitionspsychologischer und soziokultureller Entwicklungsmarken. Sie bedingen auch verschiedene Bewertungen des Einflussbereichs religiöser Kollektivierung auf die soziale Evolution des Menschen. Für das skizzierte Rezeptionsvorhaben ergeben sich zunächst einige Grundfragen. Diese werden in den jeweiligen Modellierungen je nach Gewichtung unterschiedlich beantwortet: 1. Inwieweit verändern (übernatürliche) Personenkonzeptionen die in der zwischenmenschlichen Interaktion zum Tragen kommenden Sozialstrukturen? 2. Welche Maßstäbe geben personale Götterkonzeptionen hier vor und wie werden sie als soziale Regelungsmechanismen begründet? 3. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang sozial gefestigte Rituale für die Weitergabe und Verinnerlichung religiöser Konzepte und die mit ihnen verbundenen individuellen bzw. gesellschaftlichen Kosteneinsätze? 4. Wie wirkt sich das Zusammenspiel transzendenter und immanenter Machtpostulate auf soziale Mechanismen und ihre Begründungslogiken aus? 5. Und schließlich: Entfalten intersubjektive Mechanismen religiöser Weltdeutungen eine performative Eigenwirksamkeit im soziokulturellen Zusammenhang, die über ihre selektionslogischen und kognitionspsychologischen Hintergründe hinausgeht?
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Entlang dieser Fragen zeigen sich Konfliktlinien zwischen selektionstheoretischen Analyseschwerpunkten und soziokulturellen Einordnungen der religiösen Evolution, die sich stark am dargestellten modularen Kognitionskonzept anlehnen. Im Hintergrund beider Modelle stehen die erklärungsbedürftigen Herausforderungsstrukturen komplexer werdender Großgesellschaften im Verlauf der Entwicklung hominider Arten bis hin zum modernen Menschen. Diese Großgruppen verlangen nach einer neuen Form der Kooperation über direkte Familienverbände hinaus. Sie beanspruchen soziale Bindungen in einem neuen Maße. Es ist daher sinnvoll, die mit ihnen einhergehenden Mechanismen zunächst evolutionsgeschichtlich darzustellen, um ihre spezifischen Herausforderungssituationen transparent zu machen. Auf dieser Grundlage lassen sich anschließend die spezifischen Theoriebildungen zur moralisierenden und Kooperationen festigenden Funktion von Religionen im Rahmen komplexer Gesellschaftssysteme nachvollziehen. Es zeichnet sich ein vielschichtiges Bild des Zusammenwirkens kognitiver und sozialer Mechanismen ab. So ergeben sich verschiedene Einordnungsmöglichkeiten des Phänomens Religion vom nützlichen Kalkulationsobjekt hinsichtlich gruppenselektiver Evolutionsmechanismen bis hin zum Postulat eines spezifischen kognitiven Resonanz- und Anspruchsraums in und an die jeweilige Gesellschaft und ihre Funktionsweisen. Die eingeführte Neuperspektivierung auf vielschichtige Entwicklungslinien sozialer Evolution und daraus erwachsender Komplexität verweist die im Folgenden dargestellten Theorien auf einen leitenden Deutungshorizont. Alle dargestellten Ansätze arbeiten sich an einer wissenschaftlichen Einordnung des Komplexitätsproblems ab. Die evolutionsanthropologischen Forschungsergebnisse verbinden die Kategorie der Komplexität untrennbar mit der Entwicklung von Vernunft- und Kulturvollzügen. Erst im Rahmen der methodischen Einholung komplex ineinandergreifender kognitiver und soziokultureller Systematiken können die vielschichtigen Antriebsfaktoren der menschlichen Entwicklung kohärent analysiert werden. Im Sinne einer methodischen Grundierung soll hier kurz exkursorisch näher eingeholt werden, was unter dem Gesichtspunkt der Komplexität zu verstehen ist und welche Impulse der noch jungen Komplexitätsforschung bei ihrer Untersuchung eine Rolle spielen.
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Exkurs: Der Entwicklungsfaktor ›Komplexität‹ Der Begriff ›Komplexität‹ und die damit verbundenen analytischen Anforderungen lassen sich definitorisch zunächst mit Sandra Mitchell gewinnbringend auf den Punkt bringen: »Komplexe Systeme entziehen sich einfachen Untersuchungsmethoden und einer einfachen Logik der Schlußfolgerungen. […] In Wirklichkeit hat unsere Welt viele Formen und Größen, und ihre Strukturen unterscheiden sich im Ausmaß und ihrer Stabilität, so daß sich mehr oder weniger kontingente Wahrheiten ergeben, die wir kennen und
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
im Sinne unserer Ziele und Bestrebungen nutzen können. Es gibt nicht nur einen Weg des Seins, sondern viele.«1 Diese vielen kontingenten Narrative, Entwicklungsformen und Umweltfaktoren erfordern einen methodisch immer schon mitgedachten Blick auf die komplexen Mechanismen von Entwicklungszusammenhängen. Zugleich lassen sich große Systeme nicht mehr auf klar strukturierte, direkt nachvollziehbare (etwa personale) Verbindungen reduzieren.2 Vielmehr ergeben sich vielschichtige Feedbackschleifen, die die rekursiven Strukturen von Systemen generieren. Solche Schleifen entstehen, wenn Entwicklungen auf sich selbst zurückwirkende Effekte auslösen. Sie rufen dann eine schwer vorhersehbare Fortentwicklung der Ausgangseffekte hervor,3 indem immer neue, komplexe Rückkoppelungsmechanismen entstehen. Nur Systeme, die sich diesen verzweigten Feedbackschleifen immer neu anpassen und flexibel bleiben, sind in der Lage, sich angesichts dieser Veränderungsmechanismen als resiliente,4 das heißt dauerhaft leistungsfähige und beständige Systeme zu etablieren. Eine gesteigerte sozialsystemische Resilienz verbindet sich also immer auch mit erhöhten Flexibilitätsanforderungen an soziale Systeme. Dieser Resilienzfaktor der Flexibilität hat für das Evolutionsverständnis der vorliegenden Untersuchungen Konsequenzen: Er benennt das notwendige Zusammenspiel zwischen der willentlichen Lenkung kultureller Phänomene und ihrer gleichzeitig nicht steuerbaren Systemimmanenz. Das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen Intentionalität und systemischer Kontingenz bringt ein für die evolutionäre Anthropologie wesentliches wissenschaftstheoretisches Problem mit sich. Die komplexe Situiertheit sozialer Entwicklungen entzieht sich jeder methodischen Auflösung. Alle empirischen Erkenntnisse über zugrundeliegende Entwicklungsmechanismen erscheinen angesichts systemischer Komplexitäten immer nur als Teilaspekte größerer, im Gebrauch und damit im Wandel begriffener Einzelperspektiven. Robert Bellah erkennt dieses Problem als die zentrale Herausforderung jeder anthropologischen Erkenntnissuche, wenn er von »overlapping realities«5 spricht. Die Einsicht in die innersystemisch auf den Plan gerufene ›Komplexität‹ wird sich in diesem Sinne permanent selbst zum Problem – ihre eigenen Feedbackschleifen fordern sie uneinholbar heraus und erwehren sich festschreibender Definitionspraktiken. Das im Folgenden zu analysierende Komplexitätsproblem ist also selbst der Motor menschlicher Kom-
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Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen (edition unseld 1), Frankfurt a.M. 2008, 133. Vgl. Matthias Horx, Komplexität und Emergenz. URL: https://www.horx.com/zukunftsforschung /komplexitaet-und-emergenz/ [Abruf: 21. Februar 2023]. Vgl. Manfred Füllsack, Gleichzeitige Ungleichzeitigkeiten. Eine Einführung in die Komplexitätsforschung, Wiesbaden 2011, 31. Vgl. zum Begriff der Resilienz in diesem Zusammenhang die Beschreibung resilienter Systemfunktionalitäten von Matthias Horx: »Resiliente Systeme sind variabler, sie passen sich Aussendrücken [sic!] an, und variieren ihre Form. In der nächsten Stufe entsteht Emergenz als erweiterte Form der Resilienz. Hier geht es nicht mehr nur um Regulation, sondern um (Selbst-)ORGANISATION [sic!] von Systemen.« (Horx, Komplexität). Bellah, Religion, 8.
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Religion als Produkt der Evolution?, 9783837670943, 2024
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plexitätsentwicklung und kann daher methodisch nicht abgeschwächt oder vereinfacht werden. Die Definition komplexer Systeme nach Sandra Mitchell (s.o.) betrifft damit immer auch die an sie angelegten Untersuchungsmethoden. Sie können ihren Untersuchungsgegenstand, die Entwicklung komplexer soziokultureller Zusammenhänge, in ihrem methodischen Selbstanspruch nie unterschreiten und zugleich nie abschließend einholen. Der dargelegte Zusammenhang verdeutlicht auch die entwicklungsgeschichtliche Rolle religiöser Narrative und Praktiken in komplexen Systemen. Die durch sie transportierte Metaperspektive bildet einen wichtigen Prozessor für das Entstehen und den Erhalt einer »dynamisch-adaptiven Gesellschaft«6 , indem sie soziale Normen und ihre Akzeptanz etwa rituell und durch Begründungsnarrative der Transzendenz stützt und permanent aktualisiert. Darüber hinaus bieten religiöse Bezüge einen möglichen Motivationsgrund für das Individuum, sich entsprechend der eingeführten Normierungen ein resilientes und gleichzeitig problemsensibles Ethos anzueignen und es im Sinne produktiver Feedbackschleifen stetig zu reflektieren.7 An dieser Einsicht müssen sich auch die folgenden Ansätze abarbeiten. Sie führt zu einer neu gelagerten Definitionsgrundlage für religiöse Phänomene. So »scheint […] Religion zu jenen Sachverhalten zu gehören, die sich selbst bezeichnen, sich selbst eine Form geben können.«8 Das heißt, sie bildet eine flexible, adaptive Systemkomponente, die eigene Wirklichkeiten kreiert und damit spezifische Feedbackschleifen ins Rollen bringt. Auf diese Weise können ihre transzendenten Modellierungen auch immanent als wirklichkeitsgenerierend beschrieben werden. Diesen innersystemisch wirksamen Mechanismen gilt es auch methodisch Raum zu geben. ***
Die hier vorgenommene Deutung menschlichen Sozialverhaltens und im Speziellen religiöser Systeme kann als ein erster methodologischer Testfall für die folgenden Theorieansätze und ihr jeweiliges analytisches Potenzial gelten: Die evolutionsanthropologischen Modelle stehen in der Herausforderung, zwischen systemischen Entwicklungen, bewussten Handlungen und Umwelteinflüssen auch methodisch zu vermitteln. Diese Herausforderung greift Niklas Luhmann systemtheoretisch auf, wenn er davon ausgeht, »daß Evolution nicht Komplexität schlechthin und in beliebiger Weise vermehrt, sondern daß dies geschieht im Hinblick auf die Ermöglichung höhergestufter Wechselbeziehungen zwischen System und Umwelt in den für künftige Evolution wichtigen Fällen«9 (vgl. dazu Kapitel 9.1.2). Im Verlauf der Arbeit wird sich die Verhältnisbestimmung 6 7 8 9
Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, München 2009, 100. Vgl. ebd., 102. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kieserling (Stw 1581), Frankfurt a.M. 2002, 15. Ders., Systemtheorie der Gesellschaft, hg. v. J. F. K. Schmidt u. A., Berlin 2 2018, 304. Dafür, dass diese Deutungsperspektive gewinnbringend auch auf die evolutiven Hintergründe und Eigenwirksamkeiten religiöser Vollzüge Anwendung finden kann, argumentiert aktuell der Religionswissenschaftler Volkhard Krech. Sein Forschungsprojekt ›Theorie und Empirie religiöser Evolution‹ (THE-
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
zwischen selektiven Systemautomatismen und sinngebundenen sozialen Handlungslogiken über mehrere Reflexionsgänge hinweg als ein bestimmender erkenntnistheoretischer Treiber erweisen. Sie erhält damit auch eine methodologische Relevanz, weil sie nach einer interdisziplinären Verknüpfung der evolutionären Anthropologie mit der Sozial- und Erkenntnisphilosophie sowie der theologischen Epistemologie verlangt. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst neodarwinistische Zuspitzungen des Zusammenspiels zwischen kognitiven und sozialsystemischen Dispositionen und menschlichen Transzendenzbezügen betrachtet (Kapitel 2.1). Es folgt eine sozialwissenschaftliche Zwischenreflexion anhand des Religionsverständnisses von Émile Durkheim (Kapitel 2.2). Beide Perspektiven erlauben schließlich eine differenzierte Einordnung sozialevolutiver Erklärungen von religiösen Vollzügen als selektionsbezogene Resilienzfaktoren in Großgruppenzusammenhängen (vgl. Kapitel 2.3 und 2.4).
2.1. Ein kritischer Blick in die Memtheorie Die dargestellten kognitionswissenschaftlichen Grundlagen fokussieren sich auf kognitive Module und die damit verbundenen Welterfassungskompetenzen des Menschen. Kulturelle Sinnkonstruktionen wie etwa Ahnen- oder Götterkonzepte werden als kognitiv naheliegende Adaptionen verstanden. Sie verarbeiten Erfahrungskontingenzen und Erklärungsleerstellen. In den Modellierungen ist die soziokulturelle Entwicklung des Menschen zugleich als mindestens in der Folge der kognitiven Grundlagen unabhängig von der genetischen Evolution nahegelegt. Ob und inwieweit die Entwicklung kultureller Mechanismen jedoch im gleichen Zuge als von selektionstheoretischen Dynamiken abgekoppelt zu verstehen ist, stellt einen Streitpunkt innerhalb der evolutionären Anthropologie dar. So bleibt die unabhängige soziokulturelle Lagerung evolutiver Entwicklungslinien insbesondere in klassisch neodarwinistisch geprägten Evolutionsverständnissen weiterhin weitgehend unbehandelt, während sie in anderen Theoriebildungen zu zunehmenden Anpassungen insbesondere religionsevolutiver Modelle führt. Als neodarwinistische Erklärungsmuster moderner Couleur sind in diesem Zusammenhang Ansätze zu verstehen, die die darwinistische Vererbungslehre mit den Erkenntnissen mendelscher Genetik, den evolutionsbiologischen Annahmen zur natürlichen Selektion und neuen Erkenntnissen der Genetik im 20. und 21. Jahrhundert koppeln.10 Der darwinistische Evolutionsbegriff operierte noch nicht mit der Einheit
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RE) geht von einem systemtheoretischen Analyseansatz aus, der sich dem aufgezeigten Komplexitätsproblem religionswissenschaftlich stellt (vgl. für einen ersten Überblick über das Forschungsvorhaben Volkhard Krech, Theory and Empiricism of Religious Evolution (THERE). Foundation of a Research Program. Part 1, in: ZfR 26/1 (2018) 1–51; sowie Ders., Theory and Empiricism of Religious Evolution (THERE). Foundation of a Research Program. Part 2, in: ZfR 26/2 (2018) 215–263.) Auf Krechs Ansatzpunkt und die darin enthaltenen philosophischen und theologischen Implikationen wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch eigens einzugehen sein (vgl. dazu den Exkurs in Kapitel 9.1.2). Vgl. Michael Blume, Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe (Herder spektrum 6582), Freiburg i.Br. 2013, 108f.
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der Gene. Vielmehr stehen Darwins Überlegungen für den allgemeinen Durchbruch der Annahme geschichtlich ablaufender Modifikationsmechanismen, die durch verschiedenste Ursachenkomplexe ausgelöst werden können. Damit berufen sich seine Theorien zunächst nicht auf eine reine Fitnessselektion, sondern schließen durch die weite Definition verschiedenste Mechanismen mit ein.11 Auf der Grundlage der chromosomentheoretischen und phenotypologischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts ergaben sich schließlich grundlegende Modifikationen dieses allgemeinen Evolutionsverständnisses. Durch sie wurde die Evolutionstheorie mit der Genetik zusammengebracht. Es entstand die wissenschaftsgeschichtlich als ›modern synthesis‹ bezeichnete Zusammenführung der verschiedenen Erkenntnisse hin zu einem neuen Evolutionsparadigma, das fortan auch als ›Neodarwinismus‹ bezeichnet wurde und wird.12 Einen ebenso prominenten wie umstrittenen Versuch13 einer direkten begrifflichen und methodischen Übertragungslinie dieses genetischen Neodarwinismus auf soziokulturelle Entwicklungen liefert die Theorie der ›Meme‹. Diese wurde von Richard Dawkins grundgelegt. Parallel zu seiner Theorie des ›egoistischen Gens‹14 konstruiert er ein Modell rein egoistisch ›agierender‹ Kulturelemente, die er als ›Meme‹ bezeichnet. Dawkins geht davon aus, dass der Fitnessvorteil kultureller Phänomene im direkten Zusammenhang mit der Möglichkeit ihrer sozialen Verwertung und Weitergabe steht.15 Er definiert Meme entsprechend anhand von Beispielen und hält fest: »Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches. Just as genes propagate themselves in the gene pool by leaping from body to body via sperms or eggs, so memes propagate themselves in the meme pool by leaping from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.«16 Gene und Meme sind dieser Theorie zufolge als immer wieder kopierte und je nach Grad der Kopiertreue modifizierte Elemente des Genpools beziehungsweise des kulturellen Mem-Repertoires zu verstehen. Auch soziokulturelle Grundmarker wie beispielsweise sprachliche Systeme und spezifische Denkstrukturen sind Dawkins zufolge nurmehr die Vehikel ihrer erfolgreichen Verbreitung.17 Auf diese Weise weiten Dawkins und ihm folgende Vertreter*innen der Memtheorie den Analysespielraum neodarwinistischer Theoriebildungen aus. In der Folge verstehen sie auch kulturelle Vollzüge als ›blind‹18 , weil aus einzelnen ›egoistischen‹19 Elementen bestehen. Die Deutungskategorie blinder Selekti11 12 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. István Czachesz, Evolutionary Theory on the Move. New Perspectives on Evolution in the Cognitive Science of Religion, in: Unisinos Journal of Philosophy 19/3 (2018) 263–271, hier: 264. Vgl. ebd. Vgl. Matt Gers, The Case for Memes, in: Biological Theory 3/4 (2008) 305–315, hier: 306. Vgl. Richard Dawkins, The Selfish Gene, 40th Anniversary Edition (Oxford Landmark Science), Oxford 2016. Vgl. Emerich Sumser, Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Lichte der modernen Evolutionsbiologie, Berlin 2016, 73. Dawkins, Gene, 249. Vgl. Susan Blackmore, The Meme Machine, Oxford 1999, 5. Vgl. Richard Dawkins, The Blind Watchmaker, London 3 1991. Vgl. Ders., Gene.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
onsmechanismen betrifft dann das Gesamt der menschlichen Sozialevolution. Sie setzt ein enges Bewertungsschema an, das in der Folge nicht mehr eigens methodologisch eingeholt wird. Die mit dem Konzept der Meme verbundenen Ausweitungen neodarwinistischer Erklärungsmuster auf soziokulturelle Zusammenhänge externalisieren auf diese Weise die herausgearbeitete spezifische Rolle materieller und personeller Umweltfaktoren im Evolutionsprozess.20 Ihr Einfluss auf die Weitergabe kultureller Inhalte und das systemische Setting, in dem sich verschiedene Meme untereinander in konkreten Aushandlungsprozessen befinden, wird nicht einbezogen. Die Theorie kann ihre implizite Annahme, diese Faktoren seien nicht primär relevant für die angesprochenen ›Kopiervorgänge‹, nicht hinreichend begründen. Das betrifft auch den Faktor reflexiver Leistungen des Menschen gegenüber ›memetischen Inhalten‹. Er wird nicht eingeholt. Diese Leerstelle manifestiert sich in der plakativen Rede Susan Blackmores vom Menschen als einem maschinenartigen Wirt für die Meme: »From the meme’s-eye view, every human is a machine for making more memes – a vehicle for propagation, an opportunity for replication and a resource to compete for.«21 Dieses Verständnis der sozialevolutiven Rolle des Menschen als passiver Überträger schließt metatheoretische Überlegungen hinsichtlich von Memen praktisch aus. Ein Denken außerhalb intrinsischer Memstrukturen und damit auch eine kritische Distanz zu diesen wird hier theorieintern zu einer Unmöglichkeit. Das Ausblenden subjektiver Zugänge zur soziokulturellen Dynamik führt im zweiten Schritt zum Ausklammern der aktualen Aspekte zwischenmenschlicher Handlungszusammenhänge.22 Diese methodische Leerstelle betrifft die Einbindung komplexer Kultursystematiken in die evolutiven Theoriebildungen, die oben in Bezug auf die Komplexitätsforschung und die kognitiven Grundlagen des Menschen als zentral plausibilisiert wurden. Die Analysekategorie der Meme neutralisiert die praktischen Kognitions-, Kommunikations- und Systematisierungsprozesse durch einen funktionalistischen Holismus der Analysekategorie selbst. Gegen diese Verkürzung steht im Diskurs ein pragmatisch angelegter Zugang zur soziokulturellen Evolution des Menschen. So versteht beispielsweise Salikoko Mufwene in kritischer Abgrenzung zur Memtheorie Kultur als eine Dynamik, die erst durch Praktiken entsteht und immer wieder neu geordnet wird. Ihm zufolge unterliegt sie zwar ökologischem Druck, der aber Praktiken der Reflexion und Interaktion zwischen den 20
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Zu Rolle solcher Umweltfaktoren für die Attraktivität und Verbreitungskraft kultureller Einzelelemente vgl. Marshall Abrams, Modeling the Coevolution of Religion and Coordination in Balinese Rice Farming, in: Alan C. Love – William C. Wimsatt (Hgg.), Beyond the Meme. Development and Structure in Cultural Evolution (Minnesota Studies in the Philosophy of Science 22), Minneapolis (MN) 2019, 261–310. Susan Blackmore, The Power of Memes, in: Scientific American 283/4 (2000) 64–73, hier: 66. Vgl. Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische und neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, übers. v. K. Wördemann (Stw 2151), Frankfurt a.M. 3 2019, 62. 68.
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Akteur*innen einer Kultur keineswegs über universale Automatismen verunmöglicht, sondern vielmehr im Zusammenspiel mit ihnen die systemische Entwicklung als einen Faktor von vielen – nicht als universalen Selektionsmechanismus – mitbedingt.23 Die Fokussierung auf das Konzept der Memetik verstellt demnach das evolutive Unterscheidungsmerkmal des Menschen, das sich als komplexes Zusammenspiel aus kognitiven und sozialen Komponenten darstellt. Evolutive Settings können vielmehr erweitert als komplexe Problemhorizonte reflektiert werden, die der Mensch kognitiv bearbeitet. Dieser Gesichtspunkt wird im Rahmen der Memetik zugunsten der Betonung von automatistischen Steuerungen der Kognition des Menschen ausgeblendet. Die Memtheorie beansprucht dennoch, kulturelle Narrative und ihre Entwicklung gänzlich erfassen zu können. Im Hinblick auf psychologische, soziologische und anthropologische Forschungszweige und ihre Herangehensweisen schließt sie eine breite, interdisziplinäre Rezeption aus. Die Modellierungen der Memtheorie rezipieren aktuelle Verknüpfungen im Rahmen der evolutionären Anthropologie nicht. Vielmehr schließen sie ihre Erkenntnisse in Form von Vereinfachungen aus.24 Der Anspruch der Memtheorie, eine holistische Erklärung der Genese menschlicher Sozialstrukturen und Kulturvollzüge zu liefern, entpuppt sich hier auch als erkenntnistheoretisches Problem: Die Theorie blendet die bereits kognitionswissenschaftlich erschlossene Relevanz von kognitiven Grenzerfahrungen aus, indem kognitive Elemente zu unabhängigen Beeinflussungsmustern (= Memen) ontologisiert werden. Dawkins versieht seine Modellierung der Funktionsweise menschlicher Weltdeutungen mit einem universalen Anspruch der Welterklärung, die jenseits aller Grenzerfahrung immer schon unbegrenzt und unumgänglich greifen soll.25 Genau diese Ontologisierung wird in Dawkins Ansatz schließlich zu einer religionskritischen Drehscheibe. So versteht er religiöse Narrative als »geistige Viren«26 , die wie fehlerhafte Nebenprodukte in der Welterschließung von »leichtgläubigen Kinder[n]«27 auch in Erwachsenengehirnen erfolgreich bleiben können.28 Susan Blackmore erweitert diese Kritik. Sie sieht transzendenzbezogene Inhalte als besonders geschützte und dauerhaft replizierte Meme, weil sie in ihren Inhalten bereits Strafandrohungen für ein Ablassen von den Memen selbst sowie einer Kritik an ihnen enthielten.29 Dabei operierten sie mit der Angst ihrer Wirte.30 Die religionskritischen Untertöne der Theorie liegen hier deutlich auf der angesprochenen ontologisierenden Begründungslinie. Alle interpersonalen Anteile des Untersuchungsgegenstandes werden ausgeblendet. Religiöse Narrati-
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Vgl. Salikoko S. Mufwene, The Evolution of Language as Technology. The Cultural Dimension, in: Alan C. Love – William C. Wimsatt (Hgg.), Beyond the Meme. Development and Structure in Cultural Evolution (Minnesota Studies in the Philosophy of Science 22), Minneapolis (MN) 2019, 365–394, hier: 368. Vgl. Robert Boyd – Peter J. Richerson, Meme Theory Oversimplifies. Counterpoint to Susan Blackmore, in: Scientific American 283/4 (2000) 70–71, hier: 70. Vgl. Gregor M. Hoff, Die neuen Atheismen. Eine notwendige Provokation (TTB 671), Kevelaer 2009, 48f. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, übers. v. S. Vogel, Berlin 10 2011, 263. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Blackmore, Meme, 191. Vgl. ebd., 188.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
ve und Praktiken werden als Output mächtiger geistiger Komponenten verstanden, in denen sowohl das Individuum als auch die Gesamtgesellschaft gefangen ist. Blackmore und Dawkins setzen hier einen universalen Funktions- und damit Erklärungszusammenhang religiöser Phänomene.31 Für erkenntnistheoretische Diskussionen rund um prozesshaft erschlossene Sinnhorizonte und (freilich vorhandene) Machtkomplexe der Entstehung sozial getragener Sinnhorizonte verschließt sich die religionskritische Ausrichtung der Memtheorie. Die Notwendigkeit einer Neuverortung der Verhältnisse zwischen Selektionsmechanismen, biologischen Voraussetzungen und sozialen Organisationsformen ist vor diesem religionskritischen Drehmoment einer Beschäftigung mit der Religionsevolution nochmal verschärft auf den Plan gerufen. Angesichts der religionskritischen Haltung, die die Memtheorie explizit mit ihrem Modell verbindet, zeigt sich: Die jeweilige Gewichtung der einzelnen religionsevolutiven Aspekte hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Bewertung und evolutionsinterne Verortung religiöser Narrative und Praktiken. Im Folgenden ist daher die Frage zu stellen, inwieweit individuelle und kollektive Erkenntnis- und Kommunikationsprozesse Einfluss auf konkrete Entwicklungen nehmen können. Zum anderen ist ein Blick auf ihre Verknüpfung mit den biologischen Bedingungen der Entwicklungsgeschichte des Menschen zu werfen. Im Sinne einer komplexitätssensiblen Modellbildung gilt es, beide Entwicklungsmechanismen nicht als entweder streng voneinander getrennt (etwa durch einen externalisierten Theismus) oder als naturalistisch ineinander aufgehend (etwa in der neodarwinistischen Memtheorie) zu begreifen.32 Vielmehr ist die Möglichkeit einer Eingliederung transzendenter Sinnbezüge in komplexe Interdependenzen zwischen intentionalen Aushandlungsprozessen, systemischen Eigenwirksamkeiten und umweltbedingten Selektionsfaktoren zu prüfen. Die im Folgenden betrachteten evolutionsanthropologischen Neukartierungen des verzweigten Wechselspiels verschiedener Faktoren in der Ausbildung von Kultur und Religion sind in der Lage, ein breiteres, multilineares Bild der Religionsevolution zu zeichnen. Dieses lässt sich deutlich konziser als die Memtheorie an die Anforderungen komplexer Analysen anschließen.
2.2. Soziologische Grundlegungen von Émile Durkheim Die Weitung des theoretischen Horizontes im Unterschied zur Memtheorie erschließt sich insbesondere über wissenschaftsgeschichtliche Bezugspunkte der neueren evolutionären Anthropologien. Sie weisen Anknüpfungen zu den Entstehungsdiskussionen der Soziologie auf. Wichtige Impulse gingen hier von Émile Durkheim (1858–1917) aus. Er arbeitete intensiv zur Funktion und Entstehung von Religion innerhalb einer Gesellschaft. Die grundlegenden philosophischen Umstellungen im Verständnis von Moral, Religion und ihrer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung bei Durkheim sollen daher der folgenden Darstellung aktueller Ansätze als Reflexionsfolie vorangestellt werden. 31 32
Vgl. Hoff, Atheismen, 50f. Vgl. zu den erkenntnistheoretischen Grenzziehungen gegenüber beiden angesprochenen Extremen Nagel, Geist, 53–62.
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Durkheim versteht Religion als ein kollektives Phänomen, dessen soziale Schlüsselmechanismen sich direkt an ihre Entstehungsgeschichte koppeln. Er stellt eine sozialfunktionalistische Religionsdefinition auf, der er im Rahmen methodologischer Neuorientierungen und ethnologischer Rezeptionen nachgeht.33 Religion ist Durkheim zufolge »une chose éminemment sociale. Les représentations religieuses sont des représentations collectives qui expriment des réalités collectives; les rites sont des manières d’agir qui ne prennent naissance qu’au sein des groupes assemblés et qui sont destinés à susciter, à entretenir ou à refaire certains états mentaux de ces groupes.«34 Mit diesem sozialen Grundverständnis wendet er sich methodologisch von den klassischen philosophischen Erklärungsmodellen seiner Zeit ab. Ein Teil dieser zuvor gängigen Erklärungsmodelle fokussiert die Entstehung von Religionen auf angeborene Dispositionen des Menschen und schließt so soziale Erfahrungen als Faktor komplett aus. Eine zweite gängige Erklärungsrichtung vertritt dagegen eine stark individualistisch-konstruktivistische Sichtweise. Sie geht von bruchstückhaften Wahrnehmungen und Dispositionen aus, welche das Individuum schließlich zu einem Gesamtsystem konstruiere.35 Von beiden Positionierungen grenzt sich Durkheim in seinem Verständnis von Religion als ein Phänomen kollektiver Realitätsdeutung ab. Für Durkheim verweist die Analyse religiöser Phänomene auf eine doppelte Irreduzibilität, welche die methodologischen Flanken für seine Theorie der Religion liefert. Religionen seien, so Durkheim, als Träger moralischer Ideale weder utilitaristisch oder funktionalistisch engzuführen noch seien sie als Elemente des menschlichen Denkens einzig auf die individuelle Erfahrung einzelner Personen zu reduzieren.36 Jede einlinige Fokussierung der Erklärung von Religion auf einen der beiden Aspekte verkennt demnach das Alleinstellungsmerkmal der Religion selbst: Sie ist Durkheim zufolge aufgespannt zwischen gleichermaßen ideellen, funktionalen und rationalen Moralkonzeptionen auf der einen und individuellem Erfahrungswissen auf der anderen Seite.37 33
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Durkheim stützt seine Aussagen zur sozialen Einbettung der Religion auf seine Analysen totemistischer Praktiken in australischen Stammesgesellschaften. Auf seine breiten Analysen kann im Rahmen dieser Einführung, der es schwerpunktmäßig um die Darlegung zentraler methodologischer Umstellungen im Rahmen religionssoziologischer Aussagen Durkheims geht, nicht im Detail eingegangen werden. Durkheims eigener Aufhänger der Zusammenbindung von Gesellschaftsmechanismen und Religion, die er aus den ethnologischen Studien zum Totemismus in Australien zieht, seien hier allerdings kurz wörtlich wiedergegeben: »il ressort qu’il [le totem; JU] exprime et symbolise deux sortes de choses différentes. D’une part, il est la forme extérieure et sensible de ce que nous avons appelé le principe ou le dieu totémique. Mais d’une autre côté, il est aussi le symbole de cette société déterminée […] Si donc il est, à la fois, le symbole du dieu et de la société, n’est-ce pas que le dieu et la société ne font qu’un?« (Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie (BPhC), Paris 5 1968, 294f.). Ebd., 13. Vgl. ebd., 18. Vgl. ebd., 23. Die hier von Durkheim problematisierte Zweiteilung in den Theorien seiner Zeit lässt sich auch auf aktuelle anthropologische Fragestellungen übertragen. Der angedeutete soziokulturelle Überhang von Werten, Normen und religiösen Praktiken entzieht – folgt man Durkheims Grundie-
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
Durkheim wählt daher einen streng soziologischen Ausgangspunkt in der Analyse der Religionsentstehung. Er sieht den Grund für die Entstehung von Religionen im Umgang mit dem gesellschaftlichen Bedarf nach sozialer Bindung.38 Nach Durkheim brauchen menschliche Gruppen für eine solche soziale Bindung eine Idee ihrer konkreten Ausgestaltung, die sich erst in der konkreten Vergesellschaftung erschließt. Diese Idee der Gesellschaft versteht er als »l’âme de la religion«39 : Aus der Religion heraus konstruiere sich die Gesellschaft aktiv selbst – und konstruiere so wiederum erst das, was man als religiöses Gefüge bezeichnen könnte.40 Der Vollzug kollektiver Vergemeinschaftung wird damit von Durkheim zum Motor für idealisierende Gesellschaftsentwürfe und Moralkonzeptionen ausgerufen. Er ist nicht als angeborene Disposition des einzelnen Individuums einzuholen, sondern als Ergebnis eines kollektiven Lernprozesses hinsichtlich der sozialen Organisation des Lebens. In diesem Lernprozess eignet sich das Subjekt Durkheim zufolge an, Idealisierungen vorzunehmen.41 Auch die von Durkheim geforderte Abkehr von rein rationalistisch-utilitaristischen Erklärungsmodellen wird an dieser Stelle deutlich. Er versteht die Entstehung und Begründung sozialer Bindungen durch moralische Systeme nicht als Entwicklung rationaler Konzepte,42 sondern vielmehr als aktiv ausgehandelte Reaktion auf soziale Bedarfe.43 In dieser kollektiven Entstehungsform sieht Durkheim das Alleinstellungsmerkmal der Religion. Sie evoziere kollektiv determinierte Praktiken, die wiederum aus der Praktik heraus eine soziale Identität bildeten.44 Erst in einem zweiten Schritt – eben nicht als naturgegebene Gesetzmäßigkeit oder angeborene Intuition – entstünden dann kollektive Ideale und Normen, die nicht mehr zwingend in jedem Einzelfall individuell hinterfragt würden.45 Durkheim setzt also entgegen der These angeborener Religionsdispositionen genau umgekehrt an: Er konstatiert, dass das menschliche Selbstbewusstsein und die normenbezogene Vergemeinschaftung erst im Rahmen von kollektiven Praktiken entstehen.46 Insofern seien religiöse Sinnbezüge und mit ihnen begründete moralische Ideale bleibend abhängig von aktiven, individuell wirksamen Gruppenprozessen. Sie bildeten in Form von transzendenzbezogenen Ritualen den eigentlichen Kern der Religion, der die Gruppe und das Individuum als Teil der Gruppe stärke.47 In Folge dieser Einsichten definiert Durkheim Religion schließlich ausführlich als
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rung – den naturalistischen Monolinearitäten neodarwinistischer Couleur und auch dem zunächst individualistisch anmutenden Angang rein modularer Kognitionstheorien die methodologische Standfestigkeit, reproduzieren sie doch jeweils eines der beiden von Durkheim angedeuteten Extreme. Vgl. Durkheim, Formes, 597f. Ebd., 599. Vgl. ebd., 604. Vgl. ebd. Vgl. ausführlich zu dieser Abkehr Durkheims vom Rationalismus und ihrer Begründung Ders., Auszug aus Les règles de la methode sociologique ( 11 1950 [1895]), in: Ders., Selected Writings, hg. v. A. Giddens, Cambridge 31 2008, hier: 89. Vgl. Ders., Formes, 339. Vgl. ebd., 60. Vgl. ebd., 604f. Vgl. ebd., 623. Vgl. ebd., 299f.
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»un système solidaire de croyances et de pratiques relatives à des choses sacrées, c’est-à-dire séparées, interdites, croyances et pratiques qui unissent en une même communauté morale […] tous ceux qui y adhèrent.«48 Der hier anklingende soziologische Pragmatismus als Erklärungsschlüssel und Kernelement religiöser Vollzüge setzt auch für die moderne Ausdeutung der Religion in der evolutionären Anthropologie einen wirkmächtigen soziologischen Rahmen: Die Feststellung, dass Religionen erst in einem kollektiven Diskursrahmen entstehen, den wiederum erst das Kollektiv ›aktiviert‹, verknüpft religiöse Phänomene so eng mit ihrer sozialen Rahmung, dass sie ohne diese nicht mehr theoretisierbar sind. Die bereits im Rahmen der Anwendung kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse auf Ahnen- und Götterkonzeptionen beobachtete Verquickung kognitiver Dispositionen, umweltbedingter Herausforderungen und beziehungsbasierter Gefüge (vgl. Kapitel 1.3) erhält hier eine soziologische Grundierung. Diese Grundierung entwickelt ein kritisches Potenzial gegenüber den dargestellten neodarwinistisch-memetischen Theoriebildungen: Wenn religiöse Phänomene als gesellschaftliche Vollzugsformen zwischen festen Idealen und ihrer aktualisierenden Vergegenwärtigung durch soziale Akteur*innen zu verorten sind, dann widerspricht das jeder Rede von einem automatistischen Gen- beziehungsweise Memegoismus. Diese nimmt die konstitutive Rolle kollektiver Aushandlungsprozesse im Rahmen der sozialen Evolution nicht ernst und schließt sie methodisch initiativ aus. Darüber hinaus ist ein ›methodologisches Monopol‹ der Kognitionsdispositionen in der Analyse menschlicher Vergesellschaftung und Religiosität mit Durkheim betrachtet ebenfalls nicht haltbar. Weder physiologische noch psychologische Eigenschaften des Individuums erlauben demnach direkte Rückschlüsse auf moralische und religiöse Ideale einer Gruppierung. Vielmehr sind sie mittelbar eine Bedingung für funktionierende kollektive Aushandlungsprozesse, deren sozial wirksames Produkt gesellschaftliche Formierungen darstellen.49 Das bedeutet für die soziologisch-methodologische Rahmung moderner evolutionärer Anthropologien zweierlei: Erstens sollte die Analyse bei den neuesten Erkenntnissen zur Entwicklung menschlicher Gruppierungen und ihrer Bedingungen ansetzen. Dabei sollten neben ethnologischen und kulturanthropologischen Erkenntnissen aber zweitens auch psychologische und physiologische Dispositionen nicht einfach ausgeklammert werden. Sie werden vielmehr auch von Durkheim als bedeutende Elemente angesehen, die mit den Gesellschaftsorganisationen multilinear verbunden sind und ihre Prozesse mit antreiben. In der Tradition dieses Theorierahmens stehen daher auch die folgenden Analysen und finden in ihm zugleich einen ersten wissenschaftstheoretischen Prüfstein.
48 49
Ebd., 65. Vgl. Robert Prus, Redefining the Sociological Paradigm. Emile Durkheim and the Scientific Study of Morality, in: Qualitative Sociology Review 15/1 (2019) 6–34, hier: 12.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
2.3. Große Gehirne, große Gruppen und der Bedarf an Kooperation Aus der Reflexion des Religionsverständnisses von Durkheim ergibt sich die Notwendigkeit für einen Detailblick auf die sozialevolutive Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Im Bezug auf aktuelle Forschungen liegt dabei der Fokus auf der Verquickung gefestigter Transzendenzvorstellungen mit der Entstehung menschlicher Großgruppen. Dabei geht es zunächst um die Interdependenz zwischen der gesteigerten kognitiven Leistungsfähigkeit des Menschen und seiner daraus erwachsenden Fähigkeit zu interaktivem und vorausschauendem Sozialverhalten. Die menschliche Fähigkeit zur Interaktion in komplexen Organisationseinheiten steht in direkter Verbindung mit der Entwicklung der Hirngröße. Bei der Entwicklung der Primaten ist ein besonders starkes Wachstum des Neocortex auszumachen.50 Es konnte in diesem Zuge nachgewiesen werden, dass die Größe des Neocortex mit der durchschnittlichen Gruppengröße bei verschiedenen Affenarten korreliert:
Abbildung 2: Clive Gamble u.a., Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen, Berlin, Heidelberg 2016, 14.
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Vgl. Clive Gamble u.a., Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen, Berlin, Heidelberg 2016, 14f.
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Der Abbildung ist zu entnehmen, dass sich aus der relativen Abhängigkeit beider Größen zueinander gleichzeitig ein Maximalpunkt der Gruppengröße ergibt. Er steht in Verbindung mit der maximalen Größe des Neocortex. Diese ist beim homo sapiens erreicht und bedingt eine natürliche Gruppengröße von 150 Personen. Die angeführte Korrelation und damit die Ermittlung des Spitzenwertes von 150 Gruppengliedern geht auf Robin Dunbar zurück. Man bezeichnet diesen Wert daher als Dunbar-Zahl (vgl. ebenfalls Abbildung 2).51 Diese sehr gering anmutende Personenzahl wird nicht durch die Entwicklung großer dörflicher oder gar großstädtischer und staatlicher Gesellschaften widerlegt. Stattdessen konnte in kognitionspsychologischen Tests nachgewiesen werden, dass sich auch innerhalb solcher großgesellschaftlichen Organisationseinheiten die Grenze der sozialen Kontakte und Interaktionspartner*innen weiterhin im Bereich der Dunbar-Zahl einpendelt. So ergab eine Befragung von Personen bezüglich ihrer dauerhaften Kontakte, dass auch hier der maximale Kreis an direkt benennbaren Kontaktpersonen die Zahl 150 nicht überschreitet.52 Dieser stabile Maximalwert ist auf eine maximal mögliche ›kognitive Belastung‹ zurückzuführen. Er entspricht der »mentale[n] Fähigkeit […], uns zu erinnern und aufgrund von Informationen zu handeln, in diesem Fall im Zusammenhang mit anderen Menschen in unserem sozialen Umfeld. […] Offensichtlich erreichen wir mit der Zahl von 150 die Grenzen unserer kognitiven Fähigkeit, uns zu erinnern und auf einheitliche, zwischenmenschlich produktive Weise zu reagieren.«53 Aus den aufgezeigten Verbindungslinien zwischen der Größe des Neocortex und der Gruppengröße ziehen einige Theoretiker*innen zudem Schlüsse auf einen sich selbst verstärkenden Mechanismus: Große Gruppen evozieren demnach komplexere Strukturen und beschleunigen ihrerseits die kognitiven Entwicklungen der Spezies.54 Diese Interdependenzen werden wie folgt erklärt: Ein großes Gehirn ist evolutiv betrachtet eine kostspielige Angelegenheit. Das Risiko gravierender Hirnverletzungen nimmt zu, der größere Schädel erschwert den schadensfreien Weg durch den Geburtskanal und die Herstellung komplexer kognitiver Verknüpfungen bedarf eines wesentlich größeren und längeren Lernaufwands des Nachwuchses.55 In Kombination mit diesen Herausforderungen steht dabei zugleich der durch das größere Gehirn und die daraus erwachsenen Anforderungen stark gewachsene Nahrungsbedarf der Homininen.56 Um diesen Bedarf decken zu können, müssen mit immer mehr zeitgleich agierenden Jagdakteur*innen immer größere Reviere abgedeckt werden. Das wiederum erfordert ein Mehr an Organisationsleistung angesichts längerer Abwesenheitsperioden der verschiedenen Kleingruppen von Jäger*innen, die nun weitere Strecken zurück-
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Vgl. ebd., 16. Vgl. ebd., 20f. Ebd., 24. Vgl. Dunbar, Human, 72. Vgl. Peter J. Richerson – Robert Boyd, Not by Genes Alone. How Culture Transformed Human Evolution, Chicago (IL) 2005, 135. Vgl. Gamble – Gowlett – Dunbar, Evolution, 108–110. 124.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
legen müssen.57 Aus dieser komplexen Gemengelage heraus ergibt sich den Theorien zufolge ein erhöhter Bedarf an Kommunikation und zuverlässiger Kooperation. Die Sicherstellung von Kooperationen ist zugleich mehr denn je auf die Probe gestellt: Die Interaktionseinheiten in wachsenden Gruppenzusammenhängen werden so groß, dass sie nicht mehr nur genetisch verwandte Individuen betreffen. Damit können die erforderlichen Altruismus- und Kooperationsstrukturen nicht mehr in eine Erklärungslinie mit genetischen Fitnessbestrebungen gebracht werden. Vielmehr bilden nun auch Gruppen eine kooperative Einheit, die verwandtschaftlich nicht oder nur entfernt in Relation stehende Individuen umfassen. Der Gruppenzusammenhalt wird hier offenbar über andere Kanäle aufrechterhalten.58 Sie stellen eine erklärungsbedürftige Herausforderung dar, der sich evolutionäre Anthropologien verstärkt auch in Bezug auf Rituale und transzendenzbezogene Narrative annähern. ***
Exkurs: Spieltheoretische Selektionstheorien und altruistisch orientierte kin selection In der ökonomischen Theoriebildung häufig angewandte Spieltheorien59 werden auch zur Erfassung von Kosten-Nutzen-Strukturen evolutiver Fitnesssteigerung verwendet. Sie ermöglichen eine mathematische Modellierung von sozialstrategischen Handlungsstrukturen. Unter ›Spiel‹ versteht man im Rahmen dieser Theorien stilisierte, vereinfachte Szenarien strategischer Interaktionen.60 Ein in der Ökonomie und der Evolutionstheorie prominentes Spielszenario stellt das Dilemma dar, das im Hinblick auf unsichere Kooperationssituationen entstehen kann. Es eignet sich auch zur Modellierung der evolutiven Kosten altruistischen Verhaltens gegenüber egoistischen Strategiebildungen. Die Ausgangsbedingungen dieses Szenarios lassen sich am besten tabellarisch darstellen (siehe Abbildung 3). In diesem spieltheoretischen Raster zeigt sich: Wenn beide Spieler*innen kooperieren, ist der Output am größten. Die hohen Kosten für den Fall, dass nur einer der Spieler*innen kooperiert, während der*die andere defektiert (d.h. nicht bereit ist, zu kooperieren), übersteigen jedoch diesen Output. Dieser Mechanismus erzeugt ein erhöhtes Defektionspotenzial auf beiden Seiten: Der strategische Reiz für beide Beteiligten ist bei der Wahl der Defektion am höchsten.61 Den Regularien dieses Spielszenarios folgend,
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Vgl. ebd., 109. Vgl. Richerson – Boyd, Genes, 195f. Vgl. zur mathematischen Grundlegung Christoph Hauert, Mathematical Models of Cooperation, in: Martin A. Nowak – Sarah Coakley (Hgg.), Evolution, Games, and God. The Principle of Cooperation, Cambridge (MA)/London 2013, 115–131. Vgl. Johan Almenberg – Anna Dreber, Economics and Evolution. Complementary Perspectives on Cooperation, in: Martin A. Nowak – Sarah Coakley (Hgg.), Evolution, Games, and God. The Principle of Cooperation, Cambridge (MA)/London 2013, 132–149, hier: 133. Vgl. ebd., 137.
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würde es entsprechend über kurz oder lang zu einem Gleichgewicht kommen, in dem alle Beteiligten defektieren – man spricht hier vom sogenannten Nash-Gleichgewicht.62
Abbildung 3: Lee A. Dugatkin, N-person Games and the Evolution of Co-operation. A Model Based on Predator Inspection in Fish, in: Journal of Theoretical Biology 142/1 (1990) 123–135, hier: 124.
Angesichts dieses spieltheoretischen Szenarios stellt sich die evolutive Durchsetzung altruistischen Handelns als eine erklärungsbedürftige Herausforderung dar. In zahlreichen Fällen kann das stabile Vorkommen altruistischen Verhaltens evolutiv mit dem Mechanismus der sogenannten »kin selection« (Verwandtschafts-Selektion) erklärt werden.63 Diese Theorie geht bereits auf die Beobachtungen von Charles Darwin zurück und wurde in den 1960er Jahren besonders von William Donald Hamilton mathematisch begründet.64 Altruistisches Verhalten kann sich demnach unter den Gesetzen reproduktiven Fitnessgewinns dann lohnen, wenn es enge Verwandte betrifft und damit den verwandtschaftsinternen Genpool mindestens indirekt verbreitet. Dabei pendelt sich altruistisches Verhalten in einer verwandten Gruppierung dann evolutiv stabil ein, wenn die sogenannte ›Hamilton-Regel‹ erfüllt wird. Dieser Regel entsprechend 62 63
64
Vgl. zu dieser mathematischen Lösungskonzeption im Rahmen der Spieltheorie John F. Nash, Non-cooperative Games, Dissertation, Princeton (NJ) 1950. Vgl. dazu als Einstiegsübersicht David McFarland, Art. kin selection, in: Ders., A Dictionary of Animal Behaviour, URL: https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780191761577.00 1.0001/acref-9780191761577 [Abruf: 16. Februar 2023], Oxford 2 2014. Vgl. William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour I, in: Journal of Theoretical Biology 7/1 (1964) 1–16; sowie William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour II, in: Journal of Theoretical Biology 7/1 (1964) 17–52.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
müssen die Kosten (K) des altruistischen Verhaltens für die Fitness des jeweiligen Individuums geringer ausfallen als der Fitnessvorteil (F) des von der Hilfe profitierenden Verwandten. Dabei bedingt der Verwandtschaftsgrad (g) den Wert des Fitnessvorteils F, insofern als von ihm die Übereinstimmung des Genpools des Verwandten zu seinem reproduktionsorientierten Gegenüber abhängt. Daraus ergibt sich folgende Formel zur mathematischen Erfassung dieser ›Goldenen Regel‹ der kin selection: gF-K>0. Für die Entwicklung altruistisch agierender menschlicher Großgruppen, die die Struktur naher verwandtschaftlicher Gruppierungen sprengen, bietet diese Theorie indes keinen validen Erklärungsschlüssel. Es deutet sich eine Veränderung im evolutiv wirksamen Entwicklungsparadigma an: Menschliche Großgruppen sprengen die Grenzen der Verwandtschaft und bedürfen zugleich im Rahmen von Jagdanstrengungen und der mangelnden direkten sozialen Interaktion zwischen allen Mitgliedern verstärkt einer resilienten Kooperationsstruktur – das Überleben des Einzelnen hängt nun von den kollektiven Strukturen der Großgruppe ab. Das heißt aber auch, dass sich die selektive Ausgangslage der Gattung homo nicht mehr im Rahmen der hier aufgezeigten spieltheoretischen Selektions- und Defektionslogik abbilden lässt. Mit diesem blinden Fleck der Weiterentwicklungsdynamik befassen sich indes die im Folgenden dargestellten evolutionsanthropologischen Fortführungen, die etwa David Sloan Wilson vornimmt. ***
2.4. Religion als Kooperationsfaktor in Großgruppen Mit wachsenden sozialen Gruppen geht eine kognitiv unübersichtliche Verlagerung von Verwandtschafts- und Vorteilsstrukturierungen einher. Zum einen ist eine Großgruppe für ihr Überleben auf feste Kooperationen zwischen ihren Gliedern angewiesen, zum anderen führt der Wegfall kleiner, familiärer, kognitiv übersichtlicher und eingeübter Fürsorgestrukturen zu einer Angewiesenheit auf Fremdkooperationen. Deren Verlässlichkeit ist jedoch schwerer nachprüfbar.65 Mit größer werdenden Gruppen greift zudem nicht mehr die evolutionsbiologische Modellierung gruppeninterner Kooperation, die sich auf enge Familienverbünde bezieht. Die Grundlage »[a]ltruism toward kin can be favored by selection because kin are similar genetically«66 fällt hier als Erklärungsschlüssel aus. Gleichzeitig ergeben sich aus den oben dargestellten Beobachtungen zwingende Rückschlüsse auf erfolgreiche Kooperationen, ohne die sich Großgruppen evolutiv nicht hätten halten können. Solange beim Anwachsen einer Gruppe über den Familienverbund hinaus eine Gruppengröße besteht, die nicht über die Dunbar-Zahl hinausgeht, ist ein direkter Kontakt und damit die Ahndung von (un-)kooperativen Verhaltensweisen weiter denkbar. Interaktive Aushandlungen von Solidarität zwischen handelnden Akteur*innen können sich
65 66
Vgl. Ara Norenzayan, Big Gods. How Religion Transformed Cooperation and Conflict, Princeton (NJ) 2013, 4. Richerson – Boyd, Genes, 198.
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zu habituellen Absprachen entwickeln, so dass feste, überprüfbare Handlungsmaßstäbe entstehen.67 Das wäre etwa der Fall, wenn bei einem Hilfsangebot des*der Einen in einer vergleichbaren Situation der*die Andere immer auch ein Hilfsangebot leistet. Es besteht dann das Potenzial für ein auf gegenseitigen Altruismus ausgerichtetes, habituelles Gleichgewicht der Kooperation.68 Man spricht hier von interaktiven Reziprozitätsstrukturen.69 Wenn die kooperationsrelevante Gruppe jedoch eine Größe überschreitet, bei der solche habitualisierten Erfahrungen einzelner Gruppenglieder regelmäßig mit allen weiteren Gliedern der Gruppe gemacht werden können, stellt sich die Frage nach der Sicherung kooperativer Mechanismen neu. Es ist davon auszugehen, dass in der Folge dem strategischen Informationsaustausch und Mechanismen einer zentralisierten Handlungskontrolle ein stärkeres Gewicht zukommt. Verunmöglicht die wachsende Gruppengröße direkte, nachverfolgbare Reziprozitätslinien, muss es zu allgemeinen Regelungen kommen, die institutionalisierte Motivationsmechanismen für gruppenorientiertes Verhalten bereithalten.70 So geht die ›honest signalling theory‹ davon aus, dass Aussagen zur Kooperationsbereitschaft in Signalen einen festen Ausdruck finden können. In stilisierter Form könne so durch festgelegte Indizes die altruistische Identifikation mit der Gesamtgruppe ausgedrückt werden.71 Robert Bellah sieht in solchen stilisierten Indizes eine wichtige Verzahnung sozialer und kognitiver Komponenten. Sie können ihm zufolge habitualisierte Gerechtigkeitskonzeptionen hervorrufen. Dafür liefern laut Bellah insbesondere Religionen rituelle Ressourcen. Diese führten eine »paramount reality«72 ein, die gesellschaftliche Grundvollzüge im Modus der Transzendenz spiegelten und sie auf diese Weise mit Normen versähen und festigten.73 Diese übergeordnete Perspektive führt demnach ein bleibendes ›Controlling von oben‹ ein. Es begründet und verstetigt über die konkreten Kontingenzen hinweg einen verbindlichen Orientierungsrahmen. Wie sich solche Strategien in komplexen Gruppengefügen im Detail herausbilden und welches Verständnis vom evolutiven Faktor Religion sich daraus im Einzelnen ergibt, soll näher beleuchtet werden. Im Fokus steht dabei das kritische Theorieverhältnis zwischen selektionstheoretischen und kognitionspsychologischen Fokuspunkten im Hinblick auf die Normierung von Sozialverhalten in Großgruppen durch religiöse Narrative und Praktiken.
2.4.1. Religion als gruppenselektive Adaption David Sloan Wilson unternimmt in Reaktion auf die dargestellten veränderten Bedingungen der Selektion in Großgruppen eine doppelte methodische Verschiebung
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Robert Boyd – Peter J. Richerson, The Evolution of Indirect Reciprocy, in: Social Networks 11 (1989) 213–236, hier: 214. Vgl. ebd., 216. Vgl. ebd., 214. Vgl. ebd., 232. Vgl. Joseph Bulbulia – Richard Sosis, Signalling Theory and the Evolution of Religious Cooperation, in: Religion 41/3 (2011) 363–388, hier: 365. Bellah, Religion, 11. Vgl. ebd., 14.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
in der Interpretation von Gruppenselektionen: Er knüpft an die Ergebnisse zur kognitiven und kulturellen Rolle wachsender Gruppengrößen an. Zugleich sieht er die gruppenimmanente Adaptionsfunktion religiöser Systeme genau in dieser Verknüpfung kognitiver und kultureller Komponenten verortet.74 Das heißt, er bezieht sich auf verschiedene Selektionsebenen: In seinem Modell spielt biologische Selektion weiterhin eine Rolle, sie wird ihm zufolge in Großgruppen aber zwingend durch kulturelle Selektionsfaktoren wie Jagdtechniken, deren Weitergabe und die Absicherung von Kooperationen begleitet. So liegt es etwa nahe, dass Jäger*innen für sich genommen unter selektionslogischen Gesichtspunkten am schlechtesten gestellt sind. Sie sind enormen individuellen Alltagsgefahren ausgesetzt. Unter individualistisch gedachten, rein spieltheoretisch modellierten Gesichtspunkten wäre es also höchst reizvoll, als Jäger*in regelmäßig zu defektieren und die eigenen (risikoreichen) Aufgaben während der Jagd nicht wahrzunehmen. Der Blick auf die Gesamtgruppe verschiebt jedoch das Bild: Ihr Überleben hängt von der Einsatzbereitschaft der Jäger*innen ab, die auch selbst wiederum von der sozialen Einheit abhängen. Unter Kosten-Nutzen Gesichtspunkten wird es dann attraktiv für die Gesamtgruppe, das Risiko der Jagd einzugehen und Jäger*innen trotz der hohen individuellen Gefahren zu motivieren.75 Das heißt auch, dass sich die Ebene der evolutiv entscheidenden Selektionsprozesse verschiebt: Wilson verlässt den Boden individualistisch orientierter Fitnesstheorien. Dadurch ist er in der Lage, auch kulturell organisierte Kooperationsmechanismen weiterhin in soziale Selektionslogiken einzuordnen.76 Aus diesem Perspektivwechsel leitet Wilson seine Kernthese ab: Wenn immer größer werdende Gruppen entsprechend den oben dargelegten Mechanismen nach immer mehr zuverlässiger Kooperation verlangen und ihre Weiterentwicklung bis heute ohne diese Kooperationen evolutiv nicht valide erklärbar ist, so muss es einen ›Kooperationstrigger‹ im Rahmen der Menschheitsgeschichte geben, der genau diese Anpassung Hand in Hand mit der wachsenden Gruppengröße gehen lässt. Für Wilson sind solche Trigger kulturell zu denken. Er verbindet religiöse Phänomene in diesem Zuge explizit mit gruppenbezogenen Selektionsprozessen und geht im Rekurs auf ethnologische Ergebnisse und die Theoriebildungen Durkheims77 von einer moralischen Funktion von Glaubenssystemen und -praktiken aus. Diese stellen ihm zufolge altruistisches Verhalten in Großgruppen sicher, die über Familienbande und Strukturen direkter Sozialkontrolle hinauswachsen.78 So stärkten sie den Gruppenzusammenhalt und entwickelten dadurch eine Verschiebung von funktionalen Bedingtheiten. Wilson erarbeitet daraus eine Theorie der kulturellen »multilevel selection«79 . Darin versteht er Religion als »an adaptation that enables human groups to function as harmonious and coordinated units.«80 Die Anpas74 75 76 77 78 79 80
Vgl. David S. Wilson, Darwin’s Cathedral. Evolution, Religion, and the Nature of Society, Chicago (IL) 2003, 79f. Vgl. Ders., Hunting, Sharing, and Multilevel Selection. The Tolerated-Theft Model Revisited, in: CA 39/1 (1998) 73–97, hier: 76–79. Vgl. ebd., 84. Vgl. Ders., Cathedral, 52–55. Vgl. ebd., 25. Ebd., 33. Ebd., 54.
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sungsfunktion religiöser Bezugssysteme besteht für Wilson darin, dass sie das sich einpendelnde Nash-Gleichgewicht (vgl. den Exkurs zu spieltheoretischen Selektionstheorien) aufsprengen. Religionen erzeugen demnach einen Überhang an Kooperation, indem sie das Überleben der Gruppe als eigenen Wert einführen und befördern: Die individuelle Konkurrenz innerhalb einer Gruppe nimmt so ab, während die selektionslogische Konkurrenz gegenüber fremden Gruppierungen durch eine gestärkte interne Identität und Moralität zunimmt.81
2.4.2. Kognitionspsychologische Ergänzungen Aus der dargestellten Analyse folgt zugleich eine Fokussierung auf die Funktionszusammenhänge von Religionen im Rahmen von gruppenbezogenen Selektionslogiken. Diese funktional-normative Einordnung religiöser Mechanismen wird im Rahmen einiger kognitionspsychologischer Kulturanalysen sehr kritisch diskutiert. So plädiert besonders Scott Atran für die Abkehr von normativen Grundsatzaussagen in der Analyse gruppenstärkender Funktionsweisen religiöser Bezüge. Seine Hauptkritik betrifft das Kulturverständnis von Gruppenselektionstheorien. Er beobachtet eine starke Fixierung auf die kulturelle Normierungsfunktion von Kulturelementen. Sie führe dazu, dass religiöse und kulturelle Vollzüge als feste, funktionale Einheiten innerhalb von Selektionsmechanismen verstanden würden.82 Diese Fokussierung lasse keinen Raum für eine Analyse ihrer sozialen Funktionsweise jenseits ihrer anpassungsbezogenen Funktionalität. Darüber hinaus würden die Untersuchungen die prozesshafte Wandelbarkeit kultureller Vollzüge ausblenden. Atran betont dagegen die kontingenten Abhängigkeitsverhältnisse kultureller Systeme (so auch der Religion) von Umwelt- und Geschichtsfaktoren sowie von den Funktionsweisen der menschlichen Kognition.83 Im Rahmen von Gruppenselektionstheorien fehle für die Erfassung dieser Komponenten die interdisziplinäre Verknüpfung mit den kognitionswissenschaftlichen Erklärungsgrundlagen der modularen Theorien. Er fordert daher eine stärkere Bezugnahme auf die kognitionspsychologischen Entstehungsmechanismen religiöser Normierungen ein. Auf der Grundlage des kognitionspsychologischen Ergebnisportfolios sei einer klaren Definition von Normen und ihren Funktionsmechanismen in Gruppendiskursen schwerlich methodisch beizukommen. Er äußert den Verdacht, dass die angesprochenen Normierungen lediglich auf eine definitorische Intervention des Methodenapparates zurückzuführen seien, der im Rahmen von Selektionslogiken leichter mit festen Normativen statt mit prozessualen Gesellschaftsvollzügen operieren könne.84 Folgt man dieser Kritik, so können kognitionspsychologische Ergänzungen eine gewinnbringende Erweiterung von Wilsons Bezug auf kulturelle Mechanismen und moralische Codes in der Erklärung gruppenbezogener Evolutionsszenarien beisteuern. Atran leitet aus den skizzierten bleibenden Schwierigkeiten gruppenselektiv argumentierender Theoriebildungen daher seine eigene Betrachtung der sozialevolutiven Rolle kultu-
81 82 83 84
Vgl. ebd., 35. Vgl. Atran, Gods, 199. Vgl. ebd., 235. Vgl. ebd., 217–219.
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reller Normierungen ab. Seine Sichtweise ist durch eine bewusste Vagheit und die weitgehende Abkehr von monolinearen Erklärungen gekennzeichnet. Er hält fest: »There is no clear sense to the notion of ›fitness consequences at the level of whole cultures or societies‹. […] At best, norms are public representations that help to orient causal analyses of cultural phenomena […]. They are activated by ecological and historical contingencies, and they operate only within structural parameters fixed by cognitive and computational architecture of the human mind/brain.«85 An diese Verknüpfungen von ökologischen, historischen und kognitiven Entstehungsbedingungen schließen sich auch die Untersuchungen von Ara Norenzayan an. Er verweist ergänzend auf die Notwendigkeit einer eingehenderen Untersuchung der praktischen Funktionsweise kollektiver Moralbildungen in menschlichen Kulturen. Insbesondere kognitionspsychologische Testergebnisse, etwa von Paul Reddish, Ronald Fischer und Joseph Bulbulia, weisen auf die Rolle solcher kollektiven Bindungsmechanismen als einem praktischen kulturellen Phänomen hin (vgl. dazu im Detail Kapitel 2.4.3). Zunächst geht es – wie auch bei Wilson – darum, in welchem Zusammenhang bleibende Kooperationsformen auch in Großgruppen etabliert werden konnten und inwieweit diese Mechanismen einen evolutiven Vorteil zur Bestandssicherung solcher Gruppen gebracht haben. Der Forderung Atrans nach einer kognitionswissenschaftlichen Grundlegung gruppenevolutiver Phänomene folgend, setzt Norenzayan bei den bereits dargelegten kognitiv begünstigten Götterkonzeptionen an. So sei die Entstehung moralisierender und intervenierender Götterfiguren durch kognitive Module wie etwa die ToM und den Hang zur ADD möglich. Diese übernatürlichen Akteur*innen ermöglichten die Einführung von »hard-to-fake loyalty displays«86 , die das Einlassen auf Fremdkooperationen über Verwandtschaftsbezüge hinaus ermöglichten.87 Norenzayan entwickelt vor diesem Hintergrund sein Modell von kognitiv anschlussfähigen ›Big God‹-Konzeptionen.88 Sie übernähmen als transzendente Akteur*innen eine moralische Wächterfunktion, die die Ahnung des Defektionspotenzials auf eine externe Sphäre verlagere. Er formuliert zugespitzt: »Watched people are nice people.«89 Dadurch, dass sich diese Götterkonzepte an die modulare Organisation der Kognition anschließen, werden sie Norenzayan zufolge zu zuspruchsfähigen und wirkungsvollen »reminders«90 . Sie stärken die Resilienz großer Gesellschaften und werden zum Schlüssel ihrer evolutiven Erfolgsgeschichte. Norenzayan bewegt sich damit zunächst auf einer ähnlichen argumentativen Fährte wie David Sloan Wilson. Anders als noch in den Überlegungen Wilsons, führt Norenzayans direkte Bezugnahme auf kognitive Wirklichkeitsstrukturierungen allerdings zugleich dazu, dass er die normative Funktionsweise der dargelegten Gotteskonzeptionen immer schon an die Erinnerungspraktiken des Kollektivs bindet. Sie müssen demnach 85 86 87 88 89 90
Ebd., 234f. Norenzayan, Gods, 8. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., 19 [Hervorhebung im Original]. Ebd., 39.
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stetig durch das Kollektiv aktualisiert werden, da sie nur so ihre normative Funktion entfalten können: Die ›Big Gods‹ werden immer wieder aktiv erinnert und erhalten so eine eigene soziale Rolle im Kollektiv – sie wachen über das Zusammenleben der Gruppe und fordern konkrete Verhaltensnormen ein.91 Norenzayan beruft sich dabei insbesondere auf die kooperationsfördernde Rolle von kollektiven Ritualen und synchronisierten Handlungsabläufen. Bezeichnend und auffällig ist für ihn dabei insbesondere die Beobachtung, dass solche Ritualpraktiken häufig mit der Universalisierung von Verwandtschaftsbezeichnungen gegenüber allen Gruppengliedern einhergehen.92 So werden etwa unabhängig vom Verwandtschaftsgrad in alltagsenthobenen Ritualpraktiken alle Teilnehmer*innen als ›Geschwister‹ angesprochen. An dieser Stelle wird deutlich: Es geht der Analyse Norenzayans nicht mehr nur um die Feststellung einzelner normativer Funktionen, sondern um die prozessuale Funktionsweise, in der die normative Wirkung von Transzendenzbezügen praktisch realisiert und stetig aktualisiert wird. Sein Modell der ›Big Gods‹ verweist plakativ darauf, dass transzendierte Personenkonstellationen im Rahmen dieser Praktiken selbst zu immanenten Akteur*innen im Kollektiv werden und seine sozialevolutive Ausgangslage so verändern. Aus diesem Verständnis ergibt sich eine methodische Umstellung: Norenzayan kann den weiterhin zugrunde gelegten kognitionswissenschaftlichen Angang von individualistischen Tendenzen und festen Kongitionsautomatismen lösen, indem er sich auf die praktischen Transformationsmechanismen fokussiert, die religiöse Bezüge situativ hervorrufen können. Er konstatiert: »Religion is more in the situation than in the person.«93 Der Fokus verschiebt sich hier von der bloßen Funktionszuschreibung an die ›kulturevolutiven Endergebnisse‹ auf die Analyse kognitiv wie sozial ablaufender, situativer Prozesse und ihrer konkreten Auswirkungen im evolutiven Gesamtverlauf.94
91
92 93 94
Damit löst er hier in Form eines sozialevolutiven Religionsmodells ein, was bereits im Zuge der kognitionswissenschaftlichen Grundlagen exkursorisch als ›Code des Vergessens‹ plausibilisiert werden konnte (vgl. dazu den Exkurs in Kapitel 1.3.2). Vgl. Norenzayan, Gods, 95. 114–117. Ebd., 39. [Kursivierung im Original]. Norenzayan verweist im Verlauf seiner Überlegungen dazu auf die Ausgrabungen in Göbekli Tepe (vgl. dazu Klaus Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum am Göbekli Tepe, München 2016). Es handelt sich um den ältesten Befund eines Großtempels, dessen Datierung mindestens 500 Jahre vor den ersten bekannten agrargesellschaftlichen Ansiedlungen im Nahen Osten liegt. Die Suche nach Ansiedlungen in der Umgebung des Areals führte bis dato zu keinem Ergebnis. Einige Deutungen des archäologischen Befunds legen entsprechend nahe, von einer vor der Errichtung der Tempelanlage nicht schon vorhandenen, auf Sesshaftigkeit hindeutenden Siedlungsstruktur auszugehen. Norenzayan sieht in diesen Funden einen möglichen Erweis dafür, dass erst die kultischen Vollzüge zu einer derartigen Stärkung der Gesellschaft führten, dass sie sich schließlich im Nachgang als gewachsene Gruppe niederließ und in den Status einer agrarischen Gesellschaft wechselte (vgl. dazu Norenzayan, Gods, 118–120). Norenzayan wählt hier freilich eine sehr direkte Übertragung seiner allgemeinen Annahmen zur Entstehung menschlicher Religion auf notwendigerweise nicht eindeutige, interpretationsbedürftige archäologische Ergebnisse. Die hier unternommene Zuspitzung läuft Gefahr, die komplexe Gemengelage menschlicher Großgruppen und die systemische Bedeutung der Religion in diesen Zusammenhängen in einer unterkomplexen Szenerie zu verkürzen.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
2.4.3. Rituelle Gruppenpraktiken als Kooperationstreiber Die kooperationsverstärkende Bedeutung gemeinschaftlicher Rituale, auf die sich Norenzayan bezieht, kann auch in zahlreichen kognitionspsychologischen Testreihen nachvollzogen werden. Die Studien stützen die Einsichten Norenzayans und ergänzen sie um konkrete empirische Ergebnisse. So konnten beispielsweise die Untersuchungen von Paul Reddish, Ronald Fisher und Joseph Bulbulia95 die Bedeutung und Funktionsweise kultureller und ritueller Praktiken valide nachzeichnen. Sie untersuchten sie den Einfluss von Kooperationspraktiken bei der Teilnahme an kollektiven Musik- und Tanzaktivitäten auf die Sozialbindung von Gruppen: -
-
-
Die Proband*innen einer ersten Testreihe hörten jeweils voneinander abweichende Rhythmen, die entsprechend Asynchronität evozierten. Zu diesen Rhythmen sollten sich die Proband*innen – zwar in der Gruppe aber jeder seinem jeweiligen Rhythmus folgend – bewegen. Proband*innen einer zweiten Testreihe hörten die gleichen Rhythmen, zu denen sie sich aber nicht aktiv bewegen sollten.96 In einer dritten Testreihe wurden Proband*innen dazu aufgefordert, in ihrer Testgruppe synchrone Bewegungen zu einem vorgegebenen, gemeinsamen Rhythmus zu erarbeiten.97 In einer vierten Testreihe wurden Proband*innen dazu aufgefordert, gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten, sich synchron zu bewegen, ohne dabei über einen vorgegebenen Rhythmus zu verfügen.
Die Teilnehmer*innen aller vier Testreihen wurden im Anschluss einzeln dem gleichen spieltheoretisch orientierten ökonomischen Test unterzogen, in dem es um die Verteilung einer bestimmten Geldmenge unter der Gesamtgruppe ging. Alle Proband*innen verfügten dabei wissentlich über die gleichen Informationen zum Verteilungsmechanismus: Jeder Person stehen 5$ zu. Es steht jeder Person frei, diese 5$ für sich zu behalten, oder aber ganz oder zum Teil mit der Gruppe zu teilen. Wie die anderen Teilnehmer*innen entscheiden, wissen die Proband*innen zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht. Das gesamte Geld, das sich nach dieser Entscheidung im ›Gruppentopf‹ befindet, wird automatisch verdoppelt und dann unter allen Teilnehmer*innen zu gleichen Teilen verteilt. Diese Situation sollte unmittelbar nach den verschieden gestalteten Rhythmuserfahrungen das kooperative Gruppenverhalten der Teilnehmer*innen empirisch abbilden.98 Die Ergebnisse des spieltheoretischen Anschlussteils zeigen ein direktes Verhältnis zwischen dem Grad der geteilten Aufmerksamkeit in den Testreihen und der anschlie-
95
96 97 98
Vgl. die im Folgenden beschriebene Studie bei Paul Reddish – Ronald Fischer – Joseph Bulbulia, Let’s Dance Together. Synchrony, Shared Intentionality and Cooperation, in: PLoS ONE 8/8 (2013) e71182. Vgl. ebd., 2. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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ßenden Kooperationsbereitschaft an. Die Höhe der geteilten Geldmenge für die Gemeinschaft stieg dabei von den geringsten Werten in der Testgruppe mit dem Ziel der Asynchronität, über die passive Testgruppierung und der sich synchron zum vorgegebenen Rhythmus bewegenden Gruppe bis zur aktiv am Ziel einer nicht vorgegebenen Synchronität arbeitenden Gruppe stetig an, wie Abbildung 4 verdeutlicht.
Abbildung 4: Paul Reddish – Ronald Fischer – Joseph Bulbulia, Let’s Dance Together. Synchrony, Shared Intentionality and Cooperation, in: PLoS ONE 8/8 (2013) e71182, hier: 4.
Weiterführende Testreihen,99 die an dieser Stelle nicht Teil des kurzen Überblicks sein können, bestätigten diesen Trend. Allgemein lässt sich also feststellen, dass besonders zwei Aspekte die Bereitschaft zu altruistischem Verhalten trotz bleibendem Defektionspotenzial deutlich steigern: Eine aktive Teilnahme an einem ›Ritual‹ (für den Testfall heruntergebrochen in Form von Musik und Bewegung) übt mehr soziale Bindungskraft aus, als die passive Konfrontation. Darüber hinaus steigert das Verfolgen eines kollektiven Ziels (hier gemeinsam erreichter Synchronität) die Bereitschaft zur Bindung an die Gruppe stärker als das Verfolgen eines individuellen Ziels innerhalb einer Gruppe (hier nachgezeichnet durch die Aufforderung zur Asynchronität). Aus der Thesenbildung Norenzayans und den kognitionspsychologischen Testergebnissen ergibt sich damit folgendes Szenario: Die soziale Bindungsfunktion gemeinsamer Zielvorstellungen und ihre synchronisierte bzw. ritualisierte Vergegenwärtigung stellt einen wichtigen Faktor in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften dar. Dabei deuten einzelne Funde darauf hin, dass erst die Bindungseffekte moralisch wirksamer, personaler Gottesgestalten und über sie begründete Kultstätten und -handlungen den kostspieligen Experimentierraum etwa früher Agrargesellschaften ermöglichten und 99
Vgl. dazu die weitergehenden Ausführungen ebd.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
stützten.100 Schließlich konnte sich diese komplexe Gesellschaftsform trotz ihrer großen Individualrisiken – etwa einer zunächst schlechteren allgemeinen Nahrungsversorgung und dem Verletzungsrisiko während der Jagd – im Rahmen bleibender Kooperationsorganisation durchsetzen und weiterentwickeln. Die dargestellten Ergebnisse legen ein komplexes Netz an Faktoren nahe, unter denen Religion und religiöse Ritualbildung einen Teilaspekt abdecken. Dieser kann wiederum nicht einfach als strikt funktionalisierter Treiber gesehen werden. Vielmehr hängt er seinerseits von einer Vielzahl an Aspekten ab und kreiert von sich aus neue evolutive Abhängigkeiten. Norenzayan spricht passend von einem »cluster of mechanisms – synchronous movement and music, self-regulation, and fictive kinship, together with credible displays of faith in Big Gods who monitor and intervene, can be seen as the ingredients of religious solidarity and the creation of prosocial religions as communities that extends the boundaries of moral concern beyond genetic relatives and reciprocating partners to complete strangers.«101 Die von Norenzayan zusammengefassten ›Zutaten‹ der Religion verweisen über die kognitionspsychologischen Testergebnisse von Reddish, Fisher und Bulbulia auf eine analytische Ausweitung der kognitionswissenschaftlichen Diskussion. Methodisch vollzieht sich hier ein Wechsel von eher passiv gedachten Prozessen kognitiver Wahrnehmung und Konzeptionsrezeptionen hin zur Analyse aktualer kognitiver Vollzüge innerhalb von menschlichen Gruppierungen. Erst diese stetig aktualisierten Vollzüge können die kooperativen Funktionsweisen komplexer Gesellschaften den dargestellten Modellen zufolge her- und sicherstellen.
2.5. Kollektive Intentionalität als Motor gemeinschaftlicher Vollzüge Einen aktuellen und viel rezipierten Anhaltspunkt zur genauen Funktionsweise der dargelegten menschlichen Kooperationsmechanismen und ihrer Alleinstellungsmerkmale liefern die Forschungen von Michael Tomasello. Er bezieht sich auf ontogenetische Entwicklungsphasen des Menschen, die er mit Ergebnissen der Primatenforschung verbindet. Dabei ergibt sich ein detailliertes Bild der Entstehung intentionaler Kooperationen. Tomasello zeichnet in seinen Modellen die direkte Verbindung sozialer Gefüge mit der kognitiven Fähigkeit zu intentionalen Kooperationen nach. Die Thesen Michael Tomasellos zur Rolle kollektiver Intentionalität in der (kulturellen) Entwicklung des Menschen können daher an die bis dato rezipierten Modelle angeschlossen werden. Sie plausibilisieren und präzisieren die bereits dargestellten sozialevolutiven und kognitionspsychologischen Interdependenzen, mit denen es religionsevolutive Analysen zu tun haben. Im Folgenden sollen die Überlegungen Tomasellos daher detailliert nachvollzogen werden. Dazu wird zunächst Tomasellos Einteilung der verschiedenen Entwicklungsschritte kooperativen Verhaltens in der Geschichte des Menschen nachgezeichnet. Aus
100 Vgl. Schmidt, Tempel. 101 Norenzayan, Gods, 117.
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dieser Entwicklungslinie erschließt sich Tomasellos These einer einzigartigen menschlichen Intentionalitätsform, die er sozial- und kommunikationsgeschichtlich einholt und begründet (vgl. Kapitel 2.5.1). In diesem Zusammenhang gilt es in einem zweiten Schritt, eigens auf sprachphilosophische Anknüpfungspunkte der Überlegungen Tomasellos einzugehen. Sie zeigen die breite interdisziplinäre Anschlussfähigkeit seiner Thesenbildung auf (vgl. Kapitel 2.5.2). Eine abschließende Reflexion der Ergebnisse soll die Chancen dieser methodischen Öffnungen der evolutionären Anthropologie für ein auch philosophisch und theologisch grundiertes Verständnis kultureller und religiöser Phänomene erörtern (vgl. Kapitel 3).
2.5.1. Kollektive Intentionalität nach Michael Tomasello Auch Tomasello stützt sich auf die Ergebnisse der Kognitionsforschung und deren Erkenntnisse zum Zusammenhang wachsender Gruppengrößen und gesteigerter kognitiver Leistungen. Gleichzeitig kritisiert er, dass diese Ansätze das Alleinstellungsmerkmal menschlicher Lebensvollzüge – die komplexen, vielschichtigen und bewusst gestalteten Kooperationsformen – letztlich nicht hinreichend herleiten könnten. Sie gehen laut Tomasello immer schon von einem als gegeben verstandenen Endpunkt der evolutiven Entwicklung aus, nämlich von kooperierenden Großgruppen mit komplexen kulturellen Systemen. Dabei vernachlässigen sie ihm zufolge die Detailbetrachtung ihrer Genese. Um über diesen vom Ende her orientierten Erklärungsstrang hinauszugehen und zugleich die dargelegten kognitionswissenschaftlichen und evolutionspsychologischen Ergebnisse ernst zu nehmen, setzt Tomasello bei den Eigenheiten menschlicher Intentionalitätsformen an. Er versteht sie als einen »new adaptive context«102 . Es geht Tomasello nicht mehr um einen linearen Ableitungsweg von gesteigerten kognitiven Leistungsfähigkeiten hin zu komplexem Sozialverhalten in Gesellschaften, sondern um das permanente Wechselspiel der Komponenten. Er spitzt die von Norenzayan angedeuteten Eigenwirksamkeiten sozialer Vollzüge daher zu und argumentiert dafür, dass sie einen direkten Einfluss auf die menschliche Kognition ausüben: »Die menschliche Gemeinschaft stellte die adaptive Umgebung dar, in der sich die menschliche Kognition phylogenetisch entwickelte. Ohne diese Umgebung würde nach der vorliegenden Auffassung die menschliche Kognition mehr Ähnlichkeit mit der Kognition von Menschenaffen haben.«103 1. Methodisches Vorgehen Tomasellos Tomasello gründet die oben zitierte These auf experimentellen Beobachtungen, die für ihn nahelegen, dass der Weltumgang des Menschen in einer doppelten (kognitiven und soziokulturellen) Prägung zu sehen ist. Natürliche Begebenheiten (wie etwa der Tod) und soziokulturelle Fortentwicklungen auf kognitiver Basis (wie etwa das kooperative Jagen) bedingten in ihrem Wechselspiel spezifische Reaktionen und Ausformungen der
102 Michael Tomasello, Response to Commentators, in: Journal of Social Ontology 2/1 (2016) 117–123, hier: 119. 103 Ders., Entwicklung, 10.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
menschlichen Gesellschaft. Die entstehenden Kooperationen führten zu intersubjektiven Abhängigkeiten, die von der Kognition abgekoppelte evolutive Schübe hervorriefen. So entstünden aus der zunächst rein strategisch gelagerten Zusammenarbeit intersubjektive Beziehungsgeflechte. Dieser evolutive Grundschritt bedinge die Entstehung sozialer Regelungsinstanzen als Basis der Gestaltung zwischenmenschlicher Sympathieund Empathieverhältnisse: moralische Codes formten sich aus.104 Um diesen Auswirkungskomplex zu untersuchen, bündelt Tomasello seine primatologischen und entwicklungspsychologischen Testergebnisse in einem sozialevolutiven Modell. Er sieht das Alleinstellungsmerkmal menschlicher Interaktionsformen in der Entwicklung von organisierter, geteilter Intentionalität begründet.105 Zu dieser Grundthese gelangt Tomasello über mehrere Schritte. Anknüpfend an die bereits dargestellten kognitiven Grundkomponenten menschlicher Akteur*innenstrukturen und ihren Einfluss in Großgruppen basieren die Arbeiten Tomasellos auf der Beobachtung kooperativer Interaktionen bei Menschenaffen und Kindern. Diese ontogenetisch orientierte Untersuchungsstrategie stellt den Versuch dar, den evolutiven Unterscheidungsmarker zwischen dem letzten gemeinsamen Vorfahren, den wir mit den Menschenaffen teilen (»last common ancestor«106 ) und dem modernen Menschen auszumachen und damit die entscheidende Wegmarke in der phylogenetischen Entwicklung hin zum modernen Menschen zu erfassen. Der Vergleich verschiedener Menschenaffenarten untereinander und schließlich die Untersuchung der ontogenetischen Entwicklungsstufen menschlicher Kognition rechtfertigt sich laut Tomasello methodisch unmittelbar aus der Beobachtung der Abweichungen zwischen Menschen und Menschenaffen: Bei starken Überschneidungen der Fähigkeiten verschiedener Menschenaffenarten, weichen einzig die menschlichen Dispositionen deutlich ab.107 Der parallellaufende ontogenetische Ansatz der Untersuchung von Kindern verschiedener Alters- und damit Entwicklungsstufen bietet Tomasello die Möglichkeit, in Verbindung mit den phylogenetischen Auffälligkeiten ein detailliertes Modell der evolutiven Entwicklung von frühen Homininen hin zum modernen Menschen zu entwerfen. 2. Soziale Kognition bei Menschenaffen und Kindern Tomasello geht von einer kognitiven sowie sozialen Entwicklung zu einer von ihm als »kollektive Intentionalität«108 bezeichneten Kognitionseigenschaft aus. Ihr schreibt er direkte Auswirkungen auf die soziale Realität des Menschen zu.109 Diese Fähigkeit versteht er als die entscheidende evolutive Anpassungsleistung in der menschlichen Ent-
104 Vgl. Ders., Human, 247f. 105 Vgl. Ders., Why We Cooperate, Based on the 2008 Tanner Lectures on Human Values at Stanford (Boston Review Book), Cambridge (MA)/London 2009, 57. 106 Ders., Human, 11. 107 Vgl. Ders., A Natural History of Human Thinking, Cambridge (MA)/London 2014, 15. 108 Ders., Human, 18. Der Begriff der Intentionalität liegt im analytischen Schnittbereich zwischen Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaft. Er umfasst mentale Bewusstseinszustände in Bezug auf Überzeugungen, Wünsche und Intentionen. Dabei beschreibt er Formen des Bewusstseins eigener und fremder Verstandesleistungen und -inhalte (vgl. Dunbar, Human, 45). 109 Vgl. Tomasello, Human, 18–22.
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wicklung, die eine weiterführende (etwa soziale und kommunikative) »Hebelwirkung«110 entfalte. Tomasellos verschiedene Testsettings zeichnen die Entwicklungslinien auf dem Weg zu diesen Fähigkeiten jeweils bei Menschenaffen, meist Schimpansen, nach. Im Anschluss wird dieselbe Testreihe auf Menschenkinder verschiedenen Alters übertragen und die Ergebnisse verglichen. Drei Entwicklungsfelder wurden dabei über verschiedene Experimente simuliert: 1. Der Grad der kognitiven Ausprägungen der Intentionalität 2. Der Grad der sozialen Fähigkeiten sowie der Kommunikation 3. Der Grad der damit verbundenen Selbstreflexionsleistungen111
Tomasellos Ziel ist es, die Stufen der menschlichen Ontogenese detailliert nachzuzeichnen und sie mit den Fähigkeiten der Menschenaffen zu vergleichen. Er betrachtet die Ergebnisse dieser Vergleiche als Indizien für die Faktoren der evolutiven Fortentwicklung des Menschen gegenüber dem phylogenetischen Stand der Menschenaffen. Tomasello konnte zunächst grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Menschenaffen- und Menschenkognition ausmachen: Sowohl Schimpansen und Bonobos als auch Kleinkinder sind in der Lage, Problemsituationen kognitiv zu erfassen und anschließend adäquate Werkzeuge für ihre Lösung zu wählen. So gelang es beiden, etwa einen passend geformten Stock auszuwählen, um durch ein Loch in einer Kiste Nahrung zu erreichen. Diese Tatsache zeugt von mentaler Simulationsfähigkeit. Sie ist Menschen und Menschenaffen gemeinsam.112 Darüber hinaus ist beiden Gruppen eine Übertragung dieser Mentalsimulationen auch auf die Wahrnehmung und den Umgang mit belebten Akteur*innen möglich. So verfügen sowohl Kinder als auch Menschenaffen über die Fähigkeit, Artgenoss*innen Intentionalität zuzuschreiben und daraus Handlungen abzuleiten. Werden einem Menschenaffen etwa zwei verschiedene Stücke Obst angeboten, von denen nur eines vom Leittier der Gruppe gesehen wird, so wählt der Affe das für sein Gegenüber nicht sichtbare Stück aus, um Ärger mit dem Leittier auszuschließen. Das Tier ist also in der Lage, eine wirksame Antizipation auf die Situation anzuwenden, etwa: ›Das Leittier der Herde sieht Obststück A und wird einen Anspruch gegenüber mir als untergeordnetem Tier darauf erheben. Das Leittier sieht Obststück B nicht und kann daher keine Intention darauf lenken – ich kann es essen.‹ Wichtig ist bei dieser Beobachtung jedoch, dass sich dieses Verhalten jeweils nur auf Individualperspektiven und den eigenen Vorteil bezieht.113 Betrachtet man dagegen frühe menschliche Kooperationsformen (beziehungsweise ontogenetisch abgebildet das Verhalten von Kleinkindern), so lässt sich Tomasello zufolge festhalten, dass Kinder in der Lage sind, Intentionalitätszuschreibungen auch sozial komplexeren Schlussfolgerungen zu unterziehen. Sie können sich auf geteilte Erfah-
110 111 112 113
Ders., Entwicklung, 257. Vgl. Ders., Human, 40. Vgl. ebd., 12. Vgl. ebd., 12f.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
rungen berufen.114 Aus den Tests lässt sich ablesen, dass hierfür das Überschreiten der Altersgrenze von neun Monaten in der ontogenetischen Entwicklung des Kindes einen Sprung darstellt. In diesem Alter kommt es erstmals zu triadischen Interaktionen, das heißt einer Kombination aus zuvor nur getrennt angewendeten Fähigkeiten: Die auf ein Objekt gerichtete Intentionalität wird mit der Interaktion mit einem Gegenüber direkt verbunden. Zudem wird sie nicht mehr nur auf die eigene Zielsetzung und die eigene Wahrnehmung beschränkt (wie noch im Fall des Menschenaffen, der das für sein Leittier nicht sichtbare Obst wählt). Das Kind ist in der Folge fähig, seine Perspektive auf die physische Umgebung mit seinem Gegenüber zu teilen und darum zu wissen.115 Das heißt über die reine Betrachtung des Gegenübers hinaus: »The infant is attending not only to the adult’s attention to the object, but also to the adult’s attention to her attention to the object, and so on. […] they both know together that they both are attending to the same thing. They are sharing experience.«116 Diese kognitive Weiterentwicklung ermöglichte den frühen Menschen (und Kindern in ihrer Ontogenese) eine neue, den Menschenaffen nicht zugängliche Form kulturellen Lernens: Das Wissen um eine eigenständige Intentionalität des Gegenübers und seinen Blick auch auf mich als intentionale*n Akteur*in erlaubt die Imitation des Umgangs meines Gegenübers mit Objekten der physischen Welt. Geteilte Erfahrungen ermutigen entsprechend zu geteilten Intentionalitätsakten und daraus abgeleiteten Handlungen: das Kind beginnt, Handlungen Erwachsener zu reproduzieren und deren Reaktionen auf die eigene Handlung wahrzunehmen und einzuordnen.117 3. Evolutionsanthropologische Übertragungen. Jagdszenarien, Kooperationen und komplexe Kommunikationsformen Diese dann bewusst geteilte Intentionalität führt Tomasello zufolge zu verstärkten Kooperationsformen. Die damit einhergehende wachsende soziale Komplexität löste ihm zufolge evolutionsgeschichtlich einen »cooperative turn«118 aus. Hier kommt das schon von Dunbar stark gewichtete Erfordernis großer Jagdgebiete und damit komplexer Jagdstrategien zum Tragen.119 Die neuen Herausforderungen stießen laut Tomasello einen neuen psychologischen Entwicklungsprozess an, in dem die gemeinsame Koordination von Aktivitäten zu einer neuen Form von Intentionalität führte und umgekehrt.120 Dieser Prozess wird für Tomasello zum Aufhänger seiner Übertragung der ontogenetischen Studienlage auf ein konkretes Szenario der menschlichen Sozialevolution. Er datiert es
114 115 116 117 118 119 120
Vgl. ebd., 13. Vgl. ebd., 56. Ebd. Vgl. Ders., Entwicklung, 108f. Ders., History, 34. Vgl. ebd., 36f. Vgl. Ders., Human, 15.
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auf einen Zeitraum zwischen 500 000 und 400 000 v. Chr. und damit auf die stufenweise Entwicklung der Art homo heidelbergensis der Gattung homo121 : 1. In den neuen Jagdsituationen kommt es nicht mehr nur auf ein Verständnis der Intentionen des Gegenübers an, sondern auf die Entwicklung gemeinsamer Aufmerksamkeitsbezüge (»joint attention«122 ) und Ziele (»joint goals«123 ). Die reine Beobachterperspektive des imitierenden Lernens wird so zugunsten einer aktiven Kooperation überschritten und das kognitive Verständnis für ein Wir entsteht.124 Ontogenetisch lässt sich diese Weiterentwicklung in Testsettings mit Kindern ab einem Altern von etwa einem Jahr nachverfolgen.125 Über bloße Analysen der Intentionen des Gegenübers und daraus folgender Imitationshandlungen hinaus (Ich- und Fremdperspektive), werden nun Ich-, Fremd- und Objektperspektive nicht mehr nur betrachtet, sondern kommunikativ kollektiviert: Als viertes Element der Interaktion entstehen so gemeinsame Ziele. Diese neue Form geteilter Aufmerksamkeitsausrichtung ermöglichte laut Tomasello erstmalig praktische Kooperationen, die nicht mehr nur auf die rein individualistische Sichtweise des Einzelnen zurückzuführen sind. Sie bietet demnach den evolutiven Startpunkt für die Entstehung formalisierter Gruppenkommunikationsformen, die schließlich in feste sprachliche Systeme mündeten.126 2. Ein wichtiger Ausgangsfaktor für die Entwicklung solcher Kommunikationsformen ist nach Tomasello die angesprochene kognitive und soziale Weiterentwicklung zu geteilter Intentionalität. Ohne dieses rekursive, trianguläre Sozialsetting ist komplexe Kommunikation über den einfachen Emotionsaustausch hinaus nicht denkbar: Mit der Entstehung geteilter Intentionalität entsteht erstmalig eine gemeinsame Verortung, das heißt eine gemeinsame, abstrakte Kommunikationsgrundlage. Erst auf dieser ist es sinnvoll möglich, das Gegenüber zeigend auf einen Gegenstand, ein Tier usw. hinzuweisen, etwa um ihm anzudeuten, gemeinsam auf dieses Tier Jagd nehmen zu wollen.127 Die dargestellte Intentionalitätsentwicklung ist damit Bedingung der Möglichkeit neuer sozialer Interaktionsformen und zugleich in ihrer Entwicklung immer schon auf diese angewiesen. Mit der im Rahmen geteilter Intentionalität ausgelösten, sogenannten indexikalischen (= zeigenden/hinweisenden) Kommunikation entsteht also die anfängliche und kognitiv wie sozial fundamental neue Möglichkeit, einen »common ground«128 zwischen verschiedenen Individuen zu erzeugen. In der Kombination einfacher Zeigegesten und auch pantomimischer Nachahmung nicht unmittelbar visuell verfügbarer Subjekte oder Objekte ent121 122 123 124 125 126 127 128
Vgl. ebd. Ders., History, 132. Ebd. Vgl. ebd., 47–49. Vgl. Ders., Origins of Human Communication (The Jean Nicod Lectures), Cambridge (MA)/ London 2008, 112–117. Vgl. Ders., Precís of A Natural History of Human Thinking, in: Journal of Social Ontology 2/1 (2016) 59–64, hier: 62f. Vgl. Ders., Human, 16. Ders., Origins, 73.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
wickelt sich nach Tomasello schließlich das, was wir als konventionalisierte Sprache bezeichnen würden. Diese allmähliche, zunächst ikonische Komplexitätssteigerung lässt sich auch an der ontogenetischen Entwicklung von Kindern ablesen.129 Kommunikation wird immer weiter schematisiert, vereinfacht und funktionalisiert.130 Damit gewinnen Intentionen und Ziele erst an formal sicherem Ausdruck und damit an sozial vermittelbarer Bedeutung. Die Entwicklung geteilter Intentionalität motiviert daher auch zu weiterer Kooperation.131 Gemeinsame, kommunikativ erhandelte Grundlagen binden Akteur*innen sozial aneinander. Sie sichern im Rahmen der angesprochenen Kooperationen gemeinsame Standards, Ziele und Verteilungsmechanismen (etwa bei der Jagd). Die kognitive Komplexitätssteigerung erweist sich Tomasello zufolge daher auch als wichtiger Treiber sozialer Regulationsmechanismen, die im Rahmen der kommunikativen Komplexitätssteigerungen immer abstrakter werden. Es kommt vermehrt zur Formulierung gemeinsamer Ideale und Standards für die eingegangenen Kooperationsrisiken. Dieser evolutive Grundschritt führt über die konkrete Gestaltung zwischenmenschlicher Sympathie- und Empathieverhältnisse in der Folge zu spezifischeren moralischen Codes, die sich mehr und mehr von den konkreten Kooperationssituationen ablösen und unabhängig von ihnen zugänglich sind.132 3. Mit dieser Institutionalisierung geht laut Tomasello auch eine feste Wir-Identität einher, die gegenüber anderen Wir-Gruppen nun klar unterschieden sei.133 Die geregelte und kognitiv wie kulturell durchdrungene Koordination betrifft damit nicht mehr nur konkrete triadische Beziehungen zwischen zwei Individuen und ihrer Umwelt, sondern wird auf ganze Gruppenkomplexe übertragen. Das intentional angestrebte Wir meint nicht mehr nur eine gemeinsame Zielrichtung zwischen dem Du und dem Ich, sondern das Gesamt an Regelungsstrukturen der sozialen Gruppe (= kollektives Wir), der ich als Mitglied angehöre, solange ich den Strukturen entspreche und danach handele. Es entsteht eine gefestigte Gruppenidentität über direkte Personenbezüge hinaus.134 An dieser Stelle siedelt Tomasello daher auch die dritte evolutive Entwicklungsstufe menschlicher Intentionalität an: Aus der Gruppenidentität heraus erwächst die Fähigkeit zur Bildung einer »collective intentionality«135 . Dieser Kulminationspunkt des Zusammenspiels soziokultureller und kognitiver Faktoren in der Evolution des modernen Menschen lässt sich als Zusammenhang beschreiben, in dem Menschen sich als Gruppenmitglieder begreifen und diese
129
Vgl. die ausführliche ontogenetische Nachzeichnung der Etappen kooperativer Kommunikationsentwicklung im Kindesalter in Ders., Human, 98–112. 130 Vgl. Ders., History, 66f. 131 Vgl. Ders., Origins, 83. 132 Auch hier begründet Tomasello die evolutionsgeschichtliche Schrittfolge anhand seiner Ergebnisse zur ontogenetischen Entwicklung von Kindern. Er verortet diese Entwicklung bei Kindern ab dem dritten Lebensjahr, die beginnen, Übereinkünften mit anderen eine eigene normative Bedeutung zuzuweisen und auf dieser als eigenem Wert zu bestehen (vgl. Ders., Human, 218). 133 Vgl. ebd., 249. 134 Vgl. ebd., 317f. 135 Ders., History, 80.
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Mitgliedschaft mit eigenen Regeln und kulturellen Konventionen verbinden.136 Das führt auch zur Verlagerung der Selektionsmechanismen, die ebenfalls kollektiviert werden (vgl. dazu bereits A. Norenzayan, siehe Kapitel 2.4.2). Die Gesamtgruppe bildet eine kulturelle Größe, die sich von fremden Gruppierungen abgrenzt und intern eine quasi-verwandtschaftliche Solidarität zum Maßstab macht.137 Tomasello zeigt hier die Verzahnung evolutiver Selektion mit der Entstehung immer komplexerer kommunikativ-intentionaler Kommunikationsstrukturen auf. Auf dieser Grundlage wird deutlich: Die soziale Evolution komplexer, kulturell getragener Kooperationsmechanismen und abstrakter Kommunikationsformen lässt sich evolutionstheoretisch nicht gegen die kognitive Evolution ausspielen. Beide Prozesse sind weder zeitlich zu hierarchisieren noch einseitig verzichtbar. Vielmehr wird eine komplexe Fortentwicklung angestoßen. Dabei stellt sich die Fähigkeit zur in Gruppen organisierten und taktisch vorausgeplanten Jagd als evolutiver Vorteil heraus. Dieser Vorteil bedarf zunächst einer kognitiven Evolution: Die Jagenden bedürfen eines Vorausblicks auf das Jagdszenario und einer gewissen planerischen Kompetenz.138 Soziale und kognitive Komplexitätssteigerungen gehen in der Folge Hand in Hand und machen die einzigartige Entwicklungslinie bis zum modernen Menschen aus.
2.5.2. Sprachphilosophische und sozialpragmatische Öffnungen Tomasello zeichnet ein komplexes Bild der menschlichen Evolution jenseits monolinearer Erklärungsmuster. Er vermag es, die vielschichtigen Abhängigkeiten zwischen kognitiven Dispositionen und sozialen Rahmenbedingungen in seine naturwissenschaftlichen Forschungen zu integrieren. Dabei geht er über eine ›Modellierung vom Ende her‹ hinaus, indem er ontogenetische Studien mit phylogenetischen Modellierungen verbindet. Er knüpft also an die Erkenntnisse zu kognitiven Grundfaktoren menschlicher Sozialreflexion an und nimmt die anhand neuer Gruppendynamiken aufgezeigten soziokulturellen Erklärungsüberhänge ernst. Gleichzeitig entwirft er in seinen primatologischen und ontogenetischen Untersuchungen eine Kritik an der Modellierung von unflexiblen, nicht ineinandergreifenden Einzelmodulen menschlicher Kognition.139 Darüber hinaus begründet Tomasello auf diesem Weg seine Abkehr von einem primären Interesse an Individualentwicklungen. Diese Kombination von Ergebnissen als Ausgangspunkt für das Verständnis menschlicher Kulturevolution lässt sich in seiner Bedeutung mit Tomasello selbst zusammenfassen: »Early humans had their own individual cognitive skills, but then they began attempting to coordinate with others toward joint goals with joint attention. […] it opened up a whole new way of operating for early humans, especially the possibility
136 137 138 139
Vgl. ebd., 84. Vgl. ebd. Vgl. Ders., Human, 191–193. Vgl. Ders., History, 130f.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
of communicating referentially […]. The emergence of shared intentionality thus effected a restructuring, a transformation, a socialization, of all the processes involved in individual intentionality and thinking […].«140 Angelehnt an Durkheim und die kognitionspsychologischen Ergänzungen der Gruppenselektionstheorie durch Atran und Norenzayan ist in diesem Zusammenhang der kollektive Prozess als Schlüsselmoment in der Entwicklung des modernen Menschen ausgemacht. Tomasello plausibilisiert und präzisiert die Zusammenbindung kulturevolutiver und kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse, wie sie sich bereits in anderen Theorien andeutet. Das gelingt ihm insbesondere durch eine Offenheit in Richtung sprachund geistesphilosophischer Überlegungen zur menschlichen Realität in Interaktionen. Hier deutet sich ein pragmatisches Verständnis evolutiver Prozesse im Sinne kollektiver Zielentwicklungen und Handlungen an. Durch sein Modell der Intentionalitätsentwicklung trifft Tomasello eine grundlegende methodische Entscheidung: Er geht davon aus, dass kollektive Prozesse nicht mit der Summe einzelner Ich-Identitäten gleichzusetzen sind, sondern eine eigene, neue Handlungsweise begründen.141 Dieses über sein neuartiges Studiensetting eingeführte Entwicklungsmodell ermöglicht es Tomasello schließlich, sich in seiner Ergebnisausdeutung auch an sprachphilosophische Theoriebildungen etwa John R. Searles, Ludwig Wittgensteins, Hilary Putnams und Robert B. Brandoms anzuschließen: Tomasello flankiert sein Intentionalitätsverständnis mit der sozialen Handlungsund Sprachtheorie John R. Searles. Auch für Searle ist geteilte Intentionalität nicht einfach in die Summe einzelner Ich-Identitäten aufzulösen.142 Das von Searle angeführte und im Anschluss von Tomasello weitergedachte Intentionalitätsverständnis geht dementsprechend von Kooperation als einem Mehr gegenüber zufällig zusammenfallenden Individualzielsetzungen aus.143 Searle konstatiert, kollektive Intentionalität setze das kollektive Verständnis anderer Akteur*innen als tatsächliche Mithandelnde im Rahmen kooperativer Aktivitäten voraus. Eine Handlungsgemeinschaft erweise sich daher erst in ihrem ›Erhandeln‹ kollektiver Intentionalität als ein Kollektiv.144 Mit dem entwicklungsgeschichtlichen Ausgangspunkt der Kommunikation über Gesten, den sowohl Searle als auch Tomasello wählen, ist zugleich eine Brücke zu soziologischen und sprachphilosophischen Überlegungen Ludwig Wittgensteins geschlagen.145 In seiner Theorie zur Bedeutungsentfaltung der Kommunikation im Gebrauch kommt die Betonung der Handlung entsprechend sprachtheoretisch zum Tragen. Im Anschluss an diese Thesenbildung ist auch Tomasellos Betonung der Bedeutung
140 Ebd., 132. 141 Vgl. Raimo Tuomela, The Philosophy of Sociality. The Shared Point of View, Oxford 2007, 98f. 142 Vgl. John R. Searle, Kollektive Absichten und Handlungen, in: Hans B. Schmid – David P. Schweikard (Hgg.), Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen (Stw 1898), Frankfurt a.M. 2009, 99–118, hier: 99.103. 143 Vgl. ebd., 106. 144 Vgl. ebd., 117. 145 Vgl. die übersichtliche Zusammenfassung der sprachphilosophischen Theoriebildungen des späten Wittgenstein in Albert Newen – Markus Schrenk, Einführung in die Sprachphilosophie (Philosophie kompakt), Darmstadt 3 2019, 33–40.
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sozialer Rahmenverhältnisse für die Entstehung von Kommunikation und ihre kognitiven Verflechtungen sprachphilosophisch zu verorten. Er sieht eine kommunikativ agierende, soziokulturelle Gemeinschaft als entscheidendes Moment in der Evolution menschlicher Kooperation und Intentionalität. Tomasello entdeckt als entwicklungsgeschichtlichen Clou die gemeinschaftliche Bearbeitung von ›Umweltfaktoren‹. Seine Theoriebildung zur Evolution menschlicher Intentionalität verschränkt sich hier mit geistesphilosophischen Traditionen. Er verbindet sie über sprachphilosophische Überlegungen mit sozialen Aspekten von Kommunikation und weitet sie zugleich gegenüber rein internalistisch-subjektivistischen Sprachverständnissen. Aus diesem Rahmen ergibt sich gleichsam die – wenn auch von Tomasello nicht aktiv bearbeitete – methodische Offenheit gegenüber anti-individualistisch und pragmatisch geprägten Überlegungen der Sprachphilosophie neueren Datums. Hier ist etwa an den Externalismus Hilary Putnams146 und den Pragmatismus Robert Brandoms147 zu denken. In diesen Theorien wird die Bedeutung sprachlicher Äußerungen und damit zwischenmenschlicher Interaktionen als abhängig von in ihrer Benutzung implizit manifestierten Regeln, Erfahrungen und sozialen Mechanismen verstanden. Das entspricht den Argumentationslinien Tomasellos. Er entgeht damit – im kognitionswissenschaftlichen Setting seiner ontogenetischen Tests verbleibend – einem bloßen Empirismus, der sich unter den aufgezeigten sozial-kommunikativen Gesichtspunkten als verkürzt erweisen würde.148 Zugleich versteht Tomasello kognitive Prozesse weiterhin als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Sprach- und Kulturentwicklung und umgeht so einen Sprachrelativismus.149 In der prozessual und pragmatisch grundgelegten Theoriebildung Tomasellos zeigen sich daher die eindeutigen Chancen multilinearer, evolutionsanthropologischer Öffnungen über ontologische Naturalismen hinaus.150 Tomasello selbst beschreibt die Spannung zwischen evolutiven Entwicklungsmechanismen und dem gleichzeitigen Leerlaufen rein individualistisch gedachter Vorteilsstrukturen als die kritische Dialektik seines eigenen Ansatzes.151 Sie erschließt sich im direkten Vergleich zwischen Menschenaffen und modernen Menschen: Die grundlegenden Gemeinsamkeiten der kognitiven Abläufe beider Gruppen verweisen auf Unterschiede, die nicht einzig durch modulare, kognitive Entwicklungsvorgänge begründet werden können. Stattdessen ergibt sich die Spannung, dass es zunächst durchaus kognitiver Entwicklungsschübe bedurfte, um einen gewissen Grad an Interaktion und Imagination zu ermöglichen. Im weiteren evolutiven Verlauf sind es Tomasello zufolge dann jedoch die hinzugewonnenen Praktiken selbst,
146 Vgl. hierzu die Zusammenfassung ebd., 135f. 147 Vgl. die Ausführungen ebd., 173–178. 148 Vgl. zu sprachphilosophischen Alternativen zum Empirismus Martin Dürnberger, Basics systematischer Theologie. Eine Anleitung zum Nachdenken über den Glauben, Regensburg 2020, 187f. 149 Vgl. ebd., 193. 150 Vgl. Martin Breul, Philosophical Theology and Evolutionary Anthropology. Prospects and Limitations of Michael Tomasello’s Natural History of Becoming Human, in: NZSTh 61/3 (2019) 354–369, hier: 361f. 151 Vgl. Tomasello, Response, 118.
2. Sozialevolutive Frageüberhänge
die neue Zusammenhänge und Selektionsbedingungen schaffen, in denen kooperatives Handeln sich selbst verstärkende Vorteilsstrukturen schafft.152
152
Vgl. ebd., 119.
