Reichsbischof Ludwig Müller: Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit 9783666557194, 3525557191, 9783525557198


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German Pages [388] Year 1993

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Reichsbischof Ludwig Müller: Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit
 9783666557194, 3525557191, 9783525557198

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ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 19

V&R

ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz

REIHE B: DARSTELLUNGEN Band 19

Thomas Martin Schneider Reichsbischof Ludwig Müller

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1993

Reichsbischof Ludwig Müller Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit

von

Thomas Martin Schneider Mit 8 A b b i l d u n g e n

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1993

Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Carsten Nicolaisen

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einbeitsaufnahme

Schneider, Thomas Martin: Reichsbischof Ludwig Müller: eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit / von Thomas Martin Schneider. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-525-55719-1 N E : Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / Β

© 1993 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Hubert & Co., Göttingen

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Einleitung Kapitel 1 Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914) 1. Familie, Kindheit, Schulzeit 2. Studium 3. Inspektorentätigkeit,Vikariat, Hilfspredigerzeit 4. Gemeindepfarramt in Rödinghausen

Kapitel 2 Der Militärpfarrer (1914-1933) 1. In Wilhelmshaven und Flandern 2. I n d e r T ü r k e i 3. Die Zäsur 1918 4. In Cuxhaven 5. Wiederum in Wilhelmshaven (als Stationspfarrer) 6. Wehrkreispfarrer in Königsberg 7. Müllers Bekanntschaft mit Adolf Hitler und seine H i n w e n d u n g zu den Nationalsozialisten 8. Müllers kirchenpolitisches Engagement in den letzten Jahren der Weimarer Republik

Kapitel 3 Auf dem Wege zum Reichsbischofsamt (April bis September 1933) 1. Die Berufung zu Hitlers Bevollmächtigtem 2. Die Zusammenarbeit mit dem „Drei-Männer-Kollegium" und die Niederlage gegen Bodelschwingh 3. Die Kampagne gegen Bodelschwingh und Müllers „Machtergreifung" 4. Verfassung und Kirchenwahlen 5. Müller als Vorsitzender der „Einstweiligen Leitung", seine Wahl zum preußischen Landesbischof und z u m Reichsbischof

Inhaltsverzeichnis

6

Kapitel 4 An der Macht (1933-1935)

153

1. Das erste „Reichskirchenkabinett" Müller

153

2. Die Hinwendung zu einer neuen kirchenpolitischen Konzeption unter dem Einfluß Oberheids und Jägers

168

3. Der Versuch der „Gleichschaltung" der Landeskirchen und der Errichtung einer Reichsbischofsdiktatur 1934 (die „Ära Jäger")

191

4. Müllers Vortragsrundreisen und seine reichsbischöflichen Verlautbarungen 1934/35

195

5. Der Widerstand gegen das „Regime" Müller und das Scheitern der „Gleichschaltungspolitik"

206

6. Müllers Bemühungen um die Wiederherstellung des alten Rechtszustandes .

212

Kapitel 5 Der Reichsbischof nach seiner Entmachtung (1935-1945) 1. Die faktische Entmachtung Müllers und Müllers Verhältnis zum Reichskirchenministerium und zu den Kirchenausschüssen

218 218

2. Müllers „Bündnis" mit dem Bremer DC-Landesbischof Heinz Weidemann und seine Hinwendung zu den Thüringer Deutschen Christen

227

3. Müller und Rosenberg

232

4. Müllers Briefe an Hitler

236

5. Müllers öffentliche Auftritte

245

6. „Deutsche Gottesworte" - Müllers „Verdeutschung" der B e r g p r e d i g t . . . .

250

7. Zur Wirkung der „Deutschen Gottesworte" im Kirchenkampf

256

8. Zum geistigen und historischen Hintergrund der „Deutschen Gottesworte"

269

9. „Was ist positives Christentum?"-Müllers „Glaubens-und Sittenlehre" .

274

10. „Der deutsche Volkssoldat"-Müllers „Kriegsbuch"

280

11. Zusammenfassende Darstellung von Müllers theologischem und kirchenpolitischem Denken nach seiner faktischen Entmachtung

284

12. Zur Einordnung von Müllers Denken

295

13. Exkurs: Müller und Juden

302

14. Abschließende Bewertung der Aktivitäten Müllers nach seiner faktischen Entmachtung

306

15. Müllers Tod

308

Anhang zu Kapitel 5 Verzeichnis der öffentlichen Auftritte Müllers nach seiner faktischen Entmachtung

315

Inhaltsverzeichnis

7

Kapitel 6 Zusammenfassung

322

Quellen- und Literaturverzeichnis

337

I. Unveröffentlichte Quellen a) Archivalische Quellen b) Größere unveröffentlichte Manuskripte c) Mündliche und schriftliche Auskünfte II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen