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3. Ergebnissicherung. Religion als ein Faktor im evolutionsanthropologischen Komplex
Im vorausgehenden Abschnitt konnte nachgezeichnet werden, dass kognitive Dispositionen und vielfältige Umweltfaktoren evolutiv interagieren. Es entstehen komplex verzweigte Systeme. Diese Verzweigungen erklären Wechselwirkungen zwischen sozialen, umweltbezogenen und kognitiven Veränderungen. Die vielfältigen Interdependenzen führen zu gegenseitigen Beeinflussungen, die als Feedbackschleifen jeweils Rückwirkungen aufeinander haben. Diese Mechanismen konnten unter Bezugnahme auf aktuelle Ansätze der evolutionären Anthropologie auch auf die Rolle von kulturellen Sinnverknüpfungen für die Entwicklung des Menschen übertragen werden: Durch die transzendenzbezogene Bearbeitung sozialer und kognitiver Herausforderungssettings, entwickeln sie feste Zugangs- und Reflexionsweisen. Sie schaffen eine Metaperspektive auf konkrete situative Komplexitätsprobleme, indem sie einen eigenen, wirklichkeitserschließenden und universalen Sinn beanspruchen. Das heißt, intersubjektive Aushandlungsprozesse und religiöse Narrative von Sinn (etwa in der Rede von einem ›Jenseits‹) schaffen evolutiv eigenwirksame Möglichkeitsräume. Diese können beispielsweise über rituelle Wiederholungsszenarien reaktiviert werden. Hier wird deutlich, dass transzendenzbezogene Sozialpraktiken die Herausforderungen virtualisieren, auf die sie im evolutiven Prozess reagieren. Entsprechend gehen religiöse Vollzüge nicht einfach in Selektionslogiken auf.1 Sie werden vielmehr zu eigenen sozialevolutiven Bindungs- und Resilienzfaktoren.2 1
2
Auf diese Aufsprengung selektiver Logiken konnten etwa die zitierten ökonomischen Studiensettings von Reddish, Fischer und Bulbulia verweisen, in denen ritualisierte Handlungen in Verbindung mit altruistischem Verhalten gebracht werden konnten (vgl. Reddish – Fischer – Bulbulia, Synchrony). Darüber hinaus verweist insbesondere Michael Tomasello auf den Eigenwert einer gefestigten Gruppenzugehörigkeit, die in die funktionale und selektive Logik sozialer Systeme selbst verändernd eingreift, indem sie eigene, übergeordnete Bezugswerte schafft. Aus ihnen erwachsen Gruppenkonzeptionen, die nicht mehr rein selektionsfunktional zu erschließen sind, sondern Werte wie ›Gerechtigkeit‹ und ›Würde‹ zu eigenständigen Größen werden lassen (vgl. Tomasello, Human, 247f.). Resilienz bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht eine vielleicht spontan assoziierte gleichbleibende Stabilität, sondern wie in Kapitel 2 dargelegt, einen ausgeglichenen Systemzustand
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Dass es sich bei diesen soziokulturellen Mechanismen und ihrem Zusammenspiel mit kognitiven Komponenten um zentrale Alleinstellungsmerkmale der menschlichen Evolution als Ganzer handelt, wurde insbesondere anhand der Modellierungen Michael Tomasello deutlich. Er verweist auf die eigene Rolle, die soziale Praktiken im evolutiven Prozess spielen. Einerseits hängen sie von kognitiven Kapazitäten ab, andererseits erweitern und bedingen sie diese mit und schaffen im Rahmen kooperativer Handlungen einen völlig neuen »adaptive context«3 . Tomasellos Kritik an linearen Ableitungen sozialer Handlungen aus kognitiven Modulen sowie seine Anknüpfung an sprachphilosophische Beziehungspragmatiken eröffnet daher auch für den vorliegenden Fokuspunkt auf religiöse Entwicklungsmechanismen neue Horizonte: Seine Vergleichsstudien zwischen Menschenaffen und Menschen plausibilisieren die Ansicht, dass es sich bei kognitiven Alleinstellungsmerkmalen des Menschen zwar um einen bedeutenden Aspekt auch für die Kulturentwicklung handelt, dass sie sich aber angesichts der engen kognitiven Parallelität zwischen Menschenaffen und Menschen nicht zur alleinigen Erklärung für komplexe, kooperative und mit einer kollektiven Identität versehene Gruppenstrukturen eignen. Tomasello versteht die intentionalen Interaktionen in Gruppen – und das heißt letztendlich kulturelle Sinn- und Normenbezüge selbst – vielmehr als praxisbezogene, soziale Treiber der Evolution. Auf religiöse Narrative und Praktiken übertragen heißt das: Als Teil interaktiver Reflexionsprozesse im Rahmen von kollektiven Grenzerfahrungen sind auch sie als ›Akteure‹ der Evolution zu verstehen.4 Das interdisziplinär geweitete Analyseportfolio zeigt wichtige methodische Konsequenzen auf: Entgegen einer einlinigen Erklärung der menschlichen Entwicklungsgeschichte auf der Grundlage von Eigenwirksamkeiten kognitiver und selektiver Automatismen, konnte eine deutliche Abhängigkeit von kontingenten Beziehungsvollzügen herausgearbeitet und als eigener evolutiver Faktor benannt werden. Die kognitionspsychologisch dargelegten Leerstellen selbst verweisen auf die permanent präsente Fragilität menschlicher Kognition. Soziale Großgruppen werden erst durch kollektive Intentionalität möglich. Dabei steigt zugleich die Abhängigkeit von organisierten Interaktionen. Das Bewusstsein für diese gesteigerte Rolle der Gruppe und des einzelnen Gegenübers wird auf diese Weise erst gebildet. Der mit dem Tod eingetragene Abbruch von verlässlichen Beziehungsgeflechten verweist auf die anthropologischen Grenzen soziokultureller
3 4
zwischen ›kontinuierlichen Anpassungsoperationen‹, der durch vielfältige ›RückkoppelungsSchleifen‹ hervorgerufen wird – dadurch wird die Entstehung eines ›konstanten Gleichgewichts‹ vermieden und eine immer neue Nischenkonstruktion ermöglicht (für eine ausführliche Einholung des Faktors Resilienz vgl. Horx, Komplexität). Tomasello, Response, 119. Michael Tomasello selbst nimmt diese Übertragung seiner Theorien auf die Religionsevolution nicht aktiv vor. Dennoch wächst das Interesse an seinen Studien insbesondere in der Religionswissenschaft, Philosophie und Theologie. Die dort angedachte Rezeption seiner Thesen zugunsten einer evolutiven Einordnung religiöser Praktiken verfolgt er selbst mit Interesse und Wohlwollen, wie etwa die Fachtagung »Tomasello and Religion. Exploring the Philosophical and Theological Relevance of Evolutionary Anthropology« zeigen konnte, auf der er selbst zum Teilnehmer- und Referierendenkreis zählte (Kath. Akademie Berlin, 10.6.–12.6.2021, Abhaltung online via Zoom; nähere Infos finden sich unter https://www.katholische-akademie-berlin.de/veranstaltung/toma sello-and-religion/ [Abruf: 04.08.2023]).
3. Ergebnissicherung
Sicherungsmechanismen. Es entstehen personelle Leerstellen, die den selbstbewussten Einzelnen und das gesamte Sozialgefüge als fragil und in letzter Konsequenz endlich markieren: Alle gewonnenen Sicherheiten, Erinnerungsmechanismen, Normierungen und kollektiven Strategiebildungen sind permanent in Auflösung begriffen, weil sie im Letzten immer von konkreten Akteur*innen getragen werden. An dieser Stelle verknüpft sich die Anforderung sozialevolutiver Resilienz mit der Notwendigkeit permanenter Aktualisierungen kultureller Sicherungsmechanismen in kollektiven Handlungsgefügen. Die Erfahrungscodierungen bieten so einen jenseitigen Möglichkeitsraum, in dem angesichts von Kontingenzerfahrungen für den umfassenden Sinngehalt von intersubjektiven Logiken menschlichen Lebens eine bleibende Relevanz beansprucht wird. Diese Relevanz beruht auf kollektiven Virtualisierungspraktiken: Etwa durch das Einbringen eines Unendlichkeitsdenkens als neuer, im interpersonalen Erleben eingeführter Zeitperspektive werden auch große Gruppenzusammenhänge über stetig aufbrechende Endlichkeitserfahrungen hinaus gefestigt. Ein solcher externer Möglichkeitsraum übersteigt bereits im Handlungsvollzug seine primäre Funktion und liefert sinnstiftende Impulse. Diese Impulse erweitern die menschliche Reflexionsfähigkeit in der Thematisierung ihrer Begrenztheit und verändern so auch die evolutiven Rahmenbedingungen. Mit dieser Sprengung rein funktionaler Reaktionsschemata geht auch eine methodologische Veränderung einher. Sie betrifft die Verhältnisbestimmung zwischen funktionalen Differenzierungen in evolutiven Drucksituationen und der sinnhaften Welterschließung durch religiöse Codierungen. Mit Durkheim kristallisierte sich eine gegenüber beiden Extremen betonte Irreduzibilität heraus. So tangieren auf Jenseitigkeit ausgerichtete Wirklichkeitscodierungen sowohl die Funktionsstabilisierung moralischer Settings als auch die konkrete Welterschließung in Form von universalen Sinnbezügen. Diese ›Doppelrolle‹ religiöser Codierungen begründet den Bogen, den sie zwischen kollektiv-funktionalen Moralkonzepten und einem prozesshaft erlangten Erfahrungswissen aufspannen. Religiöse Narrative und Praktiken stellen sich dann zu gleichen Teilen als kognitiv angepasster, evolutiv bedeutsamer »Aspekt eines natürlichen Handlungsrepertoires«5 und als ein evolutionssystemisch produktiver Faktor bewusster Reflexionen dar. Die evolutionstheoretische Setzung von nicht weiter eingeholter Emergenz birgt dagegen die Gefahr einer axiomatischen Verselbstständigung selektionstheoretischer und kognitivistischer Verknüpfungen. Die Überbetonung von Naturfunktionalismen verlässt den Diskursrahmen wissenschaftlicher Überprüfbarkeit, wenn sie zu nicht mehr hinterfragbaren Setzungen führt. Theoriebildungen, die zu diesem Extrem neigen, untergraben ihre eigenen Ergebniskomplexe, wenn sie die vielschichtigen Entstehungszusammenhänge nicht mehr als vernetztes Bedingungsgefüge denken können. Somit laufen sie Gefahr, zu einer Art dogmatisiertem Glaubenssystem zu werden.6 Das bedeutet allerdings nicht den Ausschluss funktionaler Erklärungsmuster aus der Analyse kultureller und sozialer Entwicklungsprozesse. Vielmehr stellen solche selektiven Funktionssystematiken einen notwendigen Teil des evolutionsanthropologischen Untersuchungsportfolios dar. Sie erweisen sich argumentativ jedoch nicht als hinreichende 5 6
Hoff, Atheismen, 61. Vgl. John Haught, Is Nature Enough? Meaning and Truth in the Age of Science, Cambridge 2006, 20.
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Erklärung für die Rolle und Entstehung von Transzendenzbezügen. Die im Rahmen von Religion und Kultur artikulierten interpersonalen Sinnerfahrungen gehen angesichts ihrer intentionalen Lagerung nicht ohne Weiteres in Funktionssystematiken auf. Vielmehr weisen die vielschichtigen Evolutionsdynamiken religiöse Sinnkonstruktionen als einen spezifischen Verarbeitungsmechanismus von biologischer, kognitiver und sozialer Komplexität aus, der über diese Komplexität hinausweist. Auf diese Weise prägen Transzendenzbezüge das menschliche Realitätsverständnis über vorausgehende kognitive Grundfunktionen hinaus. In diesem Sinne sind soziale Handlungsvollzüge als eigenwirksame, weiterführende Prozessfaktoren zu verstehen. Sie gehen von der konkreten Gruppeninteraktion der Akteur*innen aus und üben wiederum Einfluss auf ebendiese und ihre Umwelt(-gestaltung) aus. Die hier kritisch reflektierte Einordnung bewussten menschlichen Verhaltens gegenüber Umweltfaktoren und sozialen Drucksituationen eröffnet die Frage nach einer adäquaten Erklärung des subjektiven Bedürfnisses nach Sinn als einem wichtigen evolutiven Faktor. Religiöse Narrative sind kognitiv anschlussfähige Reaktionen auf das Bedürfnis nach Sinn. In diesem Rahmen sind sie evolutiv funktional zu verstehen. Bei der Erfüllung dieser Funktion beziehen sie sich jedoch auf aus sich heraus nicht einholbare Voraussetzungen. Sie deuten die Welt als universal sinnhaft. Diese denkerische Voraussetzung erschließt sich nur im Sinnvollzug selbst, der seinen universalen Selbstanspruch immer schon voraussetzt und stetig (etwa in Ritualen) aktualisiert. Anders ist auch die dargelegte normative Funktion von religiösen Vollzügen nicht aufrechtzuerhalten. Erkenntnistheoretisch sind Sinnnarrative also an ihren konkreten Vollzug gebunden – jenseits der praktischen und situativen Einführung eines universalen »Sinn des Sinns«7 bleiben sie funktionslos. Diese Einsicht entspricht den Überlegungen Tomasellos zur eigenen evolutiven Rolle kollektiver Interaktionen, die in sinnbezogenen Sprach- und Kultursystemen ihren geronnenen Ausdruck findet: Die dauerhafte soziokulturelle Beanspruchung eingeführter Sinnnarrative als denkerisch verlässliche Konstanten erfordert ein grundlegendes Vertrauen gegenüber der Zuverlässigkeit kollektiven Erlebens. Dieses Vertrauen entsteht aus einem auf temporäre Erlebnisse angewandten Bezug auf den Gesamtsinn des Daseins. Er eröffnet einen Reflexionsraum jenseits selektiver Mechanismen und biologischer Grenzziehungen. Auf diesen uneinholbaren Gesamthorizont bleibt der Mensch dauerhaft verwiesen. Er strebt nach einer wissenden Einsicht in das Ganze seiner Welt, die er in jeder Reflexion zugleich immer schon glaubend voraussetzt.8 Das heißt in letzter Konsequenz: Der menschliche Weltumgang setzt transzendente Bezüge voraus,9 die sich in konkreten religiösen Narrativen und Praktiken soziokulturell verdichten. Der Philosoph Volker Gerhardt versteht diese Dynamik der transzendenzorientierten 7 8 9
Gerhardt, Sinn, 114 [im Original kursiviert]. Vgl. ebd., 131f. Die Rede von einem ›Transzendenzbezug‹ beschreibt in diesem Zusammenhang zunächst einmal »ein philo-sophisches Konzept, welches von dem unmittelbar zugänglichen, differenzierten Bereich der Wirklichkeit einen dahinter liegenden, grundlegenderen Raum unterscheidet. Das theologische Thema der Jenseitigkeit Gottes konnte entsprechend bearbeitet werden.« (Fritz Stolz, Art. Transzendenz, in: Christoph Auffarth – Jutta Bernard – Hubert Mohr u.a. (Hgg.), Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Stuttgart 2005, 525f., hier: 525).
3. Ergebnissicherung
Sinnerschließung als eine »Verselbstständigung der Bedeutung«10 . Sie sei als ein wesentlicher Schritt kultureller Entwicklung zu betrachten, der eine neue »Sphäre eines scheinbar nur für sich bestehenden Sinns«11 in die Entwicklungsdynamik einbringe. In der transzendenzorientierten Codierung eines ›Sinn des Sinns‹ entwickeln religiöse Praktiken und Narrative demnach evolutive Eigendynamiken, wie sie auch Norenzayan und Tomasello begründen konnten. Der geschärfte Blick auf die Funktionsweise religiöser Narrative und Praktiken konnte also im Verlauf der ersten beiden Kapitel zeigen: Die prozessuale Eigenwirksamkeit einer universal angelegten Sinnrede markiert einen metaperspektivischen Horizont, der über naturalistische und funktionalistische Entstehungsfaktoren hinaus einen wichtigen Raum in der Entwicklungsgeschichte des Menschen einnimmt. Aus dem komplexen Zusammenspiel des gesteigerten Kognitionsvermögens und sozialen Kommunikationspotenzialen heraus bietet sich ein neuer Erkenntnisraum. In ihm ist immer schon ein mit Sinn versehenes Verständnis des menschlichen Daseins und der Welt als Ganzer vorausgesetzt. Diese neue Perspektive erhebt ihr Sinnpotenzial aus der Einsicht in das begrenzte Dasein des endlichen und sozial abhängigen Menschen, die immer wieder aufgesprengt und zugunsten von kooperativer Resilienz dynamisiert wird.
10 11
Gerhardt, Sinn, 127. Ebd., 128.
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4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion
Die mit Volker Gerhardts Rede vom ›Sinn des Sinns‹ angeschärfte Eigendynamik religiöser Codierungsvorgänge im evolutiven Prozess verweist vor dem Hintergrund des erschlossenen evolutionsanthropologischen und erkenntnistheoretischen Ergebnisportfolios auch auf weiterhin ungeklärte Fragehorizonte. Sie betreffen insbesondere eine methodologische Überprüfung der Erklärungspotenziale evolutionsanthropologischer Religionsmodelle angesichts der komplexen Interdependenzen zwischen soziokulturellen Eigenwirksamkeiten, kognitiven Bedingtheiten und umweltbezogenem Selektionsdruck: -
-
Was leistet die rituelle, symbolische und sprachliche Erschließung der anthropologischen Grenzen im evolutiven Verlauf? Wie lässt sich die Verknüpfung zwischen virtuellen Codierungen und konkreten soziokulturellen sowie biologischen Gegebenheiten theoretisch adäquat abbilden? Welche theoretischen Grundlagen und methodologischen Umstellungen in der Untersuchung der Religionsevolution erlauben eine adäquate Integration der sinnerschließenden Elemente und der transzendenten Bezugspunkte religiöser Praktiken und Narrative in evolutionsanthropologische Modelle? An welchen methodologischen Prüfsteinen und kritischen, wissenschaftsinternen Referenzen muss sich die philosophische und soziologische Argumentation für die evolutive Relevanz transzendenter Sinnhorizonte messen lassen?
Das folgende vierte Kapitel widmet sich diesen Fragen. Zunächst arbeitet es sich dazu an den religionskritischen Zuspitzungen des funktionalistischen Religionsverständnisses von Daniel Dennett ab (vgl. Kapitel 4.1). Daraus ergeben sich kritische Prüfsteine für den Fortgang der Untersuchung. In einem zweiten Schritt wird die Darstellung der konkreten ›Leistung‹ religiöser Narrative und Praktiken einer erkenntnistheoretischen Weitung unterzogen. Sie präzisiert den Denkhorizont, der hier mit Volker Gerhardt bereits angeklungen ist. Er wird in eine neue Betrachtung der Religionsentstehung im Umfeld religionswissenschaftlicher und soziologischer Heuristiken überführt.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Dabei verfolgen die Ausführungen insbesondere das Ziel einer erkenntnistheoretischen Neuverortung der Religionsevolution über die sogenannten Achsenzeitthese und ihre evolutionsanthropologisch-methodologische Anwendung bei Jan Assmann und Robert Bellah. Sie erschließt eine performanztheoretische Grundlegung des Religionsbegriffs (vgl. Kapitel 4.2). Die Überlegungen verweisen auf die übergeordnete Funktion religiöser Funktionen und damit auf den eigentlichen Sinn der Sinnnarrative als Triebfaktoren sozialer Entwicklungsmechanismen. Die damit verbundene erkenntnistheoretische Stoßrichtung fungiert es als ein erstes Scharnierstück für die kritische Reflexion der evolutiven Religionsforschung.
4.1. Religion als kognitiver Irrglaube? Im Folgenden werden die religionskritischen Ausdeutungen evolutionsanthropologischer Ergebnisse hervorgehoben. Im rezipierten Forschungsfeld kommt es nicht zwingend und nicht mehrheitlich zu solchen religionskritischen Ableitungen. Die Entscheidung, hier naturalistisch orientierte, religionskritische Ergebnisinterpretationen gesondert herauszustellen, leitet vielmehr ein methodologisches Interesse. Es geht darum, mögliche Leerstellen religionsevolutiver Perspektiven auszumachen und zugleich die religionskritischen Kipppunkte, die sie mit sich bringen können, kritisch zu betrachten. Sie können produktiv für eine methodologische Evaluation der dargelegten Forschungen genutzt werden und so Leitplanken auch für die sozialphilosophische und schließlich theologische Reflexion evolutionsanthropologischer Komplexe setzen. Das vorliegende Unterkapitel orientiert sich dazu beispielhaft an den Überlegungen Daniel Dennetts. Sie ergänzen die bereits betrachteten memtheoretischen Religionskritiken von Richard Dawkins. Die vielfältigen Öffnungen der evolutionären Anthropologie durch die Integration sozialevolutiver sowie kognitions- und entwicklungspsychologischer Ergebnisse verweisen die knappen Rückschlüsse Dennetts auf eine fehlende methodologische Absicherung gegenüber (dys-)funktionalistischen Engführungen. Bei Dennett scheinen daher noch deutlicher als in der Memtheorie mögliche methodische Problematiken der direkten Ableitung religiöser Phänomene aus kognitiven Modulen auf. Sie klammert insbesondere soziologische Erkenntnisse aus. Diese argumentative Problematik verweist die Religionskritik Dennetts auf methodologische Schwächen, die sich auch mit dem aktuellen Stand der evolutionären Anthropologie nicht überein bringen lassen. Die Zuspitzung auf die religionskritischen Kipppunkte, die Dennett vornimmt, zeigt damit zugleich die Notwendigkeit einer Neubewertung religionspraktischer Vollzugsformen und multilinearer evolutiver Einflussfaktoren an.
4.1.1.
Kognitionsbezogene Religionskritik bei Daniel C. Dennett
Daniel C. Dennett unternimmt den Versuch, memetische Grundlegungen mit kognitiven Modultheorien zur Religionsentstehung zu verbinden. Dabei fokussiert er den kognitiven Durchbruch, den kulturelle Reflexionsformen durch ein neues Zeitempfinden und entsprechendes Planungsvermögen mit sich bringen und konstatiert:
4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion
»Nachdem die Kultur in Form der Meme in das menschliche Gehirn eindrang, entstand der Geist des Menschen, so daß dieser als einziges Tier sich entfernte und zukünftige Dinge vorstellen und alternative Ziele formulieren kann. […] Insbesondere verleihen uns die Meme, indem sie unseren Geist formen, die Autonomie, über unsere egoistischen Gene hinauszuwachsen.«1 Die Aussage zeigt den Primat an, den Dennett festen memetischen Dispositionen zuspricht. Bereits dieses erste Merkmal der Modellierung Dennetts verweist auf eine wichtige methodische Grundentscheidung, die er trifft: Die Vorlagerung der memetischen Erklärung führt zu einem spezifischen Blick auf das intentional-interaktiv gelagerte sozialevolutive Entwicklungsszenario, wie es Michael Tomasello nachzeichnet. Nicht mehr Entwicklungsschübe der Kognition und ihre Verbindungen mit selektiv notwendigen und kognitiv ermöglichten neuen Kommunikationsformen führen zu einer Ausweitung der menschlichen Reflexionsfähigkeit. Vielmehr wird dieser Vorgang hier memetisch externalisiert und ist so monolinear erklärbar und festgelegt. Die genaue Funktionsweise dieser ›geistformenden‹ Meme ist dabei durch Dennett zunächst nicht weiter spezifiziert. Dennett versucht im Anschluss, die Memtheorie in Richtung kognitiver Grundvollzüge und interaktiver Prozesse offenzuhalten. Die angesprochene Autonomie gegenüber der genetischen Evolution sieht er dabei in der Vorstellung eines ›Selbst‹ begründet. Angesichts seiner automatistischen Bestimmung der menschlichen Kognition durch die Meme, kann er diesem Selbstkonzept des Menschen jedoch nur eine metaphorische Funktion zuschreiben,2 die er als zufällige, aber nützliche »user-illusion«3 kennzeichnet. Auch die Fähigkeit der Kommunikation von Wünschen und Einsichten stellt für Dennett entsprechend ein Nebenprodukt dieser memetisch gestützten, kognitiv begründeten ›Illusion‹ dar. In diese Gemengelage ordnet er schließlich auch religiöse Aussagezusammenhänge ein. Er versteht sie ähnlich wie Dawkins und Blackmore als wirkmächtige Meme, die aus kognitiven Anpassungsleistungen erwachsen. Auffällig ist dabei, wie Dennett in diesem evolutiven Prozess aktive und passive ›Rollen‹ zuordnet. So versteht er transzendente Sinnbezüge als Objekte von zufälligen Evolutionsprozessen. Laut Dennett »›entdecken‹ [sie] Gestaltungskonzepte, die funktionieren. Sie funktionieren deshalb, weil sie verschiedene Eigenschaften haben, die sich rückblickend so beschreiben und bewerten lassen, als ob sie intendierte Geistesprodukte intelligenter Designer wären, die das gestalterische Grundprinzip im voraus [sic!] ausgearbeitet haben.«4 Er verschiebt hier also ohne weitere Nachweise oder Studienbezüge alle intentionalen Handlungen und Reflexionen in eine passive Einbildungssphäre des ›als ob‹. Dass schon 1 2 3 4
Daniel C. Dennett, Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, übers. v. S. Vogel, Hamburg 1997, 514. Vgl. Ders., The Self as a Responding – and Responsible – Artifact, in: Annals of the New York Academy of Sciences 1001/1 (2003) 39–50, hier: 47. Ebd. Ders., Bann, 86f.
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dieses ›als ob‹ einen aktiven Deutungsprozess voraussetzen könnte, schließt er über den bereits erwähnten Primat der Meme aus, über die ihm zufolge sowohl die Zufälligkeit evolutiver Emergenzen als auch die Gestaltung kultureller Deutungsmuster ›gesteuert‹ werden. Damit wird für Dennett auch das Paradigma der kognitiven Verarbeitung des Todes in religiösen Narrativen zu einem zufälligen – und zufällig als ›passend‹ ausgewiesenen – kognitiven Prinzip der Weitergabe von Memen. Verbunden mit einer starken Betonung des kognitiven Moduls der hypersensiblen Akteur*innendetektion (HADD), werden religiöse Narrative für Dennett damit zu Produkten kognitiver Irrtümer. Sie seien die Manifestationen von »Fehlalarme[n], ausgelöst von unserer übereifrigen Neigung, überall, wo etwas passiert, nach Akteuren zu suchen, [sie] sind die Irritationen, um die herum die Perlen der Religion wachsen. Nur die besten, geistfreundlichsten Varianten vermehren sich […].«5 Die Öffnung memetischer Grundannahmen für die Erkenntnisse der modularen Kognitionswissenschaft führt damit bei Dennett zu einer Festlegung religiöser Inhalte auf zufällig als funktional replizierte Fehlschaltungen der Kognition. Für Dennett begründet diese Darlegung des evolutiven Ursprungs religiöser Akteur*innenlogiken allerdings nicht mehr nur ihre ›Natürlichkeit‹ und eine entsprechende Betonung ihrer evolutiven Kontingenz in einem deskriptiven Sinne. Seine Thesen nutzt er auch zu einer realitätstheoretischen Kritik an der Daseinsberechtigung religiöser Aussagen. In der eingeschlagenen Deutungslogik erscheinen Transzendenzbezüge als direkte Ergebnisse einer »erkenntnistheoretischen Fehlleistung«6 . Damit wird die Beschreibung der Entstehung religiöser Inhalte selbst zu ihrer größten Kritik gemacht – mit direkten Folgen für die wissenschaftliche Einordnung religiöser Evolution und für das wissenschaftstheoretische Gesamtsetting einer evolutionären Anthropologie.
4.1.2. Kritische Konfrontation mit den evolutionsanthropologischen Ergebnissen Diese Folgeeffekte erschließen sich entlang der zuvor dargestellten evolutionsanthropologischen Erkenntnisse. Die herausgearbeiteten methodologischen Zusammenbindungen kognitiver Dispositionen und soziokultureller Organisationsformen sowie das Verständnis dieser Koppelung als eigenständige entwicklungsgeschichtliche Gemengelage verweisen auf offene Flanken der Methodik Dennetts. Die bereits rezipierten Komplexitätssteigerungen im Rahmen sozialevolutiver Modellbildungen sollen daher als ›Prüfsteine‹ mit der Religionskritik Dennetts konfrontiert werden. Eine solche Konfrontation schärft das Profil der dargelegten methodischen Öffnungen und neuen Thesenbildungen. Sie verweisen auf weiterführende anthropologische Mechanismen, die in neodarwinistischen und kognitivistischen Direktableitungen, wie sie Dawkins, Blackmore und Dennett vornehmen, ausgeblendet werden. Im Rahmen der Rekombination der Theorien durch Dennett fällt auf, dass er auf die Einordnung religiöser Narrative in evolutive Dynamiken verzichtet. Er schreibt sie
5 6
Ebd., 151. Hoff, Atheismen, 62.
4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion
als kognitive Fehlleitungen fest. Daher wird der in den rezipierten evolutionsanthropologischen Modellierungen angesprochene eigene Reflexionsraum, den transzendenzbezogene Erzählungen und kooperative Handlungen einbringen, von Dennett nicht berücksichtigt. Das herausgestellte soziokulturelle Evolutionspotenzial intentionalen Verhaltens und gemeinschaftsstiftender Resilienzfaktoren integriert er entgegen den neuesten Erkenntnissen multilinearer evolutionsanthropologischer Zugänge zur Kulturevolution weder in sein Evolutions- noch in sein Religionsverständnis. Stattdessen bezeichnet er Thesen der Gruppenselektion und Überlegungen zur Kooperationsverstärkung durch transzendenzbezogene Handlungen und Narrative in Großgruppen per se als »Wunschdenken«7 . Weiterführende Begründungen und Argumentationen fallen diesbezüglich allerdings aus. Der religionskritisch angelegte Kipppunkt bleibt hier als solcher bestehen. Es liegt eine deutliche fachimmanente Rezeptionslücke vor, durch die zahlreiche der zitierten Studien und Theoriebildungen zur gruppenimmanenten Eigenwirksamkeit religiöser Narrative und ritueller Erfahrungen keine Beachtung finden. Diese starke Unwucht auf Seiten der rezipierten Theorien führt neben der argumentativen Schwäche auch zu übergreifenden methodologischen Problemen der Thesenbildung Dennetts. Es ergibt sich eine spezifische Ansicht menschlicher Vernunftvollzüge, die sich auch auf den hier angewandten Subjektbegriff auswirkt. Der menschliche Geist und damit sein vernunftgeleitetes Bewusstsein spielt in Dennetts Überlegungen insofern keine Rolle, als dass er konstatiert: »[…] er [der Geist; JU] ist das Gehirn […]. Wie viele andere Wunder der Natur ist der menschliche Geist eine Art Trickkiste, die der ahnungslose Evolutionsprozeß durch natürliche Selektion im Laufe der Äonen zusammengeschustert hat.«8 Damit durchbricht Dennett die multilinearen Erklärungsversuche, die die Gehirnentwicklung und die Entstehung sozialer Kommunikationsmechanismen in wachsenden Gruppierungen als sich gegenseitig bedingende Ermöglichungssettings verstanden hatten.9 In der zugespitzten Formulierung einer selektierten »Trickkiste«10 des Gehirns erfolgt zudem ein methodologischer Ausschluss prozessualer Aspekte bewusster Bedeutungsgebung in kooperativen Vollzügen. So fällt die Analyse der aktiven Formierung und Aushandlung von (beispielsweise rituellen) Reaktionsschemata gegenüber alltäglichen (kognitiven) Herausforderungen aus. An die Stelle der eigenen Rolle dieser Prozesse als evolutive Triebsysteme tritt ein (in seiner Herkunft nicht weiter erörtertes) Reaktionsrepertoire des Gehirns. Inwieweit sich schließlich aus diesem Repertoire neue Verbindungen und Handlungsschemata herausbilden, bleibt im Rahmen der Modellierung von Dennett unklar. Vor diesem Hintergrund verschwimmt auch der Gegenstand der von Dennett hervorgebrachten religionskritischen Haltung: Was versteht er konkret unter ›Religion‹, 7 8 9
10
Dennett, Bann, 141. Ebd., 142. So etwa der Diskurs um die Herausforderungen in Großgruppen bei Robin Dunbar und die damit einhergehende Verknüpfung mit neurologischen und kognitionspsychologischen sowie kommunikationstheoretischen Erkenntnissen etwa bei Paul Reddish und Michael Tomasello. Dennett, Bann, 142.
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dem Objekt seiner evolutionstheoretisch motivierten Kritik? Diese und die weiterführende Frage nach dem eigenen erkenntnistheoretischen Effekt von Transzendenzbezügen im evolutiven Prozess lässt Dennett offen. Die direkten Ableitungsmechanismen geraten daher in die Gefahr einer ›Einbahnstraßenlogik‹: Ablaufende kognitive Mechanismen, die bestimmte kulturelle Inhalte evozieren und befördern sind zunächst theoretisch nachvollziehbar ausgemacht.11 Die Betonung einer memetischen Selektion durch kognitive Präferenzstrukturen hindurch wird allerdings als einliniger Entwicklungsstrom betrachtet, der sich immer wieder selektionstheoretisch selbst aufhebt, beziehungsweise optimiert. Inwieweit sich im Rahmen dieser evolutiven Mechanismen die entstehenden Narrative selbst auswirken, wird nicht mehr eruiert. Ob und wie soziokulturelle Narrative und ein daraus entstehendes intentionales Gruppenbewusstsein über ihre kognitiven, memetischen und/oder gruppenselektiven Entstehungsbedingungen hinaus eine Eigenwirksamkeit entfalten, bleibt in der dargelegten Theorieanlage daher unklar. Im Gegensatz dazu zeigen die in Kapitel 2 dargelegten Studien deutliche Anhaltspunkte für eigenständige Wirksamkeiten ritueller Handlungen auf. Darauf weisen etwa die Ergebnisse zur Auswirkung synchroner Bewegungsabläufe zu Musik auf die Kooperationsbereitschaft hin.12 In eine ähnliche Richtung schlagen auch die Theoriebildungen Michael Tomasellos aus, der auf den wirksamen Einfluss früher Kommunikationsformen und sozialer Herausforderungssettings auf die Intentionalitätsentwicklung des Menschen anspielt. Dass auch in der Einbindung dieser interpretatorischen Weitung im Rahmen der evolutionären Anthropologie der Kontingenz der evolutiven Entwicklungen weiter Rechnung getragen wird, zeigt der stringente Ausgang von ›Bedingungen der Möglichkeit‹ an. Diese sind jedoch in der Folge des interdisziplinären Ergebniskomplexes auch im Rahmen evolutionärer Anthropologien nicht mehr in einlinigen Selektionsmechanismen funktionalistisch aufgehoben. Vielmehr werden auch die sozialen und kognitiven Transformationsbewegungen analytisch sichtbar gemacht, aus denen jeweils neue Funktionslogiken und Praktiken entstehen. Diese können sich wie gezeigt von ›ursprünglichen‹ Selektionsmechanismen abkoppeln und deren Selektionslogik selbst nachhaltig beeinflussen. Angelehnt an diese Beobachtungen verschiebt sich in der neueren evolutionären Anthropologie auch der methodische Fokus. Es geht nun verstärkt um die Analyse eigenwirksamer, sich permanent differenzierender Entstehungsmechanismen soziokultureller Prozesse. Dieser Perspektivwechsel ist es, den Daniel Dennett nicht konsequent mitvollzieht. Seine Analyseinstrumente schlagen in der Konfrontation mit kontingenten Entstehungsmustern, die sich gegenseitig ablösen und neu kreieren, nicht an. Entgegen seiner zugespitzten Direktableitungen bedarf es zu ihrer Analyse einer konsequenten methodologischen Dialektik. Sie weist das konkrete Zusammenspiel der verschiedenen evolutiven Mechanismen nicht als zwingend oder ›bewusst gesteuert‹ aus und beansprucht dennoch, dass sie gekoppelt und voneinander abhängig sind. Gerade diese
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Vgl. etwa Justin Barretts Rede von der Präferenz für ›minimally counterintuitive‹ Konzepte, die für die kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse rund um religiöse Weltbearbeitung eine wichtige Ergänzung darstellt (vgl. Barrett, Anyone, 22). Vgl. Reddish – Fischer – Bulbulia, Synchrony.
4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion
komplexe Beziehung der verschiedenen biologischen und soziokulturellen Faktoren macht die Annahme einer freischwebenden Fehlleitung der Kognition13 oder aber eines erfolgreich reproduzierten, weil hartnäckigen ›Mems‹ analytisch wenig tiefenwirksam. Dennett nimmt hier selbst eine kognitivistisch angelegte, ›zwingende Festlegung‹ vor, die den evolutiven Interdependenzen in konkreten, multidimensionalen Prozessen widerspricht.
4.1.3. Veränderte Frageperspektive. Der erkenntnistheoretische Ort der Religion Die aufgezeigten offenen Flanken betreffen schließlich den erkenntnistheoretischen Ort religiöser, das heißt menschliches Dasein transzendierender, Narrative und Handlungen. Wenn Daniel Dennett kognitive Fehlfunktionen als primär nicht mehr funktionale Nebenprodukte vergangener Evolutionssystematiken ausmacht, dann versieht er gleichsam den evolutiven Ablauf und seine Elemente mit einem ›Mindesthaltbarkeitsdatum‹. Das widerspricht der Art und Weise, wie religiöse Zugänge den Problemhorizont menschlicher Endlichkeit und sozialer Unsicherheit bearbeiten: Sie schließen solche ›Datierungen‹ im Sinne von gegebenen und vergehenden Zeitpunkten aus, indem sie selbst davon ausgehen, dass kulturelle Sinnbildungen permanent wirksame Aktualisierungsgefüge darstellen. Sie schließen durch ihre eigene Prozesshaftigkeit feste, gegebene Zeitpunkte systemisch aus. Diese an Aktualisierungen gebundene, eben nicht punktuell erreichbare Prozesshaftigkeit konnte entlang der transzendenzbezogenen Inhalte selbst nachgezeichnet werden: Die menschliche Erfahrung einer Unverfügbarkeit der eigenen Lebenszeit (d.h. des Fehlens eines verlässlichen anthropologischen Datums) und zugleich die Erkenntnis, dass man ihm auch kognitiv nicht erschöpfend beikommen kann, evozieren erst die religiös bearbeitete menschliche Sehnsucht unendlicher Horizonterweiterungen. Der Ausgang von einem kognitiven Nebenprodukt beziehungsweise einer lediglich temporär wirksamen Fehlleistung mag also punktuell im Moment der Entstehung einzelner Systemkomponenten korrekt sein, angesichts ihrer permanent wirksamen Pragmatik kann dieser Zugang jedoch weder definitorisch noch argumentativ gültig auf religiöse Sinnsysteme komplexer Art angewandt werden. Auch die evolutive Verortung religiöser Sinnarbeit verweist damit auf einen sozialen Ort ihrer Wirksamkeit, der in den dargestellten Ableitungen nicht in Betracht gezogen beziehungsweise explizit religionskritisch motiviert ausgeschlossen wird. Ein solcher permanent kollektiv bearbeiteter und wandelbarer Sinnhorizont hat aber auch in der übrigen Theoriebildung bis dato keinen eigenen erkenntnistheoretischen Ort eingenommen. Zugleich ist dieser Horizont implizit angesprochen, wenn die evolutive Eigenwirksamkeit von intersubjektiver Kommunikation, Ritualhandlungen und moralisch imprägnierten Kollektiverzählungen thematisiert wird. Diese Offenheit der Mehrheit der neueren evolutionsanthropologischen Ansätze zur Religionsentstehung stellt einen großen interdisziplinären Mehrwert dar, dessen konkrete Ausarbeitung noch aussteht. So verweisen die Anfragen Dennetts zunächst berechtigterweise auf die Notwendigkeit, den an religiöse Narrative angelegten Realitätsbegriff jenseits ontologisierter
13
Vgl. Dennett, Bann, 109.
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Festlegungen konsequent zu überdenken. Gerade diese erkenntnistheoretische Anforderung wird jedoch von Theoriesettings wie dem seinen nicht weiterführend und produktiv bearbeitet. Die aufgezeigten methodischen Leerstellen verweisen auf die Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Neuverortung der Religionsevolution. Sie stellt die Hauptaufgabe der folgenden Teile dieser Arbeit dar. Aus der Analyse kognitiver Modularitäten und memtheoretisch orientierter Erklärungsansätze ergeben sich Leerstellen, die innermethodisch in zahlreichen der dargelegten Fokussierungen zu identifizieren sind. Die evolutionäre Anthropologie erzeugt hier ein methodisches Spannungsfeld, aus dem sie selbst nicht auszubrechen vermag. Sie widerspricht den evolutionsanthropologischen Komplexitätsstrukturen, die sie selbst analytisch verdeutlicht, wenn sie auf einlinigen, religionskritischen und funktionalistischen Ergebnisdeutungen beharrt. Dagegen legen zahlreiche evolutionsanthropologische Ansätze den Fokus auf die unhintergehbaren Abhängigkeitsgefüge zwischen zerebralen, kognitionspsychologischen und sozialen Komponenten der intersubjektiven Welterschließung. Auf diese Weise wird die evolutive Rolle religiöser Praktiken und Narrative vor dem Hintergrund sozialer wie selektiver Herausforderungen analysierbar. Im Rahmen dieser Verknüpfungen setzen sich die vorliegenden Ansätze implizit auch neue methodologische Standards, hinter die eine evolutiv argumentierende Anthropologie und Religionswissenschaft dann nicht mehr zurückgehen kann. Diese implizit eingeführten Leitplanken konnten im vorangegangenen Forschungsüberblick herausgearbeitet werden. Sie gilt es zugunsten eines evolutionstheoretisch anschlussfähigen Religionsverständnisses konsequent mitzudenken. Als erste Zusammenschau dieser komplexen Grundsätze kann hier festgehalten werden: Die primären Selektionsfaktoren bedingen biologische und soziale Neuorganisationen. Aus diesen veränderten Strukturen ergeben sich wiederum neue evolutive Faktoren. Es entstehen komplexe Zusammenhänge, die auch die primären, funktionalselektiven Abläufe modifizieren. Innerhalb dieser multilinearen Evolutionsbewegungen konnte das Potenzial religiöser Handlungen und Narrative bis dato als funktionales Bearbeitungsrepertoire kognitiver und sozialer Herausforderungen benannt werden. Hier liegt die Stärke der dargelegten Ansatzpunkte. Die herausgearbeiteten Funktionssystematiken (etwa in der Bearbeitung kognitiver Dissonanzen oder in der rituellen Absicherung großer Gesellschaftsgefüge) führen zugleich einen Religionsbegriff ein, der zumindest implizit nicht mehr ohne das Postulat einer sinnstiftenden Weltbearbeitung auskommt. Die in den parallellaufenden Erklärungssträngen immer wieder deutlich gemachten Funktionen der entstehenden Transzendenzsystematiken verweisen auf die ihnen innewohnende evolutive Pragmatik, ohne sie jedoch explizit zu benennen oder methodisch einzubinden. Es wird ein unbearbeiteter Faktor der Evolution religiöser Sinnsysteme sichtbar. Dieser betrifft ein weitgehend ungelöstes Bezugsproblem eines Großteils der Theoriebildungen der evolutionären Anthropologie: Der evolutive Status des ›Sinn des Sinns‹, den die emergierenden religiösen Ritual- und Erzählkomplexe einbringen, ist bis dato nicht explizit reflektiert. Die zahlreichen Funktionen und komplexen evolutiven Faktoren religiöser Vollzüge werden lediglich beschrieben, nicht aber in ihrer konkreten Wirkweise hinterfragt. Offen bleibt hier also, welchen Erkenntnisgehalt religiöse Zugänge erzeugen und wie sie damit selektive Logiken in Form von sozialen Sinnstiftungen transzendieren. Die rein funktionale Analyse religionsevolu-
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tiver Entwicklungsprozesse übergeht in diesem Sinne den Kernbestand ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes. Einzig unter der konsequenten auch methodischen Integration einer metatheoretischen Sinnperspektive kann die konkrete Rolle religiöser Narrative und Handlungen im evolutiven Diskurs erschlossen werden. Diese Metaperspektive lässt sich im Anschluss an die evolutionsanthropologischen Forschungsergebnisse anhand von drei zentralen Bezugspunkten transzendenter Handlungsfelder kartieren: 1. Transzendente Bezüge emergieren aus einem kognitiven und sozialen Komplexitätsproblem heraus. 2. Dieses Komplexitätsproblem versehen sie mit einem Sinnhorizont, der es als Problem überhaupt benennbar und damit bearbeitbar macht. Über die akute Bearbeitungsfunktion hinaus werden auf diese Weise komplexe Deutungsprobleme erkannt. Aus ihnen heraus können weiterführende Sinnkrisen benannt werden, die die primären Funktionslogiken erweitern. 3. So steht angesichts der Fähigkeit intentionaler Welterschließung erstmals die Frage im Raum, wie eine Zukunftsperspektive und ein neues Endlichkeitsbewusstsein im menschlichen Selbst- und Weltverständnis zusammengedacht und sozialproduktiv behandelt werden können.
Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen ›Informationsflut‹, welche die sie ermöglichenden kognitiven Leistungen letztendlich überfordert und so konkrete normativ orientierte Sinnbezüge erst evoziert.14 Die kognitive Fähigkeit eines bewussten Weltzugangs erfordert demnach die Bearbeitung in einem eigenen Sinnkomplex, der einen geordneten Wirklichkeitszustand über neue Normierungen erst herstellt.15 Solche Sinnsetzungen sind in den multilinear arbeitenden Theoriebildungen als eigene Evolutionsfaktoren erstmals überhaupt auf den Plan gerufen. Die Herausforderung besteht also einerseits darin, interne Funktionalismen aufzuklären, zu verstehen und zu integrieren. Andererseits ist eine Methodik, die ihre Erklärungen für das Gesamt der menschlichen Evolution auf ebendiese Funktionalismen reduziert, schwerlich in der Lage, den Kern soziokultureller und insbesondere religiöser Entwicklungen auf einer breiten Grundlage zu erörtern. Eine funktionalistische Reduktion der Ergebnisse würde den Ergebniskomplexen der Forschung selbst und damit ihrem Untersuchungsgegenstand (den universalen Sinnbezügen transzendenzorientierter Narrative und Handlungsweisen) nicht gerecht.16 Es wäre dann methodologisch gerade das nicht mehr abgesichert, was wissenschaftlich betrachtet werden soll: die sinnstiftende ›Bekämpfung‹ funktionaler Grenzen des Menschen im Rahmen anthropologischer Erfahrungen, wie sie religiöse Narrative verhandeln und einer sinnstiftenden Transformation unterziehen.
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Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd.1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2 Bde., Berlin 3 2019, 254. Vgl. dazu die Annahmen Robert Bellahs zur Habitualisierung normativer Sinnkomplexe, dargelegt in Kapitel 4.2.3, bezogen auf Bellah, Religion, 179. Vgl. Nagel, Geist, 46.
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Dieses Transformationsparadigma zeitigt – so legen es die Forschungsergebnisse nahe – Konsequenzen im Verlauf der sozialen Evolution. Hier ist das grundlegende methodologische Problem benannt, auf das sich die nachfolgenden Reflexionen beziehen. Es wird ein wissenschaftliches Desiderat deutlich, das den erkenntnistheoretischen Ort der Religionsevolution betrifft. In der Folge ist also zu klären, inwieweit transzendent markierter Sinn eine evolutionsrelevante Form der Erkenntnis bereitstellt. Dazu wird eine methodologische Neuorientierung im Blick auf religiöse Erkenntnisformen als einem gemeinsamen Gegenstand von Anthropologie, Soziologie, Philosophie und Theologie notwendig. Im Rahmen der evolutionären Anthropologie und ihrer religionswissenschaftlichen Rezeption zeigen sich bereits erste Anschlüsse für dieses Vorhaben. Sie ergeben sich insbesondere über die Aufnahme der Theorie der ›Achsenzeit‹ in die Ergebnisdeutung. Sie bietet eine konkrete Heuristik in Bezug auf die Pragmatik religiöser Transformationsnarrative und -praktiken an. Diese ersten erkenntnistheoretischen Wendungen der Debatte um den evolutiven Status religiöser Transzendenzbezüge sollen im Folgenden nachgezeichnet und auf die konkrete Performanz von Sinnnarrativen im evolutiven Prozess hin angeschärft werden.
4.2. Die ›Achsenzeit‹ als Anwendungsfall religiöser Sinnperformanz? Zur Konkretisierung einer Suche nach dem erkenntnistheoretischen Ort religiöser Vollzüge im evolutiven Prozess dient im Folgenden ein religionsgeschichtlich und religionsphilosophisch gelagertes Beispiel für performative Wirksamkeiten von Religion: die Achsenzeitthese. Sie soll ausgehend von Karl Jaspers und in Bezug auf ihre aktuellen religionssoziologischen Wiederaufnahmen in der religionsevolutiven Debatte beleuchtet werden. Leitend ist hierbei die Annahme, dass die Theoriebildungen zur ›Achsenzeit‹ Impulse für die erkenntnistheoretische Bearbeitung der aufgezeigten Leerstellen bieten. Im Rahmen der in den achsenzeitlichen Gesellschaften aufkommenden religiös imprägnierten Kritiken erfolgt die Etablierung neuer Ordnungen. In diesen Transformationen lassen sich Eigenwirksamkeiten religiöser Narrative und Praktiken nachzeichnen. Diese Beobachtungen ermöglichen eine erste Hypothesenbildung bezüglich der erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Aushandlungsprozesse im Rahmen der menschlichen Evolution. Sie erfüllen auf diese Weise eine heuristische Scharnierfunktion hin zu den sozialphilosophischen Theorien im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Zur Aufschlüsselung dieses Verfahrens werden im Folgenden drei Einzelschritte vollzogen. Sie führen zur Entwicklung einer axialen Heuristik der Religionsevolution: Zunächst erfolgt eine Einführung in die prominente Grundierung der Achsenzeitthese durch Karl Jaspers (Kapitel 4.2.1). Dieser geht von einem weitreichenden weltgeschichtlichen Umbruch hin zu modernen menschlichen Denkweisen, Religionsvollzügen und Gesellschaftsmechanismen aus, der sich in mehreren Gesellschaften und Ländern parallel und doch unabhängig voneinander Bahn brach. Seine These in Bezug auf China, Indien, Griechenland, die südliche Levante und den Iran lautet: »Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß. Dort liegt der tiefste Ein-
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schnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese Zeit sei in Kürze die ›Achsenzeit‹ genannt.«17 Bereits die von Karl Jaspers verfolgten geschichts- und religionsphilosophischen Begründungszusammenhänge, die er an diese These knüpft, liefern gewinnbringende methodologische Impulse. Auf sie verweisen auch die aktuellen Reevaluierungen der These im Rahmen religionsevolutiver Überlegungen. Zugunsten einer Anwendung auf die religionsevolutiven Ergebniskomplexe gilt es daher anschließend, das bereits skizzierte methodologische Interesse im Sinne einer validen Rezeption der Achsenzeitthese zu unterfüttern. Hierzu dient Jan Assmanns Plädoyer für eine achsenzeitliche Heuristik sowie die Beobachtung erster Versuche einer solchen Lesart schon bei Shmuel Eisenstadt (Kapitel 4.2.2). Vor dem Hintergrund der rezipierten evolutionären Anthropologien soll dann eine (pragmatisch orientierte) Heuristik religiöser Sinnkonstitutionen entwickelt werden. In einem dritten Schritt führt diese Gesamtanlage schließlich zu den Überlegungen Robert Bellahs (Kapitel 4.2.3). Er verbindet evolutionäre Anthropologien mit den Beobachtungen achsenzeitlicher Phänomene und entwickelt daraus eine religionsevolutive Hermeneutik, die sich stark an einem performativen Verständnis religionsgeschichtlicher Entwicklungen als ›Spiel‹ festmacht. In seinem späten opus magnum »Religion in Human Evolution«18 aus dem Jahr 2011 entfaltet er eine interdisziplinär geweitete Soziologie der anthropologischen Evolution, die direkt auf die Beschäftigung mit der ›Achsenzeit‹ zuläuft. Dieser Befund überrascht zunächst, stellt die Periode der ›Achsenzeit‹ doch gegenüber den bis dato analysierten Zeit- und Entwicklungsperioden einen massiven Sprung dar und ist eigentlich – die grundlegenden soziokulturellen sowie kognitiven Errungenschaften voraussetzend – nicht mehr Teil des evolutionsanthropologischen Interessenfeldes, von dem Bellahs Werk seinen Ausgangspunkt nimmt. Als Soziologe nutzt er diesen Sprung jedoch als einen Analyseschlüssel, um die evolutiven Wurzeln der Religion auch soziologisch und im Letzten sozialphilosophisch zu durchdringen. Die Rede von der ›Achsenzeit‹ wird hier zu einem methodologischen Instrument: Bellah entwickelt ein multilineares Verständnis der religionsevolutiven Entwicklung des Menschen, das den soziokulturellen Evolutionsbegriff über funktionale Logiken hinaus erweitert. In diesem Kerninteresse liefert Bellah wichtige Impulse auch für eine theologische Einordnung der Religionsevolution angesichts der konkreten Wirkweisen menschlicher Sinnerkenntnis und ihrer Ausrichtung auf transzendente Logiken.
4.2.1. Die Achsenzeitthese von Karl Jaspers Karl Jaspers geht in seinen kulturhistorischen Beobachtungen von einer mehrere Kulturräume verbindenden ›Achsenzeit‹ zwischen dem 8. und 2. Jahrhundert v. Chr. aus. Er beruft sich dafür auf vergleichbare religionspolitische Verschiebungen in verschiedenen Gesellschaften dieser Zeit. Explizit bezieht er sich auf die chinesischen Philosophen und
17 18
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, hg. v. K. Salamun (Karl Jaspers Gesamtausgabe. Abteilung I: Werke 10), Basel 2017, 17. Bellah, Religion.
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Religionsgründer, primär Konfuzius und Laotse, den indischen Kontext mit dem Auftreten des Siddhartha Gautama Buddha, die griechische Philosophie und Dramatik sowie den im Iran lehrenden Zarathustra und die Propheten des Südreiches Juda, prominent etwa (Deutero-)Jesaja.19 Durch die Einführung neuer Denkweisen und damit verbundener Herrschaftskritiken sieht Jaspers die Menschheitsgeschichte in den verschiedenen Gesellschaften parallel verlaufend mit einem Bruch versehen. Diesen charakterisiert er als transformatorische Achse und hält fest: »In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. […] Bewußtheit machte noch einmal das Bewußtsein bewußt […] Durch diesen Prozeß wurden die bis dahin unbewußt geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelöst.«20 Über diese Selbsttranszendenz des Denkens sieht Jaspers dem ›mythischen Zeitalter‹ mit seiner direkten Verknüpfung zwischen irdischer Wirklichkeit und göttlichem Willen – etwa über die Vergöttlichung des Herrschers – ein Ende gesetzt. Dieser Bewusstseinswandel hatte Jaspers zufolge weitreichenden Konsequenzen für die jeweiligen Gesellschaftssysteme. Wer göttliche Akteur*innen beziehungsweise übergeordnete Prinzipien in einen Raum gedachter Transzendenz verlagert, der kann nicht mehr annehmen, es innerweltlich unmittelbar mit dem Göttlichen zu tun zu haben. Vielmehr bildet sich eine Sphäre gegenüber der Weltgesellschaft und ihren Funktionsweisen aus. Die auf diese Weise erworbene denkerische Freiheit über innerweltliche Geschehnisse hinaus verknüpft sich laut Jaspers mit einer neuen, transzendent geglaubten Autorität, die als Gegenüber das irdische Geschehen kritisch hinterfragt. Alles Diesseitige hat sich vor dem Jenseitigen zu bewähren. Im Licht religiöser Transzendenznarrative folgt daraus die Einsicht in die Kontingenz weltlicher Ordnung – sie wird zu einem veränderbaren und nicht mehr in sich selbst gerechten Konstrukt.21 Eine philosophisch beziehungsweise prophetisch eingeleitete Neuausrichtung der Denkbewegungen befähigt entsprechend dazu, das Denken selbst als konstruktiv-kritisches Momentum gegenüber der sozialen Wirklichkeit und gleichzeitig im Verhältnis zur transzendenten Sphäre als Tertium zu begreifen. In diesem Denkprozess entsteht laut Jaspers zweierlei: Zum einen wird eine temporär aktualisierte Sphäre des Transzendenten eingeführt. Sie kann personalgöttlich, als Idee oder aber im Sinne eines meditativ zu erreichenden Ausbruchs ins Nirvana verstanden werden.22 Sie stellt sich als gedanklich einholbares, aber menschlichen
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Da die Achsenzeitthese an dieser Stelle aus vorrangig methodologischem Interesse heraus rezipiert wird, soll nicht eigens auf die Details der erwähnten gesellschaftlichen und religionspolitischen Umwälzungen eingegangen werden. Robert Bellah liefert in seinem Werk lohnenswerte Detailkapitel zu den einzelnen Achsenzeitgesellschaften, die an dieser Stelle zur weiterführenden Lektüre empfohlen seien (vgl. ebd., 265–566). Jaspers, Ursprung, 17f. Vgl. Hans Joas, Was ist die Achsenzeit? Eine wissenschaftliche Debatte als Diskurs über Transzendenz (Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 29), Basel 2014, 6f. Diese Differenzierungen sind auch Jaspers sehr bewusst, er charakterisiert sie aber universal unter der Analysekategorie der Transzendenz (vgl. Jaspers, Ursprung, 19).
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Gedanken nicht gleiches Drittes dar. Zum anderen ergibt sich aus dieser transzendierten Metaperspektive eine innerweltliche, soziale Transformation: Der Mensch und seine soziokulturellen Organisationsformen werden kritisch hinterfragbar. Karl Jaspers entwickelt diese Achsenzeitthese im großen Gesamtzusammenhang des Werkes »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte«23 . Es ist als Versuch einer Geistesgeschichtsschreibung mit universalem, nicht aber deterministisch-evolutionistischem Anspruch angelegt.24 Die Ausformulierung seiner Achsenzeitthese fällt dabei in den ersten Teil des Buches (›Weltgeschichte‹). Auffällig ist, dass Jaspers eine viergliedrige Einteilung vornimmt, die zunächst an ein evolutionistisches und teleologisches Geschichtsverständnis erinnert.25 Diesem Eindruck wirkt er nicht zuletzt in der Anlage seiner Achsenzeitthese entschieden entgegen. Entsprechend erfolgt die weitere Verarbeitung seiner Ergebnisse im Schlussteil des Werkes im klar antideterministischen Duktus.26 Hier entwickelt Jaspers eine universalgeschichtlich angelegte Anthropologie, deren reflexive und politische Einflussfaktoren für ihn eine Kontingenz der Geschichte begründen.27 Diese geschichtsphilosophische Ausgangslage prägt auch das Interesse Jaspers’ an den Entwicklungen der ›Achsenzeit‹. Die vielschichtigen Bedingungsgefüge der von ihm untersuchten Kulturentwicklung verfolgt er nicht im Detail nach. Vielmehr geht es ihm um eine Universalisierung gesellschaftlicher Verständigungsbezüge durch die Darlegung ihrer Kultur- und Religionsverschiedenheiten übergreifenden Grundlagen. Hans Joas sieht hier eine kommunikations- und wertetheoretische Ausrichtung des Vorhabens begründet, das die komparatistisch angelegten religionssoziologischen Ausgangspunkte erweitert, indem es auf universale Transzendenzerfahrungen und ihre Folgen rekurriert.28 Damit verfolgt Jaspers, unter dem Eindruck der Ereignisse des zweiten Weltkriegs, auch das Ziel, ein verbindendes Verständnis der Menschheit zu entwickeln. Dieses Vorhaben erweist sich methodisch als »Versuch[en], über den historischen Relativismus hinauszugelangen, ohne mit der Einsicht zu brechen, daß auch universalistische Geltungsansprüche nicht in der ›Vernunft‹ als solcher fundiert sind, sondern aus einer kontingenten Geschichte hervorgehen […].«29
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Ebd. Vgl. ebd., Einleitung d. Hg., Xf. Die Einteilung erfolgt entlang der Kategorien ›Vorgeschichte‹ – ›alte Hochkulturen‹ – ›Achsenzeit‹ – ›wissenschaftlich-technisches Zeitalter‹. Vgl. Jaspers, Ursprung, Einleitung d. Hg., XI. Vgl. ebd., Einleitung d. Hg., XIII. Vgl. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017, 301. Ebd., 303.
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So verbindet Jaspers seine kulturhistorischen Vergleiche immer schon mit einer auf die Moderne angewandten Hermeneutik.30 Ob und inwieweit diese Thesenbildung tatsächlich als historisch nachweisbare Epochengrenze geführt werden kann, ist mittlerweile stark umstritten. Neben der Argumentation für eine konkret epochenbasierte Lesart,31 wird vermehrt für eine eher hermeneutisch orientierte Lektüre der Merkmale der ›Achsenzeitkulturen‹ plädiert. In diesem Zuge ist allgemein von ›Axialität‹ die Rede. ›Axialität‹ wird dann als Phänomen gesehen, das sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen wiederholt analysieren lässt. In diesem Zuge wird diskutiert, ob die Betonung der ›Achsenzeit‹ als Epoche zu kurz greift und nicht vielmehr als historisches Beispielphänomen für allgemeine soziokulturelle Transformationsmechanismen plausibilisiert werden kann. Der Gewinn von Jaspers’ Achsenzeitthese wird dann in der Erschließung eines kulturanalytischen Instrumentariums gesehen. Diesem Rezeptionsinteresse folgt die vorliegende Arbeit auch vor dem Hintergrund der großen zeitlichen Diskrepanz zwischen den von der evolutionären Anthropologie untersuchten Gesellschaften und den von Jaspers so genannten ›Achsenzeitgesellschaften‹.
4.2.2. Jan Assmanns heuristische Rezeption der Achsenzeitthese Einen Schlüssel für die angestrebte methodologische Rezeption der Achsenzeitthese bieten die Überlegungen von Jan Assmann. Er widmet der These eine eigene Monographie32 und führt sie darin als einen der »wirkmächtigsten wissenschaftlichen Mythen der Moderne«33 ein. Zugleich setzt er sich zum Ziel, die Rede von der ›Achsenzeit‹ als eine »kulturanalytische Heuristik«34 zu reevaluieren. Er sieht wenig Anhaltspunkte dafür, die ›Achsenzeit‹ wie Jaspers in einer pointierten Epoche zu verorten. Stattdessen macht er in den Überlegungen Jaspers’ ein allgemeines kulturanalytisches Repertoire aus, welches sich in Stichworten wie »reflexivity, individuality, interiority […], progress in abstraction and intellectuality, theory, critique of tradition, differentiation, transcendental concepts or visions«35 subsumieren ließe. Ein an diesen heuristischen Kernpunkten orientiertes Erkenntnisinteresse jenseits geschichtswissenschaftlicher Epocheneinteilungen unterstellt Jan Assmann bereits den Ausführungen von Karl Jaspers. Anders als im Titel von Jaspers suggeriert, gehe es ihm
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Vgl. Jan Assmann, Transkulturelle Theorien – am Beispiel von Jaspers’ Achsenzeit-Konzept, in: Mario Grizelji – Oliver Jahraus (Hgg.), Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften, München 2011, 261–271, hier: 262f. Vgl. die sehr ausgewogene und breite Diskussion und Argumentation einer ›Rehistorisierung‹ der Achsenzeitthese im Lichte ihrer Diversität bei Johann P. Arnason, Rehistoricizing the Axial Age, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 337–365. Vgl. Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München 2018. Ebd., 18. Ebd., 283. Ders., Cultural Memory and the Myth of the Axial Age, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 366–407, hier: 400.
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weniger um den ›Ursprung der Geschichte‹, als vielmehr um das Verständnis menschlicher Existenz im Rahmen einer philosophisch abstrahierenden Kommunikationsgemeinschaft.36 Dieser Fährte folgend, arbeite sich Jaspers demnach an einer anthropologischen Konstante ab, die sich als eine kritisch-sinngebende Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Selbstverständnisses bezeichnen ließe. Entsprechend begreift Jan Assmann das Kriterium axialer Transformation als entkoppelt von einem konkreten Epochenbruch, den Jaspers skizziert. Er geht davon aus, »dass Jaspers mit diesem Kriterium von ›Axialität‹ den Punkt getroffen hat, wo die Kontinuität vorachsenzeitlichen und achsenzeitlichen Denkens am klarsten zutage tritt, obwohl er selbst mit diesem Kriterium einen Unterschied markieren wollte.«37 Mit dieser Beobachtung verknüpft Assmann auch sein eigenes Interesse an der ›Achsenzeit‹: Er führt ›Axialität‹ als eine breite kulturanthropologische Analysekategorie ein. In der von Jaspers historisch festgelegten ›Achsenzeit‹ sieht er lediglich ein prominentes Beispiel für die kommunikative Erschließung neuer »Horizont[e] gegenseitiger Verständigung«38 , die ›axiale‹ Denkweisen ausmacht. Die Überbetonung des Bruchs zwischen präaxialen und axialen Kulturen problematisiert er entsprechend.39 Dagegen konstatiert Assmann eine schrittweise Entwicklung menschlicher Kulturvollzüge und ihrer Selbstreflexion, die immer wieder axiale Denkformen und Transformationen hervorrief. Axialität beschreibe in diesem Sinne eine Grundkomponente der gesamten anthropologischen Entwicklung. Assmann argumentiert dafür, das Verständnis der ›Achsenzeit‹ »vom Status eines Epochenbegriffs wieder auf den einer Heuristik«40 zu verlagern. In dieser Spur verweist er auf die Rezeption der Achsenzeitthese durch den Soziologen Shmuel N. Eisenstadt. Assmann bescheinigt Eisenstadt eine neue Fokussierung auf »kulturanalytische und kultursoziologische […] Fragestellungen«41 , die er als eine erste Verbindungslinie zur von ihm geforderten heuristischen Interpretation von Axialität versteht. In diese Tradition stellt Assmann auch seine eigenen Überlegungen. ***
Exkurs: Shmuel N. Eisenstadts modernitätstheoretische Neuauflage der Achsenzeitthese Der Soziologe Shmuel Noah Eisenstadt spricht sich für eine Wiederaufnahme der Achsenzeitthese in das sozialanthropologische ›Erklärungsmaterial‹ aus. Er geht von einem gesellschaftlichen Ursprung der Moderne in verschiedenen Achsenzeitgesellschaften aus. Die Achsenzeitereignisse sieht er als eine Entwicklung idealtypischer sozialer und denkerischer Grundlagen revolutionärer Kräfte. Diese fänden sich schließlich auch in den zahlreichen, die verschiedenen Modernen auslösenden Revolutionen wieder 36 37 38 39 40 41
Vgl. Ders., Achsenzeit, 180.183. Ebd., 195. Ebd., 202. Vgl. Ders., Theorien, 266. Ders., Achsenzeit, 266. Ebd., 21.
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und machten sie sozialanalytisch erfassbar.42 Eisenstadt wendet die Merkmale der ›Achsenzeit‹ somit als ein Analyserepertoire an. Im Anschluss an seinen Lehrer Talcott Parsons wird die ›Achsenzeit‹ bei Eisenstadt auf diese Weise über einen reinen Epochenbegriff hinaus zu einem pragmatisch begründeten Erklärungsmodell menschlicher Gesellschaftsentwicklungen und ihrer multiplen Einflussfaktoren. In diesem Zusammenhang ist besonders die Verbindung der Überlegungen Eisenstadts zur Parsons’schen Ordnungstheorie hervorzuheben. Talcott Parsons wendet sich mit ihr gegen teleologische Evolutionismen in der Geschichtsphilosophie. Zugleich steht er vor der Herausforderung, evolutionstheoretische Überlegungen in seine Soziologie aufnehmen zu wollen.43 Vor diesem Hintergrund versucht er, sozialen Wandel multidimensional zu beschreiben und verschiedene gesellschaftliche Transformationsfaktoren herauszuarbeiten44 Mit diesem Ansatzpunkt unternimmt er eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber teleologischen und evolutionistischen Modellierungen. Die von ihm hervorgehobene Mehrdimensionalität gesellschaftlicher Systeme und ihrer Transformationen macht erstmals das Parallellaufen von Entwicklungen als einen eigenen soziologischen Faktor deutlich, statt auf scharfe Abgrenzungen und klare Zielsetzungen zu rekurrieren. Den Schlüssel zu einer Analyse der multiplen Einflusskomplexe sieht Parsons in einer handlungstheoretischen Analyse gesellschaftlicher Systematisierungen. Die Herausforderungen funktionaler Anpassungsleistungen solcher Systematisierungen verortet er im Spannungsfeld zwischen dem Organismus in seiner Umwelt und den Erwartungssystemen kultureller Bedeutungskonstrukte.45 Innerhalb dieses Spannungsfeldes entwirft er verschiedene Einflussdimensionen auf funktional ausgerichtete Anpassungsleistungen kultureller (auch religiöser) Systeme. Sie bewegen sich Parsons zufolge zwischen der Notwendigkeit der Anpassung an Umwelt- und Systemproblematiken zur Sicherung gesellschaftlicher Stabilität und der erfolgreichen (Re-)Integration notwendiger Transformationen in ihr soziales Gefüge.46 Aus dieser Dialektik entwickelt Parsons eine neue sozialevolutive Axiomatik: Er wendet sich von einem aufklärerisch-geschichtsphilosophischen Durchbruchschema ab und ist dadurch in der Lage, auch religionssoziologisch neue Öffnungen vorzunehmen. Seine mehrdimensionale Betrachtung ermöglicht es ihm, gesellschaftshistorisch begründet die Rolle der Religion in aufklärerisch-transformativen Modernisierungsprozessen zu betonen. In diesem Zuge wendet er sich klar gegen den soziologischen Mainstream seiner Zeit.47 Er versteht der Tradition Durkheims folgend religiöse Symbolsysteme
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Vgl. zu dieser Theorieanlage besonders die Einleitung und Rahmung seiner Modernitätsthesen in Shmuel N. Eisenstadt, Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne, übers. v. U. Brandhorst, Wiesbaden 2006, 11–19. Vgl. Hans Joas – Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen (Stw 1669), Frankfurt a.M./Berlin 5 2017, 131f. Vgl. ebd., 133. Vgl. Sigrid Brandt, Religiöses Handeln in moderner Welt. Talcott Parsons’ Religionssoziologie im Rahmen seiner allgemeinen Handlungs- und Systemtheorie, Frankfurt a.M. 1993, 131. Vgl. Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, übers. v. N. T. Lindquist (Stw 106), Frankfurt a.M. 3 2016 [1966], 39–45. Vgl. Joas – Knöbl, Sozialtheorie, 137–139.
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als massive Treiber gesellschaftlicher Solidarität.48 Aus der Kombination zwischen multiplen Einflussfaktoren menschlicher Handlungsspektren und systemischen Sozialsettings heraus schafft er eine theoretische Grundlage für ein komplexes Verständnis sozialer Wandlungsprozesse. Es verortet sie jenseits statischer Strukturen und evolutionistischer Fortschrittsmodelle, ohne dabei die Analyse soziokultureller Evolution als solche aufzugeben.49 Diese methodologischen Verschiebungen schärfen Parsons Blick für die Transformationskraft kultureller Symbolsysteme. Die Achsenzeitgesellschaften dienen ihm dafür als wichtigstes Beispiel und konkretes Beobachtungsfeld für seine theoretischen Überlegungen. Shmuel N. Eisenstadt orientiert sich in seinen Überlegungen an dieser Wiederaufnahme der Achsenzeitthese. Er arbeitet sich produktiv an den Thesen seines Lehrers Parsons ab und entwickelt eine sozialanalytische Hermeneutik. Sie erschließt neue geistesphilosophische Anknüpfungspunkte, die monolineare, funktionalistische Fokussierungen sozialevolutiver Überlegungen zur Religion um weitere Faktoren ergänzen.50 Dazu kombiniert er sozialsystemische und handlungstheoretische Analyseannahmen und nutzt die ›Achsenzeit‹ als idealtypisches Exempel für die fortlaufenden Transformationsprozesse, denen Kulturen unterliegen. Diese Transformationsprozesse ergeben sich ihm zufolge aus einem komplexen Konglomerat aus Sozialstrukturen und reflexiven Kommunikationsformen. Dieses Konglomerat sei in den achsenzeitlichen Durchbrüchen, die Jaspers beschreibt, als Bündel beobachtbar. Ausgehend von den Thesenbildungen bei Parsons nutzt Eisenstadt die Beobachtung dieser parallellaufenden achsenzeitlichen Umwälzungen für eine Ausdifferenzierung der Verhältnisbestimmung zwischen Sozialstrukturen, sozialen Handlungen und Symbolkommunikationen. Diese sozialanalytische Kombination aus pragmatischen und systemtheoretischen Überlegungen führt zu einem deutlich ausdifferenzierten Kultur-, Institutions- und Gesellschaftsverständnis. Es ergänzt rein strukturfunktionalistische Argumentationen um den Einflussfaktor sinngebender, metaperspektivischer Aushandlungsprozesse. Eisenstadt zufolge »entwickelten sich Konzepte von einer Welt jenseits der unmittelbaren Grenzen der jeweiligen Gesellschaften«51 . Daraus leitet er eine aufschlussreiche Beobachtung ab: »The fact that the potentialities of the crystallization of Axial symbolic and institutional formations were dependent on broader evolutionary factors attests to the fact that the tendency toward continuous expansion of the range of human activities,
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Vgl. Gerhard Preyer, Zur Aktualität von Shmuel N. Eisenstadt. Einleitung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler/innen), Wiesbaden 2011, 66. An dieser Kombination aus Handlungsimpulsen und systemischen Mechanismen orientieren sich in der Folge auch Shmuel Eisenstadt und Robert Bellah sowie Clifford Geertz in seinem semiotischen Kulturbegriff. Es ergibt sich eine wegweisende methodologische Rekombination aus handlungstheoretischen und systemtheoretischen Elementen, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit immer wieder zum Tragen kommen wird. Im Rahmen der Beschäftigung mit Niklas Luhmann und Jürgen Habermas ergibt sich daraus eine soziologische Grundlage für eine theologische Rezeption der evolutiven Anthropologie (vgl. dazu Kapitel 9 der vorliegenden Arbeit). Vgl. Joas – Knöbl, Sozialtheorie, 446f. Eisenstadt, Revolutionen, 56.
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the tendency toward a growing complexity of social structures, to the ›rationalization‹ and problematization of symbolic realms and of criteria for the justification of human activities and of social order is, at least potentially, inherent in all human societies.«52 Eisenstadt setzt komplexe Interdependenzen und ihre kritische Reflexion hier als einen grundsätzlichen Evolutionsfaktor voraus. Die damit einhergehenden Erkenntnisschübe versteht er als Auslöser ›axial‹ zu bezeichnender Umwälzungen, die zur Stabilitätserhaltung in Gesellschaften bleibend notwendig sind. Das Analyseinstrument der ›Axialität‹ vermittelt in den Untersuchungen Eisenstadts so eine soziologische Komplexitätssteigerung: Über das Kriterium multidimensionaler, axialer Bruchmomente entwirft Eisenstadt ein verändertes Verständnis soziokultureller Evolution. Es nimmt die Kontingenzen gesellschaftlicher Transformationsprozesse sowie ihre komplexen systemischen und handlungstheoretischen Einflussfaktoren ernst. Zugleich blendet Eisenstadt Funktionen, die transzendent angelegte Symbolisierungen innerhalb dieses Prozesses erfüllen, nicht einfach aus. Vielmehr bringt ihn gerade der achsenzeitliche Bezugspunkt seiner Theorie zu einem breiten Verständnis von Religion als einem evolutiv eigenwirksamen Faktor. Damit entwirft er ein Modell kultureller Evolutionsmechanismen, das sich jenseits eines strukturfunktionalistischen Naturalismus verortet. Eisenstadt spricht kollektiven Aushandlungsprozessen und Sinnnarrativen innerhalb von systemisch ablaufenden Transformationsprozessen eine eigene Rolle zu. Dieser neue Erkenntnisrahmen verdankt sich Eisenstadts methodologischer Reevaluation der Achsenzeittheorie zugunsten einer Kombination systemischer und handlungstheoretischer Überlegungen. Der daraus erwachsene Evolutionsbegriff kann – wie zu zeigen sein wird – ein erhebliches Potenzial auch für die Rezeption der neueren Ansätze der evolutionären Anthropologien und der in ihnen zur Disposition stehenden Religionsverständnisse entfalten. *** Die dargestellte Einbettung der Achsenzeitthese bei Shmuel Eisenstadt versteht Jan Assmann als ein erstes Beispiel einer breiten methodologischen Lesart von Axialität. Eisenstadt benutze »die als gegeben vorausgesetzte Achsenzeit (Thema) als Rahmen und Hintergrund […], um die kulturspezifischen Ausprägungen des ›Axialen‹ zu untersuchen (Rhema).«53 Dieser theoriegeschichtlichen Spur folgt Assmann und reflektiert mit ihr die konkrete entwicklungstheoretische Bedeutung kritischer Metaperspektiven auf gesellschaftliche Systematiken. Ihr konzentriertes Auftreten in der ›Achsenzeit‹ versteht er in diesem Zuge als ein analytisches Brennglas, unter dem die verschiedenen systemischen Stränge soziokultureller Transformationsprozesse besonders dicht gebündelt zu beobachten sind.54 Es erschließt sich dann, inwieweit die Konstruktion einer kritisch-sinnge-
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Ders., The Axial Conundrum between Transcendental Visions and Vicissitudes of Their Institutionalizations. Constructive and Destructive Possibilites, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 277–293, hier: 288f. Assmann, Achsenzeit, 259. Vgl. ebd., 259f.
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benden Metaperspektive als eine allgemeine Bedingung zur Entwicklung eines menschlichen Selbst- und Sozialbewusstseins zu verstehen ist. Assmanns Ziel ist es, die konkrete Verortung religionsbasierter, axialer Diskursformen im Gesamtkomplex der menschlichen Entwicklung auszumachen. Diese heuristische Weitung erlaubt eine Anwendung axial orientierter Religionshermeneutiken auch auf die Religionsevolution und ihre kognitiven und sozialen Entwicklungsmechanismen: Mit der Ausbildung intentionaler Kompetenzen wird evolutionsgeschichtlich erstmals eine universale Reflexionsperspektive gegenüber der natürlichen und sozialen Umwelt eingenommen. Sie löst neue, komplexe kommunikative Aushandlungen gemeinsamer Zielsetzungen aus. In diesem Sinne wird ein ›axial‹ organisierter Diskursprozess eröffnet. Er verfestigt sich schließlich in religiösen Transzendenzvorstellungen, Ritualen und Schriftzeugnissen. Mit ihnen entstehen neue soziokulturelle Systematiken und gefestigte Erwartungssysteme. Es wird deutlich, dass Transzendenzbezüge als soziokulturelle Achsen agieren: Sie hinterfragen gesellschaftliche Gefüge, zeigen ihre Veränderlichkeit auf und markieren so einen konkreten Bedarf an universalem Sinn. Zugleich unterliegt ihre vermeintliche, material verbürgte Verstetigung selbst dem Transformationsdruck, den sie erzeugen.55 Ein evolutiv hoch wirksames Spannungsgefüge entsteht. Es verweist auf die Möglichkeit einer analytischen Übertragung des Aspektes der Axialität auf das Gesamt anthropologischer Evolution und bietet damit einen ersten hermeneutischen Rezeptionsschlüssel auch für die vorliegende Arbeit. Er erschließt ein multidimensionales Modell der evolutiven Eingebundenheit und Wirksamkeit transzendenter Bezugsformen und betont ihre Transformationskraft in sozialen Entwicklungsprozessen: Schon im Rahmen der Kognitionspsychologie zeigt sich, dass sich transzendente Bezüge stets entlang von entwicklungsgeschichtlichen Achsen zwischen systemischen Automatismen und handlungsbasierter Deutungsmacht gruppieren. Transzendenzbezüge reflektieren die multiplen biologischen und sozialen Entwicklungsfaktoren, mit denen Menschen sich im Verlauf der Evolution konfrontiert sehen. Auf diese Weise verhelfen sie dem Menschen zu einem neuen Komplexitätsbewusstsein. In diesem Sinne wird deutlich, dass Gesellschaften und ihre Sinnbezüge stets in der Spannung stehen, mächtige Deutungen dieser Komplexität einerseits hervorzubringen und andererseits ihr stets selbst zu unterliegen. Diese Relativierung der Gegenwart geht mit einer immensen Bedeutungssteigerung jenseitiger Sinnhorizonte einher, ohne dass sie sich dadurch immanenter Kritik entziehen könnten. Auch der ›Sinn des Sinns‹ bleibt auf evolutive Achsen der Entwicklung verwiesen und kann gegenüber den Komplexitätssystematiken nicht immunisiert werden. Eine Stummschaltung dieses anthropologischen Spannungsfeldes bedeutete letztlich die erkenntnistheoretische Preisgabe des transzendenten Sinnpoten-
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Vgl. dazu die Thesen zur ambivalenten Rolle von Schriftzeugnissen als Medien der sozialen Kanonisierung im Rahmen religiöser Umbruchsprozesse bei Jan Assmann, Evolution durch Schrift, in: Harald zur Hausen (Hg.), Evolution und Menschwerdung (Nova acta Leopoldina. NF 93/345), Stuttgart 2006, 181–194; sowie Gerhard Larcher, Mediating Meaning. Religion und Kunst im Horizont von Medien und Medialität, in: Edmund Arens (Hg.), Gegenwart. Ästhetik trifft Theologie (QD 246), Freiburg i.Br. 2012, 179–201; sowie Assmann, Memory.
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zials. Dieser Einsicht muss auch ein evolutionsanthropologisches und erkenntnistheoretisches Analyserepertoire entsprechen.
4.2.3. Robert Bellahs performative Religionshermeneutik Dem erörterten Spannungsfeld widmet auch Robert Bellah in seinen Überlegungen zur Religionsevolution eigene Aufmerksamkeit. So ist es kein Zufall, dass Jan Assmann sein Plädoyer für eine heuristisch orientierte Lesart der ›Achsenzeit‹ mit einer Rezeption dieses Werkes enden lässt. Er beobachtet in der Theorieanlage von Robert Bellah, wie er »bei aller diskontinuierlichen Stufengliederung des geistigen Entwicklungsganges der Menschheit den Aspekt der Kontinuität im Blick behalten«56 hat. Robert Bellah schließt seine Beschäftigung mit der ›Achsenzeit‹ entsprechend direkt an seine Rezeption der evolutionären Anthropologie an. Er beobachtet im Gesamtprozess religiös geprägte, axiale Entwicklungsschübe. Diese ›heuristische Anwendung‹ der Achsenzeitthese auf die Religionsevolution, die Robert Bellah vornimmt, soll im Folgenden als ein erster Rezeptionsschlüssel dienen. Sie wird als ein religionshistorisches Begründungssetting für ein durchgängig performatives Verständnis von Religion und ihrer evolutiv-anthropologischen Einbindung gelesen. In diesem Zuge kann der von Assmann vorgeschlagene heuristische Rezeptionsrahmen nochmals erweitert werden. Die Entwicklung eines performativen Verständnisses der Religionsevolution und ihre Konkretion in material greifbaren Gesellschaften der ›klassischen‹ Achsenzeitepoche liefern Anhaltspunkte für eine sozial- und religionsphilosophisch begründete Rede von der sinngebundenen Transformationskraft religiöser Narrative und Praktiken. Die Modellierungen Bellahs bieten daher auch Anknüpfungspunkte für eine theologische Integration evolutionsanthropologischer Grundparadigmen. Sie binden die Dynamik der transzendenzorientierten Sinnerschließung sozialevolutiv zurück. 1. Ausdifferenzierung des Wirklichkeitsbegriffs Robert Bellah grundiert den von ihm abgeschrittenen Bogen zunächst anhand einer breiten Propädeutik im Rahmen seines Vorwortes und seines ersten Kapitels. Letzteres überschreibt er mit dem aufschlussreichen Titel »Religion and Reality«57 . Dieser im Titel angedeutete Einstieg prägt Bellahs gesamte Theoriebildung und ihr Selbstverständnis. Sie arbeitet sich am Wirklichkeitsbezug und -einfluss transzendenter Bezüge ab. Bellah versucht dazu zunächst, die Entstehungsbedingungen von Religionen entlang der Verhältnisbestimmungen zwischen religiösen Weltdeutungen und ›Alltagsrealitäten‹ abzustecken. Dabei folgt er Alfred Schütz’ Modell der ›mannigfaltigen Wirklichkeiten‹ (im englischen Original »multiple realities«58 ), mit dem Schütz menschlich konstruierte Weltordnungen beschreibt. Schütz versteht die verschiedenen menschlichen Wahrnehmungsformen als an verschiedene Formen der Wirklichkeitskonstruktion gebunden.
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Assmann, Achsenzeit, 279. Bellah, Religion, 1. Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten [1945], in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, übers. v. B. Luckmann u. R. Grathoff, Den Haag 1971, 237–298.
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Diese seien jeweils als »geschlossene Sinnbereiche«59 organisiert. Diesem differenzierten Wahrnehmungsverständnis schließt er ein verändertes Wirklichkeitsverständnis an, wenn er davon ausgeht, dass jeder dieser Bereiche einen eigenen »Wirklichkeitsakzent«60 setzt. Schütz entwirft auf diese Weise einen explizit subjektiven Wirklichkeitsbegriff. ›Wirklichkeit‹ versteht er als gebunden an den sinngebenden menschlichen Weltumgang. Er argumentiert, ›Wirklichkeit‹ sei der »subjektive Sinn, den der Mensch bestimmten Erfahrungen seines eigenen spontanen Lebens gibt.«61 Infolgedessen könne von multiplen, situationsabhängigen Wirklichkeiten gesprochen werden, die sich an verschiedene Wahrnehmungsfokussierungen binden. Auch Robert Bellah unterscheidet angelehnt an dieses Modell zwischen Bereichen der Alltagswelt(-deutung) und anderen, multiplen Realitäten, die nicht der alltäglichen Logik zweckgebundener Weltwahrnehmung entsprächen.62 In diesem Zuge ergänzt er die Überlegungen von Schütz um den semiotischen Religionsbegriff von Clifford Geertz63 und führt Religion als eine in der Erfahrung angesiedelte Eigenwirklichkeit gegenüber der »world of daily life«64 ein. Diese Abgrenzung macht er an drei grundlegenden Merkmalen der Alltagswelt fest, denen sich die Welt der Religion entzöge: Die Alltagswelt vollziehe sich in einer »standard time« (1) und einem »standard space«65 (2) und sei – so bereits bei Schütz – geprägt von einer »grundlegenden Sorge«66 (3) angesichts des Bewusstseins um die eigene Endlichkeit. Bellah beschreibt in dieser Modellierung, was in der vorliegenden Arbeit in analoger Weise aus den Ergebnissen der evolutionären Anthropologie abgeleitet werden konnte. Parallel zur hier angesprochenen Zeitsphäre knüpft Bellahs Einstieg an das herausgearbeitete Zeitproblem der Endlichkeit an (1). Die Rede von standardmäßigem Raum verknüpft sich mit dem bereits dargestellten Komplexitätsproblem, da der (soziale) Raum einem stetigen Wandel und wachsender Komplexität unterworfen ist (2). Schließlich trifft eine diesen Alltagsraum ausfüllende fundamentale Angst das, was im Rahmen dieser Arbeit zuvor als Sinnproblem benannt wurde (3). Im Rahmen dieses analytischen Profils versteht Bellah den Bereich der Religion als größte Wirklichkeitssphäre jenseits der angesprochenen Alltagswelt.67 Ihre Narrative und Praktiken bieten ihm zufolge eine Handlungspragmatik mit eigenen Regeln an. Diese Annahme verknüpft er mit der Unterscheidung des Psychologen Abraham Maslow zwischen zwei Formen der Kognition: der ›Being-Cognition‹ und der ›Deficiency-Cognition‹.68 Letztere sei geprägt von der fundamentalen Sorge um das Überleben. Sie führe zu einer starken Konzentration der Handlungen auf funktionale, arbeitende Tätigkei-
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Ebd., 264 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., 264. Ebd., 240. Vgl. Bellah, Religion, 1–4. Vgl. dazu insbesondere Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Stw 696), Frankfurt a.M. 1987, 44–95. Bellah, Religion, 2. Ebd., 2 [Hervorhebungen im Original]. Schütz, Wirklichkeiten, 262 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Bellah, Religion, 4. Vgl. ebd., 5.
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ten.69 Dagegen erschließe die ›Seinskognition‹ einen ganz anders gelagerten Zugang zur Welt, der primär nach einem partizipatorischen Erleben aktiver Weltbearbeitung strebe.70 Robert Bellah versteht diese Kognitionsdisposition als die Fähigkeit des Menschen, Alltagserfahrungen zu transzendieren und sich dadurch temporär einem primär von Alltagsmodalitäten geprägten Weltzugang zu entziehen. Daraus zieht er Rückschlüsse auf die Erkenntnisform religiöser Narrative und geht davon aus, dass »because B-[Being-, JU] experiences are so frequently reported in religious literature, they may provide an initial mode of entry into the particular way that people experience the world religiously […].«71 Die Gegenüberstellung zwischen Defizienzkognition und Seinskognition erweitert die Schütz’sche Unterscheidung zwischen Alltagsrealität und transzendenten Weltdeutungen: Die Kennzeichnung des alltäglichen Weltzugangs als von Defizienz geprägt, verortet die auch evolutiv plausibilisierte anthropologische Grunddisposition der Begrenztheit direkt im Rahmen der transzendenzbasierten Erfahrungszugänge selbst. Die Fragilität der eigenen kognitiven Leistungsfähigkeit und die Einsicht in die eigene Endlichkeit sind also immer schon (und das heißt alltäglich) Gegenstände der menschlichen Erfahrung. Sie sind kein nachträgliches Konstrukt. In einem zweiten Schritt zeigt sich aber auch, dass das bewusste Defizienzerleben auf eine Transzendierung dieser Erfahrungen verwiesen ist. Indem alltägliche Erfahrungen als Defizienzerfahrungen kognitiv verarbeitet werden, erfährt das konkrete Erleben von Begrenztheit eine Virtualisierung und kann als solches codiert und verstanden werden. Aus dieser erkenntnistheoretisch gelagerten Beobachtung heraus leitet Bellah daher eine veränderte Wirklichkeitsdefinition ab: In seiner Rede von den »overlapping realities«72 erfährt der Wirklichkeitsbegriff eine Pluralisierung und wird deutlich an Geertz’ textuell gedachten Kulturbegriff angelehnt. Bellahs erkenntnistheoretisch differenziertes Wirklichkeitsverständnis propagiert keine einfache Abgeschlossenheit und Trennung der verschiedenen Wahrnehmungs- und Deutungssphären der Wirklichkeit, sondern nimmt ihre komplexen gegenseitigen Beeinflussungen in den Blick. Solche überlappenden Realitäten ermöglichen nach Bellahs Modell überlappende Bedeutungszuschreibungen und eröffnen Deutungsräume. Diese weisen dann über eine reine Fokussierung auf die Alltagsfunktion von Gegenständen und Personen hinaus.73 Durch den temporär begrenzten Erfahrungszugang jenseits der Defizienzkognition erschließt sich ein erweitertes Erleben der ›Realität‹.74 Diese erweiterten, symbolischen
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70 71 72 73 74
Alfred Schütz nimmt eine ähnliche Unterscheidung vor, wenn er zwischen ›Wirken‹ (engl. Original »working«) und vorausgeplantem, intentional entworfenem ›Handeln‹ differenziert (vgl. Schütz, Wirklichkeiten, 242f.). Vgl. Bellah, Religion, 5. Ebd. Ebd., 8. Vgl. ebd. Vor dem Hintergrund der differenzierenden Unterscheidung zwischen Seinskognition und (alltäglicher) Defizienzkognition schließt der hier verwendete Realitätsbegriff immer schon das Moment der Transzendenz als Virtualisierung von Erfahrungen mit ein.
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Wirklichkeitsdeutungen übersteigen Notwendigkeiten und funktionale Mechanismen des Alltags. Bellah spricht in diesem Zusammenhang von einen temporären Autonomieraum, einem ›beyond‹.75 2. Erkenntnistheoretische Ableitungen Robert Bellah leitet aus dieser erkenntnistheoretischen Grundlegung schließlich eine performative Hermeneutik der religiösen Evolution ab. Er rezipiert dazu neben den Modellen von Alfred Schütz auch den Symbolbegriff Paul Tillichs und unterfüttert ihn kognitionstheoretisch. Tillich grenzt sein Symbolverständnis von einem ›einfachen‹ semiotischen Zeichenverständnis ab, indem er Symbolen eine eigene, realitätskonstruierende Kraft jenseits reiner Bezeichnungslogiken zuschreibt. Er unterscheidet daher zeichenhafte Symbole von religiösen Symbolen.76 Letztere repräsentierten keine arbiträren Zuschreibungen auf Alltagsobjekte und -gegebenheiten, sondern Sinn.77 Entgegen einer klassisch semiotisch organisierten Direktzuschreibung betont Tillich die symbolisch erschlossene und ins Wort gebrachte Unverfügbarkeit des transportierten Sinns. Er geht davon aus, dass Symbole auf etwas verweisen, »das nicht unmittelbar ergriffen werden kann, sondern das indirekt ausgedrückt werden muß.«78 Aus dieser Symboldefinition begründet Tillich schließlich die Unmöglichkeit der Anwendung empirisch-induktiver Methoden im analytischen Umgang mit religiösen Symbolen. Sie bewegten sich schließlich jenseits material fassbarer Bezeichnungsgrundlagen.79 Mit der gleichen methodologischen Herausforderung sieht sich auch Robert Bellah in seinen Arbeiten zur Religionsevolution konfrontiert. Er verortet den symbolischen Output und die phänomenologischen Verschiebungen nichtalltäglicher Welterschließung dennoch im Rahmen kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse.80 Er hält fest: »Without the capacity for symbolic transcendence, for seeing the realm of daily life in terms of a realm beyond it, without the capacity for ›beyonding‹, as Kenneth Burke put it, one would be trapped in a world of what has been called dreadful immanence. For the world of daily life seen solely as a world of rational response to anxiety and need is a world of mechanical necessity, not radical autonomy.«81 Es ergibt sich eine Kombination aus einem semiotischen, phänomenologischen und pragmatischen Religionsbegriff, der nicht auf seine bloße Alltagsfunktion reduziert werden kann. Die Verknüpfung erfolgt in den Überlegungen Bellahs über die Profilie-
75 76 77 78 79 80
81
Vgl. Bellah, Religion, 8–10. Vgl. Paul Tillich, Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 3 1986, 3. Vgl. Hans Joas, Einführung, in: Robert N. Bellah, Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit, hg. v. H. Joas; übers. v. C. Pries, Freiburg i.Br. 2020, IX–XXVI, hier: XIII. Tillich, Symbol, 4. Vgl. ebd., 7. Für eine breiter angelegte, symbolbasierte Lesart der evolutiven Anthropologie und der entsprechenden kognitiven Voraussetzungen symbolbasierter Kommunikation vgl. Terrence W. Deacon, The Symbolic Species. The Co-evolution of Language and the Brain, New York (NY) 1997. Bellah, Religion, 9.
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rung einer Eigenwirksamkeit (Performanz82 ) religiöser Erschließungsfunktionen. Sie siedelt sich laut Bellah räumlich und zeitlich als ein Jenseits der Alltagsdispositionen an und erschließt eine neue Form der Weltwahrnehmung im angesprochenen Modus des ›beyond‹. Die Bedingung der Möglichkeit solcher Transzendenzerfahrungen bleibt für Bellah dabei eingebettet in die Kognitionskapazitäten und verwirklicht zugleich ihre virtuelle Überschreitung. Wie schließt Robert Bellah diese Einsicht in temporäre ›Jenseitsrealitäten‹ nun an die Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie an? Und welches methodologische Ziel verfolgt er mit der Zuspitzung seines Modells auf achsenzeitliche Zivilisationen? Eine wichtige Erschließungsfunktion erfüllt für Robert Bellah die Schematisierung anthropologischer Entwicklungen des Kognitions- und Neurowissenschaftlers Merlin Donald, die er als »most helpful« für seine Arbeit erachtet.83 Donald entwickelt ein vierstufiges Schema des koevolutiven Zusammenhangs zwischen kognitiver Entwicklung und kultureller Transformation des Menschen. Diese Parallelentwicklung versteht er als ein Zusammenspiel aus sich überlappenden Abstufungen, als einen »gradual process of coevolving of the hominid brain and culture, so that individuals increasingly fall under the sway of their cultures […].«84 Die angesprochenen Entwicklungsstufen in der kognitiven und sozialen Koevolution unterteilt er in episodisch, mimetisch, mythisch und theoretisch organisierte Kognitions- und Gesellschaftsdispositionen. Diese Aufteilung begründet er anhand der Analyse jeweils veränderter Formen der Wissensrepräsentation und dadurch ausgelöste kognitive, kommunikative und soziokulturelle Transformationen. Es ergibt sich ein Überblicksschema, auf das auch Robert Bellah seine weiteren Überlegungen stützt (siehe Abbildung 5). In der ›Achsenzeit‹ sieht Robert Bellah in Anlehnung an Donalds Schema schließlich eine Verdichtung der verschiedenen Funktionsweisen und Transformationskräfte, die in religiösen Narrativen wirken. Auch Merlin Donald verbindet die Achsenzeitkulturen explizit mit der von ihm als »theoretisch« bezeichneten Kognitionsweise und daraus abgeleiteten soziokulturellen Strukturen (siehe Abbildung 5).85 Die Detailbetrachtung achsenzeitlicher Transformationsprozesse dient Bellah auf dieser Grundlage dazu, seinen Religionsbegriff wie unter einem evolutionshistorischen Brennglas zu bündeln und damit seine religionssoziologische Strahlkraft zu demonstrieren. Mit Merlin Donald versteht er die Entwicklung eines theoretischen Weltzugangs als primär vorangetrieben durch »graphic invention, external memory, and theory construction«86 . Dadurch entstehe eine kritische Einsicht in das Gesamt der Sozialsystematiken und der Mythenbildungen, die durch sie selbst hervorgerufen wird. Der Status quo werde bewusst 82 83
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Vgl. zur kulturwissenschaftlichen Grundlage des ›performative turn‹ sowie zum im Folgenden vorausgesetzten Performanzverständnis den in diesem Kapitel folgenden Exkurs (s.u.). Vgl. Bellah, Religion, 116. Hinsichtlich des religionssoziologischen Interesses Bellahs und seines antifunktionalistischen, religionshermeneutisch orientierten Programms ist es kein Zufall, dass mit Merlin Donald hier nochmals einer der größten Kritiker Daniel Dennetts zu Wort kommt. Merlin Donald, The Evolutionary Approach to Culture. Implications for the Study of the Axial Age, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 47–76, hier: 49. Vgl. ebd., 68f. Bellah, Religion, 273.
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und hinterfragbar. Zugleich sei damit die Frage nach dem allgemeinen Sinn irdischen Lebens noch einmal verstärkt auf den Plan gerufen.
Abbildung 5: Merlin Donald, The Evolutionary Approach to Culture. Implications for the Study of the Axial Age, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 47–76, hier: 55.
An dieser Stelle sieht Robert Bellah über den Fokus auf die Achsenzeitkulturen eine wichtige Eigenschaft resilienter Sinnbezüge transparent werden: Der achsenzeitliche Durchbruch bestehe darin, theoretisch-kritische Perspektiven mit mythischen Kulturelementen und Transzendenzvorstellungen so zusammenzubringen, dass ein »›comprehensive modeling of the entire human universe‹«87 entstehe. Bellah ergänzt damit die Analyse soziokultureller Transformationen neben der Rolle kognitiver Entwicklungsschübe direkt um das Moment mythischer Sozialpraxis. Mythische Weltzugänge erübrigen sich diesem Modell zufolge nicht einfach über kritische Kognitionsvollzüge, sondern treiben diese vielmehr mit an und fordern sie heraus. Die Mythenbildungen relativieren demnach durch ihre universale Sinnperspektive die kognitive Welterschließung, ohne von ihr unabhängig zu sein. Mit dieser methodologischen Neuorientierung leistet Bellah einer evolutionstheoretisch anschlussfähigen Religionssoziologie Vorschub. Er spannt einen großen zeitlichen Bogen, in dessen Rahmen er evolutive Kognitionsentwicklungen und komplexe gesellschaftliche Transformationslinien religionsgeschichtlicher Prägung zusammendenkt. Für ihn ist dieses Projekt evolutionsanthropologischen Grundprinzipien verpflichtet, doch zugleich nicht reduktionistisch oder deterministisch zu verstehen. In diesem Zuge distanziert er sich von einer starren Abgrenzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und versteht diese als methodisch unbegründet und wissenschaftlich nicht
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Ebd.
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redlich.88 Hieraus ergibt sich das Kerninteresse seines Projektes: Über die Betonung der Transformationen im Denken und damit auch im Erleben und Handeln argumentiert Bellah durchgehend für die Ergänzung des semiotisch orientierten Religionsbegriffs nach Geertz durch ein performatives Moment. Es sichert Bellahs Wirklichkeitsverständnis argumentativ ab: Angelehnt an Eisenstadts Skizze multipler Wirklichkeiten, erkennt Bellah die transformativen Auswirkungen soziokultureller Denksysteme auf sozialevolutive Strukturen explizit an. Diese Prozesse kann er besonders deutlich in Anlehnung an die Achsenzeittheorie nachzeichnen. So verortet Bellahs Arbeit zur evolutiven Rolle der Religion komplexer werdende Fähigkeiten konkret in religionspraktischen Umwälzungen. Er verweist damit auf die Zentralrolle religiöser Realitätsbildung. Eine Verortung des Performanzbegriffs erschließt die hermeneutische Umstellung, die Bellah auf diese Weise an die kognitiv geprägten Sinnpotenziale menschlicher Gesellschaften heranträgt. ***
Exkurs: Methodische Einordnung des Performanzbegriffs Um das Performanzmoment, auf das sich Bellah im Folgenden bezieht, wissenschaftsgeschichtlich und definitorisch besser einordnen zu können, soll eine kurze Rekapitulation performanztheoretischer Grundlagen erfolgen. Eine anschließende Definition erleichtert die Abgrenzung alltäglicher Handlungszusammenhänge von performativen Eigenwirksamkeiten in religiösen Narrativen und Ritualen. Robert Bellah macht diese an der ›Achsenzeit‹ und einem performativen Spielverständnis fest. Der analytische Gebrauch des Performanzbegriffs lässt sich auf mehrere, zusammenhängende wissenschaftliche Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften zurückführen. Sie rufen ein pluralisiertes Verständnis von Kultur, Gesellschaft und Geschichte hervor. Diese Pluralisierung der zu analysierenden Einflussfaktoren führt zu einer »Perspektivenunsicherheit«89 , die selbst zum Gegenstand von Kultur- und Gesellschaftstheorien wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von ›cultural turns‹: Es kam zu einer Abwendung von einem sozialen Positivismus bei der Beschreibung kultureller Phänomene und Praktiken. Den jeweiligen Formen ihrer Repräsentation, den praktischen Vollzügen, dem Symbolgebrauch und den damit verbundenen sprachlichen Dispositionen wurde verstärkt eine eigene analytische Bedeutung zugesprochen.90 Eine dieser neuen Betrachtungen von Kultur und Gesellschaft lässt sich unter dem Stichwort ›performative turn‹ subsumieren. Hier geht es um eine Fokussierung auf die multiplen Auswirkungen von sprachlichen Zugängen auf die Realitäten, die sie im Rahmen des Handlungsaktes selbst schaffen. In der Entwicklung eines umfassenden ›performative turn‹ in den Kulturwissenschaften lassen sich mehrere Vorläuferstränge her88 89 90
Vgl. Ders., The Heritage of the Axial Age. Resource or Burden?, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 447–467, hier: 448. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Rowohlts Enzyklopädie), Reinbek 4 2010, 18. Vgl. ebd., 13.
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ausarbeiten, die zum einen sprachphilosophische Neuausrichtungen, zum anderen ethnologische Ritualstudien und theaterwissenschaftliche Theoreme betreffen. Im Folgenden sollen diese verschiedenen Aspekte komprimiert dargestellt und in ihrer Relevanz für den vorliegenden Kontext fokussiert werden: Erste Denkanstöße für eine Hinwendung zu handlungsbezogenen Theoriebildungen lieferte die Sprechakttheorie John L. Austins, der in seinen Überlegungen Sprechen und Handeln miteinander verband. Das Sprachverständnis weitet sich mit dieser Verknüpfung und geht nicht mehr nur von Aussagelogiken, sondern auch von erst im Sprachvollzug erzeugten Wirklichkeiten aus.91 Austin versteht Sprache als mehrdimensionalen Akt. Das heißt für ihn, »dass Aussagen nicht nur Feststellungen treffen und nach den Kriterien wahr oder falsch klassifiziert werden können […], sondern wirklichkeitsgenerierend und -verändernd wirken.«92 Aussagen, die explizit solche Wirklichkeiten hervorrufen (etwa die Erklärung zu Mann und Frau durch die Standesbeamten bei Trauungen) nennt Austin »performative Äußerung«93 . Damit weitet er die gebrauchstheoretische Einordnung der Sprachbedeutung und die Analyse gesellschaftlicher Einwirkungen auf den Ablauf des ›Sprachspiels‹ durch Ludwig Wittgenstein aus.94 Austin konstatiert eine bedeutsame Rückwirkung des Sprachspiels selbst auf die Bedingungen seines Gebrauchs. Verbindet man diese sprachphilosophischen Grundlagen des Performanzbegriffs schließlich mit der Semiotik von Charles S. Peirce, lassen sich die Überlegungen um ein prozessuales Moment ergänzen und auf den universalen Kontext menschlicher Weltzugänge beziehen. Peirce versteht die Versprachlichung von Erfahrungen als einzig möglichen Wirklichkeitszugang und -umgang. Sie stellt damit eine anthropologische Grundkomponente dar, auf die der Mensch bleibend verwiesen ist. In seiner Sprachtheorie wählt Peirce daher einen phänomenologischen Ansatzpunkt: Als erkenntnistheoretische Bedingung der Möglichkeit versteht er die Ebene der Zeichen, das heißt der kommunikativen Repräsentationen und Bezugnahmen auf Erfahrungen, die einer sprachinternen Gesetzmäßigkeit folgen. Erst hier werden affektive Wahrnehmungen nach Peirce aktiv reflexiv eingeholt und als wahrgenommene Wirklichkeit zu Objekten menschlichen Ausdrucks, Fühlens und Reflektierens.95 Diese Benennungsmechanismen berufen sich zum einen auf menschliche Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse und sind in diesem Sinne reaktiv zu nennen. Zugleich schaffen sie Peirce zufolge selbst in actu das, was Menschen nur durch sie als relevante und sinngebende Wirklichkeit erfassen können. Die gesamte Performanz menschlicher Weltwahrnehmung und -deutung kulminiert nach Peirce damit in ihrer Versprachlichung, das heißt in einem aktiv erzeugten, stets unabgeschlossenen Prozess der Bedeutungszuschreibung.
91 92 93 94 95
Vgl. ebd., 107. Sibylle Trawöger, Ästhetik des Performativen und Kontemplation. Zur Relevanz eines kulturwissenschaftlichen Konzepts für die Systematische Theologie, Paderborn 2019, 70. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Dt. Bearbeitung v. E. von Savigny (Reclams Universalbibliothek 9396), Ditzingen 1976, 253. Einen guten einführenden Überblick zur Theoriebildung Wittgensteins bieten Newen – Schrenk, Einführung, 33–42. Vgl. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2 2000, 61.
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Dass das damit eingesetzte Verständnis von Performanz als Wirklichkeitssetzung semiotischer Prozesse schließlich jenseits bloßer Aussagelogiken eine wesentlich breitere analytische Anwendung finden konnte, verdankt sich sowohl praktischen Transformationen in der Kunst als auch ihrer erweiterten Theoretisierung besonders in der ethnologischen Ritualanalyse und den Theaterwissenschaften. Über die Performance-Kunst der 1960er und -70er Jahre wurde die performative Wende jenseits eines Theoriegebäudes erlebbar. Zu Kunst wird hier das temporär eingegrenzte Ereignis selbst, nicht ein bleibendes Werk, das man ausstellen kann.96 Diesen Trend beobachtete Victor Turner, wendete ihn auf kulturelle Ritualisierungen insgesamt an und entwarf schließlich eine performanztheoretische Ritualanalyse, die häufig als der Auslöser einer weitrechenden methodischen Wende in den Kulturwissenschaften insgesamt angesehen wird. Für den Zusammenhang dieser Arbeit erweist sich besonders Turners Rede von der rituell evozierten Liminalität als weiterführend.97 Turner befragt Rituale »auf ihre Fähigkeit [hin; JU], eine neue soziale Wirklichkeit zu schaffen, auf ihre transformative Kraft.«98 Er nimmt an, dass im Rahmen ritueller Handlungen performative Schwellenzustände erzeugt werden. Sie evozierten temporär eine Jenseitigkeit gegenüber im Alltag geltenden Regeln, Normen und Rollenzuschreibungen.99 Ganz im Sinne der bereits beschriebenen Überschreitung gängiger Alltagslogiken spricht Turner – ähnlich wie Robert Bellah – vom Schaffen gesellschaftlicher Spielräume.100 Diese Verknüpfung ritueller Performanzen mit freien spielerischen Handlungen betont er im Untertitel der von ihm zusammengestellten Essaysammlung »Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels«101 . Den transformatorischen Clou im rituell erzeugten Spielraum sieht er in einer hierarchischen Umkehrung beziehungsweise in der neuen Hierarchiefreiheit, die im Raum des Alltäglichen so nicht denkbar wäre. Ritualbezüge arbeiten sich demzufolge an Alltagslogiken ab und verbinden sie im Rahmen zweckfreier Freiräume mit einer metaperspektivischen, kritischen Umkehrung normierter Logiken der Begrenzung. Das heißt: Ihre Kraft erreichen Rituale durch die kritische Rekombination alltäglicher Funk-
96 97
Vgl. Bachmann-Medick, Turns, 108. Ausgehend von den Prozessanalysen Arnold van Genneps beschreibt Turner diesen Schwellenzustand als temporäre Grenzüberschreitung, die in einem spielerischen ›als ob‹ gesellschaftliche Hierarchien umkehrt. Er konstatiert: »dagegen enthält das Schwellendasein der ständig strukturell Unterlegenen als soziales Schlüsselelement die symbolische oder vorgebliche Anhebung der Ritualsubjekte auf wichtige Machtpositionen. Die Starken werden geschwächt; die Schwachen tun so, als wären sie stark.« (Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, übers. v. S. M. Schomburg-Scherff (Campus Bibliothek), Frankfurt a.M. 2005, 160f.) Dieser spielerischen Umkehrung entsprechen schließlich tatsächliche Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Institutionalisierung von Rollengefügen und Statuszuschreibungen. 98 Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung (Edition Kulturwissenschaft 10), Bielefeld 2 2013, 46. 99 Vgl. Bachmann-Medick, Turns, 116. 100 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 46. 101 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, übers. v. S. M. Schomburg-Scherff (Campus Bibliothek), Frankfurt a.M. 2009.
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tionalität und subjektiver, freier Assoziationskraft.102 Performativ wirksame Rituale setzen damit die alltäglichen Unterscheidungen zwischen Arbeit und Spiel sowie die alltäglichen Hierarchisierungen und Beziehungsgefüge immer schon voraus und arbeiten sich an ihnen spielerisch ab. Neben dem Aspekt einer Transformation alltäglicher Logiken, verweisen zahlreiche Performanztheorien auch auf die Voraussetzung eines gesellschaftlichen Settings für performative Transformationsprozesse. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Erweiterung des Performanzverständnisses um die Komponente der Alterität, die auch für den vorliegenden evolutiven Zusammenhang und den Kontext intentionaler Kollektive wichtige Einsichten liefern kann. So beschreibt Dieter Mersch gesellschaftliche Performanzen entlang von zwei Polen: Sie seien bestimmt durch »erstens die Kraft der Setzung, die als singuläres Geschehen eine Existenz setzt und damit etwas in die Welt bringt, das sich nicht zurücknehmen lässt, sowie zweitens die ihr vorauseilende Kraft der Nötigung durch den Anderen, die zu solcher Setzung auffordert.«103 Mersch führt hier das Bewusstsein um das soziale ›Außen‹ als eine auslösende Bedingung für jeden performativen Sprechakt ein. Auf diese Weise verbindet er Überlegungen zur funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft durch rituelle Erfahrungen mit einer performativen Hermeneutik und spricht sowohl den Herausforderungen einer Umwelt als auch dem konkreten gesellschaftlichen Erhandeln eines Umgangs damit eine eigene performative Kraft zu. Das Zusammenwirken aus Sprecher*in, Sprechakt, dialogischem Umfeld und Umweltfaktoren ziehe so eine Dimension der Entzogenheit ein, die die jeweiligen Sinnsetzungen und ihre performative Wirkung mitbestimme.104 Der ›performative turn‹ und das mit ihm einhergehende Verständnis kultureller, sozialer und ritueller Performanz lässt sich im Fokus auf religionsevolutive Entwicklungen entsprechend zusammenfassen: Im Rahmen menschlicher Interaktion schaffen performative Akte selbst in actu das, was Menschen nur durch sie überhaupt als relevante Wirklichkeit erfassen können. In diesem Zusammenfallen von intentionaler Handlung und umweltbezogener Erfahrung entsteht eine neue Wirklichkeitsform. Insofern erweist sich die menschliche Wirklichkeitswahrnehmung als ein handlungs- und situationsbedingter, unabschließbarer Prozess, der Konzepte von Wirklichkeit zugleich kon102 Vgl. Ders., Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluß‹ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie, in: Ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, übers. v. S. M. Schomburg-Scherff (Campus Bibliothek), Frankfurt a.M. 2009, 28–94, hier: 52. 103 Dieter Mersch, Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen, in: Jens Kretscher – Dieter Mersch (Hgg.), Performativität und Praxis, München 2003, 69–94, hier: 92. 104 Vgl. ebd., 86. Im Verlauf der Überlegungen von Dieter Mersch kommt es in diesem Zuge allerdings zu einer Zuspitzung der Performanztheorie einzig auf das Prinzip der Alterität. Diese Fokussierung verleitet Mersch zu einer problematischen Engführung, von welcher der im Folgenden vorausgesetzte Performanzbegriff zu differenzieren ist: Mit seiner gewinnbringenden Analyse und Präzisierung der performativen Wirkung der Liminalität verbindet Mersch eine Tilgung »jede[r] subjektiven Konnotation im Performativen […].« (Ebd., 90.) Wenn auf diese Weise performative Erfahrungen mit Alteritätserfahrungen gleichgesetzt werden, hebt sich das Konzept der Performativität in eine allgemeine Universalität auf. Damit büßt das Konzept die zuvor gewinnbringend skizzierte Ambivalenz ein, die es transportieren kann. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich dagegen in ihrem Performanzbegriff verstärkt auf eine performative Ambivalenz als einem Zusammenspiel aus Subjektivität und Alterität.
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struiert und immer neu transformiert. Solche performativen Wahrnehmungs- und Codierungsprozesse sind daher für das menschliche Bewusstsein bleibend unhintergehbar.105 Mit Peirce formuliert, betrifft diese Form der sinngenerierenden Wahrnehmung »das ganze[n] Universum des Seins«106 . Das hier skizzierte Performanzverständnis berührt daher auch die Beschäftigung mit der evolutionären Anthropologie: Im Analysehorizont einer performativen Hermeneutik erweist sich das Zusammenspiel aus intentionalen Aktvollzügen und ihren emergent-transformativen Eigenwirksamkeiten als ein Moment performativ wirksamer Liminalität. Diese performative Einbettung des Verweises auf das Zeichen ›Gott‹ präzisiert damit auch den glaubend vorausgesetzten Wirklichkeitsgehalt, auf den sich die Theologie im Rahmen evolutiver Plausibilitäten beziehen kann. Praktischer Vollzug und theoretische Sinnzuschreibung sind in der hier aufgezeigten performativen Epistemik aufs Engste miteinander verbunden. Es lässt sich schlussfolgern: »Im Gebrauch dieses Zeichens erweist sich sein Wirklichkeitsgehalt und seine Bewährung als Code. Die Erschließung der Wirklichkeit Gottes bedarf der Aktivierung des Glaubens an die unbegrenzte schöpferische Lebensmacht Gottes als Anfang in und von allem.«107 Eine performative Religionshermeneutik verweist die Fundamentaltheologie daher auf eine »rationale Rekonstruktion gläubiger Sinnpraxis«108 . Das entspricht dem veränderten Frageportfolio, das mit der vorgebrachten erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Vollzüge innerhalb des evolutiven Prozesses einhergeht (vgl. Kapitel 4.1.3). An seiner Präzisierung arbeitet sich auf der Grundlage der dargestellten Performanztheorien und ihrer evolutionsanthropologischen Rezeption insbesondere der zweite Hauptteil der vorliegenden Arbeit ab. ***
3. Religion als performatives ›Spiel‹ Robert Bellah verdeutlicht sein methodologisches Interesse schließlich anhand der Spielmetapher, die bereits in Victor Turners Überlegungen zur Performanz eine Rolle spielt (siehe Exkurskasten). Bellah führt diese Metapher als einen religionssoziologischen Analysebegriff ein und expliziert sie über den Gesamtverlauf seiner Studie hinweg. Er nutzt das Spielkonzept zur Grundierung einer im Sinne des ›performative turn‹ geprägten Religionshermeneutik. So wird die Analyse spielerischer Handlungen 105 Dieter Mersch spricht hier treffend von einem ›affirmativen Zug‹ des Performativen im Sinne eines ›Moments von Nichtnegierbarkeit‹ (vgl. Mersch, Ereignis, 74). 106 Charles S. Peirce, Neue Elemente, in: Dieter Mersch (Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida, München 1998, 37–56, hier: 37. 107 Gregor M. Hoff, Performative Theologie. Studien zur fundamentaltheologischen Theoriebildung, Stuttgart 2022, 67. 108 Ebd.
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in seiner Modellierung zur Gesamtklammer soziokultureller Entwicklungen im religiösen Bereich. Bellah skizziert die Fähigkeit zur spielerischen Welterschließung als sozialevolutives Schlüsselmoment auf dem Weg zum modernen Menschen und hält fest: »I discovered the importance of play among mammals and the extraordinary way in which play in animals provided the background for the development of play, ritual, and culture among humans.«109 Zur weiteren Explikation dieser Stellung spielerischer Handlungen im sozialevolutiven Prozess knüpft Bellah an seine bereits kognitionstheoretisch eingeführte Unterscheidung zwischen Alltagswelt und multiplen anderen Wirklichkeitszugängen an. Dabei stützt er sich auf die Überlegungen des Kulturhistorikers Johan Huizinga. Dieser entwirft eine Skizze des »Homo ludens«110 . Huizinga steigt in seine Analyse der menschlichen Entwicklung mit einer Auseinandersetzung um die Funktion von spielerischen Handlungen ein. Er grenzt sein Spielverständnis zugleich explizit von einzig durch Selektionsdruck zu erklärenden Handlungszwängen ab. Diese Abgrenzung macht für ihn auch das Wesen des Spiels selbst aus. Es zeichnet sich Huizinga zufolge dadurch aus, dass es »eine sinnvolle Funktion [ist; JU]. Im Spiel ›spielt‹ etwas mit, was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbetätigung einen Sinn hineinlegt.«111 Unter diesem explizit nicht funktionalistisch (sondern in sich funktional) gedachten Sinn versteht Huizinga eine in der Spielhandlung eröffnete »bestimmte Qualität des Handelns […], die sich vom ›gewöhnlichen‹ Leben unterscheidet.«112 Diese pointierte Dialektik lehnt Bellah an die Definition des Spielbegriffs der Kognitionspsychologin Alison Gopnik an, die die entwicklungsrelevante Funktion des Spiels in der Kindheit in seiner »nützliche[n] Nutzlosigkeit«113 sieht. Gopnik verknüpft spielerische Handlungen mit der Fähigkeit zur Zukunftsantizipation und hält entsprechend evolutionstheoretisch begründet fest, was Robert Bellah für religiöse Vollzüge performanztheoretisch konkretisiert: »Die evolutionäre Erklärung lautet, dass uns die Kontrafaktizität erlaubt, die Zukunft zu ändern. Weil wir in der Lage sind, uns alternative Versionen der Welt auszudenken, können wir auf sie einwirken und eingreifen, um sie in die eine oder andere Richtung zu lenken.«114
109 Bellah, Religion, 567. 110 Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, übers. v. H. Nachod (Rowohlts Enzyklopädie), Reinbek 26 2019. 111 Ebd., 9. 112 Ebd., 12. 113 Gopnik, Philosophen, 22f. 114 Ebd., 98.
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Diese Einordnung Gopniks, der sich Robert Bellah anschließt, flankiert auch seinen Religionsbegriff und verortet ihn funktional, jedoch zugleich jenseits der Vorstellung evolutiver Automatismen beziehungsweise (Dys-)Funktionalismen. Entsprechend fokussiert Bellah die von Huizinga skizzierte spielerische Handlungsweise als eine eigene Erkenntnisform, die sich jedem alltäglichen Funktionalismus entzieht und gerade darin ein funktionales Sinnpotenzial performiert. Bellah entfaltet im Anschluss an Huizinga und Gopnik innerhalb dieser Spannung das Gesamtbild einer evolutiven Motorenfunktion solcher spielerischen Dynamiken. Er geht davon aus, dass spielerische Handlungen bereits vor der Entwicklung der Primaten eine wichtige Rolle für andere Säugetiere spielten. Spiele eröffnen demnach in der langen Entwicklungsphase des oftmals hilflosen, säugenden Nachwuchses Sphären des Lernens jenseits von Selektionsdruck. Schließlich seien es sprachliche und kulturelle Systeme gewesen, die zu einer kreativen Weiterentwicklung des Spiels als institutionalisiertem gesellschaftlichen Faktor im Rahmen der menschlichen Entwicklung beigetragen hätten. Religion, so Bellah, emergiere aus diesen neuen, gefestigten Freiräumen heraus.115 Bellah verbindet auf dieser Grundlage schließlich die kognitive Sphäre jenseits der Alltagswelt mit der Beobachtung einer konkreten Spielpraxis. Diese Praxis versteht er als konstitutiv für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Im Rahmen von erhandelten Spielräumen entsteht demnach ein neues kreatives Potenzial, aus dem sich transformative Kräfte entwickeln, die auch auf die Alltagswelt zurückwirken können. In diesem Setting sieht Bellah Ritualhandlungen und Religionsnarrative beheimatet. Sie sind ihm zufolge als performative Jenseitsbezüge zu verstehen, die Spielräume für immanente Transformationen eröffnen. Im aufgezeigten Gesamtaufriss dient Bellah die Achsenzeitthese als historisch nachvollziehbare Manifestation dieses performativen, als Spielraum metaphorisierten Religionsverständnisses. Mit der Analyse achsenzeitlicher Gesellschaftsformen lässt Bellah die Stränge der praktischen Auswirkungen transzendenter Codierungspraktiken zusammenlaufen und zeigt ihr Potenzial für konkrete, gesamtgesellschaftliche Veränderungen auf. Bellah versteht die in der ›Achsenzeit‹ zu beobachtenden Transformationen als einen Verweis auf die selbstwirksamen Akte, die transzendente Weltdeutungsformen hervorrufen. Als Bedingung für die normativen Auswirkungen solcher Vollzüge erscheint ihm der schon im tierischen Spiel grundgelegte, hier bewusst eingesetzte performative Spielraum: Im Spiel werde eine temporäre Überwindung hierarchischer Strukturen erreicht, indem ein eigentlichkeitsfreier Raum geschaffen werde. Dieser von alltäglichen Hierarchisierungen befreite Raum transzendiere die unmittelbare Realität und böte auf diese Weise eine neue Sinnperspektive auf diese Alltagsrealität an.116 Die transformativ wirksame Abgrenzung von den immanenten Komplexitätsproblemen gelingt religiösen Codierungen demnach nur praktisch. Als temporäre, praxisgebundene Liminalitätssphäre sind sie immer schon auf die Alltagswelt, von der sie sich praktisch distanzieren, bezogen. Gerade dieser bleibende Bezug ermöglicht es nach Bellah dem transzendenten Modus des ›beyond‹, über stetige Aktualisierungen nachhaltig auf die Ak-
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Vgl. Bellah, Religion, 112. Vgl. ebd., 93.
4. Scharnier I: Kontroversen um den erkenntnistheoretischen Ort der Religion
teur*innen einzuwirken. So verändert er auch ihre Alltagsakte.117 Die Transzendierung stößt – komplexitätstheoretisch gesprochen – immer neue, sozialsystemisch wirksame Feedbackschleifen an. Auf die dargestellte Weise wird über die Rezeption der Achsenzeitthese eine allgemeine Einsicht in die performative Kraft religiöser Praktiken möglich, die Rückschlüsse auch auf ihre evolutive Rolle zulässt: Die beobachtete Axialität transzendierter Spielpraktiken schaltet das kritische Potenzial temporärer Liminalität gesellschaftsintern auf Dauer. Die religiösen Impulse können innerhalb dieses Spielraums immer wieder aktualisiert werden, da sie rituell wiederholbar gemacht werden.118 Indem Bellah die selbstwirksame Spielfunktion religiöser Systeme als Motor soziokultureller Transformationen herausarbeitet, entwirft er also ein religionsevolutiv anschlussfähiges analytisches Instrumentarium: eine performative Religionshermeneutik. Sie erweitert die semiotischen Religionsverständnisse im Rahmen der evolutionären Anthropologie und verdeutlicht die evolutive Rolle, die transzendenten Wirklichkeitsdeutungen zukommt. Bellah versteht die in der ›Achsenzeit‹ verdichtet zu beobachtenden Spielräume als rituell und narrativ erhandelte Transzendenzräume. Sie werden dem Menschen im Verlauf der kognitiven und sozialen Evolution als eigenes erkenntnistheoretisches Medium bewusst. Im Rahmen der Religionsevolution wird die evolutive Motorenfunktion religiöser Narrative dann auch als solche erkannt und kann bewusst in performativen Akten eingesetzt werden. Auf diese Weise kommt es auch zu einer Entschlüsselung der ›versteckten Spielregeln‹ der sozialen Evolution. Die ihr inhärenten Selektionslogiken, Machtdiskurse und Komplexitätssteigerungen sowie die daran anknüpfenden sozialen Abhängigkeiten können nun bewusst angefragt werden und sind damit wandel- und beeinflussbar.119 Es wird ein neues, metaperspektivisches Erkenntnislevel erreicht. Für die vorliegende Arbeit ergibt sich aus dieser veränderten Religionshermeneutik ein wichtiges Portfolio der erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Sinnperformanz im evolutiven Prozess. Ein performativ profilierter Religionsbegriff evoziert auch einen veränderten Evolutionsbegriff: »Rituale erzeugen Wirklichkeit nicht nur im Geertzschen Sinne einer produktiven Kraft, die die Grundlage sozialer Ordnung hervorbringt, sondern auch als immer wieder neu zu vollziehende Praxis, deren Ergebnis zwar antizipiert wird, sich aber – wie auch in alle [sic!] anderen Lebenssituationen – einer vollständigen Kontrolle entzieht.«120 Die Arbeiten Robert Bellahs zur Religionsevolution unter dem Brennglas der ›Achsenzeit‹ erschließen damit einen funktionalen Religionsbegriff, der sich zugleich durch die performative Dynamisierung des Evolutionsverständnisses jeder funktionalistischen Engführung entzieht. 117 118
Vgl. ebd., Preface, XVII. Vgl. Zu dieser Wiederholbarkeit in Bezug auf die performativen und symboltheoretischen Überlegungen Austins, Butlers und Deacons Fischer-Lichte, Performativität, 39–41. 119 Diese Einsicht der Achsenzeitthese in soziale, institutionalisierte Abhängigkeitsstrukturen als Produkt sozialer Evolution betont wie Robert Bellah auch schon Shmuel Eisenstadt, wenn er von der Bewusstwerdung sozialer Kontrollmechanismen und der Implementierung von Gegen-Eliten (durch die achsenzeitlichen Lehrer- und Prophetenfiguren) spricht (vgl. Eisenstadt, Conundrum, 288–290). 120 Ursula Rao, Ritual als Performanz. Zur Charakterisierung eines Paradigmenwechsels, in: ZRGG 59/4 (2007) 351–370, hier: 363.
115
5. Schlussfolgerung I: Methodologische Herausforderungen evolutiver Religionsverständnisse
Zum Ende dieses ersten Hauptteils gilt es, die Ergebnisse der vorliegenden Rezeption der evolutionären Anthropologie zur Entstehung und Rolle religiöser Praktiken und Narrative zusammenzufassen. Der Fokus liegt dabei auf einer schlussfolgernden Gesamtschau der Ergebniskomplexe und ihrer kritischen Konfrontation mit den herausgearbeiteten methodologischen Leerstellen. Im Anschluss an die mit Jan Assmann und Robert Bellah eingeführte performative Hermeneutik erschließt sich aus dieser Konfrontation ein erkenntnistheoretisches Spannungsfeld, das religiöse Aushandlungsprozesse selbst aufrufen und bespielen. Es weist über die dargestellten evolutiven Funktionslogiken hinaus und operiert mit transzendenzbezogenen Reflexionen. In ihnen kommt das menschliche Komplexitätsproblem konkret als Zeit- und Sinnproblem zur Sprache. Diesem Problemniveau müssen auch die wissenschaftlichen Analyseformen beikommen, wollen sie die Rolle von Transzendenzbezügen im evolutiven Prozess über ihre selektionslogischen Entstehungsbedingungen hinaus gewinnbringend nachvollziehen. 1. Religion zwischen Evolutionsdruck, intentionaler Sinnsuche und sozialer Transformation Bereits im Rahmen der Komplexitätsforschung wurde die Interdependenz zwischen intentionalen Handlungskontexten, umweltlichen Bedingtheiten und sozialen Systembildungen deutlich. So bezeichnet Sandra Mitchell ihre komplexitätstheoretische Sozialanthropologie wissenschaftstheoretisch als »eine andere Form des Pluralismus […]. Ihr vielschichtiger Aufbau spricht dafür, die Kausalstrukturen jeder einzelnen Ebene gezielt zu analysieren. Aber die so gewonnenen Erklärungen – beispielsweise wenn man das Verhalten der Menschen unter dem Gesichtspunkt von Genen, Hormonen, Kindheitserlebnissen oder sozioökonomischer Herkunft betrachtet – stehen untereinander nicht in Konkurrenz um das Attribut der ›einzig wahren Erklärung‹.«1
1
Mitchell, Komplexitäten, 138.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Komplexe Systeme lassen sich weder einfach auf die in ihnen stattfindenden intersubjektiven Handlungen reduzieren noch gehen sie in Umweltautomatismen auf. Ein subjektivistischer Reduktionismus finge die systemischen Eigenwirksamkeiten und Feedbackschleifen methodisch nicht ein, ebenso wenig könnte eine genetisch-memetische Universalperspektive die Rolle intentionaler Akte adäquat miteinbeziehen. Diese wissenschaftstheoretische Epistemik verweist auf ein evolutives Spannungsfeld zwischen willentlichen Lenkungen, individuellen sowie kollektiven Erfahrungsverarbeitungen und nicht steuerbarer Systemimmanenz. Dieses Spannungsfeld betrifft auch die Analyse der Grundlagen der Religionsevolution. Die rezipierten Modellierungen konnten zeigen: Religiöse Codierungen reagieren auf ein solches Spannungsfeld und machen es als Spannungsfeld zugleich erst bewusst. Daraus erwächst ihr Potenzial, performativ auf sozialevolutive Mechanismen einzuwirken. Die Codierungen erweisen sich als Treiber für gesellschaftliche Adaptionen und Differenzierungen, indem sie Komplexität bestimmen, virtualisieren und auf diese Weise bearbeitbar machen. Eine Virtualisierung vorgefundener Herausforderungssettings heißt dabei immer auch eine Überschreitung dieser Ausgangsbedingungen. Diese Transzendierung der alltäglichen Problemgefüge führt zu einer Freisetzung kreativer Deutungsspielräume. Der von direktem Druck befreite Raum virtualisierter Komplexität schafft die Möglichkeit einer reflektierenden Distanz zu den Systemvorgängen selbst. Er weist damit kritisch auf bereits gefestigte Normstrukturen und systemische Abläufe zurück. Der hier wirksame Spannungsreichtum konnte im anthropologischen Problemkomplex der menschlichen Endlichkeit konkret benannt werden.2 Die Grenzerfahrungen des Todes verweisen innersystemisch auf die Grenzen funktionaler Systematiken, die die Abhängigkeit von intersubjektiven Vollzügen nicht dämpfen, sondern noch verstärken. Es konnte gezeigt werden, wie eine steigende gesellschaftliche Komplexität auch die gegenseitige Abhängigkeit von intentionalen Akteur*innen steigert und sich auf kollektiv habitualisierte Moralvorstellungen auswirkt.3 Genauso ergeben sich umgekehrt aus der wachsenden Fähigkeit intersubjektiver Kommunikation und planerischer Ausrichtung Rückwirkungen auf die systemischen Stabilitätsanforderungen an zuvor unhinterfragte Systemabläufe.4 Die Erfahrungen funktionaler Grenzen weisen über das konkrete Systemgeschehen hinaus und ›kreieren‹ transzendente Reflexionsgefüge als Output systemischer Problemüberhänge. Es entstehen neue Feedbackschleifen, die intersubjektive Handlungslogiken und temporäre Erinnerungsperformanzen selbst zu systemischen
2
3
4
Besonders deutlich wurde dieser dauerhafte Problemkomplex – auch als Treiber kultureller Memorialstrategien – in den Überlegungen Aleida Assmanns zum Vergessen als »Normalfall in Kultur und Gesellschaft« (Assmann, Formen, 30). Auf diese gesteigerten Abhängigkeitsverhältnisse im Rahmen kollektiver Intentionalitätsvollzüge verweist wie gezeigt Michael Tomasello. Er sieht sie als Voraussetzung und Ergebnis menschlicher Kommunikationspraktiken (vgl. beispielsweise Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M. 2009; sowie Tomasello, Human). Diese reflexiven Rückkoppelungseffekte und die Entwicklung einer kritischen Distanz zu systemischen Automatismen konnte als ›axial‹ gekennzeichnet werden (vgl. die kulturanalytisch-heuristische Auslegung in Assmann, Achsenzeit).
5. Schlussfolgerung I: Methodologische Herausforderungen evolutiver Religionsverständnisse
Faktoren gerinnen lassen. Sie sind in ihrer aktualen Performanz zunächst temporär begrenzt, aber grundsätzlich als gefestigte Sinnsysteme mehrfach wiederholbar. Dass sich diese religionsevolutiven Beobachtungen nicht zuletzt auch mit religionsphänomenologischen Grundlegungen decken, konnte bereits mit Émile Durkheim nachvollzogen werden. Er betont die irreduzible Zweipoligkeit zwischen systemischen Moralfunktionen und individuellen Erfahrungsleistungen im Hinblick auf religiöse Vollzüge.5 Folgt man dieser Spur, stellen sich religiöse Virtualisierungen einerseits als erhandelte, temporäre Systemausbrüche dar. Andererseits formen sie selbst habitualisierte Systematisierungen im soziokulturellen Raum. Dies geschieht etwa durch rituell gefestigte Normierungen, entgrenzende Transzendenzvorstellungen (wie Ahnenkulte und Götterbilder) sowie durch ihre Materialisierung in schriftlichen Kanones. Diesen Zusammenhang konkretisiert Robert Bellah, wenn er den Realitätszugang religiöser Weltdeutung jenseits alltäglicher Defizienzperspektiven verortet. Er bezeichnet religiöse Codierungspraktiken als temporäre Ausbrüche aus der Alltagslogik und versteht sie als eine neue, metaperspektivische Form des Realitätsbezugs (»paramount reality«6 ). Diese Metaperspektive tilgt systemische Kontingenzen zugleich nicht einfach, sondern bearbeitet sie aktiv. So bleibt die ›paramount reality‹ bei aller systemischen Verstetigung stets virtuell: Die Bezugspraktik generiert einen zeitlich begrenzten Zwischenraum. Der aktiv erschlossene, virtuelle Raum stellt eine allumfassende Beanspruchung des Systems dar. Auf diese Weise entfaltet er eine performative Transformationskraft, die sich gesamtsystemisch dauerhaft auswirken kann. Zusammenfassend kann auf diesen Grundlagen fußend festgehalten werden: 1. Evolutionsbedingte Komplexitätssteigerungen sowohl auf kognitiver als auch auf sozialer Ebene bedingen und sind bedingt durch Wechselwirkungen zwischen systemischen und kommunikativen Prozessen. 2. Der temporäre Ausbruch aus systemischen Funktionsweisen führt zu ihrer Virtualisierung. Diese kommunikativ-aktive Virtualisierung ist zwar systemisch bedingt, weist aber zugleich über die systemischen Eigenwirksamkeiten der Evolution hinaus. Aktive Transzendierungsprozesse führen so zu einem neuen Bewusstsein für die komplexen Entwicklungsmechanismen selbst. 3. Die virtuellen Codierungen evolutiver Erfahrungen führen also einen systemisch wirksamen und doch übersystemisch orientierten Fragehorizont nach dem ›Sinn des Sinns‹ ein. Er entwickelt eine Relevanz für die funktional differenzierte Leistungsfähigkeit und die komplexen Feedbackschleifen sozialer Systeme, indem er die spannungsreich verbundene Trias aus System-, Umwelt- und Kommunikationskomponenten erst performativ ins Bewusstsein ruft. 4. Soziale Systeme sind auf der Grundlage dieser Bewusstseinsbildung im Rahmen menschlicher Kulturentwicklung dann nicht mehr einfach selektionslogische Selbstläufer. Mit Gerd Theißen gesprochen, ist die aktive Transzendierung evolutiver
5 6
Vgl. Durkheim, Formes, 299f. Bellah, Religion, 11.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Begrenztheiten vielmehr als »selektionsmindernde[r] Prozeß«7 zu verstehen, der die evolutiven Systemlogiken nachhaltig transformiert. Die aufgerufenen Rezeptionsergebnisse geben auch wichtige methodologische Impulse für die adäquate wissenschaftliche Analyse der soziokulturellen, evolutionswirksamen Interdependenz zwischen Umwelt, System und intentionalen Akten: Das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Entwicklungsfaktoren ruft das Streben nach einem umfassenden Sinnhorizont hervor. Dieser Sinnhorizont macht die Interdependenzen wiederum erst bewusst. Der religiös virtualisierte Zwischenraum greift also genau an diesen Schnittstellen ein, ohne sie in die eine oder andere Richtung aufzulösen. Das heißt auch, dass religionsevolutive Prozesse weder rein subjektivistisch noch rein systemautomatistisch beschrieben und verstanden werden können. Die eingeführte performative Religionshermeneutik erweist sich vor diesem Hintergrund als leistungsfähiger heuristischer Ansatz. Sie kann nicht gegen evolutive Systemdifferenzierungen ausgespielt werden. Sie ist vielmehr auf ein erkenntnistheoretisches Framing verwiesen, das gerade den spannungsreichen Bogen zwischen Umweltbedingtheiten, systemischen Funktionslogiken und der Macht intentionaler Deutungspraktiken als das Konstituens transzendenzbezogener Erkenntnisvollzüge erschließt. 2. Methodologische Ableitungen und offene Flanken der rezipierten Theorien Die religiösen Entwicklungsdynamiken verorten sich wie gezeigt im Zusammenspiel zwischen verschiedenen Umwelteinflüssen, systemischen Funktionsabläufen und der kommunikativen Erschließungskraft intersubjektiver Prozesse. Ihre wissenschaftliche Analyse verlangt daher nach einem multiperspektivischen Evolutionsverständnis. Eine entsprechende Kombination der verschiedenen empirischen und hermeneutischen Zugänge spiegelt sich jedoch bis dato in den rezipierten Theorien nicht in letzter Konsequenz wider. Sie erschließen dennoch erste Grundpfeiler hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Neuverortung transzendenzbezogener Praktiken und Narrative im evolutiven Entwicklungszusammenhang. Auf sie verweisen insbesondere die neuen Versuche, über Modelle der Intentionalitätsentwicklung, sprachphilosophische Anschlüsse sowie kulturhermeneutische Instrumente selektionstheoretische Faktoren mit intentional gesetzten Sinnhorizonten zusammenzudenken. Zum Abschluss dieses ersten Teils seien die methodologischen Ableitungen, die daraus gezogen werden können, knapp skizziert: Im Rahmen seiner Memtheorie explizierte Richard Dawkins sowohl kognitive Denkschemata als auch komplexer werdende Sprach- und Gesellschaftssysteme primär als Vehikel einer erfolgreichen Memausbreitung. Im Rahmen dieses monolinearen Zugangs zur Religionsevolution haben reflexive Eigenleistungen im Rahmen soziokultureller Praktiken keinen analytischen Ort. Sie werden universal biologisiert. Die hier vorgeschlagene Rezeption der evolutionären Anthropologie geht einen anderen Weg: Der Verweis auf eine performative Religionshermeneutik erweist sich gegenüber szientifischen Naturalismen als sehr leistungsfähig. Sie zeigt die blinden Flecken eines funktionalistischen Holismus auf und macht über die Funktionalität religiöser 7
Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984, 71.
5. Schlussfolgerung I: Methodologische Herausforderungen evolutiver Religionsverständnisse
Codierungen hinaus Transzendierungen als eigene Form des Wirklichkeitszugangs transparent. So ersucht Robert Bellah, die Funktionalität religiöser Sinnstiftung aus ihrer praktischen Anlage heraus zu begreifen. Er profiliert sie im Analysebegriff des Spiels im Sinne einer funktionalen Dialektik als »nützlichen Nutzlosigkeit«8 . An dieser Stelle wird eine religionssoziologische Analyse aktiver, geistig-sozialer Verarbeitungsprozesse möglich, die die komplex gelagerten evolutiven Gesamtzusammenhänge betrachtet. So sind auch die aufgerufenen Virtualisierungen auf die evolvierenden Kognitionsleistungen verwiesen. Zugleich kann das kognitive Repertoire nur dann sinnvoll auf konkrete systemische Herausforderungen angewandt werden, wenn es auch in der Lage ist, selbstbewusst kreative Spielräume zu erschließen. Diese Spielräume rufen immer schon eine kritische Transzendierung ihrer jeweiligen biologischen und sozialen Entstehungsfaktoren hervor. Sie agieren damit in einem evolutiven Spannungsfeld zwischen intentionaler Erkenntnis und systemischen Voraussetzungen. Dieses mit Hilfe der evolutionsanthropologischen Ergebniskomplexe neu vermessene Spannungsfeld verweist auf ein ungelöstes Bezugsproblem eines Großteils der verschiedenen Erklärungsmodelle der evolutionären Anthropologie. Über die religiösen Sinnerschließungsfunktionen wird jenseits eines funktionalistischen Zugangs kein eigener erkenntnistheoretischer Ort religiöser Sinnbildung identifiziert. Die aufgezeigten performativen Spielräume, die religiöse Reflexionen im Rahmen der menschlichen Entwicklung eröffnen, verweisen auf diese methodologische Leerstelle. Die evolutionsanthropologischen Untersuchungen stehen damit vor der Herausforderung, religiöse Sinnperformanzen adäquat in den universalen evolutiven Bezugsrahmen einzubinden. Zugleich verdichtet sich das Anforderungssetting, das an eine solche Neuverortung der religiösen Evolution im multiplen Entwicklungsfeld gestellt wird. Es kann als drängende erkenntnistheoretische Herausforderung formuliert werden, an der sich auch die folgenden methodologischen Neuverortungen des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit orientieren: Wenn es nicht gelingt, komplexitäts- und selektionstheoretische Grundannahmen mit den intentionalen Sinnbeanspruchungen einer Alltagsrealität durch multiple Wirklichkeitshorizonte zu verknüpfen, kann religiöse Sinnbildung im Rahmen evolutiver Fortschrittsprozesse vernünftigerweise nicht für sich beanspruchen, einen eigenen erkenntnistheoretischen Ort zu erschließen. Sie wäre dann allenfalls ein netter Zufallsfund einiger ritualversessener Individuen der Gattung homo. Schon im Rahmen der evolutionsanthropologischen Analysen legt sich entsprechend dieses Herausforderungsrahmens der Befund nahe, dass religiöse Sinnbildungen einen wichtigen Ort menschlicher Selbsterkenntnis erschließen. Dieser These folgend, soll angesichts der aufgezeigten methodologischen Leerstellen im anschließenden zweiten Teil der Arbeit eine konsequente Umstellung im Religionsverständnis erfolgen. Eine soziologisch gestützte, religionsphilosophisch angelegte Propädeutik nimmt in diesem Rahmen eine Verortung religiöser Erkenntnisprozesse im Rahmen der menschlichen Evolution vor. Die performative Religionshermeneutik muss dazu einer system- und komplexitätstheoretischen Konfrontation unterzogen werden. Sie führt schließlich zu einer Dekonstruktion sowohl der evolutionsanthropologischen als auch der theologischen Epistemologie, indem sie sie jeweils relativiert und in eine Abhängigkeit zueinander setzt. 8
Gopnik, Philosophen, 22f.
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Der Zielhorizont des folgenden zweiten Teils der Arbeit ist es daher, sowohl evolutionsanthropologische als auch theologische Hypotheken aufzudecken und gewinnbringend miteinander ins Gespräch zu bringen.
Teil II: Methodologische Umstellungen als theologische Propädeutik
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
Um die Suche nach dem erkenntnistheoretischen Ort der Religion im Rahmen der menschlichen Evolutionsgeschichte voranzutreiben, bedarf es zunächst einer umfangreichen methodologischen Umstellung des evolutionsanthropologisch vorausgesetzten Religionsverständnisses. Im Verlauf der folgenden Überlegungen sollen daher erkenntnistheoretische Hypotheken im evolutionsanthropologischen Religionsverständnis herausgearbeitet werden. Sie verweisen schließlich auch die theologischen Beanspruchungen religiöser Reflexionsformen und Lebenspraktiken auf eine notwendige Reevaluierung ihrer (onto-)metaphysischen Axiomatik. Die folgenden Überlegungen erschließen die daraus erwachsene produktive Konfrontation evolutionswissenschaftlicher und theologischer Religionsbezüge in mehreren Einzelschritten: Zunächst gilt es, die mit Robert Bellah und Victor Turner grob skizzierte performative Religionshermeneutik zu präzisieren (Kapitel 6.1). Danach werden neuere ritual- und symboltheoretische Anschlüsse an die Performanztheorie im aufgezeigten Spannungsfeld aus System, Umwelt und Kommunikation betrachtet (Kapitel 6.2). Aus diesen Theorieverbindungen ergibt sich ein kritisches Potenzial gegenüber metaphysischen Hypotheken klassischer religiöser Transzendenzbegriffe. Sie können anhand einer an den aufgezeigten Symboltheorien orientierten Hermeneutik produktiv umgestellt werden, ohne die Selbstansprüche religiöser Rede einfach zu verneinen. Wichtige theoretische Impulse dazu liefern besonders Martin Breul und Saskia Wendel in ihren Entwürfen einer praktischen Metaphysik. Ihre Modellierung kann zu einer gewinnbringenden theologischen Reflexionsgrundlage des evolutionsanthropologisch vorausgesetzten Religionsverständnisses verdichtet werden. (Kapitel 6.3). Eine Zuspitzung dieser performativen Relecture im Sinne einer evolutionsanthropologisch informierten Ausdifferenzierung des Religionsverständnisses bieten schließlich die Theoriebildungen Jacques Derridas (Kapitel 7). Seine dekonstruktive Vermessung der erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen sowie seine differenzhermeneutische Radikalisierung der Sprechakttheorie erschließen eine unauflösbare Differenzierungsbewegung zwischen systemischen Umweltkomponenten und der Suche nach einem Sinn hinter diesen primären Systematiken in intersubjektiven Kommunikationsakten.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Derridas Theorie liefert auf diese Weise konkrete erkenntnisphilosophische Argumente für einen performativ ausgerichteten Religionsbegriff. Er nötigt der Theologie eine neue Bescheidenheit hinsichtlich der eigenen Sprachspiele ab und bewahrt sie vor einer subjektivistischen Gesamtanlage des Religionsverständnisses, die den komplexen systemischen Emergenzen des Evolutionsprozesses stets zuwiderlaufen würde (Kapitel 7.2). Die Gedankenführung Derridas motiviert daher zugleich eine paradox angelegte Hinterfragung bewusstseinstheoretischer und metaphysischer Hypotheken in der theologischen Anthropologie, ohne diese einer einfachen Destruktion zu unterziehen. Dass und wie die dekonstruktiven Anhaltspunkte Derridas die performative Wahrheitssuche und ihre Ansprüche leistungsfähig modifiziert, soll schließlich in einer zunächst überraschend anmutenden Theoriekonfrontation dargelegt werden: Die Dekonstruktion Derridas wird in einen Dialog mit der Wort-Gottes Theologie Karl Barths gebracht (Kapitel 7.3).1 Dieser theologische Anschluss Derridas und die Rezeption der ausgeweiteten Symbol- und Ritualtheorien führt schließlich zu einem Vorschlag für einen evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Religionsbegriff (Kapitel 8). Er verweist auf noch offene methodologische Verhältnisbestimmungen der bereits angedeuteten Trias aus System, Umwelt und Kommunikation. Die Gewichtung dieser Komponenten beeinflusst die Analyse des produktiven Wechselspiels zwischen menschlicher Intentionalität, umweltlichen und sozialen Systemlogiken und offenbarungstheologischen Wahrheitsansprüchen unmittelbar. Diesem Einfluss wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit kritisch nachgegangen. Einen Auftakt dazu bietet zum Ende dieses zweiten, methodologisch und erkenntnistheoretisch ausgerichteten Teils der kritische Vergleich zwischen den soziologischen Theoriegebäuden von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann (Kapitel 9). Aus diesem Vergleich heraus erschließt sich ein interdisziplinäres Spiegelverhältnis zwischen den evolutionsanthropologischen und theologischen Axiomatiken, das beide auf ihre interdisziplinären Abhängigkeiten verweist (Kapitel 10).
6.1. Methodologische Konsequenzen einer performativen Religionshermeneutik Die evolutiven Entwicklungsmechanismen lassen sich wie gezeigt als Interaktionsprozesse zwischen selektiv wirksamen Umweltfaktoren, komplexen Weiterentwicklungen kognitiver Fähigkeiten und sozialen Aushandlungsmechanismen begreifen. Im Rahmen dieser Interaktionsprozesse kommt es zu komplexen systemischen Differenzierungen, die sowohl auf evolutive Eigenwirksamkeiten als auch auf ihre reflexive Bearbeitung in intentionalen Sozialsettings verweisen. Letztere legen sich als der ›missing link‹, als das
1
Vgl. zu den Parallelen zwischen Barth und Derrida die wichtige Vergleichsstudie von Graham Ward, der nicht nur in dieser Arbeit als ein wichtiger Ideengeber für die Konfrontation von dialektischer Theologie und dekonstruktiver Theorie gelten kann (vgl. Graham Ward, Barth, Derrida and the Language of Theology, Cambridge 1995). Dem Ansatz eines Vergleiches der beiden Methoden und Autoren folgt darüber hinaus auch Gregor M. Hoff im Rahmen seines GlaubensräumeProjektes (vgl. Hoff, Glaubensräume II/1, 368–373).
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
Alleinstellungsmerkmal der Gattung homo gegenüber seinen engsten Verwandten, den Menschenaffen, nahe. Die transzendenzbezogenen, intentionalen Reflexionspraktiken sollen daher im Folgenden durch ein Zusammenlesen ritual- und symboltheoretischer Modellierungen und evolutionsanthropologischer Ritualstudien in ihrer evolutiven Motorenfunktion erschlossen und weiter präzisiert werden. Die im ersten Hauptteil der Arbeit und insbesondere in Bezug auf die Arbeiten Robert Bellahs bereits angedeuteten philosophischen Anknüpfungspunkte werden in diesem Zuge genauer in den Blick genommen. Das ermöglicht die Entwicklung eines theologischen Rezeptionsrahmens. Schon in der oben erschlossenen axialen und performanztheoretischen Heuristik kristallisiert sich dazu ein modifizierter Begriff von Wirklichkeitserkenntnis heraus, der nun auch eine Differenzierung des Religionsverständnisses erforderlich macht. Im religiösen Akt und seiner (Meta-)Reflexion eröffnet sich ein unabhängiger Freiraum, der für sich als Bearbeitungsraum komplexer Realitäten eine temporäre Handlungswirklichkeit beansprucht. Aus der aktiven Partizipation und Reflexion entstehen Sinnpotenziale, die auf komplexe Realitätsgefüge zurückgespiegelt werden können. Das heißt, der Prozess der Religionsevolution selbst erschließt spezifische anthropologische Sinnhorizonte, indem er sie codiert. Robert Bellah metaphorisiert diesen Prozess als spielerische Performance. Cornelia Richter verbindet diese performanztheoretischen Analysen schließlich auf epistemischer Ebene mit weitreichenden Modifikationen des theologischen Wahrheitsbegriffs. In Bezug auf ein performatives Religionsverständnis und seine methodologischen Auswirkungen auf die theologische Axiomatik schreibt sie: »Im Akt des Partizipierens erkennt sie [die Person; JU] sich als konstituierend und konstituiert zugleich – und zwar deshalb, weil sich über diesen stets methodisch geleiteten Akt des Partizipierens der umfassende Sinngrund – die Wahrheit – des Partizipieren-Könnens und Partizipiert-Seins performant erschlossen hat. Im Blick auf die Wahrheitsfrage kann diese Tradition nicht mehr von einer Wahrheit im Sinne einer bloß gegebenen Objektwahrheit ausgehen.«2 Für die Etablierung eines evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Religionsbegriffs und seiner theologischen Reflexion liefert diese veränderte Perspektive auf die religiösen Wahrheitsansprüche ein wichtiges, rahmendes Scharnier: Die Sinnerschließungsfunktion religiöser Praktiken erweist sich hier als selbstwirksame Suchbewegung, die selbst Evolution vollzieht. Nach Richter ist sie selbstkonstituierend und konstituiert zugleich einen neuen Umgang des Menschen mit seiner stets in Veränderung begriffenen, komplexen Umwelt. Wenn an dieser Stelle eine dekonstruktiv erweiterte, symboltheoretisch nachgezeichnete performative Hermeneutik angesetzt wird, dann weil sie einen Verständnisschlüssel bietet, der sich im evolutiven Prozess selbst herausbildet und den Prozess selbst zum Thema macht. Sie verhindert dann eine gegenständliche, auf vordefinierte ›Objektwahrheiten‹ bezogene Axiomatik und beruft sich stattdessen auf die praxisbezogene, immanente Prozesshaftigkeit, die die evolutive Performanz religiöser Vollzüge begründet. Da2
Cornelia Richter, Wahrheit, die sich einstellt. Skizzierung einer Hermeneutik der Performanz, in: Daniel T. Bauer – Thomas Klie – Martina Kumlehn – Andreas Obermann (Hgg.), Von semiotischen Bühnen und religiöser Vergewisserung. Religiöse Kommunikation und ihre Wahrheitsbedingungen (PThW 24), Berlin/Boston 2020, 27–41, hier: 36.
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mit ist die im Folgenden vorgeschlagene Methodologie untrennbar mit dem vorliegenden Rezeptionsgegenstand und den Ansätzen evolutionärer Anthropologien verbunden. Sie sollen einer Relecture unterzogen werden, deren performative Anlage auf notwendige erkenntnistheoretische Umstellungen verweist, die im evolutiven Prozess selbst zum Tragen kommen.
6.2. Ritual- und Symboltheorie als religionsevolutive Erkenntnistheorie Der oben dargelegten methodologischen Deutung schließen sich zahlreiche Theoriebildungen an, die sich mit den Potenzialen von Ritualen und kollektiven Transzendenzbezügen sowie der Ästhetik von Gebetshaltungen beschäftigen.3 Sie tangieren auch die Verhältnisbestimmung zwischen systemischen Komponenten und intersubjektiven Handlungspraktiken. Sie verweisen direkt auf die Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Umstellung religiöser Wahrheitsbegriffe. Ziel ist es daher nun, einige dieser Verweislinien auf die evolutionäre Anthropologie zu beziehen, um so das pragmatischperformativ angelegte Analysesetting weiter zu präzisieren. Dazu dienen im Folgenden einige Spotlights in die neuere Ritual- und Symbolforschung. Diese kann – da sie einen eigenen Kosmos an Theorienetzwerken darstellt – nicht erschöpfend dargelegt werden. Vielmehr sollen ihre Einsichten als konkrete Impulse für die sozialphilosophischen Grundlegungen einer theologischen Ergebnisrezeption dienen. Abgeschritten werden dazu im Folgenden die ritualtheoretische Überlegungen Ursula Raos und die symboltheoretischen Untersuchungen von Robert Cummings Neville und Terrence Deacon. Einen theologischen Anschluss an dieses Theorieportfolio bietet der praktisch-theologische Beitrag Sibylle Trawögers zur Performanz des kontemplativen Gebets. Es ergeben sich konkrete Verknüpfungen zwischen einer performativen Religionshermeneutik und kognitiven sowie systemischen Bedingungen der menschlichen Evolution.
6.2.1. Ursula Raos performanztheoretische Ritualforschung Die Ethnologin Ursula Rao erschließt die angesprochenen Verbindungslinien zwischen systemischen und soziokulturellen Faktoren in ihrer an den ›performative turn‹ anschließenden Ritualuntersuchung4 . Im Rahmen einer performativen Hermeneutik sieht sie eine Theoriewende der Ritualforschung erreicht. So könnten fortan systemische und funktionale Faktoren nicht mehr isoliert im Sinne einer universalen Erklärungsfolie auf rituelle Handlungen gelegt werden. Vielmehr erschienen Rituale im Anschluss an die performative Wende als stetig ausgehandelte, temporär wirksame Praxis.5 Die Emergenzen dieser temporären Praxis lägen nie ganz in der Kontrolle des reglementierten Ritualaktes. Rao zufolge wird ein freier Sinnüberschuss erzeugt, der nie ohne Weiteres antizipiert werden könne, sondern auf immer neue aktuale Vollzüge angewiesen
3 4 5
Vgl. dazu den Forschungsüberblick zum kontemplativen Gebet in Trawöger, Ästhetik, 129–212. Rao, Ritual. Vgl. ebd., 363.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
bleibe.6 Es wird deutlich, wie selbstwirksame Emergenzfaktoren und intersubjektive Diskurshandlungen hier ineinandergreifen, ohne dass sie ineinander aufgehoben werden können. Raos Überlegungen weisen damit klare Verbindungslinien zu den Herausforderungen einer Modellierung der Religionsevolution auf. Sie verbindet mit der performativen Wende die Erkenntnis eines neuen Wirklichkeitszugangs, der klar handlungsorientiert ist und daher als temporär und bleibend prozesshaft zu kennzeichnen ist. Das bedeutet dann aber auch, dass die in Ritualen transportierten Weltdeutungen und Handlungsmaßstäbe nicht einfach vorliegen, sondern erst aus den eigenen, dynamischen Systemlogiken erwachsen, die sie selbst erzeugen. Diese Erkenntnis verweist erneut auf den evolutiven Durchbruch, der mit der Entwicklung geteilter Intentionalität und einem virtualisierten Wirklichkeitszugang erreicht wird: Weltzugänge können aktiv erschlossen werden und der Sinnbezug bekommt im Rahmen einer solchen Metaperspektive erstmals überhaupt einen Raum. Dieser Raum bietet jedoch keinen gegebenen Bearbeitungsautomatismus oder eine vorgeformte Botschaft der Natur im Sinne einer transzendenten Wirklichkeit gegenüber den Menschen, sondern er entsteht im jeweiligen Reflexionsakt selbst. Laut Rao ergeben sich aus dieser erkenntnistheoretischen Funktion von Ritualvollzügen analytische Rückwirkungen auf die Bewertung der Rolle konkreter Einzelakteur*innen und ihrer kollektiven Handlungen: »[Sie] erscheinen […] nun nicht mehr als Empfänger einer transzendenten Botschaft, sondern als aktiv Beteiligte am Handlungsgeschehen. Teilnehmer folgen nicht vorgegebenen kulturellen Mustern sondern eignen sich diese in neuen, manchmal subversiven Versionen an und gestalten damit das Handlungsgeschehen […] und die Folgen […] für den sozialen Kontext.«7 Rituelle Handlungen liegen demnach, das wird hier nochmals deutlich, in einem Spannungsfeld zwischen Umweltgegebenheiten, systemischen Organisationen, funktionalen Reaktionen und aktiv-subversiven Erschließungspraktiken.
6.2.2. Robert Cummings Nevilles Verständnis von ›symbolischer Wahrheit‹ Diese Erschließungsbewegung zwischen systemischen Emergenzen und aktiven Reflexionen ist laut Robert Cummings Neville genau das, was auch religiöse Symbole in ihrem Gebrauch ›tun‹.8 Entsprechend lassen sich seine Überlegungen – ebenso wie die Einwürfe Raos – an den von Cornelia Richter theologisch angemahnten, veränderten Wahrheitsbegriff anschließen. Cummings Neville definiert symbolische Wahrheit im Rahmen seiner pragmatischen Hermeneutik als transformative Wirkweise. Jenseits einer objektivierten Binarität von wahr oder falsch bindet er den Wahrheitsanspruch religiös er6 7 8
Vgl. ebd. Ebd., 369. Vgl. die entsprechende Kapitelüberschrift »What Religious Symbols Do« [meine Hervorhebung; JU] in Robert Cummings Neville, The Truth of Broken Symbols (SUNYRS), New York (NY) 1996, 1.
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schlossener Symbolwelten an ihre praktische Transformationskraft. Demnach zielen religiöse Symbolwelten darauf ab, konkret auf die Lebensweisen von Einzelakteur*innen und Gesellschaften einzuwirken, um sie auf den transzendenten Sinnhorizont hin auszurichten und ihre Praktiken so einzupassen, dass sie diesen Sinnhorizont selbst in ihren Handlungen und Wertegefügen immer neu aktualisieren und als solchen qualifizieren.9 Cummings Neville versteht den Umgang mit religiösen Symbolen also als Praxis der Wahrheitsperformanz, die einen neuen Blickwinkel auf herausfordernde Wirklichkeitserfahrungen einführt. Er bindet sie an die sozialsystemischen und intersubjektiven Alltagsvoraussetzungen und schreibt ihnen zugleich die Möglichkeit ihrer performativen Überschreitung und Beeinflussung zu. Dieses performative Spannungsfeld, das religiöse Symbole Cummings Neville zufolge selbst erzeugen, verbindet religiöse Weltdeutungen mit einer eigenen sozialevolutiven Funktion und relativiert sie zugleich, denn: »Their truth is relative to the ways their symbol systems connect the religious object to the ordinary conditions.«10 Mit dieser Beschreibung ist performanztheoretisch das eingeholt und spezifiziert, was Volker Gerhardt als anthropologischen Vollzug schlechthin, als die Suche nach dem ›Sinn des Sinns‹ bezeichnet hatte. Im Rahmen einer symboltheoretischen Annäherung werden drei Aspekte erschlossen, die für die weitere Entwicklung eines evolutionsbezogenen Verständnisses religiöser Wirklichkeitsbezüge von Bedeutung sind. Rituelle und symbolische Erschließungsakte performieren ›wahre‹ Ausdeutungen menschlichen Erlebens, insofern sie… 1. … anthropologische Erfahrungen aktiv material verkörpern.11 2. … lebenspraktisch wirksame Transformationen sozialer und individueller Couleur hervorrufen. 3. … eine Metaperspektive intentionalen Verstehens entwickeln und auf diese Weise nicht nur in konkreten Situationen geteilte, sondern allgemeine, kollektive Grundlagen einer kulturellen Identität hervorrufen: Sie bilden einen immer wieder aktualisierbaren virtuellen Zwischenraum.
6.2.3. Ritualpraktiken als erkenntnistheoretische Paradoxie Die erörterten evolutionsgeschichtlichen Aspekte praktischer Erkenntnisweisen der Religion können in Anlehnung an Sibylle Trawögers Beschäftigung mit kontemplativen Gebetspraktiken weiter konkretisiert und an theologische Überlegungen angeschlossen
9 10 11
Vgl. ebd., 243. Ebd., 251. Vgl. zur evolutiven Rolle der Körperlichkeit für rituelle Weltzugänge auch im weiteren Verlauf die Verweise auf Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation (Humanprojekt. Interdisziplinäre Anthropologie 4), Berlin 2009; sowie Matthias Jung, Embodiment, Transcendence, and Contingency. Anthropological Features of the Axial Age, in: Robert N. Bellah – Hans Joas (Hgg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (MA) 2012, 77–101.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
werden.12 Auch sie verknüpft spielerisch erschlossene Handlungsräume mit einem differenzierten theologischen Wahrheitsbegriff, den sie entlang dieses konkreten glaubenspraktischen Beispiels erarbeitet. Laut Trawöger sind kontemplative Gebetsbewegungen ein Versuch der Wahrnehmung primärer Präsenz. In symbolisch aufgeladenen Handlungen und Gebeten solle über den immer schon vermittelten Weltzugang hinweg das Erleben einer ›realen Gegenwart‹ erreicht werden. Zugleich sei dieser Vorgang als aktualer, temporärer Vollzug immer auf die bleibende Distanz zwischen der mit ›Gott‹ bezeichneten transzendenten Gegenwart und der menschlichen Erfahrung verwiesen. Diese Distanz begründet den kontemplativen Akt demnach selbst konstitutiv mit.13 Zur näheren Beschreibung dieser Weise der Wahrnehmung und damit der Weltdeutung bezieht sich auch Trawöger auf die Spielmetaphorik – »Kontemplation könnte als ein Versuch bezeichnet werden, sich als ›homo ludens‹ in die ›Stadt des Primären‹ hineinzubegeben.«14 Die Detailanalyse kontemplativer Praktiken führt Trawöger schließlich zu einer wichtigen Beobachtung hinsichtlich deren eigentümlicher Funktionsweise: Einerseits beanspruchten die beschriebenen Praktiken einen Zugang zur primären, ›göttlichen Präsenz‹ über stark körperbetonte, das heißt materiale Handlungsperformanz. Zugleich liege ihre konstitutive Ästhetik darin, die erlebte Präsenz immer schon als ›Entzogenheit Gottes‹ zu markieren. Kontemplation bestehe eben nicht darin, immanente Praktiken mit der Transzendenz gleichzusetzen, auf die sie sich beziehen. In Trawögers Beschreibung zeigt sich: Kontemplative Praktiken betonen einerseits die menschliche Materialgebundenheit als erkenntnistheoretische Zugangsweise und versehen sie so mit einem gesteigerten Wert. Zugleich relativieren sie diese Zugänge stetig durch das thematisierte Entzogenheitsmoment.15 Ihre performative, erkenntnistreibende und also theologische Ästhetik ist also weder einfach materialisierbar noch transzendentalisierbar. Die hier beschriebene erkenntnistheoretische Paradoxie kontemplativer Praktiken entspricht den erarbeiteten Herausforderungen einer evolutionstheoretischen Einordnung religiöser Vollzüge. Die Verknüpfung einer konkreten, begrenzten körperlichen Wahrnehmung mit dem Anspruch eines universalen Zugangs zur Wirklichkeit im Rahmen von Kontemplation beschreibt ein innerreligiöses Spannungsfeld, in dem sich angesichts der erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Vollzüge im evolutiven Prozess auch die vorliegende Arbeit bewegt: Die menschliche Fähigkeit zur Symbolisierung und Virtualisierung alltäglicher Herausforderungen ist zunächst einmal abhängig von kognitiven (und damit körperlichen) Grundfähigkeiten. Sie bilden Bedingungen der Möglichkeit symbolischer Erkenntnisformen. Insofern stehen Ritualisierungen und Glaubensvollzüge aller Art in direktem Zusammenhang mit den untersuchten kognitiven und sozialen Alleinstellungsmerkmalen des Menschen, wie sie etwa Michael Tomasello beschreibt. Zugleich wird deutlich, dass die kognitiven Dispositionen des Menschen zwar notwendige Voraussetzungen, jedoch keinesfalls hinreichende
12 13 14 15
Vgl. Trawöger, Ästhetik. Vgl. ebd., 95. Ebd. Vgl. ebd.
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Erklärungen symbolisch virtualisierter Sinnausdeutungen sind. Vielmehr führen Erfahrungssymbolisierungen und ihre konkreten (etwa kontemplativen) Verkörperungen performativ neue Sachverhalte und Reflexionsgrundlagen ein, die nicht einfach als festgelegter Output kognitiver Modularitäten gesehen werden können. In ihrem Versuch, diese Beobachtung in das Spannungsfeld soziokultureller und kognitiver Co-Evolution einzuordnen, halten Terrence W. Deacon und Tyrone Cashman daher an der eigenständigen Emergenz symbolischer Vollzüge und religiöser Erfahrungen fest, ohne sie von evolutiven Bedingungsgefügen abzukoppeln: »These experiences are emergent phenomena, namely, they are not presaged in the various evolved psychological mechanisms. They emerge out of the unique capacity of symbolization to imagine the juxtaposition and fusion of ideas and experiences outside of normal experience and, in the process, to induce otherwise mutually exclusive emotions to become simultaneously experienced.«16 Symbolisierende Imagination und ihr sprachlicher wie praktischer Ausdruck gewinnen damit an Bedeutung für den menschlichen Zugang zu realen Sachverhalten der Umgebung. Sie machen die soziale und materiale Umwelt für den Menschen erst von einer Metaperspektive aus zugänglich und übersteigen ihre materialen und sozialen Möglichkeitsbedingungen damit zugleich immer schon durch ihre synthetisierende und erschließende Funktion. Es entstehen neue kollektive Erfahrungsräume, die dann nicht mehr ohne weiteres direkt aus kognitiven Modularien oder sozialen Selektionsmechanismen abgeleitet werden können. Vielmehr stellen sie neue Modi der Erfahrung dar.17 Dieser neue Wirklichkeitszugang leistet im Angesicht realer Herausforderungssettings eine »integration with a larger reality«18 , das heißt: Eine bewusste Vermittlung zwischen kognitiven Dispositionen und aktualen Erfahrungen eröffnet performativ einen integrativen Zwischenraum, der überhaupt erst die Bedeutsamkeit der Realität für den Menschen zugänglich, das heißt wahr und relevant macht. In kontemplativen Gebetspraktiken wird genau dieser Raum als theologieproduktiv behandelt und aufgerufen. In ihm ist der Gottesbezug als Erkenntnisvollzug verortet. Er markiert dabei nicht einfach einen abgekoppelten, fiktiven Bereich menschlicher Fantasie, sondern bindet sich selbst immer schon auch an materielle Realitäten zurück. Diese materielle Komponente konnte evolutionsgeschichtlich bereits in Bezug auf die Rolle deiktischer Zeichenausdrücke, schriftlicher Erinnerungskulturen sowie der in Studien nachgewiesenen sozialen Integrationskraft (etwa von koordiniertem Tanz) nachgezeichnet werden. In symbolisch strukturierten Sinngebungsprozessen verkörpert sich der menschliche Weltzugang entsprechend auch im wörtlichen Sinne, ohne dass seine Performanz in einer einfach gegebenen Realität aufgeht oder diese wie eine Schablone abbildet.19 Religiöse Weltzugänge erschließen sich vor dem Hintergrund der dargelegten Ritual- und Symboltheorien als Brennglas einer anthropologischen Genese aus systemischen 16 17 18 19
Terrence W. Deacon – Tyrone Cashman, The Role of Symbolic Capacity in the Origins of Religion, in: Journal for the Study of Religion, Nature and Culture 3/4 (2009) 490–517, hier: 495. Vgl. ebd., 508. Ebd., 514. Vgl. Jung, Ausdruck, 13f.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
Herausforderungen, neuen kognitiven Möglichkeiten und intentionalen Aushandlungsprozessen. Daraus ergibt sich ein konkretes Anforderungssetting an die Anthropologie, das Matthias Jung treffend ins Wort fasst, wenn er feststellt: »Gleichzeitig gewinnt man eine erste Vorstellung von der Aufgabe und Bedeutung philosophischer Anthropologie: es geht um die Verhältnisbestimmung von evolutionärer Genese und Kontinuität einerseits und dem, was ich den Holismus der Differenz nennen werde, andererseits: darunter verstehe ich die Tatsache, dass sich die menschliche Lebensform als strukturierte Ganzheit – und eben nicht allein durch zusätzliche kognitive und kommunikative Kompetenzen – von derjenigen anderer Lebewesen unterscheidet.«20 Die evolutiv erreichte Spannung zwischen kognitiver Vorprägung und einer jeweils konkret kommunizierten Erfahrungs- und Handlungsqualität des Menschen ist nicht einzuebnen, sondern könnte stattdessen als das ›Anthropologische der Anthropologie‹ bezeichnet werden. Als solches ist es direkt auch auf ein Verständnis des »Theologischen der Theologie«21 verwiesen: Die Rede von ›Gott‹ ist eingefasst in evolutive Kontingenzen und zeichnet sich zugleich durch ihren Reflexionscharakter aus, der diese Kontingenzen immer schon problematisiert und transzendiert. Genau in dieser Spannung, die Transzendenzbezüge aushalten und bearbeiten, ohne sie jemals auflösen zu können, performiert sich ihr theologischer Gehalt. Er besteht im sinnhaften Absichern einer Einzigartigkeit des Menschen, der sich in einem »Aufstand gegen das Selektionsprinzip [befindet; JU]. Sie [die Religion; JU] öffnet den Menschen für eine größere Realität, vor der jeder Mensch unendlichen Wert hat und absolut gleich ist.«22 Zugleich bedeutet diese die konkrete Lebenswirklichkeit transzendierende Realität immer auch eine – an evolutiv geprägte Erfahrungen anschlussfähige – Relativierung des Menschen: Die Artikulation eines Transzendenzraumes und die praktische, auch körperliche Bezugnahme auf diesen, ruft die komplexen Abhängigkeitsgefüge ins Bewusstsein, in die der Mensch eingebunden ist. Sie macht deutlich, dass er über diese Abhängigkeiten nicht einfach frei verfügen kann. Der Aufstand bleibt ein Aufstand und ist als solcher ein anthropologischer Identitätsmarker, von dem aus sich der Mensch als Mensch selbst versteht und seine Lebensvollzüge rituell, narrativ und sozialnormativ deutet – freilich wiederum ohne über diese Deutungen hinaus Sicherheit ob seiner Existenz und der Beschaffenheit seiner Umwelt gewinnen zu können. Die hier symbol- und ritualtheoretisch sowie im Hinblick auf kontemplative Gebetspraktiken präzisierte performative Hermeneutik stützt die Annahme, dass eine unmittelbare Realitätserfassung nicht den anthropologischen Grundanlagen entspricht. Vielmehr konnten auch evolutionsgeschichtlich immer wieder symbolisch und normativ angelegte Wirklichkeitszugänge nachgezeichnet werden, in denen der Mensch qua seiner kommunikativen Ausrichtung immer schon verhaftet ist. Das heißt aber 20 21
22
Ebd., 1. Franz Gmainer-Pranzl – Gregor M. Hoff (Hgg.), Das Theologische der Theologie. Wissenschaftstheoretische Reflexionen – methodische Bestimmungen – disziplinäre Konkretionen (STSud 62), Innsbruck 2019. Theißen, Glaube, 72.
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nicht, dass ein material fassbarer, klarer ›Block‹ an Einflussfaktoren den Menschen in Handlungs- und Wahrnehmungsautomatismen stürzen würde, im Gegenteil: Menschliche Handlungen sind eingebettet in Umwelt- und Sozialeinflüsse und wirken zugleich auf diese zurück – diese Interdependenz macht die Komplexität der menschlichen Evolution aus. Es kommt also immer schon zur kreativen Bearbeitung der Abhängigkeits- und Begrenzungsfaktoren in temporären Virtualisierungspraktiken. Nur so ist ein reflexiver, (selbst-)bewusster Umgang mit ihnen möglich. Erkenntnistheoretisch gefasst bedeutet dies, dass rituelle Handlungen und symbolgestützte Transzendenzdiskurse nicht als von evolutiven Realitäten abgekoppelt verstanden werden können. Sie sind also auch keine realitätsenthobene Fiktion. Religiöse Sinnformate sind stattdessen als konkret fassbare Handlungen im komplexen Rahmengefüge der natürlichen und sozialen Umwelt zu kennzeichnen. Sie betten sich ein in das Zusammenspiel aus diskursiven Geltungsansprüchen und sozialsystemischen Bedingtheiten. Das ihnen innewohnende Moment der Intersubjektivität ist von diesem Gefüge getragen und zugleich herausgefordert. Sinnnarrative üben auf diese Weise selbst einen direkten Einfluss auf ihr Entstehungs- und Bedingungsgefüge aus. Diese Rückkoppelungsmechanismen sind allerdings nicht als direkte UrsacheWirkung Verbindungen festzuschreiben. Vielmehr können sie als virtuelles Transformationspotenzial eines transzendierten Handlungsraumes gegenüber immanenten sozialen Umgangsformen beschrieben werden.23 Dieser virtuelle Raum ist zwar an Aushandlungen und Symbolisierungen festzumachen, geht aber nicht einfach in einer material fassbaren ›Realität‹ auf. Vielmehr verweist er darauf, dass die ›Realität‹ nie ›an sich‹ gegeben ist, sondern immer von Reflexionsformen und -normen abhängt. Als spezifisch metaperspektivisch ausgerichtete Reflexionsform verweist die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz in religiösen Aushandlungsprozessen auf eine kritische Distanz zu den komplexen Umweltfaktoren. Auf der Grundlage dieser Distanzierung stößt die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung performative Wirksamkeit an und löst Feedbackschleifen aus, die die Resilienz sozialer Systeme mitbestimmen. Das heißt: »Ihre eigentliche Bedeutung besteht nicht darin mitzuteilen, was außerhalb ihrer schon tatsächlich ist, sondern zu bewirken, was ohne sie nicht zustande käme.«24 Diese Erschließungsfunktion, ohne die eine Rede von Wirklichkeit nicht möglich wäre, sieht auch Robert Cummings Neville bei Zeichen und religiösen Symbolen gegeben, wenn er festhält: »[…] signs engage us with reality; without signs, we are causally implicated in reality but cannot engage it. Religious signs, or symbols, are necessary for engaging religious realities; and the existence of religious signs makes engaging religious realities possible.«25 23
24 25
Vgl. zu diesen virtuellen Effekten aus praktisch-theologischer Sicht die ausführliche und gewinnbringende Studie von Ilona Nord, die auch im Verlauf dieser Arbeit zur Sprache kommen wird (Ilona Nord, Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität (PThW 5), Berlin 2008). Höhn, Zeit, 63. Robert Cummings Neville, On the Scope and Truth of Theology. Theology as Symbolic Engagement, New York (NY)/London 2006, 29 [Kursivierungen im Original].
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
Erst zeichenhaft erschlossene Spielräume liefern also die Bedingung der Möglichkeit, von ›Realität‹ zu sprechen und das heißt denkerisch von ihr auszugehen und aktiv mit ihr umzugehen. Zeichenhaft erschlossene Sinnnarrative erweisen sich vor diesem Hintergrund als grundlegende Faktoren einer anthropologischen Evolution.
6.3. Performative Religionshermeneutik im Horizont einer Metaphysik(-kritik) Das erörterte Zusammenspiel evolutionstheoretischer Erkenntnisbedingungen und -grenzen mit der performativen Wirkung sprachlicher und ritueller Symbolwelten zeigt auch Konsequenzen für das erkenntnistheoretische Verständnis transzendenter Codierungen und Praktiken auf. Die oben angeführten Erkenntnisse betreffen unmittelbar das ›Realismusproblem‹ eines transzendenten (und damit im Kern anthropologischen) Weltzugangs. Von dieser ›Realismusfrage‹ sieht sich auch eine fundamentaltheologische Reflexion herausgefordert. Es gilt, transzendenzbezogene Aussagezusammenhänge auf der Grundlage der dargelegten, glaubenskonstitutiven Paradoxien und Relativierungen einer kritischen Reevaluierung zu unterziehen. Sie zielt auf die Einführung eines evolutionsanthropologisch anschlussfähigen und theologisch reflektierten Religionsverständnisses. In einem ersten Schritt hin zu diesem Ziel zeigt sich ein Bezug auf die kognitive Metapherntheorie26 als fruchtbar. Auf ihrer Grundlage kann die evolutive Einbettung der Transzendenznarrative in ihrer relativierenden Wirkung für transzendente Aussagezusammenhänge zugespitzt erschlossen werden. Im Anschluss wird dieser Relativierung über die Rezeption der Metaphysikkritik von Martin Breul und Saskia Wendel auch erkenntnisphilosophisch und theologisch Rechnung getragen – ihr Konzept einer ›praktischen Metaphysik‹27 verbindet die hier vorgeschlagene performative Religionshermeneutik mit der begründeten Umstellung einer klassisch metaphysischen Axiomatik.
6.3.1. Realitätsbezüge im Gepräge wirkmächtiger Metaphern Aus den vorangegangenen Theoriebildungen ergibt sich zunächst folgende Ausgangslage für das im Code ›Gott‹ präsentierte Transzendenznarrativ: »Wenn ›Gott‹ nicht einfach Teil der Welt ist, also nicht direkt identifizierbar, erschließt sich seine Wirklichkeit zunächst mit dem Gebrauch des Zeichens, das eine einzigartige Perspektive in die Welt einführt: dass ihre Wirklichkeit an einen Grund gekoppelt ist, der in einer notwendigen Unterscheidung der Welt von sich selbst, nämlich von ihrer Ermöglichung auftritt.«28 26 27 28
Vgl. George Lakoff – Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern (Systematische Horizonte – Theorie der Praxis), Heidelberg 9 2018. Vgl. Saskia Wendel – Martin Breul, Vernünftig glauben – begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationaler Theologie, Freiburg i.Br. 2020. Gregor M. Hoff, Die Wirklichkeit des Zeichens »Gott«. Zur metaphorologisch-performanztheoretischen Rekonstruktion des theologischen Realismusproblems, in: Benedikt P. Göcke – Thomas
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Die im Code ›Gott‹ verbriefte Weltenthobenheit stellt die performative Durchschlagskraft des Zeichengebrauchs als Zeichengebrauch und damit als semiotisch verkörperte Kognitionsleistung nochmal eigens heraus. Religiöser Zeichengebrauch ist demnach eingebettet in ein »Konzeptsystem«29 , dessen Aussagegültigkeit und Wirklichkeitsbezug sich immer nur in seinem Gebrauch selbst nachvollziehen lassen. Der Analyse dieses konzeptgebundenen Zeichengebrauchs und seines Bezugs auf die Deutung von Wirklichkeit widmen sich George Lakoff und Mark Johnson im Rahmen ihrer kognitiven Metapherntheorie. Sie reflektieren, wie schon Bellah, auf multiple Wahrheiten. Diese hängen für sie von den jeweils zugrunde gelegten Konzepten ab, mit denen ›objektive Wahrheit‹ jeweils betrachtet wird. Diese Konzepte, so Lakoff und Johnson, zeichnen sich durch wirkmächtige Metaphern aus.30 Die Metapherntheorie verweist damit auf die konstruktive Funktion von Kommunikation, die auch in Bezug auf die Entwicklung menschlicher Kollektive nachgezeichnet werden konnte. Transzendenzbezüge zeichnen sich entsprechend, so Benedikt Gilich in Bezug auf Lakoff und Johnson, weder durch eine Erfahrungsenthobenheit noch durch eine einfach reflexive Bezugnahme auf unmittelbare Erfahrungen aus. Vielmehr lassen sich Lebenswirklichkeiten nie von ihrer sprachlichen, symbolischen und praktischen Konstruktion trennen.31 Die von Lakoff und Johnson angesprochenen Konzeptsysteme vermitteln damit eine Abhängigkeit der Wirklichkeitswahrnehmung und -deutung von multiplen Faktoren, wie sie bereits evolutionsanthropologisch plausibilisiert werden konnte. Sie kulminieren der Theorie zufolge in wirkmächtigen, kognitiv rückgebundenen metaphorischen Konzeptionen, die je nach sozialem und umweltlichem Kontext verschiedene Anwendung finden. Laut Lakoff und Johnson bedeutet das in Bezug auf die oben angesprochene erkenntnistheoretische Frage nach ›der Realität‹ menschlicher Symbolisierungen und Wahrnehmungspraktiken, dass sie radikal pluralisiert wird. Ähnlich wie Eisenstadt, Schütz und Bellah weist auch die kognitive Metapherntheorie auf eine umweltliche, kognitive und soziale Relativierung menschlicher Erkenntnis hin. Lakoff und Johnson erteilen auf diese Weise universalistischen und objektivistischen Erkenntniskonzeptionen eine Absage und konstatieren: »Weil wir Situationen und Aussagen von unserem Konzeptsystem her verstehen, ist Wahrheit für uns immer von diesem Konzeptsystem abhängig. Da auch Verstehen immer partiell ist, haben wir keinen Zugang zu ›der ganzen Wahrheit‹ oder zu einer endgültigen Explikation von Realität.«32 An dieser Schnittstelle zeigen sich auch deutliche Herausforderungen für den Entwurf eines theologischen Transzendenzbegriffs und für seinen metaphysischen Anspruch. Er
29 30 31 32
Schärtl (Hgg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020, 113–133, hier: 122. Lakoff – Johnson, Leben, 184. Vgl. ebd., 183f. Vgl. Benedikt Gilich, Die Verkörperung der Theologie. Gottesrede als Metaphorologie (ReligionsKulturen 8), Stuttgart 2011, 261. Lakoff – Johnson, Leben, 207.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
ist vor dem Hintergrund der dargestellten evolutionstheoretischen und sprachpragmatischen Bedingungslage auf »eine Ortsbestimmung des ›Religiösen‹ im Ganzen menschlicher Lebenspraxis [… angewiesen; JU]. Es bezieht sich nicht auf ›etwas‹ oder ›alles‹ im Leben, sondern auf das Leben in seiner Ganzheit. Anders formuliert: Religion zeigt sich als eine spezifische Einstellung zu Lebenseinstellungen, als eine besondere Umgangsform mit den Formen, mit den Limitationen des Daseins umzugehen.«33 Diese Umgangsform beschreibt auch Hans-Joachim Höhn als von einem »›metaphorische[n]‹ Charakter«34 geprägt. Dieser mache eine Unterscheidung zwischen der Rede von ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ notwendig. Religiöse Vollzüge stehen demnach vor der Herausforderung, »über das Wirkliche mehr sagen [zu; JU] müssen, als es in Wirklichkeit ist, um sagen zu können, was es in Wahrheit ist […].«35 Religiösen Lebenspraktiken fällt in ihrem universalen Sinnanspruch also die Herausforderung zu, angesichts einer bleibenden leidvollen Sinnlosigkeit der Alltagswelt einen Zwischenraum zu besetzen, der sich gerade nicht auf die Teleologie einer ihn umgebenden Umwelt verlassen kann. Aus dieser Herausforderungslage heraus agieren religiöse Reflexions- und Handlungsmuster im Modus einer »›wohltuende[n]‹ Grundlosigkeit«36 , deren »nützliche Nutzlosigkeit«37 wie gezeigt in der Transzendierung funktionaler Alltagsstrukturen liegt. Die dargestellte performative Anlage der Religionsevolution sowie ihre ritual- und metapherntheoretische Reflexion wehrt vor diesem Herausforderungshintergrund einer der Hauptangriffsflächen religionskritischer Ausformungen des szientifischen Naturalismus. Sie hebt die teleologisch fundierte Vorstellung eines ›intelligent design‹ religionsimmanent aus den unterstellten erkenntnistheoretischen Angeln. Stattdessen betont sie die komplexe Differenz zwischen intentionaler Sinnsuche des handelnden Menschen und der sie antreibenden kontingenten Umweltgegebenheiten. So argumentiert ein performativer Zugang zur Religionsevolution auf der Grundlage des Bewusstseins um seine Konzeptbezogenheit gegen eine naturrechtliche Teleologie.38 Zugleich macht das vorgeschlagene Verständnis religiöser Sinnperformanz transparent, dass und inwieweit Transzendenzcodes weiterhin in einer metaphysischen Logik operieren, wenn sie virtualisierende Metaphern auf das konkrete Alltagserleben anwenden und damit einen universalen Sinnhorizont voraussetzen, der die konkreten Gegebenheiten übersteigt. Dieses bleibend metaphysische Framing bringt erkenntnistheoretische Herausforderungen mit sich, die mit der Betonung symbolbasierter Welterschließung keinesfalls einfach aufgehoben sind. Zugleich verweist nicht zuletzt die evolutive Einbindung religiöser Vollzüge auf die diesem Vorhaben gesetzten Erkenntnisgrenzen, die auch ihre religiöse Bearbeitung nicht aushebeln kann. Ihre Meta-Bewegungen sind zum einen 33 34 35 36 37 38
Höhn, Zeit, 148. Ebd., 66. Ebd. Vgl. dazu auch Ders., Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie, Würzburg 2020, 116–118. Höhn, Zeit, 178. Gopnik, Philosophen, 22f. Vgl. dazu ausführlicher ebenfalls Höhn, Zeit, 184–191.
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immer schon im (evolutiven) System verortet, indem sie dieses erst als qualifizierten Ort benennbar machen. Diese Benennung erfolgt jedoch zum anderen ohne die Möglichkeit, diesen Ort (teleologisch-intentional) beherrschen zu können.
6.3.2. Pragmatische Neuverortungen von Religionsvollzügen als Metaphysik(-kritik) Laut Saskia Wendel zeigt sich hier, dass sich die Einführung metaphysischer Horizonte »aus einer dialektischen Struktur des Denkens selbst«39 heraus entwickelt: Die reflexive Überschreitung der immanenten Grenzen des Menschen mache ihm diese Grenzen erst bewusst. Die metaphysische Anlage religiöser Narrative und Praktiken versteht sie entsprechend sowohl als »reflektierende Rebellion«40 gegenüber menschlichen Begrenzungen als auch als »Akt ihrer Anerkennung«41 . Das heißt für Wendel, dass die Performanz der metaphysischen Ansprüche immer zwischen den eigenen Grenzen und der erschlossenen Grenzenlosigkeit changiert.42 Folgt man Wendels Überlegungen, so ist der dargestellte komplexe Umgang mit den Herausforderungen einer selektiv ›agierenden‹ Alltagswelt der Kontext, aus dem heraus religiöse Wirklichkeitszugänge evolvieren. Die reflexiv erschlossene Begrenztheit des Seins entwickelt eine wirklichkeitstheoretisch anspruchsvolle Performanz, auf die der Mensch zuvor nicht zugreifen konnte. Geteilte kulturelle Wirklichkeitszugänge sind insofern zugleich die Reaktion auf erlebte Komplexitätsmuster der Umwelt und als Aktion immer schon an eine reflexive Bearbeitung dieser Muster gebunden: Sie bespielen ein nicht aufzulösendes Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld bricht sich in sprachlichen und körperlichen Symbolisierungen Bahn.43 Ohne diese imaginative Verwirklichungsdynamik wäre eine Rede von tatsächlichen Erfahrungsgrundlagen nicht möglich. Ihre Einordnung hätte als solche keinen anthropologischen Ort. Der Wirklichkeitszugriff religiöser Konstruktionen ist in diesem Sinne als pragmatische Lebenswelthermeneutik zu begreifen, die metaphysische Sinnausweitungen angesichts aktueller Herausforderungssettings vornimmt. Diese spiegelt sie immer wieder auf immanente Sachverhalte zurück. Im Rahmen dieser Immanenz muss sie sich als vernunftmäßig erweisen. Transzendenznarrative, so wird hier deutlich, haben ihren erkenntnistheoretischen Ort in der immanenten Suche nach dem ›Sinn des Sinns‹, ohne die ihre Rede von einer transzendenten Wirklichkeit vernunftmäßig und erkenntnislogisch keinen Ort hätte. Es geht hier also um eine praktische Transzendierung lebensweltlich erfahrbarer Zusammenhänge.
39
40 41 42 43
Saskia Wendel, In praktischer Hinsicht das Leben als Ganzes deuten. Ein Vorschlag zum Redigieren der Metaphysik, in: Saskia Wendel – Martin Breul, Vernünftig glauben – begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationaler Theologie, Freiburg i.Br. 2020, 17–155, hier: 81. Ebd. Vgl. ebd., 82. Vgl. ebd., 81f. Die evolutive Funktionsweise solcher sprachlichen und körperlichen Symbolpraktiken konnte bereits mit Michael Tomasello, Terrence Deacon und Robert Cummings-Neville nachgezeichnet werden.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
Das hier vorgeschlagene evolutive Verständnis religiöser Codierungsvorgänge hat zwangsläufig auch Auswirkungen auf den erkenntnistheoretischen Status metaphysischer Aussagelogiken der Theologie. Dieser Spur folgt auch Martin Breul, indem er den im Angesicht der evolutionären Anthropologie verschärften Problemhorizont als allgemeine theologische Herausforderung erfasst und das aufgerufene Spannungsfeld wie folgt skizziert: »Wir bringen Gott nicht durch unser Sprechen hervor […]. Gott existiert, wenn er existiert, unabhängig von unserem Glauben an ihn. Zugleich haben wir aber nichts als (im weitesten Sinne) sprachliche bzw. kommunikative Symbole, um uns der göttlichen Wirklichkeit anzunähern. Innerhalb eines solchen theologischen internen Realismus ist der christliche Glaube folglich eine Deutung unserer Existenz und unserer lebensweltlichen, alltagspraktischen Erfahrungen, nicht aber eine metaphysische Notwendigkeit.«44 Gemeinsam mit Saskia Wendel schlägt er daher ein verändertes metaphysisches Setting vor, das auch im Angesicht religiöser Evolution in seiner pragmatischen Anlage überzeugt. So insistiert Saskia Wendel auf metaphysische Aussagelogiken als einen notwendigen Bezugspunkt der praktischen Vernunft »im Dienst einer gelingenden Lebenspraxis [angesichts des; JU] bedingten, endlichen Daseins […].«45 Als Ausgangspunkt für ihr pragmatisches Theoriesetting setzten Wendel und Breul das anthropologische Proprium der praktischen Vernunft. Ihre daraus erwachsenden Schlussfolgerungen lassen sich, wie zu zeigen sein wird, an die hier vorgeschlagene performative Hermeneutik selbsterschließender Ritual- und Symbolisierungspraktiken anschließen. Bei der Beschreibung der praktischen Grundlage metaphysischer Sinnanlagen geht es Wendel zufolge zunächst um eine »›Umänderung der Denkungsart‹ [Kant; JU] hin zu einer praktischen Metaphysik [,die; JU] nicht lediglich eine Frage des methodischen ›Einstiegs‹ der Reflexion ist, sondern die metaphysische Reflexion selbst grundlegend bestimmt, geht es doch nicht um theoretische Spekulationen über Sein, Wirklichkeit, Welt und somit um Modelle umfassender Welterklärung, sondern um die die [sic!] Deutung der konkreten Existenz im Blick auf die Möglichkeit gelingender Lebensführung unter den Bedingungen von Kontingenz und Vulnerabilität.«46 Die Fokussierung auf die praktische Vernunft schließt sich nahtlos an die evolutiven Funktionszusammenhänge an: Wendels Neuverortung metaphysischer Reflexionen entspricht den Erkenntnissen zur Komplexitätsbearbeitung und kritischen Distanzierung des Menschen gegenüber seiner Umwelt. Sie kann entsprechend auf die konkreten Sinnbezüge kollektiver Handlungsmuster bezogen werden. Diese Linien sieht auch Martin
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Martin Breul, Eine Kritik des metaphysischen Realismus, in: Saskia Wendel – Martin Breul, Vernünftig glauben – begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationaler Theologie, Freiburg i.Br. 2020, 157–269, hier: 236. Wendel, Hinsicht, 99. Ebd., 124f.
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Breul, der die Form menschlicher Weltverarbeitung in symbolischen und rituellen Handlungen und Narrativen konzentriert sieht. Im Anschluss an Michael Tomasello verbindet er mit dieser pragmatischen Neuverortung menschlicher Transzendenzbezüge zugleich eine wissenschaftstheoretische Neuverortung der Evolutionsanthropologie: Die evolutionsanthropologische Beschreibung der kollektiv und intentional organisierten Erkenntnisformen des Menschen versetze die naturwissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Kulturevolution in einen »pragmatist shift«47 . Es werde angesichts der neuen Erkenntnisse sowohl der idealistische Modellrahmen einer universalen Vernunft als auch die naturalistische Reduktion eines universalen Materialismus unterlaufen, indem Modellierungen wie die Tomasellos die Illusion eines externen Blicks der Anthropologie selbst anfragten: Wenn sich die Ergebnisse kulturanthropologischer und ontogenetischer Studien als Ergebniskomplexe erweisen, so ist zugleich ausgesagt, dass nur ihr praktisches Zusammenspiel zur beobachteten Evolution führen kann. In diesem komplexen Zusammenspiel ist dann aber immer auch der*die Wissenschaftler*in mit seinen begrenzten Zugängen eingebunden. Die eigenen Beobachtungen können dann angesichts der konstitutiven Komplexität evolutiver Prozesse nie einfach absolut gesetzt werden. Das heißt: Die rezipierten Forschungsergebnisse relativieren sich selbst, indem sie die prozesshafte Pragmatik evolutiver Erkenntnisbewegungen des Menschen plausibel machen.48 Dieser pragmatische Herausforderungsrahmen wird auch zum Spannungsfeld für die theologische Anthropologie sowie theologisch fundierte Wirklichkeitsansprüche. Dass der angesprochene ›pragmatist shift‹ eine spannungsreiche Verbindung mit metaphysischen Symbolisierungen eingeht, verlangt nach einer methodologischen, evolutionsgeschichtlich fundierten Berücksichtigung. Erst das vernunftmäßige Bewusstsein für die kontingenten Bedingungsgefüge des eigenen Seins und seiner Einbettung in die jeweilige Umwelt erweckt das Streben nach einem Metastandpunkt, von dem aus diese komplexen Zusammenhänge analysiert, erklärt und mit transzendenten Sinnhorizonten versehen werden können. Metaphysische Wirkichkeitskonstruktionen existieren also nicht einfach vor ihrer pragmatisch orientierten Einsetzung in der kollektiven Interaktion. Vielmehr emergieren sie aus dieser neuen evolutiven Gemengelage heraus. Fortan muss also sowohl religionsintern als auch theologisch ein neues Verständnis der mit diesem Streben verbundenen metaphysischen Bezüge gefunden werden, das weder rein idealistisch noch materialistisch abgesichert werden kann. Vor diesem Herausforderungshintergrund schlägt Breul eine praktische Metaphysik als Grundlage erkenntnistheologischer Modellierungen vor. Mit der pragmatischen Anlage seines Modells verzichtet er darauf, sich im Rahmen metaphysischer Deutungslo47
48
Breul, Theology, 362. In seiner Habilitationsschrift verknüpft Breul seine Tomasello-Rezeption schließlich mit der Frage nach dem Handeln Gottes in der Welt und in der Natur als Ganzer (vgl. Ders., Gottes Geschichte. Eine theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes (RaFi 79), Regensburg 2022, insbesondere 354–381.) In Bezug auf die referenzlogischen Anfragen an die Offenbarungstheologie, die sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit herauskristallisieren werden, ist diese Übertragung von höchstem Interesse, bildet die Frage nach dem Handeln Gottes doch einen der Kulminationspunkte zwischen religionskritischen, evolutionstheoretischen und erkenntnistheoretischen Kritikpunkten gegenüber der theologischen Axiomatik und ihren glaubenspraktischen Ausdrucksformen (vgl. dazu im Detail Kapitel 11.2.1). Vgl. Breul, Theology, 362.
6. Performative Erkenntnisprozesse und religiöse Wahrheitsansprüche
giken weiterhin auf einen theistischen Realismus zu beziehen. Vielmehr distanziert er sich von dessen erkenntnistheoretischer Möglichkeit, ohne die Metaphysik als erkenntnistheoretisches Konzept im Ganzen abzulehnen. Er skizziert eine fundamentaltheologische Epistemik, die in Folge ihrer sozialen und rationalen Bezüge als nachmetaphysisch zu bezeichnen ist und die es weiterhin mit metaphysischen Sinnkonzeptionen zu tun hat, auf die sich die Reflexionsprozesse des Menschen beziehen.49 Genau dieses Spannungsfeld macht demnach die praktischen Erkenntnisprozesse aus, an denen sich die Theologie abarbeitet. Das verändert auch den Deutungs- und Explikationsanspruch der Fundamentaltheologie. Wenn sie religiöse Transzendenzbezüge – insbesondere unter dem Eindruck ihrer komplexen Entwicklungsgeschichte – als praktische Vernunftvollzüge der Lebensdeutung versteht, dann geht es fundamentaltheologisch »nicht [um; JU] die Sammlung theoretischer Evidenzen für ein geschlossenes Weltbild, sondern [um; JU] die diskursive Plausibilisierung religiöser Praxen und Überzeugungen, die aus religiösen Lebenswelten stammen.«50 Jenseits ontologischer Metaphysikkonzepte beruft sich die hier vorgeschlagene, evolutionsanthropologisch rückgebundene Grundlage des religiösen Weltdeutungsanspruchs auf einen dynamischen Deutungsprozess, der eine »praktische Metaphysik«51 generiert. In Verbindung mit den in Kapitel 6.2 erarbeiteten Logiken symbol- und ritualbasierter Spielräume zeigt sich: Religiöse Narrative und Praktiken schaffen sinnstiftende Reflexionsräume entlang der Bruchlinie zwischen Transzendenz und Immanenz. Versteht man diese erkenntnistheoretische Verortung als praktischen Vollzug, dann bedeutet das jedoch auch, dass sie mit keinem ontometaphysischen Realismus abgesichert werden kann. Dennoch versehen die untersuchten Rituale und Codierungen den erschlossenen Transzendenzhorizont mit universalem Sinn und agieren in diesem Sinne unter einem metaphysischen Deutungshorizont.52 Dieser hat sich jedoch gemäß dem hier vorgeschlagenen, anthropologisch informierten Modell erst praktisch zu erweisen – er hängt an immanenten Performanzvollzügen. Diese Vollzüge transzendieren praxisgebunden das konkret vorausgesetzte, immanente Akteur-Umwelt Setting, ohne jemals im Sinne einer klassischen Metaphysik über es hinaustreten zu können. Der Versuch einer adäquaten Analyse dieser transzendenten Zugangsform begründet also, so die These, eine notwendige erkenntnistheoretische Umstellung zugunsten einer performativ orientierten Religionshermeneutik. Diese hermeneutische Grundentscheidung entfaltet einen heuristischen Wert für die vorliegende Arbeit: Sie bildet eine Brücke hin zu möglichen theologischen Anschlüssen an das evolutive Spannungsfeld zwischen Umwelt, sozialem System und intentionaler Kommunikation. Dieser hermeneutischen Grundlegung gilt es im Folgenden weiter nachzugehen. Sie soll mit den sys-
49
50 51 52
Vgl. Ders., Die Rede vom Handeln Gottes im nachmetaphysischen Denken, oder: Lässt sich mit Habermas Theologie treiben?, in: Franz Gruber – Markus Knapp (Hgg.), Wissen und Glauben. Theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas »Auch eine Geschichte der Philosophie«, Mit einer Replik von Jürgen Habermas, Freiburg i.Br. 2021, 40–62, hier: 61. Ebd. Wendel, Hinsicht, 124. Vgl. ebd., 99.
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temischen Grundlagen evolutiver Entwicklungslogiken kombiniert werden und so einer interdisziplinären Plausibilisierung unterzogen werden.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
Die in Kapitel 6 grundgelegte Epistemik soll im Folgenden mit den dekonstruktiven Überlegungen Jacques Derridas konfrontiert werden. Sie erweisen sich als wichtige Impulsgeber zur Neubewertung der rezipierten erkenntnistheoretischen und anthropologischen Entwicklungsbedingungen. Die Modellierungen Derridas werden auf die (theologische) Bezugs- und Wahrheitsdimension sowie auf das Verständnis ihrer erkenntnistheoretischen Funktionsweise im Rahmen sozialevolutiv wirksamer Transzendenzbezüge bezogen. Die dekonstruktive Erkenntnisphilosophie Derridas führt zu einem denkerischen Habitus der stetigen Relativierung vermeintlich feststehender, metaphysischer Grundpfeiler. Damit passt sich das Differenzdenken Derridas als performativ wirksame Methodik genau in den vorliegenden Herausforderungshorizont ein: Indem Derrida jenseits teleologisch verstandener Sozialstrukturen und Normen ereignishafte Kontingenzen betont, untergräbt er das Erbe geschichts- und subjektphilosophischer Determinismen.1 Damit liegt der Anknüpfungspunkt der folgenden Lektüre im schon angedeuteten evolutiven Spannungsfeld zwischen sozialen Systemen, Umweltfaktoren und intentionalen Kommunikationspraktiken. Derridas wohl berühmtester Analysebegriff ist seine Wortneuschöpfung der ›différance‹, die er im Sinne einer Denkweise immer wieder explizit und implizit einspielt. Weil Derrida im Rahmen dieses Begriffes keine einfache Destruktion metaphysischer Ansatzpunkte anstrebt,2 sondern die ihnen inhärenten Binaritäten etwa von wahrfalsch oder transzendent-immanent zu unterlaufen versucht, bietet die Lektüre seines Ansatzes die Chance, religiöse Transzendenzkonzepte mit einem dekonstruktiven Korrektiv zu versehen. Im Rahmen der Überlegungen Derridas performiert sich theorieimmanent eine unausweichliche Spannung zwischen systemischen Faktoren einerseits und anthropologischen Grundkomponenten stetig kommunizierter Metareflexionen andererseits. Derrida verfolgt dabei nicht das (ihm zufolge erkenntnistheoretisch ohnehin nicht einlösbare) Ziel einer Auflösung dieser Spannung. Die Zielmarke, die Derrida 1 2
Vgl. Klaus Englert, Jacques Derrida (UTB Profile. UTB 3258), Paderborn 2009, 17. 27. Vgl. Joachim Valentin, Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, Mainz 1997, 33. 43.
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selbst seiner Erkenntnistheorie einschreibt, ohne sie jemals als erreichbar zu klassifizieren, betrifft vielmehr »ein ›Jenseits‹ des Bezeichenbaren, ein ›Außerhalb‹ der Sprache, das in ihr seine Spuren hinterläßt, ja, das Bedeuten erst ermöglicht.«3 Vor dem hier angedeuteten Hintergrund wird sich zeigen, dass auch die Entfaltung eines theologisch und anthropologisch haltbaren religiösen Performanzbegriffs auf dem dekonstruktiven Prüfstand stehen muss. So ist es ausgerechnet Derridas rhetorische Anlage seiner Texte, die ihre Bedeutung und zugleich die Unmöglichkeit jeder Bedeutungsfestschreibung performativ aufzeigt. Derridas Schreiben verschmilzt mit seinem philosophischen Programm. Daher soll Derrida im Folgenden in längeren Zitatabschnitten immer wieder selbst zu Wort kommen: Seine paradoxal angelegte Sprachform kann zu einem methodologischen Schlüsselmoment der vorliegenden Arbeit werden. Ein Schwerpunkt der Rezeption der Dekonstruktion wird dabei zunächst auf Derridas »différance«-Konzept liegen (Kapitel 7.1).4 Es soll im Anschluss zugunsten einer evolutionsanthropologischen Relativierung und Evaluation der erkenntnistheoretischen Epistemologie der Theologie genutzt werden (Kapitel 7.2). Auf diese Weise nehmen die Theoriebildungen Derridas im Rahmen der vorliegenden Arbeit schließlich eine Scharnierstellung zwischen evolutionsanthropologischen Religionsmodellen und theologischen Offenbarungsgrundierungen ein: Ein Zusammenlesen der Schrifthermeneutik Karl Barths mit Jacques Derridas dekonstruktiver Erkenntnistheorie eröffnet die Möglichkeit, die Performanz religiösen Sinns sowohl als evolutiven als auch als wissenschaftstheoretischen Reflexionsfaktor ins Spiel zu bringen (Kapitel 7.3).
7.1.
›Différance‹, oder: Vermessung der erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen
Mit dem Begriff ›différance‹ hat Jacques Derrida ein Kunstwort geschaffen, mit dem er das Problem bleibender Differenz zwischen der Sprache und dem von ihr vorausgesetzten Bezeichneten aufwirft. Die Wortneuschöpfung ›différance‹ lehnt sich an die französische Bezeichnung für Differenz (›différence‹) an und unterscheidet sich orthographisch lediglich durch das Ersetzen des Buchstabens ›e‹ durch den Buchstaben ›a‹ in der Endung des Wortes. In der Aussprache verändert dieser orthographische Verstoß nichts. Im Rahmen der Schriftsprache wird die vermeintliche Identität allerdings in Anbetracht der eingetragenen Bedeutungskomponente gesprengt: mit der Endung -ance ergibt sich im Französischen eine Unentscheidbarkeit zwischen Aktiv und Passiv.5 So bietet das Kunstwort ›différance‹ Anklänge an das französische Partizip Präsens. Daraus ergibt sich ein verschwommener, vielschichtiger Bedeutungsgehalt: Während mit dem Verb ›différer‹ die Tätigkeit des Unterscheidens benannt ist, beschreibt das Nomen ›différence‹ das Ergebnis dieser Tätigkeit, den Unterschied. Dagegen bewegt sich das Kunstwort ›différance‹ grammatikalisch jenseits des nominalen Ergebnisses und der aktiven
3 4 5
Ebd., 43. Vgl. Jacques Derrida, Die Différance, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. P. Engelmann (Passagen Philosophie), Wien 2 1999, 31–56. Vgl. Valentin, Atheismus, 51f.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
Handlung. Vielmehr markiert es – angelehnt an das Partizip – den ›(auszu)machenden Unterschied‹. Es handelt sich hier um ein Zeichen, das »[…] eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt […] sich denken lässt.«6 Alles Denken, Sprechen, Metaphorisieren und Kommunizieren unterliegt demnach der grundlegenden Aporie, »etwas beschreiben zu müssen, das sich der Beschreibung entzieht, weil es kein Begriff, nicht einmal ein Wort ist – und dennoch ins Wort gefaßt werden soll. [… Der Begriff ›différance‹ ist also; JU] ein Nicht-Wort […], das die grundlegende Differenz in allem Sprachlichen bezeichnet und somit die Differenz als Grundgeschehen von Denken schlechthin ›statuiert‹.«7 Mit Hilfe seines Kunstwortes der ›différance‹ beschreibt Derrida also die bleibende Uneinholbarkeit des Zeichens in Bezug auf das Bezeichnete. Das Zeichen verfolgt das Ziel der Bezeichnung und Festschreibung, das es jedoch nie erreichen kann. Zugleich kann im Bezeichnungsprozess auf dieses Ziel nicht verzichtet werden. Ansonsten wäre das Zeichen verloren in einer reinen Passivität, in der es seinen funktionalen Sinn aufgeben müsste. Auf der Jagd nach dem Ziel des ›Weltverstehens‹ changiert das Denken Derrida zufolge deshalb zwischen Aktiv und Passiv. Auf beide Komponenten kann es nicht verzichten und beide Komponenten bilden es nicht ab. Es entsteht ein unendliches Spiel, welches das Bezeichnete der binären Codierung zwischen passiver Jenseitigkeit und aktiver Diesseitigkeit entzieht. Seine unendliche Unterschiedenheit gegenüber sich selbst schafft damit auch eine unendliche diskursive Offenheit.8 Mit der Metapher der »Grenze«9 skizziert Derrida dieses Sprachproblem schließlich in Form einer komplexen Verortung. Er kartiert den denkerischen Kontext menschlicher Seinsvergewisserung als Grenzgang und hält fest: »Erfragt wird somit die Grenze, die uns immer schon gezwungen hat, die uns stets zwingt – uns, die Bewohner einer Sprache und eines Denksystems – den Sinn von Sein überhaupt als Anwesenheit oder Abwesenheit in den Kategorien des Seienden oder der Seiendheit (ousia) zu gestalten.«10 Die im Begriff der ›différance‹ performierte permanente Verspätung des sprachlich strukturierten Denkens zeigt laut Derrida, wie die menschliche Begrenztheit sich zu ihrem eigenen Problem wird: Kognitiv liefert das menschliche Denksystem die Bedingungen dazu, der eigenen Begrenztheit gewahr zu werden. Ein letztgültiger Sinn des Seins lässt sich daraus aber angesichts der immanenten Grenze nie ableiten. Dennoch
6 7 8 9 10
Derrida, Différance, 37. Gregor M. Hoff, Aporetische Theologie. Skizze eines Stils fundamentaler Theologie, Paderborn 1997, 119. Vgl. Derrida, Différance, 35. Vgl. ebd., 38. Ebd.
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ist es diese Grenzerfahrung, die die Frage nach einem letztgültigen Sinngrund als drängenden Komplex erst ins Spiel bringt. Einzig ein permanentes Abschreiten der Grenze, eine Vermessung der anthropologischen Begrenztheit und damit eine unabschließbare, diskursive Selbstverortung können reflexiv eingeholt als bleibende Paradoxie des Daseins erfasst werden. Diese Einsicht macht die Performanz von Derridas ›différance‹-Erkenntnis aus. Seine Modellierung selbst verwirklicht die ihr inhärente Kernthese, dass es »keine Darstellung der Dekonstruktion als solcher [gibt; JU], nur ihren Vollzug. Sie ist auf eine eigentümliche Weise ›performativ‹, weil sie in der Arbeit am Text die Unmöglichkeit ihrer erschöpfenden Darstellung zeigt bzw. remarkiert.«11 Derrida entwickelt also keine feststehende Theorie. Vielmehr plädiert er für ein aktives denkerisches Bewusstsein der erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen. Sein ›différance‹-Konzept legt einen entsprechenden erkenntnistheoretischen Habitus zugrunde. Das von Derrida zum dekonstruktiven Programm erhobene Verortungsproblem weist auf dieser Linie auch Parallelen zu Victor Turners Rede von der Liminalität auf. Der Zustand der Liminalität als Grenzphänomen des Daseins und als unsicherer Übergangsstatus wird im Rahmen von Derridas Dekonstruktion verschärft und auf Dauer gestellt. Damit wird für die Liminalität als grundlegendem Daseinsvollzug des Menschen argumentiert (vgl. die partizipiale Form der Wortschöpfung ›différance‹). Derrida selbst spricht dabei – in Anlehnung an das im Rahmen dieser Arbeit bereits eingeführte Zeitproblem – von einer »Temporisation«12 des Denkraumes: »Dieses dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall ist es, was man Verräumlichung nennen kann, Raum-Werden der Zeit oder Zeit-Werden des Raumes (Temporisation). Und ich schlage vor, diese Konstitution der Gegenwart, als ›originäre‹, und in irreduzibler Weise nicht-einfache, also, stricto sensu, nicht-originäre Synthese von Merkmalen (marques), von Spuren von Retentionen und Protentionen […], Urschrift, Urspur zu nennen. Diese (ist) (zugleich) Verräumlichung (und) Temporisation.«13 Das Bewusstsein zeitlich begrenzter Prozesse und die damit verbundene stetige Bewegung des komplexen Gesamtsystems zieht Derrida zufolge eine Verräumlichung nach sich. Das stetige Zu-Spät-Kommen der denkerischen Synthese und ihrer Orientierungsleistungen begründet für Derrida die Rede von einer ›Urschrift‹ und ›Urspur‹, welche das Denken in Raum und Zeit (vergeblich) einzuholen versucht.14 Was Derrida hier auf den ersten Blick aporetisch und paradoxal skizziert, erweist sich als ein wichtiger Verständnisschlüssel zu seinen bewusstseins- und sprachphilosophischen Umstellungen: Derrida macht die dem Denken und Sprechen immanenten Grenzen zum Programm, ohne dabei die Rede von einem transzendent und universal 11 12 13 14
Dirk Quadflieg, Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida (Edition Moderne Postmoderne), Bielefeld 2007, 184. Derrida, Différance, 42. Ebd. Vgl. ebd.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
gedachten ›Ursprung‹ einfach zu verabschieden. So deutet er die bleibend metaphysisch strukturierte Denkweise des Menschen in der Spurmetapher an. Sie »verdeutlicht den Prozess des Differenzierens selbst, den Rückgriff auf ein Abwesendes, das die Struktur des Zeichenverweises ermöglicht, und zwar ohne ein gegenwärtiges Anwesendes.«15 Diese paradoxe Spannung einer Bezeichnung des Abwesenden als ›quasi anwesend‹ bei gleichzeitiger Bezeichnung seiner absoluten Andersheit ist für Derrida der denkerische Versuch eines »Aufschub[s] der Differenz, ohne die keine bewusste Wahrnehmung möglich wäre«16 . Damit behauptet er nicht, dem ›Ursprung‹ selbst sprachlich-diskursiv beikommen zu können – die temporal-räumliche Verschiebung ist nicht aufzuheben. Vielmehr bleibt die Rede von der ›Urspur‹ immer eine Rede in und von ›Spuren‹. Nichtsdestotrotz legt dieses Denken und Bezeichnen einer ›Spur‹ die grenzgängerische Denkweise eines Ursprungs nahe – in dem Wissen, dass sie immer nur nachträglich geschehen kann. Derrida selbst hält fest: »Wollte man alle metaphorischen Möglichkeiten der Philosophie erfassen und klassifizieren, so bliebe mindestens eine Metapher immer ausgeschlossen, bliebe außerhalb des Systems: Zumindest diese, ohne die der Begriff der Metapher nicht konstruiert werden könnte, oder, um eine ganze Kette zu synkopieren, die Metapher der Metapher.«17 Diese aporetische und zugleich metaphysisch ausgerichtete Reflexionsform führen auch religiöse Symbolordnungen ein, die etwa im Rahmen der Achsenzeit und bei kontemplativen Praktiken zum Tragen kommen. Die bleibend entzogene Annahme eines umfassenden ›Seins des Seienden‹, auf das sich auch Derrida hier beruft, kulminiert menschheitsgeschichtlich in religiösen Traditionen, die genau diese Grenzerfahrungen und die Hoffnung auf ihre letztendliche Überschreitung sprachlich, symbolisch und rituell performieren. Sie versuchen auf diese Weise, sie zu einem virtuell begehbaren Grenzraum werden zu lassen. Dass ein zentrales Stichwort der Derrida’schen Problemskizze die Rede von der ›Grenze‹ ist, eröffnet daher auch aufschlussreiche Anknüpfungspunkte an die vorliegende performanztheoretische Ausdeutung evolutiver Komplexitätsszenarien und ihrer religiösen Bearbeitung.
7.2. Eine evolutionsbezogene Dekonstruktion theologischer Epistemologie Die dargestellte ›différance‹-Perspektive Derridas ist auch für die Neukartierung eines theologisch fundierten Wahrheitsbegriffs höchst leistungsfähig. Sie verortet ihn im Angesicht systemischer und kognitiver Kontingenzen. Es lohnt sich daher, einige Grundkoordinaten dieser veränderten Kartierung im Interesse einer evolutiv anschlussfähigen Neudefinition des Religionsbegriffs und seiner theologischen Implikationen genauer zu 15 16 17
Quadflieg, Differenz, 80. Ebd., 84. Jacques Derrida, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. P. Engelmann (Passagen Philosophie), Wien 2 1999, 229–290, hier: 240.
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betrachten. Das betrifft in direkter Anlehnung an die Metapher der ›Spur‹ zunächst Derridas Umgang mit der Rede vom menschlichen Bewusstsein, aus der sich schließlich direkte Anschlüsse an theologische Themenkomplexe ergeben. Sie sollen in diesem und im nachfolgenden Unterkapitel im Mittelpunkt stehen. Mit der Skizzierung fortlaufender, zwischen Aktiv und Passiv angesiedelter Differenzierungsprozesse gelingt es Derrida, die unausweichliche systemische Eingebundenheit aller menschlichen Denk- und Kommunikationsvollzüge zu erfassen. Er beschreibt eine sich selbst reproduzierende und ob ihrer Nachträglichkeit immer wieder neu differenzierende Sinnsuche. Mit dem Begriff der ›différance‹ und seiner Präzisierung in den Metaphern der ›Grenze‹ und der ›Spur‹ markiert Derrida diese Suchbewegung als unabschließbar. Spuren von Sinn der zu erschließenden Welt sind immer nur ein temporärer Aufschub in der Suche nach einem letztgültigen Sinngrund, der für Derrida semiologisch nicht mehr zu erfassen ist. Dieses Differenzierungssystem ist, folgt man Derrida, nicht einfach intentional steuerbar, da alle Intentionalität immer schon systemisch eingebunden ist. Kognitiv und kommunikativ können immer nur synthetisierende Spuren nachzeichnet werden. In der Metapher der ›Spur‹ und in Anlehnung an den performanztheoretisch grundgelegten Grenzbegriff ergeben sich daher Differenzierungen im Verständnis menschlicher Sinnsuche. Sie erschließt sich als ein systemisch eingebundener, letztendlich nicht kontrollierbarer Prozess. Derridas Dekonstruktion verfolgt das Ziel, binäre Codierungen zwischen wahr und falsch, transzendent und immanent oder auch klassisch platonische Figuren einer Urbild-Abbild Logik aufzubrechen. Betont wird dagegen ein anthropologischer Grundvollzug der ordnenden Weltwahrnehmung, der genau in und mit diesem Spannungsfeld interagiert. Vor diesem Hintergrund kann die von Derrida aufgezeigte Dekonstruktion dazu beitragen, die hier vorangestellten symbol- und ritualtheoretischen Anschlüsse an ein axiales, performanztheoretisch grundgelegtes Verständnis der Religion nicht im Sinne einer flachen teleologischen Erkenntnisbewegung absolut zu setzen. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob und wie die theologische Anthropologie im Rahmen eines evolutionsanthropologisch plausiblen Religions- und Gottesbegriffs in der Lage ist, Derridas Verunsicherungen ernst zu nehmen und im Sinne eines epistemologischen Stachels immer schon mitzudenken. Die Herausforderungen und Folgewirkungen für eine evolutiv anschlussfähige theologische Erkenntnistheorie sollen im Folgenden in drei Schritten skizziert werden.
7.2.1.
Derridas Radikalisierung der Sprechakttheorie
Derrida entwirft auf der Grundlage seiner Dekonstruktion eine kritische Radikalisierung der Sprechakttehorie John L. Austins und John R. Searles. Die unabschließbare sprachliche Möglichkeitswelt, deren fortlaufende Iterationen ein sprechender oder schreibender ›Autor‹ niemals ganz in der Hand hat, werden selbst zum performativ handelnden ›Akteur‹. In »Limited Inc«18 , seiner Antwort auf die Kritik Searles an seinem Ansatz, führt Derrida diese Eigenwirksamkeit und Entzogenheit der Schrift und des Sprechens performativ vor: Er zeigt, wie Searle in seiner Kritik mit der dekonstruktiven 18
Ders., Limited Inc, hg. v. P. Engelmann; übers. v. W. Rappl, Wien 2001.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
Denkform Derridas im letzten nicht ernstmacht. Er suche weiterhin nach Sicherheiten und festen Verortungen in Derridas Schrift. Derrida entlarvt dieses (Miss-)Verstehen Searles als Ergebnis der von Searle selbst kritisierten Unverfügbarkeit der Sprache.19 Mit seiner Reaktion auf Searles Kritik markiert Derrida: Weder er noch Searle haben ihre Texte im Sinne einer sicheren Bedeutung und Reproduzierbarkeit in der Hand – weder als Empfänger/Rezipient, noch als Sender/Autor. Hier wird deutlich, wie Derrida im Zuge der Anwendung seines ›différance‹-Konzepts auf die Sprechakttheorie subjektphilosophische und sprachphilosophische Überlegungen als zwar einander ergänzend, nicht aber zwingend voneinander abhängig markiert. Er hält fest: »Selbst wenn der Sender und der Empfänger dasselbe Subjekt wären, bezieht sich jeder von ihnen auf ein Zeichen [marque], bei dem sie spüren, daß es dafür geschaffen ist, ohne sie, den Augenblick seiner Produktion oder seiner Rezeption auszukommen […].«20 Das Zeichen ist also eigenständig produktiv, es enthält ein Performanzpotenzial, das Bedeutungssinn unabhängig von seiner subjektiven Einsetzung aufspeichert und je nach Anwendungskontext verschiedentlich einspielt. Derrida hebt hier die Binarität zwischen subjektiver Intentionalität und zeicheninhärenter Differentialität auf – er macht das inhärente Spannungsfeld zur notwendigen Bedingung von Bezeichnungsprozessen. Jede Zeichenwiederholung entpuppt sich so als ein unabschließbarer ›différance‹-Prozess.21 Das auf diese Weise zugespitzte Bedingungsgefüge unterläuft die Annahme, es gäbe eine ideale Wiederholbarkeit der jeweiligen Zeichen und ihrer (intendierten) Bedeutung. Derrida spricht dagegen von einem Prozess, der lediglich »eine minimale restance voraus[setzt; JU]«22 . Er spielt hier auf den auf Dauer gestellten Versuch an, etwas Bleibendes festzuhalten. Die erneute Wortschöpfung auf der Grundlage einer Partizipialform (restance) dynamisiert auch hier wieder den scheinbar festen Bezeichnungssinn von Iterationen. Sie verfolgen, das gesteht er auch Searle zu, das Ziel, trotz ihrer dekonstruktiven Form der Veränderlichkeit »wiederholbar und identifizierbar«23 zu sein. Anders als Searle bleibt Derrida jedoch dabei, in diesem Vorhaben bleibend eine komplexe Gleichzeitigkeit zwischen angezielter Identität des Sprechaktes und seiner dynamischen Differenz 19
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22 23
Diese argumentative Performance, die Derrida textimmanent vornimmt, spricht er immer wieder implizit an, wenn er Searle vorwirft, er versuche die jeweils kritisierte Argumentation mit den eigenen Waffen zu schlagen, indem er den Argumentationsgang »im Diskurs gegen/von Sec [=Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie; JU] reappliziert.« (ebd., 86). Ebd., 84. Vgl. ebd., 91. Gayatri Spivak ordnet diese Beschäftigung mit der Frage nach der Wiederholbarkeit idealer Zeichenbedeutung entsprechend in den Gesamtkontext der Derrida’schen Metaphorik und Theoriebildung ein. Sie hält fest: »The most recognizable might be: the graphic of the trace rather than the logic of the simple origin; the graphic of differance rather than the logic of identity; the graphic of supplementarity rather than the logic of non-contradiction. Sec and Limited Inc add another: the graphic of iterability rather than the logic of repetition.« (Gayatri C. Spivak, Revolutions That as Yet Have No Model. Derrida’s Limited Inc, in: Diacritics 10/4 (1980) 29–49, hier: 36). Derrida, Inc, 89. Ebd.
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zu verorten.24 In diesem Sinne hat der jeweils kommunizierende Mensch im Angesicht seines Gegenübers und der zu bezeichnenden Sachverhalte das Zeichen nicht souverän in der Hand – genau darin besteht die Performanz sinnbezogener Sprechakte nach Derrida.
7.2.2. Dekonstruktion als metaphysikkritisches Potenzial Diese Einsicht zeitigt Konsequenzen für das Verständnis souveräner menschlicher Intentionalität und der Setzung metaphysischer Bezüge im Rahmen von Codierungsprozessen. Sie stellt sich als theologisch höchst herausfordernd dar. Mit der Differenzierung und Aufweitung des sprachlichen Performanzverständnisses über die aktiv-intentionale Setzung eines Sprechaktes hinaus geht eine Umwendung des Intentionalitätsverständnisses einher. Sie ist für den vorliegenden anthropologischen und performanztheoretischen Kontext von großer Bedeutung. Intentionale Akte werden in Derridas Theorie nicht einfach ad acta gelegt, jedoch wird die Möglichkeit der Steuerung dieser Akte auf eine festgelegte, wiederholbare Zielsetzung hin deutlich hinterfragt. Derrida weist damit jede Möglichkeit einer objektiv-idealistischen Metaphysik und des an sie angegliederten, souveränen Subjektverständnisses zurück. Zugleich wehrt er sich dagegen, diese Zurückweisung als eine Verabschiedung menschlicher Intentionalität als solcher zu verstehen. Vielmehr zeigt Derrida bewussten Prozessen der Welterschließung ihre Grenzen auf – das jedoch ohne sie als per se ›sinnlos‹ oder gar ›verzichtbar‹ zu bezeichnen.25 Das heißt für alle Symbolisierungs- und Ritualisierungsvorgänge: Sie changieren immer schon zwischen Intentionalität und Differentialität und verwehren sich so einer festen Orts- und Statuszuweisung. Auch metaphysisch angelegte Symbolisierungen sind also immer schon eingebunden in ein performativ wirksames Spannungsfeld. Dessen systemische Emergenzen und Begrenzungen liegen nicht einfach intentional-diskursiv vor und sind entsprechend im Letzten nicht steuerbar. Diese Erkenntnis ist demnach Teil eines intentionalen Umgangs mit dieser Komplexität selbst. Auch wenn bewusste Einordnungen immer schon zu spät kommen müssen, werden sie synthetisierend eingesetzt. Als sinngebende Synthesen bringen sie wiederum systemisch wirksame ›Spuren‹ ein. Die Symbolisierungen und Verbalisierungen dieser Suchbewegung sind also auch bei Derrida nicht einfach beliebige Fiktionen, sondern entwickeln permanent neue Denkräume, ohne die die menschliche Sozialität in ihrer Sprach- und Interaktionsgebundenheit gar nicht möglich wäre. Derrida bricht hier also – und das ist für eine evolutionstheoretisch anschlussfähige Methodologie von Bedeutung – mit der analytischen Trennung zwischen intentionalen Denkprozessen auf der einen und umweltgebundenen, nicht zugänglichen Automatismen auf der anderen Seite. Damit erstreckt sich auch das Verständnis einer evolutiv wirksamen, performativen Prozesshaftigkeit über beide Komponenten hinaus. Das paradoxale Spannungsfeld, in dem der Erkenntnisprozess verortet ist, bringt selbst als ›différance‹-Geschehen neue Entwicklungslinien hervor. Diese Entwicklungslinien entziehen sich konsequent jeder Teleologie – gerade deshalb kann der denkende Mensch ihnen nicht ausweichen. 24 25
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 94f.
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Als intentional agierendes Wesen ist er ihnen jedoch auch nicht einfach ausgeliefert: Der bewusst eingesetzte, die Aporie temporalisierende Zeichengebrauch ist selbst immer schon Teil des jeweiligen performativen Prozesses. Die aporetischen Grundlagen der Erkenntnisphilosophie Derridas bekräftigen gegenüber der theologischen Epistemologie zunächst die bereits dargestellten Modifikationen im Metaphysikverständnis. Neben der metaphysischen Weltzugänglichkeit sind darüber hinaus auch die Bedingungen intentionalen Verhaltens und der kommunikative Selbstanspruch religiöser Narrative und Praktiken herausgefordert. Das betrifft auch jedes Ausgehen von einem ›Ich‹, das sich als temporalisierte ›Spur‹ der ›différance‹ kaum mehr zuverlässig erfassen lässt. Zugleich bleibt die menschliche Intentionalität Bedingung der Möglichkeit jeder Rede (auch derer von der ›différance‹). Derrida fasst diese Erkenntnis bezeichnenderweise fragend zusammen: »Aber kann man sich nicht eine Gegenwart und Selbst-Gegenwart des Subjekts vor seinem Sprechen oder seinem Zeichen, eine Selbst-Gegenwart des Subjekts in einem schweigenden und intuitiven Bewußtsein denken? Eine solche Frage setzt voraus, daß vor dem Zeichen und außer ihm unter Ausschluß jeglicher Spur und jeglicher différance, so etwas wie Bewußtsein möglich ist. Und daß Bewußtsein, noch bevor es seine Zeichen über Raum und Welt verstreut, sich in seiner Anwesenheit zu fassen vermag. Doch was ist Bewußtsein? Was bedeutet ›Bewußtsein‹? Meist gerade in der Form des ›Meinens‹ läßt es sich, mit allen seinen Modifikationen nur als Selbst-Gegenwart, als Selbst-Wahrnehmung der Gegenwart denken. Und was für das Bewußtsein gilt, gilt hier für die sogenannte subjektive Existenz überhaupt.«26 Dieser dekonstruktive Blickwinkel modifiziert auch die Gefahr eines performativen Positivismus, ohne dabei die symboltheoretisch bekräftigte performative Hermeneutik zu verabschieden. An die Argumentation Derridas für die Gebrochenheit intentionaler Welterschließung lässt sich daher auch die Symboltheorie Cummings-Nevilles in ihrer performanztheoretischen Anlage anlehnen. Nicht umsonst betitelt er eines seiner Hauptwerke mit »The Truth of Broken Symbols«27 . Diese ›Unterbrechung‹ und der (sprachlich-symbolische) Versuch ihrer ›Temporisation‹ sind auch bei CummingsNeville als Bedingung jeder transzendenzbezogenen menschlichen Sinnsuche plausibilisiert. Vor diesem Hintergrund können auch performativ wirksame Symbole nicht mehr im Rahmen einer ontometaphysischen Teleologie erfasst werden. Die Auswirkungen einer solchen performativen Ausweitung in Form einer Durchbrechung der Verknüpfung idealistischer und realistischer Festschreibungen deutet Cummings-Neville an. Er charakterisiert Symbolisierungsprozesse als »realistic and anti-idealistic«28 gleichermaßen. Während er jedoch noch von einer letztgültigen, »ultimate reality as the symbol-breaking ›ontological act of creation‹«29 ausgeht, kann
26 27 28 29
Ders., Différance, 45. Cummings Neville, Truth. Ders., Realism in Religion. A Pragmatist’s Perspective, New York (NY) 2009, 78 [meine Hervorhebung; JU]. William D. Hart, Neville’s Metaphysics, in: AJTP 37/3 (2016) 248–262, hier: 259.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
sich Derrida einer solchen ontologischen Setzung angesichts der permanenten Differenzierungsprozesse nicht mehr sicher sein. Diese radikalisierte Verunsicherung liefert Wegmarken für eine interdisziplinär anschlussfähige theologische Relecture des evolutionsanthropologischen Spannungsfeldes zwischen Kommunikation, System und Umwelt.
7.2.3. Derridas paradoxale (De-)Konstruktion von Transzendenzcodes Es zeigt sich, dass Derridas Methodologie auch eine neue Sicht auf die Begrenztheiten und Funktionsweisen des religiösen Codierungsprozesses erlaubt. Derrida beschäftigt sich mit den Konsequenzen seiner Theoriebildung für die Analyse religiöser Vollzüge in seiner kritischen Relecture mystischer Traditionen der Theologiegeschichte. In diesem Rahmen entwirft er in Rückbindung an seine sprachphilosophischen Überlegungen eine paradoxale (Nicht-)Verortung des Gottesbegriffs. Dabei argumentiert er weiterhin konsequent metaphysisch insofern, als dass er das allgemeine Streben nicht nur nach ›Spuren‹ des Sinns, sondern immer auch nach einem ›Dahinter‹ ernstnimmt. Zugleich bedeutet für ihn ein Ernstnehmen der ›Temporisation‹ allen menschlichen Strebens, Fragens und Sprechens auch, dass jede Metaphysik sich der eigenen Paradoxien bewusst sein muss, die ihr strukturell zu eigen sind. In diesem Sinne argumentiert Derrida ebenso streng metaphysikkritisch. Er hält fest: »Paradox an einer solchen Struktur ist, in der Sprache der Metaphysik, jene Umkehrung des metaphysischen Begriffs, die den folgenden Effekt produziert: das Anwesende wird zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf jede Verweisung letzter Instanz verweist. Es wird zu einer Funktion in einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Erlöschens der Spur.«30 Auf diese paradoxe Fährte begibt sich Derrida zufolge jede mystische Rede von einem verborgenen, ganz anderen ›Gott‹: Sie findet sich in Codierungen und Praktiken genau in dieser auf Dauer gestellten Paradoxie wieder, wenn sie im Gebet ›Gott‹ sagt und so den paradoxen Versuch unternimmt, dem als ganz anders vorgestellten und eingestandenen einen Namen zu geben und ihn*sie anzusprechen. Diese Paradoxie verbürgt zugleich das, was die Rede von ›Gott‹ zu bezeichnen sucht: transzendente Unverfügbarkeit. Die Einsicht in die ›différance‹ zwingt so dazu, der Unabschließbarkeit bezeichnend beizukommen, sie bringt den Code ›Gott‹ mit sich – ohne ein von ihm Bezeichnetes jemals mitliefern zu können. Damit potenziert sich in der Theologie die Dekonstruktion jeder vernunftbasierten Rede (logie), wie sie Derrida vorgenommen hat. Sie ›hat‹ im Code ›Gott‹ einen atopischen (!) Ort: Ob es diesen Ort jenseits der rationalen Grenzgänge und sprachlichen ›Spuren‹ gibt, geben wird oder je gegeben hat, ist unklar. Diese Verknüpfung zwischen einer Benennungspraktik auf der einen und der mit ihr zugleich eingetragenen Selbstnegation des Bezeichnungsprozesses auf der anderen Seite führt Derrida dabei nicht einfach zu
30
Derrida, Différance, 53.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
einer nihilistischen Positionierung gegenüber der Religion. Er schreibt der ihr inhärenten Paradoxie vielmehr performative Kraft zu und spricht von einem ›hyperbolischen Effekt‹: »Der Name Gottes wäre dann der hyperbolische Effekt dieser Negativität beziehungsweise aller in ihrem Diskurs sich daran anschließenden Negativität. Der Name Gottes träfe auf alles zu, was einen Angang, eine Annäherung, eine Bezeichnung nur in indirekter und negativer Weise zuläßt. Jeder negative Satz wäre bereits heimgesucht von Gott oder vom Namen Gottes – wobei der Unterschied zwischen Gott und dem Namen Gottes überhaupt erst den Raum dieses Rätsels eröffnet. Wenn es eine Arbeit der Negativität im Diskurs und in der Prädikation gibt, sie brächte Göttlichkeit hervor.«31 Vor diesem Hintergrund lassen sich Derridas methodologische ›Spuren‹ auch in den schon erwähnten metaphysikkritischen Anmerkungen Saskia Wendels und Martin Breuls wiederfinden: Angesichts der nicht fest verortbaren, temporalisierten Versprachlichung der Suche nach dem letztgültigen Sinn, sind Philosophie und Theologie bleibend auf metaphysische Sprachspiele verwiesen. Sie bespielen dieses paradoxale Spannungsfeld jedoch ohne es an ontologische Gewissheiten rückbinden oder jemals abschließend absichern zu können.32 Dementsprechend markiert Derrida die Mystik als ein in letzter Konsequenz dekonstruktives Projekt. Es lässt sich schlussfolgern: »Nicht anders als die Mystik erforscht die Dekonstruktion die Grenzen endlicher Rationalität. Sie kann aber nicht mehr unterstellen, an dieser Grenze einen letzten sinnstiftenden Grund zu berühren. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis dekonstruktiver Diskurse. Denn unter dieser Voraussetzung verliert der philosophische Diskurs die Möglichkeit, seine eigene Sinnhaftigkeit zu rechtfertigen.«33 Mit diesen Übertragungen seiner Dekonstruktion legt Derrida der Theologie insgesamt eine permanente dekonstruktive Reflexion des eigenen Denkens nahe. Nur dann wendet sie Derridas Argumentationen zufolge eine ihrem Gegenstand adäquate Methodologie an. Hier deutet sich an, wie bei Derrida selbst die Reflexion einer philosophischen Methodologie in eine unmittelbare Nähe zur theologischen Epistemologie gerät. Indem er an den Grenzen menschlicher Erkenntnis operiert, sie zugleich als Grenzen markiert und damit jeden naturalistischen Nihilismus ebenso wie jeden überoptimistischen metaphysischen Mystizismus dekonstruiert, rückt er letztlich die an die Theologie adressierten Grundfragen Kants (›Was kann ich wissen?‹; ›Was soll ich tun?‹; ›Was darf ich hoffen?‹34 ) in ein neues, zugespitztes Licht: Es geht hier nicht mehr nur um ein vernunft31 32 33
34
Ders., Wie nicht sprechen. Verneinungen, hg. v. P. Engelmann; übers. v. H.-D. Gondek (Passagen forum), Wien 3 2014, 18. Vgl. Ders., Différance, 55. Johannes Hoff, Dekonstruktive Metaphysik. Zur wissenschaftlichen Erschließung des Archivs Negativer Theologie ›nach‹ Derrida, in: Peter Zeillinger – Matthias Flatscher (Hgg.), Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie, Wien 2004, 138–168, hier: 146. Zitiert nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hg. v. J. Timmermann (PhB 505), Hamburg 1998, hier: 838.
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begründetes ›hoffen dürfen‹, sondern um ein schon a priori gefordertes ›hoffen müssen‹ angesichts der sinnbezogenen Aufladung aller Handlungsvollzüge und ihrer gleichzeitigen Unabschließbarkeit.35 Alle metaphysischen Anklänge in den Fragen selbst und in den jeweiligen Antwortversuchen werden hier sprach- und bewusstseinskritisch dekonstruiert (nicht destruiert!). Derrida setzt damit auch neue Ansprüche an die theologische Anthropologie und ermöglicht zugleich ein innovatives Eingehen auf die zwingend aufzunehmenden Einsichten der evolutionären Anthropologie und ihrer szientifisch-naturalistischen Fallstricke. In diesem Sinne kann gefragt werden, ob man im Dekonstruktivismus Derridas nicht deutliche Ansätze einer postmodernen Theologie erkennen kann, die mögliche Lösungsmarker für eine theologisch fruchtbare Relecture der evolutiven Rolle religiöser Narrative und Handlungen bereithält. Diesem möglichen Lösungsmarker soll im Folgenden im Sinne eines theologischen Anschlusses der dargelegten methodologischen Grundlagen nachgegangen werden. Es handelt sich dabei um eine theologische Spuren(!)suche, die nicht für sich beansprucht, die Theoriebildungen Derridas theologisch festschreiben zu können. Im Gegenteil will sie Fragmente möglicher Anknüpfungspunkte nachzeichnen und ihre epistemischen Auswirkungsmechanismen ausloten. Diese Spurensuche führt nochmals über die bisherigen Theoriebildungen hinaus, deckt jedoch zugleich deutliche Verbindungslinien zum bislang aufgebauten Theorierahmen auf. Es handelt sich also im besten Sinne um ein Scharnierstück im Gesamtaufbau dieser Arbeit.
35
Im Gefüge einer fundamentaltheologischen Erkenntnistheorie ergeben sich an dieser Stelle konsequenterweise eschatologische Öffnungen, wie sie etwa Maurice Blondel vornimmt, wenn er das Spannungsfeld aus Freiheit und Notwendigkeit nicht mehr als Gegensatzpaar, sondern als performativen Handlungstreiber des menschlichen Gottesbezugs skizziert (vgl. dazu insbesondere Maurice Blondel, L’Action – Die Tat. Versuch einer Kritik des Lebens und einer Wissenschaft der Praxis, übers. v. A. van Hooff, Baden-Baden 2018 (1893).) Auf diese Verbindungslinien soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, sie könnten der dogmatischen Rezeption der vorliegenden erkenntnistheoretischen Grundlegungen über die vorliegende Arbeit hinaus jedoch einen wichtigen Anhaltspunkt geben. Den Kerngedanken einer solchen Linienführung fasst Cathal Doherty treffend zusammen: »[…] Blondel establishes the supernatural as hypothetical necessity for the resolution of a dialectic opened up by his examination of the phenomenon of willed human action […]. Voluntary human action is the receptactle for this elevating and heterogeneous insertion […] and from this he derives properly philosophical exigencies regarding Christian particularities most ›scandalous‹ to the Enlightenment project, such as a real, particular, historical Mediator (Incarnation), a particular and historical Revelation along with a ›literal practice‹ […]. The necessity remains ›hypothetical‹ because it is the consequence of a conditional: if the dialectic opened up by the phenomenon of willed human action is to be resolved, then there must be a supernatural complement, whose point of heterogeneous insertion in human life is voluntary human action.« (Cathal Doherty, Maurice Blondel on the Supernatural in Human Action. Sacrament and Superstition (Brill’s Studies in Catholic Theology 4), Leiden/Boston (MA) 2017, 2).
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
7.3. ›Différance‹-Geschehen und Offenbarungsgeschehen bei Derrida und Barth Der theologische Anschluss der Theoriebildungen Derridas orientiert sich im Folgenden an Graham Wards innovativem und auf den ersten Blick überraschenden Theorievergleich zwischen der Offenbarungstheologie Karl Barths und der dekonstruktiven Theorie Jacques Derridas.36 Erste Ansätze zu einer konsequenten Verknüpfung einer dekonstruktiven Relecture Barths mit einer performativen Religionshermeneutik legt darüber hinaus auch Gregor Maria Hoff im ersten Band seiner »Glaubensräume« vor.37 Diese fundamentaltheologische Neurezeption von Wards Theorievergleich hilft im Folgenden dabei, religiöse Codierungen noch präzisier als einen Prozess sich permanent differenzierender Performanzereignisse mit evolutiver Schlagkraft zu begreifen. Zunächst werden die für den vorliegenden Kontext zentralen Überlegungen Barths beleuchtet und in den Rahmen der vorliegenden Arbeit eingeordnet. Es wird sich zeigen, dass die offenbarungstheologische Herausforderung der sich Barth widmet spannende Parallelen zu Derridas Kernmetaphern ›Spur‹, ›Temporisation‹ und ›différance‹ aufweist. Es können methodologisch gewinnbringende theologische Verbindungslinien abgeleitet werden (Kapitel 7.3). Die Parallelisierung beider Theorien ermöglicht in einem zweiten Schritt – und darin besteht ihre Relevanz für die vorliegende Arbeit – eine produktive Konfrontation der theologischen Ergebniskomplexe mit den dargelegten evolutiven Theorieherausforderungen. Sie schließt sich an die bereits ritual- und symboltheoretisch analysierten evolutiven Effekte religiöser Erkenntnisprozesse an und stellt sie in einen erkenntnistheoretischen Rahmen, der sich als interdisziplinär anschlussfähig erweist (Kapitel 7.3.4). Die Lektüre Karl Barths und Jacques Derridas bietet damit nicht nur mögliche interdisziplinäre Lösungsschlüssel für die erkenntnistheoretische Verortung religiöser Codierungen und Praktiken. Sie verweist ebenso auf noch offene Verhältnisbestimmungen zwischen System, Umwelt und Kommunikation, die für die Analyse religiöser Erkenntnisbildung im Rahmen der Entwicklung des Menschen von Bedeutung sind. Die im folgenden theologischen Anschluss nahegelegten erkenntnistheoretischen Umstellungen ebnen daher schließlich den Weg hin zu einem evolutionsanthropologisch informierten, heuristisch leistungsfähigen theologischen Religionsbegriff (Kapitel 8).
7.3.1.
Karl Barths Dekonstruktion des Analogiebegriffs
Sowohl Derrida als auch Barth sehen den Herausforderungsrahmen ihrer Theorien in der Beobachtung von sinngestützten Weltdeutungen und ihrem metaphysischen Voraussetzungshorizont. Dabei stoßen beide auf die Begrenzung dieser Deutungsprozesse durch die kognitiven, physischen und sprachlichen Voraussetzungen des Menschen. Damit greifen beide erkenntnistheoretische Aspekte auf, die für das herausgearbeitete evolutive Grundsetting sowohl theologisch als auch evolutionsanthropologisch bedeutsam sind. Karl Barth geht diesen Herausforderungsrahmen zunächst ›klassisch theologisch‹ in Bezug auf die Möglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis an. Er hält fest: 36 37
Vgl. Ward, Barth. Hoff, Glaubensräume II/1.
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»Gott wird durch Gott, Gott wird nur durch Gott erkannt. Seine Offenbarung ist nicht nur seine eigene, sondern auch des Menschen Bereitschaft zu seiner Erkenntnis; seine Offenbarung ist also Gottes Erkennbarkeit.«38 Bereits hier wird deutlich, wie Barth ausgehend von der Erkenntnis- und Sprachfähigkeit des Menschen seine Begrenztheit gegenüber dem ›ganz Anderen‹ Gottes stark macht und damit menschliche Gottesrede von einer Erkenntnis des Wesens Gottes unterscheidet. Zugleich markiert er Offenbarung als von einer offenen Haltung des Menschen abhängig. Entsprechend handelt es sich bei der Offenbarung um ein Glaubensgeschehen, bei dem der glaubende Mensch weder passiv wiederholt, was Gott ihm ›eingibt‹ noch einfach aktiv selbst erschließen könnte, was und wie Gott ist. Vielmehr bedarf es des Zusammenspiels Gottes und der Vernunftfähigkeit des Menschen – die Barth wiederum auf Gott zurückbezieht. Diese Differenzierung führt Barth zu einer folgenreichen Unterscheidung zwischen einem menschlichen »Unternehmen«39 und einem von Gott ausgehenden »Geschehen«40 , als das Barth offenbarungsbezogene Erkenntnisprozesse bezeichnet. Im Rahmen dieser theologischen Grundlegungen einer Differenz bei einem gleichzeitigen Zusammenspiel zwischen göttlichem Offenbarungsgeschehen und menschlicher Erkenntnisbewegung lässt sich Barths Gedankengang an Derridas ›différance‹Denken anlehnen: Auch Barths Erkenntnisbegriff ist aktual angelegt und verabschiedet sich auf diese Weise von einem substanzmetaphysischen Wahrheitsbegriff. Es wird deutlich, »dass er in erster Linie in Ereignissen und in Beziehungen denkt und nicht so sehr im Kontext einzelliger, selbstbezogener Substanzen.«41 Insofern verbinden sich beide Ansätze auch durch die ihnen inhärente Performanz: Sie ›tun‹, was sie theoretisieren. Auch Barths aktuale Analytik entspricht genau in dieser Bezogenheit zwischen methodischer Form und analysiertem Gehalt ihrem Gegenstand – der Offenbarungsrede. Barth nähert sich damit in seiner schriftbezogenen Offenbarungstheologie überraschend weit an das Temporisationsverständnis Derridas an, wenn er festhält: »Gott und sein Wort sind uns nicht in einer Weise gegeben, wie uns natürliche und geschichtliche Größen gegeben sind. Was Gott und was sein Wort ist, das können wir nie rückblickend und damit vorwegnehmend feststellen, das muß er uns selbst immer wieder und immer neu sagen. Es gibt aber kein menschliches Wissen, das diesem göttlichen Sagen entsprechen würde. Es kommt in Gottes Sagen wohl zu einer Begegnung und Gemeinschaft zwischen seinem Wesen und dem Menschen, aber nicht zu einer Aufnahme dieses Wesens in das Wissen des Menschen.«42
38 39 40 41 42
Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von Gott, II/1 §§ 25–27: Die Erkenntnis Gottes (Studienausgabe 7), Zürich 1986, 200f. [Im Folgenden zitiert als KD II/1 (1)]. Ebd., 202. Ebd. George Hunsinger, Karl Barth lesen. Eine Einführung in sein theologisches Denken, NeukirchenVluyn 2009, 29. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre vom Wort Gottes und Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, I/1 §§ 1–7: Einleitung/Das Wort Gottes als Kriterium der Dogmatik (Studienausgabe 1), Zürich 1986, 136. [Im Folgenden zitiert als KD I/1 (1)].
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
Daraus ergibt sich auch eine Offenheit für die analytische Verbindung von sozialsystemischen Bezügen und Umweltkontexten mit der intentionalen Weltbearbeitung und den Glaubenspraktiken des Menschen. Auch ihnen ist ihre jeweilige kontingente Bedingtheit immer schon inhärent. Sie können sie nicht durch transzendenzorientierte Erklärungsmuster auflösen. Barth wendet diesen dekonstruktiven Denkhabitus schließlich explizit offenbarungstheologisch an und erschließt damit mögliche theologische Reflexionspunkte und Integrationsmöglichkeiten systemischer Automatismen in einen bleibend personalen Gottescode christlicher Provenienz. Dieses Vorhaben verlangt von Barth ein dialektisch angelegtes Offenbarungsverständnis, das in Verbindung mit einem dekonstruktiven Denkhabitus insbesondere unter dem Gesichtspunkt evolutiver Spannungsfelder der Religion gewinnbringend ist. Barth arbeitet sich auf dem Weg dahin in einem ersten Schritt an der theologischen Analogienlehre ab: Ausgehend von seiner Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit, betont Barth in seiner theologischen Erkenntnistheorie die sprachlichen Aporien, die Transzendenzkonzepte mit sich bringen. Menschliche Erkenntnis ist Barth zufolge bleibend an begriffliche Konzeptionen gebunden, ohne ein ›Davor‹ oder ›Dahinter‹ zu kennen oder erreichen zu können. Gleichzeitig deuten die Selbstüberschreitungen des menschlichen Denkens in Konzeptionen der Transzendenz für Barth darauf hin, dass der Mensch auf eine spezifische Art der Anschauung zurückgreifen kann, wiewohl jedes Konzept der Transzendenz bereits die Alterität des Bezeichneten mitdenkt. Er skizziert ein Spannungsfeld, in dem sich jeder Versuch der Gotteserkenntnis und damit letztlich auch die Theologie bewegt: Wenn der Mensch, so Barth, den Code ›Gott‹ in seinem begrifflichen Repertoire prägt, so muss es ihm möglich sein, damit konkrete Erfahrungen und Aussagelogiken zu verbinden – in diesem Sinne kann er ›Gott‹ denken.43 Zugleich verweist der Code Barth zufolge selbst immer schon auf eine »Alterierung des menschlichen Erkennens als solchen«44 . In dieser Spannung zwischen der sprachlich ausgedrückten Fähigkeit des Menschen zur transzendenten Reflexion und einer mit dem Code ›Gott‹ belegten Wirklichkeit sieht sich Karl Barth einer notwendigen Reformulierung der theologischen Analogienlehre gegenübergestellt.45 Eine substanzmetaphysisch geprägte analogia entis-Lehre schließt er in Folge der immer schon begrenzten Zugangsweise des Menschen zu jeglicher Transzendenzcodierung als nicht haltbar aus.46 Dennoch ist ihm zufolge eine Verhältnisbestimmung zwischen göttlicher ›Sprache‹ und menschlicher Sprache erforderlich – nicht zuletzt, wenn es um den erkenntnistheoretischen Status der heiligen Schriften und der Rede von der göttlichen Offenbarung im Menschen (!) Jesus von Nazareth geht. Dazu behält er den Analogiebegriff als nützliches theologisches Konzept bei.47 Er wandelt ihn jedoch zu einem relational-aktualen Analyseinstrument für die Beziehungswirklichkeit
43 44 45 46 47
Vgl. Ders., KD II/1 (1), 203. Ebd. Vgl. Ders., KD I/1 (1), 257. Vgl. ebd. Vgl. David Guretzki, Barth, Derrida and différance. Is there a Difference?, in: Didaskalia 13/2 (2002) 51–71, hier: 59.
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zwischen Gott und Mensch. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »analogia fidei«48 . Diese im Glauben grundgelegte Analogie geht Barth zufolge zunächst konsequent von Gottes freier Entscheidung für die Zuwendung zum Menschen aus: »Wenn er [Gott; JU] es so haben will, daß wir mit unseren […] ohnmächtigen Anschauungen und Begriffen ihn denken und daß wir mit unseren […] ohnmächtigen Worten von ihm reden sollen, dann bedeutet das, daß Gott selbst mit seinem Willen, sich zu offenbaren und also mit seinem an uns gerichteten Anspruch an unsere Stelle tritt und also mit seiner Macht, sich zu offenbaren, die Leere unserer Ohnmacht, ihn anzuschauen und zu begreifen, ohne sie zu ignorieren und auch ohne sie zu beseitigen, ausfüllt.«49 Entworfen wird hier keine Seinsanalogie, die dem Menschen als Gott ontologisch ähnlich die Möglichkeit der Gotteserkenntnis natürlicherweise einschreiben würde. Stattdessen konstatiert Barth eine durch Gottes Hinwendung zum Menschen und seiner Begrenztheit ermöglichte Beziehungsanalogie, die im Glauben angenommen werden kann. Das heißt, dass die Analogielehre »also nicht unter die Ermöglichungsgründe der Gotteserkenntnis [fällt], sondern unter deren Grenzen.«50 Den von Barth skizzierten erkenntnistheoretischen Status des Glaubens könnte man damit als eine stets von Gott her gedachte ›grenzgängerische Haltung‹ des Menschen bezeichnen. Sie kann lediglich eine temporär-aktuale Erkenntnisspur verfolgen, jedoch nie von einem substanzmetaphysisch, teleologisch gedachten Ende her eingeholt werden. In diesem Sinne operiert auch Barths Theologie – ausgehend von einer christlichen Axiomatik und damit vom Glauben an einen sich offenbarenden, die Beziehung mit den Menschen eingehenden Gott – entlang dekonstruktiver Grundbegriffe. Barth besteht damit sowohl auf der Transzendenz Gottes als auch auf den begrenzten Erkenntnisfähigkeiten des Menschen. Er versteht das Offenbarungsgeschehen als ein nicht auflösbares Wechselspiel dieser beiden Seiten. Insofern ist mit Barth gesprochen die Rede von ›Gott‹ und die Möglichkeit einer Beziehung mit ihm*ihr auf performative Erkenntnisprozesse verwiesen: Gottes Offenbarung als von ihm*ihr ausgehendes Ereignis performiert sein*ihr Weltverhältnis als Schöpfer*in, in dem er*sie sich selbst als temporär erfahrbare Wirklichkeit für den Menschen ›ins Spiel bringt‹. Christologisch gesprochen, übergeht Gott in dieser relationalen Offenbarungsform die Leerstellen menschlicher Erkenntnisfähigkeit nicht, sondern nimmt sie ernst, indem er*sie sie selbst annimmt.51
7.3.2. Eine Heilsökonomie der Differenz Diese aktuale und relationale Neuausrichtung des Analogiebegriffs führt im Zuge von Barths Kirchlicher Dogmatik schließlich zu einer spezifischen, christologisch fokussier48 49 50
51
Barth, KD I/1 (1), 257. Ders., KD II/1 (1), 338f. Dirk-Martin Grube, Analogia fidei. Zum ›Analogiegeschehen‹ bei Karl Barth, in: Werner Schüßler (Hg.), Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, Darmstadt 2008, 117–131, hier: 119. Vgl. Hoff, Glaubensräume II/1, 368.
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ten Heilsökonomie, die er schrifthermeneutisch grundlegt. Sie wird zum theologischen Fundament seines Offenbarungsbegriffs. An dieser Stelle zeigen sich starke Parallelen zur dekonstruktiven Methodologie Derridas. Barth legt ähnlich wie Derrida ein atopisches, aktuales Offenbarungsverständnis nahe, das in seiner Dogmatik eine differenzbasierte Heilsökonomie zur Folge hat. Karl Barths Offenbarungstheologie liefert auf diese Weise eine wertvolle Möglichkeit der Verknüpfung theologischer Grundlagen mit evolutiv herausgearbeiteten Kontingenzfaktoren und der performativen Transformationsfunktion religiöser Narrative und Handlungen.52 Im Rahmen seiner relationalen Analogielehre betont Barth die Zuwendung Gottes zum Menschen als ein seinem Erkenntnisvermögen entsprechendes Ereignis. Diese Beziehungslogik führt dazu, dass er die Vernunfthaltung des Menschen in seinem offenbarungstheologischen Konzept nicht als nachrangig einführen kann, sondern immer schon konstitutiv mitdenken muss. An dieser Stelle kommt Barths starke Verknüpfung des Offenbarungsgeschehen mit der Glaubenshaltung des Menschen zum Tragen: Die Offenbarung selbst stellt sich Barth zufolge als wesentlicher Aspekt menschlicher Selbsterkenntnis dar. Menschliche Selbsterkenntnis ist für Barth entsprechend nicht ohne eine offenbarte Gotteserkenntnis denkbar – beide Prozesse fallen ihm zufolge vielmehr auf Engste zusammen: »[Es] bedarf der Offenbarung selbst zu der Erkenntnis, daß Gott verborgen und der Mensch blind ist. Die Offenbarung und nur sie rückt Gott und Mensch wirklich und endgültig auseinander, indem sie sie zusammenbringt. […] Wenn das gehört wird, dann und erst dann ist die Grenze zwischen Gott und Mensch […] wirklich sichtbar. Indem sie sichtbar ist, ist dann aber auch die Offenbarung, in der diese Grenze überschritten wird, sichtbar als Geheimnis, als Wunder, als Ausnahme.«53 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Barth ebenso wie Derrida die Metapher der ›Grenze‹ einführt. Weil Gott sich auf die Begrenztheit des Menschen einlässt, wird der Mensch sich Barth zufolge seiner selbst als kontingentes und endliches Wesen bewusst. Die Offenbarung zu erfassen, wird damit zur grenzgängerischen Unmöglichkeit, die das Offenbarungshandeln Gottes dennoch nicht einfach verunmöglicht. In dieser offenbarungstheologischen Aporie erschließt sich eine dekonstruktive Stärke aktualer Differenzierung, für die auch Derrida einsteht. Menschliche Selbst- und Welterkenntnis performieren sich, folgt man Barths Entwurf, im Offenbarungsgeschehen durch die vernunftgemäße Annahme der aufgezeigten anthropologischen Grenzziehungen.
52
53
Das gilt, obwohl Barth die erkenntnistheoretischen Folgewirkungen seiner theologischen Differenzierungen aus heutiger Perspektive nicht immer konsequent zu Ende denkt und einer deszendenzchristologischen Axiomatik verpflichtet bleibt, die mit dem aktuellen dekonstruktiven und evolutiven Erkenntnisstand nicht lückenlos zu übernehmen ist. Auf diese offenen Flanken wird noch einzugehen sein. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre vom Wort Gottes und Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, I/2 §§ 13–15: Die Offenbarung Gottes. Zweiter Abschnitt: Die Fleischwerdung des Wortes (Studienausgabe 3), Zürich 1989, 32f. [Im Folgenden zitiert als KD I/2 (1)].
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In Bezug auf die evolutionsanthropologischen Marker kognitiver Dissonanz, lassen sich diese Säulen des Offenbarungsverständnisses Barths auch interdisziplinär reflektieren: Offenbarung ist demnach an menschliche Erkenntnisprozesse gebunden und zugleich als ihr Auslöser markiert. Der Transzendenzbezug macht den Menschen zum Menschen, er ist sowohl kognitionspsychologisch als auch offenbarungstheologisch – wenn auch mit einer jeweils spezifischen Axiomatik belegt – als anthropologischer Grundvollzug markiert. Das heißt mit Barth theologisch ausdifferenziert jedoch nicht, dass es sich hier um eine immanente, vernunftmäßig auflösbare Projektion des Menschen handelt. In Anbetracht des anthropologischen Spannungsfelds der Endlichkeit, führt Barths Dogmatik im Gegenteil einen konsequent atopisch gedachten Offenbarungs- und Schriftbegriff ein.54 Die ›Grenze‹ hat ihren erkenntnistheoretischen Ort in der Anthropologie und ist doch selbst kein immanenter, gegebener Ort, dessen man sich sicher sein könnte. Barth verweist hierfür auf ein doppeltes Abhängigkeitsgefüge des Wirklichkeitsgehalts religiöser Bezeichnungspraktiken: Zum einen basieren sie auf der sprachphilosophisch begründeten Begrenztheit der »Bedeutungssicherheit des Zeichens ›Gott‹ [,die; JU] nicht vorab feststeht und nicht jenseits einer Glaubenspraxis zu erreichen ist.«55 Zum anderen geht die religiöse Rede vom ›Offenbarungshandeln Gottes‹ immer schon vom Primat der göttlichen Zuwendung vor aller vernunftbasierten Erfassung seines theologischen Gehaltes aus. Diese Axiomatik erfordert aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Uneinholbarkeit eine begründete Haltung des Glaubens, insofern sie die Transzendenz der Sinngehalte, auf die sie sich bezieht, nur in Form von immanenten Codes thematisieren kann. Ohne diese Interpretationsbewegung könnte das Geschehen gar nicht als Offenbarung qualifiziert werden und wirkte also auch nicht offenbarend. Eine vernunftbasierte Glaubenshaltung ergibt sich an dieser Stelle also sowohl als praktisches Erfordernis im menschlichen Denken und Sein als auch als epistemische Voraussetzung jeder theologischen Offenbarungsreflexion. Glaubenswissen, so könnte man im Sinne Barths formulieren, bedeutet dann immer ein Leben im Bewusstsein der Begrenztheiten, das einen grenzgängerischen Habitus als anthropologischen Grundvollzug nach sich zieht. Diese theologische Linienführung weist deutliche Parallelen zum von Derrida geprägten Denkhabitus der ›différance‹ auf. Wer diese Parallelen ernstnimmt, wird auf die massiven theologischen Auswirkungen des Barth’schen Offenbarungskonzeptes noch einmal verstärkt aufmerksam. Besonders transparent wird die methodologische Nähe beider Denker bezeichnenderweise in der Betrachtung der schrifthermeneutischen und christologischen Präzisierungen, mit denen Barth sein relationales Offenbarungsverständnis begründet. Freilich unterscheidet er sich in der inhaltlichen Fokussierung hier deutlich von Jacques Derrida, die methodologischen Parallelen treten jedoch umso deutlicher hervor.56 54
55 56
Vgl. zur Analysekategorie der ›Atopik‹ in den Theoriebildungen Barths und hinsichtlich ihrer Verbindungslinien mit der dekonstruktiven Methodologie Derridas insbesondere Hoff, Joh., Metaphysik, 162; sowie Hoff, Glaubensräume II/1, 230f. 241–243. Hoff, Glaubensräume II/1, 231. Vgl. Garrett Green, Theology, Hermeneutics, and Imagination. The Crisis of Interpretation at the End of Modernity, Cambridge 2004, 153. Die dekonstruktiven Systematiken Derridas liefern der Theologie Karl Barths Green zufolge nachträglich »conceptual tools more suitable to Barth’s subject matter than the tools Barth had at his disposal.« (Ebd.)
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
In Reaktion auf die sprachliche Begrenztheit des Menschen lässt Barth sein relational-aktuales Offenbarungsverständnis konsequent auf eine Wort-Gottes Theologie zulaufen, die er schrifthermeneutisch und christologisch unterfüttert. Für Barth ist das einzige offenbarungstheologisch immanent zur Verfügung stehende Kriterium die Heilige Schrift. Sie bildet ihm zufolge das Wort Gottes in menschlicher Sprache ab. Die Heilige Schrift verkörpert demnach die relationale Dialektik, die der Offenbarung eigen ist. Nicht ohne Grund schließt Barth in der Kirchlichen Dogmatik an seine Prolegomena direkt das umfassende Kapitel zum »Wort Gottes als Kriterium der Dogmatik«57 an. Dort versteht er das Wort Gottes im Sinne eines Offenbarungsgeschehens als Akt der Selbstreferenz Gottes. Daraus ergibt sich ihm zufolge die Möglichkeit, Gott pragmatisch zu erfahren, ohne ihn*sie je als ›Gegenstand an sich‹ habhaft machen zu können. Die Spitzenform dieser pragmatischen Vergegenständlichung Gottes findet sich demnach in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, die Barth als konkrete relationale Einholung der Hoffnungsperspektive eines ›Gott mit uns‹ auffasst. Er formuliert: »[…] dieses ›Gott mit uns‹ ist geschehen. […] Die erfüllte Zeit, die mit Jesus Christus identisch ist, dieses schlechthin Geschehene, im Verhältnis zu dem alles andere ein noch nicht oder nicht mehr Geschehenes ist, dieses ›Es ist vollbracht!‹, dieses Deus dixit, zu dem es keine Analogien gibt, ist die in der Bibel bezeugte Offenbarung.«58 Das dialektische Spannungsverhältnis einer Gegebenheit und zugleich radikalen Andersheit Gottes kann Barth in einer Art ›Grammatik der Offenbarung‹ auffangen, in der er das Verhältnis zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat des Wortes Gottes aufbricht und dialektisch offenlässt: »Der Satz ›Deus dixit‹ werde darin recht verstanden, dass ›Subjekt, Prädikat und Objekt sowohl gleichzusetzen als auch zu unterscheiden sind‹ (I/1, 316).«59 An dieser Stelle verknüpft Barth soziale, sprachpragmatische und systemtheoretische Aspekte. Er argumentiert also im besten Sinne offenbarungstheologisch dekonstruktiv. Die Zuwendung Gottes als performatives Moment der Selbstoffenbarung wird damit zum Kernelement jeder Rede von ›Gott‹. Die performative Ausrichtung wahrt dabei ihre Verankerung in der Weltwahrnehmung bei gleichzeitig bleibender Unterschiedenheit zur Welt. Barth selbst hält dieses performativ wirksame Spannungsverhältnis in seiner Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung, Kirche und Heiliger Schrift fest und konstatiert: »Die Offenbarung ist nach allem Gesagten ursprünglich und unmittelbar, was die Bibel und die kirchliche Verkündigung abgeleitet und mittelbar sind: Gottes Wort. Wir sagten von der kirchlichen Verkündigung: Sie muß Gottes Wort je und je werden.«60
57 58 59 60
Barth, KD I/1 (1), 47. Ebd., 119. Michael Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie (FSÖTh 139), Göttingen 2013, 50. Barth, KD I/1 (1), 120.
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Barths Ansatz kann entsprechend als eine ›Heilsökonomie der Differenz‹ charakterisiert werden: Die Zuwendung Gottes (›Heil‹) ereignet sich aktual und entfaltet so eine Performanz, die die bleibende Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf aufzeigt und zugleich grenzgängerisch mit Sinn auflädt. Barths Schrifthermeneutik ist in diesem Sinne als performative Semiotik zu lesen. Hier zeigt sich erneut die methodologische Nähe seines Argumentationsgangs zur Dekonstruktion Derridas.61 Barth versteht die Unabschließbarkeit der menschlichen Offenbarungserkenntnis und den bleibenden Prozess einer Analogiebildung zwischen Gott und den Menschen als wichtige Merkmale der Offenbarung. In diesem Sinne markiert er die Offenbarung als Deutungskategorie eines spezifischen ›différance‹-Geschehens: Die Offenbarung muss immanent »je und je werden«62 . In diesem Sinne verschafft sich Gott Barth zufolge einen Zugang zur Lebenswirklichkeit des Menschen, ohne in dieser je abschließend verortet werden zu können. Parallel zur Derrida’schen Spurenmetaphorik kartiert Barth das Offenbarungsgehehen »atopisch – als eine nicht-antizipierbare Heterotopie, die die Verantwortung des theologischen Zeugnisses herausfordert, ohne dass die Sprache des Glaubens ihrer je habhaft werden könnte.«63 Das Offenbarungsgeschehen selbst legt also von Gott ausgehende ›Spuren‹ der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die in menschlichen (und das heißt letztlich sprachlichen) Zugangsweisen erfasst werden können. Die heilsame Eröffnung unendlicher Lebensmöglichkeiten erweist sich in der Unabschließbarkeit des göttlichen Zuwendungsprozesses, der bleibend auf die Offenheit und fragende Haltung des Menschen in der Anerkennung seiner eigenen Kontingenz verwiesen ist. Mit den Worten Barths lässt sich diese Konsequenz entsprechend deutlich zusammenfassen: »Will sagen: die Linien, die wir ziehen können, um bildlich und begrifflich zu umschreiben, was wir meinen, wenn wir ›Gott‹ sagen, lassen sich nicht so ausziehen, daß dieses Gemeinte nun wirklich umschrieben und also bezeichnet wäre, sondern sie brechen immer wieder auseinander, so daß es faktisch nicht umschrieben und also nicht bezeichnet ist. Die uns zur Verfügung stehenden Bezeichnungsmittel reichen hinsichtlich Gottes nicht aus, sodaß wir uns, nachdem wir sie auf ihn angewendet haben, dabei beruhigen könnten, gedacht zu haben, was hier gedacht und gesagt werden müßte. Das von uns in Gedanken und Worten erfaßte Wesen ist immer noch nicht oder schon nicht mehr das Wesen Gottes.«64 Die hier skizzierte Spannung des ›immer noch nicht‹ und ›schon nicht mehr‹ eröffnet eine Leerstelle, die als ungefüllter Zwischenraum dem entspricht, was Derrida zeitlich in der Rede vom ›Zuspätkommen‹ als ›Temporisation‹ metaphorisiert.65 Dass das ›Gott‹-Sagen des Menschen trotz dieser Leerstelle nicht einfach ein beliebiger Bezeichnungsversuch ist, sondern sich auch auf eine tatsächliche Zuwendung Gottes bezieht, sieht Barth schließlich in der Person Jesu Christi zeichenhaft manifestiert. Auch hier hält er das Spannungsgefüge der Unterschiedenheit bei gleichzeitiger Relationalität 61 62 63 64 65
Vgl. Green, Theology, 147. Barth, KD I/1 (1), 120. Hoff, Joh., Metaphysik, 162. Barth, KD II/1 (1), 210. Vgl. Derrida, Différance, 42.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
zwischen Gott und Mensch für durchgehend wirksam und definiert die Fleischwerdung des Wortes als »das erste, ursprüngliche und regierende Zeichen aller Zeichen.«66 Diese Zeichenhaftigkeit geht demzufolge mit einer dem Menschen offenbarten Zugänglichkeit Gottes einher. Als Semiose unterliegt diese Offenbarung jedoch zugleich einer bleibenden Ungleichzeitigkeit und Nicht-Identität. Barth formuliert das in einigen prägnanten Sätzen sehr deutlich, wenn er festhält: »Eben in seiner Offenbarung, eben in Jesus Christus, hat sich ja der verborgene Gott faßbar gemacht. Nicht direkt, sondern indirekt. Nicht für das Schauen, sondern für den Glauben. Nicht in seinem Wesen, aber im Zeichen. Nicht unter Aufhebung seiner Verborgenheit also – aber faßbar!«67 Barth schließt sich damit an den Stil der chalkedonensischen Christologie an, die er zeichentheoretisch beansprucht und präzisiert.68 Seine christologischen Aussagen erweisen sich so als direkt anschlussfähig an Derridas dekonstruktive Rede von der ›Urspur‹. Die blinden Flecken eines Aussagezusammenhangs und die mit ihm gleichzeitig einhergehenden hermeneutischen Zugänge erweisen sich bei Derrida und Barth als Konstitutionsgrößen jeder Erkenntnisbewegung.69 Aus dieser Dialektik, das zeigen die Modellierungen Barths, lässt sich auch der christliche Ankerpunkt der Offenbarungstheologie, die menschliche (!) Verkörperung der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus, nicht ausklammern.70 Barth verdeutlicht hier, inwieweit eine Dekonstruktion theologisch fruchtbar ins Feld geführt werden kann: Seine Offenbarungstheologie verabschiedet sich von teleologischen Enddaten und ontometaphysischen Letztsicherheiten insofern, als dass ihre prozesshafte Dekonstruktion selbst als Kernbestand der göttlichen Offenbarung und damit als Transzendenzgeschehen verstanden wird. Anders wäre eine personale Zuwendung Gottes nicht denkbar – sie ist auf Kommunikationsprozesse und damit auf die menschliche Kognition und Sprache in ihrer begrenzten Zeichenhaftigkeit und Nachträglichkeit angewiesen. In diesem Spannungsfeld zwischen Gott (als ›Urspur‹), dem Code ›Gott‹ (als iterierter ›Spur‹) und seinen jeweiligen Verwendungsformen ereignet sich erst der menschenmögliche Transzendenzbezug. Er ist an innerweltliche Ereignisse gebunden.71 Das heißt im Umkehrschluss für den erkenntnistheoretischen Status jeder systematisch-theologischen Argumentation, dass sie einer bleibenden Fraglichkeit und Unabschließbarkeit unterworfen ist. Graham Ward resümiert diese Erkenntnis in seinem Vergleich der Methoden Barths und Derridas entsprechend:
66 67 68 69 70 71
Barth, KD II/1 (1), 223. Ebd. Vgl. Weinrich, Kompromisslosigkeit, 52. Zur evolutionsanthropologischen Anschlussfähigkeit chalkedonensischer Christologie vgl. Kapitel 12.1.2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Ward, Barth, 245. Vgl. dazu im Verlauf dieser Arbeit die ausführlichen christologischen Reflexionen der erarbeiteten Methodologie in Kapitel 12.1. Vgl. Weinrich, Kompromisslosigkeit, 42.
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»Keeping the question in play is central both to Barth’s and Derrida’s method. […] Theological discourse, for Barth, in fact theology for Barth, takes place as a continual negotiation and renegotiation of a problematic that cannot be, cannot be allowed to be, resolved. The fact it remains unsolved, unanswered and illogical is the very point.«72 Das mit Karl Barth an die Dekonstruktion angeschlossene Plädoyer für eine solche ›Heilsökonomie der Differenz‹ bindet sich also an die jeweilige Glaubenspraxis zurück. Offenbarungstheologie ist damit immer auch sozialsystemisch und kommunikationstheoretisch rückzubinden. Das zeitigt Konsequenzen für den erkenntnistheoretischen Status religiöser Rede: Sie liefert keine festgeschriebene, sichere Verortung ihres Inhalts, vielmehr reflektiert sie Erfahrungsgehalte und reichert sie mit Sinn an. Hier entsteht der von Barth als Offenbarungsgeschehen gekennzeichnete relationale Raum, dem eine performative Kraft der Sinngebung nicht einfach zufällt, sondern sich aktual und damit immanent begrenzt ereignet. Die Transformationskraft des Gottesbezuges erweist sich erst im relationalen Bezeichnungsprozess. Dieser Prozess ist dabei nicht gleichbedeutend mit dem in ihm iterierten universalen Transzendenzhorizont. Im relationalen Prozess des Glaubens wird also das Modell einer heilsökonomischen Teleologie stets am anthropologischen Differenzmoment der endlichen Kontingenz gebrochen.
7.3.3. Offenbarungstheologische Erkenntnistheorie und Evolutionsanthropologie Welche evolutionsanthropologischen Anknüpfungspunkte und Reflexionsmöglichkeiten bietet dieses Bruchmoment in der Offenbarungstheologie und Schrifthermeneutik Karl Barths, das über die Reflexion seiner Thesen mit Hilfe der Dekonstruktion Derridas spezifiziert werden konnte? Die folgenden Einordnungen gehen davon aus, dass Barths Überlegungen in Kombination mit der Differenzhermeneutik Derridas produktiv auf die Bedeutung der evolutiven Ergebniskomplexe für die theologische Epistemologie verweisen können. Die in der dekonstruktiven Betrachtung der Offenbarungstheologie Karl Barths skizzierte aktuale und relationale Grundlegung des Offenbarungsbegriffs liefert innertheologische Anhaltspunkte dafür, dass die materialen und sozialen Rahmenbedingungen der menschlichen Entwicklung als erkenntnistheoretische Konstitutive jeder Gotteserkenntnis gelten können. Die dekonstruktiven Herausforderungen, die Barth theologisch aufgreift, stehen entsprechend in einem engen Zusammenhang mit den Herausforderungen, denen die Formulierung eines evolutionsanthropologisch aufgeschlossenen Begriffs religiöser Erkenntnis und ihrer performativen Eigenwirksamkeiten gegenübersteht. Hier bietet die Lektüre Karl Barths und Jacques Derridas nicht nur mögliche Lösungsschlüssel, sondern verweist ebenso auf noch offene Verhältnisbestimmungen zwischen System, Umwelt und Kommunikation. Anhand einiger Aspekte der theologischen Umstellungen Barths im Lichte der dekonstruktiven Zuspitzungen Derridas soll die theologische Leistungsfähigkeit der Überlegungen Barths
72
Ward, Barth, 239.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
zunächst erneut überprüft und schließlich mit den bisher konsultierten performanztheoretischen Ansätzen zur Rolle der Religion im evolutiven Prozess ins Gespräch gebracht werden. Die epistemische Hauptachse der theologischen Einordnung religionsevolutiver Prozesse verläuft entlang der Notwendigkeit einer Neukartierung des offenbarungstheologischen Wirklichkeitsbegriffs. Die zahlreichen kognitionspsychologischen, soziologischen und philosophischen Ansätze konfrontieren ihn mit systemischen und kognitiven Kontingenzen. Den auf diese Weise als nicht abschließend kontrollierbar gekennzeichneten anthropologischen Prozess kommunikativer Erkenntnisbildung macht auch Barth zum Kernbestand seiner Dogmatik. Von Gottes relational-personaler Initiative aus gedacht, versteht Barth die menschliche Suche nach Sinn und ihrem metaphysischen Zielhorizont als unabschließbares, prozessuales Zusammenspiel von einem göttlich initiierten Offenbarungsgeschehen auf der einen und der vernunftmäßigen Glaubenshaltung des Menschen auf der anderen Seite. Der unauflösbaren Spannung dieser Relation misst er die performative Kraft bei, menschliche Selbsterkenntnis hervorzubringen. Karl Barth legt seine theologische Metaphysik daher, wie gezeigt, insofern differenzhermeneutisch an, als dass er sie deontologisiert. In seiner Modifikation der Analogienlehre hin zu einer relational-aktualen ›analogia fidei‹, macht er ernst mit der Erkenntnis, dass auch metaphysisch angelegte Symbolisierungen immer schon in ein performativ wirksames Spannungsfeld eingebunden sind, das als solches erst religiöse Erkenntnisprozesse anstößt und sie zugleich strikt begrenzt. Dass kommunikative Prozesse damit jenseits einer binären Unterscheidung von intentionaler Setzung und nicht-steuerbarer Emergenz ›verortet‹ werden müssen, lässt sich auch in Barths theologischem Konzept wiederfinden: Er markiert die strenge Interdependenz von Gottes Offenbarungshandeln und dem menschlichen Erkenntnisstreben als nicht unabhängig voneinander denkbar. Mit Barth lässt sich Offenbarung als ein komplexes Zusammenspiel verschiedener systemischer Komponenten und relational-personaler Akte beschreiben, über die der Mensch nicht einfach verfügt, sondern sich im Rahmen dieses Prozesses als kontingent und begrenzt erfährt. Dieses performative Moment anthropologischer Erkenntnisbildung bindet Barth auf dogmatischer Ebene in den theologischen Kernbestand ein, wenn er eine konsequente Unterscheidung des Wortes Gottes von der Heiligen Schrift forciert. Ebenso macht Barth diese Differenz in seiner Christologie deutlich, die er performativ-semiotisch ausrichtet. So führt er die Fleischwerdung als das »Zeichen aller Zeichen«73 ein. Diese dogmatische Rückbindung dekonstruktiver Herausforderungshorizonte macht Barths theologischen Entwurf im Gespräch mit evolutiven Theoriebildungen zur Religionsevolution höchst anschlussfähig. Zugleich liefern seine Überlegungen einen theologischen Stachel hinsichtlich subjektivistischer und naturalistischer Verkürzungen in der Ergebnisdeutung. In seiner schrifthermeneutischen und christologischen Grundierung der Offenbarungstheologie nimmt Karl Barth einerseits die subjektphilosophischen Durchbrüche der Aufklärung ernst und weist dem menschlichen Erkenntnishandeln eine eigene Rolle
73
Barth, KD II/1 (1), 223.
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zu, zugleich entgeht er einem einseitigen Subjektivismus und seinen substanzmetaphysischen Hypotheken. Im Rahmen seiner Offenbarungsgrammatik legt er so den Finger in die Wunde der ›anthropologischen Urkränkung‹ in Bezug auf die Endlichkeit und Vernunftbegrenztheit. Er hinterfragt damit »transzendental zu deutende Versuche, die aus dem unempirischen Ich-denke (Subjekt) die Substanz, d.h. die ganze Weltgeschichte, heraussetzen oder einholen wollen. ›Wirklichkeit‹ darf nach Barth nicht Entwurf (eines Ich) sein, sondern muß Grenzen setzen, ohne das Ich in ein empirisches und ein transzendentales aufzuspalten.«74 Barth geht hier mit den Kernpunkten anthropologischer Grenzerfahrungen und sozialer Eingebundenheit d’accord, die auch die evolutionäre Anthropologie als Kernmarker der menschlichen Sozialevolution und als Haupttreiber der religiösen Evolution herausarbeiten konnte. Zugleich erkennt er, dass eine Reflexion dieser anthropologischen Grenzziehungen immer schon ihre (versuchte) Überschreitung bedeutet. An dieser Schnittstelle greift für Barth die Dialektik der Person Jesu Christi. Sie stellt einen theologischen Reflexionsraum dar, der sich erst im Rahmen der Unauflösbarkeit systemischer Unverfügbarkeiten erschließt. Der ›ganz Andere‹ Jesus Christus, der doch als sozial fassbares Gegenüber begegnet, wird hier zum performativen Zeichen der jeder Transzendenzaussage inhärenten Paradoxie.75 Diese christologische Dialektik lässt sich Barth zufolge weder im Sinne einer ontologischen Analogienlehre noch substanzmetaphysisch auflösen. Vielmehr erweisen sich der historische Erkenntnisprozess und alle seine materialen wie personalen Systemkomponenten offenbarungstheologisch mit Derrida als eine ›atopische Topik‹ der Transzendenz in der Immanenz.76 Jede – auch göttliche – Identität ist damit immer auch von Differenz geprägt und hängt von ihr ab. Dieser religionsimmanenten Epistemik folgend, plädiert Barth sowohl für eine erkenntnistheoretische Bescheidenheit der Theologie als auch für eine transparente, der Theologie konstitutiv inhärente Axiomatik. Letzterer kann sie schon ob ihres Gegenstandes selbst nie endgültig beikommen. Sie ist damit lediglich im ekklesiologischen Traditionsrahmen als vernünftiges Codierungssystem zu erweisen und entsprechend immer schon an die Glaubenspraxis rückgebunden. Dieser erkenntnistheoretische Grundmodus der Religion, dessen konstituierende Performanz die Theologie mit wissenschaftlichen Methoden transparent zu machen sucht, muss sich entsprechend auch in der theologischen Methodologie spiegeln.77 Die von Barth stark gemachte Axiomatik bringt daher methodologische Leitplanken für die systematische Theologie mit sich, mit der er selbst auch bezüglich seines aktualen Offenbarungsverständnisses ernst macht: Die Betonung der Begrenztheit des menschlichen Zugangs zum Offenbarungsgeschehen ver74 75 76 77
Christofer Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: NZSTh 19/2 (1977) 199–224, hier: 201. Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von Gott, II/1 §§ 28–30: Die Wirklichkeit Gottes I. Teil (Studienausgabe 8), Zürich 1987, 291. [Im Folgenden zitiert als KD II/1 (2)]. Vgl. Derrida, Verneinungen, 48f. Vgl. Günter Thomas, Karl Barths pneumatologischer Realismus und operativer Konstruktivismus, in: Werner Thiede (Hg.), Karl Barths Theologie der Krise heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag, Leipzig 2018, 87–101, hier: 98.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
steht das Offenbarungsgeschehen selbst als eine aktuale, unabgeschlossene Größe. In dieser Hinsicht unterläuft der Gegenstand der Theologie immer schon jeden Versuch einer substanziellen Festschreibung. Entsprechend wird in Barths Modell die Absage an einen Offenbarungspositivismus zum konstitutiven Element des Offenbarungsgeschehens selbst – es wird zum ›Programm‹ der Offenbarung. Damit betrifft Barths theologische Differenzgrammatik auch die im Rahmen dieser Arbeit angesprochene Forschungslücke hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Verortung religiöser Narrative und Praktiken sowie eines Verständnisses ihres universalen Sinnanspruchs im evolutiven Prozess. Ihr erkenntnistheoretischer Status lässt sich mit Barth auch theologisch nicht mehr in einem analytisch geordneten Realismus abbilden. Barth gibt – gerade vor dem Hintergrund seiner transparenten theologischen Axiomatik – eine Gotteslehre jedoch nicht einfach auf. Vielmehr kommt hier seine Nähe zu Derridas Metapher der ›Spur‹ erneut zum Tragen. So verliert sich Barth nicht einfach in einem sprachtheoretisch fundierten religionsphilosophischen Konstruktivismus, sondern prägt ein spezifisches Verständnis einer realistischen Heilsgeschichte, die sich auch auf die Verhältnisbestimmung zwischen Glaubensaussagen und geschichtlichen Gegebenheiten auswirkt. Ähnlich wie Derrida von erfahrbaren ›Spuren‹ einer auch bei ihm vorausgesetzten ›Urspur‹ ausgeht, trennt Barth die immanente Geschichtswirklichkeit nicht von einer transzendenten Heilswirklichkeit. Deren eschatologische Einholung ist ihm zufolge jedoch nicht immanent möglich und steht als göttliches Vollendungshandeln noch aus. Geschichts- und Heilswirklichkeit gehören dennoch ein und derselben (göttlichen) Wirklichkeit an.78 Günter Thomas charakterisiert den daraus erwachsenen Wirklichkeitsbegriff als einem »pneumatologischen Realismus«79 verpflichtet, der die zeichenhafte Konstruktion jeder menschlichen Erkenntnis nicht unterläuft: Er verlange immer auch nach einem »operativen Konstruktivismus«80 . Hier wird das Spannungsfeld deutlich, in das Barth die Theologie sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen Axiomatik als auch ihrer eigenen (begrenzten) Leistungsfähigkeit stellt: »Insofern die theologische Reflexion in der Tat auf eine außerhalb ihrer selbst liegende, ihr ontologisch und epistemisch vorgängige Entität verweist, ist sie als eine Form von Realismus beschreibbar […]. Angesichts der epistemischen Unverfügbarkeit des Gegenstandes muss die konkrete Art und Weise, Theologie zu treiben, zugleich notwendig als konstruktivistisch beschrieben werden.«81 Entsprechend macht Barth das eschatologische Moment des Glaubens stark, in dem die Einheit zwischen Heilsgeschichte und immanenter Weltgeschichte eingebunden und verbürgt ist. Diese eschatologische Signatur entspricht der dekonstruktiven ›différance‹-Signatur der Theoriebildungen Derridas. In ihrem Sinne kann die geglaubte Heilsökonomie und ihre geschichtliche Erfahrbarkeit in Wort und Inkarnation Gottes
78 79 80 81
Vgl. Ingolf U. Dalferth, Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, in: EvTh 46//4/5 (1986) 402–422, hier: 407. Vgl. Thomas, Realismus, 87. Vgl. ebd. Ebd.
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immer nur als eine Differenzökonomie gedacht werden.82 Der methodologische Clou, den Barth hier für die theologische Wissenschaft und ihren Gegenstand herausarbeitet, liegt also in der Sprengung der Binaritäten eines der wichtigsten Diskussionsfelder der systematischen Theologie. Das Realismusproblem stellt sich der Theologie vor diesem differenzhermeneutischen Hintergrund so drängend wie nie zuvor, mündet aber weder in einem absolut gesetzten Theismus noch in einem konstruktivistisch argumentierenden Nihilismus, sondern in der performativen Heilsökonomie der Differenzmomente selbst. Beim Zusammenfall des konstruktivistischen und des realistischen Momentums handelt es sich – das wird in Barths konsequent offenbarungslogischer Argumentation deutlich – also keinesfalls um eine dem theologischen Inhalt nachgeordnete Entscheidung für einen spezifischen theologischen Stil. Vielmehr stellt sie mit Barth den einzig möglichen Umgang der theologischen Wissenschaft mit ihrem Erkenntnisobjekt dar und ist ihr damit inhärent.83 Genau an dieser Schnittstelle greift Barths dekonstruktive Einführung des aktualen Differenzmoments der göttlichen Offenbarung sowohl religionspraktisch als auch methodologisch: Die (ekklesiale) Praxis erweist sich als Momentum der geglaubten Gegenwart Gottes, auf die sich auch die Theologie im Sinne einer transparent zu machenden Axiomatik beruft. Diese Praxisanbindung transzendenter Erkenntnisräume bei gleichzeitiger Wahrung ihrer sozialsystemischen Konstruktionslogiken und ihres wirklichkeitstransformativen Selbstanspruchs schließt sich im vorliegenden Rahmen direkt an die spiel- und symboltheoretisch grundgelegte Argumentation religiöser Performanzen an. Ohne auf die hier bereits dargelegten soziologischen Methodenwechsel im cultural turn Bezug zu nehmen beziehungsweise von ihnen überhaupt Kenntnis haben zu können, greift Barth erkenntnistheoretische Wandlungsmomente auf und deutet sie als theologisch anschlussfähig. In diesem Sinne performiert sein Ansatz methodologisch das, was er inhaltlich aussagt: Barth hebt in Reaktion auf die Begrenztheit religiöser Codierungen die strikte Binarität zwischen Sozialität und Subjektivität sowie zwischen systemischen Emergenzen und aktiv gesetzten Handlungsgefügen auf. Er macht diese Spannungsfelder selbst zum offenbarungstheologischen und damit anthropologischen Konstituens. In diesem Sinne argumentiert er auf einer Linie mit den evolutionsanthropologischen Erkenntnissen zum Entstehungssetting religiöser Narrative und Rituale, ohne ihre axiomatischen Sinnaussagen und performativen Selbstansprüche auszuhebeln. Angewandt auf die vorliegende Arbeit bedeutet das: Der erkenntnistheoretische Ort der Religion im Rahmen der menschlichen Evolution erfährt eine analytische Präzisierung, die in Form der bereits starkgemachten evolutiven Rahmenbedingungen und Vollzugsmomente religiöser Narrative und Rituale im evolutiven Prozess nun entlang einiger Kernpunkte der Denkbewegung Barths auch theologisch angeschlossen werden kann:
82 83
Vgl. Isolde Andrews, Deconstructing Barth. A Study of the Complementary Methods in Karl Barth and Jacques Derrida (SIGC 99), Frankfurt a.M. 1996, 242. Vgl. Thomas, Realismus, 95.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung 1. Barth kartiert den erkenntnistheoretischen Ort der Offenbarung als geschichtlichen Ort der Glaubenspraxis. Der Entwurf des Wortes Gottes als (anthropologisch begrenzte) Grammatik der Offenbarung basiert dabei auf der Grundannahme, dass der erkenntnistheoretische Ort jeder Glaubenserfahrung immer nur ein geschichtlicher Ort sein kann: Das ›deus dixit‹ ereignet sich aktual in einen Kontext hinein und liefert sich damit zugleich dessen (sprachgeleiteten) Ressourcen aus.84 Der erkenntnistheoretische Ort der Offenbarung fällt insofern mit dem sozialsystemischen Ort der religiösen Praxis zusammen, ohne dass die Offenbarung Gottes je in letzterem aufgehen könnte. Die Offenbarung ist demnach geschichtlich signiert, geht aber nicht einfach in konkreten geschichtlichen Bezeugungskontexten auf.85 2. Diese Grundannahmen erscheinen auf den ersten Blick zwar weder überraschend noch bahnbrechend, doch sie verweisen unmissverständlich auf erkenntnistheoretische Begrenzungen der Theologie. Eingebettet in eine historische Topologie sind die Glaubenspraxis und ihr narratives Setting als Gegenstände der Theologie immer schon auch mit der eigenen Atopik konfrontiert: Theologie bezieht sich also vernunftmäßig deutend und andeutend auf ein immer schon sprachlich und sozial gefasstes Geschehen, dessen Bezugspunkt dieses Framing sprengt. So betrachtet, handelt es sich beim Selbstanspruch des Glaubens nicht einfach um eine beliebige Erfahrungsdeutung, sondern immer auch um eine sozial eingebettete, streng relationale Grunddisposition des Menschen, mit der er umgehen muss.86 Aus evolutiver Sicht deutet diese Grundannahme sowohl auf die kognitionspsychologischen Bedingtheiten als auch die funktionalen Mechanismen in der Entstehung von Transzendenznarrativen und religiösen Praktiken hin. Die atopische Paradoxie ist damit in der evolutiven Linie der sozialsystemischen und kognitiven Unverfügbarkeit zu verorten. Karl Barth, das konnten die vorliegenden Ausführungen deutlich machen, erarbeitet diese Verortung im Rahmen seiner schrifthermeneutisch und christologisch fundierten Offenbarungstheologie, die er schließlich ekklesiologisch einbettet und damit an die Glaubenspraxis (und ihre Sozialgeschichte) zurückbindet. 3. Die relationale Bestimmtheit des Menschen interagiert in Barths Theologie auf diese Weise mit der Bestimmung der dogmatischen Grundgehalte, ohne sie anthropozentrisch, subjektzentriert oder naturalistisch auszurichten. Vielmehr wird sowohl im differenzierten Verhältnis von Wort Gottes und Heiliger Schrift als auch im konsequent chalkedonensisch gedachten Verhältnis von Menschsein und Gottsein Jesu Christi eine Selbstrelativierung des Menschen deutlich. Diese Selbstrelativierung besitzt einen eigenen erkenntnistheoretischen Wert für die vorliegende Studie: Es geht hier um relationale Bewusstwerdungsprozesse eines kontingenten Abhängigkeitsgefüges, das nicht in intentional austarierten Handlungsgefügen eingefangen 84
85 86
Vgl. Barth, KD I/1 (1), 119. Vgl. darüber hinaus im Verlauf der vorliegenden Arbeit auch die Analyse der theologischen Grundlinien der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, die ebenfalls eine solche prozessuale und dialektisch orientierte Verbindung von Schrift und Offenbarung vornimmt (siehe dazu den Exkurs am Ende von Kapitel 7.3.4). Vgl. ebd., 136. Vgl. hierzu die bereits angedeutete Rede von der anthropologischen Notwendigkeit einer transzendenten Hypothesenbildung bei ihrer gleichzeitigen immanenten Unabgegoltenheit und eschatologischen Offenheit im Rahmen der Theoriebildungen Maurice Blondels.
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und final gesteuert werden kann. Mit Barth gesprochen: Die menschliche Bedürftigkeit lässt sich nicht jenseits einer kollektiven (i.d.S. ekklesialen) Ausrichtung und ›Letzthoffnung‹ auf die göttliche Gnade erfahren und thematisieren. Aufgelöst werden kann dieses Abhängigkeitsgefüge immanent nicht – vielmehr verdichtet sich im Transzendenzerleben und dem Versuch, dieses Erleben zur Sprache zu bringen, die Verunsicherung des Menschen im Spannungsfeld aus Umweltfaktoren, sozialsystemischen Abhängigkeiten und kommunikativen Hoffnungsperspektiven. 4. Die Rede von ›Gottes Offenbarung‹ performiert hier konsequent einen »Stachel des Fremden«87 , der im Folgenden als interdisziplinärer Herausforderungspunkt zu betrachten ist. Religiöse Erkenntnisprozesse spiegeln damit, auch wenn sie konsequent als göttliche Offenbarung eingeführt werden, immer evolutionssystemische Grundeinsichten – sie hebeln sie eben nicht aus, sondern transformieren sie zu sinngeleiteten anthropologischen Erkenntnisprozessen. Hier liegt ein großer Verdienst des theologischen Grundhabitus der Arbeiten Barths. Er nimmt die angesprochenen anthropologischen Spannungsfelder ernst und versteht die Offenbarung(stheologie) eben nicht als eine schlichte Möglichkeit des Ausbruchs aus diesen, sondern vielmehr als göttlichen Möglichkeitsraum für eine Neuperspektivierung des jeweiligen Herausforderungssettings. Ganz im Sinne der bereits stark gemachten axial-aktualen Heuristik versteht auch Barth etwa die Schöpfungsgeschichte (im Unterschied zur wissenschaftlichen Evolutionstheorie) als ein »Zeugnis vom Anfang, vom Werden aller von Gott verschiedenen Wirklichkeit im Licht des späteren Handelns und Redens Gottes mit dem Volk Israel – natürlich in Form einer Sage und Dichtung.«88 Diese knappe Bemerkung erweist sich angesichts eines im vorliegenden Kontext geforderten evolutionsanthropologisch haltbaren Offenbarungs- und Religionsbegriffs als methodologischer Impuls. So gelingt Barth in seiner Dogmatik ein konsequentes Zusammendenken von begrenzten Codierungen des Glaubens und der theologischen Grundlagenaxiomatik des Ausgehens von Gottes zuvorkommender Gnade. Die hier vorgestellten theologischen Denkmuster Barths konnten insbesondere über die erkenntnistheoretische Konfrontation mit den dekonstruktiven Zuspitzungen Derridas fruchtbar gemacht werden. Ihr erkenntnistheoretischer Zugang zur anthropologischen Bedingtheit von Transzendenzbezügen begründet sich aus dem Gegenstand der Theologie selbst: Die dialektisch-prozessuale Funktionsweise religiöser Codierungen sprengt funktionale Teleologien auf. Damit werden sowohl die theologischen Bezugnahmen auf eine substanzhaft greifbare, göttliche Offenbarungsdoktrin als auch rein naturalistisch aufgebaute evolutionsanthropologische Erklärungsmuster verunmöglicht. Die beziehungsbasierten, differenzhermeneutisch aufgestellten Horizonte eines universalen Sinnbezugs stellen sich vielmehr selbst als ein anthropologiegeschichtlich wirksamer Faktor heraus, der auch die funktionale Teleologie empirischer Forschungen wissenschaftstheoretisch herausfordert. Eine von Jacques Derrida herausgeforderte und von 87 88
Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden (Stw 868), Frankfurt a.M. 1990. Karl Barth, Brief an Christine Barth (18.2.1965), in: Ders., Briefe 1961–1968, hg. v. J. Fangmeier – H. Stoevesandt (Karl Barth Gesamtausgabe 6), Zürich 1975, 395f., hier: 396.
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Karl Barth inspirierte offenbarungstheologische Differenzhermeneutik birgt also die Chance, die doppelte wissenschaftstheoretische Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zu forcieren: Sie legt ein neues, interdisziplinär relevantes Komplexitätsniveau an die Frage nach dem evolutionsanthropologischen und also erkenntnistheoretischen Ort religiöser Codierungen und Praktiken an. Der vorgenommene theologische Anschluss liefert damit ein neues methodologisches Setting, mit dem im Folgenden weitergearbeitet werden kann. Es dekonstruiert die evolutionsanthropologisch angefragte theologische ›Epistemologie der transzendenten Sicherheit‹. Zugleich zeigt die Rezeption performanztheoretischer und dekonstruktionstheoretischer Umstellungen auch die Notwendigkeit und Chance theologischer Ergänzungen gegenüber funktionalen und naturalistischen Religionsverständnissen auf. Auf der Grundlage der methodologischen Umstellungen ergibt sich so ein neues Untersuchungssetting sowohl für evolutionsanthropologisch orientierte Religionsanalysen als auch für die theologische Argumentation einer performativen Transformationskraft von Transzendenzbezügen.
7.4. Religiöse Vollzüge als wissenschaftstheoretische Reflexionsfolie Die Anschlusslinien der erörterten Anliegen Barths und Derridas an das methodologische Setting der vorliegenden Arbeit sollen im Folgenden stichpunkthaft festgehalten werden. Dazu werden vier Thesen präsentiert, die um knappe, zusammenfassende Erklärungen ergänzt werden – sie bilden das inhaltliche Scharnier für die folgende Definitionsarbeit und ihre soziologische Grundierung. Die in den Thesen angebrachten Punkte leiten zum Entwurf eines theologisch angemessenen und zugleich evolutionsanthropologisch geschärften Religionsbegriffs über (Kapitel 8). Er versteht sich als die religionstheoretische Grundlage für ein an evolutive Forschungsfelder der Anthropologie anschlussfähiges christliches Offenbarungsverständnis. These I Der Code ›Gott‹ erweist sich vor dem Hintergrund differenzhermeneutischer Umstellungen als anthropologischer Verunsicherungsfaktor und komplexitätssensibler Erkenntnistreiber gleichermaßen. Dabei agiert er im Spannungsfeld zwischen einer glaubensbezogenen Axiomatik und einer selbstrelativierenden Immanenzerkenntnis.
Der Vergleich des ›différance‹-Konzepts Derridas mit den offenbarungstheologischen Grundlegungen Barths zeigt: Barth verzahnt in seiner Dogmatik eine differenzhermeneutische Erkenntnistheorie mit dem Offenbarungsbegriff. Dadurch verändert sich sein Verständnis des erkenntnistheoretischen Status religiöser Glaubensaussagen und der wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Theologie. Ähnlich wie Derrida den Code ›Gott‹ als den »hyperbolische[n] Effekt«89 einer unabschließbaren grenzgängerischen Suche bezeichnet, hält Barth die mit dem Offenbarungscode einhergehende anthropologische Grundeinsicht der Begrenztheit für einen konstitutiven Bestandteil
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Derrida, Verneinungen, 18.
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der Offenbarung selbst.90 In diesem Sinne erweisen sich Glaubensaussagen und der durch sie transportierte Offenbarungsbezug als integraler Bestandteil einer anthropologisch zu bearbeitenden Leerstelle. Damit sind sie nicht einfach ihr funktionales Füllmaterial, sondern zeigen immer auch eine unauflösbare menschliche Sinnbedürftigkeit an. Hier wird angesichts der aufgezeigten methodologischen Prüfsteine (Kapitel 4) nochmals deutlich, dass die kollektive Erschließung von Transzendenzbezügen sich nicht in rein funktionalen Projektionen einer erhofften Grenzüberschreitung erschöpft. Vielmehr mahnen sie als umfassend gesetzte Differenzmechanismen die Unmöglichkeit einer endgültigen anthropologischen Selbstermächtigung an, indem sie sich auf ein unverfügbares Gegenüber beziehen. Die christologisch fundierte Hoffnung auf eine eschatologische Erfüllung allen Glaubensstrebens drückt das im christlichen Glaubenssystem aus (vgl. dazu im Detail Kapitel 12.1). Das hier grundgelegte Offenbarungskonzept liefert damit erste Anhaltspunkte und erkenntnistheoretische Grundpfeiler, die sich sowohl an eine postmoderne Theologie im Zeichen des linguistic und performative turn anschließen lassen als auch die komplexitätstheoretischen Anforderungslinien evolutiver Mechanismen berücksichtigen können. So charakterisiert Barth die Offenbarung des ›Wortes Gottes‹ als komplexes Zusammenspiel verschiedener systemischer Komponenten, einzelner Handlungssubjekte und kollektiver Festschreibungsmechanismen. Wenn der Code ›Gott‹ ins Spiel kommt bzw. glaubend gesprochen Gott selbst sich ins Spiel bringt, entsteht ein Erkenntnisraum, der Sinn hervorbringen kann, ohne die Bruchmomente seiner fragenden Ausgangslage auszuschalten. Im Rahmen dieses Konzeptes argumentiert Barth auf der einen Seite klar theozentrisch. Auf der anderen Seite denkt er anthropologische Begrenztheiten als dem Prozess selbst inhärent immer schon mit. Er versteht sie als einen konstitutiven Teil des Offenbarungsgeschehens. So legt er die Axiomatik des Glaubens frei, ohne in ihr die angezeigten Kontingenzen menschlicher Codierungspraktiken zu übergehen – vielmehr wird das Wechselspiel aus immanenter Kontingenz und transzendenzbezogener Axiomatik hier als theologieproduktiv transparent gemacht. These II Die theologische Axiomatik Barths liefert auch wichtige wissenschaftstheoretische Impulse für die vorliegende Arbeit. Sie stellt Weichen für ein evolutionsanthropologisch anschlussfähiges Offenbarungs- und Glaubensverständnis und deutet auf kritische Ergänzungen gegenüber evolutionsanthropologischen Modellierungen hin.
Jede transzendenzbezogene Codierung von Geschehnissen bedarf Barth zufolge einer glaubenden Offenheit und einer Bindung der Wirklichkeitsdeutung an einen*eine göttliche*n Akteur*in. Diese theozentrische Axiomatik bei der gleichzeitigen differenzhermeneutischen Relativierung aller offenbarungsbezogenen Weltdeutung bringt eine neue Perspektive ins Spiel. Sie bietet eine erste Möglichkeit, einen evolutiv anschlussfähigen, weil mit einem performativen Wirklichkeitsbegriff versehenen und beziehungslogisch gedachten Offenbarungsbegriff zu entwickeln. Er versteht sich selbst 90
Vgl. Barth, KD I/2 (1), 32f.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
als integraler Bestandteil komplexer anthropologischer Bedingungsgefüge. Damit verfügt er nur über sehr begrenzte Absicherungsmöglichkeiten, gibt die glaubensintern vorgenommene Hoffnungsanzeige eines ›Sinn des Sinns‹ jedoch nicht auf. Wissenschaftstheoretisch gefasst macht Barth hier transparent: Die Axiomatik der Theologie ist ihr schon aus ihrem Gegenstand heraus inhärent. Das gilt besonders, weil die theologisch untersuchten Glaubensprozesse in einer Logik der Transzendenz stetig über sich selbst hinausweisen. Diese axiomatische Differenzbewegung verdeutlicht Barth zuvorderst in der praxis- und beziehungsbasierten Neuausrichtung des theologischen Analogiebegriffs. Er macht damit auf die Axiomatik jeder Glaubensaussage in ihrer wissenschaftstheoretischen Relevanz für die Theologie aufmerksam. Zugleich vermag er es, den Selbstanspruch des Wirklichkeitsgehalts eines glaubenden Transzendenzbezugs und seine kollektive Verortung in der Glaubenspraxis keineswegs auszuklammern. Religiöse Codierungen und Praktiken und mit ihnen ihr theologischer Nachvollzug unterliegen demnach immer schon den zeichentheoretischen Grenzen und der (eschatologisch ausstehenden) Hoffnung auf eine Einlösung des behaupteten Primats der göttlichen Zuwendung. Diese Spannung führt das Offenbarungsparadigma als bereits immanent wirksames Sinnnarrativ ein. In diesem Sinne schreibt Barth der offenbarungstheologisch notwendig mitgedachten Glaubensaxiomatik eine performative Wirksamkeit zu, die jenseits eines konstruktivistisch argumentierenden Nihilismus und jenseits eines metaphysischen Offenbarungspositivismus verläuft. Eine hermetische Abgrenzung des Glaubensgehaltes von anthropologischen und sozialen Vollzügen ist in diesem Sinne nicht nur nicht möglich, sondern würde die handlungs- und reflexionsleitende Performanz der Glaubensaussagen selbst verkürzen. These III Religiöse Handlungen und Narrative sind demzufolge in ihrem theologischen Gehalt stringent an die evolutionsanthropologischen Forschungsergebnisse anschließbar: Barth erkennt zum einen die wirkmächtige Performanz der Glaubensaxiomatik an und stellt sie zugleich in ein dekonstruktives Verhältnis zu unabschließbaren evolutiven Erkenntnisprozessen des Menschen. Eine ihrem offenbarungsbezogenen Untersuchungsgegenstand entsprechende Selbstrelativierung der Theologie hilft dabei, ihre wissenschaftstheoretische Leistungsfähigkeit transparent zu machen. So ist die Theologie vor dem Hintergrund der dargelegten offenbarungstheologischen Erkenntnistheorie dazu in der Lage, die funktionalen Erklärungsmuster zur Entwicklung der menschlichen Selbsterkenntnis einerseits anzuerkennen und andererseits gewinnbringend zu ergänzen. Sie kann die immer schon eingetragene Selbstüberschreitung menschlicher Reflexionsleistungen analytisch transparent machen und als sinnstiftenden Komplexitätsfaktor einholen. Die an dieser Stelle mit Hilfe theologischer Impulse Barths und dekonstruktiver Umstellungen Derridas vorgenommene Reevaluation der Kernobjekte theologischen Reflektierens (die Rede von ›Gott‹ und ›seiner*ihrer Offenbarung‹), führt also zu einem neuen Framing der Theologie. Als Teil eines unabschließbaren evolutiven Prozesses, der sich abschließender menschlicher ›Machbarkeit‹ entzieht, können religiöse Glaubensaussagen und Praktiken theologisch nicht mehr als Garanten ontologischer Letztsicherheiten einer
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
transzendenten Wirklichkeitssphäre verstanden werden. Das, was der Code ›Gott‹ bezeichnet, leistet also selbst eine wissenschaftstheoretisch umfassende Relativierung der Erkenntnisleistungen und axiomatischen Setzungen der Theologie. Diese Relativierung spitzt die performative Wirkmächtigkeit von Glaubensaxiomen jedoch zugleich zu. Evolutionsanthropologisch konnte genau diese paradoxe menschliche Erkenntnisbewegung im sozialevolutiven System nachgezeichnet werden. Sie betrifft das unauflösbare Herausforderungssetting kollektiver Kommunikation, umweltbedingter Begrenztheit und nicht steuerbarer systemischer Komplexitätssteigerungen. Hier wird deutlich, dass ein theologischer Religionsbegriff unter Einführung eines differenzhermeneutischen und performativen Offenbarungsverständnisses eine differenzierte Betrachtung des Zusammenspiels menschlicher Kognition und kultureller Handlungsspielräume bietet. Dieses Framing markiert einen Kernpunkt der interdisziplinären Anschlussfähigkeit theologischer Grundlagenreflexionen an die Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie. Barth gelingt es, die Macht axiomatischer Grundannahmen religiöser Glaubenskomplexe kritisch anzuzeigen und zugleich als Kernbestand ihrer eigenen, performativen Aussagelogiken beizubehalten und transparent zu machen. Auf diese Weise ermöglichen seine Überlegungen auch einen kritischen Blick seitens der Theologie auf axiomatische Framings anderer anthropologischer Forschungsfelder und -disziplinen. Ihre Dekonstruktion steht in der evolutionären Anthropologie fachintern noch aus oder ist bis dato zumindest nicht explizit gemacht worden. Hier kann die Theologie wichtige Impulse beisteuern: Im Anschluss an die religiös fundierte axiale Heuristik und ihre ritualtheoretischen Verankerungen liefert der Ansatz Karl Barths einen aufschlussreichen, kritischen Spiegel gegenüber einer Festlegung religiöser Narrative und Handlungen auf naturfunktionalistische Mechanismen, wie sie im Rahmen dieser Arbeit bereits problematisiert wurden. Sein Ansatz zeigt: Es ergibt sich kein zwingender Ausschlussmechanismus zwischen einer im Glaubensprozess verankerten, transzendenzbezogenen Sinnperformanz auf der einen Seite und nicht steuerbaren, funktionalen Systemerfordernissen auf der anderen Seite. Im Gegenteil erweist sich das Zusammenspiel beider Komponenten als Kerngehalt der religiös codierten Hoffnungsperspektive. Damit verweisen die transparente theologische Axiomatik und ihre differenzhermeneutische Selbstbegrenzung im Angesicht ihres Untersuchungsgegenstandes auf notwendige wissenschaftstheoretische Konsequenzen, denen auch die Kerndisziplinen der evolutionären Anthropologie bei der Einordnung des erkenntnistheoretischen Status der Religion mit ihren eigenen begrenzten Analyseressourcen unterliegen. These IV Die vorausgegangenen erkenntnistheoretischen Reflexionen verweisen auf die Notwendigkeit einer komplexen fundamentaltheologischen Kriteriologie, die dieses Zusammenspiel als theologische Epistemologie in sich aufnimmt. Nur so kann sie die Interdependenzen zwischen der evolutionsanthropologischen Forschung und den theologischen Kerngehalte des Glaubens argumentativ plausibel machen. Die vorliegende Reflexion des Glaubensprozesses vermittelt ein neues Verständnis des Wirklichkeitsgehalts religiöser Codes. Es bieten sich theologische Anschlussstellen, die
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
einen Übergang hin zu einem performanztheoretisch unterfütterten Religionsbegriff erlauben, ohne eine Vernachlässigung unabschließbarer, kontingenter Systemprozesse zu riskieren. Das abgeleitete Religionsverständnis hat es nicht einfach mit einem theo- oder anthropozentrischen Handlungssetting zu tun, sondern mit einem komplexen Evolutionsprozess, dessen Konstituens in seiner Unabschließbarkeit besteht. Die aufgezeigte Dialektik geht so betrachtet mit einer eigenen Theologizität einher. Hier ergibt sich eine erkenntnistheoretisch begründete Interdependenz zwischen der Codierung transzendenter Sinnhorizonte, ihren systemischen Codierungsbedingungen und den in ihnen eingeholten Offenbarungshorizonten. Diese Bezugnahme bildet die Voraussetzung dafür, das fundamentaltheologisch einzuholen, was die religiöse Codierungspraxis für sich selbst beansprucht und voraussetzt: die Systemordnung zu transzendieren, die sie benennt, ohne von ihr abgekoppelt verstanden werden zu können. Dieses komplexe Setting bildet deshalb im Folgenden die Grundlage einer Vermessung des religionsevolutiven Spannungsfeldes und begründet sein Verständnis als ein eigenes interdisziplinäres Erkenntnisfeld, das auch den Blick auf offenbarungstheologische Grundlagen nachhaltig prägen muss. ***
Exkurs: Interdependenz von Transzendenzcodierungen und Offenbarungstheologie in Dei Verbum Dass die Interdependenz zwischen Codierungspraxis und Offenbarungsgeschehen zum Kernbestand der Offenbarungstheologie gehört, ja als ihr Konstituens verstanden werden kann, zeichnet auch die dogmatische Konstitution Dei Verbum91 eindrücklich nach. Sie entwirft entlang der skizzierten Übergänge zwischen Codierung und Offenbarungsgeschehen eine theologische Landkarte, die die göttliche Offenbarung in Verbindung mit der Heiligen Schrift und der Gemeinschaft der Kirche verortet. Gleich zu Beginn setzt die Konstitution zentrale Wegmarken, indem sie die Verbindung zwischen göttlicher Offenbarung und ihrer jeweiligen Weitergabe markiert (vgl. DV 1). Sie postuliert hier indirekt die Möglichkeit einer performativen Transformationskraft religiöser Weltdeutungen in der Form von kollektiver Sinnarbeit: Der auf religiöse Codes angewiesene Prozess der Traditionsbildung und Verkündigung kann als fundiert in der göttlichen Offenbarung erfasst werden. Das gilt, wenn sich aus ihm heraus eine Performanz entfaltet, die einen konkreten Raum für die »lebensspendende Gegenwart« (DV 8) Gottes eröffnet. Hier ergibt sich eine Offenbarungskriteriologie, die wiederum auf die Gemeinschaft der Adressat*innen der Offenbarung und damit die Codierungsgemeinschaft zurückweist:
91
Zitiert nach: II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Verbum. Über die göttliche Offenbarung, in: Karl Rahner – Herbert Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (GrTh), Freiburg i.Br. 35 2008, 367–382. [Im Folgenden zitiert als DV unter Angabe der jeweiligen Abschnittsnummer].
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»Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren […]: daß die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben […] Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort […]: die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten […].« (DV 2) Die Verbindung zwischen kollektiv abgesicherter Codierungspraxis und einem darin erkannten, performativ wirksamen Offenbarungsgeschehen erschließt sich in der vorliegenden Kartierung christologisch und pneumatologisch (vgl. DV 2) sowie gnadentheologisch (vgl. DV 5). Offenbarungserkenntnis wird an das Wirken Jesu Christi und damit an einen Menschen und sein Tun zurückgebunden. Dessen offenbarungstheologischer Charakter erschließt sich in liebender Zuwendung, in der sich ein Ermöglichungspotenzial gelingenden Lebens im Sinne Gottes performiert. Die Selbstoffenbarung Gottes bindet sich damit untrennbar an das Handeln eines Menschen und den darin erschlossenen Transformationsraum. Folgt der menschliche Glaubensvollzug der Kriteriologie dieser liebenden Zuwendung »lebensspendende[r] Gegenwart« (DV 8), kann er in Anlehnung an den performativen Glaubensvollzug Jesu Christi einen bleibenden Zugang zur Offenbarung »im Heiligen Geist« (DV 2) eröffnen. Der Übergang zwischen menschlicher Sinnsuche und göttlicher Offenbarung ist nach DV also an einen menschlichen Glaubensvollzug gebunden. Er erschließt die tatsächliche Bedeutung der verwendeten Codes, wenn er sich vernunftmäßig auf die in ihm verbürgte Kriteriologie beruft (vgl. DV 6). Das heißt für die Konstitution jedoch nicht, dass Offenbarung als einfach menschengemacht verstanden werden kann – ein solches Offenbarungsverständnis erstickte sich durch einen Selbstwiderspruch. Vielmehr betont die Konstitution eine zweifache Abhängigkeit der Offenbarung: Sie ist an die gnadenhafte Zuwendung Gottes gebunden, die sich im Glauben erschließt (vgl. DV 5). Dieser Glaube ist wiederum gebunden an die aus ihm erwachsene Glaubensgemeinschaft. Ihren Gründungsimpuls zieht sie aus dem Erleben der liebenden Zuwendung Gottes, die sich aus ihrer Codierung in der Heiligen Schrift bleibend erschließt. Ohne eine Aktualisierung dieser Materialität könnte sie jedoch keine Performanz entfalten. So ist die Offenbarung immer in der jeweiligen Diskursgemeinschaft verortet – konkret die »glaubende[n] und betende[n] Kirche« (DV 8). Damit »bedeutet der Text eine eindeutige Absage an ein einseitig intellektualistisches Offenbarungsverständnis, das den Offenbarungsvorgang auf einen Erkenntnisvorgang reduziert und diesen dann gar extrinsezistisch-positivistisch ausgelöst sein lässt.«92 Diese Ausfaltung des an die Heilige Schrift sowie die jeweilige kollektive Glaubenspraxis rückgebundenen Offenbarungskonzeptes markiert die mögliche Übergängigkeit zwischen Transzendenzcodes und dem durch sie vermittelten Offenbarungsgeschehen. Das heißt zugleich: Jede Offenbarungserkenntnis ist bleibend an die Codierungsformen gelebter Glaubenspraxis gebunden. Sie unterliegt immer kontextuellen Systemlogiken, die
92
Hans Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn 4 2005, 195.
7. Scharnier II: Eine differenzhermeneutische Präzisierung
sie zugleich transformierend verändern kann. Entsprechend ergibt sich eine kontextgebundene offenbarungstheologische Epistemik (vgl. DV 12). Die Konstitution fasst diese Kartierung der Interdependenz entsprechend zusammen: »Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugestellt sind, daß keines ohne die anderen besteht und daß alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.« (DV 10) An dieser Stelle erschließt die dogmatische Konstitution auch die komplexen fundamentaltheologischen Anforderungen für eine argumentative Einholung transzendenzbezogener Erkenntnisprozesse. Dieser Komplexität wird in der Argumentation des Textes eine Modellierung der christologisch wie pneumatologisch erschlossenen Zuwendung Gottes zur Seite gestellt. Die selbstoffenbarende Zuwendung Gottes und die kirchliche Codierungsgemeinschaft sind demnach bleibend spannungsvoll aufeinander verwiesen – sie agieren als interdependente Konstitutive des Glaubens. Das heißt, die Konstitution bindet »Bestimmbarkeit […] an einen Ort […], der keine direkte Bestimmung erlaubt […]. Diese gespannte offenbarungstheologische Hermeneutik ist an eine differenzbezogene Semiotik gekoppelt, die zwischen den ›Worten‹ und den ›durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten‹ (DV 2) unterscheidet.«93 Diese dialektische Bindung an die materiale und soziale Umwelt sowie an die Beziehungsperformanz des Gottesbezugs entspricht den bereits herausgearbeiteten erkenntnisphilosophischen Grundlagen und verknüpft die dogmatischen Kerngehalte der Offenbarungstheologie in diesem Sinne mit dem evolutionsanthropologisch aufgegebenen theologischen Herausforderungsportfolio. Die hier skizzierte Offenbarungstheologie lässt sich mit der Evolutionsanthropologie insofern verzahnen, als dass sie menschliche Erkenntnisprozesse geschichtlich im Spannungsfeld aus System, Umwelt und Sozialbezügen verortet und diese Verortung als theologieproduktiv qualifiziert. Mit DV ist also auch lehramtlich verdeutlicht, dass der Offenbarungsbezug des Glaubens ohne den Bezug auf geschichtliche Erkenntnisprozesse weder vernunftmäßig einholbar noch konkret praktikabel ist. ***
93
Hoff, Glaubensräume II/1, 79.
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8. Definitorische Vermessung. Das religionsevolutive Spannungsfeld als interdisziplinäres Erkenntnisfeld
Die systemischen Rückkoppelungseffekte der religionsbezogenen sozialen Transformationen plausibilisieren sowohl erkenntnistheoretisch als auch evolutionsgeschichtlich, dass sich die Sinngefüge von Transzendenzcodierungen nicht in einer normativ organisierten Regelungsfunktion erschöpfen. Sie performieren vielmehr ein bedeutungsfluides Reflexionspotenzial über die akuten Herausforderungen hinaus. Entsprechend können transzendenzbezogene Codierungen und Praktiken nicht an ein definiertes, starr geregeltes Ziel kommen. Vielmehr löst der performative Prozess immer neue Feedbackschleifen und Suchbewegungen aus. Was das für die eingetragenen Sinnspitzen metaphysischer Deutungsversuche heißt, machen die Theoriebildungen Derridas in Form einer Umstellung erkenntnisphilosophischer Denkweisen deutlich. Vor ihrem Hintergrund steht auch eine pragmatisch modifizierte Metaphysik vor dem Problem, mit den von ihr eingebrachten Sinnhorizonten zu spät zu kommen. Ontologische Sicherheiten kann sie nicht liefern. Dennoch erfordert schon die Erkenntnis einer sich permanent differenzierenden Systematik der menschlichen Suche nach dem ›Sinn des Sinns‹, metaphysisch offen zu bleiben. Wer sich auf die Paradoxien dieser Offenheit einlässt, markiert religiöse Transzendenznarrative als Praktiken, deren Ursprung und deren zukünftige Richtung nicht einfach intentional erklärt oder gesteuert werden können. Darin liegt, so die These, ihr realitätsbezogenes Sinnpotenzial, das über seine realitätsregelnden Funktionen immer auch hinausgeht. Es bearbeitet das Spannungsfeld zwischen Umweltbedingungen, Systemfunktionen und intentionalen Handlungsvollzügen. Im Folgenden Kapitel soll die erkenntnistheoretische Bedeutung dieses religionsevolutiven Spannungsfelds in eine heuristisch orientierte, evolutionsanthropologisch informierte und theologisch fundierte Religionsdefinition übertragen werden. Sie fasst die bis dato herausgearbeiteten Anschlussmöglichkeiten zwischen der aktualen Differenzhermeneutik und einem ritualtheoretisch fundierten religiösen Wirklichkeitsbegriff zusammen. In diesem Zusammenspiel soll deutlich werden, inwieweit der evolutionsanthropologische Kontingenzrahmen das Religions- und Offenbarungsverständnis
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
der Theologie einer produktiven Komplexitätssteigerung zuführt. Darüber hinaus lässt sich parallel auch der interdisziplinäre Wert der bereits skizzierten theologischen Anschlüsse für eine kritische Betrachtung der blinden Flecken evolutionsanthropologischer Religionsverständnisse konkretisieren. Das religionsevolutive Spannungsfeld erweist sich hier als interdisziplinäres religionstheoretisches Erkenntnisfeld. Das Herausforderungssetting, in das die gesuchte Religionsdefinition gestellt ist, konnte im Verlauf der bisherigen Ausführungen in drei Problemhorizonte kategorisiert werden. So sind religiöse Narrative und Praktiken eingebettet in den anthropologischen Kontext eines virulenten Zeitproblems (1), eines sozialkognitiven Komplexitätsproblems (2) sowie eines aus diesen Horizonten erwachsenen, übergeordneten Sinnproblems (3). Aus dem Zusammenspiel bewusstwerdender Endlichkeit und der damit einhergehenden Uneinholbarkeit des systemischen Zeitablaufs heraus ergibt sich die soziale Abhängigkeit des menschlichen Individuums. Eine gesteigerte Komplexität der intentionalen Ausrichtung menschlicher Kognitionsvorgänge ermöglicht zugleich eine festigende Vergesellschaftung und Etablierung sozialer Sicherungsmechanismen. Die soziale Komplexität steigert sich äquivalent zum kognitiven Bewusstseinsprozess – es emergieren immer komplexere Abhängigkeits- und Kontingenzgefüge, die die Sicherungs- und Problemdiskurse in unauflösbaren Rückkoppelungsschleifen aneinanderbinden. Diese systemischen Überlagerungen treiben schließlich die Suche nach einem festen Sinnhorizont an. So verstanden, sind sie immer schon auf die semantisch qualifizierbare Tiefendimension der Welt bezogen – sie wird den Systemgefügen in der Suchbewegung nicht erst sekundär hinzugefügt. Denn diese Suche ist auf doppelte Art und Weise mit den auftretenden Komplexitätsparadigmen verbunden: Einerseits treibt sie die Bewusstwerdung des Problemkomplexes voran, indem sie im Rahmen transzendenter Gedankenspielräume die Kontingenz des Menschen freilegt und die Deutungsfolie der (ungeklärten) anthropologischen Sinnsignatur auf die situativen Komplexitäten anwendet. Das heißt, sie führt angesichts der Kontingenz der Handlungsweisen des Einzelnen und der Funktion der Gesellschaft die Suche nach Sinn als ein evolutionsbezogenes Erkenntnismotiv ein. Andererseits ersuchen religiöse Sinnnarrative und Praktiken, einen Lösungshorizont zu eröffnen, indem sie die kollektive Besinnung auf eine von der Immanenz unterschiedene Metaperspektive der Transzendenz befördern. Sie erschließen also über das Bewusstwerden des Problemhorizontes hinaus einen transzendenten ›Temporisationskanal‹. In ihm kann die angesichts der Differenzerfahrungen paradox anmutende Frage nach einem verlässlichen ›Sinn des Sinns‹ gestellt werden. Von diesen zusammenfassenden Überlegungen ausgehend, kann nun abgeleitet werden, inwiefern religiöse Transzendenzmotive ein Spannungsfeld ›offenbaren‹, dem sie selbst unterliegen: In den Transzendenzräumen vollzieht sich ein sie konstituierendes und sie begrenzendes Wechselspiel zwischen sozial-evolutiven Systemen, immer neuen Umweltfaktoren sowie dem performativ-kommunikativen Selbstanspruch religiöser Ritual- und Symbolkomplexe. Es handelt sich hier um ein Spannungsfeld, das erst der religiöse Transzendenzbezug ins Bewusstsein ruft und als komplexes Sinnproblem konturiert. Dieser Bezug auf Transzendenz kann einen temporären Reflexionsspielraum eröffnen, in dem das Spannungsfeld selbst als Sinnsignatur erschlossen wird. Diese performative Wirksamkeit können religiöse Narrative und Handlungen dann entfalten, wenn sie die Suche nach einem ›Sinn des Sinns‹ beziehungsweise nach einer ›Urspur‹
8. Definitorische Vermessung
als kollektives Temporisationsereignis vollziehen. Sie betrachten dann das mit dem Zeitund Komplexitätsproblem einhergehende soziale und individuelle Sinnproblem neu: Der Horizont wird über die immanente Herausforderungsfolie hinaus erweitert und mit der Möglichkeit aktiver Bearbeitung und universaler Sinnhaftigkeit versehen. Das geschieht, sobald Kollektive ihr eigenes Gruppenbewusstsein auf diesen gemeinsamen Sinnhorizont beziehen und ihn so wachrufen. Damit lösen sie das Differenzparadox des eigenen Sprachspiels nicht auf, setzen es aber performativ ein. Im Rahmen solcher Sprachspiele agieren religiöse Codes wider jede funktionalistische Vereinnahmung, indem sie die bleibende Sinnhaftigkeit anthropologischer Grundvollzüge des Fragens nach Sinn ständig offenhalten. Sie hegen sie in ein relational-aktuales Transzendenz-Immanenz Verhältnis ein. Damit überschreiten sie immer auch ihre eigenen Begrenzungen und Brüche und agieren damit im Rahmen einer differenzhermeneutisch angelegten Performanz. Begrenztheit und Bedeutungskraft religiöser Codierungen sind demnach nicht voneinander zu trennen. Das heißt auch, dass ihre intentionale Setzung nicht gegen ihre systemische Einbindung ausgespielt werden kann. Die Bedeutung der Codierungen ist an ihren temporären Gebrauch gebunden.1 In diesem Sinne ist der Anspruch eines ›Glaubensrealismus‹ immer auf die Glaubenspraxis und ihre performative Schlagkraft verwiesen. Dass diese Performanz sich im Rahmen evolutiver Entwicklungsgefüge nachzeichnen lässt, zeugt von der anthropologischen Relation des Transzendenznarrativs – es zeichnet sich in seiner paradoxalen Grundordnung als Kernbestandteil der prozessual-aktualen Bewusstseinsbildung des Menschen aus. Das heißt für die erkenntnistheoretische Verortung der Theologie, dass »die Frage nach einem realistischen Verständnis des God-Terms an die geschichtlichen Bedingungen gebunden [ist; JU], unter denen er auftritt – also an die Entstehung von religiösem Bewusstsein.«2 Aus der symboltheoretischen und dekonstruktiven Umstellung des theologischen Denkrahmens ergibt sich also die Notwendigkeit und Möglichkeit, einen modifizierten, evolutionsanthropologisch und performanztheoretisch begründbaren Religionsbegriff einzuführen. Er ist aufgespannt zwischen den kognitiven Grunddispositionen der Menschen als intentionalen Akteur*innen und ihrer evolutiven Einbettung in systemische Prozesse der sozialgeschichtlichen Entwicklung kulturell geprägter Gemeinschaftsformen. Es ist deutlich geworden, dass religiöse Virtualisierungen beide Aspekte wie unter einem Brennglas als untrennbar verbunden reflektieren. Der gesuchte Religionsbegriff steht also vor der Herausforderung, sowohl die genealogisch-evolutiven Aspekte als auch die sprachlich-interaktiven Handlungsformen einzubeziehen, ohne sich der Gefahr hinzugeben, das Spannungsfeld zwischen beiden Gesichtspunkten teleologisch aufzulösen. Theologisch betrachtet klammern solche Teleologien die metaphysischen Denkhorizonte aus, die sich aus den dargelegten Aporien speisen und zu denen sich ein wissenschaftliches Religionsverständnis eigens verhalten muss.
1 2
Vgl. Ders., Wirklichkeit, 123. Ebd.
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Die Art und Weise des Wirklichkeitszugangs der Aussagen wird unter der einseitigen Fokussierung auf eine Seite des Spannungsfeldes häufig nicht mehr bearbeitet und so methodisch exkludiert.3 Die dekonstruktive Einordnung des eigenen Gegenstands bewahrt die Theologie sowie die evolutionswissenschaftlichen Zugänge dagegen ebenso vor einem naturalistisch festgeschriebenen Funktionalismus wie auch vor einem undifferenzierten metaphysischen Realismus. Dennoch bedeutet sie – das konnte anhand der dogmatischen Grundlegungen Barths bestimmt werden – keine Verabschiedung vom Postulat einer performativ wirksamen, transzendenten Wirklichkeit. Sie bildet vielmehr die Axiomatik jeder religiösen Rede und damit auch jeder theologischen Untersuchung ab. Jeder Versuch einer endgültigen theologischen Einholung des im Rahmen religiöser Praktiken und Narrative eingebrachten Sinnhorizontes unterliegt daher – genau wie die Praktiken selbst – einer dekonstruktiven Unabschließbarkeit. Eine glaubende Perspektive auf diese anthropologische Paradoxie menschlicher Hoffnungsfähigkeit und Hoffnungsbedürftigkeit mündet entsprechend im Sinne einer ›Temporisation‹ in eschatologischen Hoffnungsräumen. Sie können als immanent nicht realisierbarer, aber wirklichkeitswirksamer »Heterotopos«4 beschrieben werden. Sie bieten eine sinnproduktive Einordung der bewusstgewordenen Kontingenzen, ohne sie auflösen zu können. Hier liegt auch eine kritische Rückspiegelung auf rein funktional-selektive Lesarten der evolutionären Anthropologie sowie einer möglichen Überbetonung intentionaler Autarkie als menschlichem Alleinstellungsmerkmal vor. Nimmt man die evolutionswissenschaftlich eingebrachten Modifizierungen ernst und beruft sich zugleich weiterhin auf die transzendenten Wirklichkeitsansprüche, die in religiösen Systemen ausgesagt sind, so ergibt sich daher auch gegenüber den evolutionsanthropologisch eingebrachten (meist funktionalen und normativ orientierten) Religionsbegriffen eine erweiterte definitorische Zielsetzung. Sie orientiert sich erkenntnistheoretisch an den aus der Symbol- und Ritualtheorie sowie der Dekonstruktion abgeleiteten Dynamisierungen religiöser Erkenntnisbewegungen: Der erkenntnistheoretische Ort der Religion liegt der neueren Studienlage und ihrer erkenntnisphilosophischen Einordnung zufolge nicht allein in seiner formalen Regelungsfunktion, 3 4
Vgl. Nord, Realitäten, 180. Der Begriff des Heterotopos’ entstammt einem Konzept von Michel Foucault. Foucault zufolge bildet eine Gesellschaft in ihrem Umgang mit der Wirklichkeit verschiedene Heterotopien aus, die sich besonders in ihrem spezifischen Verhältnis zur Erfahrung der Zeitlichkeit charakterisieren lassen (vgl. Michel Foucault, Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique, Zwei Radiovorträge, übers. v. M. Bischoff (Stw 2071), Berlin 3 2017, 11–13). Foucault beschreibt mit diesem Konzept auf einer topologischen Grundlage soziale Strategien im Umgang mit menschlicher Endlichkeit. Das von Foucault angeführte Paradebeispiel für einen Heterotopos ist der Friedhof. In ihm sieht er den im Tod ausgelösten Zeitbruch durch eine vortbare Heterochronie überschritten. Er beschreibt: »So ist der Friedhof der Ort einer Zeit, die nicht mehr fließt.« (Ebd., 16.) Foucault erfasst mit seinem Heterotopie-Konzept Diskurse, die eine spezifische Verknüpfung räumlicher Vorstellungen mit chronologischen Ausbrüchen aus der Alltagszeit vornehmen. Dies geschieht ihm zufolge insbesondere in religiösen Beschreibungen der Unendlichkeit, aber auch in erzählerischen Erinnerungsstrategien, in Museen und in wiederkehrenden Festpraktiken. (Vgl. ebd., 16f.) Hier schließt sich sein topologisches Konzept an die evolutionsanthropologische Verortung von religiösen Praktiken und Narrativen an: Es geht um eine immanente Verortung transzendenter Zeit- und Wirklichkeitskonzeptionen.
8. Definitorische Vermessung
sondern in der postulierten virtuellen Gegenwart einer transzendenten Größe. Monotheistisch wird diese klassischerweise mit dem Zeichen ›Gott‹ codiert. Diese virtuelle Größe lässt sich nicht verorten – darin besteht ihr evolutives Alleinstellungsmerkmal und ihre erkenntnistheoretische Leistungsfähigkeit. Wie diese Modifikation den Blick auf den Gegenstand der Religion verändert, präzisiert Ilona Nord unter dem Titel »Realitäten des Glaubens«5 aufschlussreich: »Die praktisch-theologische Zielrichtung dieser Gedankenführung liegt dann in der Frage nach dem Aufbau eines religiösen Spielraums. Sie liegt genauer in der Frage nach einem Spielraum, der es ermöglicht, die Gegenwart Gottes experimentell zu erkunden. Besonders pointiert wird also in der Wahrnehmung des Spiels, dass die Menschen, die spielen, innerhalb der virtuellen Realitäten etwas bewirken. Es geht darum wahrzunehmen, wie sie eine Welt bzw. ihre Welt des Glaubens entwerfen.«6 Mit ihrer Rede von der experimentellen Erkundung der Gegenwart Gottes bringt Nord hier eine spezifisch theologische Sichtweise auf performativ erhandelte Spielräume ein.7 In den kollektiv organisierten Handlungsräumen wird im Sinne eines religiösen Modus immer auch auf ein transzendentes Gegenüber verwiesen. In seinem Was/Wer kann dieses Gegenüber im Rahmen seiner diskursiven Einbettung jedoch nie festgeschrieben werden. Als experimenteller Zugang zum Komplexitätsproblem erlangt dieser Transzendenzhorizont daher allein durch das Wie der dialogischen Handlungsweisen, in denen er erfahren wird, diskursive Schlagkraft. Im Modus des erlebten Wie scheint temporär der Hoffnungshorizont eines letztgültigen, transzendenten Sinns auf. Es geht hier also um den performativen Raum, in dem Sinnfelder entstehen. Ihn gilt es zu kartieren, um sowohl unter theologischen als auch unter religionsevolutiven Gesichtspunkten eine Reflexion der vorliegenden Ergebniskomplexe vorzunehmen und sie im Sinne einer wissenschaftstheoretischen Komplexitätssteigerung anwenden zu können. Vor diesem Hintergrund verändert sich auch der angezielte Bezug einer Religionsdefinition. Es geht nicht darum, einen ontologisch fassbaren Gegenstand des Glaubens beziehungsweise eine metaphysisch letztgültige Definition transzendenter Sinnhorizonte zu erörtern. Auch die Festschreibung eines funktionalen Was verfehlt hier die angestrebte erkenntnistheoretisch orientierte Definitionsleistung. Die gesuchte Religionsdefinition hat es vielmehr mit dem Wie menschlicher Sinnproduktion und Glaubenserkenntnis zu tun, wenn sie sich an die grundgelegte differenzhermeneutische und performative Epistemologie anschließt. Denn: Auch die Metapher der ›Urspur‹ bezieht sich auf dieses Wie religiöser Sinnsuche und legt so einen spezifisch theologischen Modus des Weltumgangs nahe. Damit ist das intentional unverfügbare ›Andere‹, das in jeder evolutiven Herausforderungssituation in Umwelt und komplexen Sozialsystemen eine zentrale Rolle spielt, in Codierungen der Transzendenz als unverfügbar markiert. Der transzendent verstandene Bezugspunkt der zu definierenden religiösen Praxis entzieht sich damit einer endgültigen Definition und darf nicht mit ihr verwechselt werden, wiewohl er für 5 6 7
Nord, Realitäten. Ebd., 112. Vgl. zu diesem theologischen Zugang als fundamentaltheologischem Habitus die Rezeption der Modellierungen von Hans-Joachim Höhn im dritten Teil der vorliegenden Arbeit.
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das definitorische Verständnis von Religion eine zentrale erkenntnistheoretische Rolle spielt. Im Licht dieses evolutionsanthropologischen Herausforderungssettings ergibt sich deshalb ein verändertes Grundverständnis religiöser Codes. Es fokussiert auf ihre Wirklichkeitsperspektivierung und ihre Wirksamkeit (mit Nord gesprochen auf das diskursive Wie). Wie gezeigt konnten an diesen Fokus auch erste offenbarungstheologische Überlegungen angelehnt werden. Unter dem Eindruck einer performativen Gesamtanlage der Religionsevolution und der sich an sie anschließenden Entwicklungsspielräume des Menschen soll daher die folgende Definition religiöser Codierungen vorgeschlagen werden. Sie dient als Arbeitshypothese für die sich anschließenden methodologischen Präzisierungen einer theologischen Rezeption der evolutionären Anthropologie: Religiöse Codes haben eine performative Dimension, insofern sie temporär kollektive »Glaubensräume«8 eröffnen können. Damit sind sie Ergebnisse und Auslöser systemischer Eigenwirksamkeiten, die über ihre reine Alltagsfunktion hinausgehen: Im Rahmen von kollektiven Erkenntnisprozessen markieren sie operativ Transzendenz. Als »Ausdruck«9 von Transzendenz sind sie offenbarungstheologisch auf das hin deutbar, worauf sie selbst ermöglichend verweisen – den relational-aktualen Gehalt des Zeichens ›Gott‹. Sie lösen diesen performativen Gehalt des Bezeichneten jedoch nur ein, wenn sie das transzendenzimmanente Differenzparadox, das den Menschen konstitutiv mitbestimmt, nicht umgehen, sondern immer schon im Sinne eines Bruchmoments mitlaufen lassen und so die codierte Transzendenz als tatsächliche Transzendenz ausweisen.
8
9
Den Terminus des Glaubensraums prägen Hans-Joachim Sander und Gregor Maria Hoff im Rahmen ihres gleichnamigen, mehrbändigen Buchprojekts. Aus ihren Überlegungen ergeben sich auch direkte Verbindungen zur in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Kriteriologie performativer Transzendenzcodierungen. Hans-Joachim Sander fasst ›Glaubensräume‹ im Anschluss an postkoloniale Kriteriologien als thirdspaces auf, in denen »die innere Freiheit des Glaubens mit den äußeren Notwendigkeiten des Lebens konfrontiert wird und sie nicht stehen lassen kann, ohne sich selbst zu verlieren.« (Hans-Joachim Sander, Glaubensräume. Topologische Dogmatik, Bd. I: Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019, 202.) Dass sich die zugrundeliegende Kriteriologie und mit ihr die Performanz eines dritten Raumes lediglich im Kollektiv entfalten kann, ergibt sich demnach aus der Fragebewegung selbst, denn: »Was als sinnvolles oder als sinnloses Fragen erscheint, muss durch die Aushandlungspraxis einer Diskursgemeinschaft auf die Tatsachenwelt bezogen werden. Es gibt sie nicht unvermittelt. Demnach müssen formale Transzendenzmotive in die Bearbeitung der Wirklichkeit als Wirklichkeit eingelassen sein.« (Hoff, Glaubensräume II/1, 362). Der Begriff ›Ausdruck‹ bezieht sich hier auf das umfassende Ausdruckskonzept von Matthias Jung (vgl. Jung, Ausdruck). Er versteht diesen Begriff in Bezug auf die allumfassende Art und Weise, in der Menschen ihre Welt wahrnehmen und sinngebunden kommunizieren. Es geht ihm um die »anthropologische Grundtatsache, dass unsere mentalen Zustände nur durch die bewusste Erzeugung physisch verkörperter Zeichenketten in ihrem Gehalt bestimmbar und (inter-)subjektiv verfügbar werden […].« (Ebd., 14.) Mit dieser Verbindung physischer, psychischer und zeichentheoretischer Aspekte des menschlichen Ausdrucksvermögens ermöglicht Jung eine Verschiebung des »Fokus von einem abbildrealistischen Modell der Weltbeziehung zur Vorstellung eines Wechselverhältnisses zwischen den kreativ-erschließenden Ausdrucksleistungen einer- [sic!] und der Eigenstruktur der Wirklichkeit andererseits.« (Ebd.) Diese Komplexitätssteigerung im Spannungs-
8. Definitorische Vermessung
Aus der vorgeschlagenen Definition ergibt sich eine theologische Heuristik, die die evolutionsanthropologischen Kontingenzgefüge als ihr Konstituens integriert. Diese Heuristik löst die aufgerufene Kontingenz nicht externalisierend auf, sondern speist sich vielmehr aus ihr. Das zeigt: Die den Religionsvollzügen zugrundeliegenden, sinnorientierten Reflexionshorizonte ergeben sich bereits aus der Tiefendimension erlebter Weltkomplexität. Diese Komplexität wird als Komplexität deshalb zum evolutionsanthropologischen Akteur, weil sie sich als innerweltlich gegeben und zugleich innerweltlich nicht auflösbar darstellt. Was bleibt, ist eine diskursive, kognitiv getragene Bearbeitungsform im Rahmen transzendenter Codierungspraktiken, die diese Unauflösbarkeit explizit macht. Auf diese Weise ist die Bearbeitung selbst im Stande, temporäre ›Glaubensräume‹ zu eröffnen, die eine transzendente Wirklichkeitssphäre als mit der wahrgenommenen Weltkomplexität vereinbar einführen. Diese ›Glaubensräume‹ können ein Transformationspotenzial entwickeln, das innerhalb der evolutionsanthropologischen Ausgangssituation tatsächlich (also performativ) Veränderungen auszulösen vermag. Dieses Potenzial muss sich jedoch in immer neuen Komplexitätsgefügen beständig zur kollektiven Disposition stellen lassen. Der erkenntnistheoretische Ort religiöser Handlungen und Narrative kann demnach nur im jeweiligen Diskurs mit Sinn angereichert werden. Er stellt sich als ein permanenter Verweis auf die anthropologischen Leerstellen dar, die jeder transzendenzorientierten Codierungspraxis zugrunde liegen. Im Rahmen dieser religiösen Heuristik ergeben sich wie gezeigt neue kriteriologische Anfragen an ein theologisches Religionsverständnis: Liegt nicht der religiös erschlossene Spielraum gerade in der kognitiven Leerstelle? Zerstört das religiöse Streben nicht sein eigenes Transformationspotenzial, wenn es sich eine letztgültige Auflösung dieser Komplexität zum Ziel setzt? Die Skizzierung von Kontingenzgefügen als ein Konstituens religiöser Sinnperformanz erschließt die eigene Theologizität, die diesen Fragen zukommt. Es zeigt sich: Religiöse Sinnnarrative und -praktiken verweisen sowohl die theologische als auch die evolutionsanthropologische Axiomatik auf den erkenntnistheoretischen Eigenwert von Transzendenzbezügen. Die religiösen Weltzugänge grenzen sich von rein instrumentellen Sozialfunktionalismen ab, ohne eine einfache Entkoppelung von ihnen vorzunehmen. In der vorgeschlagenen Definition greift das dargelegte differenzhermeneutische Paradigma also insofern, als dass sie religiöse Codes konsequent mit den von ihnen thematisierten kontingenten Bruchstellen verbindet. Ein solcher theologischer Religionsbegriff schließt sich konsequent an die evolutionsanthropologischen Untersuchungen an. Die theologische Bearbeitung der evolutionsanthropologischen Problemkomplexe eröffnet dabei ein wissenschaftstheoretisches Potenzial. Sie wirkt komplexitätssteigernd auf die evolutionsanthropologischen Theorien zurück. Gleichermaßen berühren die evolutionsanthropologischen Grundlagen die fundamentaltheologische Methodologie, wenn sie ihren erkenntnistheoretischen Ort als kontingent und immanent kartieren. Damit ist das angestrebte Ziel der vorliegenden feld aus eigenstrukturellen Systematiken und intentionaler Kommunikation entspricht der zentralen hermeneutischen Herausforderungs- und Anspruchsfolie der vorliegenden Arbeit. Für sie steht der hier verwendete Begriff ›Ausdruck‹ im erläuterten Sinne Pate.
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Arbeit nun deutlich in den Blick genommen: Die vorliegende definitorische Hypothesenbildung bietet einen Ausgangspunkt, um einen theologisch fundierten, interdisziplinär anschlussfähigen Beitrag zur Analyse der evolutiven Rolle von Religionen und ihren soziokulturellen Alleinstellungsmerkmalen zu liefern. In diesem Zuge werden sowohl die klassische theologische Motivik als auch die evolutionsanthropologischen Theoriebildungen einem neuen, kritischen Korrektiv ausgesetzt. Betont wird sowohl evolutionsgeschichtlich als auch wissenschaftstheoretisch ein konstitutiver Primat der Differenzhermeneutik vor einer funktional-teleologischen Festschreibung. In diesem Sinne fungieren religiöse Aussagekomplexe und ihre theologische Analyse eben nicht als Sprengkammern evolutiver Komplexität, sondern spitzen sie vielmehr zu. Diese interdisziplinären Reflexionsanstöße lassen sich angelehnt an die Arbeitshypothese in Form von kurzen argumentativen Rekapitulationen weiter profilieren. So verweisen die folgenden Unterkapitel auf offene Flanken der Evolutionsanthropologie, aber auch auf Herausforderungskomplexe für die fundamentaltheologische Integration des dargelegten Komplexitätsparadigmas. Dabei arbeiten sie sich an den Kernanliegen der vorgebrachten Religionsdefinition ab. Um das notwendige, evolutionsanthropologisch vorgegebene Komplexitätsniveau zu erreichen, sollen die definitorischen Grundlinien im Anschluss in Form eines dritten Scharnierkapitels vorwiegend soziologisch aufgearbeitet werden (Kapitel 9). Der Rekurs auf die Theoriekontroverse zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas verdeutlicht die systemtheoretische und pragmatische Gestalt der Religionsevolution und verknüpft sie mit der Analyse ihres erkenntnistheoretischen Status. Auf diese Weise wird die vorgeschlagene Definition in ihrer interdisziplinären Einbettung verdeutlicht.
8.1. Religiöse Codes – Projektionen oder Ausdruck transzendenter Performanz? In Anlehnung an sprachphilosophische Grundlinien sowie an die dargelegten symboltheoretischen und materialen Performanzen wird in der angeführten Definition die Rede von religiösen Codes als umfassender ›Ausdruck‹ von Transzendenz vorgeschlagen. Damit wird der pragmatische Aspekt und der performative Selbstanspruch der Gottesrede betont, ohne ihre zwangsläufig sprachliche Verfasstheit aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig verdichtet sich hier die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der eingesetzten Codes auch jenseits ihres Selbstanspruchs. Es geht darum, auf welcher Grundlage Theologie diesen Anspruch angesichts evolutiver Kontingenzen vernunftgemäß vertreten kann und soll, denn: »[D]er realistische Bezugssinn des Zeichens ›Gott‹ verlangt vor diesem Hintergrund, sowohl der Konstruktivität des Gottesgedankens wie seiner zeichengebundenen Konzeptualisierung Rechnung zu tragen, aber auch die Wirklichkeit ›Gottes‹ als schöpferischer Grund der Welt zur Geltung zu bringen. Ansonsten droht der Gottesgedanke im Raum bloßer Virtualität zu erstarren – als Fiktion, als Projektion.«10
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Hoff, Glaubensräume II/1, 395.
8. Definitorische Vermessung
Der religionskritische Prüfstein bleibt also grundsätzlich bestehen. Zugleich zeigt die eingeführte Definition eine klare argumentative Richtung auf, die hier erörtert werden soll. Zugespitzt lässt sich im Sinne einer Überschrift über diese bleibende Herausforderung fragen: Sind religiöse Codes Projektionen, oder können sie auch unter evolutionsanthropologischen Gesichtspunkten begründet als performative Ausdrücke von Transzendenz verstanden werden? Der evolutionsanthropologisch nachgezeichnete und in Studien zur konkreten Wirksamkeit ritueller Vollzüge aufgezeigte Gehalt transzendenter Virtualisierungen konnte im Rahmen der rezipierten axialen Hermeneutik, ihrer spieltheoretischen Einbettung sowie im Zuge symboltheoretischer Präzisierungen performanztheoretisch erweitert werden. Die eingeführte differenzsensible Hermeneutik verdeutlicht, dass die Funktion religiöser Praktiken und Narrative, virtuelle Reflexionsräume zu eröffnen, nicht immer schon einem Projektionsverdacht unterliegt. Bereits in der zeichenimmanenten Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz ist verbürgt, dass sich hinter dem Code ›Gott‹ nicht einfach eine Projektion verbirgt, auf die direkt zugegriffen werden könnte. Vielmehr ist hier zwischen einer unterstellten Projektion und einer eingebrachten, prozessual zu erschließenden Reflexionsform zu unterscheiden, die anthropologische Differenzerfahrungen offenlegt und bearbeitet.11 Es geht um einen experimentellen Diskurs, der »eine einzigartige Perspektive in die Welt einführt: dass ihre Wirklichkeit an einen Grund gekoppelt ist, der in einer notwendigen Unterscheidung der Welt von sich selbst, nämlich von ihrer Ermöglichung auftritt.«12 Eine in diesem Sinne auf die eingeführten Codes und ihre Aussagelogiken gründende theologische Hermeneutik ist aufgrund ihrer reflexiven Selbstbegrenzung immer auch eine bescheidene Hermeneutik. Sie agiert im theologischen Modus der aporetischen Unabschließbarkeit der metaphysisch angelegten Reflexionspraktiken, die ihren Gegenstand darstellen.13 Auf genau diesen Denkhabitus insistiert Jacques Derridas bewusstseinsphilosophische Dekonstruktion noch einmal deutlicher als es die evolutionsanthropologischen Theoriebildungen tun. Die Unterscheidung zwischen einer bloßen Projektion und einer performativ wirksamen, aber unabschließbaren Perspektivierung der Welt ist mit der zur Disposition gestellten Definition von Religion also sowohl als drängend markiert, als auch prägnant und lösungsorientiert eingeholt: Der Codierungsprozess selbst konnte als performatives Ereignis plausibilisiert werden. Daher kommt auch seiner Genese eine spezifische Wertigkeit zu, insofern, als dass die transzendenten Aussagelogiken niemals ohne ihren konkreten Gebrauch auskommen können. Einzig in ihm hat sich die Relevanz und damit die Aussagekraft der gebrauchten Zeichen zu erweisen. Ein von diesem sprachpragmatischen Framing abgelöster Bewertungshorizont religiöser Wahrheitsansprüche ist demnach erkenntnistheoretisch unmöglich. An dieser Einsicht arbeiten sich Transzendenznarrative ab. Damit ist auch der Vorstellung rein normativer religiöser Kataloge eine
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Vgl. ebd., 397. Ebd. Vgl. zur ausführlichen Einordnung des Wechselverhältnisses zwischen Aporie und Fundamentaltheologie Ders., Aporetische Theologie.
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Absage erteilt: Ohne dass sich an Transzendenz geknüpfte Normen praktisch als eine lebensdienliche und psychisch wie physisch fruchtbare Artikulation konkretisieren, lässt sich der in ihnen transportierte Sinn weder erfassen noch vernunftgemäß bewerten.14 Dieser pragmatische Aspekt entspricht der im Rahmen der vorgeschlagenen Definition stark gemachten Einsicht, dass religiöse Codes nur das performativ wirksam bearbeiten, was sie selbst prozessual ins Bewusstsein rufen und erschließen. Das religiöse Bezugssystem vollzieht also eine erkenntnistheoretische Gratwanderung. Es begibt sich in eine gefährliche Nähe zum Verdacht der Projektion einerseits und auf den Pfad vermeintlicher systemischer Geschlossenheit andererseits. Dass es dieses Problem als seinen Kernbestand selbst reflektiert, balanciert diese Gratwanderung prozessual aus. In dieser Dynamik können die eingebrachten Transzendenzcodes weder auf Projektionsleistungen reduziert werden noch zu einer systemischen Geschlossenheit gelangen. Schließlich kommt es erst im Rahmen der menschlichen Evolution zum angesprochenen Zeichengebrauch und Bewusstseinsprozess: Indem die kognitionspsychologischen Möglichkeitsbedingungen für metaperspektivisches Denken evolvieren und zugleich neue Herausforderungshorizonte markieren, erweist sich die Virtualisierung der neuen Komplexität als weiterführend und sinnvoll. Religionen sind damit an diese komplexen Realitäten gebunden und beeinflussen sie zugleich in ihrer weiteren Entwicklung. Insofern ist der menschliche Transzendenzbezug und damit auch der christliche Gottesgedanke zwangsläufig eingebettet in evolutive Prozesshaftigkeiten und Kontingenzen. Er bearbeitet sie in Form eines spezifischen Wirklichkeitszugangs, der nur auf der Grundlage evolutiver Alleinstellungsmerkmale des Menschen eingebracht und kritisch reflektiert werden kann.15 An dieser Stelle ist definitorisch eingeholt, dass die performative Grundierung von Transzendenzcodes keinesfalls ihre relativistische oder konstruktivistische Abflachung bedeutet. Die basale Chance einer performativen Theologie liegt in der dekonstruktionstheoretischen Reflexion klassisch metaphysischer Theologien und naturalistischer Projektionsmodelle gleichermaßen. Die konkrete Diskursform transzendenter Codes, ihre Bedingungsgefüge und ihre eigene evolutive Rolle plausibilisieren eine wirksame Prozesshaftigkeit des Zeichengebrauchs selbst. Über diese spezifische Form des Zeichengebrauchs hinaus kann im hier vorgeschlagenen Modell jedoch keine theologische Festschreibung markiert werden. Im Sinne dieses performativen Prozesses ist also auch die Selbstverwiesenheit religiöser Rede auf die jeweiligen aktualen Prozesse, die sie hervorbringt, markiert. Diese Verwiesenheit wird in reflexiven Diskursen immer wieder kollektiv überprüft und kritisch hinterfragt. Daher sind transzendente Narrative und Handlungen bleibend auf die alltägliche Immanenz verwiesen, in die hinein sie – um die Metapher Derridas zu wiederholen – aktuale ›Spuren‹ der Sinnhaftigkeit artikulieren beziehungsweise rituell verkörpern. Als aktuale Virtualisierungen dieser Immanenz können sich Transzendenznarrative also nur aktual als ›tatsächlich‹ sinnvoll in ihrem Bezug auf einen universalen ›Sinn des Sinns‹ erweisen. Aus dieser diskursiven Verortung der Transzendenz ergibt sich ihr Wirklichkeitsbezug. Er erschließt sich als wirklichkeitstransformatives Potenzial. Es generiert sich aus der beanspruchten Sinnhaftigkeit kollektiver und systemischer Abhängigkeiten des Menschen. Mit dem in 14 15
Vgl. Ders., Glaubensräume II/1, 404. Vgl. Ders., Wirklichkeit, 123.
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der Definition eingebrachten Stichwort des Erweises ist zugleich der schon begründete erkenntnistheoretische Unterschied zu einem – etwa naturalistisch aufgebauten – Beweis manifestiert. Der Code ›Gott‹ besetzt etwas Abwesendes und verschafft ihm so immanent einen Raum – den jedoch eine bleibende Atopik der Transzendenz begleitet.16 Eine beweisbare, ontologische Zugangsweise wird damit nicht behauptet. Ebenso wenig ist auf eine teleologisch formierte, universale Handlungs- und Gestaltungsmacht des Subjekts im Rahmen des Prozesses abgezielt. Die angeführten Relativierungen bedeuten jedoch keine mangelnde Verortung der religiösen Codes und dessen, was sie zu bezeichnen suchen. Vielmehr kommt hier die Bedeutung der kollektiven Strukturen symbolischer, virtualisierender Erschließungsprozesse des Menschen voll zum Tragen: Hier liegt der reale Ursprungsraum der nur atopisch einzuholenden Transzendenzverortung. Religiöse Weltdeutung ist als diskursiv-performativer Prozess eingebettet in konkrete soziokulturelle Räume. Außerhalb des Aktes ist sie nicht zu erfassen, auch die Intentionalität der Handelnden liefert keine Garantie für eine ontologische Realität hinter der intentionalen Kommunikation. Lediglich die Praktik kann erfasst, reflektiert und vernunftmäßig beansprucht werden. Sie ist es auch, die evolutiv weiterführende Rückkoppelungseffekte anstößt, die letztlich nicht in der Verfügungsgewalt der jeweiligen sozialen Gruppe oder der Einzelakteur*innen liegen. Es handelt sich um eine realgeschichtlich eingebettete Wirklichkeitsdeutung, deren Wahrheitsanspruch sich aus der vernunftmäßig begründbaren temporären Einholung von offenen Sinnhorizonten speist. Der Verweis auf eine konkrete sozialpraktische Einbindung ist entsprechend prominent sowohl in religionssoziologischen als auch in evolutionsanthropologischen Studien herausgehoben. So konnte bereits bei einem der Gründerväter der Soziologie und seiner Beschäftigung mit religiösen Ritualen auf den Aspekt der Vergemeinschaftung verwiesen werden: Wie in Kapitel 2.2 gezeigt, macht Émile Durkheim die gemeinschaftliche Organisation von Gruppierungen unter religiös begründeten, diskursiv geteilten Moralvorstellungen zu einem der wichtigsten Marker seiner Religionsdefinition.17 In eine ähnliche Richtung weisen die dargestellten empirischen Ergebnisse der Kognitionswissenschaft sowie die Einordnung der Komplexitätsforschung zu sozialen Resilienzfaktoren: Einzig die Fähigkeit eines kollektiven Handlungsvollzugs und die innersystemische Organisation und Anpassung gruppeninterner Praktiken führt zu verlässlicher Stabilität im Sinne eines geteilten Kulturgutes. Die diskursive Interaktion, auf die die Resilienz menschlicher Sozialsysteme aufbaut, ist damit angewiesen auf bewusst eingesetztes »Vertrauen in geteilte Handlungspläne. In Kombination mit der Entwicklung menschlicher Imaginationsfähigkeit erweisen sie sich als entscheidend für die Entstehung religiösen Bewusstseins. Sie setzen jene formale Transzendenzfähigkeit in Gang, die die kulturelle Evolution des homo sapiens bestimmt. Der Mensch muss sich selbst vertrauend überschreiten, um in komplexen Situationen handlungsfähig zu sein.«18
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Vgl. Ders., Glaubensräume II/1, 231. Durkheim bezeichnet Religion in diesem Zusammenhang als »une chose éminemment sociale« (Durkheim, Formes, 13). Hoff, Glaubensräume II/1, 273.
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Diese kollektive Vertrauensbildung im Vollzug religiöser Sinnnarrative versteht sich jedoch nicht als eine religionsimmanente Projektion angesichts der Konfrontation mit der menschlichen Begrenztheit. Vielmehr ist sie als eine konstitutive Bedingung menschlicher Identitätsbildung in Form einer prozesshaften, unabgeschlossenen Suche nach gelingenden Lebensvollzügen zu verstehen. So verweisen religiös orientierte Vergemeinschaftungen im Rahmen ihrer performativen Transformationskraft soziale Systematiken und Normenkataloge immer auch auf ihre Kontingenz und hinterfragen sie kritisch (vgl. dazu insbesondere Kapitel 4.2). Sie übersteigen damit ihre eigene, von Durkheim betonte Stabilisierungsfunktion. Es geht also darum, realsystemische Mechanismen in kollektiven Reflexionsprozessen zu transzendieren und dabei zugleich in einer neuen Deutlichkeit die Begrenztheit der menschlichen Realität anzuzeigen, der auch die Transzendenzcodes unterliegen. Hier haben transzendenzbezogene Codes und Praktiken ihren realgeschichtlichen Ort in Form einer bleibenden ›axialen Heuristik‹. In einem grenzgängerischen Habitus wie ihn Derrida skizziert, agieren sie entlang des aufgezeigten Problemhorizonts, der sich zwischen einem Zeit-, einem Komplexitäts- und einem daraus emergierenden Sinnproblem aufspannt. Die eingespielte Transzendenzperspektive muss sich also immer wieder als sinnstiftender Reflexionsraum erweisen lassen. Sie liegt in dieser Grenzbetrachtung daher auch immer schon jenseits immanenter Unterscheidungen zwischen realen Räumen und irrealen Fiktionen.
8.2. Das erkenntnistheoretische Differenzparadox – Theologischer Sonderweg oder interdisziplinärer Herausforderungshorizont? Die im Zuge des Kapitels nochmals zusammengefassten Kernelemente eines aktualen und differenzhermeneutischen Religionsverständnisses zeigen in ihrem Bezug auf die vorgebrachte Religionsdefinition: Transzendente Codes sind als systemisch angebundene, temporäre Akte einer streng immanenten Suchbewegung zu verstehen. Sie sind nur dann redlich »offenbarungstheologisch auf das hin deutbar, worauf sie selbst ermöglichend verweisen – den relational-aktualen Gehalt des Zeichens ›Gott‹«19 , wenn sie um die eigene immanente Begrenztheit wissen, und sie sinnbezogen zum Thema machen. Das macht ein Grenzbewusstsein notwendig, an dem sich die Codierungen selbst realiter zu messen haben. Die im Rahmen der Religionsdefinition verdichtete performative Differenzhermeneutik führt vor diesem Hintergrund zu einer Komplexitätssteigerung in zwei Richtungen: Sie markiert Transzendenznarrative und an ihnen orientierte intentionale Handlungsgefüge einerseits als eigene systemische Transformationsfaktoren. Andererseits vermag sie es, ihren vermeintlich evolutionsresistenten, an autonomen Subjekten und transzendenten ›Gegebenheiten‹ orientierten Sonderstatus genau auf diese Weise einzuhegen, indem sie den immanenten, unabschließbaren und bisweilen nicht steuerbaren Suchprozess entlang dekonstruktiv wirksamer Grenzgefüge selbst als Konstituens jeder Transzendenzcodierung vorausgesetzt. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit dieses differenzhermeneutisch angeschärfte Religionsverständnis zu
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Wörtlich zitiert aus der Religionsdefinition dieser Arbeit in Kapitel 8.
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einem produktiven interdisziplinären Herausforderungsrahmen führt. Zugespitzt formuliert geht es dabei um die Frage, ob im Rahmen der vorgeschlagenen Religionsdefinition ein theologischer Sonderweg eingeschlagen wird, oder ob sich ein tatsächlich interdisziplinär anschlussfähiger Herausforderungshorizont aus ihr ableiten lässt. Wer die dekonstruktive Religionshermeneutik ernst nimmt, stößt neben der erkenntnistheoretischen Relativierung religiöser Vollzüge zugleich auf ein wissenschaftstheoretisches Korrektiv theologischer und evolutionsanthropologischer Modellierungen. So wird bereits hier deutlich, dass die vorgeschlagene Differenzhermeneutik keinen theologischen Sonderweg darstellt, sondern eine erkenntnistheoretische Komplexitätssteigerung an das gesamte hier aufgerufene interdisziplinäre Setting des Religionsbezugs heranträgt. Es ergibt sich ein neuer Blick auf die gesamten religionsbezogenen wissenschaftlichen Modellierungen als Modellierungen. Sowohl theologische als auch evolutionsanthropologische Zugänge verfügen über keine direkten Abbildungslogiken. Sie entwickeln und beziehen sich lediglich auf unterschiedliche »Sprachformen für Realitäten«20 . Das im Verlauf des vorangegangenen Kapitels erarbeitete Verständnis offenbarungstheologischer Deutungsfolien als wirklichkeitstransformative Potenziale und systemisch eingebundene Faktoren zeigt: Die Referenzgehalte der untersuchten Erkenntnisformen entziehen sich einer realistisch-naturalistischen Zugänglichkeit. Sie entlarven sie vielmehr als erkenntnistheoretisch unmöglich.21 Hier verweisen die untersuchten Transzendenzbezüge auf eine notwendige Weitung im Evolutions- und Religionsverständnis der vorliegenden Modellierungen. Die vorgenommenen methodologischen Vermessungen entlang von evolutionsanthropologischen, performanztheoretischen und differenzhermeneutischen Grundlinien führen in diesem Zuge auch zu einer Komplexitätssteigerung bei der Einordnung des Glaubenssubjekts und seiner Rolle im religiösen Erkenntnisvollzug. Es zeigt sich: Die Deutekapazität religiöser Handlungen und Narrative hängt weder lediglich von ihrer selektionssystemischen Funktionalität noch einzig von den sie tragenden Handlungssubjekten ab. Sie ist immer schon durch das komplexe Wechselspiel aus Umwelt, systemischen Dynamisierungsund Stabilisierungsbewegungen und intentionalem Welterschließungswillen als Gesamtkonstrukt bestimmt. Die Spannung zwischen diesen Komponenten kann zum Konstituens für transzendenzbezogene Erfahrungsräume werden. In diesem Sinne rücken weder das religiöse Subjekt noch die evolutionssystemischen Mechanismen in den Hintergrund, sie werden aber einer komplexen Einordnung zwischen systemischen und handlungstheoretischen Feldern unterzogen, die auch theologisch nicht ohne konkrete Auswirkungen bleiben kann.
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Sander, Macht, 76. Auf die damit verbundenen interdisziplinären Impulse der Theologie wird in Kapitel 10 nochmals gesondert eingegangen.
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Exkurs: Erkenntnis im Prozess. Motivik und Komposition von Gen 3 22 Ein anschauliches religionsimmanentes Beispiel für die vollzugsgebundene Deutekapazität religiöser Praktiken und Narrative liefert die alttestamentliche Erzählung in Gen 3,in der das erste Menschenpaar zur Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse gelangt und im gleichen Atemzug den Menschen als Menschen und Gott als Gott erkennt. Die dialogisch angelegte Ätiologie beschäftigt sich mit dem menschlichen Bewusstsein und der menschlichen Schuld sowie mit den menschlichen Abhängigkeiten gegenüber seiner Umwelt. Das Verständnis für diese Reflexionsgegenstände entwickelt sich im Rahmen der erzählten Welt erst im Verlauf dialogisch-aktual. Die anthropologische Entwicklungslinie wird in dieser Lesart schon textintern als ein Prozess entworfen.23 Die Erzählung kann daher beispielhaft und plastisch verdeutlichen, inwieweit sich die interdisziplinäre Interdependenz von theologischer und evolutionärer Anthropologie bereits aus den Inhalten ihres Untersuchungsgegenstandes selbst plausibilisieren lässt. Dazu wird die Erzählung in drei Schritten analysiert: Zunächst erfolgt eine Analyse der motivischen Grundlegung schöpfungstheologischer Ambivalenzen in Gen 3 (1). Aus ihnen entwickeln sich in der Erzählung ätiologische Deutungen für anthropologische Komplexitätsbezüge (2). Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich in Anlehnung an Gen 3 für die offenbarungstheologische Qualität menschlicher Differenzerfahrungen argumentieren (3). 1. Paradiesische Unbedarftheit und schöpfungstheologische Ambivalenzen Das klügste (Verbwurzel )ערםaller Tiere, die Schlange, tritt als Initiatorin der erzählten Dialogsituation und damit als Ausgangspunkt des Prozesses auf. Sie versetzt das erste Menschenpaar in eine Spannung, die auf Gott hin ausgerichtet ist. Im Verweis auf das von ihm ausgesprochene Verzehrverbot für die Früchte des Baumes der Erkenntnis skizziert die Schlange eine Grenze zwischen Gott und Mensch. Das Menschenpaar – seinerseits nackt (Adjektiv )ערם – scheint dieses Spannungsfeld bis dato nicht wahrgenommen zu haben. Das durch die identischen Konsonanten des Verbs ›klug sein‹ und des Adjektivs ›nackt‹ vorliegende Wortspiel zeigt: Klugheit und nackte Unbedarftheit sind aufs Engste miteinander verbunden. Zugleich lösen sie hier unumkehrbare Ambivalenzen aus. Die ›paradiesische Unbedarftheit‹ des Menschen wird durch die Schlange gestört und in ein
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In der gesamten Arbeit erfolgt die Zitation deutschsprachiger Bibelstellen gemäß der revidierten Einheitsübersetzung (Katholische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.), Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Gesamtausgabe, Stuttgart 2016.) Hebräische Verweise beziehen sich auf die Textversion der Biblia Hebraica Stuttgartensia (Karl Ellinger – Wilhelm Rudolph (Hgg.), Biblia Hebraica Stuttgartensia. Editio Funditus Renovata, Stuttgart 5 1997). Vgl. Barbara Schmitz, Der Mensch als erkennendes Wesen. Anthropologische Aspekte nach Gn 2,4-3,24, in: Christof Müller – Guntram Förster (Hgg.), Von Menschenwerk und Gottesmacht. Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte, Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013 (Classiciacum 39/ResSig 12), Würzburg 2016, 13–25, hier: 17.
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komplexes Abhängigkeitsgefüge überführt. Das entspricht auch der symbolischen Ambivalenz, die mit dem Motiv der Schlange einhergeht: altorientalisch galt sie aufgrund ihrer Häutung als ein Symbol sich erneuernden Lebens, mit ihrem Gift war sie zugleich ein Zeichen des Todes und der Naturgefahr.24 In genau diese Ambivalenz zwischen der schöpferischen Lebensmacht Gottes und dem Störungsmoment des tierischen Akteurs gerät nun das erste Menschenpaar. Dabei charakterisieren die Aussagen der Schlange Gott als Inhaber*in einer ambivalenten Machtposition. Die Schlange behauptet: »Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse« (V.5). Dieses Mehrwissen und die damit im Baum verkörperte Macht ist für die Menschen nun reizvoll (V.6a) – sie betrachten ihre Umwelt erstmals bewusst und in einem anderen, spannungsreichen Licht. Die Leitfunktion des Nacktheitsmotivs kommt schließlich gänzlich zum Tragen, nachdem Mann und Frau von den Früchten des Baumes gegessen haben: »Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz« (V.7). Offenbar verändert sich im Akt des Essens die Wahrnehmung des Menschenpaares schlagartig und entscheidend. Nackt waren sie seit ihrer Schöpfung, schambehaftet ist diese Nacktheit25 – angezeigt durch die provisorischen Schurze – erst jetzt. Die Nacktheit erhält einen neuen, anderen Stellenwert.26 Die neue Wahrnehmungsweise verändert die gesamte »relationale[n] Logik«27 zwischen Menschen, Gott und Umwelt. Sie wird für den Menschen angesichts der bewusst gewordenen schutzlosen Nacktheit erstmalig zum komplexen Probelmhorizont. Er schämt sich vor seinem Mitmenschen und vor Gott (vgl. V.8f.). 2. Ätiologische Deutungen des Komplexitätsparadigmas Es ergibt sich eine komplexe Folgekette, die der Mensch trotz seines aktiven Essens nicht mehr in der Hand zu haben scheint.28 Damit ist das Bewusstsein einer komplexen Welt markiert, welches zugleich ein Bewusstsein der eigenen Ohnmacht – der Nacktheit – bedeutet. Diese Erkenntnis löst die mit ihr verbundene Spannung jedoch nicht auf – im Gegenteil nährt sie sie im Angesicht der konstitutiven Zuordnung von Selbsterkenntnis, Gotteserkenntnis und Endlichkeitserkenntnis im Text immer wieder neu. So betrachtet, vollzieht sich in der erzählten Welt ein Prozess der Menschwerdung.29 MenschSein bedeutet in diesem Sinne eine dreifache Abhängigkeit, die der Text selbst abschreitet: Zunächst die Abhängigkeit von Systemakteur*innen und systemischen Störungen, schließlich die Abhängigkeit von der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit und damit
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Vgl. Georg Fischer, Genesis 1–11 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2018, 229. Dem Menschenpaar wird hier also in einem dialogischen Prozess erst das bewusst, was in der hebr. Bibel motivisch typisch mit ›Nacktheit‹ verbunden wird: eine umfassende Ohnmacht und Schutzlosigkeit (vgl. Schmitz, Mensch, 19 [Fußnote 11]). Vgl. Friedhelm Hartenstein, ›Und sie erkannten, dass sie nackt waren …‹ (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung, in: EvTh 65/4 (2005) 277–293, hier: 292. Ebd., 287 [Kursivierung im Original]. Vgl. Schmitz, Mensch, 18. Vgl. ebd., 20.
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drittens die Abhängigkeit vom ebenfalls verletzlichen Mitmenschen. Aus diesen Abhängigkeiten erwächst schließlich viertens das Bewusstsein um die Abhängigkeit von einem größeren Seinshorizont – Gott. Das im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits herausgearbeitete Komplexitätsparadigma und seine Verbindung mit dem Problemhorizont der Endlichkeit sind damit in Genesis 3 ätiologisch aufgearbeitet. Diese Ätiologie funktioniert nur, weil sie Anthropologie und Theologie aufeinander verweist: Erst im Angesicht der Bewusstwerdung seiner systemischen Einbindung und dem damit verbundenen Differenzerleben zwischen der eigenen Aktivität und der erlebten Passivität erkennt das erste Menschenpaar Gott als Gott. Auf die vorliegenden Überlegungen bezogen lässt sich sagen, dass sich in Gen 3 ein differenzhermeneutisches Verständnis transzendenter Erkenntnis herauskristallisiert. Die transzendenzbezogene Erkenntnis des Menschen wäre textintern ohne die spannungsreiche Einbettung der Erzählung zwischen menschlicher Beobachtung und göttlicher Zuwendung nicht denkbar. Textintern nimmt sich auch Gott dieser Spannung an, ohne sie auf Kosten des Selbstbewusstseins des Menschen aufzulösen. Vielmehr gibt er*sie sich der menschlichen Erkenntnis gegenüber als fürsorglicher, lebensspendender Gott zu erkennen und fertigt dem Menschenpaar Kleidung an (V.21).30 Zudem erwirkt er*sie eine topologische Transformation, die der anthropologischen Transformation entspricht: Von nun an »müssen sie [die Menschen; JU] für ihr Handeln Verantwortung übernehmen. […] Deswegen ist mit der Erkenntnis ein Leben in Eden aber nicht mehr möglich.«31 Die menschliche Erkenntnis und ihr Bezug auf die Beziehung zu Gott wird hier also zum Auslöser einer doppelten (relationalen und topographischen) Transformation stilisiert. Im vorliegenden Text kann man in einem ätiologischen Sinne die erstmalige Begegnung des Menschen mit sich selbst und in der Folge mit Gott als Gott beobachten – anthropologische Entwicklung und theologische Erkenntnis werden in dieser Ätiologie einander konstitutiv zugeordnet. Gen 3 erörtert, warum der Mensch als Mensch immer schon geprägt ist von »alienation, guilt, and the inevitability of death, and yet why humans still have this potential for life with God.«32 3. Menschliche Differenzerfahrungen mit offenbarungstheologischer Qualität Erst im Rahmen dieser veränderten Wahrnehmung erfolgt eine Verortung des menschlichen Lebens zwischen Immanenz und Transzendenz – angedeutet durch die göttliche Fürsorge auf der einen und die Ausweisung des Menschen aus der paradiesischen, scheinbar differenzlosen Relationstopologie in Eden. Es ergibt sich ein performativer Erkenntnisraum: Eva und Adam erlangen ein Grenzbewusstsein, in dessen Rahmen sich die Göttlichkeit Gottes fortan messen lassen muss. Dieser Prozess hat eine offenbarungstheologische Qualität für Eva und Adam, das heißt für das Menschsein im Ganzen: Die Offenbarung des fürsorgenden Gottes, der*die
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Vgl. Hartenstein, Beobachtungen, 277. Schmitz, Mensch, 20f. Bill T. Arnold, Genesis (NCBiC), Cambridge (MA) 2009, 73.
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um die Nacktheit der Menschen weiß und ihre Freiheit riskiert hat, ja sie sogar im Rahmen einer angepassten Topologie letztendlich ratifiziert, kommt im anthropologischen Differenzparadigma als Erkenntnisform immer schon zu spät. Dennoch entfaltet das neu gewonnene theologische Bewusstsein des Menschen im Entwicklungsgeschehen eine transformative Qualität: Es eröffnet die Möglichkeit einer neuen Selbstverortung des Menschen im Spannungsfeld zwischen Systemangewiesenheit, Umweltkomplexität und eigener Handlungsverantwortung. Die Erkenntnis dieser anthropologischen Grundsituation und ihrer konstitutiven Verbindung mit der Erkenntnis Gottes ergibt sich im Rahmen der biblischen Erzählung erst in mehreren Dialogschritten, die im Spannungsfeld zwischen der initiativen Schlange, dem neugierigen Menschenpaar und dem nun als transzendent entzogen erlebten Gott angesiedelt sind. Schöpfung ›gerinnt‹ hier zu einem relationalen Prozess. Gen 3 kann in diesem Sinne als ein narratives Paradebeispiel für die evolutive Rolle performativer Wissensformen verstanden werden. Die am Ende der Schöpfungserzählung stehende Menschheit kennt mehr als die Realität, die sie umgibt. In einem performanztheoretischen Rahmen lässt sich diese theologieproduktive Bewegung erneut auf die bereits in Kapitel 6.1 zitierte These Cornelia Richters beziehen: »Im Akt des Partizipierens erkennt sie sich als konstituierend und konstituiert sich zugleich – und zwar deshalb, weil sich über diesen stets methodisch geleiteten Akt des Partizipierens der umfassende Sinngrund – die Wahrheit – des Partizipieren-Könnens und Partizipiert-Seins performant erschlossen hat.«33 Diesen performativen Vollzug versucht der vorliegende Text zu materialisieren und narrativ mit Sinn aufzuladen. Auf diese Weise ergibt sich auch für jede*n Leser*in die Möglichkeit, ihn zu wiederholen. Die Bedingungen religiöser Materialisierung und ihrer Reaktivierung sind damit bleibend gelegt.34 In der Modellierung der vorliegenden Arbeit gesprochen, verdeutlicht die narrative Theologie des Textes das Zusammenspiel von systemischer Komplexität, Umweltgegebenheiten und menschlicher Evolution. Dieses Zusammenspiel lädt er zugleich mit einer Theologizität auf: Die menschliche Erkenntnis eröffnet in ihrer bleibenden Begrenztheit einen performativen Zugang nicht nur zu realen Mächten der Endlichkeit und der prekären Umwelt, sondern auch zur transzendenten Macht Gottes, in deren Angesicht die eigene Endlichkeit genauso wie die aktuale Zuwendung und Lebenskraft erst in ihrer Tragweite bewusstwird. Das transzendente Deutungsparadigma fügt sich hier narrativ in den Prozess der Menschwerdung ein – die Erfahrbarkeit der Göttlichkeit Gottes hängt an der bewussten Ambivalenzerfahrung des Menschseins. ***
33 34
Richter, Wahrheit, 36. Hier erschließt sich beispielhaft auch der starke Schriftbezug Karl Barths im Rahmen seines aktual-relationalen Offenbarungsverständnisses. Er bezieht sich auf die dargelegte Abhängigkeit der Theologie von dialogischen Erkenntnisprozessen und ihrer immanenten, textuellen Materialisierung angesichts der menschlichen Begrenztheit.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Die dargestellte Dialektik zwischen einer soziokulturellen Verortung religiöser Transzendenzbezüge im Diskurs und der ihnen inhärenten transzendenten Überschreitung systemischer Grenzziehungen spitzt sich durch die evolutionsanthropologisch orientierte Umstellung der offenbarungstheologischen Grundlage zu. Menschen gehen mit der Evolution intentional um und benennen die systemischen Herausforderungen als solche. Das heißt, in transzendenten Narrativen ist immer ein ›Mehr‹ gegenüber systemischen Automatismen und kontingenten Emergenzen vorausgesetzt und in dieser Aussagelogik als virtueller Raum aktualisiert. Zugleich verweisen sowohl die kognitive Metapherntheorie in ihrer Rede von Konzeptsystemen als auch die Komplexitätsforschung auf die nicht-intentionale, systemische Eingebundenheit symbolischer Weltzugänge. Diese lassen sich analytisch nicht ausschließlich auf intentionale Akteur*innen zurückbeziehen. Religiöse Symbole sind sowohl in ihrer evolutiven Entstehungsgrundlage als auch in ihren weiteren Auswirkungsgefügen in Sachverhalte konkreter Umweltgegebenheiten involviert: Sie sind »Ergebnisse und Auslöser systemischer Eigenwirksamkeiten«35 , deren emergierende Feedbackschleifen nicht direkt steuerbar sind. Zugleich insistiert das aktual-performative Religionsverständnis auch weiterhin auf die Rolle, die konkrete Subjekte und ihre Weltwahrnehmung im Evolutionsprozess spielen. Es nimmt damit eine kritische Distanzierung von systemtheoretisch begründeten Automatismen vor und geht davon aus, dass religiöse Rituale und Symbolsysteme in genau diesem Spannungsfeld reflexive Diskursräume eröffnen. Dieses Grundverständnis ist im Folgenden weiter zu prüfen und auch soziologisch zu plausibilisieren.
8.3. Religiöse Vollzüge – Gefangene im System oder Auslöser systemischer Eigenwirksamkeiten? Im bisherigen Verlauf des zweiten Hauptteils der vorliegenden Arbeit verbinden sich auf dieser Grundlage intentional gesetzte Kommunikationsformen mit den Voraussetzungen, Grenzen und kontingenten Gegebenheiten der biologischen und sozialen Umwelt. Die dadurch metaperspektivisch zur Sprache gebrachte Systemlogik ist als solche erst in der versuchten Virtualisierung von Systemausbrüchen hinterfragbar. Sie selbst kann jedoch nur innerhalb der Grenzen des Systems bearbeitet werden. Zugleich ergeben sich aus diesem Virtualisierungsprozess mögliche reale Systemverschiebungen, wenn religiöse Vollzüge eine axiale Heuristik einbringen. Es entsteht dann ein nicht ohne weiteres auflösbares, aber mitunter produktives Spannungsgefüge. Innerhalb dieses Spannungsgefüges ist zu erörtern, ob und wie religiöse Vollzüge als eigenständige evolutionssystemische Akteure verstanden werden können und welche Rolle dabei die intentional agierenden menschlichen Einzelsubjekte und Kollektive spielen. Der permanente Prozess einer Gleichgewichtsbildung zwischen der Flexibilisierung von Systemen und ihrer Absicherung und Stabilisierung gegenüber Nachbarsystemen sowie der Umwelt konnte als Grundprinzip der Komplexitätsentwicklung bereits herausgearbeitet werden. In zahlreichen Modellierungen und Sozialanalysen wurde deut35
Wörtlich zitiert aus der Religionsdefinition in Kapitel 8.
8. Definitorische Vermessung
lich, dass es zu keinem Zeitpunkt zu einer Auflösung in absolute Stabilität oder absolute Flexibilität kommt, sondern vielmehr die permanente Suche nach einem Gleichgewicht beider Faktoren zu systemischer Resilienz führt. Auch methodisch ist damit keine einfache Logik der linearen Schlussfolgerungen zur Analyse evolutiver Prozesse und der Rolle kultureller und religiöser Systembildungen in diesen Prozessen mehr möglich.36 Einfache Rückschlüsse auf ein Schema aus Ursache und Wirkung verschwimmen angesichts komplexer, multipler Einflussfaktoren.37 Diese Erkenntnis verlangt nach einer konzisen Verhältnisbestimmung zwischen kommunikativer Handlungsautonomie und umweltbezogener wie sozialsystemischer Eingebundenheit religiöser Erkenntnisformen. Religiöse Codes und Praktiken reagieren auf ein in der Dynamik von Flexibilisierung und Stabilisierung entstehendes Komplexitätsproblem. Sie stellen in diesem Sinne autonome Reflexionsräume dar, die einen Ausbruch aus systemischen Automatismen in Form einer Virtualisierung erproben. Zugleich machen sie bewusst, dass ein solcher Ausbruch seinerseits immer schon Systemlogiken untersteht. Er geschieht im Wechselspiel aus flexibler, kreativer Kognitionsarbeit und interner wie externer systemischer Abhängigkeit. Transzendenzbezüge sind also keine autonomen Abkopplungen handelnder Subjekte aus dem evolutiven Prozess. Dennoch konnte gezeigt werden: Religiöse Codierungen und rituelle Handlungsweisen können im Sinne einer performativen Wirksamkeit transformative Bewegungen anregen und Systemumstellungen (etwa auf der Grundlage einer axialen Kritik) begünstigen. Als Resilienzfaktor unterliegt die Erschließung transzendenter Codierungen und Deutungsfolien damit immer sowohl externen Flexibilisierungszwängen als auch autonomen Reflexionsströmen und Stabilisierungsbewegungen durch intentional handelnde Akteur*innen. Diese Beobachtungen verlangen nach einer soziologischen Präzisierung. Sie kreist um die Einordnung religiöser Narrative und Handlungen zwischen systemischen Gefügen und handlungstheoretischen Reflexionsbewegungen. Eine solche Verhältnisbestimmung ist auch fundamentaltheologisch nicht trivial: 1. Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Ort der Religion stellt sich in verschärfter Form, wenn er weder auf eine*n menschliche*n noch auf eine*n außerweltlich geglaubte*n Akteur*in reduziert werden kann. Er kann dann lediglich als prozesshaftes Zusammenspiel multipler, veränderbarer Faktoren erschlossen werden. 2. Ein christlicherseits mit dem Code ›Gott‹ verbundenes personales Gottesbild ist insofern auf die Probe gestellt, als dass es auf subjektive Relationalitäten aufbaut, deren systemische Unzulänglichkeiten im Rahmen gängiger, stark subjektivistisch ausgerichteter Offenbarungskonzeptionen bis dato kaum konsequent eingetragen wurden. Das betrifft ebenso freiheitstheologische Konzeptionen der theologischen Anthropologie und ihre Modellierung subjektbezogener, autarker Glaubensvollzüge. 3. Wenn religiöse Narrative und rituelle Handlungen vor dem Hintergrund der evolutionären Anthropologie als performativ wirksame Beanspruchungen der Wirklichkeit eingeführt werden sollen, dann ist also zu klären, wie sie im Spannungsfeld zwi36 37
Vgl. Mitchell, Komplexitäten, 133. Vgl. ebd., 150.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
schen systemischen Abläufen und intersubjektiven, intentionalen Kommunikationsprozessen einzuordnen sind. Ist eine theologische Ausdeutung religiöser Performanz in der Unauflösbarkeit des evolutiven Spannungsfeldes überhaupt vernunftbegründet möglich? Verschärft ausgedrückt: Ist im evolutiven Prozess angesichts der Unmöglichkeit subjektivistischer Linearitäten ein theologisch fundierter erkenntnistheoretischer Ort der Religion überhaupt zu plausibilisieren? Bereits der Rückbezug auf die Schrifthermeneutik bei Karl Barth und auf die Konstitution Dei Verbum (vgl. Kapitel 7.3 und 7.3.4) zeigt: Vom untersuchten Gegenstand aus betrachtet, steht eine erkenntnistheoretische und methodologischen Umstellung an.38 Nur, wenn sich sowohl theoriehistorisch als auch methodologisch aufzeigen lässt, dass sich die verschiedenen Modellierungen und Verhältnisbestimmungen der Trias System – Umwelt – Kommunikation miteinander in Einklang bringen lassen, kann für religiöse Sinnbildungen tatsächlich ein eigener erkenntnistheoretischer Ort erschlossen werden. Eine entsprechende integrative Modellierung muss ernstnehmen, dass die angesprochene Suche nach dem ›Sinn des Sinns‹ als solche immer schon auf konkrete Systemgegebenheiten reagiert, sie reflektiert und dadurch zugleich immer auch eine transformativ-performative Kraft entfaltet, die die geprägten Systemlogiken aufsprengt. Methodologisch geht es hier um die Verortung von Sinn im multilinearen Gefüge aus Systemsinn, Kommunikationssinn und dem virtualisierten Raum eines übergeordneten ›Sinn des Sinns‹. Hans Joas fasst diesen soziologischen Herausforderungsrahmen treffend ins Wort, indem er fragt: »Haben wir uns Differenzierungsprozesse so vorzustellen, daß sie gewissermaßen durch die Intentionen von Handelnden hindurchgreifen und sich unabhängig von diesen verwirklichen, oder brauchen Differenzierungsprozesse Akteure, die sich einen durch Differenzierung erzielbaren Effizienzgewinn oder aus anderen Gründen Differenzierung selbst als Ziel setzen? Warum aber setzen Akteure sich ein solches Ziel: weil sie es als wertvoll empfinden oder weil es bestimmten ihrer Interessen dient?«39 Joas skizziert hier präzise die Doppelbödigkeit der zu klärenden soziologischen Verhältnisbestimmung: Zum einen benennt er die bereits aufgezeigte Offenheit einer Verhältnisbestimmung zwischen personalen Intentionen und unabhängigen Differenzierungssystematiken. Zum anderen geht es ihm um eine Einordnung konkret zu beobachtender Intentionsgefüge angesichts ihrer Motivationsgrundlage: Ordnen sie sich im jeweils
38
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Einen ersten Ausgangspunkt für eine soziologische Herangehensweise an das Herausforderungssetting konnte bereits der Verweis auf die Ordnungstheorie von Talcott Parsons liefern (vgl. dazu den Exkurskasten in Kapitel 4.2.2). Er unternimmt den Versuch, sozialen Wandel konsequent multidimensional zu beschreiben. Im Rahmen seines semiotischen Kulturbegriffs skizziert Parsons die Umwelt des Organismus’ in einem Interdependenzverhältnis zum Erwartungssystem kultureller Bedeutungskonstrukte. (Vgl. Brandt, Handeln, 131.) Dieses Kulturverständnis lässt sich an die angesprochene Vermittlungsfunktion religiöser Systeme im Spannungsfeld zwischen Umweltfaktoren, systemischen Gefügen und konkreten Kommunikationshandlungen anschließen. Hans Joas, Die Kreativität des Handelns (Stw 1248), Frankfurt a.M. 4 2012, 331.
8. Definitorische Vermessung
konkret zu untersuchenden Fall dem Ziel eines ausdifferenzierten Effizienzgewinns unter? Oder werden darüber hinaus auch eigene Wertekausalitäten der verfolgten Zielsetzungen kommunikativ explizit gemacht? Die aufgerufenen Fragen verdeutlichen nochmals die methodologische Grundspannung religionsevolutiver Analysen und ihrer theologischen Reflexion. Im Verlauf der bisherigen Ausführungen konnten sie bereits einer präzisierenden Einordnung unterzogen werden. Sie wurde in Form einer heuristischen Religionsdefinition zusammengefasst. Die eingetragene Religionsdefinition verweist schließlich auf die Notwendigkeit einer soziologischen Rekapitulation. Die Ausgangslage zu diesem soziologischen Bezug kann in Form einer graphischen Übersicht zusammengefasst werden:
Abbildung 6: Das religionsevolutive Spannungsfeld als erkenntnistheoretischer Herausforderungsrahmen [eigene Graphik; JU].
Es gilt nun, die noch offenen methodologischen Grundentscheidungen angesichts des dargelegten Spannungsfeldes zu präzisieren, um eine mögliche weitere Bearbeitung zugunsten einer fundamentaltheologischen Orientierung auszuloten. Die genaue Verhältnisbestimmung zwischen Sozialsystem, Umweltbedingungen und kommunikativen Aushandlungsprozessen im Zuge religiöser Sinnproduktion ist dabei erkenntnistheoretisch keineswegs trivial. Vielmehr geht es hier um eine Verhältnisbestimmung evolutionswissenschaftlicher und theologischer Epistemologien im interdisziplinären Diskurs. Ihr soll in Form einer dritten Scharnierbildung hin zur theologischen Einordnung des erkenntnistheoretischen Status der Religionsevolution nachgegangen werden (Kapitel 9).
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Dabei liegt der Fokus auf der soziologischen Kontroverse um die Theoriearchitekturen der System- und Handlungstheorie.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
Die Verhältnisbestimmung zwischen individueller und kollektiver Handlungsintentionalität auf der einen und systemimmanenten und kontingenten Emergenzen auf der anderen Seite wurde als Spannungsfeld aufgezeigt und jeweils für sich genommen plausibilisiert. Inwieweit daraus ein universal wirksames Zusammenspiel evolutiver Faktoren wird und wo welche Einflussfaktoren greifen, konnte dagegen bis dato noch nicht hinreichend analysiert und theoretisch eingefasst werden. Bei der Differenzierung der Ergebniskomplexe in auf Zukunft ausgerichtete Intentionalität von Handlungsakteur*innen, performative Sinnerschließungen und innersystemische Funktionalitäten handelt es sich jedoch um kein definitorisches Glasperlenspiel. An der Frage, ob performative Sinnnarrative innerhalb systemischer Logiken evolutiver Entwicklungsmechanismen Bestand haben können, entscheidet sich nämlich, welcher epistemische Status religiösen Handlungen im evolutiven Prozess zugewiesen werden kann. Zugleich ist damit eine erkenntnistheoretische Spur gelegt, die die reflexive Einholung des dialektischen Verhältnisses zwischen systemischen Selektionszwängen und intentionalen Handlungssträngen als entwicklungsgeschichtlichen Ort religiöser Sinnnarrative nahelegt. Vor dem Hintergrund der spielerisch-liminalen Analysen der Religionsevolution bei Robert Bellah sowie des metaperspektivischen Sinnverständnisses Volker Gerhardts wurde deutlich, dass das Spannungsfeld zwischen systemimmanenten Emergenzen und einer reflexiven Einholung dieser Systemprozesse konkrete Handlungsspielräume im Rahmen ritueller und narrativer Transzendenzdiskurse eröffnet. Dabei werden die Grenzen systemischer Logiken jedoch nicht verlassen. Diese innerevolutiven Spannungsfelder verweisen wie gezeigt auf einen methodologischen Problemhorizont, den Derrida mit der von ihm in der Metapher der ›différance‹ beschriebenen Unabschließbarkeit intentionaler Sinnsuche benennt. Diese unabschließbare Einbettung jeder Handlung in nicht einholbare Systemlogiken betrifft auf theoriehistorischer Ebene auch die soziologische Verhältnisbestimmung zwischen der Systemtheorie und handlungstheoretisch-intersubjektiv orientierten Ansätzen. Die Kontroverse um diese Verhältnisbestimmung bietet die Möglichkeit einer soziologischen Relecture des vorgeschlagenen Religionsbegriffs. Das vorliegende Kapitel
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
fokussiert sich dazu auf die Auseinandersetzung zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Sie ermöglicht eine begründete und ausgewogene Gewichtung von handlungs- und kommunikationstheoretischen gegenüber systemtheoretischen Ansätzen. Die Theoriekontroverse verdeutlicht die wissenschaftstheoretische Relevanz einer Rekombination dieser Spannungsfelder soziokultureller Entwicklungstheorien. Darüber hinaus spielt sie auch auf die spezifisch theologische Einholung der Begründungs- und Leistungsfähigkeit religiöser Performanzen an: Ob eine als performativ gekennzeichnete Handlungslogik religiöser Provenienz auch auf systemische Logiken außerhalb ihrer selbst Einfluss haben kann, entscheidet darüber, welche realitätsbezogene Gültigkeit Transzendenzcodes im soziokulturellen Entwicklungsprozess begründet beanspruchen können. Hier zeigt sich sodann, ob religiösen Narrativen und Handlungen als solchen ein Erkenntnisort im evolutiven Prozess zukommt und wie dieser zu grundieren sein könnte. Es ergeben sich direkte Rezeptionsverbindungen zwischen den bereits konsultierten religionssoziologischen Modellierungen und den kontroversen Überlegungen von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, deren passgenaue Einbettung in den vorliegenden Arbeitskontext auf diese Weise explizit gemacht werden kann. Parallel kristallisieren sich im Folgenden neue Möglichkeiten einer interdisziplinär angelegten religionssoziologischen und theologischen Ergebnisinterpretation der Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie heraus. In diesem Sinne verstehen sich die folgenden Ausführungen als drittes Scharnier einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Propädeutik im Vorlauf zu einer theologischen Rezeption und Reflexion des evolutiven Religionsverständnisses.
9.1. Die Kontroverse zwischen Luhmann und Habermas im religionsevolutiven Spannungsfeld Dass die sozialevolutive Verhältnisbestimmung zwischen Kommunikationshandlungen, systemischer Selbstorganisation und einer Bearbeitung von Umwelteffekten auch für das Verständnis von Religionen und ihrem Erkenntnisgehalt drängend ist, konnte in den vorhergehenden Kapiteln veranschaulicht werden. So nimmt es wenig Wunder, dass auch die Theoriediskurse von (kommunikativer) Handlungs- und Systemtheorie immer wieder religionssoziologische Anknüpfungslinien aufweisen. Im Fall der für Niklas Luhmann und Jürgen Habermas prägenden Rezeptionssettings ergibt sich ein direkter Anschluss auch an die im Rahmen dieser Arbeit schon konsultierten Religionssoziologien. Eine konkrete Verbindung markieren die über Robert Bellah und Shmuel Eisenstadt nachvollzogenen Theorielinien zu Talcott Parsons.1 Die in der sozialwissenschaftlichen Debatte beteiligten Disputanten Jürgen Habermas und Niklas Luhmann stehen beide – ganz in der Tradition von Talcott Parsons – vor der Herausforderung, den handlungstheoretisch geprägten Sinnbegriff mit systemtheoretischen Grundannahmen
1
Vgl. Assmann, Achsenzeit, 267.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
zu verbinden.2 Bereits Parsons wählt zu diesem Zweck einen genealogischen Anweg über die Entwicklung von Gesellschaftssystemen.3 Dieser Grundintention folgen auch die Theoriebildungen von Luhmann und Habermas. Vor dem angezeigten Hintergrund lässt sich erklären, warum Jürgen Habermas die Erkenntnisse Bellahs und Eisenstadts in seine genealogischen und handlungstheoretischen Überlegungen einfließen lässt. Nicht zufällig widmet er mit seinem zwei Bände starken Alterswerk4 der Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen in Form einer religions- und philosophiehistorischen Genealogie etwa 1700 Textseiten. Dabei schlägt er unter sozialphilosophischen Erkenntnisinteressen einen ähnlich breiten Bogen wie Robert Bellah, wenn er etwa bei Arbeiten Michael Tomasellos zur menschlichen Identitätsentwicklung ansetzt.5 Den dadurch gewonnenen evolutiven Erkenntnisrahmen verbindet er über die Sprachpragmatik mit seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns. Hier verknüpft er die aufgezeigte Genealogie konsequent mit seinen intersubjektiven, diskursethisch ausgerichteten Theoriebildungen früherer Tage sowie seiner religionsphilosophischen Öffnung der 2000er Jahre.6 Niklas Luhmann schlägt ausgehend von den Theoriebildungen Parsons’ zunächst einen ganz anderen Weg ein. Das liegt an seinem spezifischen Rezeptionsinteresse. »Luhmann interessierte sich nämlich nicht für die Parsonssche Handlungstheorie; der gesamte frühe Parsons schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Was er dem Parsonsschen Werk entnahm, waren die strukturfunktionalistischen bzw. systemtheoretischen Denkfiguren […].«7 Er exkludiert entsprechend einen Fokuspunkt der Theoriebildung von Talcott Parsons, der in dessen Werk noch in einem zusammenhängenden Denkprozess handlungs- und systemtheoretische Überlegungen verband.8 Luhmann wählt stattdessen, mit dem Ziel der Auflösung theoretischer Spannungen zwischen verschiedenen soziologischen Ansätzen, die Universalisierung funktional gedachter, systemischer Differenzierungen.9
2
3 4 5 6
7 8
9
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 142–290, hier: 181. Vgl. Parsons, Gesellschaften. Habermas, Geschichte I; sowie Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd.2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, 2 Bde., Berlin 3 2019. Vgl. Habermas, Geschichte I, 234–237. Vgl. dazu Ders., Glauben und Wissen. Dankesrede, Verleihung Friedenspreis des dt. Buchhandels 2001. URL: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit -1950/2000-2009/juergen-habermas [Abruf: 4. Mai 2021]. Joas – Knöbl, Sozialtheorie, 355. Habermas kritisiert diesen durch Luhmann gewählten Fokus als unbegründet und moniert, sein Vorgehen stilisiere »die funktionalistische Analyse [als; JU] den einzigen zulässigen Weg der Rationalisierung von Entscheidungen.« (Habermas, Theorie, 144). Vgl. Joas – Knöbl, Sozialtheorie, 351. Entsprechend benennt Luhmann auch seinen einführenden Aufsatz in der mit Jürgen Habermas gemeinsam veröffentlichten Theorie-Diskussion (vgl. Niklas Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Jürgen Haber-
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Die verschiedenen Theorielinien, ausgehend von ähnlichen Rezeptionsgrundlagen und Problemhorizonten, ergeben sich also aus den unterschiedlichen Interessenschwerpunkten bei Habermas und Luhmann. Es lässt sich feststellen, dass »Habermas von den Leistungen der Sprache begeistert war und genau deshalb ein besonderes Interesse für die rationale Kraft der freien Diskussion und die Bedeutung der politischen Öffentlichkeit entwickelte, [stattdessen; JU] war Luhmann fasziniert von den Leistungen bürokratischer Institutionen und den Verfahren, die formale Organisationen entwickeln, um sich in einer Umwelt behaupten, von dieser abgrenzen und in großer Routine funktionieren zu können.«10 Bereits auf Grundlage dieser knappen Gegenüberstellung wird deutlich, warum die verschiedenen Schwerpunkte und die Auseinandersetzung um eine adäquate Priorisierung in der Soziologie für die Erörterung und Begründung der evolutiven Rolle menschlicher Religionsausübung von methodologischer Bedeutung sind. Über die Soziologie und Sozialphilosophie ist hier ein Problemhorizont angedeutet, der im Interesse des fundamentaltheologischen Herausforderungsprofils der vorliegenden Arbeit unbedingt weiterzuverfolgen ist. Es geht darum, ob die verschiedenen Schwerpunktsetzungen, die auch in den Theoriebildungen der evolutionären Anthropologie zu beobachten sind, zusammengedacht werden können. Darüber hinaus ist offen, inwieweit an Transzendenz orientierte Praktiken und Narrative sich als verbindender Faktor sowohl funktional-systemischer Abläufe als auch intersubjektiv-kommunikativer Aushandlungsprozesse erweisen können. Diese mögliche Verzahnung deutet sich in der aufgestellten Religionsdefinition an, bedarf jedoch einer begründeten Überprüfung. Dazu kann der angestrebte Methodenvergleich einen Beitrag leisten. Er betrifft den Kern des herausgearbeiteten triadischen Spannungsfeldes zwischen System, Umwelt und Kommunikation. Nur in diesem Rahmen kann religiöse Sinnbildung evolutiv beanspruchen, einen eigenen erkenntnistheoretischen Ort zu erschließen. Sie versteht sich als ein intentional erhandelter Wirklichkeitszugang und ist als solcher in reale Systemgrenzen verwoben, die sie zugleich temporär sprengt. Das Aufdecken von Konfliktlinien im soziologischen und sozialphilosophischen Feld hilft vor diesem religionsevolutiven Hintergrund dabei, den hypothetisch beanspruchten performativen Gehalt religiöser Codierungen auch soziologisch und evolutionsanthropologisch im Sinne eines beziehungsbasierten Handlungsfaktors mit systemisch wirksamer Einbindung rückübersetzen können. Diese Ausgangslage und ihre Einbettung in den vorliegenden Arbeitskontext lassen sich graphisch vereinfacht schematisieren (vgl. Abbildung 7).
10
mas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 7–24). Joas – Knöbl, Sozialtheorie, 365.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
Abbildung 7: Theorielinien und kontroverse Fragehorizonte zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann [eigene Graphik; JU].
Die Übersicht verdeutlicht die Grundlinien der jeweiligen Theoriebildungen bei Luhmann und Habermas auf der Grundlage ihrer inhaltlichen Verbindungen in die vorliegende Arbeit hinein. Luhmann und Habermas interessieren sich gleichermaßen dafür, einen umfassenden Gesellschaftsbegriff im Rahmen einer Modellierung sozialer Genese zu etablieren. Beide stehen dabei, wie bereits erwähnt, in der Tradition von Talcott Parsons und seinem Versuch, systemische Funktionskomponenten mit intentionalen Handlungsaspekten in einer universalen Gesellschaftstheorie zu verbinden. Aus dieser Tradition leiten Luhmann und Habermas jedoch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ab, die weitreichende Konsequenzen für ihre jeweiligen Theoriearchitekturen haben. So steht Habermas in einer handlungs- und kommunikationstheoretisch orientierten Rezeptionstradition, die sich explizit auch mit den hier bereits behandelten sozialevolutiven Modernitätstheorien von Shmuel Eisenstadt und ihrer religionssoziologischen Fortsetzung bei Robert Bellah verbinden. Niklas Luhmann fokussiert die Genese gesellschaftlicher Systematiken dagegen auf autopoietische Prozesse. Sie basieren ihm zufolge auf einer stetigen Komplexitätsreduktion durch selektive Abgrenzungen zwischen Einzelsystemen und ihrem Verhältnis zur multiplen, kontingenten Möglichkeitswelt. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zeigen: Bei Luhmann ist ›Funktion‹ immer schon als systemischer Treiber vorausgesetzt. Habermas fragt dagegen nach den kommunikativen Bedingungen, unter denen ›Funktionen‹ entstehen und eingesetzt werden. Der gemeinsame Rezeptionshorizont und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen soziologischen Modellierungen deuten den Kern der zugrundeliegenden Debatte an. Sie lässt sich direkt an das herausgearbeitete Spannungsfeld der evolutionsanthropologisch informierten, methodologischen Umstellungen im Religionsverständnis der vorliegenden Arbeit anschließen: Das grundgelegte performative Modell der Sinnerschließung setzt – im Anschluss an kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse etwa Michael Tomasellos und in Bezug auf axiale Heuristiken der Religionsevolution – zunächst einen stark intentional-in-
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tersubjektiv ausgerichteten Schwerpunkt. Zugleich lenken komplexitätstheoretische Anforderungsprofile sowie differenzhermeneutisch ausgerichtete Dekonstruktionen einer intersubjektiven Zentriertheit den Blick auf eine notwendige methodologische Rekonstruktion der systemischen Gebundenheit (religions-)evolutiver Prozesse. Um die Verhältnisbestimmung beider Bereiche kreist auch die Debatte zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Sie eignet sich daher zur Schärfung des fundamentaltheologischen Herausforderungssettings, das ein evolutionsanthropologisch aufgeschlossener Religionsbegriff hervorruft. Der im Sinne eines Scharnierkapitels heuristisch ausgerichtete Methodenvergleich beansprucht nicht, eine umfassende und erschöpfende Beschäftigung mit den Theoriegebäuden von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas liefern zu können. Vielmehr soll es hier um die Analyse der von beiden Theoretikern selbst ausgemachten Zentralfragen der Debatte im Rahmen ihrer Theoriediskussion gehen.11 Im Anschluss an die unterschiedlich verlaufenden analytischen Grundentscheidungen ergeben sich zwischen Habermas und Luhmann divergierende Grundlegungen des Kernbegriffs ›Sinn‹, auf den sich die folgenden Detailbetrachtungen fokussieren (Kapitel 9.1.1 und 9.1.2). Die Theorienrezeption nimmt in ihrer Betrachtung der jeweiligen Sinnverständnisse insbesondere folgende Fragen in den Blick: Kann das Modell performativ wirksamer Sinnnarrative innerhalb systemischer Logiken evolutiver Entwicklungsmechanismen Bestand haben? Und ist dazu eine reflexive Einholung des dialektischen Verhältnisses zwischen systemischer Differenzierung und intentionalem Handeln selbst als ein erkenntnistheoretischer Ort religiöser Sinnnarrative zu verstehen? Unter diesem Fokus gilt es, die soziologischen Grundentscheidungen der beiden Theoretiker in ihrer jeweiligen Auswirkung auf die Analyse und das Verständnis der sozialen Evolution zuzuspitzen und erkenntnistheoretische Ableitungen für die vorliegende Arbeit sichtbar zu machen. Diese Ableitungen münden schließlich in der Skizzierung einer theologisch leistungsfähigen Rekombination beider Theorien zugunsten eines geschärften performativen, evolutionstheoretisch informierten Religionsbegriffs. Im heuristischen Interesse der vorliegenden Arbeit ergibt sich an dieser Stelle der Versuch, die aufgezeigte Performanz differenzhermeneutisch basierter Bruchmomente im soziologischen Spannungsfeld aus Intersubjektivität und systemischer Funktionalität als ein religionsevolutives und theologisches Erkenntnisfeld zu verstehen. Dabei dient die Bezugnahme auf das operative Gesellschaftsmodell Armin Nassehis abschließend als ein wichtiger Theorieimpuls (Kapitel 9.2).
9.1.1.
›Sinn‹ als soziologischer und religionsevolutiver Grundbegriff bei Habermas
Jürgen Habermas insistiert auf den Primat intersubjektiv-diskursiver Kommunikationshandlungen, wenn es um die Bearbeitung komplexer Herausforderungslagen geht. Er spricht Diskursen eine eigene Wirksamkeit zu, die sich von temporären Interaktionszusammenhängen emanzipiert. Die Entstehung solcher kommunikativen 11
Vgl. Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
Korrelate (etwa durch Institutionalisierungen) ordnet er jedoch als Ergebnis eines intersubjektiven Konsenses ein. Dieser lässt sich Habermas zufolge nicht erschöpfend in der systemischen Reduktion von Weltkomplexität darstellen. Habermas verweist also gegenüber Luhmann auf eine stark handlungstheoretisch verstandene Bedeutung konkreter, subjektiver Kommunikationssituationen und argumentiert damit im Rahmen von sozialstruktureller Kausalität. Diese Kausalität lässt sich nach Habermas auf intersubjektive Verständigungssituationen hin deduzieren.12 Habermas wirft Luhmann vor diesem Hintergrund einen Kategorienfehler vor, der auf die konkrete Zuspitzung des Debattensettings auf die Einordnung eines (universalen) Sinnbegriffs hindeute. Er bemängelt: »Solange Luhmann am systemtheoretischen Rahmen festhält, kann er den Grundbegriff ›Reduktion von Weltkomplexität‹ nur mit Bezugnahme auf das Problem der Bestandserhaltung selbstgeregelter Systeme einführen. […] Luhmann macht gleichwohl den Versuch, ein ›letztes‹ Bezugsproblem zu suchen, ›das keine systemstrukturellen Voraussetzungen mehr impliziert‹.«13 Mit diesem ›letzten Bezugsproblem‹ spricht Habermas in der Diskussion um sinnhafte Anlagen gesellschaftlicher Settings und Normzusammenhänge das an, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit Gerhardt als ›Sinn des Sinns‹ beziehungsweise mit Derrida als sich immer wieder selbst auflösende ›Spur der Spur‹ qualifiziert wurde. Habermas erkennt hier eine Leerstelle in den Theoriebildungen Luhmanns hinsichtlich der intersubjektiven Verortung des Sinnbezugs. Für ihn besteht der »Sinn des Sinnes […] zunächst darin, daß er intersubjektiv geteilt werden, daß er für eine Gemeinschaft von Sprechern und Handelnden identisch sein kann.«14 Dieser Ansicht verschließe sich Luhmann.15 Über systemische Kommunikationsabläufe hinaus insistiert Habermas daher auf das notwendige Mitlaufen einer kommunikativen Metaperspektive im Sinne »einer Verständigung auf der Ebene der Intersubjektivität über den bestimmten pragmatischen Sinn der Kommunikation […].«16 Dennoch wird im Verlauf seiner Theoriebildungen deutlich, dass auch Habermas auf systemische Organisationseinheiten im Gefüge der gesamtgesellschaftlichen Genese nicht einfach verzichten kann. Habermas erkennt hier über den Primat des kommunikativen Handelns hinaus an, dass ein universaler Gesellschaftsbegriff auch im Stande sein muss, systemische Emergenzen zu integrieren. Entsprechende Standardisierungsformen bindet Habermas jedoch weiterhin an Kommunikationshandlungen zurück. Sie be-
12 13
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Vgl. Habermas, Theorie, 186f. Ebd., 153. Habermas verweist hier wörtlich auf Niklas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 6 1991, 113–136, hier: 115. Habermas, Theorie, 188. Vgl. ebd. Ders., Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, Vorlage für Zwecke einer Seminardiskussion, in: Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 101–141, hier: 106.
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trachtet er allerdings zugleich als systemisch gesteuert und zugunsten einer Komplexitätsreduktion gefestigt. Er spricht in diesem Zusammenhang von »systemisch versachlichte[n] Handlungsbereiche[n]«17 . Seine Modellierung lässt sich entsprechend zweigeteilt darstellen. Ein Fokus liegt klar auf sozialen Integrationsmechanismen durch intersubjektive Aushandlungsprozesse. Es ergibt sich die in Abbildung 8 gezeigte Systematisierung.
Abbildung 8: Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie (transcript Sozialtheorie), Bielefeld 2020, 132.
Das Zusammenspiel sozialer und systemischer Integrationsprozesse ist für Habermas hinsichtlich der Entwicklung eines kritischen Gesellschaftsbewusstseins von übergeordneter Bedeutung. Er unterstreicht die eigene Rolle der Unterscheidung zwischen Beschränkungen der Freiheit durch Umweltprozesse und soziale Abhängigkeiten auf der einen Seite und hinterfragbaren, kontingenten Normenkatalogen auf der anderen Seite. Die Geltungsansprüche von Normen könnten, anders als grundlegende materiale und soziale Abhängigkeitsgefüge, aktiv hinterfragt und kritisiert werden. Diesem Bewusstsein spricht Habermas eine selbstaufklärerische Gestaltungsmacht zu, die für ihn deutlich über eine funktionale, rein systemisch bedingte Komplexitätsreduktion hinausgeht. Er hält fest: »Dieser Prozeß der Selbstaufklärung vergesellschafteter Individuen über das, was sie wollen würden, wenn sie wüßten, was sie wollen könnten, ist freilich nicht unter Re-
17
Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (Stw 749), Frankfurt a.M. 1988, 408.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
duktion von Weltkomplexität zu fassen, da die effektive Erhaltung des Systembestandes ihrerseits die angemessene Definition des Bestandes schon voraussetzt.«18 Zum einen geht Habermas hier von einem gegebenen Grundbestand gesellschaftlicher Regularien aus. Ihn verortet er jenseits der systemischen Logik funktionaler Komplexitätsreduktion. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von »Hintergrundwissen«19 und »Vorverständigtsein«20 . Dieses Wissen versteht er als spezifische Erkenntnisform, in der »der subjektive Geist mit dem objektiven Geist als seinem lebensweltlichen Hintergrund ›immer schon‹ vertraut ist.«21 Habermas setzt damit voraus, dass sich das komplexe Entwicklungssetting mit Hilfe des Sprachsystems (systemische Komponente) kognitiv vom Menschen erfassen und verarbeiten lässt (soziale Handlungskomponente). Er insistiert innerhalb dieser systemischen Anbindung durch komplexe Umweltbedingtheiten und sprachliche Standardisierungen also auf die Möglichkeit einer direkten und bewussten Interaktion des Vernunftsubjektes mit den systemischen Bedingtheiten: Das Subjekt formt eine Lebenswelt, die auf aktiven, intersubjektiv verfassten Lernprozessen beruht. Dieser Fokuspunkt schlägt sich auch im sozialevolutiven Grundverständnis von Habermas nieder: Er diagnostiziert aus der Rezeption Michael Tomasellos und Robert Bellahs einen Bruch im »Auftreten von Homo sapiens mit der Form sprachlicher Vergesellschaftung im naturalistisch vorausgesetzten Kontinuum zwischen der natürlichen Evolution der Arten einerseits und der Geschichte soziokultureller Lebensformen andererseits […].«22 Die hier aufgerufene Unterscheidung zwischen Evolution auf der einen und soziokulturell gestalteter Geschichte auf der anderen Seite hat auch Auswirkungen auf das Religionsverständnis von Habermas. Er versucht einerseits, religiöse Narrative und Rituale rationalistisch umfassend aus dem theologisch geprägten Glaubensbereich abzukoppeln und immer schon an stabilisierende Begründungsfaktoren zu binden.23 Andererseits versteht er die Genese einer Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen als einen wichtigen kognitiven Schub der Menschheitsgeschichte. Habermas geht von einem intersubjektiv gestalteten, bewussten ›Ausbruch‹ aus automatistischen Systemlogiken der Entwicklung aus. Sie vollzieht sich ihm zufolge durch die dialogische Erschließung eines kritischen Gesellschaftspotenzials. Diesen ›Ausbruch‹ versteht er als einen Schritt ›hinter‹ die systemische Komplexitätsreduktion hin zu subjektiv verhandelbaren Freiräumen der Kommunikation. Er markiert ihn schwerpunktmäßig achsenzeitlich. Damit steht Habermas in der Tradition von Karl Jaspers und Robert Bellah und folgt dem religionssoziologischen Paradigmenwechsel einer subjektphilosophischen Sprachpragmatik, die er schließlich diskursiv auflöst. Für ihn ist hier die Bindung von sakralisierten Weltbildern an ihre vernünftige Begründbarkeit und intersubjektiv ausgefochtene Kritikfähigkeit begründet. Daran gebunden ist dann auch ihre dauerhaft mitlaufende Funktion gesellschaftlicher
18 19 20 21 22 23
Ders., Theorie, 281. Ders., Geschichte II, 571. Ebd. Ebd. Ebd., 579. Vgl. Ders., Geschichte I, 147.
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Kontrolle und Normativität angesichts permanenter Bedrohungen durch sakralisierte Machtüberhänge. Der intersubjektive Diskursraum schafft damit Habermas zufolge erst die Grundlage für die Suche nach einem universalen Sinnhorizont. Habermas spricht von einer aus der Evolution heraustretenden, geschichtlichen Weiterentwicklung hin zu einem vernunftbasierten, »kommunikativen Heilsweg«24 . Auf dieser Grundlage bindet er die systemischen Standardisierungen der Gesellschaft an den lebensweltlichen Bereich kommunikativer Aushandlungsprozesse der Sozialintegration. Genau an dieser Stelle verortet Habermas die Leerstelle des universalsystemischen Sinnbegriffs in Luhmanns Theorien. Im Rahmen des evolutionsanthropologischen Spannungsfeldes zwischen systemischer Selektion und intersubjektiver Aushandlung wird hier die Verortung der Modellierungen von Jürgen Habermas deutlich. Seine Theoriebildung schreibt der Möglichkeit intersubjektiver Verständigungsprozesse evolutiv und erkenntnistheoretisch eine Handlungsmacht zu, die über sozialselektive Prozesse hinausgeht. Inwieweit diese Zuschreibung eine tiefere Grundlage hat, als wiederum Ergebnis einer kommunikativen Komplexitätsreduktion systemischer Couleur zu sein, bleibt zunächst offen. Habermas vermag es dennoch, den intentionalen Sinnbezug als bleibend sozialphilosophisch relevant zu kennzeichnen und ihn nicht zugunsten einer Abgrenzung von kontextualistischen und konstruktivistischen Gesellschaftsdefinitionen leichtfertig aus dem Bereich intersubjektiver Vernunftvollzüge zu extrahieren. Diese Modellierung ist als Markenkern und konkreter Diskussionsbeitrag seines Ansatzes festzuhalten.25 Dass dabei gleichzeitig im Zuge der Beschäftigung mit der menschlichen Evolution sowie mit dem sozialanthropologisch relevanten Zusammenspiel aus Glauben und Wissen in seinem eigenen (Spät-)Werk eine Annäherung zwischen der Theorie kommunikativen Handelns und der Theorie der sozialen Systeme Luhmanns zu beobachten ist, erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Zufall. Diesem Befund ist daher im Anschluss an die von Luhmann eingeführten Kontrapunkte im Sinne einer evolutionsanthropologisch ebenso wie theologisch orientierten Zusammenschau beider Ansätze eigens Rechnung zu tragen (vgl. dazu Kapitel 9.1.3).
9.1.2. ›Sinn‹ als soziologischer und religionsevolutiver Grundbegriff bei Luhmann Niklas Luhmann hält für ein universales Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse eine stärkere Betonung funktional ablaufender Selektionsprozesse der Komplexitätsreduktion für notwendig.26 Das selektionsrelevante »erkenntnisleitende Problem«27 menschlicher Gesellschaften ist ihm zufolge die überfordernde Fülle kontingenter Möglichkeitsgefüge. Er geht davon aus, dass erst systemisch angelegte Unterschei24 25 26 27
Ebd., 153 [Kursivierung im Original]. Vgl. Martin Breul, Diskurstheoretische Glaubensverantwortung. Konturen einer religiösen Epistemologie in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas (RaFi 68), Regensburg 2019, 68. Vgl. Luhmann, Systemtheorien, 24. Ders., Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 291–404, hier: 307.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
dungskonstruktionen zwischen einem sozialen ›Außen‹ und ›Innen‹ (beispielsweise in Institutionssettings oder Bekenntnisgemeinschaften) ein Verständnis von ›Welt‹ erzeugen.28 Vor diesem Hintergrund entwickelt er »die allgemeine These, daß Systeme der Reduktion von Komplexität dienen, und zwar durch Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz. […] Die soziale Kontingenz sinnhaften Erlebens ist nichts anderes als ein Aspekt jener unermeßlichen Weltkomplexität, die durch Systembildungen reduziert werden muß.«29 Dieser Prozess der Komplexitätsreduktion über die Einführung von Innen-/Außen-Differenzen wird von Luhmann als mehrstufig skizziert:30 1. Die Weltkomplexität als solche zu benennen, erfordert Luhmann zufolge bereits eine erste Komplexitätsreduktion: Die unbestimmte, mit einer nicht ausdifferenzierbaren Fülle an Möglichkeitssettings angereicherte Umwelt wird in der Rede von der ›Welt‹ als eine bestimmte – das heißt bereits reduzierte – »Umweltkomplexität«31 kommunikabel. 2. Die so erfasste ›Umweltkomplexität‹ ist wiederum kontingent und hält eine komplex verzweigte Anzahl an Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten bereit. Diese gilt es anhand der Differenz zwischen ›Welt‹ und ›System‹ als solche zu bestimmen und je nach sozialer Anforderung eine Möglichkeitsauswahl zu treffen. Damit kann der Status einer lediglich als »unbestimmte Systemkomplexität«32 selektierten Umweltherausforderung vereindeutigt werden. 3. Durch die Differenzierung und Etablierung fester Strukturen und Selektionsmechanismen kann ein Teil der zuvor unbestimmten Systemkomplexität in ein abgegrenztes und bestimmbares Teilsystem überführt werden. Dieses beansprucht dann für sich eine Bedeutung hinsichtlich der selektiven Analyse von »durch Systembildungen konstituierte Weltkomplexität«33 . Dafür bietet es ein jeweils spezifisches (etwa marktlogisches oder religiöses) Verständnis sozialer Sachverhalte an. 4. Die jeweilige Perspektivenstabilisierung übt wiederum Rückwirkungen auf die Innen-/Außen-Differenz aus: Auf dem Weg von einer unbestimmten, unmittelbar erlebten ›Umwelt‹ über eine zunächst nicht weiter bestimmte Problemanzeige der ›Weltkomplexität‹ führt die Systembildung daher zu einem jeweiligen »systemrelativen Umweltentwurf«34 .
28 29 30 31 32 33 34
Vgl. ebd., 307f. Ders., Systemtheorien, 11. Vgl. für die folgenden Kernpunkte sowie die in ihnen als wörtlich übernommen gekennzeichneten Begrifflichkeiten Ders., Argumentationen, 300f. Ebd., 301. Ebd. Ebd., 299. Ebd., 301.
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Dieses prozessual-selektive Verständnis der systemtheoretischen Grundlagen fasst Luhmann in einem viergliedrigen Schema zusammen (siehe Abbildung 9). Es entspricht dem oben zusammengefassten Vierschritt und dient hier zu seiner Illustration.
Abbildung 9: Niklas Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 291–404, hier: 301.
Aus dem dargestellten Schema ergibt sich eine erste Anfrage an das intersubjektive Sinnverständnis von Jürgen Habermas. Sie betrifft auch den im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu erörternden erkenntnistheoretischen Status religiöser Sinnressourcen: Läuft der in der Theorie des kommunikativen Handelns grundgelegte Ausgang von Intersubjektivität und ihrer sozialen Steuerungskraft im Diskurs Gefahr, die evolutionsanthropologisch stark hervortretenden differenzhermeneutisch-dekonstruktiven Bruchmomente nicht hinreichend methodologisch integrieren zu können? Diese Frage verweist auf die zumindest als möglichen blinden Fleck der habermas’schen Theorie zu kennzeichnende Externalisierung der intersubjektiven Aushandlungsprozesse aus systemischen Prozessen. Für sie beansprucht Habermas, wie gezeigt, einen eigenen Bereich der Sozialintegration (nicht Systemintegration!), der die eigentlichen lebensweltlichen Begebenheiten und ihre Sinnkonstruktionen erst im intentionalen Diskurs aktiv hervorbringt.35 Es wird deutlich, dass Luhmanns Beschreibung systemischer Funktionsprozesse zu einem anders gelagerten Verständnis von Sinn führt. Dieses abweichende Sinnverständnis schlägt sich in den Kritikpunkten Luhmanns gegenüber der Habermas’schen Fokussierung auf intersubjektive Aushandlungsprozesse nieder: Luhmann sieht angesichts des Voraussetzungsreichtums intersubjektiver Kommunikation den soziologischen Ausgangspunkt des Sinnverständnisses durch Habermas falsch gesetzt. Er diagnostiziert eine Überschätzung der Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit menschlicher
35
Vgl. Habermas, Geschichte II, 561.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
Kommunikation als autonomer, sinnproduktiver Handlung im quasi voraussetzungsfrei vorgestellten Sozialraum. Stattdessen verweist er auf ein »Nichtausreichen von Handlungskonzepten schlechthin […]«36 , das sich für ihn in der konsequenten Unterscheidung zwischen intentionaler Handlung und System ausdrücken muss. Daher legt er sein gesamtes Verständnis sozialer Prozesse ausgehend von einem systembedingten Sinnprimat an und klammert Subjekthandlungen zunächst als sekundäre Momente aus. Er verlangt, »nicht Sinn durch Subjekt zu definieren, sondern umgekehrt Subjekt durch Sinn – nämlich als sinnverwendendes System. Sinn ist eine bestimmte Strategie des selektiven Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität. Durch sinnhafte Identifikationen ist es möglich, eine im einzelnen unübersehbare Fülle von Verweisungen […] zusammenzufassen und zusammenzuhalten, Einheit in der Fülle des Möglichen zu schaffen und sich von da aus dann selektiv an einzelnen Aspekten des Verweisungszusammenhanges zu orientieren.«37 Indem die Systemtheorie den Ausgangspunkt in der systemischen Realität von ›Sinn‹ als Grundlage aller bewussten Reflexion (und nicht umgekehrt als Produkt subjektiven Bewusstseins) setzt, fokussiert sie die systemische Arbeit an Komplexitätsreduktionen, die sich nicht von einem idealistisch konstituierten Subjekt her denken lassen.38 Luhmann versteht Sinn als eine bleibend komplexe und doch differenzhermeneutisch reduzierte Relation zwischen System und Umwelt und damit als eine spezifisch komplexitäts- und systemsensible Erlebnisverarbeitung.39 Er sieht hier die spezifische Chance eines systemischen Verständnisses von Sinn: Es gewährleiste »eine Form von Selektion […], die verhindert, daß die Welt im Akt der Determination des Erlebens auf nur einen Bewußtseinsinhalt zusammenschrumpft und darin verschwindet.«40 Die evolutive Komplexitätssteigerung führt demnach erst in einem zweiten Schritt zu kommunikativen Bezügen, die eine Unterscheidung zwischen der ›Welt‹ und einem jeweils spezifischen (Kommunikations-)System zum Thema machen. An dieser Stelle schließen sich Luhmanns Gedanken an den Spannungsbogen der vorliegenden Arbeit an. Er versteht den Sinnbegriff hier evolutiv und knüpft ihn darüber hinaus auch selbst an den ›différance‹-Begriff Derridas an.41 In Luhmanns Verständnis ist jeder systemische Sinn, das heißt jeder strukturierte soziale Bezugspunkt, immer schon auf seine stetige, selektive Aktualisierung angewiesen. Er kann daher lediglich einen temporären »festen Halt«42 in der Einführung einer Innen-/Außen-Diffe-
36 37 38 39
40 41 42
Luhmann, Argumentationen, 319. Ders., Systemtheorien, 12. Vgl. Rainer Schützeichel, Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann (Campus Forschung 852), Frankfurt a.M. 2003, 68f. Vgl. Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas – Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Theorie. Theorie-Diskussion), Frankfurt a.M. 10 1990, 25–100, hier: 34. Ebd. Vgl. Ders., Religion, 21. Ebd.
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renz vermitteln. Diesen ›festen Halt‹ und den mit ihm unmittelbar verbundenen Akt des ›Glaubens‹ spricht Luhmann schließlich nicht zufällig im Rahmen seiner Beschäftigung mit Religion und ihrer Evolution an. Dabei klammert er die religiöse Ressource einer sozialen Metaperspektive auf komplexe Selektionsereignisse nicht aus. Jedoch hegt er sie wiederum systemisch ein, indem er dem Religionssystem als solchem einen Beobachterstatus zuschreibt. Schwerpunkt und Besonderheit dieses Systems liegt Luhmann zufolge gegenüber anderen Systemen in der Virtualisierung der Komplexitätsreduktion selbst. Diese Metaperspektive beschreibt er als ein »re-entry der Unterscheidung beobachtbar/unbeobachtbar ins Beobachtbare.«43 Das heißt für ihn, dass Systeme die Virtualisierung metaperspektivisch mit der Trennlinie der Innen-/Außen Differenz selbst umgehen. Auf diese Weise problematisierten sie die Unmöglichkeit einer universalperspektivischen Verortung im System. Luhmann zufolge passiert dies in der Schaffung eines imaginären Raumes, in dem die Unterscheidung als Unterscheidung bezeichnet und damit wieder als eigentliche Einheit begriffen werden kann: Die komplexitätsreduzierenden Systemlogiken gewinnen eine ›Selbstbezeichnungsfähigkeit‹ im ›Vollzug‹ dieses ›re-entry‹.44 So verstanden, ermöglichen religiöse Virtualisierungen einen transzendent ausgerichteten Sinnbezug. Sie markieren jedoch zugleich die systeminhärente Unmöglichkeit, diesen universalen Sinnraum angesichts notwendiger Unterscheidungsbewegungen der systemischen Kommunikationsmedien über den aktualen Vollzug hinaus systemisch endgültig zu stabilisieren. Im Paradox einer Ursprungseinheit der Differenz ist also das religiöse Sinnmoment als systemische Form einer spezifischen, metaperspektivischen Beobachtung temporär gegeben. Es liefert als Kommunikationsmedium ein Reflexionspotenzial auf die Systemfunktionalitäten per se. Luhmanns knappe Religionsdefinition fasst diese streng systemisch verstandene Sinnoperation wie folgt zusammen: »Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet.«45 Es geht Luhmann hier also um die Einbettung religiöser Virtualisierungen in eine prozesshafte, sich stets verändernde wechselseitige Beeinflussung verschiedener Systeme, deren Wirkweisen nicht einfach hermetisch getrennt oder mit einseitigem Fokus auf das System intersubjektiver Wertediskurse zugespitzt werden können. Diese Grundannahmen Luhmanns wirken sich auch wissenschaftstheoretisch aus: Die sozialevolutiven Analysen müssen der angezeigten Komplexität entsprechen und die verschiedenen Bereiche integrieren. Das heißt für Luhmann, sie müssen sich von einer subjektivistischen Schwerpunktsetzung verabschieden. Im Sinne einer Beeinflussungsmatrix geht er von der ständigen Interpenetration von Systemen aus. Auch religiöse Sinnperformanzen sind dann nicht einfach monolinear auf dialogische Aushandlungsprozesse und bewusst gesetzte Normierungen zurückzuführen.46 Im Rahmen der
43 44 45 46
Ebd., 32. Vgl. ebd., 33. Ebd., 35. Vgl. Ders., Argumentationen, 385.
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spannungsreichen Trias aus System – Umwelt – (intentionaler) Kommunikation nimmt Luhmann daher eine deutlich andere Gewichtung als Habermas vor: Die systemische Komplexität und die immer neu angestoßenen Interdependenzen lassen es für ihn methodologisch unmöglich und auch analytisch unfruchtbar erscheinen, soziologisch von intersubjektiven Kommunikationssituationen aus zu argumentieren. Vielmehr stellt sich für Luhmann jede Interaktion selbst als Teil zahlreicher systemischer Durchdringungsprozesse heraus, die auf funktionale Differenzierungen der Innen-/AußenUnterscheidung hin agieren. ***
Exkurs: Systemtheorie im religionsevolutiven Diskurs. Aktuelle Theoriebildungen Volkhard Krechs Vor dem dargestellten Hintergrund stehen auch die jüngsten Rezeptionslinien einer an Luhmann anschließenden, evolutionsbezogenen Religionssoziologie. Als neu aufgelegtes Forschungsvorhaben ist hier das Projekt »Theory and Empiricism of Religious Evolution« (THERE)47 des Bochumer Religionswissenschaftlers Volkhard Krech hervorzuheben. Krechs Theoriebildung verschreibt sich der Verbindung von systemischen und semiotisch-kommunikationstheoretischen Aspekten der Sozialevolution. Sie knüpft daher unmittelbar an die dargelegten Überlegungen an. Ein Blick auf diesen jüngsten Versuch, Religionsevolution in einem Spannungsfeld aus interaktiven, intentionalen Handlungspraktiken und systemischen Organisationsprozessen zu begreifen, ermöglicht eine kritische Erweiterung des erkenntnistheoretischen Herausforderungsportfolios. Darüber hinaus lassen sich im Angesicht von Krechs religionswissenschaftlichen Analysen und ihrer systemtheoretischen Fokussierung die Aufgaben und Chancen theologischer Reflexionen des religionsevolutiven Spannungsfeldes zwischen System, Umwelt und intentionalen Handlungsgefügen herausstellen. 1. Krechs Religionsverständnis und sein methodisches Grundsetting Krech unterscheidet in seiner Betrachtung der sozialen Mechanismen der Religionsevolution zwischen Umwelt und System. Entsprechend versteht auch er die temporäre, komplexitätssensible Stabilisierung selektiver Mechanismen als Entstehungsgrund und Funktion religiöser Vollzüge. In diesem Rahmen definiert er religiöse Systeme als einer spezifischen Imprägnierung der Innen-/Außen-Relationierung zugehörig: Sie bearbeiten ihm zufolge Kontingenz durch die Identifizierung der Innen-/Außen-Relation mit einer Transzendenz-/Immanenz-Unterscheidung.48 Zur Aufschlüsselung der daran anschließenden Grundelemente des spezifisch religiösen Systems argumentiert und
47
48
Die Projekthomepage (https://there.ceres.rub.de/de/) bietet zahlreiche einführende und laufend gemäß des jeweiligen Projektstandes aktualisierte Informationen und Einblicke in die Theorieanlage sowie in die Arbeit an den mehrbändig geplanten Monographien zum Projekt. Im Folgenden verweise ich darüber hinaus auf die zweiteilige Projektskizze sowie die erste bereits erschienene Projektmonographie. Vgl. Krech, Theory I, 5.
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modelliert Krech unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten für eine methodische Verknüpfung zwischen Evolutionstheorie, Systemtheorie und Semiotik beziehungsweise Kommunikationstheorie. Diese Rekombination aus Theorieelementen als Schlüssel eines universalen Nachvollzugs religionsevolutiver Mechanismen im Sinne einer soziokulturellen, mehrdimensional verlaufenden Co-Evolution stellen den theoretischen Innovationsfaktor seiner Projektanlage dar. Ihm zufolge ergibt sich ein vernetzter Dreischritt: »Mit der semiotisch informierten Kommunikationstheorie werden Qualitäten und Regeln sowie ihre mögliche Verwirklichung hervorgehoben […]. Diese Theorie rekonstruiert die Eigenschaften und Regeln der Strukturen, in denen religiöse Kommunikation zeichenförmig verläuft. Mit der Systemtheorie und ihrer basalen Unterscheidung von System und Umwelt werden die faktischen Differenzen und Relationen betont […]. Diese Theorie rekonstruiert, wie sich Religion von ihrer psychischen, organischen, physischen und sozio-kulturellen Umwelt differenziert […]. Und mit der Evolutionstheorie wird die Vermittlung von Möglichkeit und Faktizität in der konventionellen Anwendung von Regeln herausgestellt […].«49 Als systemisch-emergent verstandene Semiosen und damit als evolutive Verlaufsformen, bewegen sich religiöse Systeme Krech zufolge in einem prozessual höchst wirksamen Zwischenraum. Er vermittele zwischen menschlicher Sehnsucht (als kognitiver Grunddisposition) auf der einen Seite und dem damit zwingend verbundenen anthropologischen Bewusstsein um komplexe Kontingenzgefüge auf der anderen Seite. Die systemimmanent eingeholte Transzendenz biete in diesem Spannungsgefüge einen Raum soziokultureller Wirklichkeit jenseits rein intentionaler Konstruktionslogiken.50 Krech integriert hier den Gedanken eines codierten Zwischenraums in die Universalisierung der Systemtheorie. Es geht ihm dabei um die religionswissenschaftliche Überwindung intersubjektiver Direktzuordnungen. Zugleich geht er von einer spezifischen, evolutiv wirksamen (i.d.S. performativen) »semantic energy«51 der Religion aus. Sie schaffe in der systemischen Reintegration der als systemextern codierten Sphäre der Transzendenz den Zugang zu digitalisierten semantischen Sinnressourcen.52 Diesen für die Evolution der Religion und ihre sozialevolutive Prägefunktion entscheidenden Mechanismus modelliert Krech als ein doppelt triadisches System, welches die Sphären der Transzendenz und Immanenz semiotisch verdoppele, um so auch die unzugängliche Komponente der Transzendenz in Form von metaphorischen Semiosen einem immanenten re-entry zu unterziehen. Dieses semiotisch grundierte Religionsverständnis ermöglicht Krech zufolge eine evolutionsanthropologisch fundierte Integration religiöser Metaphorik. Sie ist dann als eine spezifische Codierungsleistung zu verstehen, wie sie auch die kognitive Metapherntheorie nahelegt. Religiöse Semiosen nutzten in ihrer Reintegration der Transzendenz in 49 50 51 52
Ders., Die Evolution der Religion. Ein soziologischer Grundriss (transcript Religiöse Evolution 1), Bielefeld 2021, 28. Vgl. ebd., 15. Ders., Theory I, 10. Vgl. ebd.
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die Immanenz demnach einen kognitiv naheliegenden Zweischritt: Sie verknüpften eine bekannte Ausgangsform (etwa feste, immanente Ritualvollzüge) mit einer unbekannten Zieldomäne (etwa die mit dem Code ›Gott‹ adressierte Transzendenz). Das systemische re-entry erfolge auf diese Weise im Rahmen einer metaphorischen Bewegung.53 Krech kann hier deutlich machen, dass es bei der systemischen Integration semiotischer Kommunikationsprozesse angesichts ihres evolutiven Entstehungssettings nicht darum geht, Bezeichnungsakte und Erfahrungsdimensionen einfach aus der evolutionsanthropologischen Beschäftigung mit Religion auszuklammern. Er denkt das Zusammenspiel aus Erfahrungsverarbeitung, semiotischem Prozess und komplexen Umwelteinflüssen vielmehr als das Konstituens des Religionssystems im Sinne eines »spezifisch sozialen Zusammenspiel[s] psychisch, organisch und physisch organisierter Materie.«54 In diesem Zuge beschreibt Krech, dass religiös codierte Medien immer wieder aus den sie betreffenden Semiosen ausbrechen würden. Sie machten ihre eigene Medialität und damit auch die ihnen zugeschriebene Transzendenzbedeutung explizit. Dadurch wird laut Krech die systemische Unterscheidung zwischen intern-systemisch reintegrierten Transzendenzcodes auf der einen Seite und ihrer Bezüglichkeit auf extern-kontingente Transzendenzen auf der anderen Seite transparent.55 2. Religion als »Oszillation zwischen Immanenz und Transzendenz«56 . Krechs zeichensystemischer Analysevorschlag Krech bezieht sich zur Analyse dieser Systemgebundenheit der Religion auf die semiotische Theoriebildung von Charles S. Peirce. Dieser geht davon aus, dass sich die Verbindung von Wahrnehmung, Sprache und performativen Deutungsprozessen in einer triadischen Struktur des Kommunikationssystems abbilden lässt. Sein Modell vermittelt eine direkte Abhängigkeit jeder Wahrnehmung von Zeichenbezügen. Zur Darstellung dieser zeichensystemischen Abhängigkeiten unterteilt Peirce den semiotischen Erkenntnisprozess in drei Elemente: 1. Das Repräsentamen (Erstheit) ist die Basis jeder Kommunikation, es stellt die grundlegende Erfassung materialer Gegebenheiten über ein spezifisches Zeichen dar. 2. Diese zeichenhafte Form der Wahrnehmungsrepräsentation bezieht sich deutend auf ein Objekt (Zweitheit). Die Wahrnehmung dieses Objektes ist dabei immer abhängig von den jeweils eingesetzten Zeichen. Diese Abhängigkeit wird jedoch in der Unterscheidung zwischen Zeichen und Objekt bewusst. 3. In einem dritten Schritt führt diese Verhältnisbestimmung schließlich zu einer konkreten, bedeutungswirksamen Interpretation des Objektes durch das vorgelagerte Zeichen – es ergibt sich ein konkreter Interpretant (Drittheit).57 53 54 55 56 57
Vgl. Ders., Evolution I, 146. Ebd., 103. Hier knüpft Krech entsprechend unter dem Stichwort der »religiösen Selbstreflektion« (ebd., 139) an axiale Theoriestränge an. Ebd., 90. Vgl. dazu Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. v. H. Pape (Stw 425), Frankfurt a.M. 1983, 121–138, hier insbesondere 123. Eine fundierte und zugängliche Zusammenfassung dieser triadischen Zeichentheorie bietet darüber hinaus die ausführliche Einleitung des Herausge-
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Krech entwirft auf der Grundlage dieser semiotischen Triade ein Schema, das aufzuzeigen vermag, inwieweit evolutive Prozesse der Religionsbildung und ihre Transformationskraft systemtheoretisch fruchtbar als Semiosen eingeholt werden können. Er zeigt darin auf, wie die beiden Codes Transzendenz und Immanenz zu einer Überlagerung zwischen Umwelt und System führen, sobald sie innersystemisch als Faktoren der Umwelt semiotisiert werden. Er spricht von einer sowohl in frühen gesellschaftlichen Kontexten (etwa rituell konnotierter Höhlenmalerei58 ), als auch in liturgischen Vollzügen und religiösen Texten zu beobachtenden »Oszillation zwischen Immanenz und Transzendenz«59 . Zur Konkretisierung dieser komplexen Modellierung nimmt Krech schließlich beispielhafte Interpretationen von Höhlenmalereien vor, die er mit einer Kombination aus dem semiotischen Modell von Peirce und dem Modell systemischer re-entrys nach Luhmann analytisch zu fassen versucht. Besonders deutlich wird der Ertrag von Krechs Kombination aus Semiotik und Systemtheorie in der Anwendung auf eine ostspanische Jagdszene aus dem Mesolithikum (ca. 9.–8. Jtsd. v. Chr.). In seiner Einteilung des Bildes in verschiedenen Ebenen überträgt Krech die von Peirce geprägte semiotische Unterscheidung zwischen Erstheit, Zweitheit und Drittheit auf die dargestellten Bildebenen (vgl. Abbildung 10). Folgt man Krechs Ausgangsmodellierung ergibt sich folgende Analyse der Szenerie: Das affektiv-reaktive Zeichen der Erstheit stellt hier ein anthropomorphes Wesen dar, das auf den dargestellten Jagdvorgang deutet und damit eine ikonische Funktion ausfüllt. Krech interpretiert: Das Wesen »scheint […] die Jagdszene zu ›dirigieren‹.«60 Auf der Ebene der wahrgenommenen Objektrealität (der Zweitheit) sind laut Krech unterdessen zwei mögliche Szenarien des Jagdausgangs abgebildet: Die menschliche Figur trägt einerseits ein zerbrochenes Jagdwerkzeug und scheint zu Boden zu gehen – sie scheitert am Jagdvorhaben, was körperliches Leid bis hin zum Tod verursachen kann. Das abgebildete Tier ist auf der anderen Seite von Speeren durchbohrt und Blutspuren sind angedeutet – das setzt gemäß Krech eine erfolgreiche Jagdintervention voraus, die das Leid wiederum auf die Seite des Tieres verlagert. Krech interpretiert diese Doppelszenerie wie folgt: Sie visualisiert das Kontingenzerleben des Menschen gegenüber der Natur, die er versucht zur Erschließung von Nahrungsquellen zu beherrschen. Dabei mündet sie in der Darstellung des Zyklus’ aus Leid- und Tod angesichts der Konfrontation zwischen der Tierwelt und der zur Jagd verpflichteten Gattung Mensch, die sich vor dem Problem einer Versorgung der anwachsenden Sozialgruppen aus diesem Gefüge
58
59 60
bers, siehe Helmut Pape, Einleitung. Phänomen und Logik des Zeichens (Syllabus) und Peirces Zeichentheorie, in: Charles S. Peirce (Hg.), Phänomen und Logik des Zeichens, hg. v. H. Pape (Stw 425), Frankfurt a.M. 1983, 7–37, hier: 25–28. Vgl. dazu die schematischen Analysen der Wandmalereien in der Höhle von Lascaux (Département Dordogne) und im Département Ariège sowie die Funde mesolithischer Jagdszenen in Ostspanien, die sich laut Krech als Thematisierung der Natur- und Jagdabhängigkeiten des Menschen in Form einer Transzendierung des Kontingenzproblems deuten lassen (Krech, Evolution I, 202–226). Ebd., 90. Ebd., 217.
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nicht lösen kann. Das Leid der Tiere ist mit dem Überleben der Menschen und andersherum das Leid des Menschen mit dem Überleben der Tiere unauflösbar verknüpft (= wahrgenommenes Objekt).
Abbildung 10: Volkhard Krech, Die Evolution der Religion. Ein soziologischer Grundriss (transcript Religiöse Evolution 1), Bielefeld 2021, 217.
Die Darstellung der Jagdszenerie im oberen Teil des Bildes stellt laut Krech schließlich den Interpretanten der Gesamtszenerie, d.h. die Drittheit dar. Sie bewegt sich ihm zufolge genau in diesem Spannungsfeld einer Gewaltbeziehung, indem sie die dynamische Jagd darstellt. Entscheidend ist nun, welche spezifische Perspektive die Zeichenkomponente, das heißt die anthropomorphe Darstellung am linken Rand der Szenerie (= Erstheit), in das sozialevolutive Spannungsfeld einbringt. Krech interpretiert den Zusammenhang wie folgt: »In diesem Fall bezeichnet die therianthropische Figur die Einheit von Mensch und Tier. Beide sind in der Jagd miteinander verbunden, teilen dasselbe Schicksal, nämlich dass ihnen Gewalt (Z3 [=Ebene der Drittheit; JU]) widerfährt […]. Gemäß dieser Interpretation kann das in der Jagd erfahrene Leid den Anlass dafür abgeben, die gesellschaftlichen Muster der Erfahrung von ›Schuld‹ und des Bedürfnisses nach ›Versöhnung‹ auszubilden. Dieses Begehren birgt das Potenzial dafür, religionsartige Verehrungspraktiken als Ausdruck einer Ehrfurcht vor dem Leben zu entfalten.«61 Genau hier liegt die doppelte triadische Semiotisierung im System, durch die sich laut Krech Religionen auszeichnen. Sie ergibt sich ihm zufolge in der analysierten Szenerie
61
Ebd., 219.
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aus dem Paradox zwischen der immanenten Reintegration eines transzendierten, versöhnten Mensch-/Tier-Verhältnisses durch die therianthropische Figur und der gleichzeitigen Kontingenz der immanenten Jagdzwänge und -gefahren. Gefasst in das abstrahierte Modell eines elementaren religiösen Zeichensystems kann die dargestellte mesolithische Malerei laut Krech auch über die konkrete Szenerie hinaus anthropologisch und religionswissenschaftlich analysiert werden (vgl. Abbildung 11).
Abbildung 11: Ders., Die Evolution der Religion. Ein soziologischer Grundriss (transcript Religiöse Evolution 1), Bielefeld 2021, 219.
Das oszillierend wirkende re-entry verändert diesem Schema zufolge die immanente Einholung der als paradoxal und unzugänglich erlebten Natur (O1): Mit dem Bewusstwerden menschlicher Tötungsmacht verbindet sich auch eine schuldvolle Verantwortung. An dieser Stelle wird die Natur als respekt- und verehrungswürdig semiotisiert (Überlappungs-/Oszillationspunkt bei O1).62 Diese Kennzeichnung erhält einen auf Dauer gestellten, zeichenhaften Ausdruck in Form des Zwischenwesens (Z1). Diese systemische Semiose entwickelt ein entsprechendes Präge- und Transformationspotenzial auf das Verhalten der jagenden Gruppierung hin und lädt die erlebten Ambivalenzen durch den Einsatz eines therianthropischen Mischwesens als metaphorischer Brücke mit rituellem Sinn auf: Der objektive Problemhorizont der Verletzlichkeit und gleichzeitigen Tötungsmacht des Menschen bleibt bestehen, die Interpretation reichert den Zwang zur Jagd jedoch mit versöhnlich wirkendem, transzendenzbezogenen Sinn an, der in das immanente System semiotisch eingetragen wird.
62
Vgl. ebd.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
3. Kritische Einordnung von Krechs Modell der Religionsevolution Krechs Theoriebildungen gehen an dieser Stelle dank der Kombination semiotischer und systemtheoretischer Grundlinien präziser und deutlicher als die universale Theorieanlage Luhmanns von der Unverzichtbarkeit einer Vermittlungsleistung zwischen materialen, medialen und verhaltensbasierten Systemkomponenten aus. Die Leistungsfähigkeit von Krechs Theorie besteht nicht zuletzt darin, im Bezugsfeld religionsevolutiver Theoriebildungen ungewöhnliche Verbindungslinien entlang verschiedener Theoriestränge und Zugangsmodellierungen einzugehen und dabei die Sinn- und Bedeutungskomponente komplexer Gesellschaftsentwicklungen deutlich zu machen: Sozialsystemische Resilienz ist demnach auf semiotische Bezüge angewiesen. Krech zeigt, dass es seiner triadischen Modellierung mit Elementen der Semiotik, Systemtheorie und Evolutionstheorie nicht einfach um eine Erklärung selektionslogischer Auslöser religiöser Vollzüge oder aber funktional wirksamer Folgen aus diesen Vollzügen geht. Vielmehr strebt er in seiner Modellierung an, »ein gesellschaftliches Subsystem mit eigenen Strukturen und Semantiken und zugleich eine gesellschaftliche Funktion [zu betrachten; JU] – ohne dass beides in eins fällt.«63 Dieses Vorhaben nimmt daher ähnliche Verknüpfungen vor, wie die vorliegende Arbeit: In seiner Einordnung der auszumachenden systemischen Transformationsprozesse angesichts der Oszillation zwischen Transzendenz und Immanenz verweist Krech zunächst auf die kommunikationstheoretische Kategorie des »interventionistischen Sprechens«64 von Jan Assmann als performativ-transformativem Faktor.65 Damit nähert sich die Deutung seiner systemtheoretisch-semiotischen Modellierung deutlich auch einer axial-transformativen Heuristik an. Das Emergieren semiotischer Bezugnahmen zwischen Erstheit, Zweitheit und Drittheit entwickelt demnach eine eigene evolutionsproduktive Kraft und entfaltet in der spezifisch religionssystemischen Differenzierungsleistung zwischen Transzendenz und Immanenz eine neue Form der selbstreflexiven, prozessimmanenten Intervention. Krech bezieht sich zur näheren Beschreibung dieser Mechanismen ebenfalls auf die spieltheoretischen Grundannahmen Johan Huizingas und Robert Bellahs.66 Krech ist daher in der Lage, auch im Rahmen einer streng systemischen, religionssoziologischen Modellierung einen »Sinnüberschuss«67 als Erfahrung zu postulieren.68 Darüber hinaus kann er diese Postulate auch in Grundzügen empirisch nachvollziehen. Auffällig ist allerdings: Krech markiert die Rede von einem Überschuss an Sinn als Folge interventionistisch-transformativer Rede als unverzichtbar für das Verständnis eines immanenten re-entrys der Transzendenz. Zugleich bindet er diesen performativ wirksamen Selbstanspruch religiöser Semiosen jedoch nicht weiterführend in seine Modellbildung ein. Krechs Analyseergebnisse gehen im Letzten nicht über die semiotische 63 64 65 66 67 68
Ebd., 169. Jan Assmann, Magie und Ritual im Alten Ägypten, in: Jan Assmann – Harald Strohm (Hgg.), Magie und Religion (Lindauer Symposien für Religionsforschung 1), München 2010, 23–43, hier: 25. Krech, Evolution I, 269. Vgl. ebd., 214. Ebd. Vgl. Ders., Relational Religion. Manifesto for a Synthesis in the Study of Religion, in: Religion 50/1 (2020) 97–105, hier: 103.
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Systematisierung hinaus, die in den oben dargelegten Graphiken ihren Ausdruck findet. Es zeigt sich hier zunächst eine Leerstelle im von Krech angelegten Performativitätsverständnis: Was die religionssystemische Oszillation als sinnproduktiver Zwischenraum im System und den an ihm beteiligten Personen tatsächlich (evolutiv) bewirkt, bleibt unbeantwortet. Krechs Religionsverständnis ruft zwar performativitätstheoretische Bezüge auf den Plan, sie werden aber an keiner Stelle explizit zum Thema gemacht oder als selbst religionsevolutiv relevant verstanden. Krechs sehr festgelegte Modellierung deutet daher auf die Grenzen der Systemtheorie hinsichtlich eines evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Religionsverständnisses hin, auch wenn er sie semiotisch öffnet: Krech weitet das Verständnis co-evolutiver Prozesse in Richtung kultur- und religionswissenschaftlicher Gegenstandsbereiche aus, indem er leistungsfähige »Analogien zwischen materiellen, organischen, psychischen, kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen«69 aufzeigt. Die starke methodologische Geschlossenheit dieser Modellierung eröffnet dabei jedoch keine transparenten Anknüpfungspunkte für ein erkenntnistheoretisches Weiterdenken der aufgezeigten komplexen Strukturierungen als konkrete Sinnressourcen. In diesem Sinne bleibt Krechs Theorieanlage blind für ihre mögliche Ergänzungsbedürftigkeit um weitere interdisziplinäre Verknüpfungen. Krech müsste dagegen transparent machen, dass die Rahmenbedingungen und Grundprozesse der Religionsevolution, die er im Anschluss an Niklas Luhmann und Charles S. Peirce modellieren kann, noch keine hinreichende Erklärungsfolie ihres selbstreferentiellen Verständnisses und der mit ihr konstitutiv verbundenen Performanzwirkungen (des ›Sinnüberschusses‹) liefert. Diese Leerstellen betreffen schließlich den Wirklichkeitsbezug von Transzendenzcodes: Gemäß ihrem Selbstverständnis gehen sie nicht nur in operativen Deutungsangeboten systemstabilisierender Semiosen auf, sondern referieren auf eine transzendente Realitätsform. Eine Reflexion auf diesen Selbstanspruch religiöser Semiosen, der die Funktionsweise der Oszillation zwischen Transzendenz und Immanenz konstitutiv mitbestimmt, wird im von Krech vorgeschlagenen Modell jedoch nicht vorgenommen. Der Bezug auf Krech zeigt, dass eine semiotische Systemtheorie zwar wichtige Bausteine für die Analyse der Stellung sinnbezogener Interpretationshorizonte im Rahmen systemischer Prozesse liefert, zugleich jedoch der aufgerufenen performativen Religionshermeneutik methodisch nicht hinreichend beikommt. Sie ist daher mit den bereits erarbeiteten kommunikationstheoretischen Kritikpunkten sowie den differenzhermeneutischen und performanztheoretischen Rezeptionsschlüsseln eigens ins Gespräch zu bringen. ***
9.1.3. Kritische Zusammenschau Die vorausgegangenen Schlaglichter auf das Sinn- und Kommunikationsverständnis bei Luhmann und Habermas sowie der Exkurs zur evolutionsanthropologisch informierten, 69
Centrum für Religionswissenschaftliche Studien Ruhr Universität Bochum, Die Kombination von religions-, kultur-, sozial- und naturwissenschaftlichen Ansätzen. URL: https://there.cere s.rub.de/de/ [Abruf: 22. November 2022].
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
systemischen und semiotischen Religionssoziologie Volkhard Krechs zeigen die abweichenden Grundentscheidungen der verschiedenen Theoretiker. Der Theorienvergleich und die Rekombination der verschiedenen Modellierungen eröffnen zugleich neue Reflexionsräume für die vorliegende Arbeit hinsichtlich der Verortung religiöser Narrative und Praktiken im evolutiven Geschehen. Niklas Luhmanns autopoietisch angelegter, als innersystemischer Output verstandener Sinnbegriff liefert eine kohärente Einordnung religiöser Entwicklungslinien in die Systematisierung von Innen-/Außen-Relationen. Entscheidend hierfür ist die Grundunterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz und der spezifisch religiöse Umgang mit dieser Unterscheidung. Luhmanns Analyse einer sinnproduktiven Reintegration der Transzendenzrede in die systemische Sphäre der Immanenz erlaubt eine soziologische Präzisierung dessen, was zuvor als ›spielerische Performanz‹ und ›transzendenter Freiraum‹ markiert werden konnte. Religiöse Codierungsformen können mit Hilfe dieser Modellierung systemisch in das evolutive Geschehen eingeordnet werden. Luhmanns Theorie beantwortet jedoch nicht, ob die für die religiöse Rede vorausgesetzte Metaebene eines ›Sinn des Sinns‹ hinreichend in das systemtheoretische Theoriegebäude integriert werden kann. Ihm zufolge bleibt jedes Insistieren auf universale Sinn- und Normierungsgründe immer ein paradoxes Phänomen des temporären, reflexiven Systemausbruchs und seiner zugleich notwendigen komplexitätsreduzierenden Reintegration in das System.70 Der Möglichkeit diskursiver Reflexionsbewegungen im Rahmen religiöser Bezugssysteme eröffnet die Systemtheorie entsprechend keinen eigenen erkenntnistheoretischen Ort. Hier greift die Kritik von Jürgen Habermas: Die inhaltlichen Akzente der Systemtheorie sind ihm zufolge auf methodologischer Ebene nicht in der Lage, einen Sinn hinter den beschriebenen Differenzierungsbewegungen auszumachen. Dieser Aspekt ist tatsächlich nicht mehr Teil der dennoch als universal markierten soziologischen Theoriebildung Luhmanns.71 Die universalsystemische Einhegung von transzendent markiertem Sinn lässt offen, ob die metaperspektivische Komponente religiöser Sinnbildung hinreichend theoretisch abgebildet wird und welche Rolle ihr beim systemischen re-entry zukommt. In diese Wunde legt die Kritik von Jürgen Habermas den Finger. Er fragt nach einer möglichen Integration der subjektiv eingezogenen Glaubensaxiomatik und ihrer diskursiven Verhandlungsgrundlage in die Religionssoziologie. Habermas erkennt den operativ-systemischen Vorzug der Gedanken Luhmanns gegenüber der klassischen Handlungstheorie an. Gerade in der Beschäftigung mit religiösen Vollzügen finden sich daher ähnliche Anliegen in beiden Modellierungen. Dennoch beobachtet Habermas eine methodologisch einkalkulierte Ausklammerung des eigenen evolutiven Status von Wertediskursen. Diese Diskurse betreffen auch den erkenntnistheoretischen Ort der Religionsevolution. Habermas moniert hier eine Zuspitzung allein auf zweckrationale Handlungsformen bei der soziologischen Analyse von Sinndiskursen.72 Er lässt jedoch offen,
70 71 72
Vgl. Eva Knodt, Towards a Non-Foundationalist Epistemology. The Habermas/Luhmann Controversy Revisited, in: New German Critique 61 (1994) 77–100, hier: 98f. Vgl. Gunda Schneider-Flume, Theologie als Kritik von Sinnsystem und Sinnkonstruktion. Zur Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: NZSTh 26/3 (1984) 274–288, hier: 281. Vgl. Habermas, Theorie, 250.
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wie er in seiner intersubjektiv angelegten Theorie des kommunikativen Handelns und dem davon abgeleiteten pragmatischen Sinn- und Religionsverständnis die Komponente des Gesellschaftssystems konkret integrieren will. Diese offene Flanke der Theorie des kommunikativen Handelns verweist auch auf die evolutionstheoretisch eingeforderte Absage an eine reine Anthropozentrik angesichts komplexer Rückkoppelungseffekte und materialer Bedingtheiten.73 In der Theoriebildung von Jürgen Habermas bleibt an dieser Stelle unklar, ob er diesen Erkenntnissen tatsächlich Rechnung tragen kann. Insofern ist auch an Jürgen Habermas die Frage zu adressieren, inwieweit er das kritische Potenzial seiner kommunikativen Handlungstheorie tatsächlich entfalten kann, wenn er dazu neigt, systemisch-autopoietische Emergenzen aus der ideal vorgestellten Diskursmodellierung theoretisch auszublenden. Er vernachlässigt dann nämlich zumindest die evolutive Wirksamkeit systemischer Interpenetrationen über kollektive Formen der diskursiven Subjektautonomie hinaus. Hier fällt er eindeutig hinter die evolutionstheoretisch plausibilisierten Erkenntnisse der Luhmann’schen Systemtheorie zurück. An diesen blinden Flecken setzt daher wie gezeigt wiederum Luhmanns Kritik an den Modellierungen von Habermas an. Die dargelegten Kontroversen und die aus ihnen abgeleiteten Leerstellen betreffen auch die Modellierungen von Volkhard Krech. Seine Kombination selektionslogischer, systemtheoretischer und semiotischer Elemente verweist deutlich auf die oben festgestellte Notwendigkeit einer Einbindung performativ verstandener Sinnbezeichnungen in strukturwissenschaftlich orientierte Ansätze der Religionssoziologie. In Form eines freien, spielerischen Zwischenraums mit systemimmanenten Rückwirkungen, die auf die Oszillation zwischen semiotisierter Transzendenz und erlebter Immanenz zurückzuführen sind, eröffnet Krech hier einen systemischen Sinnbegriff, der weiter ausgreift, als es das rein funktionale Sinnverständnis Niklas Luhmanns vermochte. Zugleich verweist seine Konzeption in der starken Konzentration auf das verwendete Modell eines doppelt triadischen semiotischen Systems auf bleibende Grenzen einer universalisierten Systemtheorie. In Bezug auf einen in der Oszillation zwischen Transzendenz und Immanenz vorausgesetzten metatheoretischen Erkenntnisort, ist seine Modellierung weitgehend funktional geschlossen. Sie stellt in diesem Sinne zwar eine notwendige Grundlage auch für ein theologisches Verständnis religionsevolutiver Prozesse dar, verweist jedoch nicht auf die weiterführenden, hinreichenden Bedingungen ihrer performativen Erkenntnisform. Es zeigt sich hier, dass die blinden Flecken der Modellierungen von Habermas und Luhmann anhand der kontroversen Bezugnahme aufeinander auszumachen sind. Eine solche Bezugnahme deutet Volkhard Krech an, setzt sie dann aber nicht hinreichend in eine methodologische Umstellung um. Die Konfliktlinien erscheinen daher weiterhin als parallellaufende Abweichungen in der theoretischen Gewichtung im Spannungsfeld zwischen System, Umwelt und (Sinn-)Kommunikation.
73
Vgl. zum Versuch einer Einordnung der ethischen Grundlegungen im Werk von Jürgen Habermas entlang der Linien zwischen Mensch, Natur und Lebenswelt sowie seiner anthropozentrischen Ausrichtung Walter E. Simon, Lebenswelt oder Natur. Schwacher Naturalismus und Naturbegriff bei Jürgen Habermas (Religion in der Moderne 26), Würzburg 2015, 320–330.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
Ob sich diese Abweichungen als kategorische Ausschlussmechanismen erweisen müssen, bleibt angesichts der Leerstellen auf beiden Seiten mehr als fraglich. Vor dem Hintergrund der festgestellten Religionsperformanz, die sich ausgerechnet aus diesem Spannungsfeld speist, kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass beide Schwerpunktsetzungen grundsätzlich verbindende Überlegungen und Rezeptionslinien bereits implizieren. Dass ein Zusammenlesen beider Ansätze angesichts der vom gleichen Ausgangspunkt aus getroffenen abweichenden Grundentscheidungen auch in der erkenntnistheoretischen Gesamtanlage (religions-)evolutiver Modelle geboten ist, ergibt sich dabei wiederum aus dem Zusammenlaufen kommunikativer Handlungen und autopoietischer Systembildungen selbst. So konstatiert etwa Eva Knodt, dass die in der Theorie des kommunikativen Handelns fokussierte diskursive Realitätsbildung ebenfalls ein als autopoietisch zu bezeichnendes System darstelle.74 Im zugrundeliegenden paradoxen Versuch der systemischen Sinnsicherung sieht sie demnach eine methodologisch unverzichtbare Chance der Annäherung beider Theoriestränge. Wenn Luhmann, so Knodt, diese paradoxe Struktur als systemische Blockade versteht, die nach einer nicht-logischen, das heißt nach einer kreativen Lösung verlangt, so breche hier Habermas’ Modellierung einer idealen Kommunikationssituation ein. Sie könne als ein solcher, kreativer Versuch zugunsten einer Reflexion der paradoxen Strukturen verstanden werden.75 Hier ergibt sich eine gegenseitige Korrekturfunktion und Überlappung von Kommunikationshandlungen und systemischen Stabilisierungseffekten, die produktive Verbindungslinien zur bereits vorgelegten Religionsdefinition (vgl. Kapitel 8) und ihrer fundamentaltheologischen Begründung im Angesicht evolutionsanthropologischer Erkenntnisse offenlegen kann. Die sozialevolutive Herausbildung einer immanenten Rede von Transzendenz und Immanenz weist dann immer schon über sich selbst hinaus auf die temporäre, operativ reintegrierte Sphäre unerreichbarer Transzendenz. Sie sprengt letztlich alle systemischen Absicherungen sowie jeden kommunikationstheoretischen Konsens gleichermaßen und hebt sie in sich auf. Weder kommunikative Interaktionen des Menschen noch ihre im evolutiven Verlauf vorgenommenen Stabilisierungs- und Standardisierungsprozesse können auf diese Form des Offenhaltens einer performativ wirksamen Transzendenzsphäre jenseits ihrer selbst verzichten. Hier treffen sich erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Befunde: Die wissenschaftstheoretische Unzulänglichkeit einzelner, universal gesetzter Modellierungen der Religionssoziologie entspricht der erkenntnistheoretischen Bewusstwerdung einer Unzulänglichkeit menschlicher Welt-, Selbst- und damit Sinnerkenntnis. In Bezug auf die religiöse Sinnaxiomatik und ihren evolutiven Status müssen die aufgezeigten Interdependenzen beider Ansätze bei der Analyse immanenter Paradoxien und ihrer transzendenten Bearbeitung verstärkte Beachtung finden. Der dekonstruktive Erkenntnisstatus einer systemisch eingeholten Idealkommunikation hinterfragt auf der einen Seite die vermeintlichen kommunikativen Autonomien. Auf der anderen Seite verweist diese dekonstruktive Systematisierung auch auf die Bedeutung von subjektiven Vollzugsmomenten für die performative Sinnstiftung eines re-entry der Transzendenz. 74 75
Vgl. Knodt, Epistemology, 78f. Vgl. ebd., 87.
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In diesem Sinne gilt für Luhmanns Systemtheorie, dass sie die Möglichkeit diskursiver Konsensbildung nicht zwingend ausschließen muss. Zugleich gilt für die Theorie des kommunikativen Handelns, dass auch dieses Handeln immer schon nicht steuerbaren Abhängigkeitsgefügen unterliegt. Es ist damit Teil des autopoietischen Prozesses.
9.2. Transzendenter ›Sinn‹ als operativ-relationale Größe Das sozialtheoretisch präzisierte Spannungsfeld zwischen System, Umwelt und Kommunikationsprozessen, das evolutionsanthropologische Entwicklungen ausmacht, verschärft die kritische Interdependenz zwischen sozialsystemischen und kommunikationstheoretischen Grundannahmen. Der vorgenommene Theorievergleich und seine Anbindung an das vorgebrachte performative Religionsverständnis machen dieses Herausforderungsportfolio noch einmal deutlicher: 1. Die Verwobenheit systemischer Prozesse und kommunikativer Interpretationen zeigt: Jeder »Sinnbezug von Welt- und Gesellschaftskomplexität entsteht kommunikativ und kann sich nicht auf eine phänomenal vorgegebene Welt oder Wirklichkeit beziehen, die lediglich zu interpretieren wäre.«76 Die erschließende Kommunikation ist also erkenntnistheoretisch weder ohne den Einbezug intersubjektiver Idealbildungen (beispielsweise spielerischer oder metaphorischer Natur77 ) noch ohne die mit ihnen untrennbar verwobenen Systemoperationen einzuholen, die diffuse Umweltwahrnehmungen komplexitätsreduzierend als ›Welt‹ konzeptualisieren. 2. Nimmt man den evolutiven Faktor eines metareflexiven Umgangs mit den Komplexitäts-, Zeit- und Sinnproblematiken ernst, so ergibt sich also auch im streng systemisch betrachteten sozialevolutiven Setting immer schon eine »Verschränkung von Erwartungen und Handlungen mit ihren intentionalen Zuschreibungen«78 Auch Systemstabilität ist also auf diskursive Ratifizierungen angewiesen, insbesondere wenn es um die Ausrichtung an einem universal verstandenen Sinnhorizont geht. 3. Das heißt auf methodologischer Ebene: Nur unter der Beachtung dieser Interdependenzen ist eine soziologische Reflexion auch der Metaebene einer »Selektion von Selektionen«79 möglich. Die formale soziologische Komplexität entspricht dann der materialen evolutiven Komplexitätssteigerung, die mit der Metareflexion auf Selektionsprozesse über die Sinnrede entsteht. Sie wird selbst zum evolutiven Faktor. Dieser Faktor erweist sich als wirksam im evolutiven System, wenn und gerade weil er sich mit intentional eingesetzten Narrativen, Metaphern und Handlungen verbindet.
76 77
78 79
Eberhard Blanke, Systemtheoretische Einführung in die Theologie, Marburg 2014, 112. Dass diese Komponenten eine zentrale Rolle in Form einer semiotischen Interpenetration systemischer Prozesse spielen, konnten die Theoriebildungen Volkhard Krechs im Rahmen des triadischen Modells semiotischer Systeme aufzeigen. Schützeichel, Sinn, 127. Ebd.
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Die evolutionssoziologische Rahmung der Theologie muss sich dementsprechend selbst zwischen systemischer Operativität und sozialer Aushandlung ansiedeln. Nur dann entspricht ihr Analyseformat den Entwicklungslinien ihres Gegenstandes, der Religion. Dass diese Erkenntnis auch das wissenschaftstheoretische Setting der Theologie neu prägt, wird im Folgenden anhand einer Konkretisierung dieser Ansiedlung zwischen systemischen und kommunikationsbezogenen Faktoren zu zeigen sein. Vorgeschlagen wird dazu im Anschluss an Armin Nassehi ein Modell ›operativer Relationalität‹, das sich im vorliegenden Kontext als theologisch gewinnbringend herauskristallisiert. Es forciert ein sich gegenseitig korrigierendes und überlappendes Verhältnis zwischen systemischer Autopoiesis und intersubjektiver Handlungsperformanz. Das vorgeschlagene Modell dient so als Wegweiser für eine evolutionsanthropologisch anschlussfähige Theologie. Armin Nassehi bleibt in seiner Luhmann-Rezeption zwar bei einer Betonung autopoietischer Prozesse, zugunsten ethischer und moralischer Einbindungen der Systemtheorie öffnet er seine Interpretation jedoch für die Analyse subjektbezogener, gesellschaftlicher Reflexionssettings. Über den systemtheoretischen Operativitätsbegriff entwirft Nassehi mit seiner Modellierung einer »Gesellschaft der Gegenwarten«80 mögliche Verbindungslinien zwischen intersubjektiven Aushandlungsprozessen, ihrer performativen Wirkung und systemischen Funktionalisierungen. In Anlehnung an die systemtheoretischen Kritikpunkte gegenüber der Theorie des kommunikativen Handelns, sieht Nassehi das sozialsystemische Operativitätsmoment als von Habermas nicht konsequent zu Ende gedacht.81 Zugleich verweist Nassehi auf unverzichtbare Impulse der von Habermas geprägten Kommunikationstheorie innerhalb der Soziologie. Nassehis spezifische Luhmann-Rezeption zeigt, wie das Operativitätsmoment jenseits einer Vernachlässigung intersubjektiver Konstruktionsleistungen angesiedelt werden kann. Seine Theoriebildung leistet daher einen gewinnbringenden Beitrag für die vorliegende Arbeit. Die Theorieöffnungen Nassehis lassen sich zudem konsequent an den Theoriedialog zwischen Jacques Derrida und Karl Barth zurückbinden. Sie plausibilisieren eine Anschlussmöglichkeit performativer Religionsmodelle an evolutionsanthropologische Systemmechanismen. Die nachfolgende Rezeption versteht sich entsprechend als ein scharnierhafter Übergang hin zu konkreten theologischen Modellierungen der Religionsevolution. Es werden sowohl theologische als auch evolutionsanthropologische Nachjustierungen evoziert.
9.2.1. Relationale Operativität bei Armin Nassehi Nassehi nutzt zunächst das Konzept der ›Relation‹, um den Zusammenhang von Handlungsgefügen und systemischen Anschlussbedingungen auszuloten. Er skizziert ein Relationalitätsparadigma, das sich an den sozialtheoretischen Kipppunkten abarbeitet, die der hier vorgelagerte Theorievergleich bereits problematisieren konnte: Es geht
80 81
Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II (Stw 1996), Berlin 2011. Vgl. Ders., Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2 2017, 167f.
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Nassehi sowohl um eine Überwindung des intersubjektiven Idealismus kommunikativer Handlungsmodellierungen als auch um eine Modifizierung des konstruktiven Universalismus systemtheoretischer Erklärungsmuster. Diese Notwendigkeit entsteht ihm zufolge aus den behandelten Sachverhalten selbst. Demnach zwinge die Suche nach systemischen Anschlussmöglichkeiten zugunsten einer Komplexitätsreduktion immer schon dazu, »die Einheit der Unterscheidung im Unterscheidungsgebrauch zu finden – mithin also: praktisch.«82 Er versteht das Zusammenspiel aus funktionalautopoietischen Systemanschlüssen und kommunikativen Erschließungspraktiken daher als ein relationales Entwicklungsgeflecht. Dieses Geflecht kann unter Ausschluss einer der beiden Komponenten nach Nassehi evolutiv keinen Bestand haben – systemische Resilienz ist ihm zufolge also auf institutionalisierte Komplexitätsreduktion und kommunikative Sinnproduktion verwiesen. Das heißt für ihn auch, dass sozialevolutive Prozesse nur dann adäquat analysiert werden können, wenn die soziologischen Instrumentarien sozialsystemische und kommunikationstheoretische Komponenten verbinden. Mit seiner Theoriebildung schließt Armin Nassehi also nahtlos an das oben einleitend zusammengefasste Herausforderungsportfolio an. Die relational-aktuale Grundanlage sozialsystemischer Prozesse prägt das gesamte soziologische Gesellschaftsverständnis Nassehis. Gesellschaft kann ihm zufolge nicht mehr als ein quasi-metaphysisches Idealkonstrukt verstanden werden, in dem sich soziale Interaktionen und systemische Anschlussmechanismen ereignen. Vielmehr eröffneten die jeweiligen Ereignisse selbst Gegenwarten, die im Sinne eines Vereinheitlichungsversuchs kommunikativ unter dem Gesellschaftsbegriff zusammengefasst würden – ohne dabei jemals an ein Ende kommen zu können. Nassehi fasst diese relationalen Bezüge so zusammen: »Die Gesellschaft beobachteter Gegenwarten ist dann also nicht die Bedeutung gebende Instanz für konkrete Handlungen, nicht ein Allgemeines, das in konkreten Gegenwarten seine Konkretion erfährt, kein subjektiver Geist, der vom objektiven zehrt, kein oberstes, unwandelbares Bezugsproblem, sondern ein Kontext, der Optionen, Potentialitäten, bestimmte Formen von Unbestimmtheit anbietet – etwa in Form von Anschlussmöglichkeiten in Funktionssystemen oder durch Organisationskontexte oder die Gegenwart von Interaktion.«83 Mit dieser operativen Grundlegung des Gesellschaftsverständnisses, das auf relationalen, nicht auflösbaren Abhängigkeitsgefügen fußt, die selbst das ausmachen, was als ›Gesellschaft‹ interpretiert werden kann, rekombiniert und kritisiert Nassehi die Theorieenden von Luhmann und Habermas gleichermaßen. Das Grundkonzept »gegenwartsbasierte[r] Operativität«84 dient ihm dabei als Anknüpfung an Habermas’ aktuales Kommunikationsverständnis und zugleich als konsequente Ausweitung der von Luhmann geprägten systemfunktionalen Autopoiesis differenzierender, komplexitätssensibler Anschlussmechanismen.
82 83 84
Ebd., 432. Ebd. Ders., Gesellschaft, 38.
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In Bezug auf den in den Modellierungen Luhmanns auszumachenden blinden Theoriefleck eines universalen soziologischen Beobachterstatus heißt das für Nassehi (ganz im Sinne der Kritik von Habermas): »Also schon eine Beobachtung mit dem ontologischen Dingschema verweist darauf, dass es sich um eine Beobachtung handelt […]. Verlegt man nun das So-Sein eines Bildes in das Auge des Betrachters, technischer gesprochen: nimmt man den Beobachter als Beobachter ernst, verschiebt sich die Frage von der Kontingenz des Dings, das sich immer schon beobachtend verfehlen ließ, nun in Richtung der Kontingenz des Beobachters.«85 Nassehi zeigt hier die sozialempirische Nachvollziehbarkeit der Kontingenz aller systemischen Entwicklungsmechanismen auf. Damit ist sowohl das Postulat eines universalen Beobachterstatus der Systemtheorie als auch der Idealtypus intersubjektiver Sinnund Normenkonstruktion durch aktive Kommunikation fraglich geworden. Jedes System ist demnach ein ortloser Ort, dessen Anfang und Ende weder subjektivistisch aktiv noch systemuniversal passiv ausgemacht werden können. Die Anschlussstellen gesellschaftlicher Sinnproduktion vertilgen vielmehr jede Möglichkeit, eine tatsächliche Teleologie festschreiben zu können schon in ihrer operativen Gegenwart. Nicht umsonst verändert Nassehi auch die Titulatur des systemtheoretischen Programms gegenüber seinem Lehrer Niklas Luhmann. Spricht Luhmann noch – ganz im Sinne einer externalisierenden Systembeobachtung – von der »Gesellschaft der Gesellschaft«86 , modifiziert Nassehi und profiliert in der aufgezeigten Rede von relationaler Operativität eine »Gesellschaft der Gegenwarten«87 . Armin Nassehi sieht hier sowohl die soziologische Notwendigkeit als auch die methodologische Möglichkeit eines »Reimport[s] des Handlungsbegriffs«88 in die Systemtheorie. Er ruft dazu ein spezifisches Paradoxon auf und lässt es soziologisch wirksam werden: Die Bedeutung von kommunikativem Handeln ist ihm zufolge erst im Rahmen seiner systemisch-kontingenten Gegenwart ›gegeben‹. Diese Bindung an systemische Gegenwarten zeige zugleich, dass ›Bedeutung‹ auch kommunikativ nicht einfach bleibend manifestiert werden kann. Nassehi skizziert hier einen systemischen Operativitätszusammenhang, in dem sowohl begründungsbasierte, kommunikative Bewährungssituationen, als auch feste Organisationen und systemische Verweisungszusammenhänge miteinander interagieren.89 Subjektive Bedeutungsdiskurse spielen nach Nassehi also zwangsläufig auch in systemisch evolvierenden Zusammenhängen eine Rolle – wenn auch als »retrospektives Beobachtungsschema«90 . Genau hier liegt die Paradoxie des evolutiven Prozesses: Seine ra-
85 86
87 88 89 90
Ebd., 316. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1: Kapitel 1–3, 2 Bde. (Stw 1360), Frankfurt a.M. 10 2018; sowie Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2: Kapitel 4–5, 2 Bde. (Stw 1360), Frankfurt a.M. 10 2018. Nassehi, Gesellschaft. Ebd., 145. Vgl. Ders., Diskurs, 429f. Ders., Gesellschaft, 223.
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tionalen Beobachtungen überholen sich im Strom evolutiver Zeitformen selbst. Zugleich bleibt die Einsicht in diese systemische ›Selbstüberholung‹ nicht wirkungslos oder beliebig. Im Gegenteil ergibt sich ein performativ wirksames re-entry der kommunikativen Handlung im evolutiven Systemablauf, dessen Paradoxie sich auch im Rahmen autopoietischer Anschlussmechaniken nicht einfach auflösen lässt. So erweisen sich kommunikative Reflexionspraktiken als genuiner Bestandteil jeder evolutiven Bewegung, die sich schon »im operativen Vollzug der Kommunikation [ergibt; JU] und verdeutlicht, dass jegliche Kommunikation eine Welt jenseits ihrer selbst kennt: Kontexte nämlich, in denen eine Welt aufscheint, die von der Kommunikation selbst erzeugt wird. Aus dieser Paradoxie gibt es kein Entrinnen.«91 Folgt man dieser operativen Erweiterung des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs, fügt sich auch jede reflexive Beobachtung systemischer Differenzierungen in streng evolutionssystemische, autopoietische Abläufe ein. Diese Abläufe können als solche jedoch nur nachträglich reflexiv markiert werden. Diese Reflexionen können daher auch niemals aus dem System selbst ausbrechen, auch wenn sie es reflexiv als System verstehen. Das heißt: Jede intentionale Handlung, jede reflektierte Kommunikation und jeder Bezeichnungsprozess sind schließlich »selbst Teil der evolutionären Bewegung.«92 Bei jedem Versuch, kommunikativ und intentional reflexive Sicherheit zu erlangen »entsteht das Problem der Selbstverunsicherung, denn die einzige Sicherheit bietet die eigene Operationsweise.«93
9.2.2. Religion als operative Sinnperformanz Was bedeutet das für den Status religiöser Sinnsuche und ihre kollektiv-intersubjektiven Ausdrucksformen? Inwieweit kann sich durch die operative und relationale Grundierung des Gesellschaftsverständnisses ein evolutionstheoretisch informierter Zugang zur soziokulturellen Entwicklung von Handlungssettings ergeben? Wie sind dann explizit unter dem Code der Transzendenz agierende Systeme in diese relationale Operativität einzuordnen? Und schließlich: Welche epistemischen Grundlinien ergeben sich daraus für die Theologie? Zur Skizzierung belastbarer Antworten lohnt sich die Betrachtung von Nassehis Detailanalyse der produktiven Folgen systembezogener Reflexionshandlungen. Nassehi expliziert sein Handlungs- und Akteur*innenverständnis in diesem Zusammenhang auch auf der Grundlage religiöser Sozialgefüge. Besonders deutlich wird das, wenn er Bezug auf die soziologische Analyse von Sakralräumen nimmt.94 Sakral verstandene Räume werden Nassehi zufolge als institutionell vorgeprägt erlebt. Dieses Erleben steht zugleich 91 92
93 94
Ders., Diskurs, 432. Ders., Evolution in einer ›Gesellschaft der Gegenwarten‹, in: Ludwig Siep (Hg.), Evolution und Kultur, Symposium der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste 2009, Paderborn 2011, 73–87, hier: 75. Ebd., 77. Vgl. Ders., Sakraler Raum – (religions)soziologisch, in: Spiritual Care 8/1 (2019) 53–58.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
in Abhängigkeit von der Verortung konkreter Praxis im jeweiligen Raum. Nassehi bemerkt: »Man könnte sogar sagen, dass diese [sakralen; JU] Räume erst durch die Praxis derer, die sich diese Räume aneignen, zu den Räumen werden, die sie sind.«95 Seine Beobachtung zeigt: Erst das operative re-entry eines von religiösen Traditionen und Raumkonfigurationen geprägten Ortes durch konkrete Relationen und Praktiken verwirklicht die von ihm beanspruchte, systemisch institutionalisierte Sakralität. Nassehi nimmt an dieser Stelle eine Ausweitung operativer Systematiken vor. Er verweist auf ein paradoxes Zusammenspiel zwischen material-kontextueller Autopoiesis des gegebenen Raumsettings auf der einen und einer kommunikativ-aktualen Aneignungspraktik auf der anderen Seite. Diese aktuale Rückbindung erinnert theologischerseits an sakramentale Präsenzlogiken: Sakramente werden zu Sakramenten, wenn sie ex opere operato systemische Gegenwarten aufgreifen und zugleich verändern. Sie sind dabei jedoch auf geprägte Formen und ein institutionalisiertes Sozialsetting angewiesen. Es geht hier also nicht um transzendentale Bezugnahmen, sondern um die temporäre Veränderung komplexer Gegenwartsgefüge in konkreten Systemoperationen.96 Nassehi macht die operative Interdependenz zwischen materialen und sozialen Gegebenheiten und ihrer jeweiligen sinnbezogenen Ausdeutung stark. Damit eröffnet er die Möglichkeit, auch religionsevolutive Bezüge als Systemoperationen zu analysieren: Religiöse Medialisierungen spielen als systemisch eingebundene, temporär und situativ aufgerufene Virtualisierungstechniken eine wichtige evolutive Rolle. Sie sind ein Alleinstellungsmerkmal menschlicher Evolution. Auf der wiederholt aufrufbaren Materialisierung religiöser Virtualisierungen bauen etwa sakramentale Praktiken, der Bezug auf Heilige Schriften und verbindliche Gemeinschaftsnormen auf (vgl. Kapitel 4.2.2).97 An dieser Stelle greifen temporäre, akteur*innenbasierte Handlungen und systemisch gefestigte Innen-/Außen-Differenzierungen ineinander. Ihre Verzahnung zeigt: Kollektive Handlungen sind auf systemische Ordnungsgefüge angewiesen und reagieren auf sie. Diese Ordnungen bleiben jedoch nur dann wirksam, wenn sie in Handlungen eine aktualisierende Anwendung finden, das heißt wenn sie für Handlungsakteur*innen selbst zu relevanten Akteuren werden. Folgt man Nassehi, dann bezeichnet ›Operativität‹ in diesem relationalen Sinne exakt die in der vorliegenden Arbeit gesuchten Synergieprozesse zwischen System, Umwelt und intentionalen Handlungen. Nassehis Modellierungen können im Anschluss an die Theoriekontroverse zwischen Luhmann und Habermas daher eine produktive Annäherung zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie motivieren. Eine solche Annäherung verweist beide wissenschaftstheoretischen Gefüge in dieselben erkenntnistheoretischen Schranken. Nassehis Ansatz einer ›Gesellschaft der Gegenwarten‹ zeigt: Die Menschheitsgeschichte ›ist‹ eine einzige operative Folge von Gegenwarten, deren
95 96 97
Ebd., 54. Vgl. Ders., Diskurs, 220. Vgl. Assmann, Evolution.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
uneinholbare Systemaktualität auch vor den wissenschaftlichen Beobachtungen zweiter Ordnung nicht Halt macht. Damit liegt eine soziologisch zugespitzte Universalisierung des Differenzparadigmas Derridas vor. Es kann mit den Überlegungen Nassehis von seiner ursprünglich starken Textgebundenheit gelöst werden. Nassehi zufolge wird es so zum gesellschaftsfunktionalen wie handlungstheoretischen Universalprinzip erhoben.98 Der in die Operativität eingebundenen Suche nach dem Sinn des operativen Sinns kann man demnach weder im wissenschaftlichen Diskurs noch in konkreten Gesellschaftssettings entkommen: »Der Gegenstand einer operativen, in diesem Sinne dekonstruktiven Soziologie lässt sich nicht abstellen […] und deshalb radikalisiert sich hier die verdoppelnde Selbstbezüglichkeit seiner Möglichkeitsbedingungen.«99 Das heißt, operativ wirksame Transzendenz lässt sich trotz ihres materialen Bezugs nicht einfach ontologisieren. Sofern ihr eine systemische Rolle zugesprochen wird, verändert sie die systemischen Operationen und damit die an sie anschließenden neuerlichen Systemselektionen. Sie operiert dann jedoch jenseits abgesicherter materialer oder intentionaler Bezugnahmen immer schon in Form eines »systemrelativen Umweltentwurf[s]«100 . Die Einführung eines*einer mit ›Gott‹ bezeichneten Akteur*in in die systemische Eingebundenheit des menschlichen Lebens stellt die Spitze dieser operativen Gebundenheit von Sinn dar. Sie verändert den evolutionssystemischen Problemhorizont endlicher Lebenszeit, überfordernder Komplexität und unabschließbarer Sinnsuche. Der Transzendenzcode spielt eine systemoperative Rolle: Er liegt als in temporären Handlungen aktualisierbarer Systemakteur vor. Seine sinnproduktive Bedeutung operiert jedoch nicht im erkenntnistheoretischen Milieu präsentischer Ontologien, sondern in Form von nachhaltig transformierten Gegenwarten, in denen die Rede von ›Gott‹ ein aktualer Faktor ist. Nassehi formuliert entsprechend: »Wenn ein Akteur jemand ist, der mich zu etwas bringen kann und der einen Unterschied macht, dann gilt das auch für Gott – freilich mit ungewöhnlichen Zurechnungs-, Sichtbarkeits- und Bestimmungsverhältnissen. Das ist kein soziologischer Gottesbeweis, aber zumindest ein Hinweis darauf, dass Handelnde mit Gott rechnen müssen, wenn sie mit Gott rechnen.«101 Diese Erkenntnis ändert das wissenschaftstheoretische Setting jeder religionsbezogenen Theoriebildung in direkter Anlehnung an den erkenntnistheoretischen Ort der Religion und ihrer Evolution: Religiöse Performanz ist nie jenseits systemischer Autopoiesis zu denken. Vielmehr erweist sich die systemische Oszillation zwischen Transzendenz
98
Diese Ausweitung des ›différance‹-Modells von Derrida nimmt Nassehi selbst für seine Überlegungen in Anspruch, vgl. Nassehi, Gesellschaft, 317f. 99 Ebd., 318. 100 Luhmann, Argumentationen, 301. 101 Nassehi, Raum, 56.
9. Scharnier III: Das soziologische Verständnis von ›Sinn‹
und Immanenz selbst als der entscheidende Wirkungs- und Transformationsfaktor religiöser Narrative und Handlungen. Zugleich wäre diese Transformation wirkungslos, wenn sie nicht durch Reflexionsmuster und metaperspektivische Auseinandersetzungen begleitet würde. Beide Komponenten sind als interdependent und gleichursprünglich zu verstehen. In Form von systemischer Operativität ergeben sich auf der einen Seite intentionale Handlungen und auf der anderen Seite systemische Differenzierungsmuster zwischen Immanenz und Transzendenz, die konstitutiv aufeinander verwiesen sind. In ihrem Spannungsfeld eröffnet eine gegenwartsbasierte und gegenwartsbewährte Gottescodierung einen temporär von selektiven Mechanismen befreiten Reflexionsraum. Sie kann in Bezug auf ihr Transformationspotenzial dann treffend als liminal wirkender Zwischenraum bezeichnet werden.102 In der Oszillation zwischen Transzendenz und Immanenz spiegelt sich also auch eine Oszillation zwischen intersubjektiver Intentionshandlung und systemischer Autopoiesis. Darin liegt der performative Transformationseffekt religiöser Erkenntnis. Diese Verortung verlangt sowohl evolutionsgeschichtlich als auch im Blick auf das wissenschaftliche Erkenntnissetting nach einer multilinearen Reevaluation: Erkenntnisphilosophische Epistemologien, die Analyse materialer Evolutionsfaktoren und soziologische Systemtheorien müssen in diesem anthropologischen Sinnhorizont auch methodologisch ineinandergreifen.
102 Diese Anschlussmechanismen verweisen bereits auf die systematisch-theologische Durchbuchstabierung eines evolutionsbezogenen Offenbarungsparadigmas (vgl. dazu Kapitel 11).
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10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
Die aufgezeigten Verklammerungen zwischen umweltbezogenen, sozialsystemischen und handlungsbasierten Komponenten der Religionsevolution durchziehen die Ergebnisse des zweiten, methodologisch orientierten Teils der vorliegenden Arbeit. Im Folgenden sollen sie in Form eines übergreifenden Fazits zusammengefasst und auf eine theologische Anwendung hin geöffnet werden. In diesem Zuge ergeben sich kritische Rückspiegelungen auf klassische theologische Axiome ebenso wie auf funktionale Verkürzungen der Evolutionsanthropologie. Die dargelegte Verschaltung entfaltet einen interdisziplinären Reflexionseffekt. Über die Anknüpfungslinien der operativen Theoriebildung Nassehis ergibt sich so ein methodologisches Gesamtpanorama, das sich im Spannungsfeld zwischen System, Umwelt und Kommunikation bewährt. Es präzisiert den in Kapitel 8 vorgeschlagenen Religionsbegriff und verknüpft die ersten beiden Hauptteile der vorliegenden Arbeit miteinander. Die vorgenommenen methodologischen Umstellungen können in einem nächsten Schritt (= Teil III) in eine theologische Epistemologie eingepasst werden, die auch evolutionsanthropologisch anschlussfähig ist. 1. Neue Perspektiven auf die Rezeption evolutionsanthropologischer Religionsmodelle Ausgehend von einer achsenzeitlichen Heuristik (vgl. Kapitel 4.2) eröffnet die vorliegende Arbeit neue Rezeptionsmöglichkeiten. Sie orientieren sich an einer performativen Relecture der evolutionsanthropologischen Ergebnisse im Rahmen symbol- und ritualtheoretischer Präzisierungen. Symbolische Sprachformen und ihre Verbindung zu rituellen Handlungen konnten als Prozesse der Wirklichkeitserschließung veranschaulicht werden. Im Anschluss an diese performanztheoretische Ausdeutung religiöser Codierungen im evolutiven Prozess ergab sich in Kapitel 6.3 eine spezifische Beanspruchung theologischer Metaphysikverständnisse. Auf der Grundlage des metapherntheoretischen Zugangs zur kognitiven Wirklichkeitsverarbeitung nach Lakoff und Johnson eröffnete sich der Referenzrahmen für eine pragmatische Umstellung der theologischen Metaphysik. Als metaperspektivische Erschließungspraktiken sind metaphysische Transzendenzbezüge demnach streng an ihre pragmatische Einsetzung gebunden (vgl. Breul
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
und Wendel). Evolutionsanthropologisch rückgebunden heißt das: Sie sind ein evolutives Element im Entstehungsprozess menschlicher Erkenntnis. Insofern sind sie an seine Möglichkeits- und Vollzugsbedingungen gebunden. Ihnen können sie ontologisch nichts hinzufügen. Das im Anschluss entworfene soziologische und philosophische Portfolio nimmt diese Erkenntnis ernst. Es führt einen neuen Rezeptionskurs ein, indem es eine differenzhermeneutisch und operativ fundierte Vermessung des erkenntnistheoretischen Ortes religiöser Praktiken und Narrative vornimmt. Hier wird deutlich: Religiöse Narrative und Praktiken bespielen Orte sozialer und biologischer Unsicherheit mit transzendenten Codierungsformen. Sie eröffnen auf diese Weise die Suche nach universalem Sinn und qualifizieren sie wiederum als erkenntnistheoretisch sinnhaft. Transzendenzcodes reflektieren und systematisieren menschliche Kontingenzerfahrungen, indem sie zu ihnen einen metaperspektivischen Standpunkt einnehmen. Dabei sind sie Teil einer kognitiven Komplexitätssteigerung in der Weltwahrnehmung, die ihre eigenen evolutiven Grundlagen als solche erschließt. Mit diesen natürlichen Grundlagen der Weltwahrnehmung erkennen metaperspektivische Reflexionsformen auch ihre eigene Begrenztheit an. Dieses evolutionsgeschichtlich neue Selbstbewusstsein gegenüber der menschlichen Kontingenz erweist sich als evolutiv produktiver Erkenntnisort der Religion: Sie reagiert auf die aufgerufenen Kontingenzerfahrungen und kann ihnen zugleich nicht ausweichen. Damit qualifiziert sie einen komplexen Problemhorizont und stößt auf diese Weise einen evolutionsanthropologisch essenziellen Prozess der unabschließbaren Sinnsuche an. Dazu bedient sie sich sinngebundener Metaphern und Ritualformen. Sie agieren in Form eines differenzbasierten Suchprozesses. Seine evolutive Gebundenheit schließt das Streben nach einem teleologischen Zielpunkt des Erkenntnisprozesses jedoch zwangsläufig aus. Diese erkenntnistheoretische Ortsbestimmung konnte anhand des von Jacques Derrida eingeführten Differenzparadigmas konkretisiert werden (vgl. Kapitel 7). Derrida verortet die menschliche Sinnsuche im Rahmen unabschließbarer ›Temporisationen‹. Er versteht sie als einen Akt, der systemisch an bleibende Differenzdynamiken gebunden ist. Die Suchbewegung unterliegt daher einer stetigen Verschiebung – jedes Setzen von Sinn kommt immer schon ›zu spät‹. Es verlangt entsprechend nach einer stetigen Aktualisierung, ohne an einen festlegbaren Zielpunkt zu gelangen.1 Wollen religiöse Transzendenzbezüge einen relevanten Erkenntnisort einnehmen, müssen sie sich dieses Differenzierungsparadoxes stets bewusst sein – es stellt den Kernbestand ihrer ›Sinnperformance‹ dar. Theologisch konnte diese Dynamik schließlich an die Arbeiten Karl Barths angeschlossen werden. Er markiert das Zusammenspiel der vernunftmäßigen Glaubensvollzüge des Menschen mit der von Gott initiierten Offenbarungsrelation als eine solche Differenzdynamik (vgl. Kapitel 7.3). Barth geht davon aus, dass sich auch die göttliche Offenbarung im Rahmen des aufgezeigten Erkenntnisprozesses immer schon abhängig von menschlichen Erkenntnisbewegungen machen muss. Theologisch muss das Offenbarungsverständnis in diesem Sinne anthropologisch rückgebunden werden. Die wechselseitige Dynamik zwischen göttlicher Offenbarungsinitiative und menschlicher 1
Vgl. Derrida, Différance, 38–42.
10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
Erkenntnisaktivität fasst Karl Barth in einer methodologisch fruchtbaren Reformulierung der Analogielehre zusammen. Er geht von einem beziehungsbasierten, an die Glaubenspraxis gebundenen Erkenntnisprozess aus.2 In seiner anthropologischen Grundlegung des Wortes Gottes als offenbarungsrelatives Geschehen verbindet Karl Barth auf dieser Grundlage implizit heilsökonomische Prozesse mit evolutionsanthropologischen Kontingenzen.3 Die Theologizität der Offenbarungsrede hängt für ihn auch von menschlichen Vollzügen ab. So ist Offenbarungstheologie immer schon ein differenzhermeneutisch angelegtes Projekt. Das transzendenzbezogene Erkenntnisformat ergibt sich also wie gezeigt erst aus der Komplexitätssteigerung menschlicher Welterschließung in kollektiven Verbünden: Ohne die nicht notwendigen, in emergenten Logiken aufscheinenden Entwicklungsbewegungen der menschlichen Wahrnehmung wäre eine menschliche Rede von Offenbarung weder möglich noch sinnproduktiv. Ihr fehlten das sie auslösende Komplexitätsparadigma und die mit ihm einhergehenden Problemhorizonte der Endlichkeit und sozialen Unsicherheit. An dieser Stelle erschließt sich ein theoretischer Rahmen, der die evolutive Rolle religiöser Codes im Horizont ihres Sinnüberschusses aufzeigt. Im offenbarungstheologischen Differenzparadox manifestiert sich eine Gleichursprünglichkeit evolutiver Kontingenz und transzendenter Sinnsuche. Aus der Differenz wird so ein eigener, evolutionsproduktiver Faktor. Er kann zum Auslöser performativer Freiräume werden (vgl. Kapitel 8). 2. Zwischen systemischen Automatismen und sinnerschließenden Handlungen – die sozialtheoretische Verortung religiöser Erkenntnisformen Die auf diese Weise evolutionsintern verortete Verbindung zwischen systemischer, nicht steuerbarer Emergenz und intentionaler Einflussnahme auf ebendiese steigert auch die Komplexität der erforderlichen fundamentaltheologischen Religionsbegründung. Sie muss eine Sensibilität für beide Faktoren aufweisen. Es galt daher zunächst, eine soziologische Detailkartierung der Verbindungslinien zwischen System, Umwelt und intentionalen Codierungsformen vorzunehmen.
2 3
Vgl. Barth, KD II/1 (1), 211–213. Diese These führte im Verlauf der differenzhermeneutisch ausgerichteten Rezeption der Barth’schen Theologie in Kapitel 7.3 zu einer Neuorientierung in der Barth-Rezeption. Entgegen des klassischerweise an Barth angelegten und vielfach gegenüber ihm kritisch monierten theozentrischen Offenbarungsverständnisses, konnte der Fokus auf das Zusammenspiel aus Glaubensvollzug und Schrifterkenntnis hier explizit anthropologisch angeschlossen werden. Vgl. zu Barths zunächst bei Gott ansetzenden Offenbarungstheologie Michael Beintker, Karl Barth (1886–1968), in: Gregor M. Hoff – Ulrich H. J. Körtner (Hgg.), Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse. Akteure. Wissensformen, Bd. 2: 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2 Bde., Stuttgart 2013, 249–265, hier: insbesondere 252–254. Zur an dieses Verständnis anschließenden Rezeptionsgeschichte und ihrer kritischen Einordnung vgl. Christiane Tietz, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018, 417–420. Der vorliegenden Analyse der Barth’schen Theologie ging es vor diesem Hintergrund um eine beziehungslogische, anthropologische Akzentverschiebung im Verständnis von Barths Grundannahme, ein »theologischer Bezug auf die Wirklichkeit […sei; JU] überhaupt nur so zu finden, dass das theologische Denken der Bewegung Gottes zum Menschen folgte […].« (Beintker, Barth, 253).
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
In der Religionsevolution laufen kommunikative Aushandlungs- und Kognitionsprozesse mit der nichtsteuerbaren Entwicklungsebene zusammen. Um dieses komplexe Zusammenspiel deutlich zu machen, wurde auf die soziologische Theoriekontroverse zwischen systemtheoretischen und handlungstheoretischen Ansätzen verwiesen. Es galt, die Verbindungslinie zwischen systemischen Automatismen und handlungstheoretischer Intentionalität im Rahmen der Religionsevolution auf soziologischer Ebene zu rationalisieren (vgl. Kapitel 9). Aus diesem Versuch ergab sich ein detailliertes Bild der Funktionsweise religiöser Narrative und Praktiken. Es hat Rückwirkungen auf die Bewertung des evolutionsanthropologischen und erkenntnistheoretischen Status von Religion: Religiöse Transzendenzbezüge thematisieren aktiv menschliche Abhängigkeitsgefüge und die damit einhergehenden komplexen Interdependenzen. Die Öffnung der sozialsystemischen und umweltbedingten Begrenzung des Menschen auf die Perspektive der Transzendenz ruft die wahrgenommene Spannung zwischen systemischen Abhängigkeiten und intentionaler Handlungsmacht erst auf den Plan. Eine solche Gegenwartscodierung leistet daher zweierlei: Erstens nimmt in ihr ein Kollektiv für sich in Anspruch, im evolutiven Komplex mit Diskursmacht ausgestattet zu sein – der Lauf der Geschichte ›passiert‹ nicht einfach. Menschen begreifen sich vielmehr selbst als relevante Akteur*innen. Zugleich verbindet sich mit diesem Anspruch die Einsicht in komplexe Kontingenzgefüge. Sie lassen sich zwar nach ihrem Bezug auf universalen Sinn befragen, sind jedoch immer nur in kollektiv geteilten Gegenwartserfahrungen greifbar. Religionen bilden auf dieser Grundlage spezifische Systeme aus. Auch sie können den*die mit ›Gott‹ bezeichnete*n transzendente*n Akteur*in nur aktual einspielen, indem sie ein System der immanenten Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz ausbilden. Jede Transzendenzerfahrung ist damit sowohl auf einen intentionalen als auch auf einen sozialsystemischen Zugang verwiesen. Beide Komponenten verschmelzen im Glaubensvollzug. Gottescodierungen sind also als Systemfunktionen zu verstehen, deren sinnerschließende Leistungsfähigkeit in der kollektiven Erschließung von systemtranszendenten Sinnrelationen besteht. Daher unterliegen auch Transzendenzcodes den evolutionsinternen Systemlogiken, die sie bearbeiten. Im Rahmen der soziologischen Präzisierung des Spannungsfeldes konnte ein entsprechender Bezug auf das Sinnproblem herausgestellt werden: Transzendenzcodes verändern den Fortgang der menschlichen Entwicklung, indem sie ihn mit dem Horizont eines transzendenten ›Sinn des Sinns‹ versehen. Auf diese Weise erschließen sie intentionale Handlungsgefüge und systemische Emergenzen als evolutionsgeschichtlich untrennbar miteinander verbunden. In Bezug auf die systemtheoretischen Differenzierungen bei Armin Nassehi ergab sich an dieser Stelle ein theologisches Scharnierstück. Für Nassehi sind sowohl interaktive Handlungen als auch systemische Organisationsmechanismen immer auf ihren gegenwärtigen Vollzug bezogen und daher verwoben. Er entwickelt ein operatives Sinnverständnis. Es entfaltet sich entlang der Relationen zwischen systemischer Autopoiesis und kommunikationsbasierten Diskursformationen. Auf dieser Grundlage konnte sozialtheoretisch plausibilisiert werden, dass auch intentional eingesetzte, beziehungsbasierte Transzendenzbezüge systemischen Automatismen unterliegen. Ebenso sind religiöse Codes auf materiale und soziale Kontingenzen verwiesen. Diese Erkenntnis allein wäre trivial, wenn sich in diesem Zuge nicht auch zeigen ließe, dass der Einzug einer
10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
Transzendenzperspektive an den aufgezeigten operativen Schnittstellen zu einem eigenständigen evolutionsanthropologischen Motor wird. Eine solche Transzendenzperspektive reflektiert das sozialsystemische Feld und baut so neue, transformativ wirkende Beziehungsmuster auf. Als unabschließbare Erkenntnisoperation führt der Bezug auf den ›Sinn des Sinns‹ eine Reflexionsform ein, die das Entwicklungssetting nachhaltig verändert, indem es erstmals als solches erkannt werden kann. Hier liegt der erkenntnistheoretische Ort des religiösen Systems, der seine konkrete Funktionalität immer schon überschreitet und im Sinne einer Betrachtung zweiter Ordnung permanent hinterfragt.4 In dieser Betrachtung geht es also erstmalig um »eine gesellschaftliche Welt, in der es tatsächlich um etwas geht: um Gegenwarten nämlich, in denen sich das zu bewähren hat, was geschieht.«5 Das heißt: Evolutionssystemische Abläufe und sozialdiskursive Praktiken laufen evolutionsanthropologisch parallel ab. Sie bedingen sich gegenseitig und prägen die Evolution menschlichen Bewusstseins nachhaltig. 3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen der erkenntnistheoretischen Neuverortung der Religionsevolution Diese erkenntnistheoretische Neuverortung religiöser Codierungen und Praktiken verlangt auch nach wissenschaftstheoretischen Konsequenzen. Sie verweist auf ein produktives und kritisches Verhältnis zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie. Es lässt sich entlang der Verbindungslinien, die zwischen den ersten beiden Hauptteilen bestehen, herausarbeiten. Die kritischen Bezugnahmen zwischen den beiden Hauptteilen der vorliegenden Arbeit bilden die Grundlage für ihre fundamentaltheologische Bearbeitung im folgenden dritten Teil. Die sozialphilosophisch erweiterte Definitionsarbeit zur evolutiven Rolle der religiösen Rede von Sinn konnte verdeutlichen, dass ihre innerevolutiven Rückkoppelungseffekte auch Rückwirkungen auf das Forschungssetting selbst haben. Als wichtiger evolutiver Motor sind es religiöse Systeme, die im Rahmen ihrer Codierungsmuster und Praktiken als metatheoretischer Reflexionsraum dienen. Dieser Erkenntnisraum stellt ein anthropologisches Alleinstellungsmerkmal dar, das über den Horizont eines universalen Sinns mehr erschließt als eine reine Gegenwartsbearbeitung im funktionalen Rahmen. Religiöse Systeme agieren innerevolutiv in Form von kritischen Systemreflexionen wie ein Spiegel, der die Richtung evolutiver Vollzüge temporär umlenkt und so überhaupt erst sichtbar macht.
4
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Vgl. zu dieser Beobachtung einer Reflexion zweiter Ordnung als Grundlage religiöser Bezüge die relationale Einordnung menschlicher Weltdeutung bei Hans-Joachim Höhn. Er versteht Religion als ein »Lebensverhältnis ›zweiter Ordnung‹« (Höhn, Zeit, 219.) und damit als »nichts, was sich beim Menschen ›von Natur aus‹ findet. Vielmehr ist sie ›Einstellungssache‹, das heißt ein bewusst eingenommenes Verhältnis zu allen Umgangsformen des Menschen mit dem, was ›von Natur aus‹ gegeben ist.« (Ebd.). Nassehi, Diskurs, 429.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Abbildung 12: Die Interdependenz zwischen Evolutionsanthropologie und religiöser Erkenntnistheorie als wissenschaftstheoretischer Faktor [eigene Graphik; JU].
10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit verbindet sich hier mit den Grundlinien der evolutionären Anthropologie, die in Teil I nachvollzogen wurden. Religionsentstehung lässt sich im Spannungsfeld aus Umwelterfordernissen, systemischen Differenzierungen und intentionalen Sinnbezügen des Kollektivs verorten. An dieser Stelle laufen die Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie mit der erkenntnistheoretischen Frage nach dem ›Sinn des Sinns‹, die religiöse Zugangsweisen einspielen, zusammen. Diese Pendelbewegung zwischen evolutionsanthropologischer Komplexität und erkenntnistheoretischen Reflexionsfolien, die das religiöse System aufruft, spiegelt sich im zweigliedrigen Aufbau der Arbeit wider. Sie kann in der tabellarischen Gegenüberstellung der Abbildung 12 nachvollzogen werden. Die eingetragenen Pfeilbewegungen markieren das Wechselspiel zwischen den erkenntnistheoretischen Deutungsfolien religiöser Codierungen und den evolutionsanthropologisch nachgezeichneten Entwicklungslinien. Sie motivieren schließlich kritische theologische Anknüpfungspunkte. 4. Fundamentaltheologische Konsequenzen und offene Reflexionsaufgaben Die in der tabellarischen Übersicht dargestellten theologischen Anknüpfungspunkte verweisen auf die pendelartige Reflexion, die die vorliegende Arbeit nachgezeichnet hat. Es tritt eine Abhängigkeit zwischen der evolutiven Verortung religiöser Erkenntnis und der an sie angelegten wissenschaftlichen Methodologie zutage. Diese wissenschaftstheoretische Neujustierung gilt es im Folgenden auch im Sinne eines theologischen Anforderungsprofils zu verstehen. Sie verweist auf die systematisch-theologischen Erprobungen des dargelegten Konzeptes im Abschlussteil (= Teil III) der Arbeit. Durch die entworfene sozialphilosophische Propädeutik ist die vorliegende theologisch motivierte Reflexion in der Lage, die Bezugnahme auf einen ›Sinn des Sinns‹ als evolutiven Faktor transparent zu machen. Er ist als differenzhermeneutisch angelegte Suchbewegung zu verstehen, die einen reflexiven Zwischenraum in die Interdependenzen aus System-, Umwelt- und Handlungsbedingungen einbringt. Die Theologie definiert als religionsbezogene Wissenschaft damit auch ihr eigenes erkenntnistheoretisches Konstituens neu und stellt im interdisziplinären Zusammenhang der evolutionären Anthropologie die operative Wirksamkeit religiöser Codierungen heraus. Sie greift gegenüber funktionalistischen und naturalistischen Verengungen im evolutiven Religionsverständnis die erkenntnistheoretische Leistung transzendenzbezogener Sozialoperationen auf und versieht sie mit einer eigenen evolutionsinternen Rolle. Mit dieser Neuverortung verbindet sich zugleich die Einsicht in die sozialsystemisch eingebundene und umweltbedingte Entstehungsgeschichte transzendenter Sinnsuche. Der erkenntnistheoretische Ort der Religionsevolution verweist daher auch die Theologie auf eine notwendige Aufnahme evolutiver Bedingtheiten in ihr Analysekonzept. Die vorgenommene erkenntnistheoretische Neuverortung der Religionsevolution verlangt entsprechend in einem zweiten Schritt nach einer wissenschaftstheoretischen Modifikation der Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie. Eine erste Spur konnte hier in der eingebrachten Religionsdefinition (vgl. Kapitel 8) und ihrer soziologischen Begründung (vgl. Kapitel 9) gelegt werden. In der Grundlegung von transzendenzbezogenem Sinn als einem operativen Vollzug manifestiert sich sowohl die performative Überschreitung evolutiver Funktionsgrenzen als auch die Eingliederung religiöser Reflexionsformen in systemische Logiken. Diese
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Eingebundenheit religiöser Codierungsformen markiert nicht nur eine Interdependenz zwischen Evolution und Religion im Verlauf der sozialen und kognitiven Entwicklung des Menschen. Mit ihr geht auch eine methodologische Interdependenz zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie einher. Dieses Wechselspiel konnte über den Gesamtverlauf der Arbeit hinweg nachvollzogen werden. Es ist in den eingetragenen Pfeilbewegungen der Abbildung 12 nochmals aufgegriffen. Seine Schlüsselrolle für die methodologischen Umstellungen im vorliegenden Religionsverständnis und seine Auswirkungen auf eine theologische Verarbeitung der Religionsevolution soll im Folgenden akzentuiert werden. Ein erstes Resümee der methodologischen Ableitungen bietet hierzu zunächst die Metapher des ›Spiegels‹. Sie ist als Ausblick auf die sich anschließenden innertheologischen Erprobungen der Rezeption evolutionsanthropologischer Religionsverständnisse zu verstehen, denen sich der dritte und letzte Teil der vorliegenden Arbeit widmen wird. ***
Exkurs: Die methodologische Metapher des ›Spiegels‹ Aus den ersten beiden Hauptteilen ergibt sich eine wechselseitige Verwiesenheit theologischer und evolutionsanthropologischer Zugriffe auf religiöse Narrative und Praktiken. Man kann von einem doppeltem Spiegeleffekt sprechen, wie er bereits in den vorausgegangenen Analysen immer wieder angedeutet werden konnte: Religiöse Entwicklungslinien eröffnen den Horizont einer kritischen Widerspiegelung komplexer Wirklichkeitsgefüge. Sie erlauben eine neue Form der Reflexion evolutiver Problemhorizonte kognitiver und sozialer Komplexität. Das heißt, sie leisten erkenntnistheoretische Grundlagenarbeit. Dabei geht es nicht nur um eine Abbildung des evolutiven Horizontes, sondern um seine metatheoretische Perspektivierung. Mit religiösen Repräsentationsformen ist also eine erweiterte anthropologische Denkform entstanden. Sie umfasst »nicht nur Denken als Widerspiegelung, das ist jedes Denken, sondern Denken der Widerspiegelung, also Denken des Denkens, Reflexion der Reflexion […].«6 Transzendenznarrative thematisieren die prozessualen Machtgefüge ihrer eigenen materialen Evolutionsvoraussetzungen. Sie spiegeln in diesem Sinne ihre eigene Spiegelfunktion: Der Mensch denkt in Widerspiegelungen seiner Welt und reflektiert sie im Rahmen dieses Vorgangs zugleich aktiv – neue Feedbackschleifen entstehen.7 Das Bildprogramm des Spiegels verdeutlicht dieses komplexe Gefüge aus materialer Widerspiegelung und aktualer ›Reflexion der Reflexion‹ sowohl innerevolutiv als auch im wissenschaftlichen Evolutionsdiskurs. Einige Kernelemente der Funktion eines Spiegels seien daher im Folgenden als eine methodologisch-metaphorische Verstehensfolie eingebracht:
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Hans H. Holz, Widerspiegelung (Edition panta rei/Bibliothek dialektischer Grundbegriffe 6), Bielefeld 2003, 50. Vgl. ebd., 70.
10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
Jedes Spiegelbild ist zunächst auf einen gespiegelten Gegenstand angewiesen. Dieses Gegenüber prägt das Spiegelbild und ist notwendige Bedingung seiner Existenz. Ohne eine Umwelt wäre ein Spiegel als Spiegel in seiner Funktion undenkbar. Zugleich entfaltet das Spiegelbild eine eigene Virtualität. Es hängt von der spezifischen Positionierung des Spiegels gegenüber dem Gespiegelten und vom Blickwinkel der verschiedenen Betrachter*innen auf den Spiegel ab. Es ist also sowohl subjekt- als auch standort- und materialgebunden.8 Übertragen auf das evolutionsanthropologische Entwicklungssetting heißt das: Das menschliche ›Spiegelbewusstsein‹ eröffnet eine spezifische Weltansicht, die sich zwischen aktiver Erzeugung und passiver Spiegelung, zwischen einem reflexionsfähigen Subjekt und einer materialen und sozialen Objektrealität aufspannt.9 Spiegelbilder sind nicht einfach die Welt, die sie abbilden, auch wenn sie im Abbildungsprozess von ihr abhängen.10 Wie das »Sehen des Spiegels«11 ist auch der Zugriffsraum virtueller Transzendenzcodes auf eine eigene Perspektive verwiesen. Sie agiert als eigenständiger operativer Zugang, der jedoch nur die immanenten materialen Sachverhalte der Umwelt spiegeln kann. Diese Sachverhalte bestimmen also die Codes und ihr performatives Potenzial konstitutiv mit. Übergehen Transzendenzcodes dieses Momentum ihrer materialkontextuellen Einbindung, schaffen sie sich selbst ab. Sie verneinen dann die Grundlage ihrer eigenen Performativität, sie entziehen sich der Grundlage ihrer metaperspektivischen Spiegelung. Zur doppelten Reflexion des religiösen Spiegels gehört entsprechend immer auch das dialektische Bewusstsein um den erkenntnistheoretischen Status der eigenen Codierungen als spezifische Spiegelform. Das angebotene Bildprogramm illustriert in einem zweiten Schritt auch den methodologischen Diskurs der vorliegenden Arbeit: Der Prozess der Spiegelung als Modell eines transzendenzbezogenen Bewusstseinsvorgangs bildet keinen natürlichen Automatismus ab. Er steht vielmehr für einen Reflexionsprozess im Rahmen einer spezifischen Weltdeutung, der zugleich von materialen und sozialen Systembezügen abhängt. Er kann also weder immateriell noch subjektlos vonstattengehen. Er verlangt stetig nach einer Reflexion des wahrgenommenen Herausforderungshorizontes der Umwelt. Ohne diese Bewegung, das macht das Bild des Spiegels deutlich, existiert weder die materiale Welt als Welt noch das Wahrnehmungssubjekt als bewusstes Selbst. Ihm kommt in diesem metatheoretischen Reflexionsprozess eine »konsolidierte Position«12 zu. Bewusst als solche verstandene ›Evolution‹ geschieht also erst in solchen komplexen ›Spiegelungsprozessen‹. Die religiös hervorgebrachten virtuellen Bedeutungsschichten müs8 9
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Vgl. ebd., 37f. Joachim Schickel fasst dieses Spannungsverhältnis der Spiegelmetapher als ›Sehen des Spiegels‹ zusammen und hält fest: »In der Wendung ›Das Sehen des Spiegels‹ ist der Genitiv ›des Spiegels‹ von eigentümlicher Ambivalenz; unzweifelhaft ein gen. objectivus, scheint er unter gewissen Umständen auch als ein gen. subjectivus auffaßbar zu sein.« (Joachim Schickel, Der Logos des Spiegels. Struktur und Sinn einer spekulativen Metapher, hg. v. H. H. Holz (Edition panta rei), Bielefeld 2012, 27). Vgl. Holz, Widerspiegelung, 38. Schickel, Logos, 19. Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts (Fischer Wissenschaft), Frankfurt a.M. 1991, 35.
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sen entsprechend als material-, sozial- und subjektabhängige Spiegelperspektiven verstanden werden. Sowohl religiöse Codierungspraktiken als auch die ihnen zur Seite gestellten theologischen Begründungsgefüge erweisen sich entsprechend als »geschichtsbezogen, also stets mit Konstellationen verknüpft, in denen sich soziale, politische, religiöse und auch existentielle Machtfragen spiegeln, die unausweichlich sind, also Ohnmacht darstellen.«13 Sie sind immer auf konkrete Gegenwarten bezogen.14 Nur unter deren Eindruck und also streng gegenwartsoperativ können religiöse Codes Vergangenheit deuten und Zukunftshoffnungen entwickeln. Diese Einsicht bedeutet eine durch die performative Widerspiegelung des Forschungsgegenstandes selbst hervorgerufene wissenschaftstheoretische Selbstrelativierung der Theologie. Sie betrifft zu gleichen Teilen auch die evolutionäre Anthropologie: Das untersuchte Evolutionssetting verlangt sowohl gegenüber funktionalen, kognitivistischen und materialistischen Engführungen als auch gegenüber ontometaphysischen Transzendenzmodellen nach Anpassungen und Umstellungen. Sie sind die Folge der den religiösen Praktiken eigenen metatheoretischen Reflexionsform, deren Komplexitätsniveau die Analyseinstrumente selbst entsprechen müssen. Die Religionsevolution entfaltet also nicht nur innerevolutiv, sondern auch methodologisch einen Spiegeleffekt. Die Metapher des Spiegels markiert an dieser Stelle als methodologisch verstandenes Bildprogramm eine Verbindungslinie zwischen der wissenschaftlichen Reflexionsform und der untersuchten Evolution und metaphorisiert die herausgearbeitete methodologische Verwiesenheit zwischen empirisch-material basierten und performativ-differenzhermeneutisch reflektierenden Analyseformen. *** Die evolutive Transformationskraft religiöser Praktiken und Narrative liegt in der Aufsprengung monolinearer Begründungs- und Zeitgefüge. Das vorliegende Evolutionsparadigma sprengt parallel dazu auch jedes monolinear angelegte Theoriegefüge, sei es theologischer oder evolutionsanthropologischer Couleur. Die Bündelung der Ergebnisse verweist so – zugespitzt in der methodologischen Metapher des Spiegels – auf eine Interdependenz zwischen dem untersuchten Materialobjekt (der Evolution religiöser Narrative und Praktiken) und dem angeschlossenen Formalobjekt (der Betrachtung dieser Evolution hinsichtlich ihrer theologisch-erkenntnistheoretischen und ihrer evolutionsanthropologisch-funktionalen Transformationskraft):15 Das geteilte Materialobjekt weist sowohl die Theologie als auch die verschiedenen evolutionsanthropologischen Zugänge in ihre formalen Schranken und stellt sie damit, wenn es um die breite Erschlie-
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Sander, Macht, 83. Vgl. Holz, Widerspiegelung, 49. Auf die Notwendigkeit eines solchen ›Methodenbewusstseins‹ im Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie im Hinblick auf die wissenschaftstheoretischen Verbindungslinien zwischen geteiltem Materialobjekt und unterschiedlichem Formalobjekt verweist auch Reinhold Esterbauer, Methodenbewusstsein. Zu einer wichtigen Voraussetzung für den Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften, in: Christian Tapp – Christof Breitsameter (Hgg.), Theologie und Naturwissenschaften, Berlin/Boston 2014, hier: 25–27.
10. Schlussfolgerung II: Ein theologischer Spiegel für die Evolutionsanthropologie
ßung religiöser Evolutionsbewegungen geht, in ein wissenschaftstheoretisches Beziehungsverhältnis. Die vorliegende Arbeit macht über die Beschäftigung mit der Religionsevolution und ihrer interdisziplinären Ausdeutung demgemäß darauf aufmerksam, »dass Wirklichkeit nicht einfach in Zuständigkeitsbereiche für unterschiedliche Wissenschaften aufgeteilt werden kann, um dadurch neben den beinahe unangefochtenen Naturwissenschaften auch noch für die Theologie eine Abteilung sicherzustellen.«16 Die vorliegende Arbeit fokussiert damit eine bis dato nicht mitgedachte Verzahnung zwischen der evolutionären Anthropologie und den sozialphilosophischen wie theologischen Rückbindungen ihrer Ergebnisdeutung. Die vorliegenden Überlegungen erschließen sowohl wissenschaftstheoretisch als auch mit Blick auf die evolutive Erkenntnisgenese ein Desiderat. Auf dieses verweist der hier vorgeschlagene, erkenntnis- und sozialphilosophisch grundierte theologische Zugang zu Transzendenznarrativen und der an sie gebundenen kollektiven Praxis. Er bietet eine unverzichtbare Ergänzung des evolutionsanthropologischen Paradigmas an, die sich aus diesem Paradigma selbst ergibt und eben nicht in einem alternativen Konkurrenzverhältnis zu ihm steht. Dieser interdisziplinären Rolle muss die Theologie in ihrer Betrachtung der Religionsevolution jedoch nicht nur methodologisch gerecht werden. Dieser erste Schritt konnte bereits in der Umstellung des Religionsbegriffs und in den Entwürfen theologischer Anschlussreflexionen gegangen werden. Darüber hinaus ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob und wie sich in der Folge der vorgenommenen differenzhermeneutischen und performanztheoretischen Umstellungen die konkreten Inhalte historisch geronnener Glaubensaussagen argumentativ bewähren können. Ihnen steht ebenfalls ein Spiegeltest bevor. Es ist zu prüfen, inwieweit sie erstens tatsächlich eine performativ wirksame Spiegelung der aufgezeigten Komplexitätsparadigmen ermöglichen und so einen Transformationsraum der Entwicklung eröffnen. Die Aussagen müssen zweitens auf ihre erkenntnistheoretische Selbstverortung hin befragt werden: Reflektieren sie im Rahmen der Codierungsvorgänge selbst ihre Verortung zwischen material-systemischen Herausforderungsfeldern und ihrem aktualen Weltdeutungsanspruch? Obliegt ihnen also ein im aktuellen Wissenschaftsdiskurs anschlussfähiges anthropologisches Selbstbewusstsein, das sich auch anhand von Glaubenstraditionen plausibel machen lässt, die ja als Teil dieser anthropologischen Entwicklungsgeschichte verstanden werden können? Diesen Anforderungen stellt sich der Schlussteil (Teil III) der vorliegenden Arbeit. Er unterzieht die erarbeitete Methodologie einer konkreten Anwendung auf dogmatische Kernbestände. Die im Horizont der Evolutionsanthropologie entwickelte fundamentaltheologische Epistemologie wird mit ausgewählten Traktaten der katholischen Dogmatik konfrontiert. Die Arbeit nimmt damit die methodologischen Spiegeleffekte fundamentaltheologisch ernst, indem sie im Verlauf ihres dreigliedrigen Aufbaus die fundamentaltheologischen Aufgaben einer demonstratio religiosa, christiana und catholica
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Ebd., 29.
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abbildet: Über die interdisziplinäre Arbeit an einem evolutionstheoretisch anschlussfähigen Religionsverständnis (= Teil I als Rezeption und Teil II als erkenntnistheoretische Reflexion), hinterfragt sie Grundaussagen des christlichen Offenbarungsparadigmas und seines erkenntnistheoretischen Status, um die vorgenommenen Umstellungen schließlich auch auf das katholische Verständnis einer engen Verbindung zwischen Ekklesiologie und (christologischer) Offenbarungstheologie zu spiegeln (= Teil III als fundamentaltheologische Anwendung).
Teil III: Systematisch-theologische Erprobungen
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
Mit den bisherigen Überlegungen konnte gezeigt werden, dass das neu aufgelegte fundamentaltheologische Begründungssetting nach einem systemisch und funktional geläuterten theologischen Selbstverständnis verlangt. Ein solches Selbstverständnis kann wie gezeigt wiederum als kritischer Spiegel auf die wissenschaftstheoretischen Verabsolutierungen des Evolutionsdiskurses wirken. Es gilt daher, auch die metaperspektivische Sinnkomponente als Faktor der Evolutionsgeschichte ernst zu nehmen und in seiner eigenen Performanzlogik in den anthropologischen Diskurs zu integrieren. Der folgende Abschlussteil der Arbeit setzt sich zum Ziel, den interdisziplinären Spiegeleffekt, den die erkenntnistheoretisch orientierte Rezeption der religionsevolutiven Modellierungen auslöst, nun genuin systematisch-theologisch zu verarbeiten. Dazu verschreibt er sich im vorliegenden Kapitel zunächst der Suche nach einer tragfähigen Offenbarungshermeneutik. Sie schließt sich an die erarbeiteten erkenntnistheoretischen Grundlagen der Religion an. Es wird eine theologieproduktive Verbindung von Erkenntnisformen und -vollzügen mit dem im Offenbarungsparadigma codierten Erkenntnisgehalt erschlossen. Die Verbindung zwischen Reflexionsvollzug und Aussagegehalt markiert dabei eine durchgängige systemische Einbettung des Offenbarungsglaubens. Das dogmatische Feld der Offenbarungstheologie kann an dieser Stelle als exemplarisches fundamentaltheologisches Testfeld für die Illustration der notwendigen Umstellungsleistung im Rahmen der theologischen wie evolutiven Epistemik verstanden werden. Die vorliegenden Betrachtungen steuern damit auf eine fundamentaltheologische Modellierung im engeren Sinne zu. Die offenbarungstheologische Reflexion erlaubt es, abschließende Kartierungen des erkenntnistheoretischen Ortes der Religion im Rahmen der menschlichen Entwicklung vorzunehmen, indem sie einen spezifisch christlich-theologischen Fokuspunkt setzt. Dazu wird die Systemlogik religiöser Codierungen als immanente Einführung von Transzendenz in einem offenbarungstheologischen Modell verarbeitet. Es erörtert, inwieweit sich die dargestellten Sozial- und Materialbezüge der Religionsentstehung in ein begründetes Verhältnis zu den im Code ›Gott‹ offenbarungstheologisch verstandenen Transzendenzbezügen setzen lassen.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution?
Diese Erörterung kann spätestens mit der Verbindung immanenter Transzendenzbezüge mit dem Anspruch einer ›Offenbarungswahrheit‹ sowie der Inanspruchnahme der Schrift als Bezugspunkt dieser ›Offenbarung‹ nicht mehr umgangen werden. Auf die Notwendigkeit einer Verknüpfung der offenbarungstheologischen Glaubensgehalte mit den evolutionsanthropologisch beschriebenen, immanenten Erkenntnisprozessen konnte bereits im Anschluss an Karl Barth und die Konstitution Dei Verbum verwiesen werden (vgl. Kapitel 7.3). Es geht schließlich um den theologischen Gehalt der christlichen Offenbarungsrede selbst: Als evolutive Akteure im Entstehungsprozess menschlicher Erkenntnis sind religiöse Codierungen immer an ihre konkreten Vollzugsbedingungen gebunden. Über diese materialen und sozialen Gefüge hinaus konstituieren sie keine ontologisch fassbaren Bezüge. Entsprechend dieser Grundlinie konnte aufgezeigt werden, dass auch die theologische Metaphysik religiöse Transzendenzbezüge nicht länger klassisch ontometaphysisch verstehen kann. Vielmehr muss sie von Gegenwartsbezügen ausgehen, deren Wirkungsgrad man als ›operative Transformationspraktiken‹ umschreiben kann. Diese können nur im materialen und sozialen Gegenwartsfeld agieren. Diese Grundbedingung religiöser Transzendenzbezüge ist eine Herausforderung für das Offenbarungsverständnis. Fundamentaltheologisch stellt sich angesichts evolutionsanthropologischer Erklärungen der Religionsentstehung die Frage, ob und inwieweit es ein argumentativ tragfähiges Offenbarungsverständnis, das sich auf ›Gott‹ als immanente*n Handlungsakteur*in beruft, überhaupt geben kann. Das in Teil II erarbeitete Religionsverständnis bindet den offenbarungstheologischen Gehalt religiöser Codierungsformen an operative Prozesse des Systems. Auf dieser Grundlage geht es davon aus, dass die Einführung des Offenbarungsparadigmas einen erkenntnistheoretischen Ermöglichungsraum zur Verfügung stellt. In ihm wird die Sinnfrage als Bruchmoment operationalisiert. ›Offenbarung‹ markiert dann einen Bruch mit alltagsfunktionalen Horizonten des Sozialsystems, ohne von ihnen abgekoppelt zu sein. Sie eröffnet einen Zwischenraum jenseits der binären Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz, der die systemischen Entwicklungsbedingungen nachhaltig verändert. Die immanente Einführung eines Transzendenzbezuges wird theologisch zugleich als Bezug auf eine konkrete Wirklichkeit vorausgesetzt. Dieser Selbstanspruch erweist sich gleichermaßen als Konstituens und Herausforderung der Offenbarungsrede. Der Code ›Offenbarung‹ verfügt nur entlang der Bruchlinien zwischen Immanenz und Transzendenz über einen konkreten Wirklichkeitsbezug. Der Selbstanspruch der Offenbarungscodierung führt so zu einer notwendigen auch theologischen Fokussierung der Vollzugsbedingungen des im Offenbarungsparadigma vorausgesetzten Transzendenzbezugs. Der Gehalt des Paradigmas steht und fällt mit dem Selbstanspruch seiner Vollzugsform, sich auf konkrete Sinnbezüge über funktionale Bewältigungslogiken hinaus beziehen zu können. Das heißt: Das vorausgesetzte Offenbarungsverständnis markiert erstens eine spezifische Erkenntnisform und zweitens einen als zuverlässig markierten Erkenntnisgehalt.1 Die Rede von ›Offenbarung‹ schließt beide Komponen1
Vgl. Saskia Wendel, Offenbarung – Deutungskategorie statt Glaubensgrund. Plädoyer für eine rationale Theologie, in: Martin Dürnberger – Aaron Langenfeld – Magnus Lerch – Melanie Wurst
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
ten in sich ein. Sie stellt einen Traditionsbezug dar, dessen Aussageautorität sich auf Bewusstseins- und Sozialvorgänge beruft. Entsprechend ist schon im Rahmen der klassischen theologischen Erkenntnislehre in der Rede von Offenbarung immer der Dreischritt aus einem Erkenntnisprozess, seinem Resultat und seiner traditionsbildenden Festschreibung eingeschlossen.2 Das Offenbarungsparadigma bewegt sich hier in einem Spannungsfeld zwischen einem eingefordertem Vertrauensvorschuss (gegenüber der vermittelten Tradition, die sich auf eine transzendente ›Gabe‹ beruft), einer auf ihn bezogenen erkenntnistheoretischen Prozesshaftigkeit (in der aktiven Erschließung und Generierung dieser Traditionsparadigmen) und der Notwendigkeit eines kritischen Theologizitätserweises der Erkenntnisgehalte im konkreten geschichtlichen Geschehen (auf der Grundlage eines sozialen wie individuellen Erweises von sinnstiftender Lebensdienlichkeit). Die untersuchten systemischen und materialen Mechanismen, die bei der Religionsentstehung eine wichtige Rolle spielen, erhalten vor diesem Hintergrund eine theologische Relevanz. Sie bilden eine wichtige Grundlage, auf der auch offenbarungstheologisch geframte Wissensformen als Prozesse analysiert und begründet erschlossen werden können. Ob und wie diese Verknüpfungen offenbarungstheologisch jedoch konsequent eingelöst werden können, wird zu zeigen sein. Dabei kann es fundamentaltheologisch nicht um eine Ausklammerung der Rede von einem auf ›Gott‹ bezogenen ›Offenbarungsgehalt‹ im Sinne einer ›Gabe‹ gehen. Vielmehr muss ein im Rahmen eines systemischen und dekonstruktiven Religionsverständnisses adäquates Verständnis solcher ›Offenbarungswahrheiten‹ entwickelt werden. Die offenbarungstheologischen Argumentationen und die daraus abgeleitete fundamentaltheologische Erkenntnistheorie muss daher abschließend einer dogmatischen Evaluation unterzogen werden, die die klassischen offenbarungsbezogenen Traktate aufnimmt und mit den vorliegenden Ergebniskomplexen konfrontiert. ***
Exkurs: Einordnung der Überlegungen im Horizont des Gabediskurses Mit dem Begriff der ›Gabe‹ ist ein theologischer und philosophischer Diskurs auf den Plan gerufen, der den schmalen Grat der Offenbarungstheologie deutlich machen kann. Zugleich verlangt die Weite des Gabeparadigmas nach einer transparenten Einordnung. Sie soll hier in der nötigen Kürze geleistet werden. Im Rahmen der vorliegenden Modellierungen soll in Anlehnung an Ausführungen von Augustinus eine beziehungsorientierte Einordnung des Offenbarungsgehalts
2
(Hgg.), Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart (RaFi 60), Regensburg 2017, 245–259, hier: 247f. Vgl. Reinhold Bernhardt, Art. Offenbarung, in: Cornelia Dockter – Martin Dürnberger – Aaron Langenfeld (Hgg.), Theologische Grundbegriffe. Ein Handbuch (UTB 5395/Grundwissen Theologie), Paderborn 2021, 122f., hier: 122.
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als ›Gabephänomen‹ vorgeschlagen werden. Dabei geht es den vorliegenden Überlegungen explizit nicht um eine ontologische Absicherung der relational orientierten Glaubenssuche des Menschen. Vielmehr vermag ein differenzhermeneutisch geläutertes Gabeparadigma, den thematisierten transzendenten Offenbarungsgehalt in seiner immanenten Begrenztheit zu verstehen. Der Gabediskurs arbeitet sich genau an dieser Schnittstelle an erkenntnistheoretischen Problemfeldern ab, die auch die vorliegende Arbeit betreffen. Der Diskurs kann dabei helfen, offenbarungstheologische Konzepte jenseits enggeführter Subjektivismen und ontologischer Festschreibungen zu entwickeln. In diesem Sinne lehnt sich die folgende Reflexion an Marions Versuch an, »sich gegen eine moderne Philosophie des Subjekts [zu wenden; JU], die in diesem den transzendentalen Garanten der Möglichkeitsbedingungen sicherer Erkenntnis verortet. Vielmehr geht es ihm um ein Denken, das von einer vorgegebenen Erfahrung des Unmöglichen und der damit verbundenen Überraschung und ›Bewunderung‹ aus beginnt und so eine originäre Passivität des Subjekts offenlegt […].«3 Die Metapher der Gabe dient vor diesem Hintergrund der Beschreibung des offenbarungstheologischen Eigenwertes immanenter Beziehungswirklichkeiten und wird zu einem aufschlussreichen »heuristische[n] Kriterium«4 . Eine in diesem Sinne als ›Gabe‹ markierte Offenbarung löst ihre Bindung an die beziehungslogische, prozessuale Bezugsform des jeweiligen Glaubensprozesses ein. Marion drückt diese aktual-relationale Verortung von Erkenntnisprozessen ähnlich wie Derrida über partizipiale Formulierungen aus: Es geht ihm um das »Gegeben sei« (frz. »Étant donné«)5 . Diesen Modus des Gegebenen versteht er als Möglichkeitsbedingung jeder Wahrnehmungserfahrung.6 Sie agiert im bereits differenzhermeneutisch ausgearbeiteten Spannungsfeld aus aktiver Reflexion im Rahmen von Beziehungen und der Erfahrung einer unüberwindlichen Passivität und Unabschließbarkeit dieser Reflexionsbewegungen. Auf diese raumschaffende Erfahrung verweist auch Edward Schillebeeckx in seiner Offenbarungstheologie. Er verbindet konsequent die Rede von einer ungeschuldeten »Begnadung«7 des Menschen mit einer streng immanent gekennzeichneten Beziehungslogik. Es geht ihm dabei um einen Wandel der deutenden Wahrnehmung und der damit verbundenen Lebenspraxis.8 Diese Beziehungslogik differenziert er chris-
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Katharina Bauer, Der Gabediskurs. Ein Überblick, in: Phänomenologische Forschungen (2012) 233–253, hier: 244f. Christine Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i.Br. 2010, 31. Jean-Luc Marion, Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. T. Alferi (Eichstätter philosophische Studien 2), Freiburg i.Br./München 2015; frz. Original: Ders., Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 2 1998. Vgl. Marion, Gegeben sei, 61. Edward Schillebeeckx, Gesammelte Schriften. Bd. 1: Offenbarung und Theologie, übers. v. H. Zulauf, Mainz 1965, 305. Vgl. Mary C. Hilkert, Experience and Revelation, in: Mary C. Hilkert – Robert J. Schreiter (Hgg.), The Praxis of the Reign of God. An Introduction to the Theology of Edward Schillebeeckx, New York (NY) 2002, 59–77, hier: 66.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
tologisch aus. Auf diese Weise bindet er das Offenbarungsparadigma anthropologisch zurück. Er resümiert: »Begnadung, Offenbarung findet also im Rahmen eines zwischenmenschlichen Umgangs statt. Das heißt, menschliche Kontakte mit dem Menschen Jesus, geschichtlich situierte Begegnungen werden zu Begegnungen mit Gott […].«9 Damit entgeht er der zum Teil kritisch mit dem Gabeparadigma verbundenen Gefahr, das Transzendenzmoment subjektivistisch aufzulösen beziehungsweise einer immanent einzulösenden ›Erkenntnisgarantie‹ zu unterziehen. Stattdessen weist Schillebeeckx darauf hin, dass der »Erkenntniswert unserer Glaubensbegriffe […] in einem projektiven Erkenntnisakt [liegt], mittels dessen wir im Glauben nach Gott greifen, ohne ihn jedoch begrifflich zu fassen, obwohl wir wissen, daß er objektiv auf dieser Linie liegt: zum Beispiel auf der Linie der menschlichen Verständlichkeit von ›Vater und Sohn‹.«10 Es zeigt sich: Die Rede vom Gabemoment der Offenbarung ermöglicht eine auch differenzhermeneutisch anschlussfähige Einordnung des an die Erkenntnisform gebundenen Gehaltes religiöser Transzendenzbezüge. Eine Verbindung des Offenbarungsparadigmas mit einem operativen, ereignisgebundenen Gabeverständnis kann verdeutlichen, dass sich Offenbarungsbezüge von klassischen, ontologischen Existenzaussagen abgrenzen und erst so metaperspektivische Erkenntnisprozesse ermöglichen.11 Derrida skizziert in diesem Zusammenhang das Ausgehen von einer ungeschuldeten Gabe als einen differenzhermeneutisch paradoxen Vertrauensvorschuss, der von einer radikalen Unbedingtheit – christlich gesprochen einem Gnadenvorschuss – ausgehen muss, um seinen Sinngehalt zu wahren. Anhand der Metapher des Falschgelds als einer ›falschen Gabe‹ verdeutlicht er die erkenntnistheoretische Grundhaltung, die im Gabediskurs ins Spiel kommt und fragt: »Die Gabe und die Vergebung […,] müssen sie nicht – aber jenseits von allem Müssen, von aller Pflicht und Schuldigkeit – auf jedes Mißtrauen gegenüber dem Falschgeld verzichten, müssen sie es nicht zulassen, daß man sie nachmacht oder fälscht, weil nur so die Chance gewahrt bleibt, daß sie sind, was sie sein sollen, aber jenseits allen Sollens sein sollen?«12 Der folgende offenbarungstheologische Bezug auf das Gabeparadigma verschreibt sich genau dieser Unabgegoltenheit zwischen der Passivität des Gabeempfängers und seinem gleichzeitig aktiv eingebrachten, beziehungsbasierten Vertrauensvorschuss. Dieses beziehungslogische Paradox bildet den Ermöglichungsraum des Transzendenzbe-
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Schillebeeckx, Schriften I, 305. Ebd., 313. Vgl. Hans Holleis, Die vergebliche Gabe. Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida (Edition Moderne Postmoderne), Bielefeld 2017, 200. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. v. A. Knop u. M. Wetzel, München 1993, 94.
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zugs jenseits aller Garantiemechanismen. Es markiert den immanent wirksamen Beziehungsvollzug, der von einem solchen »Zwischenstatus zwischen Aktivität und Passivität«13 ausgeht, ohne dazu auf ontologisierende Absicherungen oder subjektivistische Konstruktivismen zurückzugreifen. ***
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bietet sich ein Dreischritt der theologischen Überprüfung an. Er ergibt sich aus den im Verlauf der Arbeit bereits eingebrachten theologischen Anschlussstellen. Es gilt, die axialen, performativen, differenzhermeneutischen und operativen Grundparadigmen einer konkreten theologischen Anwendung zu unterziehen. Dazu müssen fundamentaltheologisch tragbare Offenbarungskonzepte ausgelotet werden, die angesichts der differenzhermeneutischen Form religionsevolutiver Erkenntnisprozesse Bestand haben: 1. In einem ersten Schritt soll dazu die beziehungsbasierte Gegenwartsbezogenheit christlicher Offenbarungsvorstellungen beispielhaft anhand eines theologiegeschichtlichen Schlaglichtes erörtert werden: Die biographisch und relational grundierte Offenbarungstheologie des Augustinus verweist auf mögliche dogmatische Anschlusslinien für eine christliche Rede von ›Offenbarungswirklichkeiten‹, die evolutive Kontingenzen und erkenntnistheoretische Begrenztheiten theologieproduktiv zu integrieren vermag (vgl. Kapitel 11.1). 2. In einem zweiten Schritt wird aus der von Augustinus eingeführten Beziehungslogik eine systematisch-theologische Epistemik abgeleitet. Sie orientiert sich entlang der im ersten Schritt beispielhaft ausbuchstabierten Praxisgebundenheit der Offenbarungsrede. Diesen Praxisbezug versteht sie als fundamentaltheologisch höchst relevanten, evolutiv verschärft eingeforderten epistemischen Prüffaktor für die Referenzform und damit auch den Referenzgehalt transzendenzbasierter Codierungen (vgl. Kapitel 11.2.1). Die der epistemischen Grundlegung folgende fundamentaltheologische Argumentation sucht entsprechend nach relational gelagerten Kartierungsmöglichkeiten einer Offenbarungstheologie, die sich an evolutionsanthropologische Erkenntnisse anschließen lässt (Kapitel 11.2.2). Ein solcher Anschluss eröffnet schließlich die theologische Möglichkeit, ein passgenaues systematischtheologisches Modell relational-aktualer Offenbarungspragmatik vorzuschlagen (vgl. Kapitel 11.3). Im Rahmen der damit fokussierten theologischen Verortung des evolutiven Religionsparadigmas ergibt sich eine Neuordnung und Präzisierung der offenbarungstheologischen Bezüge zwischen Erkenntnisform und Erkenntnisgehalt. Sie werden zur Spiegelachse der vorliegenden Untersuchung. 3. In einem abschließenden dritten Schritt wird die entwickelte relational-aktuale Offenbarungspragmatik auf die spezifisch christlichen Codierungen eines ›personalen Gottes‹ (Kapitel 12.1) und auf die Bindung der Gotteserkenntnis an die kirchliche Gemeinschaft übertragen (vgl. Kapitel 12.2): 13
Bauer, Gabediskurs, 247.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
Eine wichtige Spur für den operativ-relationalen Bezug im christlichen Offenbarungsverständnis markiert das Christusereignis. Es bezieht sich auf ein konkretes historisches Gegenwartserleben und deutet es als eine verbindende Differenzierung zwischen Transzendenz und Immanenz. Sie nachzuvollziehen, birgt das Potenzial einer diskursiven Einbettung der Offenbarungsrede. Mit ihr geht auch die christliche Rede vom ›Geist Gottes‹ einher. Dogmatisch betrachtet manifestiert sich in ihr die angesprochene Differenzlogik einer immanent gegenwärtigen Präsenz als konstitutiver Bestandteil der (trinitarisch gedachten) Transzendenz selbst. Pneumatologisch und christologisch grundierte Glaubensbewegungen entfalten so betrachtet offenbarungstheologische Erkenntnisräume, die immer schon von der streng immanenten Thematisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz ausgehen. Sie legen einen prozessbedingten, aktual verstandenen Begriff von Offenbarungswirklichkeiten nahe (vgl. Kapitel 12.1). Die diskursive Einbettung eines operativ verstandenen Offenbarungsparadigmas verweist schließlich auch auf seine konkrete soziale Träger*innengemeinschaft. Hier fällt im Rahmen der katholischen Theologie das Augenmerk auf einen ekklesiologischen Zugang. Die Ekklesiologie tangiert im vorliegenden Rezeptionsund Reflexionssetting einen evolutionsanthropologischen Kern: In der Kirche manifestiert sich eine konkrete Einbindung der christlichen Transzendenzcodes in immanente Systembildungen. Zugleich erhebt ihr performatives Selbstverständnis den Anspruch, diese systemischen Abhängigkeiten immer auch aufzusprengen. Die Kirche kann hier als ein offenbarungstheologischer Bezugsraum für die pneumatologischen und christologischen Operationsformen betrachtet werden. Diese bedürfen des Realbezugs sozialer Kollektive und konstituieren sie zugleich (neu). Wenn kollektiven Settings auf Grundlage neuer, transzendenter Codierungsformen also die evolutive Rolle zukommt, Wirklichkeiten performativ zu erschließen und zu verändern, ergeben sich daraus auch Herausforderungen für die Ekklesiologie: Kommt einem auf Transzendenz bezogenen Kollektiv eine eigene Theologizität zu? Geschieht also innerhalb eines solchen Kollektivs tatsächlich eine Widerspiegelung der Welt in der Erkenntnisform ›Offenbarung‹? Wie sichert der kollektive Erfahrungsraum angesichts der immanenten Einbettung seinen dogmatisch verbürgten, sakramentalen Status ab? Und kann dieser Status für sich beanspruchen, systemische Rückwirkungen auf das sozialevolutive Gesamtsetting zu haben? Diese Fragen sind nicht trivial. Wenn es gelingt, die vorgenommenen Umstellungen im theologischen Religionsbegriff und die daran anschließende Offenbarungsmodellierung auch ekklesiologisch aufzunehmen, kann seine Anschlussfähigkeit an konkrete anthropologische Grundvollzüge nochmals geschärft werden. Eine solche Schärfung bringt zugleich eine doppelte ekklesiologische Selbstrelativierung mit sich. Einerseits muss sich die Kirche in ihren Vollzügen angesichts systemischer Begrenztheiten und kollektiver Funktionalitäten neu definieren. Auf der anderen Seite kann die Ekklesiologie ein relativierendes Potenzial gegenüber naturalistischen Kurzschlüssen entfalten, wenn sie es schafft, die situative Operativität kirchlicher Vollzüge als bedeutsames Moment der Sinngebung ihrer selbst und damit der menschlich wahrgenommenen Welt zu vermitteln (vgl. Kapitel 12.2).
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Die dreigliedrige Anlage des folgenden Schlussteils verdeutlicht das Spiegelverhältnis der theologischen Grundparadigmen gegenüber der evolutionären Anthropologie. Es wendet die entwickelten erkenntnistheoretischen und soziologischen Grundpfeiler an und verfolgt das Ziel, theologisch wirksame Spannungsfelder als traditionsintern angelegte Transformationsräume zu skizzieren. Diese Räume müssen in der Lage sein, materiale und zeitliche Dispositionen des Menschen wie Körperlichkeit, Endlichkeit und die Angewiesenheit auf komplexe Kollektivstrukturen als theologieproduktive Horizonte in sich aufzunehmen. Hier ist ein neues fundamentaltheologisches Komplexitätsniveau in die dogmatischen Glaubensgehalte einzuspeisen. Es markiert den Zielhorizont der vorliegenden Arbeit und mit ihm den theologischen Spiegel auf die wissenschaftstheoretischen Leerstellen im Evolutionsdiskurs. Zugleich liegt genau hier die notwendige Spiegelfunktion evolutionsanthropologischer Modelle gegenüber dogmatischen Totalisierungen, die jede Situationsgebundenheit auszuklammern versuchen: Die Theologie teilt sich mit der evolutionsanthropologischen Untersuchung religiöser Vollzüge ihr Materialobjekt. Beide Wissenschaften betrachten die religiösen Sprachformen und Handlungen des Menschen unter Berücksichtigung ihres Transzendenzbezugs. Die Unterschiede auf der Ebene des Formalobjekts ziehen jedoch für die Theologie und ihren Diskurs mit der evolutionären Anthropologie weite Kreise: Die Theologie reflektiert religiöse Praktiken in Rückbezug auf die Rede von ›Gott‹ unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Offenbarungsparadigmas. Sie argumentiert also in einer Linie mit der vom untersuchten Materialobjekt selbst eingebrachten Deutungskategorie. Dass sie damit angesichts evolutiver Materialität und entsprechender systemischer Komplexität immer schon in einem Spannungsfeld agiert, wird nicht zuletzt im Rahmen der entwickelten Differenzhermeneutik deutlich. Mit der offenbarungstheologisch geprägten Axiomatik der Theologie verbindet sich daher immer auch »ein eigenes, strukturell verankertes oder prinzipielles Limitationswissen […]: dass ihr Formalobjekt (das Objekt hinter allen materialen Gegenständen des theologischen Diskurses), nämlich Gott selbst, sich in einem prinzipiellen Sinn jeder Identifizierung oder jedes feststellenden Angriffs entzieht.«14 Dieses Limitationsbewusstsein fordert die theologische Rede von der Offenbarung heraus. Es stellt den Versuch dar, Codierungen der Gottesrede direkt auf Gott zu beziehen und material greifbar zu machen, ohne diesen Versuch jemals einlösen zu können. Es zeigt sich darin zugleich: Die zentrale evolutive Rolle, die Transzendenzbezügen zukommt, bringt auch für die evolutionäre Anthropologie einen unverzichtbaren Blickwinkel ein. Die erkenntnistheoretischen Bewegungen, die hier ausgelöst werden, ›funktionieren‹ nur, weil sie ihre primären Entstehungsfaktoren nicht mehr rein funktional-reaktiv, sondern aktual-sinnproduktiv bearbeiten. Das heißt, die Form und Zielrichtung evolutiver Erkenntnisprozesse selbst wird hier operativ verändert. In diesem Sinne haben es Religionen mit konkreter Wirklichkeit zu tun. Die theologische Rede
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Knut Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt. Grundlegungen der Fundamentaltheologie, Freiburg i.Br. 2016, 112 [Kursivierungen im Original].
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
von einem*einer transzendenten, anwesenden Akteur*in (›Gott‹/›Gottes Geist‹), kann einer sozialsystemischen Wirklichkeit daher analytisch entsprechen. Der abschließende systematische Entwurf stützt sich deshalb auf folgende Grundannahme: Die material-körperlichen Bezüge der christlichen Offenbarungstheologie verlangen nach einer realistischen, auch materialen Beschreibung von Natur und Geschichte, die sie nicht eigenständig hervorbringen können. An dieser Stelle sind Religion und materiale Evolution auch erkenntnistheoretisch eng aufeinander verwiesen. Die Ausbuchstabierung der christlichen Offenbarungsrede in pneumatologischen Sprachformen, christologisch gedeuteter Körperlichkeit und ekklesiologisch-kollektiver Intentionalität muss einen entsprechend konsequenten Anschluss an evolutionsanthropologische Bedingungsgefüge erfahren.15
11.1. Das augustinische Offenbarungsverständnis als Differenzhermeneutik Die Bekehrungsgeschichte des Augustinus von Hippo (354–430) und seine daran anschließende theologische Reflexion sind ein herausragendes Beispiel der aufgerufenen Zusammenhänge. Augustinus versieht seine Bekehrung mit einem Offenbarungsbezug. Auf diese Weise verbindet er die konkrete Erfahrungsdimension mit einer reflexiven Interpretation des Erlebten in Form von theologischen Verobjektivierungen.16 Augustinus betreibt eine theologische Biographiearbeit, die »auf eigentümliche Weise die subjektive Erfahrung der Gottbegegnung mit den objektiven Zügen der Weitergabe christlicher Lehre in Predigt, Katechese und Leben [verbindet; JU]. Es kreuzen sich das (philosophische) Verlangen und Suchen nach Erkenntnis und Weisheit mit der (theologisch) im Glauben erfahrenen Zuwendung Gottes.«17 Dadurch, dass Augustinus seine theologische Argumentation an seine biographischen Erfahrungen rückbindet, stellt sich für ihn die theologische Notwendigkeit einer Beschäftigung mit den bewusstseinstheoretischen Grundlagen des Menschen und seiner Gotteserkenntnis. Das macht seine Überlegungen insbesondere in den Confessiones für den vorliegenden Kontext anschlussfähig. In einigen kurzen Schlaglichtern sollen die Linien augustinischen Denkens daher aufgezeigt und in ihrer offenbarungstheologischen wie auch erkenntnistheoretischen Dimension nachgezeichnet werden. Sie dienen als
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Im ersten Teil der Arbeit konnte dieses Bedingungsgefüge vermessen werden. Es ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen körperlicher Materialität, sprachbezogenem Reflexionsvermögen und kollektiver Sozialorganisation des Menschen. Aus diesen Zusammenhängen speist sich die Begrenztheitserfahrung des Menschen und ihre evolutive Motorenfunktion. Sie ruft das komplexe Erfahrungssetting aus Komplexitäts-, Zeit- und Sinnproblematiken auf den Plan (vgl. dazu zusammenfassend Kapitel 5). Vgl. Gregor M. Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007, 151. Hans Waldenfels, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Sonderausgabe (WBG Bibliothek), Darmstadt 2007 [1996], 60.
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Wegweiser für die folgende evolutionsanthropologisch und soziologisch beeinflusste offenbarungstheologische Theoriebildung in Kapitel 11.2. Angebunden an seine eigene Bekehrungsbiographie beschäftigt sich Augustinus mit den Voraussetzungen menschlicher Gotteserkenntnis. Dabei geht es für ihn konkret um die Einordnung des erkenntnistheoretischen Status menschlicher Gottsuche und ihres Niederschlags in Traditionsbildungen, Gotteslehre und der entsprechenden Verkündigung. Er analysiert daher die Verbindungslinie zwischen immanenten Vernunftbewegungen der Sinnsuche und transzendent verstandenen Wahrheiten, auf die sich diese Bewegungen beziehen und als welche sie religiös gedeutet werden. In diesem Zuge verweist Augustinus auf das menschliche Bewusstsein als Ausgangspunkt für den glaubenden Weg zu Gott. Das menschliche Bewusstsein ist für ihn in den Rahmen sozialer und materialer Gegebenheiten eingebunden, die zeitlich bedingt auftreten: Ohne konkrete Bezugnahmen auf diesen Rahmen, in dem Wahrnehmungen und schließlich Erinnerungen konstituiert werden können, entbehrt die menschliche ›Geisteskraft‹ laut Augustinus jeder Grundlage. Diese Bindung stellt den theologisch zu rechtfertigenden Bezug des Menschen zu einem als transzendent verstandenen ›Gott‹ auf die Probe. Die kontextuellen Abhängigkeiten menschlicher Erkenntnis leiten entsprechend die theologische Problemanalyse im zehnten Buch der Confessiones ein. Augustinus arbeitet sich an der Möglichkeit einer Gotteserkenntnis trotz und in ihrer Bindung an die Grenzen menschlicher ›Geisteskraft‹ ab. In diesem Zuge bindet er menschliche Vernunfterkenntnis und Gottesbezug aneinander. Zunächst stellt Augustinus fest, dass die Suche nach Sinn und ihre Verbindung mit einer Ausrichtung an einem transzendent verstandenen Horizont jenseits religionskultureller und konfessioneller Grenzen ein anthropologisches Grunddispositiv darstellt. Für Augustinus ist daher von Interesse, wie sich dieses Streben konkret konstituiert und auf welche Weise es mit der angestrebten Transzendenz, christlich gesprochen mit Gott selbst, in Verbindung steht. Er fragt: »Aber das selige Leben, das ist doch etwas, das alle Menschen wollen. Keiner lehnt es völlig ab. Wo haben sie es kennengelernt, dass sie es so wollen? Wo haben sie es gesehen, dass sie es so lieben? […] Denn ohne es zu kennen, könnten wir es nicht lieben.«18 Diese Bindung der Gottsuche an die menschliche Bewusstseinskonstitution weckt in Augustinus das Interesse für die erkenntnistheoretische Verortung der Gotteserkenntnis – in diesem Sinne leitet ihn ein ähnlicher Untersuchungshorizont wie die vorliegende Arbeit. Auch der Theologie des Augustinus geht es um den theologischen Status der menschlichen Sinnsuche im Rahmen einer tradierten Rede von ›Gott‹ und ihres Selbstanspruchs, sich auf wirkliche Erfahrungsgrundlagen beziehen zu können. Bei aller Ausrichtung des religiösen Erkenntnisziels an der Transzendenz Gottes, verweist Augustinus die theologische Erkenntnistheorie auf die immanenten Bezüge, in denen sie steht. Sie bilden für ihn den ersten Anhaltspunkt, mit dem sich die Theologie zu
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Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. (Lateinisch/Deutsch), hg. v. K. Flasch – B. Mojsisch (Reclams Universalbibliothek 18676), Ditzingen 2009, 10, XX.29.
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beschäftigen hat. Er ordnet die Bezugnahme auf konkrete Gotteserfahrungen entsprechend ein: »Und doch handelt es sich um eine Kraft meines Geistes. Sie gehört zu meinem Wesen, aber ich selbst fasse nicht das Ganze, das ich bin. Sollte also der Geist zu eng sein, um sich selbst zu enthalten? Und wo soll das von ihm sein, was er nicht umfasst? Es kann doch nicht außerhalb seiner liegen […].«19 Für Augustinus bedeutet die Geistbindung, die er hier schildert: Jeder Versuch, durch erweiterte Einsicht die immanente Einsichtsfähigkeit zukünftig zu übersteigen, ist immer schon an bereits gegebene und vorausgesetzte Bewusstseinsleistungen in der Vergangenheit gebunden. Auch jede Glaubenserkenntnis ist damit im Kern eine Erinnerungsleistung (memoria) des menschlichen Geistes. Es ergibt sich ein Paradox. Augustinus drückt die logische Grenzerfahrung der Vernunft angesichts der Suche nach einer Erkenntnis Gottes daher fragend aus und hält fest: »Ich werde auch das Gedächtnis übersteigen, um dich zu finden, du wahrhaft Guter, aber wo? […] Finde ich dich außerhalb meines Gedächtnisses, so denke ich nicht an dich. Aber wie könnte ich dich finden, wenn ich nicht an dich denke?«20 Wenn nun auch der Gedanke an Gott und der Wunsch, ihn*sie zu erkennen, auf diese Weise an vergangene Erfahrungen gebunden ist, so kann er ohne immanente Bezüge nicht gedacht werden. Gleichzeitig deutet das für Augustinus darauf hin, dass der Bezug auf Gott schon im Bewusstsein angelegt ist – und es damit eben nicht einfach ultimativ übersteigt.21 Für Augustinus gilt es entsprechend, den menschlichen Geist selbst weiter zu charakterisieren und so der Form und Möglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis näherzukommen. Er entwirft eine theologische Erkenntnistheorie und ein daran angeschlossenes Offenbarungsverständnis, an das sich die in dieser Arbeit entworfene sozialphilosophische und erkenntnistheoretische Propädeutik in ihren wesentlichen Punkten anschließen lässt. Diese erkenntnistheoretischen Anschlüsse lassen sich thesenhaft erörtern: These I Das dargestellte Vernunftparadox führt Augustinus zum Entwurf einer theologischen Erkenntnistheorie, die den dekonstruktiven Grundprinzipien Derridas verblüffend nahesteht.22 Für Augustinus spielt hier das, was Derrida als ›Temporisation‹ markiert, eine wichtige theologische Rolle, da sie in radikalisierter Form auf jeden Versuch der Rede von ›Gott‹ 19 20 21 22
Ebd., 10, VIII.15. Ebd., 10, XVIII.26. Vgl. ebd., 10, VIII.15. Vgl. zur Verbindung dekonstruktiver Theoriebildungen mit den erkenntnistheologischen Überlegungen bei Augustinus Michael Schramm, Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie, in: AuA 54/1 (2008) 173–192, hier: 176.
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zutrifft. Alles gedankliche Ausgehen und Formulieren einer ›Präsenz Gottes‹ muss angesichts der festgestellten Funktion des menschlichen Geistes immer schon zu spät kommen. Jede transzendenzbezogene Codierung reagiert auf gegebene Wahrnehmungen und Reflexionen. Damit hat sie zwar mit konkreten Gegebenheiten zu tun, die aber angesichts der verzögerten Bewusstwerdung nie einfach gegenwärtig und niemals als solche in ihrer Eigentlichkeit erfasst werden können. Sowohl Augustinus als auch Derrida gelangen hier zu einer Erkenntnistheorie, »die den Jetzt-Zeit-Punkt als nicht fassbar erweist, ist er doch eigentlich nicht. Versprachlicht man das Jetzt oder denkt über es nach, ist es bereits vergangen. […] Gegenwärtigkeit und Präsenz können beiden Denkern zufolge nicht als anwesende Gegenwärtigkeit oder Präsenz gedacht werden, sondern sind auf ihre Art und Weise durch Nicht-Gegenwärtigkeit und Abwesenheit geprägt.«23 Offenbarungstheologisch gewendet bedeutet das: Selbst, wenn Gott sich immanent zeigt, so kann er*sie nie in seiner*ihrer allumfassenden Gegenwart erfasst werden. Er*sie bleibt auch als personaler Bezugspunkt insofern Gott, als dass er*sie lediglich einen paradoxen Raum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ausfüllt. Augustinus macht dieses Paradox der immer schon verspäteten reflexiven Wahrnehmung am Beispiel des Hörens deutlich: Wenn ich höre, »dann halte ich zwar die Bilder der Töne fest, aus denen diese Wörter gebildet sind, aber ich weiß, dass sie als Geräusch durch die Luft in die Ohren gedrungen und jetzt verklungen sind. Aber die Sachen selbst, die diese Töne bezeichnen, habe ich niemals mit einem meiner Sinne berührt; einzig in meinem Geist habe ich sie gesehen.«24 Die menschliche Erkenntnis agiert laut Augustinus also stets entlang »einer Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, insofern der Geist an sich selbst stets Gegenwart und Anwesenheit ist, aber nur, indem er der Bezug auf Abwesendes ist und damit in sich selbst eine grundlegende, unaufhebbare Differenz trägt, aus der sich überhaupt erst die spezifische Form dieser Anwesenheit ergibt.«25 Was bedeutet das nun für den Versuch, den Glauben auf konkrete, als Offenbarungserfahrungen gekennzeichnete Gegebenheiten zu beziehen? Für Augustinus ist Offenbarung als ein wirklichkeitserschließender Vorgang zu verstehen, der gerade deshalb als unverfügbar verstanden werden muss. Wenn er sich auf den (transzendenten) Ursprung und damit auf Gott bezieht, so kann er nicht einfach sprachlich eingefasst werden. Dennoch kann der Vorgang nur dann wirksam werden, wenn er Vernunftvollzüge hervorruft. Jede Abkoppelung der Offenbarung von der Vernunft (etwa über Autoritätsargumente oder die Rede von unbegreiflichen Wundern), widerspricht nach Augustinus daher dem, was Offenbarung anzustoßen vermag. Trotz aller Unabschließbarkeit der Vernunftergründung des Gottesbezugs, ›offenbart‹ sich Gott also immer nur in der sinnproduktiven Erschließung seiner Transzendenz.26
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Florian Bruckmann, Die Schrift als Zeuge analoger Gottesrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus, Freiburg i.Br. 2008, 458. Aurelius Augustinus, Confessiones, 10, X.17. Schramm, Confessiones, 178. Vgl. Wolfgang Wieland, Offenbarung bei Augustinus (TTS 12), Mainz 1978, 375.
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These II Angelehnt an diesen erkenntnistheoretischen Hintergrund geht Augustinus trotz der Unabschließbarkeit menschlicher Suchprozesse von ihrer Verbindung mit einer konkret vermittelten Beziehungsrealität Gottes aus. Zu dieser Annahme gelangt er, indem er den Glaubensvollzug als einen abduktiven Schluss begreift: Das ›Schließen‹ selbst entfaltet für ihn eine erschließende und das heißt offenbarende Qualität. Die Suchbewegung entwickelt hier ein performatives Potenzial mit theologischem Eigenwert. Sie wird für Augustinus zum Erkenntnisort des Glaubens, in dem die zuvorkommende Liebe Gottes sichtbar wird.
Augustinus skizziert die paradoxe, unabschließbare Suche – mit den Analysebegriffen der vorliegenden Arbeit beschrieben – als einen performativen Prozess. Die Grunddispositionen der menschlichen Erkenntnis zeitigen laut Augustinus konkrete Rückwirkungen auf die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch. Da alle Erkenntnis abhängig von bereits erlebten, erinnerten Ereignissen ist und so eine Deutung konkreter Zeitlichkeit darstellt, geht Augustinus davon aus, dass auch die Beziehungsrealität zwischen Gott und Mensch mit einem konkreten Erlebensbezug versehen sein muss.27 Der Inbegriff dieser Realitätsform ist für Augustinus die Liebe (›caritas‹). Sie stellt für ihn den Dreh- und Angelpunkt der Sinnsuche dar. In ihm zeigt sich zugleich die Bedingtheit und Unbedingtheit dieser Suche: Sie muss sich im Sinne der nachträglichen Reflexion immer schon auf etwas Gegebenes beziehen und ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich überhaupt nach Sinn und Transzendenz sehnen kann. In der Rede von der Liebe bindet Augustinus seine Bekehrung und die damit verbundene Glaubenserkenntnis also einerseits an Gott selbst und andererseits an die Erkennbarkeit Gottes auch im Rahmen immanenter Wahrnehmung.28 Er hält fest:
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Vgl. Schramm, Confessiones, 181. Eine gewinnbringende Verbindung dieses augustinischen caritas-Bezuges mit dem Rahmen der vorliegenden Arbeit liefern die jüngsten Überlegungen Martin Breuls: Im Zuge seiner hier bereits dargelegten Verknüpfung der kollektiven Intentionalitätstheorie Tomasellos mit seinem Modell praktischer Metaphysik, bezieht Breul als eine dritte Säule die Grundlagen der Anerkennungstheorie insbesondere Markus Knapps ein (vgl. dazu einführend Markus Knapp, Theologie und philosophische Anerkennungstheorie, in: Klaus Viertbauer – Heinrich Schmidinger (Hgg.), Glauben denken. Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2016, 335–354). Er hält dabei an einer Abkehr von ontologischen Direktzuschreibungen fest. Zugleich bezieht er den konkreten Glaubensakt und seine Anerkennungsvoraussetzungen in sein Konzept mit ein, indem er die Rede vom Handeln Gottes mit einem »Primat der Praxis« versieht (Breul, Geschichte, 348). Ganz im Sinne der augustinischen Modellierung hält Breul fest: »Gott handelt kommunikativ an einem freien Gegenüber, nicht an einem Teil seiner selbst. Zugleich wird das freie Gegenüber durch das Handeln Gottes mit in Gott einbezogen. Diese Einbeziehung ist jedoch keine ontologische Teilhabe an Gott, wie es ein Monismus vorsieht, sondern die kommunikative – man könnte auch sagen: performative – Einbeziehung eines freien Partners Gottes in das göttliche Liebesgeschehen […].« (Ebd., 379 [Kursivierungen im Original]).
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»Du hast mit deinem Wort mein Herz erschüttert, und ich habe dich geliebt. Aber auch Himmel und Erde und alles, was in ihnen ist, sieh, von allen Seiten her sagen sie mir, dass ich dich lieben soll.«29 Gotteserkenntnis ist für Augustinus insofern nicht ohne die menschliche Kognition, die erkennende memoria und damit die konkreten geistigen und materialen Gegebenheiten denkbar – übersteigt sie aber zugleich. Es geht hier nicht darum, pantheistisch zu argumentieren: Augustinus verlagert Gott nicht in die materiale Immanenz, sondern bezieht lediglich die Erkenntnis Gottes auf materiale und soziale Gegebenheiten. Sie sind damit für jeden Glaubensvollzug und dementsprechend auch für jedes Offenbarungsverständnis konstitutiv – von ihnen aus können abduktive Erschließungspraktiken auf Gott hin vorgenommen werden. Gott ist nach diesem Verständnis weder einfach materialbezogen zu fassen noch immateriell losgelöst erfahrbar. Vielmehr verweist laut Augustinus die immer schon zu spät kommende Reflexion den Menschen auf von Gott als Offenbarungsmittel bereitgestellte Immanenzen, ohne dass sie das eigentliche Ziel der Transzendenz abbilden könnten. Anders ist eine glaubende Gottesbeziehung für Augustinus nicht denkbar, kann der menschliche Verstand sich doch nur auf immanente Erfahrungen beziehen. Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Suchbewegung durch Augustinus entspricht damit auch hier differenzhermeneutischen Überlegungen. Die paradoxale Bewegung der glaubenden Liebe fasst er dieser Differenzhermeneutik gemäß zusammen: »Was liebe ich denn, indem ich dich [Gott; JU] liebe? Es ist nicht die Schönheit eines Leibes, nicht die Anmut eines Lebensalters, nicht der Glanz des Lichtes, den unsere leiblichen Augen lieben, nicht süße Melodien von Gesängen aller Art, nicht lockender Duft von Salbölen und Gewürzen […]: Nichts von alledem liebe ich, wenn ich meinen Gott liebe. Und doch liebe ich, indem ich meinen Gott liebe, eine Art Licht, eine Art Stimme, eine Art Wohlgeruch […]. Hier leuchtet meiner Seele etwas auf, das kein Raum fasst.«30
These III Die hier in Bezug auf das Lieben gekennzeichnete Erkenntnisform des Glaubens, die Augustinus skizziert, markiert ein prozessuales, an eine pragmatische Hermeneutik angelehntes Verständnis von Immanenz und Transzendenz. Das Offenbarungsmodell von Augustinus entspricht damit der erarbeiteten offenbarungstheologischen Interdependenz zwischen Erkenntnisform und Erkenntnisgehalt. Für die vorliegende Arbeit ergeben sich daraus konkrete offenbarungstheologische Anschlusspotenziale an die evolutive Entwicklung menschlicher Erkenntnisformen.
Die augustinische Argumentation für die Möglichkeit einer Gottsuche und für eine mit ihr einhergehende Gotteserkenntnis basiert auf dem Zusammenwirken zwischen der
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Aurelius Augustinus, Confessiones, 10, VI.8. Ebd.
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(Selbst-)Offenbarung Gottes, der (Selbst-)Erkenntnis des Menschen und dem Glaubensvollzug (als Vernunftvollzug).31 Man kann im Werk von Augustinus in diesem Sinne die Evolution des Gottesgedankens nachvollziehen. Auf den evolutionsanthropologischen Fokus der vorliegenden Studie angewendet lässt sich aus seinem Modell schließen: Jeder Offenbarungsbezug ist immer schon auf die materiale und anthropologische Natur verwiesen, ohne einfach in ihr aufzugehen. Das wäre zunächst trivial – wenn sich nicht die Herausbildung von Transzendenzbezügen als evolutionsanthropologischer ebenso wie als offenbarungstheologischer Motor kennzeichnen ließe. Im Zuge von Handlungskoordination gewährleisten sie den Aufbau von Sozialität und Beziehungsmustern. An dieser Schnittstelle verortet Augustinus die Interdependenz zwischen der Beziehungsrealität Gottes, dem menschlichen Bezug auf sie und den natürlichen, immanenten Begebenheiten. Sie bedeutet für die theologische Offenbarungsrede sowohl eine Relativierung als auch eine Stärkung. Schon Augustinus verbindet mit ihr die Einsicht in die theologische Unmöglichkeit eines direkten, universal zugänglichen Offenbarungsverständnisses. Zugleich sieht er in der dargelegten erkenntnistheoretischen Verortung der Glaubenssuche auch den Ermöglichungsgrund göttlicher Offenbarung gegeben. Es geht ihm um ein »doppelte[s] Wissen um das Wesen Gottes und die eigene Natur«32 . Damit entspricht er dem methodologisch geforderten Limitationsbewusstsein, dem die Offenbarungstheologie verpflichtet ist.33 Vor diesem Hintergrund lässt sich Offenbarung mit Augustinus als Ausdrucksform von »subjektbezogene[n] Beobachtungen«34 verstehen. Im Rahmen der kognitiv (›geistig‹) angelegten Glaubenssuche vollzieht sich eine Deutung der menschlichen Um- und Sozialwelt, in der das Streben nach Liebe in einen Beziehungsprozess führt, dessen Sinngebung sich an Transzendenzvorstellungen bindet. Dabei geht es weder um den direkten Kontakt mit externen, objektiv gegenübertretenden ›Wunderphänomenen‹ noch um eine rein subjektivistische Deutungsrelativität. Die als Offenbarung gedeuteten Erfahrungsgrundlagen bezieht Augustinus dagegen auf Interpretationsleistungen und ihre argumentativ geleitete Versprachlichung, die sich an der Glaubenstradition zu messen haben. Rationales Denken und eine bewusste, glaubende Zustimmung spielen demnach offenbarungstheologisch als Bedingungsgefüge ineinander und sichern sich gegenseitig vernunftbasiert ab.35 Im Rahmen dieses Offenbarungsverständnisses lässt sich theologisch aufzeigen, inwiefern das Offenbarungsparadigma auch im Rahmen der kognitiven Evolution als ein erkenntnistheoretischer Ermöglichungsraum verstanden werden kann. Als solchem kommt ihm ein gleichermaßen evolutiver wie theologischer Gehalt zu: Offenbarungsdiskurse stellen kritische Deutungs- und Handlungsoptionen zur Verfügung. Diese Diskursform entspricht dann ihrem inhaltlichen Hoffnungsgehalt, wenn sie die evolutiven Prozesse bewusstmacht und zugleich über sie hinausweist.
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Vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Konversionen. Eine Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn 2004, 249f. Ebd., 250. Vgl. Wenzel, Offenbarung, 112. Waldenfels, Einführung, 61. Vgl. Ruhstorfer, Konversionen, 224.
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Dieser Interdependenz zwischen menschlicher Bedingtheit und theologischer Sinnhaftigkeit folgt der Anspruch auf einen konkreten Wirklichkeitsbezug, der die Offenbarungsrede auch bei Augustinus prägt. Augustinus bestimmt die »Geschichte als [einen; JU] Ort möglicher Wahrheitserkenntnis«36 . Dieser Bestimmung folgend, schließt er seinem zehnten Buch, in dem er sich der menschlichen Gotteserkenntnis widmet, den vorwiegend biblisch argumentierenden Schlussteil seiner Confessiones an. Er verweist zurück auf die immanenzbasierte Erkenntnisform der für den Menschen zugänglichen Offenbarung und damit auf die notwendige »Nüchternheit, sich dem Wort der Schrift zuzuwenden, der dann als ganzer von Christus und vom Neuen Testament her eine revelatorische Funktion zukommt.«37 Die Bindung von Offenbarung an menschliche Erkenntnis in der Geschichte und an das immanente Glaubenszeugnis der Schrift konnte in dieser Form bereits in der Rezeption von Dei Verbum nachgezeichnet werden (vgl. dazu S. 175–177 der vorliegenden Arbeit). In beiden offenbarungstheologischen Modellierungen wird eine Verknüpfung zwischen der menschlichen Codierungspraxis und dem Offenbarungsgeschehen vorausgesetzt (vgl. DV 2). Wie Augustinus versteht auch die dogmatische Konstitution in diesem Zuge eine Rückbindung an die liebende Bezugnahme zwischen Gott und Mensch als den offenbarungstheologischen Kernbestand (DV 5). Die augustinische Erkenntnistheorie und sein an sie angeschlossenes Offenbarungsverständnis zeigen: Augustinus legt offenbarungstheologisch das aus, was im Verlauf der vorliegenden Arbeit als ein performativ wirksamer Erkenntnisvollzug eingeführt werden konnte. In diesem Sinne hat die augustinische Offenbarungstheologie auch eine paradigmatische Bedeutung: Augustinus ist der erste, der Offenbarungstheologie als Vollzug nicht nur theologisch plausibilisiert, sondern sie selbst biographisch nachvollzieht. Er verbindet glaubensbiographische, existenzielle Lebensdeutung mit theoretisch-reflexiven Argumentationen der Theologie. Als Kirchenlehrer vermittelt er seine theologische Praxis hier als Scharnierstück philosophisch-theologischer Theoriebildung. Auf dieser Grundlage lässt sich seine Offenbarungstheologie auch evolutionstheoretisch anschlussfähig weiterdenken, da sie konsequent auf immanente Praktiken verwiesen ist. Augustinus entwirft also ein offenbarungstheologisches Modell, das mit konkreten Verknüpfungen zwischen immanenten Erkenntnisvollzügen und einer transzendenten Unverfügbarkeit arbeitet. Dass er dabei entlang der Linien des menschlichen Strebens nach liebender Glückseligkeit und seiner eigenen biographischen Erfahrungsdeutung operiert, prägt sein theologisches Argument grundständig. Er entwickelt eine Offenbarungstheologie, die sich unter dem Stichwort einer ›relationalen Offenbarungspragmatik‹38 subsumieren lässt: Als Grundlage der theologieproduktiven Beziehungsrealität sieht Augustinus ein dem Menschen gegebenes Streben nach dem »selige[n] Leben«39 . Wer dieses Streben in eine glaubende Offenheit legt, der kann sich schließlich – auf Grundlage der Schrift-
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Hoff, Offenbarungen, 153. Waldenfels, Einführung, 61. Diese Argumentation orientiert sich an einem offenbarungstheologischen Entwurf von Hans-Joachim Höhn, der im Folgenden noch im Detail zum Tragen kommen wird. Er verfolgt die Idee einer ›relationalen Ontologie‹ (siehe Hans-Joachim Höhn, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 109). Aurelius Augustinus, Confessiones, 10, XX.29.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
und Lebenszeugnisse – in eine relationale Verbindung mit Gott begeben (›Gott erschüttert das Herz‹40 ). Diese Verbindung findet ihren Ausdruck wiederum in glaubenden Lebensdeutungen. Sie versuchen, das Ziel des menschlichen Strebens zu konkretisieren, ohne es erschöpfend erreichen zu können. Augustinus entwickelt eine praxisgebundene, beziehungslogische Erkenntnistheologie. Mit ihr macht er deutlich, dass erst im Rahmen des Glaubensvollzugs biographisch wie (heils-)geschichtlich die sinngebende Performanz entsteht, die in der Offenbarungsrede angesprochen ist: Sie ist auf ein konkretes Beziehungsgeschehen verwiesen. Augustinus leitet auf der Grundlage eines Zusammenwirkens zwischen dem natürlich angelegten Streben des Menschen und seiner konkreten, traditionsbezogenen Glaubenshaltung einen operativen Vollzug der Offenbarungserkenntnis ab. Diesen markiert er als Grundlage für die Erkenntnisform und den daraus abgeleiteten Erkenntnisgehalt, der als ›Offenbarung‹ identifiziert wird.41 Es geht um eine Suchbewegung (vgl. Derrida), die relationale Transformationsräume eröffnet. Hier klingt die über die Systemfunktion hinausgehende, theologisch angelegte Doppelrolle aus Erkenntnisform und Erkenntnisgehalt an, die im Verlauf der Religionsevolution systemisch in einer operativen Oszillation zwischen Immanenz und Transzendenz bleibend aufeinander verwiesen werden. Diese offenbarungstheologische Ausbuchstabierung differenzbasierter Glaubensvollzüge kann auf die Herausforderungen, die sich aus der Konfrontation der Offenbarungstheologie mit evolutionsanthropologischen Grundparadigmen ergeben, reagieren. Das Offenbarungsparadigma stellt sich sowohl theologiehistorisch, mit Blick auf die theologische Erkenntnistheorie des Augustinus, als auch schrifthermeneutisch, mit Blick auf die Konstitution Dei Verbum sowie die Wort-Gottes Theologie Barths, als ein erkenntnistheoretischer Ermöglichungsraum dar. Evolutiv betrachtet zeigt sich, dass er als kulturelles Verarbeitungskonzept zu einem Voranschreiten des menschlichen Bewusstseins und der sozialen Organisationsformen beitragen kann. Das Kriterium für die Theologizität dieses Zusammenwirkens aus Erkenntnisform und transzendenzorientiertem Erkenntnisgehalt konnte im Rahmen der vorausgehenden Definitionsarbeit konsequent relational rückgebunden werden. Der relationale Kern der augustinischen Offenbarungstheologie entspricht dieser Kriteriologie: Auf der Grundlage der Überlegungen von Augustinus lässt sich die Bedingung für die performative Wirksamkeit immanenter Glaubensprozesse offenbarungstheologisch erfassen. Glaubensprozesse entfalten nur dann eine performative Wirksamkeit, wenn sie selbst realisieren, worauf sie verweisen – die lebensdienliche Einsicht in die liebende Realität Gottes als Ziel menschlicher Vernunftvollzüge. Die Glaubensprozesse können dann die immanente Offenbarungsrede im Erkenntnisvollzug übersteigen und – im Sinne eines abduktiven Schlusses – tatsächlich einen immanenten Bezug zur göttlichen Liebe vermitteln.42
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Vgl. ebd., 10, VI.8. Vgl. Waldenfels, Einführung, 62. Vgl. zu dieser Grundlegung die vorgeschlagene Religionsdefinition in Kapitel 8.
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These IV Das in Bezug auf Augustinus an eine immanente Glaubensbewegung und an die Liebe Gottes rückgebundene Offenbarungsparadigma verschärft die interdisziplinär aufgerufenen, kritischen Anfragen an den glaubend vorausgesetzten, transzendenten Gehalt offenbarungstheologischer Referenzen zugleich massiv. Auch an das Offenbarungsmodell von Augustinus sind daher weiterhin kritische referenzlogische Rückfragen zu stellen. Sie verlangen nach einer systematisch-theologischen Präzisierung seiner beziehungslogischen, praxisbezogenen Offenbarungsmodellierung. Bereits im Verlauf des zweiten Hauptteils wurde deutlich, dass die relationale, glaubenspraktische Anlage der Gotteserkenntnis angesichts der gleichzeitigen evolutionssystemischen Epistemik eine deutliche Distanzierung von klassischen seinsmetaphysischen Zielhorizonten vornehmen muss. Das zeigt sich auch im Rahmen der rezipierten offenbarungstheologischen Modellierungen bei Barth und Augustinus sowie in der Konstitution Dei Verbum: Sie erkennen die Bindung der Offenbarung an die transzendenzbezogenen Erkenntnisformen des Menschen an und berufen sich auf immanente Suchbewegungen und dafür notwendige Vernunftvollzüge des Menschen. Die rezipierten Ansätze verorten ›Offenbarung‹ daher in einem Beziehungsraum, dem über die Schrift, Tradition und Gemeinschaft eine temporäre und immanente Wirkmacht zukommt. Zugleich sprechen die konsultierten Offenbarungstheologien einen Widersprüchlichkeitsverdacht, der gerade in Bezug auf evolutionäre Anthropologien von Relevanz ist, weiterhin nicht an. Die Modelle bearbeiten nicht explizit und selbstkritisch die Frage, ob »der Gedanke einer Gotteswahrnehmung nicht selbstwidersprüchlich [ist.] […] Wenn einerseits Wahrnehmung nur dort möglich ist, wo das Wahrgenommene sinnlich gegeben, also raumzeitlich bestimmt ist […], und wenn andererseits Gott nicht sinnlich gegeben ist, wenn er ganz und gar einfach ist, wenn nichts, was aus unserer Umwelt selegiert, abstrahiert und bestimmte [sic!] werden kann, ›Gott‹ genannt zu werden verdient […], dann scheint der Gedanke einer Wahrnehmung Gottes ein Ungedanke zu sein, der zusammenstellt, was nicht zusammen gehört.«43 Diese Problemanzeige deutet auf eine offene Flanke einer evolutionstheoretisch reflektierten Offenbarungstheologie hin: Sie ist und bleibt verwiesen auf die immanenten sozial-kognitiven Vollzugsformen des Menschen. Zugleich erklärt sich ihre evolutive Stellung hinsichtlich eines sinnorientierenden, nicht funktional auflösbaren Zugangsraums aus der transzendenten Bezüglichkeit, die in der Offenbarungsrede vorausgesetzt und als performativ wirksam verstanden wird. In Verbindung mit der beziehungslogischen Ausformung und Begründung dieser Bezugnahmen heißt das, dass es der Offenbarungsrede hier um eine andere Beziehungs- und Wahrnehmungsform gehen muss, als sie eine seinsmetaphysisch oder aber materialistisch ausgerichtete Logik voraussetzen würde – andernfalls verstrickt sie sich in den oben dargelegten Widerspruch entweder einer deszendenzlogischen Externalisierung oder einer materialen 43
Ingolf U. Dalferth, Gegenwart. Eine philosophische Studie in theologischer Absicht, Tübingen 2021, 174.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
Immanentisierung Gottes. In beiden Fällen wäre der hier differenzhermeneutisch plausibilisierte Gehalt der christlichen Gottesrede ebenso getilgt wie ihre Anschlussfähigkeit an die erkenntnistheoretischen Grenzziehungen, die die evolutionäre Anthropologie jeder theologischen Analyse des Transzendenzbezugs aufzeigt. Die erkenntnistheologische Schwierigkeit besteht hier darin, dass sich ›Offenbarung‹ den vorliegenden Ergebnissen zufolge einerseits konkret an materiale und soziale Voraussetzungen binden lassen muss, ohne die ein Erkenntnisprozess ohne Anhaltspunkt und damit unmöglich wäre. Andererseits ist der vorausgesetzte Offenbarungsgehalt, auf den sich diese Erkenntnisprozesse glaubend ausrichten, als transzendent vorausgesetzt. Diese Transzendenz ist allerdings wiederum an den Vollzug gebunden, in dem sie als Glaubenskonzept eingeführt und (abduktiv-performativ) erschlossen wird – erst die relational in der Erfahrung, der Schrift und der Tradition verankerte Glaubenspraxis schafft nach Augustinus den »Bedingungsraum eines epistemisch gehaltvollen Zugangs zur Wirklichkeit«44 . In diesem Sinne besteht die Glaubenserkenntnis selbst aus der immanenten Bearbeitung des Realismusproblems der Offenbarungsrede – sie ist die einzige Zugänglichkeit zur universal vorgestellten Transzendenz Gottes. Lediglich der Vollzug kann damit die Idee eines »Gott[es] jenseits der Anführungsstriche«45 vermitteln und Zugänge befördern, die transzendenten Sinn performieren, ohne als Vollzugsform im gesuchten Gehalt aufgehen zu können oder mit ihm in eins zu fallen. Wäre dies der Fall, so schaffte die Sinnsuche im Letzten die Transzendenz als ihren Bezugsgrund und damit ihre Erkenntnisbedingung ab. Die bleibenden Herausforderungen für eine offenbarungstheologische Modellierung im Anschluss an die vorliegenden Untersuchungen sowie die religionshermeneutische Propädeutik liegen in diesem referenzlogischen Horizont gebündelt vor. Ihn gilt es im Folgenden in ein offenbarungstheologisches Gesamtmodell zu übertragen, das einen anschlussfähigen theologischen Abschluss der vorliegenden Arbeit und ihres Spannungsbogens zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie aufzeigen kann.
11.2. Plädoyer für eine relationale Offenbarungspragmatik46 Im Anschluss an die Überlegungen von Augustinus soll der Offenbarungscode als hermeneutisches und systemisches Spannungsfeld beleuchtet werden. Plädiert wird dabei für ein operatives, beziehungsbasiertes Offenbarungsverständnis. Es lässt sich sowohl an die performativen Überlegungen als auch an die dekonstruktiven und sozialwissenschaftlichen Grenzziehungen des methodologischen Teils anschließen. So verfestigen sich die mit Augustinus thesenartig dargestellten Grundbezüge und lassen sich
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Hoff, Wirklichkeit, 119. Franz Gruber, Die Transzendenz der Immanenz. Zur Frage einer guten Theologie in systematischtheologischer Perspektive, in: Clemens Sedmak (Hg.), Was ist gute Theologie? (STSud 20), Innsbruck 2003, 80–96, hier: 95. Diese Bezeichnung ist inspiriert von Hans-Joachim Höhns Modell einer ›relationalen Ontologie‹ (vgl. dazu insbesondere Höhn, Gott, 109–128).
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mit den vorliegenden Reflexionen religionsevolutiver Dynamiken verbinden. Die ausgemachten Spannungen zwischen Transzendenz und Immanenz, Systemlogik und performativer Beziehungswirklichkeit werden vor diesem Hintergrund als theologieproduktiv verstanden und in das Offenbarungsmodell integriert. Auf diese Weise kann auch referenzlogisch auf die spezifische Wahrnehmungs- und Verweisfunktion Bezug genommen werden, die die Offenbarungsrede gegenüber und in der materialen Umwelt ausfüllt. Es gelingt dann eine differenzierte Ablösung der Offenbarungstheologie von klassischen seinsmetaphysischen Konstellationen, ohne den metaphysischen Hoffnungshorizont und damit die Theologizität des Offenbarungsparadigmas materialistisch aufzulösen. Wie also verhalten sich in der Kennzeichnung einer Erfahrung als ›Offenbarungsgeschehen‹ relationale Praxis, entzogene Transzendenz und kontingente Umwelt zueinander? Und inwieweit lässt sich dieses Verhältnis im Rahmen einer Argumentation mit interdisziplinärem Anspruch an ein personales Offenbarungsparadigma anschließen? Kann ein solches Offenbarungsparadigma sogar interdisziplinären Aufschluss über die komplexen Verbindungsmechanismen liefern und die evolutionsanthropologischen Analyseformen entsprechend ergänzen – d.h., ihnen ›einen Spiegel vorhalten‹? Diesen Fragen nähert sich die folgende offenbarungstheologische Argumentation in drei Schritten an: 1. Zunächst ist eine Spezifizierung der Praxisgebundenheit jeder Offenbarungsrede vorzunehmen. Sie erweist sich als ein wichtiger evolutionslogischer Prüffaktor für das Verständnis der konkreten Rolle und Aussagekraft des Offenbarungsparadigmas im wissenschaftstheoretischen Spannungsfeld zwischen evolutionärer Anthropologie und Fundamentaltheologie (vgl. Kapitel 11.2.1). 2. In einem zweiten Schritt wird diese pragmatische Offenbarungsgrundierung einer fundamentaltheologischen Argumentation unterzogen. Die konkrete Referenzform und performative Wirkung des Offenbarungsbezugs wird relationslogisch eingeholt. Dabei wird das evolutionsgeschichtliche Spannungsfeld zwischen System, Umwelt und Kommunikation als Raum für eine spezifische »Existenzweise«47 verstanden, die die Offenbarungsrede vermittelt. Sie eröffnet einen beziehungsbasierten Sinnraum zur immanenten Reflexion von Transzendenz.48 Die auf diese pragmatische Grundlage aufbauende Argumentation ist in der Lage, sich der aufgeworfenen Referenzfrage über ein konkretes offenbarungstheologisches Erkenntnismodell zu stellen (vgl. Kapitel 11.2.2). 3. Die Überlegungen münden schließlich in ein evolutionsanthropologisch anschlussfähiges Offenbarungsmodell. Es erhebt den wissenschaftstheoretischen Anspruch eines theologischen Spiegels gegenüber der evolutionären Anthropologie. Als solcher soll es gleichsam den theologischen Abschlusspunkt der vorliegenden Arbeit wie auch den Auftakt für zukünftige theologische Reflexionsarbeiten im Angesicht evolutionstheoretischer Religionsmodelle und Anthropologien bilden (vgl. Kapitel 11.3).
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Latour, Existenzweisen. Vgl. dazu Höhn, Gott.
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11.2.1. Die Praxisgebundenheit der Offenbarungsrede und ihr Referenzanspruch Sowohl die dogmatischen Grundlegungen bei Augustinus als auch die performative und operative Propädeutik der vorliegenden Arbeit legen eine konkrete Praxisgebundenheit jeder Rede von ›Offenbarung‹ nahe. Augustinus macht diese Bindung am Liebesbegriff und dem damit verbundenen Streben des Menschen fest. Der Mensch ist demnach in der Lage, sich einem transzendenten Sinnhorizont zu öffnen, ohne den eine Rede von und eine Verbindung zu ›Gott‹ gar nicht denkbar wäre. Augustinus verbindet mit seiner Analyse des paradoxen, unabschließbaren Sinnstrebens des Menschen zugleich eine konkret vermittelte Beziehungsrealität Gottes. Sie erschließt sich ihm zufolge erst im Glaubensprozess als dem Menschen gegebene Zuwendung. Die suchende Glaubenspraxis ist entsprechend als ein offenbarungsrelevanter Erkenntnisprozess zu verstehen, der sich nach Augustinus auf eine vorausgehende Gnadengabe Gottes bezieht. Diese Erkenntnisbewegung – das zeigt die aufgerufene Propädeutik deutlich – muss immer in Verbindung mit sozialen und biologischen Faktoren verstanden werden: Wenn sich Glaubenserkenntnis an relationale Faktoren wie die Liebesfähigkeit und das Streben nach Sinn bindet, so ist sie immer auch an evolutive Faktoren zurückverwiesen. Diese komplexen Entwicklungszusammenhänge konnten im Rahmen der Kooperationsmechanismen in Großgruppen und der Entwicklung kollektiver Intentionalität nachvollzogen werden. Sie zeigen ein evolutionsanthropologisches Zusammenspiel zwischen umweltbezogener Komplexität, kognitionsbasierter Entwicklung und sozialen Sinnbezügen an. Auf dieser Grundlage stellt sich die Rede von ›Offenbarung‹ und das damit verbundene Streben nach transzendenten und zugleich personal fassbaren Sinnhorizonten als streng evolutionsinternes Phänomen dar. Die handlungstheoretischen Grundlagen dieser sinngebundenen Reflexionsform sind immer schon evolutionssystemisch rückgebunden. Das heißt, »they must be seen as the result of how humans have been able to evolve and develop ways of being in the world that display emergent properties compared to those determined by evolution. This, in turn, may also explain why such elements as faith, hope, and love can appear meaningful even when they do not serve, or even when they contradict, evolutionary purposes (such as fitness).«49 Genau hier greift ein evolutionslogischer Prüffaktor, den die Rede von offenbarter/offenbarer Transzendenz aufzeigt: Die jeweiligen Praxis- und Wissensformen, die in der Offenbarungsrede codiert werden, erweisen sich als abhängig von den systemischen Ordnungen, in die sie eingebettet sind.
49
Jan-Olav Henriksen, God Revealed Through Human Agency. Divine Agency and Embodied Practices of Faith, Hope, and Love, in: NZSTh 58/4 (2016) 453–472, hier: 461.
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***
Exkurs: Ist Evolution Offenbarung Gottes? Eine Verhältnisbestimmung Die hier herausgearbeiteten Interdependenzen zwischen Offenbarungsbezügen und evolutiven Entwicklungsprozessen verweisen auf die kontroverse Diskussion eines möglichen Zusammenfalls von Offenbarungsgeschehen und Evolution. Wenn Glaubensvollzüge und damit der Bezug zu einem mit dem Code ›Gott‹ verbundenen Erkenntnisraum an die Evolution menschlicher Handlungs- und Kognitionsfähigkeiten gebunden sind, ist auch zu klären, ob diese Entwicklung nicht selbst als Bestandteil der göttlichen Offenbarung verstanden werden muss. Der oben bereits zitierte Jan-Olav Henriksen schließt aus der Interdependenz zwischen Offenbarungsbezügen und den emergierenden »conditions for human agency«50 auf ein selbstoffenbarendes – weil die Offenbarungsbezüge des Menschen voraussetzendes – Schöpfungshandeln Gottes. Es äußere sich als schöpferische Ermöglichung von freier Evolution.51 Auf eine vordergründig ähnliche Art und Weise argumentierte bereits der jesuitische Anthropologe und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin. Er fokussiert den Offenbarungswert der Evolution christologisch und konstatiert: »Werden die wissenschaftlichen Perspektiven der Humanisation logisch zu Ende gedacht, bestimmen sie auf dem Gipfel der Anthropogenese die Existenz eines letzten Zentrums oder Brennpunktes der Personalität und des Bewußtseins […]. – Ist nun nicht dieser ›Punkt Omega‹ […] der ideale Ort, von dem der Christus ausstrahlen kann […].«52 Es wird deutlich, wie Teilhard de Chardins Ausführungen in eine christozentrische Teleologie zu kippen drohen, die Henriksen auf der Grundlage seines Emergenzverständnisses zu umgehen versucht. Zugleich bricht hier die Problematik einer Identifikationsbewegung zwischen Offenbarungs- und Evolutionsgeschehen auf. Ihr will sich die vorliegende Untersuchung auf der Grundlage konsequenter erkenntnistheoretischer Differenzierungen kritisch gegenüberstellen. Auch Henriksens Modell verabschiedet sich davon, die Offenbarung als nachträgliche Lesehilfe der Natur zu verstehen. Stattdessen markiert er den offenen, emergenzgeleiteten Entwicklungsraum des evolvierenden Systems. Zugleich qualifiziert er diesen als göttlichen Schöpfungsraum. Die Entwicklungsprozesse laufen dann jedoch nicht auf einen teleologisch vordefinierten ›Punkt Omega‹ hinaus. Es geht Henriksen daher weder um christozentrisch-theologische noch um rein evolutionsbiologische Argumente, sondern vielmehr um die offenbarungstheologische Aufnahme erkenntnistheoretischer Modifikationen.53 In dieser argumentativen Spur – 50 51 52
53
Ebd., 471. Vgl. ebd. Pierre Teilhard de Chardin, Christus Evolutor oder eine logische Weiterführung des Begriffs der Erlösung, in: Ders., Mein Glaube [Comment je crois], übers. v. K. Schmitz-Moormann (Pierre Teilhard de Chardin. Werke 10), Olten/Freiburg i.Br. 1972, 165–180, hier: 171. Vgl. Christina aus der Au, Offenbarung in/neben/aus/trotz der Evolution?, in: Ulrich Lüke – Georg Souvignier (Hgg.), Evolution der Offenbarung – Offenbarung der Evolution (QD 249), Freiburg i.Br. 2012, 51–71, hier: 65.
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und nur in dieser argumentativen Spur – kann man mit Henriksen von einer Offenbarung Gottes »through human agency«54 ausgehen. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Ausgangsfrage ›Ist Evolution Offenbarung Gottes?‹ in die vorliegende Studie einordnen und beantworten? Die offenbarungstheologischen Modellierungen dieser Arbeit verstehen sich als Sprengung sowohl einer binären Trennung zwischen Evolutionsprozess und Offenbarungsgehalt als auch als Absage an einen Zusammenfall beider Bezüge. Dabei geht es ihnen jedoch explizit nicht darum, eine Verbindung zwischen Evolution und Offenbarung Gottes per se auszuschließen. Das kann neben der Lektüre der Überlegungen Henriksens auch über einen Blick auf die Grundannahmen Christina aus der Aus gelingen. Sie versucht, immanente, kontingente Evolutionsprozesse und offenbarungsbezogene Reflexionsleistungen zu verbinden, ohne sie in ein Identitätsverhältnis zu setzen und hält fest: »Wenn Gottes Schöpfertum erkannt, offenbar wird, dann wird dieses auch in der Natur, in der Evolution gesehen. Nicht weil die Betrachtung selbst dazu führen würde oder weil dort plötzlich die Naturgesetze durchbrochen würden. Sondern gerade in den Naturgesetzen und durch die Naturgesetze offenbart sich Gott. Dies nicht, weil in der Natur, der Evolution, etwas über sich hinausweisen würde, sondern weil im Licht der Offenbarung das Ganze in einer anderen Realität – in der Realität schlechthin – verankert wird.«55 Diese Kartierung der Verbindunglinien zwischen Evolutionsprozessen und Offenbarungsgeschehen nimmt die erarbeitete Relativierung evolutionsanthropologischer und theologischer Perspektiven auf, die angesichts ihres geteilten Materialobjekts – der Religion – in ein kritisches Verhältnis zueinander gesetzt wurden. Dieses Relativierungsverhältnis löst weder die Eigenständigkeit der Evolutionsprozesse oder den Transzendenzbezug der Religion auf noch geht es von einer ontometaphysischen Durchbrechungsfunktion des Offenbarungsgeschehens aus. Stattdessen wird der Evolutionsprozess im Rahmen von Glaubensvollzügen nachträglich als Teil des ›schöpferischen Ermöglichungsraums Gottes‹ erkannt und qualifiziert. Diese Qualifizierung selbst ist Teil der offenbarungsbezogenen und damit theologieproduktiven Erkenntnisform: Sie macht (sich) bewusst, dass sie selbst immer schon von den kognitiven und sozialen Entwicklungsschüben abhängt – ohne in ihnen einfach aufzugehen oder sich zwingend aus ihnen zu ergeben. Es geht auch hier um eine performativ wirksame Relationierung, nicht um eine binäre Trennung oder eine identitäre Vermischung beider Bereiche. Mit Martin Breul lässt sich diese komplexe Verhältnis- und Abhängigkeitsbestimmung zwischen evolutivem Prozess, gedeuteter Geschichte und der religiös eingeführten Handlungsintention Gottes wie folgt zusammenfassen:
54 55
Henriksen, God, 466. Au, Offenbarung, 69 [Hervorhebungen im Original].
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»Handlungen und Ereignisse in der Geschichte lassen sich auf Gott beziehen, wenn Gott mit den begrifflichen Darstellungsmöglichkeiten intentionaler Akteure als Handelnder bestimmbar wird.«56 Breul skizziert hier zunächst die Interdependenz zwischen den kognitiven und sozialen Bedingtheiten des Menschen und seiner religiösen Codierungspraxis und hegt so auch den Bezug auf einen (offenbarend) handelnden Gott evolutionssystemisch ein. Zugleich schließt er mit seiner Modellierung einen interventionalistischen Theismus konsequent aus. Stattdessen integriert er die relativierende Perspektive einer beziehungslogischen, performativ grundierten fundamentaltheologischen Kriteriologie auch in die Frage nach dem Handeln Gottes in der Natur. Er schlussfolgert: »Daher kann sich in meinen Augen eine Deutung eines natürlichen Ereignisses als Handeln Gottes nur auf die Entdeckung des Ur- und Erhaltungsgrunds der Schöpfung beziehen, von dem nicht ausgeschlossen werden kann, dass er in allen Teilen der Schöpfung manifest ist […]. Wichtig ist jedoch, dass die personale Zuwendung Gottes nicht die Autonomie der Schöpfung […] verletzt, weshalb theologisch ein interventionalistisches Handeln Gottes im Sinne einer empirisch entdeckbaren kausalen Einflussnahme nicht verantwortet werden kann.«57 Dieser relativierenden Relationierung, die zugleich die evolutiven Voraussetzungen des menschlichen Gottesbezugs ernstnimmt und sie deutend (nicht in einer kausalen, teleologischen Logik) mit dem Code ›Gott‹ verbindet, sieht sich die vorliegende Untersuchung auch offenbarungstheologisch verpflichtet. *** Die Grundeinsicht in die komplexe Verwobenheit aus Evolutionsfaktoren und erkenntnisbezogenen Performanzen, die die vorausgehenden Rezeptionsgänge und Reflexionen durchzieht, hat neben ihrer religionssoziologischen Modellierung auch offenbarungstheologische Konsequenzen. Sie betreffen den referenzlogischen Status der Offenbarungsrede und damit ihren Transzendenzbezug. Es gilt zu prüfen, ob und wie die vorausgesetzte Gnadengabe Gottes als real fassbares und zugleich transzendentes Geschehen in diese immanente systemische Ordnung eingefasst sein kann. Auf diese Herausforderung verweisen auch schon Augustinus und Barth, die sich beide am Verhältnis zwischen einem zuvorkommenden Beziehungsangebot Gottes und der Notwendigkeit einer aktiv suchenden Antwort des Menschen abarbeiten. Es geht dann um den konkreten Bezugspunkt des Offenbarungscodes angesichts seiner erkenntnistheoretischen (Selbst-)Verortung im evolutiven Entwicklungsgeschehen. Dieser Horizont führt zum fundamentaltheologischen Kern der vorliegenden Arbeit – es geht schließlich übergeordnet um die Rationalisierbarkeit des Glaubens. Vor dem Hintergrund der evolutionären Anthropolo-
56 57
Breul, Geschichte, 368f. Ebd., 398.
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gie und der erarbeiteten beziehungslogischen und performativen Verortung der religiösen Narrative und Praktiken im sozialevolutiven System, ist umso schärfer zu fragen: »Wie kann die Theologie einen rational fundierten Wahrheitsanspruch erheben und sich zugleich am obersten Prinzip eines rational nicht ableitbaren Offenbarungsgeschehens orientieren, ohne einem Vernunftextrinsezismus zu erliegen, der den Inhalten des Glaubens äußerlich bleibt?«58 Die vorliegenden Reflexionen verweisen entsprechend aus christlich-theologischer Sicht auf die Rahmenbedingungen für eine evolutionsanthropologisch anschlussfähige Modellierung der Offenbarungstheologie. Sie können in vier Schritten zusammenfassend transparent gemacht werden: 1. In Ritualen, Schriften und Normen werden Erfahrungen und Transzendenzbezüge christlicherseits über den Offenbarungsbegriff zur Sprache gebracht. Sie werden als Zielpunkte eines Suchprozesses verstanden und auf ein proaktives Entgegenkommen eines transzendenten Gegenübers bezogen. In diesem Sinne werden sie als ›wahr‹ codiert und verbindlich tradiert. Ihre Bindung an eine konkrete Praxis innerhalb der systemischen Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz verweist zugleich darauf, dass sie es immer mit einem lediglich prozessual und relational zugänglichen Wahrheitsbegriff zu tun haben. Vor dem Hintergrund der dargelegten systemtheoretischen (vgl. Kapitel 9), differenzhermeneutischen (vgl. Kapitel 7) und performativen Anschlüsse (vgl. Kapitel 4.2.3 und 6) lässt sich der Referenzpunkt des Offenbarungsbegriffs nun weiter spezifizieren. Er entfaltet sich in Anlehnung an die vorgeschalteten beziehungslogischen Überlegungen in Bezug auf Augustinus. In der konkreten Spiegelung von Evolutionsanthropologie und Theologie wird deutlich, inwieweit die evolutive Interdependenz zwischen Offenbarungsform und Offenbarungsgehalt dabei ins Gewicht fällt. Der Referenzgehalt der Offenbarungsrede orientiert sich formal entlang der Logik von Beziehungsverhältnissen, weil sie nicht nur den einzigen immanenten Verarbeitungsort für komplexe Sinnfragen bieten, sondern zugleich den inhaltlichen Gehalt der Offenbarung performativ einbringen: Die unbedingte, lebensspendende Zuwendung Gottes, die sich auf der Grundlage liebender Beziehungsvollzüge Bahn bricht. Es wurde bereits deutlich, dass genau diese Logik auch die evolutiven Operationen und die religiösen Erkenntnisbewegungen aneinanderbindet. 2. Welche Erkenntnisform prägt nun diese Beziehungslogik? Und welche Rückschlüsse auf konkrete Referenzpunkte lässt sie zu? Die Beziehungsverhältnisse bringen eine eigene Bezugslogik ein, die offenbarungstheologisch reflektiert werden muss. Sie kann mit Hans-Joachim Höhn wie folgt charakterisiert werden:
58
Johannes Hoff, Fundamentaltheologie zwischen Dekonstruktion und erstphilosophischer Reflexion. Zur Ortsbestimmung theonomer Vernunftautonomie, in: Joachim Valentin – Saskia Wendel (Hgg.), Unbedingtes Verstehen? Fundamentaltheologie zwischen Erstphilosophie und Hermeneutik, Regensburg 2001, 115–129, hier: 115.
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»Für Verhältnisse und Beziehungen ist es a) eigentümlich, dass man sie nicht (unvermittelt) als solche anschauen oder erfahren kann, sondern stets nur in anderen Verhältnissen ausdrücken oder wahrnehmen kann in denen sie real präsent sind. […] Daher sind b) Verhältnisse und Beziehungen auch nicht nach der Art von Gegenständen adäquat beschreibbar; sie sind in Wahrheit und in Wirklichkeit nichts Gegenständliches, sondern c) transzendieren alles gegenständlich Existierende.«59 An der relationalen Gebundenheit der Form der Offenbarungscodierung orientiert sich entsprechend auch der Gehalt, den sie anspricht/ansprechen kann. Die Codierung ist dabei zurückverwiesen auf die materialen Grundgegebenheiten, in denen sich die Beziehungsverhältnisse jeweils realisieren. Es entsteht ein relativierendes Wechselverhältnis.60 Das heißt: Weder eine immaterielle, idealistisch orientierte offenbarungstheologische Argumentationsform, noch ein sozialevolutiv auf Beziehungsfunktionalität reduzierte Fokussierung materialer Notwendigkeiten kann an diese grundlegende Offenbarungsepistemik adäquat anschließen. Dagegen lässt sich, wiederum mit Höhn, in Bezug auf den relational organisierten Gottesbezug, den auch Augustinus als Ausgangspunkt der Offenbarung stark gemacht hat, festhalten: »Gott ist kein ›wer‹ oder ›jemand‹, keine Substanz, sondern ›an und für sich‹ eine Beziehungswirklichkeit: die Realität unbedingter Zuwendung. Das Gottsein Gottes ist darum angemessen nur in Analogie zum ›Sein‹ von Verhältnissen und Relationen zu beschreiben. Die Realität dieser Relationalität besteht im Vollzug von Zuwendung. […] Zuwendung gibt es nur als Vollzug. […] Die Wirklichkeit Gottes als Geschehen unbedingter Zuwendung ist ontologisch als existentiale Relationalität zu bestimmen, d.h. sie kann ohne oder außer(halb) der Relationalität unbedingter Zuwendung nicht Realität sein.«61 3. Genau hier liegt die Produktivität der evolutionsanthropologischen Spiegelung der theologischen Tradition. Sie betrifft die klassischen metaphysischen Grundlegungen im Offenbarungsverständnis, auf die sich auch Saskia Wendel und Martin Breul problematisierend beziehen (vgl. Kapitel 6.3). Schon die grundlegenden methodologischen Umstellungen der vorliegenden Arbeit zeigen dementsprechend: Die Offenbarungsrede relativiert sich im Angesicht der evolutionsanthropologischen Rückbindungen und Dekonstruktionen selbst. Von einer gegebenen Präsenz und Zuwendung Gottes auszugehen, stellt zwar unbestritten eine epistemisch-axiomatische Notwendigkeit des Glaubens dar, einen hinreichenden Ausgangspunkt für die offenbarungstheologische Referenz der Glaubenspraktiken liefert sie jedoch nicht. Transzendenz als reine Präsenz zu denken, wäre differenzhermeneutisch unhaltbar. Ein solches Verständnis widerspräche auch der evolutiv entscheidenden Transformationswirkung des Bruchs mit der systemischen Alltagslogik, den religiöse Codes und Praktiken einspielen. Die untersuchten Transzendenzbezüge operieren innerhalb dieser Bruchmomente.
59 60 61
Hans-Joachim Höhn, Experimente mit Gott. Ein theologischer Crashkurs, Würzburg 2021, 103f. Vgl. Sander, Glaubensräume I, 35. Höhn, Gott, 177f.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld 4. Die ausgemachte Performanz religiöser Codes erschließt sich entsprechend entlang einer Verbindung von Form und Gehalt des Transzendenzbezugs. Die Transzendenzcodes sind nur innerhalb dieses immanenten Spannungsfelds »offenbarungstheologisch auf das hin deutbar, worauf sie selbst ermöglichend verweisen – den relational-aktualen Gehalt des Zeichens ›Gott‹.«62 Noch einmal mit Hans-Joachim Höhn formuliert heißt das: ›Offenbarung‹ als einen immanenten Bezug zur »Zuwendung [Gottes; JU] kann es nur derart geben, dass sie praktiziert wird. In dieser Praxis fallen Vollzug und Gehalt zusammen […]. Unbedingte Zuwendung ist eine Wirklichkeit, die es nur im Ereignis des Sich-Zuwendens aktual gibt; sie ist eine Wirklichkeit, die nur relational oder gar nicht real ist.«63 In diesem Sinne agiert der eingezogenen Transzendenzhorizont tatsächlich offenbarend: Er bestimmt, erschließt und beansprucht Sinn in einem universalen Sinnhorizont, den er im beziehungslogischen Code ›Gott‹ zu erfassen versucht.
Die hier vorgeschlagenen offenbarungstheologischen Grundlegungen verweisen auf eine relational-aktuale Einbettung des Offenbarungscodes. Sie markiert seine erkenntnistheoretische Verortung. Konfrontiert man diese Verortung mit den interdisziplinär erschlossenen Anforderungsprofilen, so zeitigt sie weitere innertheologische Konsequenzen: Die offenbarungskonstitutiven Beziehungswirklichkeiten lassen sich wie gezeigt in keinem empirisch-naturalistischen Setting festschreiben, da sie einen diesen Bezugspunkten übergeordneten Sinnhorizont ansprechen. Dennoch beziehen sie sich in Form eines Sinnanspruchs auf die Gegebenheiten der materialen und sozialen Umwelt. Im Rahmen der angelegten performativen Hermeneutik wurde deutlich, dass die transzendenten Deutungsschemata und die aus ihnen abgeleiteten Handlungsformen einen eigenen, auch immanent relevanten Wirklichkeitsbezug für sich beanspruchen. Das heißt, sie werden theologisch als konkrete Manifestationen eines (christlicherseits personal konstituierten) Offenbarungsgehalts eingeführt. Aus dieser Einsicht erschließt sich die leitende offenbarungstheologische These der vorliegenden theologischen Reflexion: Der Offenbarungsgehalt bleibt immanent betrachtet prekär. Letztlich kann er sein performatives Transformationspotenzial nur auf der Grundlage von transzendenzbezogenen Horizonten entfalten. Das Offenbarungsparadigma bleibt also immanent an konkrete Aktualität gebunden, die sich als differenzhermeneutischer Suchprozess charakterisieren lässt. Auf dieser Grundlage relativiert sich die Theologie nicht nur selbst, sondern konfrontiert auch die evolutionäre Anthropologie mit den Begrenztheiten ihrer Modellierungen.
Die evolutionsanthropologisch eingeforderte Immanentisierung des Offenbarungsparadigmas führt zu einer notwendigen theologischen Relativierung. Die Offenbarungstheologie ist interdisziplinär auf die Umstellung ihrer internen Logik, das heißt auf eine
62 63
Siehe die evolutionsanthropologisch rückgebundene Religionsdefinition in Kapitel 8. Höhn, Gott, 178.
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veränderte Diskursform verwiesen. Sie verfügt als immanente Reflexions- und Handlungsform nicht einfach über eine metaphysisch vorausgreifende, deszendenzlogisch gegebene Verifikationskraft. Die evolutionsanthropologisch beanspruchte theologische Epistemik zeigt vielmehr: Die von offenbarungstheologisch codierten Sinnformen vorausgesetzte »Verifikation zielt auf Praktiken der Bestätigung bzw. Widerlegung, d.h. sie rückt Wahrheit an Bewahrheitung und als dessen Ableitung an (prinzipielle) Bewahrheitbarkeit – an Aktivitäten (bzw. diese Aktivitäten orientierende Regulative) miteinander interagierender, gemeinschaftlich forschender Subjekte.«64 Offenbarungstheologisch gilt es daher, den Zusammenhang von Form und Gehalt der Offenbarung nicht in einer universalen, ontologischen Bezüglichkeit zu denken. Zugleich ergibt sich im Offenbarungsparadigma ein aktualer, differenzhermeneutischer Prozess der Wirklichkeitserschließung. Einzig in diesem Erschließungsvorgang liegt das realistisch fassbare Moment der Offenbarung. Es lässt sich entlang der beziehungsbasierten Transformationswirkungen temporär erkennen und benennen. Wenn die Theologie diese Grundlage ernstnimmt, vollzieht sie eine interdisziplinär wirksame Dekonstruktion ihres Referenz- und Verifikationsanspruchs. Diese Einsicht verweist sowohl die evolutionsanthropologische als auch die theologische Epistemologie auf eine notwendige Distanzierung von einem ontologischen Realismus im Hinblick auf das Gottesverständnis. Es ergibt sich zunächst eine kritische Betrachtung materialistisch-naturalistischer Spielarten der evolutionsanthropologischen Theoriebildung. Die offenbarungstheologisch aufgerufene Beziehungswirklichkeit erschließt sich nicht als eine rein funktionale, material greifbare Realitätsform. Sie führt sinnbezogen über sie hinaus. Zwar ist es analytisch adäquat und geboten, offenbarungsbezogene Transzendenzcodes auch auf ihre sozialevolutive Funktionalität und ihre materialen Entstehungsbedingungen hin zu analysieren, eine solche Analyse kann jedoch die inhaltlichen Sinnspitzen, die diese Funktionsleistungen mitbedingen, niemals hinreichend erfassen. Sie entgehen dem Radar funktionalistischer Zuspitzungen, obwohl der Einzug eines universalen Sinnhorizontes in den funktionsbezogen Transformationsdynamiken immer schon vorausgesetzt wird. Zugleich verweist diese Sinnzuschreibung darauf, dass die mit Religionen verbundenen funktionalen Anpassungs- und Konstruktionsleistungen auch auf theologische Zugriffsmodelle relativierend wirken: Religiöse Referenzlogiken lassen sich weder funktional auf sich selbst zurückzuführen noch über ihre immanenten Vollzüge hinaus als universale Erkenntnisformen mit einem entsprechend ontologisch abgesicherten Erkenntnisgehalt verstehen. In diesem Sinne stellen sie immanente Konstruktionsleistungen dar und weisen doch in der Form ihres Konstruierens über diese Leistungen hinaus.65 Darin besteht der paradoxe Charakter der religionssystemisch eingezogenen Immanenz-Transzendenz-Unterscheidung. Sie ist als gleichermaßen konstruiert und 64 65
Martin Dürnberger, Die Dynamik religiöser Überzeugungen. Postanalytische Epistemologie und Hermeneutik im Gespräch mit Robert B. Brandom, Paderborn 2017, 99. Vgl. zu diesem hybriden Moment sinnstiftender Konstruktionen die aufschlussreiche Konfrontation theologischer und radikalkonstruktivistischer Epistemik in Jonas M. Hoff, Konstruktion von
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als dekonstruktivistisch geöffnet zu beschreiben. In Bezug auf den immanenten Zugang zu transzendent verstandenen Offenbarungsparadigmen zeigt sich daher: »Die Frage nach der Erkennbarkeit der Unerkennbarkeit lässt sich nicht durch einen Rekurs auf eine externe Größe, sondern nur als Setzung des jeweiligen Systems begreifen. Sie hängt davon ab, dass sich ein System selbst als abhängig behauptet und damit in eine umfassende religiöse Dynamik hineinstellt.«66 Eine relational als ›Gabe‹ gekennzeichnete Offenbarungscodierung begibt sich also in »eine erhebliche Relativierung, weil sie Relationen zu Größen aufbaut, deren gleichzeitige Entzogenheit sie behauptet.«67 Mit diesen Einsichten hat der doppelte Spiegeleffekt, dem sich die vorliegende Arbeit verschrieben hat (vgl. Kapitel 10), auch die offenbarungstheologischen Reflexionen der Religionsevolution in ihrem Kern erreicht. Der methodologische Einfluss evolutionsanthropologischer Grundlegungen auf die Theologie kann nun fundamentaltheologisch am Offenbarungsparadigma aufgezeigt und eingeholt werden. Die erarbeitete Praxisgebundenheit der Offenbarungsrede wird dabei zum Prüffaktor eines evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Verständnisses der Referenzform von Offenbarungscodierungen. Die eingeführten relational-aktualen Grundlagen und ihr paradoxaler, ›dekonstruktiver Konstruktionscharakter‹ können nun in ein evolutionsanthropologisch anschlussfähiges Offenbarungsmodell überführt werden. Diesem Ziel stellt sich das folgende Unterkapitel (Kapitel 11.2.2). Es versteht sich als theologischer Unterbau der Definitionsarbeit aus Kapitel 8. Im Anschluss daran wird das herausgearbeitete offenbarungstheologische Modell in einem Plädoyer erneut interdisziplinär in den Rahmen der vorliegenden Arbeit und ihren erkenntnistheoretischen Anspruch eingebettet (vgl. Kapitel 11.3). Schließlich erfolgt ein katholisch-theologischer Probelauf (vgl. Kapitel 12). Er zeigt die Auswirkungen der vorgeschlagenen Modellierung auf die dogmatischen Kernbereiche der Christologie (vgl. Kapitel 12.1) und der Ekklesiologie (vgl. Kapitel 12.2) auf und argumentiert für die dogmatische Anschlussfähigkeit des vorliegenden fundamentaltheologischen Entwurfs.
11.2.2. Relationale Referenzlogik als offenbarungsbezogene Diskursform Die dargelegten Modellierungen zeigen: Das relationale Gottesverständnis verweist auf eine eigene offenbarungsbezogene Diskursform. Sie konstituiert ein und agiert im Zwischen der evolutiven Trias aus Umweltbedingungen, Kommunikationshandlungen und Sozialsystemen. Aus der sozialevolutiv angelegten Relationslogik ergibt sich daher eine referenzlogische Relativierung im Offenbarungsverständnis. Der als ›wahr‹ gekennzeichnete Offenbarungsgehalt, das heißt die beziehungslogisch vermittelte Gotteserkenntnis, stellt sich als »relativ zur Ordnung des Diskurses, dem Wahrheitsproduktion zugetraut
66 67
Verbindlichkeit. Radikaler Konstruktivismus und Fundamentaltheologie im Theoriekontakt (transcript Religionswissenschaft 31), Bielefeld 2022, 423. Ebd., 396. Ebd., 420.
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wird«68 dar. Es findet eine referenzlogische Neufokussierung statt, die sich auf das Wie des Offenbarungsdiskurses als Beziehungsgeschehen richtet, nicht auf ein ontologisch abgesichertes, externalisiertes Was oder Wer.69 Die folgende offenbarungstheologische Argumentation fragt entsprechend nicht mehr nach dem ›gegebenen Gegenstand‹ von Offenbarung und ihrem ontologisch abgesicherten Status. Sie orientiert sich vielmehr an einem Offenbarungsverständnis, das sich grenzgängerisch selbst relativiert und zugleich transzendiert. Das hat einen Einfluss auf das in der folgenden Argumentation zugrunde gelegte Wirklichkeitsverständnis. Mit Hans-Peter Großhans lässt sich diese Ausgangslage treffend zusammenfassen: »Das Wort ›Wirklichkeit‹ bezeichnet gewissermaßen das Andere der Sprache. Wirklichkeit ist also ein Grenzbegriff. […] Dies wird besonders deutlich, wenn wir mit anderen über etwas reden […]. Wir reden über etwas und wir beziehen uns gemeinsam auf dieses ›etwas‹, obwohl wir uns Verschiedenes mitteilen. […] Durch den anderen Menschen, mit dem wir uns verständigen, werden die Konstruktionen der Wirklichkeit auf die Wirklichkeit zurückbezogen. Denn wir kommunizieren über ›etwas‹ und werden durch den anderen auf die von ihm oder ihr thematisierte und konstruierte Wirklichkeit bezogen.«70 Wenn also gilt, dass auch Offenbarungscodes nur aus und in relationalen Suchbewegungen ihre Grundlage erhalten, so gilt auch und insbesondere für diese Form von wirklichkeitserschließenden Codes, dass sie lediglich in actu Geltung beanspruchen können. Dieses relationale in actu ist damit nicht nur ihr erkenntnistheoretischer Ort, sondern immer auch ihr theologischer Bezugspunkt: Die kollektiven Prozesse der Zuwendung und Sinnsuche erschließen einen Ort, an dem sich auf das bezogen werden kann, was unter ›Offenbarung‹ gefasst wird. Das heißt, schon dem relationalen Vollzug fällt eine Theologizität zu – er konstituiert einen erkenntnistheoretischen Ort, an dem sich potenziell Offenbarung ereignet. Über die theologiegeschichtliche Anknüpfung an Augustinus konnte unter diesem Gesichtspunkt eine offenbarungstheologische These entwickelt werden, die mit einer solchen neuen Referenzlogik und ihrer relationalen Anbindung das geforderte Komplexitätsniveau der vorgelagerten Religionsdefinition aus Kapitel 8 theologisch 68 69
70
Sander, Macht, 76. Vgl. die bereits in Kapitel 8 erarbeitete offenbarungstheologische Fokussierung auf den glaubenden Habitus, der virtuelle Zugänge durch den experimentellen Einsatz des transzendenten Akteurs ›Gott‹ bewirkt. Im Anschluss an den relationalen Glaubensbegriff Karl Barths konnte in diesem Zuge mit Ilona Nord eine erkenntnistheoretische Schärfung vorgenommen werden. Offenbarungstheologie wird dann nicht mehr auf die Ontologie des*der eingesetzten, transzendenten Akteur*in fokussiert, sondern auf die durch virtuelle Öffnungen veränderten Wahrnehmungs- und Handlungsformen – also auf das veränderte Wie der Diskurs- und Reflexionsvorgänge (siehe dazu Nord, Realitäten, 112f.). Hans-Peter Großhans, Wirklichkeit – ein Konstrukt? Konstruktive Reflexionen aus der Perspektive evangelischer Theologie, in: Andreas Klein – Ulrich H. J. Körtner (Hgg.), Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie (Neukirchener Theologie), Neukirchen-Vluyn 2011, 79–91, hier: 90.
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explizit machen kann. Im Folgenden geht es darum, eine konkrete Argumentation dieser evolutionsanthropologisch anschlussfähigen Verortung als theologieproduktiv und damit offenbarungskonstitutiv vorzunehmen. Zunächst soll sich dazu eine Untersuchung des Referenzpotenzials der Offenbarungsrede und des durch sie transportierten Wirklichkeits- und Authentizitätsanspruchs anschließen. Es geht hier um eine explizit theologische Reevaluierung der evolutiven Zusammenhänge der Religion in Form eines systemisch wie pragmatisch orientierten theologischen Wirklichkeitsverständnisses. Eine Verortung der Offenbarungsrede als aktuales Geschehen (vgl. Barth) legt dabei eine Verabschiedung verifikatorischer Referenzlogiken nahe. Die damit verbundene Argumentation für eine referenzlogische Neuorientierung im offenbarungstheologischen Diskurs ist in diesem Abschnitt von Paul Ricœurs Konzept des ›Zeugnisses‹ (1) und Bruno Latours Rede von verschiedenen ›Existenzweisen‹ (2) inspiriert. Diese Ansätze vermitteln eine abschließende Argumentation für ein Verständnis der Offenbarungstheologie als einer Diskursform, die im Rahmen einer relationalen Referenzlogik agiert (3). 1. Paul Ricœurs Zeugnisbegriff als referenzlogische Umkehrung im Offenbarungsverständnis Paul Ricœur unterscheidet zwischen verschiedenen diskursiven Funktionen, die ihm zufolge jeweils unterschiedliche Referenzlogiken beanspruchen und voraussetzen. Interessant für den vorliegenden Kontext ist seine Skizze einer ›poetischen Diskursfunktion‹ in Abgrenzung zu deskriptiven Vorgängen.71 Er versteht erstere als eine Art Korrektiv gegenüber vermeintlich objektiven Codierungs- und Kommunikationsformen. Poetische Diskurse zeichneten sich demnach durch eine Offenheit für konkrete Geschehnisse und Erfahrungen aus. Sie entzögen sich zugleich jeder vermeintlich objektiven Festschreibung und verwiesen die Reflexions- und Zuschreibungslogiken der Weltwahrnehmung auf ein »Seinlassen dessen, was sich zeigt«72 . Ricœur hinterfragt auf Grundlage dieser poetischen Perspektive die klassisch hervorgebrachte, empirisch orientierte Referenzlogik in ihrem Universalanspruch. Er definiert die ›poetische Funktion des Diskurses‹ im Gegenüber zu unmittelbaren, verifikatorischen Schlüssen: »In diesem Sinn werde ich von der poetischen Funktion des Diskurses sprechen […]. Diese Funktion bestimmt sich exakt als referentielle Funktion. […] Die Poesie ist die Aufhebung der deskriptiven Funktion. […] Aber wenn man das sagt, erliegt man dem positivistischen Vorurteil, demzufolge nur das empirische Wissen objektiv, weil verifizierbar ist. Man merkt nicht, dass man in einer unkritischen Weise ein bestimmtes Konzept der Wahrheit zum Gesetz erhebt, das Wahrheit als Adäquation hinsichtlich der Realität der Objekte und als unterworfen unter das Kriterium der empirischen Verifikation definiert. […] Die Frage ist, ob diese Aufhebung, diese Aufgabe einer referentiellen
71
72
Vgl. Paul Ricœur, Hermeneutik der Idee der Offenbarung, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg. v. V. Hoffmann, Freiburg i.Br./München 2008, 41–83, hier: 67. Ebd., 68.
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Funktion ersten Grades nicht die negative Bedingung dafür ist, dass eine ursprünglichere referentielle Funktion freigesetzt werden kann […].«73 Ricœurs Überlegungen greifen im vorliegenden interdisziplinären Feld an entscheidender Stelle: Sie durchbrechen die Logik verifikatorisch verstandener Kommunikationsfunktionen, indem sie auf eine veränderte, nicht empirisch zu verstehende erkenntnistheoretische Möglichkeitsbedingung verweisen. Auf dieser Grundlage verknüpft Ricœur sein Modell einer poetischen Diskursfunktion mit der Referenzlogik religiöser Kommunikationsformen. Konkret verbindet er sie mit dem Offenbarungsdiskurs, dem er die beschriebene poetische Wissensform zuschreibt. Wer den Offenbarungscode auf geschichtliche Ereignisse anwendet, der bezieht sich laut Ricœur nicht auf eine empirische Feststellung, die es lediglich deskriptiv zu verwalten gilt. Vielmehr wirkt das Offenbarungsparadigma ihm zufolge erst nachträglich referentiell, indem es eine poetische, das heißt über die konkrete Situation hinausgehende Qualifizierung von Ereignissen vornimmt. Es geschieht auf diese Art und Weise eine diskursive Transzendierung der Geschichte. Die so herausgehobenen »Ereignisse machen Epoche, weil sie eine doppelte Eigenschaft haben: Sie begründen Gemeinschaft und sie befreien aus einer großen Gefahr […]. Hier von Offenbarung zu sprechen heißt, diese Ereignisse als gegenüber dem normalen Gang der Geschichte transzendent zu qualifizieren.«74 Ricœur knüpft hier explizit an die Referenzfrage an und beantwortet sie in dem Spannungsfeld, das auch die vorliegende Arbeit kartiert: Es geht um eine Reaktion auf die existentiellen Notlagen menschlicher Begrenztheit, der ein Gegenüber gesetzt wird, ohne aus der Begrenztheit auszubrechen, denn: Diese poetische Deutungslogik ist streng sprach- und sozialsystemisch bedingt. Dennoch kann sie für sich beanspruchen, etwas Neues hervorzubringen bzw. zu offenbaren: Es geht um eine Neuqualifizierung geschichtlichen Erlebens, die selbst Teil des geschichtlichen Erlebens ist und es erst als solches bewusst macht. Ricœur bezieht sich zur Argumentation für eine solche veränderte Referenzlogik, die das Offenbarungsparadigma einträgt, auf den Zeugnisbegriff. Dieser Begriff erschließt wichtige Grundgedanken des Religionsbezugs Ricœurs. Er vermittelt der Offenbarungstheologie ein neues referenzlogisches Modell. Dieses entspricht den Kerngedanken der biographisch motivierten Offenbarungstheologie des Augustinus sowie der Grundlegung des Offenbarungsgeschehens im Glaubensbezug des Menschen bei Karl Barth. Wie sie versteht auch Ricœur den Gehalt von Offenbarungscodierungen als von relationalen Bezeugungsformen abhängig und geht davon aus, dass sie einen Zeugnischarakter aufweisen, der »sich nicht darauf beschränkt, die Erzählung eines Zeugen zu bezeichnen, der berichtet, was er gesehen hat, sondern sich auf Worte, Werke, Handlungen, Lebensgeschich-
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Ebd., 67. Ebd., 46.
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ten bezieht, die als solche im Herzen der Erfahrung und der Geschichte eine Intention, eine Inspiration, eine Idee bezeugen, die die Erfahrung und die Geschichte überschreiten.«75 Es geht Ricœur hier um eine Referenzhaltung gegenüber der Deutung von Gesellschaft, Geschichte und systemischen Herausforderungsformen und nicht um eine referenzlogische Verifikation von ontologischen Gegebenheiten. Ein Bewusstsein für den Einfluss individueller Haltungs- und Handlungsweisen auf Bedeutungen wird in diesem Zuge eingefordert und erkenntnistheoretisch wertgeschätzt. Es wird deutlich, dass besonders in Bezug auf Offenbarungscodierungen »Erzählung und Bekenntnis ohne Abstand aneinander haften.«76 Ein so verstandener Offenbarungsbezug lebt von einem spezifischen diskursiven Habitus, der grundlegend durch eine »Hinorientierung auf die Spur Gottes im Ereignis«77 geprägt ist. Ricœurs Überlegungen verbinden sich hier auch mit den differenzhermeneutischen Umstellungen des vorliegenden evolutionsanthropologischen Herausforderungssettings (Kapitel 7). Wer den Offenbarungscode im Sinne eines poetischen Zeugnisraumes betrachtet, verortet ihn mit Ricœur immer differenzhermeneutisch. Auch Ricœur versieht den Glaubensprozess und die mit ihm verbundene Suche nach Gott in dieser Linie mit der Metapher der ›Spur‹.78 Er verweist das Offenbarungszeugnis so auf eine paradoxe Leerstelle. Es bleibt ein »endlos kleiner werdender […] Abstand […] zwischen dem reflektierenden Urteil, das in einem gänzlich innerlichen Vorgang die Kriterien des Göttlichen hervorbringt, und dem historischen Urteil, das sich bemüht, in der Äußerlichkeit den Sinn der Zeugnisse zusammenzutragen, die sich ereignet haben.«79 2. Bruno Latours Konzept relationaler ›Existenzweisen‹ im Licht transzendenzbezogener Weltdeutung Zum besseren Verständnis dieser spezifischen relationslogischen Kommunikationsform dient die Auseinandersetzung mit den Überlegungen Bruno Latours. Er schafft eine metaphorische Gegenfolie zur von Ricœur skizzierten ›poetischen Diskursform‹. Latour bezeichnet sie als »Doppelklick-Kommunikation«80 . Er versteht darunter die kommunikations- und erkenntnistheoretische Annahme, die »Welt ließe sich erkennen, bearbeiten, regulieren, ohne sie in irgendeiner Form zu transformieren, so dass Wahrheit nur dasjenige beanspruchen kann, was sich allen Zugriffen und Bearbeitungen gegenüber als ›unbestechlich‹ und unberührt erweist […].«81 75 76 77 78 79 80 81
Ders., Hermeneutik des Zeugnisses, 7. Ebd., 32. Ders., Hermeneutik der Idee der Offenbarung, 47. Vgl. ebd. Ders., Hermeneutik des Zeugnisses, 35. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, übers. v. A. Russer (Stw 2186), Berlin 2016, 35; sowie Ders., Existenzweisen, 151. Hartmut Rosa, Einem Ruf antworten. Bruno Latours andere Soziologie der Weltbeziehung, in: Soziologische Revue 39/4 (2016) 552–560, hier: 553.
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Diesen vermeintlichen Direktzugang zur Welt kennzeichnet Latour als Trugschluss. Dagegen verweist er jede Praktik der Wirklichkeitsreferenz und damit auch ihren vermeintlich monolinearen, entlang einer Wahr-Falsch Logik verlaufenden Zugriffsanspruch, auf eine grundlegende Pluralisierung. Er spricht von »Netzen von Relationen«82 , die ihm zufolge schon in den Prozessen der Reflexion und der systemischen Gebundenheit des Subjekts selbst begründet liegen. Im Anschluss an diese Pluralisierung versteht Latour auch den religiösen Wirklichkeitsbezug als performativ und relational gebunden. Er betrachtet ihn als eine unter zahlreichen Diskursformen, die jeweils »dadurch gekennzeichnet [sind], dass sie das erkennende und erfahrende Subjekt ebenso wie das, was dabei als Welt begegnet, immer erst hervorbringen.«83 Solche verschiedenen ›Existenzweisen‹ stellen für ihn keine Ausflucht in die Behauptung verschiedener ›Welten‹ dar. Latour trifft im Gegenteil eine viel radikalere Feststellung. Er konstatiert: »Es gibt keine andere Welt – sondern Welten, die anders alteriert werden durch jeden Modus.«84 Es geht Latour also um mehr als eine Pluralisierung der Wirklichkeitszugänge auf der Grundlage von verschiedenen Interpretationsschlüsseln und Diskursnormen. Mit der Rede von ›Existenzweisen‹ rekurriert er auf die verschiedenen Gesellschaftssysteme nicht nur als verschiedene Repräsentationsformen von Welt, sondern als prozessual entstehende, eigene Realitäten. Sie messen sich am jeweiligen sozialen und diskursiven Bezugsmodus, in den sie eingebettet sind.85 Mit seiner Argumentation umgeht Latour so die angesprochenen »adäquations-, onto- oder transzendentallogische[n] Begründungen«86 . Zudem kritisiert er die naturalistischen Fehlschlüsse, denen auch die Theologie erliegt, wenn sie sich auf derlei Begründungsmechanismen stützt: »Was am Appell zum ›Übernatürlichen‹ so unangenehm ist, ist, daß man damit sofort das ›Natürliche‹ akzeptiert. Und wenn man, mit gesenkter Stimme, von ›Spiritualität‹ spricht, so muß uns auch hier sofort alarmieren, daß damit eine befremdliche Idee von ›Materialität‹ unbesehen einfach hingenommen wird.«87 Ähnlich wie Ricœur beschreibt auch Latour die religiöse Rede also als eine »tatsächlich grundverschiedene Art, in dieser Welt zu sprechen«88 , ohne eine abgekoppelte ›Geistwelt‹ zu behaupten.89 Weder Latour noch Ricœur geht es hier also um eine Ästhetisierung der Religion oder um das Postulat ihrer Referenzlosigkeit.90 Vielmehr plädieren
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Latour, Existenzweisen, 153 [Hervorhebung im Original]. Rosa, Ruf, 554. Latour, Existenzweisen, 414. Vgl. Hartmut Rosa, Religion als Form des In-der-Welt-Seins. Latours andere Soziologie der Weltbeziehung, in: Henning Laux (Hg.), Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen«. Einführung und Diskussion (transcript Sozialtheorie), Bielefeld 2016, 251–259, hier: 252. Bernhard Fresacher, Kommunikation. Verheißung und Grenzen eines theologischen Leitbegriffs, Freiburg i.Br. 2006, 219f. Latour, Existenzweisen, 414. Ders., Jubilieren, 47. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 148.
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beide für eine andere Haltung gegenüber den zu deutenden materialen und sozialen Sachverhalten und Zusammenhängen. Innerhalb von komplexen Referenznetzwerken versteht Latour religiöse Rede als eine spezifische »Form ursprünglichen Sprechens«91 . So führten religiöse Codes angesichts der Wahrnehmung und Bearbeitung von Kontingenz ein kritisches Moment wider die Logik des ›Doppelklicks‹ ins Feld. Wer im Sinne einer informationsbasierten Zugangslogik fragt »Wieviel Bytes hat die Religion?«92 , wird von Latour zur Antwort erhalten: »Nicht ein einziges. Nicht einmal ein einziges Null-Eins-Komplement. Weder Zugriff noch Information noch Botschaft. Sie bietet Besseres als Informationsübertragung: Sie transformiert Abwesende in Anwesende, Tote in Auferstandene.«93 In diesem Rahmen betont auch Latour die Transformationswirkung der bedeutungskonstituierenden Relationen. Er verweist nicht nur auf eine Pluralisierung von Bedeutungen, sondern auch auf die prozessuale Form der Sinnerschließung, die Transzendenzbezüge vornehmen. Auf diese Weise entfalten sie eine Wirklichkeitswirksamkeit, die allein auf der veränderten immanenten Zugangsform zur Welt beruht, die sie einbringen. Latour bezieht sich bei der Illustration dieses Erschließungsprozesses bezeichnenderweise auf den Auferstehungsglauben (s.o.) und damit auf das zentrale Transformations- und Relationsmoment des christlichen Glaubens. Auf diese Ausführungsform seiner ›Doppelklick-Kritik‹ kann daher im Verlauf der noch ausstehenden dogmatischen Überprüfung nochmals eigens christologisch eingegangen werden (vgl. dazu Kapitel 12.1). 3. Relationale Referenzlogik als offenbarungsbezogene Diskursform und interdisziplinärer Spiegel Die dargelegten Modelle von Ricœur und Latour führen die theologische Argumentation weg von einem deskriptiven Diskursverständnis. Sie erweisen sich daher als äußerst hilfreich für den Zielhorizont der vorliegenden Arbeit. Sowohl die in der eingebrachten offenbarungstheologischen Thesenbildung vorausgesetzte performative Referenzlogik als auch die damit einhergehende Transformationswirkung religiöser Codes können offenbarungstheologisch sinnvoll nur auf der Grundlage eines »(Wett-)Einsatz[es] der Hermeneutik des Absoluten«94 eingebracht werden. Die Rede vom zeugnishaften Diskurs forciert die eingeführte Dialektik zwischen einer aufrechterhaltenen metaphysischen Axiomatik und ihrer immanenten Bindung an kollektive Erfahrungsvollzüge. Auf die wichtige Rolle dieser spezifischen theologischen Axiomatik im Glaubensvollzug und damit im Offenbarungsgeschehen hat bereits Karl Barth hingewiesen. Die vorliegende Reevaluierung versteht die Rede von der ›Offenbarung‹ daher als eine interdisziplinäre Herausforderungsfolie: Es geht sowohl für die Theologie als auch für die evolutionsanthropologischen Ansätze »nicht nur [um; JU] die Aufgabe des
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Ebd., 167. Ebd., 175. Ebd. Ricœur, Hermeneutik des Zeugnisses, 35.
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Unmittelbarkeitsideals […], sondern auch [um; JU] die metaphorische Grundlage für einen positiven Vermittlungsbegriff im Sinne einer bleibenden Zugangsstruktur«95 zur sinnbezogenen Selbst- und Weltdeutung des Menschen. Hier liegt der interdisziplinäre Knackpunkt einer offenbarungstheologischen Selbstrelativierung. Er führt zu einer kritischen Aufarbeitung des evolutionsanthropologischen Religionsverständnisses. Wer die Wirklichkeitsbezüge offenbarungsbezogener Codierungen als temporär eingebrachte Zeugnisse der Deutung von beziehungsbezogenen Erfahrungen versteht, muss auch wissenschaftstheoretische Konsequenzen für religionswissenschaftliche und evolutionsanthropologische Analysen einfordern. Die vorgenommene theologische Selbstrelativierung kann über den Zeugnisbegriff und die damit verbundene Trennung des Offenbarungscodes von einer verifikationslogischen Referenzform zeigen, »dass es auf der einen Seite keine Möglichkeit eines streng wissenschaftlichen Nachweises gibt, sondern sich das Zeugnis in der Spannung von Bezeugung und Bestreitung bewegt, auf der anderen Seite damit an der prinzipiellen Wahrheitsfähigkeit dessen, was der Zeuge bezeugt, nicht gerüttelt wird.«96 Ein Zeugnis beansprucht also ›Wahrheitsfähigkeit‹, ohne einer referenzlogischen Verifikationsprüfung unterzogen werden zu können. Diese ›Wahrheitsfähigkeit‹, die auch transzendenzbezogene Zeugnisse weiterhin aufweisen, bezieht sich über die veränderte Referenzlogik auf ein spezifisches Wahrheitsverständnis. Ricœur spricht von einer »Manifestations-Wahrheit«97 . Mit dem Manifestationsbegriff knüpft sich die Wahrheitsfähigkeit an diskursive Praktiken der »Bewahrheitung«98 . Unter diesen Gesichtspunkten ist ersichtlich, dass die vorgeschlagene offenbarungstheologische Modellierung das von der Religionsdefinition in Kapitel 8 eingeforderte Komplexitätsniveau auch im Rahmen theologischer Voraussetzungsmarker erreichen kann: 1. Die Prämisse, dass transzendenzbezogene Codes und Praktiken lediglich »offenbarungstheologisch auf das hin deutbar [sind], worauf sie selbst verweisen – den relational-aktualen Gehalt des Zeichens ›Gott‹«99 ist hier in einer theologisch geprägten Referenzform – dem Zeugnis – eingelöst. Die relationale Referenzform konnte dabei als wichtiges erkenntnistheoretisches Prägemal der frühen Entwicklung einer christlichen Theologie gekennzeichnet werden: Die beziehungsbasierte Grundlegung des Gottesbildes im jüdisch-christlichen Erbe zieht Augustinus zufolge immer schon eine erkenntnistheoretische Differenzlogik nach sich. Damit verortet sich das
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Veronika Hoffmann, Vermittelte Offenbarung. Paul Ricœurs Philosophie als Herausforderung der Theologie, Ostfildern 2007, 227f. Ebd., 229. Paul Ricœur, Gott nennen (1977), in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hg. v. P. Welsen (Meiner Philosophische Bibliothek), Hamburg 2005, 153–182, hier: 162. Dürnberger, Dynamik, 99 [Hervorhebung im Original]. Wörtlich zitiert aus der Religionsdefinition dieser Arbeit in Kapitel 8.
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christliche Offenbarungsverständnis schon in seinem Kern jenseits verifikatorischer Referenzlogiken. 2. Die vorgenommenen Reevaluierungen agieren entsprechend in einem offenbarungstheologischen Traditionsrahmen und leisten zugleich eine neue Pointierung theologischer Selbstrelativierungen im interdisziplinären Feld. Eine relational-aktual verstandene Offenbarungsform erreicht damit das metaphorisch als ›interdisziplinären Spiegel‹ eingeführte Anspruchsniveau für eine fundamentaltheologische Beschäftigung mit der Evolutionsanthropologie. Die vorliegende Reevaluierung knüpft an das bereits problematisierte Prekariat theologischer Ontologie(n) an (vgl. insbesondere Kapitel 6.3.2). Die Dynamisierung des performativen, an relationale Referenzen und Reflexionen gebundenen Offenbarungsbegriffs »bringt adäquations-, onto- oder transzendentallogische Begründungen in Verlegenheit; […] stößt sie auf ihre eigene Standortgebundenheit, genauer: auf die Differenz des einen Blicks zu anderen.«100 3. Entsprechend geht es der vorliegenden Argumentation um die Einführung einer aktual-relationalen Verifikationsform. Mit ihr kann ein theologischer Anspruch an die offenbarungsbezogene Reflexion lebensweltlicher Herausforderungsfelder weiterhin und in veränderter Form adäquat eingebracht werden. Auf dieser Grundlage verortet sich die Rede von ›Offenbarung‹ als ein innersystemischer, relational organisierter Faktor mit konkretem Wirklichkeitsbezug, der über eine vermeintlich ›reine‹ Form der Informationsübertragung deutlich hinausweist. Er stellt eine spezifische Form der Vergegenwärtigung der Interdependenz zwischen relationaler Praxis, kontingenter Umwelt und entzogener Transzendenz dar. Er beansprucht im Rahmen einer auf ›Sinn‹ hin ausgerichteten Grundhaltung ein transformatives Moment der Wirklichkeitsbearbeitung. Es geht hier um eine präsentisch ausgerichtete Offenbarungstheologie, die für sich beansprucht, wahrheitsfähige Weltzugänge zu schaffen. In diesem Sinne »re-präsentiert [sie; JU], aber dieses Mal als intransitives Verb ohne Objektergänzung: Sie macht wieder präsent, und damit verwandelt sich die Geschichte […].«101 4. Im Rahmen der analysierten Transformationsfaktoren, die eine solche Interpretation des Offenbarungscodes einträgt, lässt sich das vorgeschlagene Verifikationsmodell schließlich an evolutive Entwicklungsmechanismen anschließen: Wenn Religion im Rahmen des folgenden Schlussplädoyers als eine relationale ›Existenzweise‹ bezeichnet wird, so kann sie als eine erkenntnistheoretische Möglichkeitsbedingung geteilter Intentionalität verstanden werden, die zugleich die Funktionalität dieser Sozialform immer schon übersteigt. Sie gestaltet nicht einfach soziale Funktionssystematiken, sondern transformiert die gesamte menschliche Existenz. In diesem Sinne verändert sie die Beziehungslogiken, in denen Leben stattfindet – eine neue (Offenbarungs-)Wirklichkeit bricht sich Bahn. Die jeweilige Haltung und Formung des Diskurses und damit die Reflexion auf systemische Faktoren transformiert also auch die zugeschriebene Wirklichkeit. Nicht nur die jeweiligen Referenzformen, sondern auch die Wirklichkeit als solche ist damit pluralisiert. Die jeweils performativ 100 Fresacher, Kommunikation, 219f. 101 Latour, Jubilieren, 154.
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zum Tragen kommende Perspektive auf die Welt nimmt damit eine transformative Rolle im System ein, die theologisch als offenbarungsproduktiver Ort verstanden werden kann.102 Sie beansprucht dann zum einen eine eigene Theologizität und versteht sich zum anderen als adäquates Analyseparadigma für die innerevolutiven Mechanismen transzendenzbezogener Codierungen. Im hier skizzierten Feld lässt sich nun die Offenbarungstheologie verorten. Es bietet der theologischen Erkenntnistheorie den gesuchten Rahmen, in dem sie eine Offenbarungspragmatik jenseits von substanzmetaphysischer Monolinearität nicht nur einführen, sondern auch in ihrer entwicklungsbezogenen Bedeutsamkeit herausstellen kann. Die Theologie spielt hier, angelehnt an die Vorarbeiten von Karl Barth und Augustinus sowie die philosophischen Rahmungen bei Ricœur und Latour, eine wichtige Epistemik in die interdisziplinäre Debatte ein. Ihre spezifisch theologische, an existenzgenerierenden Sinnbezügen orientierte Analyse religiöser Codes und Praktiken zeigt: »Ontologie und Epistemologie lassen sich nicht trennen.«103 Religionen performieren einen spezifischen »Moduswechsel der Existenz«104 – und diesem Moduswechsel kommt eine evolutionsgeschichtliche Rolle zu.
11.3. Modell einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik Im Verlauf der Argumentation ging es um die Klärung des relational-aktualen Bezugs zwischen der Erkenntnisform des Glaubens und dem offenbarungsbezogenen Erkenntnisgehalt, auf den sie sich bezieht. Im Spiegel religionsevolutiver Dekonstruktionen konnte ein neuer offenbarungstheologischer Horizont eröffnet und sowohl philosophisch als auch theologiegeschichtlich unterfüttert werden. Er soll als offenbarungstheologische Antwort auf die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Ort der Religion und ihrer damit verbundenen theologieproduktiven Stellung im evolutionsgeschichtlichen Geschehen vorgeschlagen werden. Dazu legt dieses Kapitel, auf der Grundlage der vorgenommenen Rekapitulationen und Neufokussierungen, ein eigenes offenbarungstheologisches Plädoyer vor. Das erarbeitete Wechselverhältnis aus Erkenntnisform und Erkenntnisgehalt sowie die Argumentation für seine konkrete Rückwirkung auf das jeweilige Existenzverhältnis des Menschen setzt einen Wirklichkeitsbezug und eine Wirklichkeitsrelevanz des Offenbarungsparadigmas voraus. In diesem Sinne geht es von einer Offenbarungswirklichkeit als relational-aktualem Erkenntnismodus aus. Auf der Grundlage eines an den Glaubensvollzug rückgebundenen Verständnisses des Transzendenzbezugs als ›Zeugnis‹ lässt sich nun auch sozialevolutiv anschlussfähig einholen, was unter einem offenbarten ›So-Sein-Gottes‹ erkenntnistheoretisch verstanden werden kann. Dieses Verständnis verortet sich jenseits substanzmetaphysischer Annahmen.
102 Vgl. Henriksen, God, 458. 103 Rosa, Ruf, 555. 104 Ingolf U. Dalferth, Ereignis und Transzendenz, in: ZThK 110/4 (2013) 475–500, hier: 499.
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In Anbetracht einer beziehungsbasierten Referenzlogik ist stattdessen eine unauflösliche systemische Eingebundenheit des Menschen als theologieproduktives Erkenntnisfeld eingeholt. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit konnte dieser Hintergrund mit den evolutionsgeschichtlichen Problemhorizonten der sozialen Komplexität, der endlichkeitsbedingten Kontingenz und der daraus resultierenden Sinnkrisen beschrieben werden. An diesen Schnittstellen fallen evolutionsintern ontologische Bezugspunkte und epistemologische Settings in eins: Die materialen und reflexiven Bedingtheiten des Weltzugangs können nicht voneinander getrennt werden. Zugleich können ihre komplexen Interdependenzen nicht in Form eines reflexiven Direktzugangs aufgeschlüsselt werden. Das Bewusstsein für diese komplexen Interdependenzen unterliegt vielmehr wiederum materialen und sozialen Bedingtheiten. Das dargestellte Bedingungsgefüge wird also zur Epistemik des Weltzugangs im Ganzen. Es betrifft auch die ihm selbst zugesprochene ›Substanz‹. Mit Hans-Joachim Höhn ist dieses erkenntnistheoretische Framing als »relationale Ontologie«105 zu verstehen. Sowohl Menschen als auch die sie umgebenden sozialen und materialen Bedingungen existieren immer in Form von Interrelationen. Der sinnbezogene, auf Transzendenz ausgerichteten Umgang mit diesen komplexen Bedingtheiten ist also durchaus auch weiterhin ontologisch orientiert. Er kann dennoch nicht substanzmetaphysisch universal betrachtet werden. Vielmehr geht es hier um eine immanente und das heißt immer relational-aktual rückgebundene ›Ontologie‹. Für Höhn folgen aus dieser Einsicht umfassende epistemische Konsequenzen, die er mit seinem Relationalitätsverständnis zum Ausdruck bringt: »Relationalität ist hierbei nicht nur eine in methodischer Hinsicht zentrale Kategorie, sondern benennt auch die ontologische Struktur der Grundsituation menschlichen Daseins. Das Bei-sich-Sein eines Subjekts ist nicht ablösbar von seinem Bezogensein auf naturale und personale bzw. soziale Andersheit innerhalb eines bestimmten Zeithorizontes.«106 An dieser Stelle lassen sich die vorliegenden Überlegungen an Latours Plädoyer für verschiedene ›Existenzweisen‹ anschließen. Wirklichkeit ist dann gleichzusetzen mit wechselnden Relationssettings, die sich als »daseins- und identitätskonstitutiv, anstatt bloß daseins- und identitätskonsekutiv«107 erweisen. Jeder menschliche Weltbezug ist daher stets geprägt durch relationale Kontexte, die die identifizierte ›Welt‹ sind, statt ihm einfach nur zufällig beigeordnet zu sein.108 Höhn schlägt hierzu eine schematische Darstellung vor, die dem herausgearbeiteten Komplexitätsparadigma der menschlichen Evolution entspricht (siehe Abbildung 13). Sie verknüpft das soziale und naturale Komplexitätsproblem mit einem Zeit- und Sinnproblem (hier: der Verletzlichkeit des Subjekts).
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Höhn, Gott, 109. Ebd., 111f. Ebd., 115. Vgl. Ders., Gottes Wort, 51f.
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Abbildung 13: Hans-Joachim Höhn, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 112.
Höhn versteht die soziale und materiale Eingebundenheit des Menschen als sein anthropologisches Konstituens.109 Daraus abgeleitet erarbeitet er eine relationale Ontologie, die er schließlich auf das Offenbarungsverständnis anwendet. Höhn schlägt damit einen für das vorliegende Herausforderungssetting interessanten Weg ein: Er versteht die Relationslogik der dargestellten ›Existenzweisen‹ als Erweis einer Untrennbarkeit von aktualer Erkenntnisform und referenzlogischem Gehalt. Auf dieser Grundlage denkt er sie als ein theologieproduktives Feld weiter. Konkret bedeutet das für ein im Glaubensprozess hervorgebrachtes, beziehungsbasiertes Gottesverständnis: »Für die Beschreibung der Wirklichkeit der Welt und ihres Gottesverhältnisses ist die Kategorie der Relation als konstitutiv aufgewiesen worden: Die Welt geht in ihrer Realität vollständig auf in ihrem Verwiesensein auf den daseinskonstituierenden Unterschied von Sein und Nichts (→ Gott).«110
109 Vgl. Ders., Gott, 111f. Überraschenderweise finden sich bei Höhn in diesem Zuge jedoch keine Bezüge auf die Ergebnisse der evolutionären Anthropologie. So beruft er sich sowohl in seiner Fundamentaltheologie (ebd.) als auch in seiner neuesten Ausarbeitung einer existentialen Semiotik (Ders., Gottes Wort.) lediglich auf »das raum-zeitlich datierbare Bezogensein [des Menschen; JU] auf sachhaft-naturale, individuell-personale und sozial-mediale Andersheit« (ebd., 170.) Hier zeigt sich ein offenes Potenzial für die konsequent interdisziplinäre Rückbindung seines Konzepts. Die im vorliegenden Kapitel vorgenommene Rezeption seines Ansatzes will dieses wichtige interdisziplinäre Potenzial heben. 110 Höhn, Gott, 173.
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Die »Limitationen der Endlichkeit«111 (vgl. obige Graphik) sind auf dieser Grundlage notwendigerweise in die Modellierungen der Offenbarungstheologie zu übertragen. Höhns Überlegungen bieten daher einen gewinnbringenden Mosaikstein für eine evolutionsanthropologisch anschlussfähige Offenbarungstheologie: Wenn die Erkenntnisform der Offenbarung mit ihrem Erkenntnisgehalt in eins fällt (Relationalität), so ergibt sich eine theologische Selbstrelativierung, die zugleich dem Offenbarungsparadigma entspricht: Sie besteht in der beschriebenen Wechselwirkung zwischen Form und Gehalt.112 Die offenbarungstheologische Unterscheidung zwischen Erkenntnisform und Erkenntnisgehalt und die damit verbundene Anerkenntnis ihrer Interdependenz »aktiviert das Bewußtsein des Abstands, der noch in jeder Offenbarungsaussage bleibt.«113 Die hier skizzierte Erkenntnistheorie entspricht also dem Offenbarungsparadigma selbst, das immer schon voraussetzt, dass sich die Theologie auf ein Feld bezieht, dass sich ihr selbst entzieht.114 Die relational-aktuale Grundierung definiert ›Offenbarung‹ daher als einen pragmatischen Sinnvollzug in Form eines ritual- und zeugnisbasierten Deutungsvorgangs. Dieser Vollzug erweist sich als die einzige vernunftmäßig denkbare Zugriffsmöglichkeit auf den referentiellen (und in diesem Sinne in einer ontologischen Relation gedachten) Bezugspunkt des Glaubens – ›Gott‹. Es zeigt sich, dass die evolutionsanthropologisch auf den Plan gerufene »Selbstmarginalisierung der Theologie mit ihrem offenbarungstheologischen Gestus zusammenhängt […].«115 Aus diesem relationalen Paradigma entfaltet sich der performative Sinncharakter der Offenbarungsrede. Im komplexen Gefüge aus materialer Umwelt, sozialer Kommunikationspraxis und sozialsystemischer Komplexitätsreduktion offenbart sie in einem existenziellen Sinne einen spezifischen Weltzugang. Sie vermittelt über den Einzug einer Transzendenz-Immanenz-Relation ein differenzsensibles Selbst- und Weltverständnis, das sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte als ›spezifisch menschlich‹ herauskristallisiert. Das relationsontologische Verständnis der Eingebundenheit menschlicher Sinnbezüge nach Höhn vermittelt an dieser Schnittstelle eine wichtige Zusammenbindung im Anschluss an die Zeugnismetapher (vgl. Kapitel 11.2.2) sowie die axiale Heuristik (vgl. Kapitel 4.2), die der vorliegenden Theoriebildung als methodologische Grundlage dienten. Das praktisch-metaphysische Paradigma (vgl. Kapitel 6.3) ist nun in ein eigenes Setting theologischer Erkenntnistheorie eingegliedert, das eine klare Abkehr von
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Ebd., 112. Dieser Relativierungsdruck erweist sich Hans-Joachim Sander zufolge als theologieproduktiver Problemmotor der theologischen Erkenntnistheorie. Er konstatiert, dass mit der »Kraft der Wechselwirkung die Binaritäten in Relativitäten überführt werden.« (Sander, Glaubensräume I, 44). Gregor M. Hoff, Die prekäre Identität des Christlichen. Die Herausforderung postModernen Differenzdenkens für eine theologische Hermeneutik, Paderborn 2001, 126. Darauf verweist auch die Offenbarungskonstitution Dei Verbum, die die göttliche Offenbarung an ihre konkrete Weitergabe bindet (vgl. DV 1). Ganz im Sinne der Sprengung von Binarität, die Sander einführt, eröffnet das Zusammenspiel kollektiv getragener Traditionsprozesse und offenbarungsbezogener Heilszusagen der Konstitution zufolge einen konkreten Raum für die »lebensspendende Gegenwart« (DV 8) Gottes. Vgl. dazu den Exkurskasten zur Konstitution Dei Verbum in Kapitel 7.3.4. Wendel, Offenbarung, 246.
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substanzmetaphysischen Direktzugriffen der Offenbarungstheologie markiert. Dabei flacht es die materiale Bedingtheit und pragmatische Grundanlage der Transzendenzbezüge sowie ihre bedeutsame Rolle in der menschlichen Entwicklungsgeschichte nicht ab. Im Gegenteil misst sie den sozialen und materialen Komponenten einen eigenen, relational ausbuchstabierten erkenntnistheologischen Wert bei. Dazu wird hier für eine Neubewertung des Zusammenhangs zwischen pragmatischen Erkenntnisformaten und ihren inhaltlichen Bezügen plädiert: Die vorliegende offenbarungstheologische Modellierung »lenkt den Blick weg vom jeweiligen substantiellen und propositionalen Inhalt des Verhandelten, des Erfahrenen, des Erkannten oder Bearbeiteten und hin auf die jeweils dominanten Formen und Modi der Beziehung.«116 Genau vor diesem Hintergrund konnte ein relationales Sinnverständnis auch als soziologisch schlüssig erwiesen werden. Es entspricht der relationalen Verbindung von Handlungsgefügen und systemischen Anschlussbedingungen, die im operativ-aktualen Glaubensvollzug aufgerufen, beansprucht und zugleich selbst zum Thema gemacht wird. Der transzendente Ausdruck dieses Wechselverhältnisses und damit der Sinngeber menschlicher Daseinsbedingungen oszilliert im Code ›Gott‹, der eine eigene ›Existenzweise‹ vorgibt. Als performativer Spielraum verstanden zeugt er von einem wirksamen Beziehungserleben. Die evolutive Bedeutsamkeit einer performativ verstandenen Relationslogik verknüpft sich nun auch fundamentaltheologisch zu einem konzisen, offenbarungstheologisch fokussierten Modell religiöser Erkenntnistheorie. Es ist als gebündelter, offenbarungstheologisch fokussierter Zielpunkt der vorliegenden Arbeit zu verstehen. Die mit diesem Offenbarungsmodell einhergehenden wissenschaftstheoretisch-interdisziplinären sowie theologisch-erkenntnistheoretischen Kernanliegen und Erkenntnisse verweisen auf diese Schlüsselstellung: Offenbarungstheologische Erkenntnis I Der Offenbarungsbezug kann als handlungsbasierte, systemisch wirksame Einführung einer neuen ›Existenzweise‹ verstanden werden. Dieses Grundverständnis führt zu einer neuen theologischen Verortung des Offenbarungsparadigmas. Sie beruht auf einer wegweisenden erkenntnistheoretischen Einsicht: Wenn in der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz ein beziehungslogisches Offenbarungsverständnis eingesetzt wird, so fallen die eingesetzte relationale Erkenntnisform und der codierte Erkenntnisgehalt zusammen. Nur aus einer neuen Fokussierung der Komplexitätshorizonte und der in ihnen aufbrechenden Endlichkeits- und Sinnproblematik kann die Zuwendungs- und Hoffnungsperspektive des Gottescodes als mächtiger sozialer Akteur erschlossen werden. Hier offenbart der Code ›Gott‹ in seiner aktualen Einführung einer neuen ›Existenzweise‹ eine Spur »Gott[es] jenseits der Anführungsstriche«117 . Diesem*dieser Akteur*in fällt temporär eine relational-aktuale Existenz zu. Sie erschließt sich performativ und existentiell im beziehungsbasierten, transzendent ausgerichteten Glaubensvollzug. Dieses Performativ wird als ›Gabe‹ einer neuen, veränderten Referenz auf das Komplexitätsparadigma erlebt. 116 117
Rosa, Ruf, 560. Gruber, Transzendenz, 95.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
Christlicherseits ergibt sich im Rahmen dieser beziehungslogischen Unverfügbarkeit ein personales Gottesbild, das diesem Zuwendungserleben Rechnung trägt.118 Es nimmt entsprechend wenig Wunder, dass auch Latour in diesem beziehungslogischen Kontext die ›Existenzweise‹ der Religion als wirkmächtige Abkoppelung von der ›Doppelklick-Kommunikation‹ am Beispiel einer Liebesbeziehung verdeutlicht. Wie Augustinus, der auf die Unmöglichkeit eines materiellen Bezugs auf die göttliche Liebe verweist,119 kommt auch Latour im Rahmen seiner Religionshermeneutik auf die Substanzlosigkeit jeder Liebesbeziehung zu sprechen. Sie wird ihm zufolge insbesondere dann deutlich, wenn die Existenz der Liebe in einer Beziehungskrise hinterfragt wird.120 Wenn dann nach einer nachweisbaren Substanz der Liebe gesucht wird, gegenüber der man Ansprüche erhebt und eine substanziell messbare Liebesgabe erwartet, ist ein totes Ende jeder Beziehungslogik erreicht. Wenn stattdessen aus dieser Krise heraus erneut Interaktion stattfindet, das heißt Relation reaktiviert wird, so ist die aktuale Gabe der Liebe wieder auf den Plan gerufen. In diesem Sinne versteht Latour eine Liebensbeziehung als relational-aktuale Gabe, die sich jenseits der Logiken von Substanz bewegt.121 Wenn die ›Existenzweise‹ der Offenbarung entsprechend als performative Beziehungswirklichkeit verstanden wird, zeigt sich, dass die Erkenntnisform der Offenbarung zugleich ihren Erkenntnisgehalt ›darstellt‹. Nochmal mit Latour gesprochen heißt das, dass sie Gottes Beziehungswesen in dem Sinne »re-präsentiert«122 , als dass sie es immer wieder neu auf den Plan ruft und präsent macht.123 Diese offenbarungstheologische Modellierung transportiert auch einen wissenschaftstheoretischen Clou: Sie erschließt den Herausforderungshorizont der Religionsevolution, auf den die evolutionäre Anthropologie die Theologie stößt, als theologieproduktives Feld. Bei der Kartierung dieses Feldes ergibt sich eine unhintergehbare fundamentaltheologische Epistemologie, die auch das vorgeschlagene Offenbarungsverständnis stützt. Der evolutionsanthropologisch erschlossene Zusammenfall von glaubensbezogenen Erkenntnisformen und ihrem evolutionsgeschichtlich relevanten, transformativ wirksamen Gehalt bedeutet für die Theologie auch, dass ihre ontometaphysischen Bezugspunkte und ihre epistemischen Immanenzen untrennbar in eins fallen.124 Der Rückbezug der evolutionsanthropologischen Ergebniskomplexe auf theologische Bezüge entfaltet auf diese Weise im Offenbarungsparadigma eine anschauliche interdisziplinäre Relevanz. Der theologische Gehalt der Offenbarungscodierung ist aufs Engste mit der Einschätzung und Analyse evolutionsgeschichtlicher Entwicklungsmechanismen verbunden. Daraus ergibt sich eine wissenschaftstheoretische
118
Auf diesen dezidiert christlichen Anknüpfungspunkt (insbesondere im Hinblick auf die Christologie) wird in der Folge in Form einer dogmatischen Evaluation der vorliegenden Modellierungen noch einzugehen sein (vgl. dazu Kapitel 12.1). 119 Vgl. Aurelius Augustinus, Confessiones, 10, VI.8; siehe dazu ausführlich Kapitel 11.1 der vorliegenden Arbeit. 120 Vgl. Latour, Jubilieren, 176. 121 Vgl. ebd., 177. 122 Ebd., 154. 123 Vgl. ebd., 154f. 124 Vgl. Rosa, Ruf, 555.
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Relativierung sowohl evolutionstheoretischer Funktionalismen und Konstruktivismen als auch theologischer Substanzmetaphysiken. Diese Verbindungslinien zeigen: Das vorliegende offenbarungstheologische Modell einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik insistiert in Form einer theologischen Reflexion auf die interdisziplinären Spiegeleffekte zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie. Es bietet gleichermaßen einen eigenen theologischen Entwurf sowie eine konzentrierte Zusammenbindung der wichtigsten Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit. Es versteht sich daher als fundamentaltheologische Diskussionsgrundlage zur weiteren Beschäftigung der Theologie mit evolutionsanthropologisch gelagerten Religionsanalysen und zur interdisziplinären Weiterentwicklung einer theologischen Erkenntnistheorie. Die skizzierte Reflexion bietet eine schlüssige Verortung des aufgerufenen offenbarungstheologischen Herausforderungsrahmens, der insbesondere in Bezug auf die Referenzlogik der Offenbarungsrede virulent wurde (vgl. Kapitel 11.2.1). Offenbarungstheologische Erkenntnis II Wenn die Offenbarungstheologie sich an eine relational verstandene Ontologie zurückbindet, so nimmt sie eine immanenzbewusste Selbstrelativierung vor und setzt sich in ein spezifisches Wechselverhältnis zur Menschheitsgeschichte. Der Sinngehalt des Transzendenzbezugs kann deshalb nur dann einen konkreten Referenzgehalt realisieren, wenn die veränderte ›Existenzweise‹, die er einführt, konsequent »re-präsentiert«125 , das heißt immer wieder aktual aufgerufen wird.
Die religiöse Zugangsform dekonstruiert damit den eigenen Erkenntnisgehalt in einem stetigen Suchprozess. Auf diese Weise schafft sie zugleich beständig die Möglichkeit performativ wirksamer Erkenntnisformen, die den Erkenntnisgehalt erst als denkmöglichen, temporären Spielraum eröffnen. Ein immanenzbewusster Offenbarungsbezug kann dann operativ »Sinn gewinnen«126 . So zeigt das hier vertretene Offenbarungsmodell, dass die vorgenommene theologische Selbstrelativierung auch interdisziplinäre Relativierungsvorgänge nach sich zieht: Transzendenzbezogene Narrative und Praktiken entziehen sich jeder funktionalistischen Engführung. Diese widerspräche nämlich der skizzierten sinnbezogenen Reflexionsform zweiter Ordnung. Angelehnt an Latour lässt sich somit festhalten, dass eine funktionalistische Engführung des Offenbarungsparadigmas seiner Erkenntnisform widerstrebt und damit seinen Erkenntnisgehalt in der empirischen Logik der ›Doppelklick-Kommunikation‹ erstickt. Die hier vertretene offenbarungsbezogene Beziehungslogik entfaltet also nur dann eine komplexitätsbearbeitende Performanz, wenn »sie nicht mit diesen Funktionen identifiziert bzw. auf diese reduziert wird.«127 Das hier modellierte Offenbarungsverständnis und sein aktualer Bezug auf die Glaubenspraxis geht daher über die systemtheoretische Funktionsweise und handlungstheoretische Sozialgebundenheit der religiösen Evolution hinaus, ohne ihre Logiken aufzuheben oder zu überschreiten. 125 126 127
Latour, Jubilieren, 154. Ebd., 113. Höhn, Zeit, 222.
11. Offenbarungstheologie im evolutionsanthropologischen Spannungsfeld
Offenbarungstheologische Erkenntnis III Im Offenbarungsparadigma lässt sich demnach auch eine neue Betrachtung der Religionsevolution präzisieren und theologisch rückgebunden plausibilisieren: Religiöse Narrative und Praktiken sind nicht Treiber des evolutiven Systems per se. Aber sie sind als Treiber des anthropologischen Fortgangs der Evolution im Sinne einer Umstellung des existenziellen Erkenntnis- und Sinnmodus des Sozialsystems zu verstehen. Evolution wird erst hier als Evolution erschlossen. Sie wird erst unter einem transzendenten Sinnhorizont als begrenzender und ermöglichender Daseinshorizont des Menschen erschließbar.128 In der interdisziplinären Verschränkung von evolutionärer Anthropologie, Religionswissenschaften, Religions- und Sozialphilosophie sowie der Theologie ergibt sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit eine Steigerung des religionstheoretischen Komplexitätsniveaus. Es konnte offenbarungstheologisch ausbuchstabiert werden. Die eingebrachte, differenzhermeneutisch flankierte relational-aktuale Sichtweise und ihre Einordnung in erkenntnistheoretische Spannungsfelder erweist sich zunächst als offenbarungskonstitutiv und damit theologieproduktiv. Darüber hinaus vermittelt das vorliegende Offenbarungsmodell auf wissenschaftstheoretischer Ebene eine Relativierung sowohl theologischer als auch anthropologischer Modellierungen religiöser Narrative und Rituale. Es schließt die komplexen Interdependenzen der Evolutionsgeschichte auf eine erkenntnistheoretisch produktive Art und Weise in sich ein und sprengt so einseitige innerwissenschaftliche Absolutsetzungen auf. Der Glaubensvollzug und sein Einsatz eines Offenbarungsparadigmas können unter systemtheoretischen Gesichtspunkten als eine Reflexion ›zweiter Ordnung‹ beschrieben werden.129 Das entspricht dem hier vorausgesetzten fundamentaltheologischen Komplexitätsanspruch: Der Offenbarungsglaube ergibt sich weder zwingend aus den kognitionspsychologischen oder materialen Gegebenheiten, in denen der Mensch agiert noch ist er als autonomes Projekt einer universalen Metaperspektive zu verstehen. Vielmehr nimmt er aktiv ein Verhältnis zur komplexen Relationalität des Menschen in seiner sozialen und materialen Verfasstheit ein.130 Die hier erarbeitete offenbarungstheologische Neuverortung führt so zu einer stringenten Rückbindung der Offenbarungstheologie an evolutionsanthropologische Grundvollzüge und betont zugleich gerade in Anbetracht dieser Relationalität ihre spezifische, performativ wirksame Erkenntnisform. Das vorliegende Modell eröffnet dadurch auch Möglichkeiten für eine begründete Rückbindung genuin christlicher Gottesbilder an die erkenntnistheoretische Verortung der Religion im Setting sozialer Evolutionen. Auf diese Verknüpfungen wird im Folgenden abschließend eingegangen.
128 Dalferth, Ereignis, 498f. 129 Vgl. Höhn, Zeit, 219. 130 Vgl. ebd.
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12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
Die relational-aktuale Rückbindung des Glaubensvollzugs betrifft auch das mit einem personalen Gottesbild verbundene Offenbarungsverständnis. Es bindet die Selbstoffenbarung Gottes an eine geschichtlich manifestierte Beziehungslogik: Der geschichtliche Bezug versteht sich als konkrete, reale Relationsform, deren transzendenter Referenzgehalt zugleich im Rahmen einer relationalen Unverfügbarkeit zu präzisieren bleibt. Diese Verschmelzung aus Unverfügbarkeit und konkreter Präsenz markiert den differenzhermeneutischen Kernpunkt christlicher Offenbarungsrede. Diese Differenzhermeneutik schließt eine von aktualen Handlungen und Begegnungslogiken abgekoppelte Offenbarungsgrundierung aus. Mit dem Ziel einer dogmatischen Evaluation des in Kapitel 11 vorgelegten Offenbarungsverständnisses fokussiert sich das folgende letzte Kapitel zunächst auf den christologischen Kernbestand als erstes beziehungsbasiertes dogmatisches Testfeld für das erarbeitete Religions- und Offenbarungsverständnis und die mit ihm einhergehenden interdisziplinären Neujustierungen (vgl. Kapitel 12.1). Ein zweiter Schritt führt von der aktualen, performativ verstandenen Beziehungslogik des Christusereignisses zu einer weiteren dogmatischen Prüffolie. Sie ergibt sich aus der sozialen Trägergemeinschaft der Offenbarung, die nicht nur angesichts des relationalen Offenbarungsparadigmas, sondern auch für die Erkenntnisse zur Funktionsweise kollektiver Intentionalitätsvollzüge als operative Faktoren im Evolutionssystem von entscheidender Bedeutung ist. Es soll erörtert werden, inwieweit die dargelegte Transformationskraft kollektiver Metareflexionen im komplexen System der Evolution im Rahmen ekklesiologischer Grundannahmen als ein offenbarungsproduktiver Vollzug verstanden werden kann (vgl. Kapitel 12.2).
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12.1. Christologische Skizzen im Lichte evolutionsbezogener Relationalität und Materialität Im Rahmen einer christologischen Prüfung des vorgelegten Offenbarungsmodells sollen zunächst grundlegende Bezugspunkte der Christologie abgesteckt werden. Anhand der biblischen Beispielfolie der Emmauserzählung (vgl. Lk 24,13-35) und der chalkedonensischen Differenzchristologie ergibt sich so ein konkreter Rahmen, in dem eine evolutionsbezogene christologische Skizze entworfen werden kann. Freilich kann diese Skizze als abschließender Ausblick dabei weder dem Anspruch auf eine vollständige Abbildung der umfangreichen Dogmengeschichte genügen noch eine ausgereifte Christologie vorlegen. Ziel ist es vielmehr, anhand einiger wirkmächtiger Erkenntnisquellen und Kernbestände des christologischen Diskurses mögliche konkrete Verbindungslinien in die vorliegende Studie hinein aufzuzeigen. Sie wollen dazu ermutigen, im Anschluss an die vorliegende fundamentaltheologische Arbeit auch dogmatische Anknüpfungspunkte an die evolutionäre Anthropologie freizulegen und so das vorliegende methodologische und erkenntnistheoretische Portfolio zu einer systematisch-theologischen Anwendung zu bringen.
12.1.1. Die lukanische Emmauserzählung (Lk 24,13-35) Als biblisches Paradebeispiel einer nachösterlich einsetzenden ›christologischen‹ Reflexion kann die lukanische Emmauserzählung (vgl. Lk 24,13-35) gelten. Sie inszeniert einen dialogischen Erkenntnisprozess, der sich im Nachhinein als Begegnung mit dem auferstandenen Jesus – und damit der transparent werdenden Bedeutung des göttlichen Christus’ – erweist. Im Rahmen der Perikope ist die Verknüpfung von Erkenntnis, Beziehung und Entzug unter christologischen Gesichtspunkten hervorzuheben. Im Text tritt der auferstandene Jesus während ihres Gesprächs zu zwei reisenden Jüngern hinzu. Sie erkennen ihn jedoch nicht als Jesus (vgl. V.14f.). In Reaktion auf ihre Erzählung vom Leben, Leiden und Sterben Jesu nimmt der unbekannte Begleiter eine Interpretation der Schrift vor, die auf dieses Leben, Leiden und Sterben hinausläuft und dessen Sinn erschließt. Im Rahmen eines Beziehungsereignisses wird hier Erkenntnis in Form einer »interpretive performance«1 generiert, die die Transzendenzhoffnungen und Traditionsbezüge, in denen die Jünger stehen, überhaupt wieder auf die Denkmöglichkeit messianischer Erlösung in und durch Jesus lenkt. Diese Hoffnung hatten die Jünger während seines irdischen Lebens eigentlich mit ihm verbunden, dann jedoch nach seinem Tod verloren (vgl. V.21). Die jesuanische ›Interpretationsperformance‹ wird im Text schließlich durch einen beziehungsbasierten Identitätsmarker des irdischen Jesus ergänzt: das gemeinsame Mahl. In ihm kulminiert die für die Jünger erkennbare (vgl. V.31) Theologizität des Lebens, Leidens und Sterbens Jesu. Es wird zum Ziel- und Startpunkt der Hoffnungsgeschichte, in die sich die Jünger vor seinem Tod bereits gestellt sahen. Damit macht sich der auferstandene Christus der lukanischen Emmausperikope abhängig von seiner irdischen Lebensperformanz. 1
D. B. Laytham, Interpretation on the Way to Emmaus. Jesus Performs His Story, in: Journal of Theological Interpretation 1/1 (2007) 101–115, hier: 104.
12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
Die Bedeutung dieses Lebensintegrals bindet sich darüber hinaus an den aktiven Nachvollzug seines Sinngehalts durch seine Weggefährt*innen. Es zeigt sich: Erst der Rückblick auf die heilsgeschichtlichen Sinnlinien der Schrift sowie auf das Leben, Leiden und Sterben Jesu erschließt ein Verständnis für den Sinn der darin eröffneten Lebenshorizonte. Als Beziehungsgeschehen unterliegt die in der Emmausperikope entworfene Szenerie dem von Derrida erkenntnistheoretisch gefassten Moment der ›Temporisation‹. Die damit verbundene Entzogenheit der christologischen Erkenntnis macht der Text zu seinem Ende hin unmissverständlich deutlich: Der Auferstandene ist den erkennenden Augen der Jünger im Vollzug des Emmausmahls schon wieder entzogen (vgl. Lk 24,31). Dieser Spannungsbogen zwischen der nachösterlicher Transzendenz Jesu und seiner vorösterlichen Beziehungsimmanenz wird hier zur Offenbarungsform. Sie zeigt: »Er ist eine Entzugserscheinung: Wer er ist, zeigt sich im Entzug, und nicht vorher, sondern erst ›im Rückblick‹. Der Augenblick der Einsicht ist bereits Rückblick.«2 Dass die mit Jesus verbundene Erkenntnis der Heilsgeschichte nur in temporären ›Spuren‹ eines gemeinschaftlichen Suchprozesses erschlossen werden kann, metaphorisiert der lukanische Erzählrahmen über die Emmausperikope hinaus auch insgesamt, indem der Hauptteil des Evangeliums vom Unterwegssein Jesu mit seinen Jüngern berichtet (vgl. den lukanischen Reisebericht in Lk 9,51-19,27). Diese gemeinschaftliche Reise läuft schließlich auf Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen in Jerusalem hinaus (vgl. Lk 19,28-24,53).3 Das Wirken Jesu in Galiläa, seine anschließende Reise, sein Wirken in Jerusalem und schließlich die Erscheinungen als Auferstandener werden im Lukasevangelium zusätzlich durch drei Mahlerzählungen aneinandergebunden: Die Speisung der 5000 kurz vor Ende seines Wirkens in Galiläa (vgl. Lk 9,10-17), das letzte Abendmahl als Abschluss des Wirkens in Jerusalem und Auftakt der Passionserzählung (vgl. Lk 22,1420) und schließlich das Emmausmahl als Schlüssel zu einem performativen Sinnverstehen der mit Jesus verbundenen Heilsgeschichte (vgl. Lk 24,13-35). Ein dieser Beziehungslogik des Unterwegsseins entsprechender Folgeschritt, den das Lukasevangelium entwickelt, ist schließlich die Verbindung der Auferstehungshoffnung mit der nachösterlichen Zeug*innengemeinschaft. Ganz im Sinne der eingebrachten Zeugnismetaphorik und der mit ihr verbundenen Überblendung von offenbarungstheologischer Erkenntnisform und ihrem Gehalt, werden die Emmausjünger in V. 48 explizit dazu aufgerufen, als Zeugen zu agieren. Es nimmt entsprechend auch wenig Wunder, dass das Lukasevangelium nach einer Fortsetzung verlangt und erst als Doppelwerk in Verbindung mit der lukanischen Apostelgeschichte seine volle Wirkung entfaltet. Der lukanische Jesus macht sich abhängig von der ihm folgenden Jünger*innenschar und damit von der sich anschließenden, apostolischen Traditionsweitergabe. In diesem Sinne ist hier eine erste vage Verknüpfung zwischen der Gemeinschaft der Christusnachfolger*innen (i.d.S.
2
3
Philipp Stoellger, Im Vorübergehen. Präsenz im Entzug als Ursprung der Christologie, in: Elisabeth Hartlieb – Cornelia Richter (Hgg.), Emmaus – Begegnungen mit dem Leben. Die große biblische Geschichte Lukas 24,13-35 zwischen Schriftauslegung und religiöser Erschließung, Stuttgart 2014, 99–110, hier: 105 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. zur Gliederung des Evangeliums, auf die sich die vorliegenden Analysen beziehen Dietrich Rusam, Das Lukasevangelium, in: Martin Ebner – Stefan Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 185–209, hier: 185–187.
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der Kirche) und des Sinngehalts der Christologie auszumachen (vgl. dazu das folgende Kapitel 12.2). Die vorliegende Analyse der Emmauserzählung erschließt drei erste Kernpunkte einer aktual-relational verstandenen christologischen Erkenntnis: 1. Erstens bindet sich christologische Erkenntnis an die Praxis der Schriftinterpretation. 2. Zweitens vollzieht sie sich als eine nachösterliche Erkenntnis von Gottes Zugewandtheit und gleichzeitiger Entzogenheit in der Person Jesu, die aus dieser Praxis als prozessuale, differenzhermeneutisch strukturierte Sinnerfahrung erwächst. 3. Drittens macht sich diese Erkenntnis abhängig von und verweist zugleich auf die Notwendigkeit aktiver Zeugnisse, die im Rahmen von Traditionsgemeinschaften immer wieder operationalisiert werden müssen.
Die kurze Skizze zeigt, dass der biblische Auferstehungsglaube und seine Bindung an die Person Jesu sich im Rahmen des vorgeschlagenen aktual-relationalen Offenbarungsverständnisses plausibilisieren lassen. Die Emmausperikope kann als narrative Christologie in dem Sinne verstanden werden, dass sie die heilsgeschichtliche Bedeutung Jesu als relationales Wechselverhältnis zwischen einer beziehungspragmatischen Erkenntnisform und dem daraus erwachsenen Erkenntnisgehalt inszeniert. Die offenbarende Begegnung mit dem auferstandenen Christus bindet sich damit an einen konkreten Vollzug. In diesem Sinne schreibt das Lukasevangelium eine offenbarungstheologische Erkenntnistheorie. Mit der Verbindung von Transzendenz und Immanenz im Integral von Jesu Leben, Sterben und Auferstehen bezeugt es die Begegnung mit Jesus in Form einer beziehungsbasierten Christologie »als ereignishaft[e …] Unterbrechung des Zeitenlaufs, von dem her Zeit und Geschehen erst auf Geschichte hin miteinander versprochen werden.«4 Der Zusammenfall vorösterlicher Erfahrung und nachösterlicher Erkenntnis im geschilderten Vollzugs- und Entzugsprozess führt in der Erzählung zu einem neuen »Verstehen von ›Geschichte‹, insofern sie über das Erzählen eines punktuellen Ereigniszusammenhangs in einen zeitumfassenden Erkenntniszusammenhang einweist […].«5
12.1.2. Chalkedonensische Differenzchristologie Die beispielhaft an der Emmausperikope erarbeiteten Einsichten zeitigen Konsequenzen für die christologische Erkenntnistheorie. Sie sind in der Lage, sie mit der evolutionsanthropologisch rückgebundenen Offenbarungsmodellierung zu verzahnen. So lässt sich plausibilisieren, dass die Christologie durch ihre Grundlegung in einem immanenten Beziehungsgeschehen immer schon an die Bedingungsgefüge menschlichen Erlebens gebunden ist. Das heißt im vorliegenden Kontext: Die für die Offenbarungstheologie im Ganzen erarbeiteten erkenntnistheoretischen Umstellungen angesichts der Evolutionsanthropologie gelten für die Christologie noch einmal in einem verschärften Ma-
4
5
Doris Hiller, Gottes Geschichte. Hermeneutische und theologische Reflexionen zum Geschehen der Gottesgeschichte orientiert an der Erzählkonzeption Paul Ricœurs, Neukirchen-Vluyn 2009, 369. Ebd., 367.
12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
ße. Dass damit ein wesentlicher Herausforderungspunkt schon für die antike Kirche und ihre Theologie angesprochen ist, lässt sich dogmengeschichtlich nachzeichnen. Besonders die spätantiken christologischen Auseinandersetzungen im Umfeld der ökumenischen Konzilien zeugen von der Herausforderung, das systemische Spannungsfeld zwischen Transzendenz und Immanenz angesichts des Christusglaubens in begriffliche Konzepte zu überführen und es dabei zugleich als relational nachvollziehbares Ereignis der Offenbarung zu kennzeichnen. Nach einer lange währenden, einheitsgefährdenden Streitgeschichte geht es dem Horos von Chalkedon in diesem Konfliktfeld um eine theologische Einigung, die das christologische Spannungsfeld zwischen Transzendenz und Immanenz offenhält. In seinen Lehrentscheidungen bringt das Konzil von Chalkedon die christologische Herausforderung nicht nur historisch, sondern auch theologisch auf den Punkt. Die chalkedonensische Christologie spielt mit der »Gewißheit weiterhin transportierter theologischer Leerstellen, [die; JU] die Definition zu mehr als einer technischen Konsensualisierung [machen; JU]: der eigentliche Konsens nämlich ist ein inhaltlicher in der Intention, das Spannungsgefüge von Gottheit und Menschheit, gerade auch in der Wahrnehmung der entgegengerichteten Perspektive, auszuhalten und umzusetzen.«6 Dieses Vorhaben wird konkret über die sprachliche Verknüpfung der Gottheit und Menschheit Jesu nachgezeichnet, die schließlich in einer Reihe von Negativformulierungen mündet. Sie verunmöglichen eine binäre Differenzierung zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur Jesu.7 Wörtlich ist von Jesus als »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib« (DH 301)die Rede. Mit Hilfe einer spezifischen negativen Theologie versteht ihn der Horos als »ein und derselbe […] Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird« (DH 302). Sarah Coakley zufolge entwirft die chalkedonensische Christologie vor dem Hintergrund der zahlreichen christologischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit mit diesen Formulierungen eine theologieproduktive und spannungsreiche Begrenzung (»boundary«) dessen, was in christologischen Interpretationen gesagt werden kann, indem sie eine komplexe Sprachregelung einführt. Sie baut auf der spannungsvollen Wirklichkeit Christi in Einheit und Verschiedenheit zum Vater auf.8 Das Konzil manifestiert seine Lehre also im besten Sinne als dogmatischen Horos (gr. ὅρος – Grenze): In der Differenzierung der beiden Naturen und ihrer gleichzeitigen Rückführung in die eine Person Jesu Christi verbleibt die chalkedonensische Christologie in einer grenzgängerischen Spannung. Sie lässt sich nur anhand einer beziehungsbasierten Verbindung von 6 7 8
Hoff, Aporetische Theologie, 228. Vgl. Fabian Brand, Gottes Lebensraum und die Lebensräume der Menschen. Impulse für eine topologische Theologie (JThF 40), Münster 2021, 352. Vgl. Sarah Coakley, What Does Chalcedon Solve and What Does it Not? Some Reflections on the Status and Meaning of the Chalcedonian ›Definition‹, in: Stephan T. Davis – Daniel Kendal – Gerald O’Collins (Hgg.), The Incarnation. An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, New York (NY) 2002, 143–163, hier: 161.
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Transzendenz und Immanenz im Lebensintegral Jesu in ihrer Theologizität erfassen. Somit verweist die Theologie Chalkedons im Rahmen einer differenzhermeneutischen Epistemologie die christologischen Modellierungen auf eine relationsbezogene Realisierungslogik. Fabian Brand folgert entsprechend auf der Grundlage spatialer Theorien des third space: »Wer etwas über die Relation der beiden Naturen aussagen will, der kann dies nur über einen dritten Raum tun, der sich dann einstellen kann, wenn man die Dichotomie der beiden Naturen auf eine dritte Größe hin überschreitet. Diese dritte Größe wird in der Konzilsdefinition von der Person Jesus Christus markiert, der ganz Gott und zugleich ganz Mensch ist.«9 Chalkedon behandelt das für jede Offenbarungstheologie grundlegende Paradox eines immanenten re-entry der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz im Rahmen einer Beziehungsgrammatik zwischen dem Vater und Jesus Christus. Eine christologisch rückgebundene Offenbarungstheologie agiert demnach im Sinne einer sprachlichen ›Temporisation‹ zwangsläufig auf der Grundlage eines Differenzprozesses. Ihre theologische Konkretion rührt allein aus der Interpretation der spezifischen, auf der Grundlage des Zeugnisses von Schrift und Tradition nachvollziehbaren Lebensweise Jesu. Aus ihr heraus erschließt er sich als göttlicher Christus. Im Rahmen der innertrinitarischen Beziehung zwischen Sohn und Vater vollzieht sich dann, was Chalkedon als »christologische Einheit der Differenz von Transzendenz und Immanenz«10 theoretisiert. Diese differenzhermeneutische Einheit kann als ein theologisches Grundraster der Christologie (Coakley spricht von einem »grid«11 ) verstanden werden. Damit verweist der Horos, wie auch die Emmausperikope, auf das christologische Wechselspiel zwischen Entzogenheit und vollzugsbedingter Zugewandtheit. Die Form negativer Theologie und die differenzbasierte Relationierung der Person Jesu macht das Chalkedonense als Grundlagentext der christologischen Traditionsgeschichte anschlussfähig an den evolutionsanthropologischen Herausforderungsrahmen. Es lässt sich auf die erkenntnistheoretischen Umstellungen des zweiten Hauptteils beziehen. Das ermöglicht eine spezifisch christliche Durchführung des im vorliegenden Teil vorgeschlagenen offenbarungstheologischen Programms.
12.1.3. Christologie als relational-aktuale Offenbarungspragmatik Der dogmengeschichtlich bereits aufgerufene christologische Spannungsbogen wird unter dem Anspruch evolutiver Relativierungen noch einmal verschärft: Sie verweisen das christologische Kerndogma auf die materialen und sozialen Bedingtheiten des Menschseins. Wenn Körperlichkeit, Endlichkeit und soziale Komplexität die evolutiven Treiberfaktoren transzendenter Bezüge sind, nimmt der christologische Transzendenzbezug sie in Bezug auf den Menschen Jesus zunächst als solche Rahmenbedingungen an.
9 10 11
Brand, Lebensraum, 352. Fresacher, Kommunikation, 219. Coakley, Chalcedon, 162.
12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
Darüber hinaus macht er sie selbst zum konstitutiven Bestandteil seiner Gotteskonzeption: Die Bindung des Offenbarungsgehalts an die Form beziehungsbasierter Begegnungen mit dem Menschen Jesus macht die als evolutive Kernbedingungen herausgearbeiteten Komplexitätsparadigmen selbst zum theologieproduktiven Zentrum einer relationalen Gotteslehre. Im Rahmen der christologischen Kerngehalte verändert sich so nicht nur das Gefüge theologischer Begründungslogiken, sondern auch ihre inhaltliche Fundamentierung. Die evolutiven Entwicklungsbedingungen sind in diesem Sinne theologiekonstitutiv.12 Das Christusereignis manifestiert aber nicht nur die Theologizität des Zusammenfalls von Offenbarungsvollzug und Offenbarungsgehalt. Es eröffnet zugleich eine theologische Verortung evolutionsanthropologischer Erkenntnisse: Die materialen, körperlichen und sozialen Grundverfasstheiten der christologischen Offenbarungstheologie verlangen nach realistischen Beschreibungen von Natur und Geschichte. Diese Beschreibungen kann die Theologie jedoch selbst nicht hinreichend leisten.13 In letzter Konsequenz treibt das Zeugnis von Jesus als dem göttlichen Christus auf diese Weise die in dieser Arbeit modellierte Offenbarungstheologie auf die Spitze und verweist sie damit zugleich auf ihre Begrenztheit: Der Bezug auf Jesus als den menschlichen Sohn Gottes begibt sich in eine material-, sozial- und erkenntnisgeschichtliche Abhängigkeit. Menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisbedingungen sind dem christologischen Paradigma nicht einfach konsekutiv beigeordnet, sie konstituieren seinen inneren Kern. Folgt man den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit, dann verlangt das christologische Paradigma deshalb nach einer direkten Verknüpfung mit der untersuchten komplexen, relationalen Wirklichkeit der immanenten menschlichen Existenz. Mit Dirk Evers lässt sich diese Erkenntnis in ein konzises christologisches Portfolio zusammenfassen: »Given a relational and contextual understanding of human existence embedded in and emerging out of a reality of growing complexity, Christ cannot be understood as a supernatural persona syntheta, a person synthesized of two incompatible natures. He must be seen as truly human, since he shares our relational nature, and as truly divine, since he is God’s effective communication of transformative divine grace. The Christ event is neither a supernatural transmission of information from the divine nor an objective external process of sacrifice; rather, it is an act of divine transformative communication.«14 In diesem Sinne muss die anthropologische Beschäftigung mit dem Zusammenspiel aus Transzendenzbezug und menschlicher Eingebundenheit in systemische und kognitive Komplexitäten als genuiner Bestandteil einer christologischen Reflexion verstanden werden. Die Christologie verdichtet diese anthropologischen Abhängigkeitsgefüge so weit, »bis man meint, sie würde[n] brechen: Gott handelt nicht nur in menschlicher Geschichte, er tritt selbst als Mensch in diese Geschichte ein.«15 Deshalb wird schon 12 13 14 15
Vgl. Höhn, Gott, 115. Vgl. Sander, Macht, 86. Dirk Evers, Incarnation and Faith in an Evolutionary Framework, in: Niels H. Gregersen (Hg.), Incarnation. On the Scope and Depth of Christology, Minneapolis (MN) 2015, 309–329, hier: 324f. Hoffmann, Offenbarung, 232.
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dogmengeschichtlich die Rede von der Menscheit Jesu eigens markiert – nämlich immer in Bezug auf seine göttliche Natur. Das bedeutet wiederum: In Bezug auf die reale Person Jesus von Nazareth wird Menschsein immer schon in einer Beziehungslogik thematisiert – Christologie wird immer auch als relationale Anthropologie betrieben: Gottheit und Menschheit werden in der Christologie zu Bestimmungscodes, die sich wechselseitig bedingen und ihre Bedeutung nur aus ihrer gegenseitigen Spannung heraus erhalten. Aus evolutionsanthropologischer Sicht wird hier in theologischen Codes das aufgenommen, was das Menschsein im Verlauf seiner kontingenten Entwicklung schließlich sozialevolutiv prägt: Die Ausbildung von beziehungsbezogener Transzendenzfähigkeit. Diese christologische Beziehungslogik konkretisiert sich durch ihre konsequente Verortung sowohl in evolutiven Systemlogiken als auch in performativ ausgerichteten Glaubenspraktiken. Eine solche Verortung verdeutlicht die in Kapitel 11.3 aufgerufene Relevanz eines konkreten Existenzmodus’ der Offenbarung: In Jesus Christus materialisiert sich die relational-aktuale Erkenntnisform des Gottesbezugs. ›Inkarnation‹ ist dann ein theologischer Code, der göttliche Wirklichkeit performativ erschließt. Er markiert einen von Gott ausgehenden Vollzug des systemischen re-entrys seiner Transzendenz in die Immanenz und damit in das operative Spannungsfeld des menschlichen Lebens, indem er diesen Vollzug personal-beziehungslogisch konkretisiert. Das bedeutet: Eine evolutionsanthropologisch informierte, relational verstandene Christologie ist nicht ontometaphysisch oder dualistisch zu konzeptualisieren. Demnach ist auch der Horos von Chalkedon nicht als Festlegung ontologischer Binaritäten zu verstehen.16 Vielmehr zeigen seine paradoxalen Bezüge sowie die negativen Formulierungen an, inwieweit erst aus der durch und durch relationalen (›untrennbaren‹!) Bestimmtheit zwischen Vater und Sohn der theologische Sinn des Christusereignisses erwächst. Auch die Emmausperikope verdichtet einen solchen Ausgang von relational-aktualen Begegnungen in immanenten Erkenntnisprozessen. Eine relationale Erkenntnisform ist somit im Sinne eines »hermeneutical key to ontological questions and not vice versa«17 zu verstehen. Eine evolutionsanthropologisch informierte Christologie macht sich damit in ihrem Kern – Jesus Christus – abhängig von materialen, sozialen und kognitiven Begrenztheiten des Menschen und vermittelt diesen Begrenztheiten zugleich eine transzendenzorientierte Deutungsfolie. Wenn, wie aufgezeigt, aus ihr heraus die Möglichkeit transzendenter Transformationsperformative erwächst, so ist es dieser transformative Beziehungsmodus, in dem das Christusereignis als göttliche Offenbarung zu verstehen ist. Die heilsgeschichtliche Relevanz Jesu ist dann eben nicht als eine Überwindung ontologischer Unterschiede zwischen den Menschen und Gott oder als kognitiver Breakthrough über menschliche Denkstrukturen und Möglichkeiten hinaus zu charakterisieren.18 Stattdessen verweist die hier skizzierte Christologie im Angesicht 16 17 18
Vgl. Evers, Incarnation, 313. Ebd. Vgl. ebd., 318f. Vgl. dazu außerdem die relationalontologische Rückbindung der Christologie bei Hans-Joachim Höhn. Gemäß seines relationalen Wirklichkeitsverständnisses erschließt sich ihm zufolge, dass »eine Offenbarung dieser Relationalität als Übersetzung in Entsprechungsverhältnisse gedacht werden [kann; JU]. In dieser Korrelation geht auf: Gott verhält sich so zur Welt, wie er sich zu sich selbst verhält. Gottes Selbst- und Weltverhältnis geht aber weder im Endlichen und
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relational-aktualer Offenbarungskonzepte und ihrer immanenten Selbstrelativierung auf einen transformativen Beziehungsmodus zwischen Gott und Mensch. Er kann sich in kollektiven Handlungen als gesamtsystemisch wirksame Perspektivenverschiebung verwirklichen. In der Interdependenz zwischen göttlichem und menschlichem Christusbezug realisiert sich dann ein transformativer Beziehungsmodus. Ein Zwischenraum der Begegnung kann entstehen. Dirk Evers geht in seiner Konfrontation der Christologie mit den Erkenntnissen der evolutionären Anthropologie daher so weit, den christologischen Kerngedanken der nachösterlichen Erfahrungsverarbeitung in Anlehnung an die Studien Michael Tomasellos als eine neue, in Jesus Christus zum Tragen kommende geteilte Intentionalität zwischen Gott und den Menschen zu verstehen. Sie führe zu einer wirksamen Transformation des Menschen, der nun in den Realisationsraum des Reiches Gottes eintrete.19 Insofern bindet sich die christliche Theologie, gemäß ihrem christologischen Selbstverständnis, immer an konkrete Glaubensvollzüge und ihre sozialgebundenen Traditionsbildungen. Sie sind der immanente Ausdruck dieser transformativen Beziehungslogik, insofern sie diese stetig reaktivieren. In diesem Sinne stützt sich die Christologie auf die Erkenntnis- und Lebensformen, die Bruno Latour als spezifische ›Existenzweise‹ des Religiösen markiert hatte: Sie liegen jenseits einer Informationslogik der Repräsentanz und agieren als Aktualisierungsformen.20 Es geht, nochmal mit den oben zitierten Worten von Dirk Evers gesprochen, immer um einen »act of divine transformative communication«21 . Diese Kommunikationsform verweist auf die bereits herausgearbeitete offenbarungskonstitutive Rolle von Glaubensvollzügen und den mit ihnen verbundenen sozialen Trägergemeinschaften. ›Gott ist Mensch geworden‹ heißt dann, dass sich die heilsrelevante Bedeutung des Christusereignisses im höchsten Maße von kollektiven Beziehungsakten abhängig macht. Im Horizont der angeführten Punkte ist deutlich geworden, dass sich der theologische Wert eines Zusammenfalls von einer glaubensbasierten Offenbarungsform mit ihrem beziehungslogischen Gehalt im Rahmen einer katholischen Systematik christologisch manifestiert. Die Christologie erschließt den transformativen Sinngehalt des Glaubens im Rahmen der vorliegenden Arbeit in der Überschneidung evolutionsanthropologischer und theologischer Grundsätze. Die von Karl Barth noch implizit eingespielte Verbindung zwischen heilsökonomischen Prozessen und evolutionsanthropologischen
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Bedingten auf, wenn es innerweltlich vergegenwärtigt wird, noch ändert sich etwas am ontologischen Status des Endlichen und Bedingten, wenn es Ort der Offenbarung […] wird.« (Höhn, Gottes Wort, 229). Vgl. Evers, Incarnation, 327. Auf diesen Ansatz von Dirk Evers verweist auch Martin Breul im Zuge seiner Versuche, die Theoriebildungen Tomasellos für die Frage nach dem Handeln Gottes in der Welt – und damit wiederum für eine Spielart des theologischen Realismusproblems – fruchtbar zu machen (vgl. dazu insbesondere Breul, Geschichte, 368–372). Vgl. Latour, Jubilieren, 154f. Vgl. dazu aus pastoraltheologischer Perspektive Teresa Schweighofer – Andree Burke, Das Evangelium als Legende. Eine pastoraltheologische Lesart von Bruno Latours Jubilieren, in: Daniel Bogner – Michael Schüßler – Christian Bauer (Hgg.), Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie anders denken mit Bruno Latour (transcript Religionswissenschaft 28), Bielefeld 2021, 243–259, hier: 251. Evers, Incarnation, 325.
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Kontingenzen kann hier christologisch explizit gemacht werden.22 Dabei ist mit Karl Barth wiederum auf die schrifthermeneutischen Grundlegungen des Glaubensvollzugs zu verweisen. Die Schrift berichtet von der offenbarenden Kraft von Beziehungsgeschehnissen und nimmt ihre Leser*innen zugleich in dieses Offenbarungsgeschehen mit hinein. Dieses Hineinnehmen verdichtet sich im Christusereignis als dem Wort Gottes schlechthin: Es stattet das Kollektiv der Christusnachfolger*innen über den Aufruf zum Zeugnisgeben (dessen erster Ausdruck die Heilige Schrift ist) mit einer eigenen Diskursmacht im immanenten Systemkomplex aus. Der Lauf der Geschichte wird hier zentriert und mit einem endgültigen Sinn versehen, in dem Menschen zu relevanten Akteur*innen eines transzendenzbezogenen Beziehungsgefüges werden.23 Die in Jesus Christus verkörperte Identität von menschlicher Gottesbeziehung und göttlicher Menschenbeziehung »impliziert eine wirksame, das heißt Wirklichkeit schaffende und Wirklichkeit transformierende Lebenspraxis.«24 Die operativ-differenzhermeneutischen Justierungen aus dem methodologischen Teil der Arbeit greifen hier auch auf systematisch-theologischer Ebene: Das Christusereignis und seine Heilswirksamkeit sind lediglich in kollektiv geteilten Gegenwartserfahrungen greifbar. Diese kollektive und gegenwartsbezogene Relativierung des christologischen Offenbarungsbezugs markiert zugleich seine lebenspraktische, sinnperformative Stärke: Das Christusereignis selbst ist verwoben mit allen systemischen und materialen Bedingtheiten der Menschheitsgeschichte. Es bietet entsprechend keinen immanenzvergessenen Alternativentwurf zum evolutionsanthropologischen Paradigma, sondern agiert selbst innerhalb dieses Herausforderungshorizontes.
12.2. Kollektive Intentionalität und der Offenbarungsbezug der Kirche Die systemische und materiale Verwobenheit des Christusereignisses drückt sich nach katholischem Verständnis gebündelt in der sozial verfassten Kirche aus. Dabei betont insbesondere das II. Vatikanum in seiner Kirchenkonstitution Lumen Gentium die theologische Relevanz einer Verbindung der verfassten ›Institution Kirche‹ mit dem heilsgeschichtlichen Anspruch einer von Christus selbst gestifteten Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft.25 Mit dieser dogmatischen Konstitution wird eine Ekklesiologie forciert, die auf der Verbindung zwischen immanentem Sozialsystem und transzendenter Heilswirklichkeit beruht. Die Kirche ist demnach von ihrer christusbezogenen Gründung her immer schon im Spannungsfeld zwischen Gott und Mensch verortet. Im Folgenden gilt es, diese Marker der konziliaren Ekklesiologie an die erarbeitete, offenbarungstheologisch fundierte Christologie anzuschließen und so die Möglichkeiten ihrer Anbindung an evolutionsanthropologische Framings zu erörtern. Auf die22 23
24 25
Vgl. Barth, KD II/1 (1), 210. In eine ähnliche Richtung – wenn auch noch mit stark evolutionistischen und teleologischen Zügen – argumentiert auch Pierre Teilhard de Chardin in seiner Rede vom »Christus Evolutor« (siehe Teilhard de Chardin, Christus Evolutor). Klein, Band, 117. Vgl. Avery Dulles, The Sacramental Ecclesiology of Lumen Gentium, in: Gregorianum 86/3 (2005) 550–562, hier: 555.
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se Weise werden die vorliegenden interdisziplinären Öffnungen als Thema der katholischen Kirche und ihrer Theologie plausibel gemacht. Dabei geht es nicht darum, eine umfassende Ekklesiologie zu entwickeln, vielmehr sollen die Chancen einer dogmatischen Einholung der evolutiven Bedingtheiten der Theologie aufgezeigt und ekklesiologisch nachgezeichnet werden.
12.2.1. Kirche als Beziehungskonstellation im lukanischen Doppelwerk Schon die in der Emmausperikope thematisierte Verbindung zwischen dem Christusereignis und seiner nachösterlichen Deutung illustrierte: Erst der gemeinschaftliche Vollzug der Gott-Mensch-Beziehung, die Christus verkörpert, sowie darüber hinaus das Zeugnis des Glaubens konstituieren transzendenten Sinn. Auf diesem kollektiven Sinnbezug basiert die sozial verfasste Kirche ebenso wie ihr theologischer Stiftungs- und Sendungsanspruch. Das heißt zugleich, dass sie an die erörterte Differenzhermeneutik des Christusereignisses gebunden ist und ihre Aufgabe in einer beziehungsbasierten Aktualisierung des Gott-Mensch-Verhältnisses besteht. Einen wichtigen und beispielhaften biblischen Ausgangspunkt dieser ekklesiologischen Selbstdeutung und ihrer transzendenten Anbindung liefert erneut das lukanische Doppelwerk. Es bündelt die genannten ekklesiologischen Grundmarker in der Erzählung des Pfingstereignisses (vgl. Apg 2). Mit Knut Backhaus lässt sich dieser Text konsequent an die bereits analysierte Emmausperiokope und ihre christologischen Grundaussagen anschließen. Er geht davon aus, dass die Emmauserzählung eine »Perspektive für die christologische Lektüre der ›Apostelgeschichte‹ frei [-legt; JU]. Lk und Apg sind konzeptionell durch den Hauptaktanten Jesus Christus verbunden.«26 Die Übergängigkeit zwischen LkEv und Apg erschließt vor diesem Hintergrund nicht nur die enge traditionsgeschichtliche, sondern auch die heilsgeschichtlich wirksame Verknüpfung zwischen Christologie, Pneumatologie und Ekklesiologie. Parallel zur strengen Verknüpfung zwischen dem Glaubensvollzug und dem Offenbarungsgehalt ergibt sich hier eine nachösterliche Verzahnung des Christusereignisses mit der bleibenden, inspirierenden Nähe Gottes im Rahmen einer den Zwölferkreis überschreitenden, immanenten Gemeinschaft. Es entsteht ein theologieproduktives Spannungsfeld, auf das in der Apostelgeschichte die Figur des Petrus als erster Prediger der Kirchengeschichte verweist und sagt: »Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir alle Zeugen. Zur Rechten Gottes erhöht, hat er vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen und ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört.« (Apg 2,32f.) Im hier eingezogenen Akteur*innenportfolio lässt sich eine theologische Dramaturgie ablesen. Die einzelnen Bezugsebenen können im Verlauf der Pfingstperikope und ver-
26
Knut Backhaus, Christologia Viatorum. Die Emmaus-Episode als christologisches Programm der Apostelgeschichte, in: Ders., Die Entgrenzung des Heils. Gesammelte Studien zur Apostelgeschichte (WUNT 422), Tübingen 2019, 245–256, hier: 247 [Im Original kursiviert].
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dichtet in der Rede des Petrus nachvollzogen und in der Form eines ›hermeneutischen Zirkels‹ entlang der Figurenkonstellation systematisiert werden (vgl. dazu Abbildung 14): 1. Geprägt von der geistgeleiteten Beziehung Jesu zu seinem Gott, den er Vater nennt (Ebene I), ergibt sich eine relationale Verbindung zwischen Jesus und den primären Zeug*innen, die sich über den Heiligen Geist vermittelt (Ebene II). Auf diese beiden Ebenen nimmt Petrus in seiner Rede von »Jesus, [… dem; JU] Nazoräer, einen Mann, den Gott vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat« (Apg 2,22) Bezug. In diesem Sinne »deutet Petrus die soeben erlebte Ausschüttung des heiligen [sic!] Geistes als Tat Jesu im Auftrag Gottes«27 2. Aus dieser relationalen Dynamik entwickelt sich in der Szenerie eine kollektive Erweiterung auf die sekundären Zeug*innen des Pfingstereignisses hin. Die anwesenden Jüd*innen aus der ganzen Ökumene werden in die geistvermittelte, christusbezogene Gemeinschaft mit Gott eingeladen indem sie »sehen und hören« (Apg 2,33 – Ebene III).28 Entsprechend wenden sie sich nach seiner Predigt an Petrus und die übrigen Apostel und fragen »Was sollen wir tun, Brüder?« (Apg 2,37). Petrus verweist nun erstmals auf konkrete ekklesiale Zugehörigkeitsmarker und fordert die Anwesenden zur Umkehr und Taufe auf (vgl. Apg 2,38). Von der Entscheidung, sich dieser ekklesialen Zugehörigkeit zeichenhaft zu verschreiben, hängt demnach auch die jeweilige Realisierung und Hineinnahme in die geistvermittelte Gemeinschaft ab. 3. Gebunden an diese Entscheidung sichert Petrus auch den Anwesenden ein wirksames Beziehungsgeschehen zu, das sich in die drei zuvor bezeugten Beziehungsebenen einfügt: Wer sich taufen lässt, dem werden die Sünden vergeben und der wird »die Gabe des Heiligen Geistes empfangen« (Apg 2,38). Etliche folgen dieser Aufforderung. Die Perikope schließt entsprechend mit einer knappen Charakterisierung der erweiterten Gemeinschaft der Christusnachfolger*innen: »Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten.« (Apg 2,42 – Ebene IV).
Schematisch dargestellt ergibt sich aus der Analyse das in Abbildung 14 dargelegte ekklesiologische Gesamtkonzept. Die Petrus in den Mund gelegte Ausdeutung des Pfingstereignisses vermittelt hier eine enge Interdependenz zwischen sozialsystemischen, immanenten Sozialstrukturen und transzendenten Bezügen. Der kollektive Transzendenzbezug stellt sich im Rahmen der Erzählung als konkreter, performativ wirksamer Einbruch in die gängige Sozialsystemik dar. Er sprengt sie temporär auf und bezieht sich zugleich auf sie (vgl. das Sprachenwunder). Die Apostelgeschichte erfasst damit beispielhaft, welche theologische Transformation mit der entstehenden Kirchengemeinschaft einhergeht. Aus einer
27 28
Klaus Haacker, Die Apostelgeschichte (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 5), Stuttgart 2019, 64 [Kursivierung im Original]. Zur übergreifenden Bedeutung der Motivik des Sehens im lukanischen Doppelwerk über die Simeon-Weissagung (vgl. Lk 2,30), die Emmausperikope (vgl. Lk 24,16.31) sowie schließlich die Pfingstund Himmelfahrtserzählung (vgl. Apg 1,9-11.2,32) siehe Backhaus, Christologia, 248–256.
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internen Berichterstattung nachösterlicher Begegnungen mit dem Auferstandenen wird eine Bewegung, der sowohl immanent-systemisch als auch transzendent-heilsgeschichtlich eine eigene Rolle zukommt und zugesprochen wird. In der Lesart des Lukas eröffnet sich eine heilsgeschichtliche Fortsetzung des Lebensintegrals Jesu: In seinem irdischen Wirken hat er begonnen (vgl. Apg 1,1), was sich nun in der Verkündigung der Apostel – wiederum als Gott-Mensch Beziehung, verbürgt im Heiligen Geist – fortsetzen soll.29
Abbildung 14: Die pneumatologischen Beziehungslinien zwischen Transzendenz und Immanenz als relational-aktuale Grundlage der Kirche in Apg 2 [eigene Graphik; JU].
Mit dem lukanischen Doppelwerk bietet sich der vorliegenden Studie damit eine erste Reflexionsfolie zur ekklesiologischen Anbindung der im Anschluss an die anthropologische Forschung erörterten Erkenntnistheologie. Die vorliegende Analyse stellt freilich einen sehr begrenzten Ausschnitt der neutestamentlichen Systematisierungen dar und kann hier lediglich als eine erste Skizze verstanden werden. Dennoch verweisen sowohl die Emmaus- als auch die Pfingstperikope auf eine ebenso erkenntnistheologischfundamentaltheologisch wie auch dogmatisch wichtige Spur. Im Sinne des lukanischen Doppelwerks lässt sich festhalten: »›Kirchengeschichte‹, theologisch verstanden, ist angewandte Christologie.«30
29 30
Vgl. ebd., 253. Ebd., 255.
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12.2.2. Christologische und pneumatologische Konzilsekklesiologie Die kurze Skizze der Pfingsterzählung in der Apostelgeschichte verweist ekklesiologisch betrachtet erneut auf eine konstitutive Interdependenz zwischen der aktualen Erkenntnisform und dem mit ihr verbundenen theologischen Erkenntnisgehalt der Offenbarung. Über die oben graphisch dargestellte Beziehungskonstellation vermittelt sich eine Bindung transzendenter Offenbarungsansprüche an immanente, materiale und soziale Komplexitäten und Kontingenzen. Dabei fällt einerseits der Zeug*innengemeinschaft und andererseits dem Heiligen Geist jeweils eine eigene Vermittlungsrolle zu. Systemtheoretisch formuliert ergibt sich eine temporäre Oszillation zwischen der göttlichen und der menschlichen Beziehungsbewegung. In dieser Oszillation bleibt die differenzhermeneutische Grundverfasstheit der Beziehung bewahrt. Sie selbst wird zum sozialen Motor der ersten christlichen Gemeinschaft.31 In dieses Grundgefüge lässt sich auch die dogmengeschichtliche Entwicklung einer systematisch verfassten Ekklesiologie einpassen. Zunächst sind es wiederum die Diskurse von Nicäa, Konstantinopel und Chalkedon, die wichtige Wegmarken setzen. Sie eröffnen eine ähnliche Konstellation, wie sie bereits in Apg 2 nachgezeichnet werden konnte. Offensichtlich wird dieser Befund in Bezug auf die Einbettung der notae ecclesiae in das Nicäno-Konstantinopolitanum (vgl. DH 150). Die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wird im Rahmen der Textkomposition direkt der Christologie und Pneumatologie zugeordnet.32 Das Bekenntnis führt dabei auffälliger Weise in der lateinischen Textversion explizit keinen Glauben an die Kirche ein: Während der griechische Text den Glaubensartikel zur Kirche, wie die Bezüge auf den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, ebenfalls mit ›εἰς‹ einführt, beginnt die lateinische Textversion den Abschnitt über die Kirche nicht mit einem ›In‹. Es heißt dort lediglich »Et unam sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam« (DH 150).33 Hier wird eine Relativierung der Kirche vorgenommen: Sie ist nicht mit dem Gehalt der Offenbarung gleichzusetzen, sondern lebt vielmehr aus dem fortwährenden, kollektiven Glaubensvollzug. In diesem Vollzug erschließt sie performativ, »was der Glaube an den Heiligen Geist bedeutet«34 . Auf die gleiche Fährte führt der an die Aussagen zur Kirche anschließende eschatologische Schlussteil des Bekenntnisses, der darauf hindeutet, dass die Kirche einer Vorläufigkeit unterliegt, die sie deutlich als immanenten Bekenntnisraum auf das Reich Gottes hinordnet und zugleich ihre Differenz zu dieser transzendenten Größe markiert.35 Im Nicäno-Konstantinopolitanum wird die Kirche als dem Geist Gottes »ein31
32 33 34
35
Vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Gegenwart im Gegenteil. Christologische Überlegungen im Gespräch mit Christian Danz und anderen über das Paradox von Chalkedon, in: Christian Danz – Georg Essen (Hgg.), Dogmatische Christologie in der Moderne. Problemkonstellationen gegenwärtiger Forschung (RaFi 70), Regensburg 2019, 207–237, hier: 235. Vgl. Felix Senn, Der Geist, die Hoffnung und die Kirche. Pneumatologie, Eschatologie, Ekklesiologie (Studiengang Theologie VI/3), Zürich 2 2011, 221. Vgl. dazu ebd. Gregor Taxacher, ›Heilige katholische Kirche‹. Aus systematisch-theologischer Sicht über Kirche reflektieren, in: Egbert Ballhorn – Simone Horstmann (Hgg.), Theologie verstehen. Lernen mit dem Credo (UTB 5037/Grundwissen Theologie), Paderborn 2019, 177–186, hier: 183. Vgl. Senn, Geist, 224.
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und untergeordnet[e]«36 Sozialform des Glaubens verstanden. Daraus ergibt sich auch ein konzises Verständnis ihrer in den notae zusammengefassten Grundcharakteristika: Die Kirche wird zunächst als Einheit verstanden. Es geht hier um immanente soziale Bindungen, die ihre Resilienz auf der Grundlage des Glaubens bilden und zugleich als Bindungen erst aus dem Glauben an Gott erwachsen. Die beziehungsbezogene Einheit realisiert schließlich in ihrem Gemeinschaftsvollzug einen Transzendenzbezug, der sich als konstitutiv sowohl für die immanenten als auch für die transzendenten Relationen erweist. Diese Einsicht spiegelt sich in der Zuschreibung der Heiligkeit an die Kirche. Sie ist heilig in dem Sinne, dass sie einen immanenten Bezugspunkt für die Anwesenheit Gottes performieren kann. Sie erschließt »Bereiche der Anwesenheit Gottes«37 . Aus dieser Verbindung zwischen immanenter Sozialeinheit und dem transzendenten Bereich der Heiligkeit heraus ist die Kirche schließlich als katholisch zu verstehen: Sie ist allumfassend in dem Sinne, als dass sie der geistgewirkten Oszillation von Transzendenz und Immanenz verpflichtet ist, die bereits in der Pfingstperikope nachvollzogen werden konnte.38 Die Kirche ist als »Zwischenwirklichkeit«39 zu verstehen.40 Das vermittelt ihr eine umfassende Brückenfunktion, die die universale Relationalität zwischen Gott und den Menschen nicht nur in den Blick nimmt, sondern auch performativ – in heiligen Zwischenräumen – erschließt. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist die Kirche schließlich auf konkrete Zeugnisse des Vollzugs dieser beziehungslogischen Oszillation verwiesen – das heißt auf ihre eigene Glaubenstradition und ihren konkreten Ausgangspunkt im Erleben der Apostel – die Kirche ist in diesem Sinne apostolisch zu nennen: Sie ist eine Gemeinschaft aus Glaubenszeug*innen, deren Zeugnisse ihr nicht nur zugeordnet sind, sondern sie konstituieren. Im II. Vatikanum wird mit Lumen Gentium schließlich eine relational-aktuale Präzisierung und Bündelung dieses theologiegeschichtlichen Erbes vorgenommen. Ganz im Sinne der anthropologischen Wende, die das Konzil vollzieht, schreibt es in seiner Kirchenkonstitution eine differenzhermeneutisch bewusste Ekklesiologie. Die Konstitution arbeitet an einer Komplexitätssteigerung des ekklesiologischen Entwurfs. Dazu spricht sie sich gegen eine Identifikation der Kirche mit Christus und für eine Betonung der differenzierten »Einheit von Sichtbarem und Unsichtbaren, Erkennbarem und Verborgenem«41 aus. Mit dieser Komplexitätssteigerung verbunden ist auch die Absage an eine binäre Unterscheidung zwischen der himmlischen (transzendenten) und der irdischen (immanenten) Wirklichkeit der Kirche. Wörtlich heißt es:
36 37 38 39 40
41
Ebd., 221. Taxacher, Kirche, 180. Vgl. Ruhstorfer, Gegenwart, 235. Walter Kasper, Die Katholische Kirche (WKGS 13), Freiburg i.Br. 5 2022, 141. Vgl. dazu im direkten Bezug auf den Zusammenhang von Pneumatologie und Ekklesiologie HansJoachim Höhn, Kirche und Kommunikatives Handeln. Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas’ (FTS 32), Frankfurt a.M. 1985, 141. Karl Rahner – Herbert Vorgrimler, Die dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen Gentium«. Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (GrTh), Freiburg i.Br. 35 2008, 105–122, hier: 106.
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»Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich.« (LG 8)42 Die hier eröffnete Differenzhermeneutik kann von LG vor dem Hintergrund des angebrochenen Reiches Gottes (vgl. LG 3) – und damit christologisch – begründet werden. Auf der Grundlage der Gaben des Heiligen Geistes ist die Kirche demnach in der Lage, das bereits irdisch anfanghaft realisierte Heil des Gottesreiches aktualisierend in der Welt zu vermitteln (vgl. LG 4).43 Die Kirche ist daher auf ihr konkretes, irdisches und damit endliches Beziehungshandeln verwiesen, das sich aus der geistvermittelten Gegenwart Christi speist und sich an ihm zu orientieren hat (vgl. LG 7). Das II. Vatikanum entwirft hier eine komplexe ekklesiologische Systematik, die es pneumatologisch und christologisch rückbindet. Sie führt zu einer Verortung der kirchlichen Wirklichkeit im Zusammenspiel aus Immanenz und Transzendenz. Die von LG modellierte relationale Ekklesiologie läuft entsprechend mit den in Bezug auf Apg 2 schematisierten vier Relationsebenen parallel (vgl. dazu Abbildung 14). Im trinitarisch rückgebundenen Zeugnis Jesu Christi vermittelt dieser seine geistgeleitete Beziehung zum Vater an die primären Zeug*innen. Diese primären Zeug*innen werden ihrerseits nachösterlich durch den Heiligen Geist inspiriert, ihre immanente Beziehungsgemeinschaft wächst um sekundäre Zeug*innen – und mit ihr der aktual-relationale Zugang zu Gott. Genau diese Ebenenüberschneidungen und -vermittlungen versteht LG als Kernelement der Kirche. Peter Hünermann schlussfolgert aus dieser nicht mehr binären Grundlegung der Kirche und ihrer Rückbindung an die christologische Beziehungslogik: »Die ecclesia visibilis ist nicht nur ein äußerliches Instrument eines davon unterschiedenen Reiches Gottes, einer davon unterschiedenen communio cum Christo. Sie ist vielmehr jene Form, jene geschichtliche Gestalt, die Jesus Christus der Gemeinschaft der Menschen mit sich gegeben hat.«44 Ohne in eins zu fallen, sind das transzendente Reich Gottes und die geschichtlich-immanente Gestalt der Kirche hier einander zugeordnet und verweisen damit auf das Offenbarungszeugnis ihres personalen Gründers selbst. Beide Größen existieren »ungetrennt
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43
44
Zitiert nach II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen Gentium. Über die Kirche, in: Karl Rahner – Herbert Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (GrTh), Freiburg i.Br. 35 2008, 123–197. [Im Folgenden zitiert als LG unter Angabe der jeweiligen Abschnittsnummer]. Siehe dazu ausführlich Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Peter Hünermann – Bernd J. Hilberath (Hgg.), HThKVatII, 5 Bde., Bd. 2, Freiburg i.Br. 2004, 263–582, hier: 358–360. Ders., Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven, Münster 1995, 41.
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und unvermischt, denn die zweite göttliche Person pflanzt dem ›Mysterium der Kirche‹ ihr Wesensmerkmal ein.«45 Damit verpflichtet sich die sozial verfasste Kirche gemäß des II. Vatikanums einer sie selbst relativierenden Dynamik und weiß sich verwiesen auf einen transzendent (trinitarisch) begründeten Beziehungsvollzug.46 Auf dieser Grundlage verbindet sich die Kirchenkonstitution des Konzils auch aufs Engste mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes47 . Es geht hier um eine Verabschiedung der binären Trennung zwischen dem kirchlichen Dogma und der jeweiligen geschichtlichen Realität.48 Vor diesem Hintergrund erkennt GS die »Zunahme der gegenseitigen Verflechtungen unter den Menschen« (GS 23)nicht nur als soziale Tatsachenbeschreibung an, sondern versteht sie auch als einen ekklesiologischen Bezugspunkt. Dazu nimmt die Pastoralkonstitution einen direkten Bezug auf LG 9 vor (vgl. GS 32). Die skizzierten dogmengeschichtlichen und konziliaren Grundlagen erschließen ein differenzhermeneutisch relativiertes, aktual-relational verfasstes Verständnis von Kirche. Es lässt sich an die vorliegende Arbeit und ihre erkenntnistheologischen Wegmarken rückbinden. Die dargestellten relationalen Interdependenzen zwischen der Sozialform des Glaubens und ihren Bezügen zum (christologisch fundierten) Offenbarungsgehalt zeigen aus theologischer Sicht: »Die Ekklesiologie steht auf der Basis einer zeichentheoretischen Differenz- und christologischen Transformationsgrammatik.«49 Diese Grammatik weist zurück auf die erkenntnistheoretische Disposition religiöser Vollzüge. Sie sind an soziale Ausdrucksformen gebunden und unterliegen damit dem Transformationsdruck, den sie selbst erzeugen. Die biblischen, dogmengeschichtlichen und lehramtlichen Entwürfe zur Ekklesiologie weisen daher nicht zufällig auf die sozialsystemische Rückbindung der christlichen Glaubensgehalte. Auf ihrer Grundlage eröffnet sich noch deutlicher die erkenntnistheoretische Möglichkeit und Notwendigkeit eines Zusammendenkens der christlichen Dogmatik mit den Ergebnissen evolutionsbezogener Religionsforschung.
12.2.3. Ekklesiologische Relativierungen als evolutionsanthropologische Anschlussmöglichkeit Die aufgestellten Verbindungslinien zwischen der christologischen Beziehungslogik und der ekklesiologischen Sozialsystemik verdichten den theologischen Gehalt des in 45 46
47
48
49
Benedikt J. Michal, Die Kirche als ›Mysterium‹. Eine analytische und synthetische Lektüre des Zweiten Vatikanischen Konzils (MThS/II. Systematische Abteilung 76), Sankt Ottilien 2016, 253. Vgl. Gisbert Greshake, Communio – Schlüsselbegriff der Dogmatik, in: Günter Biemer – Bernhard Casper – Josef Müller (Hgg.), Gemeinsam Kirche sein. Theorie und Praxis der Communio, Freiburg i.Br. 1992, 90–121, hier: 96. Zitiert nach II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Die Kirche in der Welt von heute, in: Karl Rahner – Herbert Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (GrTh), Freiburg i.Br. 35 2008, 449–552. [Im Folgenden zitiert als GS unter Angabe der jeweiligen Abschnittsnummer]. Vgl. Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Peter Hünermann – Bernd J. Hilberath (Hgg.), HThKVatII, 5 Bde., Bd. 4, Freiburg i.Br. 2004, 581–886, hier: 693. Gregor M. Hoff, Ekklesiologie (Gegenwärtig Glauben denken. Systematische Theologie 6), Paderborn 2011, 287.
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Kapitel 11 entworfenen Modells einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik. Sie bieten die Chance, zum Abschluss des vorliegenden Projektes noch einmal konkrete dogmatische Anschlüsse aufzuzeigen und verweisen auf die erkenntnistheologische Rolle der kirchlichen Gemeinschaft. Kirche verortet sich in Bezug auf das christliche Offenbarungsparadigma im Rahmen menschlicher Intentionalität und sozialsystemischer Komplexität, das heißt als evolutive Größe: Entlang der Emmauserzählung und ihrer Fortführung in der Apostelgeschichte konnte gezeigt werden, dass sich die offenbarende frohe Botschaft, die sich mit dem Lebensintegral Jesu verbindet, erst im gemeinschaftlichen Vollzug erschließt. Das in Kapitel 11 allgemein offenbarungstheologisch ausgearbeitete Modell schließt sich dem biblischen Zeugnis nach auch der Grunderfahrung der entstehenden Kirche an. Die nachösterlichen Interpretationen, die sich in der Schrift widerspiegeln,50 verzahnen das Christusereignis mit dem Beziehungserleben in einer sozialen Gemeinschaft. Diese ekklesiologische Fundamentierung entspricht der bereits herausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Verzahnung zwischen Offenbarungsform und Offenbarungsgehalt. Die Zeug*innen der Kirchengeschichte sind daher – das zeigt auch die modellierte Interdependenz der verschiedenen Ebenen der Offenbarung (vgl. Abbildung 14) – nicht nur das ›Trägermaterial‹ einer transzendent einbrechenden Offenbarung. Sie sind vielmehr selbst Akteur*innen dieser Offenbarung. Ihre Beziehungsvollzüge vermitteln der Erfahrung Gottes eine heilige »Zwischenwirklichkeit«51 und bieten so einen immanenten Sozialraum, in dem sich die ›Existenzweise‹ des Reiches Gottes in Form von unbedingter Zuwendung temporär Bahn brechen kann. Es entsteht ein »›Zeugniskontinuum‹, das in ständiger Dynamik von seinem eigenen Zeugnis geprägt und transformiert wird.«52 Auf der Grundlage dieses sozialen Kontinuums und seiner spezifischen Funktionsweise lässt sich die Kirche als Trägergemeinschaft relational-aktualer Offenbarungsbezüge qualifizieren. Die dogmatische Aufarbeitung dieser grundlegenden relationalen Verfasstheit des Offenbarungsglaubens in der Ekklesiologie führt schließlich zu einer – modern ausgedrückt – ›sozialphilosophischen‹ Reflexion der Kirche im Spannungsfeld zwischen systemischer Komplexität und transzendenzbezogener Hoffnungsdynamik. Sie findet ihren Niederschlag schon in den Bekenntnisentscheidungen des Nicäno-Konstantinopolitanums. Sie manifestieren die Abhängigkeit der Ekklesiologie von der Pneumatologie und Christologie, die die kirchlichen Reflexionsvollzüge auf die Offenbarung Gottes konstituieren. Diese theologische Einordnung der Kirche führt gleichsam zu ihrer Relativierung und zu ihrer Qualifizierung: Die Kirche ist als ein nicht nur transzendenzbezogener, sondern auch als ein transzendenzvermittelter und -vermittelnder Sozialraum
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Vgl. dazu im Horizont des II. Vatikanums die Konstitution Dei Verbum, die im Rahmen dieser Arbeit bereits unter evolutionsanthropologischen Gesichtspunkten reflektiert werden konnte (vgl. den Exkurs in Kapitel 7.3.4). Kasper, Kirche, 141. Thomas Renkert, Transformatives Zeugnis. Eine ekklesiologische Skizze, in: Gregor Etzelmüller – Heike Springhart (Hgg.), Gottes Geist und menschlicher Geist, Leipzig 2013, 170–178, hier: 177.
12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
zu verstehen. So betrachtet, realisiert sich in der Kirche eine beziehungsbasierte, sozial eingebettete Oszillation zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre.53 Bereits die von Ruhstorfer gewählte Formulierung der ›Oszillation‹ verweist die christologischen und ekklesiologischen Dogmen auf die erarbeiteten systemtheoretischen Vollzugsbedingungen der Religionsevolution. Diese Sichtweise zeitigt erkenntnistheoretische Konsequenzen, die sich an die erarbeitete Erkenntnistheologie anschließen: Der ekklesiologische Anspruch, Transzendenz und Immanenz in einem systemischen re-entry immanent zu oszillieren, konfrontiert die Kirche als sozialen Akteur mit einem »systemtheoretischen Beobachtungsproblem«54 . Damit gilt der von Luhmann festgeschriebene Grundsatz für die systemische Konstruktion von universalem Sinn für die Kirche und ihren Offenbarungsbezug immer schon verstärkt. Sie »muss […] zur Geltung bringen, was das System als Totalität formal in den Blick nehmen, aber niemals qualifizieren kann: die Gegenwart des Beobachters jener Beobachtung, mit der die Differenz von Beobachtbarem und Unbeobachtbarem bestimmt wird. Anders gesprochen: dass Gott in ihr wirkt.«55 Die Kirche fügt sich als der soziale Träger einer beziehungsbezogenen Offenbarungsperformanz also in die dargelegte Bindung des Offenbarungsgehalts an die Erkenntnisform kollektiver Operativität ein.56 Auch als offenbarungsbezogene Größe bleibt sie auf ihre immanenten Funktionen verwiesen. Sie ist immer schon von der Menschheitsgeschichte und ihrer kontingenten, materialbezogenen, systemisch komplexen Entwicklungsgeschichte geprägt. Die Kirche ist jedoch zugleich Teil eines komplexen Gefüges der Oszillation von Transzendenz und Immanenz, das die Reduktion auf die eigene Funktionalität ernstnehmen muss und sie aufzuheben versucht, um schließlich eine ganz andere, offenbarende Funktionsweise zu bezeugen.57 Aus dieser dogmengeschichtlich und schrifthermeneutisch hergeleiteten Verortung der Kirche im Spannungsfeld zwischen Systemimmanenz, kollektiver Beziehungsperformanz und beanspruchtem Transzendenzbezug ergibt sich der zentrale Erkenntnisgewinn einer relational-aktual relativierten Ekklesiologie. Das ekklesiologische Verständnis bindet sich an dieser Stelle an das eröffnete, evolutionsanthropologisch anschlussfähige Offenbarungsverständnis. Diese Anschlussstellen können hier nur überblickshaft aufgeführt werden. Sie bedürfen in Zukunft einer eigenen dogmatischen Evaluation. Eine solche dogmatische Evaluation kann sich auf der Grundlage der vorliegenden Arbeit an folgenden Grundgedanken orientieren:
53 54 55 56 57
Vgl. Ruhstorfer, Gegenwart, 235. Hoff, Ekklesiologie, 29. Ebd. Vgl. Nassehi, Gesellschaft, 38. Ein Seitenblick auf den Auftakt des theologischen Denkens Hans-Joachim Höhns ist vor diesem Hintergrund aufschlussreich: In seiner Dissertation widmet sich Höhn einer Konfrontation der Ekklesiologie mit dem theoretischen Spannungsfeld zwischen den Sozialtheorien von Luhmann und Habermas (vgl. Höhn, Kirche.) Dass sich daraus im weiteren Verlauf seiner theologischen Arbeit die dargelegte relationale und existentiale Theoriebildung entwickelt, zeigt sich auch im vorgelegten Reflexionsrahmen als eine aufschlussreiche und weiterführende erkenntnistheologische Grundentscheidung Höhns, von der die vorliegende Arbeit profitiert.
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Hannah Judith: Religion als Produkt der Evolution? 1. Der christliche Glaube bindet sich im Rahmen der Kirche an die konkreten Vollzugsbedingungen der religiösen Codierungspraxis des Menschen. Damit unterliegt er einem sozialevolutiven Prozess. Dieser Prozess versteht sich nicht als ein abgelöstes, nachträgliches Bezugsgeschehen gegenüber der Offenbarung, sondern wird vielmehr immer schon mit dem Offenbarungsgeschehen überblendet. Das Christusereignis selbst realisiert den initiativen Glaubensvollzug als Offenbarungsvollzug. Im Anschluss daran bindet sich auch die Kirche – gemäß ihrer beziehungslogischen Referenz in Christologie und Pneumatologie – operativ und differenzhermeneutisch an diesen Glaubensvollzug zurück. Im Rahmen der Kirche findet der Offenbarungsbezug damit nicht nur eine funktionale Sozialform, sondern auch eine theologieproduktive, zeugnisbasierte Realisierungsform, »indem sie Bild-Räume göttlicher Vergegenwärtigung öffnet.«58 2. Diese Grundlegung hat weitreichende Konsequenzen: Wenn Kirche im Anspruch steht, sich im Heiligen Geist an Christus und damit das Reich Gottes zu binden, dann ist sie immer auch auf anthropologische Grundvollzüge und ihre Begrenztheit verwiesen. Im Lichte der anthropologischen Wende lässt sich LG auf diese Konsequenzen ein: Die Kirchenkonstitution durchbricht die Binarität zwischen immanenter Sozialform und himmlischer Bezugsgröße, ohne dabei die Kirche mit dem Reich Gottes gleichzusetzen. Insofern kann im Anschluss an das Konzil eine Ekklesiologie entwickelt werden, die die erarbeitete kritische Anfrage (evolutions-)anthropologischer Perspektiven an dogmatische Totalisierungen in sich aufnehmen kann. Es ergibt sich eine differenzhermeneutische Beziehungslogik, die – wie schon für die Offenbarung selbst – auch für die sie vermittelnde Kirche konstitutiv ist.59 Die Verhältnisbestimmung zwischen der transzendenten Ausrichtung der Kirche auf das Reich Gottes und ihrer immanenten Sozialform eröffnet auf diese Weise ein bleibendes Bezugsproblem, das zugleich die beziehungslogische Theologizität der Kirche als Glaubensraum begründet: »Einerseits kann zwischen beiden Größen keine Beziehung konstatiert werden, ohne daß diese eine je größere Unterschiedenheit einschließt; andererseits kann kein Unterschied festgehalten werden, ohne daß dieser von einer je größeren Beziehung beider Größen zueinander übertroffen wird.«60 3. Das hier vorgeschlagene Kirchenverständnis lehnt sich so an das bereits erörterte Verhältnis zwischen Offenbarung und Evolution an (vgl. den Exkurskasten in Kapitel 11.2.1). Es löst damit auf sozialer Ebene den relational-aktualen Anspruch des christlichen Glaubens ein. Die Integration einer konkreten sozialen Größe in das heilsgeschichtliche Gesamtgerüst, auf das sich
58 59
60
Rainer Gottschalg, »Was nützt die Liebe in Gedanken?«. Ekklesiologische Orientierungen zwischen Gnade und Freiheit, Paderborn 2020, 413. Vgl. dazu LG 1, wo die Kirche als »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« bezeichnet wird. Die Konstitution nimmt hier ihrerseits eine differenzierte Verhältnisbestimmung zwischen der menschlichen Gesellschaft und der göttlichen Wirklichkeit vor. In diesem Sinne performiert die Kirche zeichenhaft, was sie in Bezug auf die Beziehungslogik zwischen Gott und den Menschen als inkarnatorische Offenbarung selbst codiert und worauf sie sich entsprechend als ihr sie relativierendes Konstituens bezieht. Höhn, Kirche, 151.
12. Relational-aktuale Rückbindung von Christologie und Ekklesiologie
das Christentum beruft, erweist sich nicht nur als das Produkt menschlicher Entwicklungsgefüge, sondern auch als Teil des Offenbarungscharakters des Christentums. Es zeigt sich: Eine Integration sozialwissenschaftlicher und evolutionsanthropologischer Erkenntnisse ist keine nachträgliche Konfrontation der Theologie mit ihr externen Theoriemodellen. Vielmehr verschafft die hier vorgeschlagene interdisziplinäre Reevaluation der systematischen Theologie ein verbessertes Verständnis ihrer eigenen Dogmatik. Sie macht sich nicht bloß die eigene Abhängigkeit von kognitiven und sozialen Entwicklungsgefügen bewusst. Sie versteht auch, dass die kirchliche Gemeinschaft auf die kognitiven Kompetenzen, materialen Bedingtheiten und sozialen Abhängigkeiten nicht nur verwiesen ist, sondern sie auch selbst weiterverarbeitet. 4. Wenn die Ekklesiologie im Rahmen einer religionsevolutiven Relativierung diesen anthropologischen Herausforderungsrahmen komplexer Relationalität benennen kann, dann agiert sie genau an dieser Stelle als offenbarender Bewusstseinsraum im evolutiven Prozess. Erst im Bewusstsein um ihre evolutive Eingebundenheit kann eine Gemeinschaft nach einem übergeordneten Sinn der komplexen Daseinsparadigmen fragen. Die grundständige Bezogenheit des Glaubensaktes auf das sozial bedingte »Bezugsproblem der Daseinsakzeptanz«61 führt damit erst zum Erkennen der »existentialen Grundsituation des Menschen«62 . Das heißt im Umkehrschluss: Die Relevanz der Kirche hängt nicht nur an der schlichten Notwendigkeit und Funktionalität einer sozialen Organisation und der Reglementierung des Glaubensvollzugs. Dieser Vollzug findet in der Kirche vielmehr einen theologieproduktiven Ausdruck. Er findet seine Entsprechung in der transzendenten Beziehungslogik der Trinität (vgl. dazu erneut das Ebenen-Schema in Abbildung 14). Die Kirche kann damit theologisch als genuiner Bestandteil der Heilsgeschichte qualifiziert werden, ohne dass das zu ihrer Externalisierung aus dem skizzierten sozialsystemischen Kontingenzgefüge führt oder führen könnte. Eine Abkoppelung der Kirche von ihrer sozialen Funktion der Oszillation bedeutete nämlich immer auch einen Ausschluss ihres performativen Transzendenzbezugs, der sich allein auf relationale Aktualität gründet und so heilige Räume »durch die Praxis derer, die sich diese Räume aneignen«63 erschließt. Die ekklesiologische Anwendung der offenbarungstheologischen und christologischen Modellierungen eröffnet zum Abschluss der vorliegenden Arbeit einen wichtigen Ausblick auf die Chancen einer Konfrontation der systematischen Theologie mit den Ergebniskomplexen evolutionärer Anthropologien. Indem die Kirche als Ort zeichengebundener, materialer und ritueller Glaubensvollzüge erschlossen wurde, ist es gelungen, die soziale Trägerschaft des katholischen Glaubens direkt mit den zuvor untersuchten und erkenntnistheoretisch reflektierten evolutiven Dynamiken zu verbinden. In diesem Zuge zeigt sie sich als Paradebeispiel für den Zusammenfall handlungstheoretischer und sozialsystemischer Elemente, wenn es um die Besonderheit der Religion im Rahmen der menschlichen Entwicklung geht. Die vorgeschlagene Offenbarungsmodellierung 61 62 63
Ders., Gottes Wort, 77. Ebd. Nassehi, Raum, 54.
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und der Anschluss einer christologisch und pneumatologisch fundierten Ekklesiologie liefern Ansatzpunkte für eine gleichermaßen selbstbewusste und selbstkritische Standortbestimmung der Theologie im behandelten Feld. Auch Hans-Joachim Höhn sieht diese sozialphilosophischen Standortfragen, die sich der Theologie stellen, verdichtet im ekklesiologischen Traktat aufgerufen und erörtert: »Für eine angemessene soziologische Betrachtung des Handlungssystems ›Kirche‹ folgt daraus, daß der Soziologe nicht bei einer Analyse der empirischen Gesetzmäßigkeiten ihrer gesellschaftlichen Reproduktion stehenblieben darf. Als ein spezifischer Kommunikationszusammenhang kann es überhaupt nur erfaßt werden, wenn er sich auch mit seinem Sinnsystem, mit dem für es konstitutiven Gefüge der Glaubensvermittlung und seinen Gehalten auseinandersetzt.«64 Die Bindung der katholischen Gottes- und Offenbarungslehre an die Kirche liefert demnach eine gewinnbringende, an natur-, sozial- und kulturwissenschaftliche Studien anschließbare Verortung des Glaubensvollzugs und Offenbarungsbezugs in den immanenten Gegebenheiten natürlicher Evolutionsprozesse. Zugleich erweitert sie den Horizont, unter dem diese Gegebenheiten in Bezug auf die menschliche Evolution betrachtet und eingepreist werden: In der Kirche fallen soziale Reproduktions- und Selektionsmechanismen mit transzendenzbezogenen Sinnperformanzen zusammen. Die vorliegende Arbeit verbindet genau auf dieser Grundlage die dogmatischen Kernbestände des Christentums fundamentaltheologisch begründet und interdisziplinär reflektiert mit den Impulsen eines evolutionsbezogenen Religionsverständnisses. Darüber hinaus erweitert die theologische Perspektive dieses Religionsverständnis an wesentlichen Stellen. Der aufgezeigte Spiegeleffekt tritt also tatsächlich ein. Er betrifft nicht nur theoretische Rahmenbedingungen der theologischen Epistemologie, sondern auch ihr konkretes dogmatisches Gerüst. Die Entscheidung, diese Studie mit einer ekklesiologischen Skizze abzuschließen, verdichtet schließlich die fokussierten interdisziplinären Konsequenzen einer theologischen Beschäftigung mit der Religionsevolution und motiviert anschließende ›systematische Tiefenbohrungen‹, die im Rahmen der vorliegenden Studie aufgrund ihres epistemischen Fokus’ nicht mehr geleistet werden können.
64
Höhn, Kirche, 161.
13. Schlussfolgerung III: Potenziale des Diskurses zwischen evolutionärer Anthropologie und systematischer Theologie
Die vorliegende Arbeit widmete sich der fundamentaltheologischen Reflexion evolutionsanthropologischer Religionstheorien. Entlang der evolutiven Herausforderungsmarker der sozialen Komplexität, der Endlichkeitsproblematik sowie der Frage nach universalen, resilienten Sinnbezügen konnte sie ein erkenntnistheoretisches Framing entwickeln, innerhalb dessen Aspekte eines theologischen Religionsverständnisses und evolutionsanthropologische Grundannahmen spannungsreich ineinandergreifen. Die folgende Schlussbetrachtung soll die im Verlauf der Modellierungen abgeschrittenen soziologischen, philosophischen und theologischen Schrittfolgen nochmals bündeln. Sie erschließen die interdisziplinären Potenziale, die die vorliegende Untersuchung freilegen konnte. Dieses Fazit versteht sich damit nicht als Abschluss der notwendigen Reflexion evolutionsanthropologischer Theoriebildungen durch die Theologie. Vielmehr will die Arbeit als fundamentaltheologische Grundlagenreflexion und als erkenntnistheologische Motivationsfolie für weitere systematisch-theologische Untersuchungen im hier besprochenen Forschungsfeld verstanden werden. Das Fazit fungiert damit auch als Ausblick auf die wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheologischen Chancen der vorliegenden Theoriekonfrontation und macht andererseits auf die bleibenden Herausforderungen, die der Theologie durch die evolutionswissenschaftlichen Theoriekomplexe aufgegeben sind, aufmerksam. Die evolutionsanthropologischen Studien und Modelle erschließen die Entwicklung menschlicher Transzendenzbezüge vorrangig im Fokus auf ihre Funktion als Resilienzfaktoren in komplexer werdenden Sozial- und Kognitionssystemen. Dabei ermitteln sie zugleich mit diesen Bezügen verbundene evolutive Eigenwirksamkeiten transzendenzorientierter Deutungs- und Handlungsmuster. Ihr transformatives Potenzial beruht auch kognitionspsychologischen Studien zufolge auf dem universalen Sinnverständnis, das religiöse Codierungen für sich in Anspruch nehmen und in das sozialevolutive Gefüge einbringen. Dennoch leiten die untersuchten Zugänge zumeist rein funktional ausgerichtete Religionsmodelle aus den Ergebniskomplexen ab. Hier konnte die vorliegende Untersuchung auf Grenzen des wissenschaftstheoretischen
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Horizontes evolutionärer Anthropologien aufmerksam machen, die durch den erkenntnistheoretischen Selbstanspruch der untersuchten Transzendenzcodes hervortreten. Das komplexitätstheoretische Herausforderungssetting führte so zu einer Neuverortung religiöser Codierungen in einem Spannungsfeld zwischen selektionstheoretischen und kognitionsbedingten Evolutionsdynamiken auf der einen und intentionalen Handlungsmustern und Sinnbezügen mit einem eigenen sozialen Transformationspotenzial auf der anderen Seite. Als Illustration für die mit dieser Einordnung verbundene evolutive Rolle religiöser Narrative und Praktiken dienten zwei Untersuchungsfelder: 1. Der Auswirkungskomplex religiöser Bezüge konnte erstens erkenntnistheoretisch durch eine heuristisch orientierte Rezeption der Achsenzeitthese konkretisiert werden (Kapitel 4.2). Transzendenzbezüge agieren als soziokulturelle Achsen: Einerseits hinterfragen sie soziale Systeme durch das Einziehen einer metaperspektivischen Beobachtung und verweisen so auf ihre Kontingenz. Dadurch zeigen sie die Veränderlichkeit sozialer Organisationsformen auf und können sie über eine transzendente Bezugsfolie auch einfordern. Andererseits unterliegen die Transzendenzbezüge auch selbst dem Transformationsdruck, den sie erzeugen und werden entsprechend relativiert: Sie müssen auch sich selbst als kontingente Sinngefüge in Abhängigkeit von sozialer und biologischer Komplexität verstehen. 2. Zweitens konnte im Übergang zum zweiten Teil der Arbeit mit der Metapher des Spiels die Rolle einer kognitiven Horizonterweiterung für die Verhandlung konkreter sozialer Organisationsformen und Zielbezüge dargelegt werden (Kapitel 4.2.3). Der liminale Charakter von transzendenzbezogenen Denkräumen konnte auf diese Weise als performatives Setting bestimmt werden. Diese Performanz konkretisiert sich in religiösen Symbolhandlungen. Sie eröffnen dem Menschen ein Bewusstsein für seine Einbettung in Umwelt- und Sozialräume, indem sie ihre kreative Bearbeitung und performative Überschreitung ermöglichen. Sinncodierungen und praktische Rituale entwickeln in diesem Bewusstsein ein kritisches Potenzial, das transformative Auswirkungen auf konkrete soziale Umgangsformen entfalten kann (Kapitel 6.2).
Aus diesem ersten Reflexionsgang ergab sich ein eigenes Herausforderungsportfolio: Es galt, zugunsten eines adäquaten sowohl evolutionswissenschaftlichen als auch theologischen Religionsverständnisses, die sozialsystemischen Komponenten der Religion mit dem ihnen inhärenten Einsatz transformativ wirkender, universaler Sinnhorizonte zusammenzudenken. Diese erkenntnistheoretische Verortung religiöser Narrative und Praktiken im sozialevolutiven Prozess erfolgte wiederum in zwei miteinander verbundenen Reflexionsgängen: 1. Die Erkenntnisphilosophie Jacques Derridas konnte in diesem Herausforderungsfeld durch eine Relecture unter dem Eindruck der Schrifthermeneutik Karl Barths neue erkenntnistheoretische Denkhorizonte eröffnen (vgl. Kapitel 7). Beide Denker ermöglichten die Präzisierung und Erweiterung des Verständnisses religionsbezogener Performanzwirkungen im evolutiven Prozess. Sie bringen ein dekonstruktives Moment in die Verhältnisbestimmung zwischen transzendenten Sinn-
13. Schlussfolgerung III: Potenziale des Diskurses
beanspruchungen und systemisch-materialen Bedingtheiten jedes menschlichen Erkenntnisprozesses ein. Barths Verständnis einer schriftbezogenen »analogia fidei«1 verdeutlichte die erkenntnistheoretischen und theologischen Konsequenzen der Verknüpfung evolutionssystemischer und sinnperformanter Komponenten des menschlichen Religionsvollzugs: Barth bindet den religiösen Anspruch des Offenbarungsbezugs an den jeweiligen Glaubensvollzug des Menschen und relativiert damit jede immanente Aussageform der Religion, indem er den Glaubensakt in seiner geschichtlichen Kontingenz nicht nur als Reflexion dieser Kontingenz ausweist, sondern ihn zugleich von Gott her deutet. 2. Aus der vorgenommenen Verortung offenbarungsbezogener Sinnperformanz im Wechselspiel mit immanenten, von sozialen Handlungen getragenen Erkenntnisprozessen ergaben sich schließlich vorwiegend sozialphilosophisch gelagerte Anschlussfragen. Sie betrafen die Autonomie religiöser Glaubensvollzüge angesichts ihrer sozialsystemischen Einbindung. Es war zu fragen: Sind religiöse Codierungen als performative Transformationsfaktoren im sozialen System gefangen, oder weisen sie (gemäß der von ihnen vorausgesetzten Transzendenzbezüge) über die systemischen Zusammenhänge hinaus? Und welchen erkenntnistheoretischen Status kann dieser Verweis über das materiale und soziale System hinaus für sich in Anspruch nehmen? Zum Umgang mit dieser erkenntnistheoretischen Komplexitätssteigerung konnte das Spannungsfeld zwischen Handlungsbezügen und Systemoperationen anhand der Theoriekontroverse von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann näher beleuchtet werden (Kapitel 9). Es wurde deutlich, dass weder kommunikative Interaktionen noch systemische Stabilisierungsformen die Sinnperformanz religiöser Transzendenzbezüge sicherstellen können, auch wenn beide Prozesse sich entlang von Sinnbezügen entfalten. Vielmehr konnte eine Rekombination der verschiedenen soziologischen Fokuspunkte plausibilisieren, dass die performative Komponente religiöser Bezüge die eigene Abhängigkeit von einer paradoxalen, dekonstruktiv wirkenden »Zwischensphäre«2 erschließt. Das heißt: Auch funktional orientierte Systemautomatismen können im letzten – wenn sie Resilienz erzeugen wollen – nicht auf die Bezugnahme zu transzendenten, sie selbst überschreitenden und relativierenden Sinnsphären verzichten. Mit Armin Nassehi konnte diese Erkenntnis schließlich konzise zusammengefasst und zugunsten eines soziologisch begründbaren Religionsverständnisses angewendet werden. Im Anschluss an Derridas Konzepte der »différance«3 und der »Temporisation«4 nimmt Nassehi einen systemtheoretischen »Reimport des Handlungsbegriffs«5 vor. Mit diesem wurde ein Operativitätszusammenhang erschlossen, in dem Sinnbezüge systemisch über Handlungsvollzüge integriert werden.6 Auf dieser
1 2 3 4 5 6
Barth, KD I/1 (1), 257. Waldenfels, Stachel, 77. Siehe dazu Derrida, Différance. Ebd., 42. Nassehi, Gesellschaft, 145. Vgl. Ders., Diskurs, 429f.
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Grundlage konnte Religion schließlich als operative Sinnperformanz gekennzeichnet werden: Sie ist verwiesen auf ein dekonstruktiv wirkendes Zusammenspiel zwischen materialer und sozialer Autopoiesis auf der einen Seite und einer performativ wirksamen Reflexionspraktik unter der Einführung einer transzendenten Sphäre auf der anderen Seite. Genau hier lässt sich der erkenntnistheoretische Ort ausmachen, der religiösen Praktiken und Narrativen im Prozess der menschlichen Evolution zukommt. Als temporär aufgerufene Virtualisierungstechniken sind sie abhängig von ihrer jeweiligen Aktualisierung über konkrete Handlungsgefüge. Diese Aktualisierung führt zu einem re-entry der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz in das immanente Sozialsystem. Es kommt zu wirksamen Transformationen des Systems selbst, die ohne eine temporäre Sprengung systemischer Immanenz nicht möglich wären und zugleich auf systemische Kontingenz verwiesen bleiben. Das ist der Preis aller Komplexitätssteigerungen menschlicher Bewusstseinsund Gesellschaftsstrukturen, in deren evolutiven Sog sich die Religion und damit ihre Sinnbeanspruchungen unwiderruflich begeben und ihn immer neu aktualisierend verstärken. Mit Hans-Joachim Sander lässt sich zusammenfassen: »Je mehr man sich vorstellen kann, woanders zu sein und durch eigene Aktivitäten woanders hinzukommen […] umso gravierender erweist sich der tatsächliche Zugriff des Platzes, ohne den niemand sein kann. […] Die Gravitation dessen, wo wir jeweils gegenwärtig sind, holt uns ein.«7 Die vorgenommene erkenntnis- und sozialphilosophische Einordnung von Transzendenzbezügen vermittelte schließlich auch eine fundamentaltheologische Komplexitätssteigerung. Die aufgezeigte dekonstruktive Gravitation, die Religionen in einem Zuge bearbeiten und immer neu auslösen, erzeugt einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch produktiven Relativierungsdruck. In Reaktion auf diesen Relativierungsdruck und entlang der religiös bewusstgemachten Einbettung des Menschen in das materiale und soziale Entwicklungsgefüge, plädierte die vorliegende Arbeit daher für eine Abkehr von ontometaphysischen Interpretationen religiöser Transzendenzbezüge auch auf Seiten der Theologie. Diese Argumentation begründet sich aus den erschlossenen Interdependenzen zwischen Religion und Evolution, die transzendenzbezogene Aussagekomplexe auf die mit ihnen einhergehenden Erkenntnispraktiken verweist. Auch hier konnten zwei aufeinander aufbauende Einsichten erarbeitet werden: 1. Mit den rezipierten Modellen der Religionsevolution geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass auch in und durch religionsevolutive Prozesse nicht steuerbare Emergenzen hervorgerufen werden, die weder subjektivistisch noch naturalistisch aufgelöst werden können. Wenn man dieses erkenntnistheoretische Herausforderungsportfolio interdisziplinär anschlussfähig theologisch verarbeiten will, zeigt sich: Ontometaphysik kann zwar als eine Interpretationsstufe zweiter Ordnung verstanden werden, mit der religionsevolutive Gegebenheiten gedeutet werden können. Das gelingt allerdings nur, sofern man davon ausgeht, dass Gott sich in den evolutiven Strukturen selbst direkt vermittelt und so bestimmend in das Sein 7
Sander, Glaubensräume I, 376f.
13. Schlussfolgerung III: Potenziale des Diskurses
eingeht. Die vorliegende Studie spricht sich auf der Grundlage evolutionsanthropologischer Ergebniskomplexe jedoch gegen eine solche Direktverknüpfung zwischen immenenten Transzendenzbezügen und einem ontometaphysischen Gottes- und Offenbarungsverständnis aus.8 Sie plädiert vielmehr für eine pragmatische Rückbindung der metaphysischen Religionscodes, die zeigt, dass ihre Bedeutung stets an immanente Beziehungskonstellationen und Erkenntnisprozesse geknüpft ist. Diese Verbindung religiöser Transzendenzbezüge mit der evolutiven Erkenntnisbildung legt wie gezeigt eine performative Religionshermeneutik nahe. Sie geht weiterhin davon aus, dass transzendenzbezogene Weltdeutungen metaphysisch verstandenen Sinn aktualisierend aufrufen, verweist jedoch zugleich darauf, dass sie ihn nicht ontometaphysisch absichern können, sondern lediglich als temporären Systemausbruch innerhalb des Systems mit transformativer Kraft versehen. 2. Nimmt sich die Theologie dieser erkenntnistheoretischen Epistemik an, so verweist sie nicht nur kritisch auf eigene substanzmetaphysische Externalisierungen, sondern auch auf ein wissenschaftstheoretisches Bezugsproblem naturalistischer und funktionalistischer Überbetonungen des Evolutionsparadigmas. Sowohl die theologische als auch die evolutionstheoretisch fundierte Erkenntnistheorie sind auf die religionsevolutiv plausibilisierten Gegenwartsbezüge verwiesen, in denen Transzendenzcodes operieren. Die Interdependenz zwischen evolutiven Prozessen und religiöser Sinnperformanz geht deshalb schließlich mit einer methodologischen Interdependenz zwischen der Theologie und der evolutionären Anthropologie einher, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine doppelte Neuverortung des Forschungsfeldes nach sich zog. Die Charakterisierung religiöser Erkenntnisvollzüge als temporär aufgerufene Virtualisierungen erschloss eine doppelte wissenschafts- und erkenntnistheoretische Interdependenz, von der die vorliegende Studie selbst nachhaltig geprägt ist: Es wurde deutlich, dass eine wissenschaftstheoretische Abhängigkeit zwischen Theologie und evolutionärer Anthropologie besteht, die sich an dem von beiden Fächergruppen geteilten Materialobjekt (der Religion und ihrer evolutiven Eingebundenheit) festmacht. Das Materialobjekt verweist beide Forschungsansätze auf die Notwendigkeit einer streng multilinear angelegten Methodik, unter der der Untersuchungsgegenstand konkret betrachtet wird (Formalobjekt): Wenn Religionen selbst die Binarität zwischen materialen und sozialen Begrenzungen und performativen Sinnhorizonten aufsprengen, dann besteht auch eine zwingende wissenschaftstheoretische Interdependenz zwischen empirisch-materialbasierten und performativ-differenzhermeneutischen Analysezugängen. Das Bildprogramm des Spiegels metaphorisierte diese interdisziplinären Interdependenzen und konnte gleichsam als methodologisches Programm der vorliegenden Arbeit eingeführt werden. Die vorliegende Untersuchung führte über die theologische Erschließung eines doppelten Spiegeleffekts, den die Beschäftigung mit evolutiven Mechanismen der Religionsentstehung auslöst, zu einem neuen fundamentaltheologischen und
8
Vgl. dazu den Exkurs zur dieses Problem zuspitzenden Frage ›Ist Evolution Offenbarung?‹ in Kapitel 11.2.1.
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evolutionsanthropologischen Komplexitätsniveau. Wenn die Theologie die Einbettung der Religion in das evolutive System anerkennt, dann fordert sie mit der von ihr beanspruchten und erkenntnistheologisch erschlossenen Sinnperformanz zugleich eine Ergänzung kognitionswissenschaftlicher und selektionslogischer Analysen der Religionsevolution ein. Dass die katholische Theologie der hier entworfenen kritischen Rolle ihrer eigenen Relativierung und der gleichzeitigen multilinearen Dynamisierung der evolutionsanthropologischen Theoriegefüge aus ihrem Kern heraus gerecht werden kann, wurde schließlich in Bezug auf ihre dogmatischen Kernbestände skizziert (vgl. Kapitel 11 und 12). Sie zeigten, dass die interdisziplinäre Komplexitätssteigerung auch auf die katholische Dogmatik eine dynamisierende Wirkung entfaltet. Diese Dynamisierung hinterfragt ihren Kernbestand nicht nur, sondern plausibilisiert die offenbarungstheologischen Kernelemente des christlichen Glaubens über die vorgenommenen Umstellungen zugleich als passgenaue und anschlussfähige Sinnhorizonte. Die Rezeption der evolutionären Anthropologie (= Teil I) und die an sie angeschlossene erkenntnistheoretische Umstellung des Religionsverständnisses (= Teil II) kulminierte daher in einem Modell einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik. Es konnte im Rahmen einer abschließenden dogmatischen Evaluation in den Kernbestand der katholischen Glaubenslehre vermittelt werden (= Teil III). Auch diese abschließende systematisch-theologische Erprobung entfaltete sich entlang eines Zweischritts: 1. In einem ersten Schritt erfolgte eine Kartierung offenbarungstheologischer Wahrheitsansprüche in einer Verbindung ihrer Erkenntnisform und ihrem Erkenntnisgehalt (vgl. Kapitel 11). Das augustinische Offenbarungsverständnis lieferte zunächst einen biographischen Zugang zur Verknüpfung von Glaubensvollzug und Offenbarungsgabe, der sich an das bereits mit Barth plausibilisierte Konzept des glaubensbezogenen Schriftverständnisses anschließen ließ. In der Folge wurden die Konzepte des »Zeugnisses«9 nach Paul Ricœur und der spezifischen religiösen »Existenzweise«10 nach Bruno Latour als Grundmarker einer differenzhermeneutisch relativierten, aktual rückgebundenen Offenbarungstheologie erschlossen. Auf fundamentaltheologischer Ebene griff die Arbeit sodann Bezüge zur relationsontologischen Existenzialhermeneutik Hans-Joachim Höhns auf.11 Seine anthropologische Grundthese der umfassenden Relationalität des Menschen konnte durch die direkte Verbindung zu evolutionsanthropologischen Komplexitätsmarkern gewinnbringend interdisziplinär geöffnet werden. Entsprechend konnte das Modell einer relational-aktualen Offenbarungspragmatik als systematisch-theologischer Ertrag der vorliegenden Epistemologie eingebracht werden. 2. Auf der Grundlage dieser veränderten offenbarungstheologischen Referenzlogik wurde schließlich auch ein neues – evolutionstheoretisches und damit prozesshaftes – Verständnis christologischer und ekklesiologischer Gehalte erschlossen (vgl. 9 10 11
Ricœur, Hermeneutik des Zeugnisses. Latour, Existenzweisen. Vgl. zum Offenbarungskonzept Höhns insbesondere Höhn, Gott.
13. Schlussfolgerung III: Potenziale des Diskurses
Kapitel 12). Die in Bezug auf das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi und die kirchliche Gemeinschaft transportierten heilsgeschichtlichen Transformationsund Sinnpotenziale der Tradition wurden jenseits ontometaphysischer Überformungen einem ›immanenten re-entry‹ unterzogen. Der evolutionsanthropologisch erzeugte Relativierungsdruck auf religiöse Codierungen und Praktiken und damit auch auf ihre theologische Untersuchung wurde auf diese Weise in theologieproduktive Konzepte überführt. Sie verwiesen ebenso auf die Differenzchristologie Chalkedons wie auf den beziehungsbasierten Aufbau des lukanischen Doppelwerks, das die nachösterliche Erscheinung des Auferstandenen in der Interaktion mit den Emmausjüngern verortet und in der Pfingsterzählung der Apg kulminiert. Ebenso verbindet sich ein relational-aktuales Glaubens- und Offenbarungsverständnis mit dem ekklesiologischen Grundanspruch des II. Vatikanischen Konzils, das die Kirche als christusbezogene, geistgewirkte Vermittlungsinstanz für die Beziehung zwischen Gott und den Menschen versteht und als irdische Größe zugleich relativiert. Die offenbarungstheologisch erschlossenen relationalen Interdependenzen zwischen der Sozialform des Glaubens und ihren Bezügen zum beanspruchten Offenbarungsgehalt konnten hier mit dem Kern des katholischen Glaubens vermittelt werden. Als Inkarnationsglaube macht er sich aufs Schärfste abhängig von materialen Bedingungen, interpersonalen Beziehungen und kollektivem Sinnerleben – und damit auch von evolutiven Prozesshaftigkeiten. Diese in der vorliegenden fundamentaltheologischen Untersuchung erarbeitete, produktive Neuverortung ermutigt zunächst ad intram die Theologie, »mit einer dialektisch-theologischen Perspektive ein[en] differenzierte[n] Zugang [zu] gewinnen, der einerseits dem immer perspektivischen Zugang zur Wirklichkeit Rechnung trägt, andererseits aber genau aus der Spannung zwischen dieser und der davon zu unterscheidenden Offenbarung eine kritische Perspektive auf diese Wirklichkeit bietet.«12 Sodann verlangt sie ad extram im Rahmen dieser kritischen Wirklichkeitsperspektive auch von evolutionstheoretischen Forschungssettings einen adäquaten, multilinearen Blick auf religiöse Sinnbezüge und damit auf die Sphäre der Transzendenz. Genau entlang dieser doppelten Reflexionsfolie ad intram und ad extram konnte die vorliegende Studie ihrem eigenen Anspruch, einen doppelten Spiegeleffekt auszulösen, gerecht werden: Über das Annehmen einer interdisziplinären Herausforderung konnte sie aus fundamentaltheologischer Sicht sowohl die eigene theologische Standortbestimmung als auch die evolutionsanthropologischen Standortbestimmungen einer komplexitätssteigernden Aktualisierung unterziehen. Damit reagiert sie auf eine fundamentaltheologische Forschungslücke. Zugleich motiviert die vorliegende Konzeption dazu,
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Heike Springhart, Sinn und Geschmack fürs Unverfügbare – Die Endlichkeit des menschlichen und die Ewigkeit des göttlichen Geistes. Ein kritisches theologisches Gespräch mit Konstruktivismus und systemischem Denken, in: Gregor Etzelmüller – Heike Springhart (Hgg.), Gottes Geist und menschlicher Geist, Leipzig 2013, 179–189, hier: 182.
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in diesem wachsenden religionsbezogenen Forschungsfeld auch theologisch weiterzuarbeiten und die vorgelegte Epistemologie detaillierten systematisch-theologischen Anwendungen und Erprobungen zu unterziehen.
Literaturverzeichnis
Die verwendeten Abkürzungen für Reihen, Zeitschriften und Lexika folgen Schwertner, Siegfried M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG3 ), Berlin 3 2014.
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Abbildung 13: Hans-Joachim Höhn, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 112. | S. 288 Abbildung 14: Die pneumatologischen Beziehungslinien zwischen Transzendenz und Immanenz als relational-aktuale Grundlage der Kirche in Apg 2 [eigene Graphik; JU]. | S. 307