337 337 341 342 342

Abkürzungen

355

Personenregister/Biographische Angaben

356

O r t s - und Sachregister

376

VORWORT Ludwig Müller war nicht gerade eine Persönlichkeit, mit der man sich identifizieren könnte. Er erinnert eher an Heinrich Manns „Untertan" Diederich Heßling oder an einen jener modernen Heilsprediger, deren mangelnder theologischer Tiefgang sich mit Sendungsbewußtsein, sicherem Instinkt für populistische Simplifizierungen und einem gewissen Charisma mischt, oder auch an einen jener anderen zahlreichen Günstlinge Hitlers, die ihre Position nicht so sehr ihrer Kompetenz, als vielmehr ihrer skrupellosen Gesinnung und Devotion verdankten. Derartige Urteile über die Persönlichkeit des „Reichsbischofs von Hitlers Gnaden" bergen, so zutreffend sie auf der einen Seite auch sind, auf der anderen Seite die Gefahr der selbstgerecht-moralistischen Überheblichkeit und der Besserwisserei aus der sicheren Warte der Nachgeborenen in sich. Sie erklären jedoch nur unzureichend, wie Müller zu der zunächst keineswegs unbedeutenden Rolle kam, die er spielte, in welcher Weise er diese Rolle ausfüllte und welche Positionen er vertrat. Sein Aufstieg und Wirken spiegeln womöglich stellenweise die allgemeinen kirchlichen und z.T. auch gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse besser wider als das Wirken und Schicksal einer der vorbildlichen Persönlichkeiten des Kirchenkampfes; wahre „Helden" sind ohnehin stets nur in der Minderheit. Müllers „Regiment" markiert in jedem Fall einen bis dahin wohl beispiellosen Tiefpunkt der evangelischen Kirchengeschichte, der aber zum Wendepunkt wurde, da sich gerade auch an der Person des Reichsbischofs der Widerstand entzündete, der der Kirche den Weg zurück zu ihren Wurzeln und damit in die Zukunft wies. Das Scheitern Müllers bedeutete in gewisser Weise gleichzeitig das Scheitern des Versuchs der nationalsozialistischen Gleichschaltung der evangelischen Kirche und das Scheitern des Bemühens um einen christlich-nationalsozialistischen Synkretismus, dem Müller - auch noch nach seinem erzwungenen Abtritt von der kirchenpolitischen Bühne mit stark zunehmender Leidenschaft, jedoch ebenso stark abnehmender Resonanz huldigte, bis er geradezu zu einer fast tragischen Figur wurde. Die vorliegende Untersuchung wurde im November 1991 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie wurde für den Druck geringfügig überarbeitet. Herzlich danke ich zunächst Herrn Professor Dr. Wolf-Dieter Hauschild, Münster, der die Arbeit anregte und sie, auch im Hinblick auf die Druckfassung, stets mit großem Interesse und Engagement betreute.

10

Vorwort

Weiterhin danke ich Herrn Landeskirchenrat i.R. Dr. h.c. Ernst Brinkmann, Dortmund, und Herrn Professor Dr. Kurt Meier, Leipzig, für mancherlei Hinweise und Anregungen. Ferner danke ich sehr den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der benutzten Archive (vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis), ohne deren geduldige Hilfsbereitschaft mir manche wichtige Akte verborgen geblieben wäre, sowie für die Erteilung der Genehmigungen zur Einsichtnahme in die Nachlässe von Hans Meiser, Martin und Wilhelm Niemöller und Werner von Blomberg. Besonderer Dank gebührt meinem Freunde Pastor Hansgünter Reichelt, Leipzig, der noch unter den schwierigen „DDR-Bedingungen" mancherlei Material besorgte und z.T. in stundenlanger Arbeit handschriftlich kopierte, meinem Bruder cand. theol. Wolfgang Schneider, Witten, für seine Hilfe beim Korrekturlesen sowie Herrn Dr. Carsten Nicolaisen und Frau Hannelore Braun M.A. von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München, für zahlreiche wertvolle, rasche Hilfeleistungen und für ihre Unterstützung und Geduld bei der Erstellung des druckfertigen Manuskriptes. Der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft danke ich auch für die freundliche Aufnahme dieser Untersuchung in die Reihe der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte". Schließlich danke ich all jenen, die mich während der mehr als zwei Jahre der Abfassung gewissermaßen „an Leib und Seele" betreuten, mir während der Archivreisen Gastfreundschaft gewährten, mich in die „hohe Kunst" der modernen Textverarbeitung einwiesen oder sonst in irgendeiner Weise das Entstehen dieser Arbeit förderten. Stellvertretend für alle nenne ich Margarete Böcker, Witten, Hans-Jürgen Görß, Münster, sowie Ulrike Osang, Andrea Pingel und Ralf Leithoff, Berlin. Meinen Eltern Gerda und Horst Schneider - mein Vater konnte die Fertigstellung leider nicht mehr erleben und meiner Frau Christine Rensinghoff ist die Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Ibbenbüren, im Mai 1992

Thomas Martin Schneider

EINLEITUNG

Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zum Verständnis der Persönlichkeit Ludwig Müllers leisten. Ein solches Vorhaben fügt sich namentlich ein in die vorerst noch sporadischen Versuche, die Geschichte der Glaubensbewegung Deutsche Christen, der deutsch-christlichen Kirchenpolitik und Theologie besser zu erforschen. Bei dem Bemühen um ein historisches Verstehen der neueren Kirchengeschichte muß auch der Lebensgang derjenigen berücksichtigt werden, die aus heutiger Sicht zwar die „Verlierer" sind und sich in fataler Weise irrten, die zu Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aber die Kirchenpolitik - ζ. T. unter anfänglich breiter Zustimmung der kirchlichen Öffentlichkeit - entscheidend bestimmten und auch das allgemeine religiöse Denken stark beeinflußten. Das Fehlen einer biographischen Darstellung über Ludwig Müller hat Georg Kretschmar bereits 1969 konstatiert 1 . Müller war nicht nur als Mitbegründer und Mitglied der Reichsleitung der Deutschen Christen, Mitbegründer und „Führer" des ostpreußischen Landesverbandes der Deutschen Christen, „Bevollmächtigter des Reichskanzlers für die Fragen der evangelischen Kirche", „Schirmherr" der Deutschen Christen, Reichsbischofskandidat, Vorsitzender der „Einstweiligen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche", preußischer Landesbischof und deutscher Reichsbischof einer der einflußreichsten und exponiertesten Vertreter der Deutschen Christen und zugleich einer der zwielichtigsten und - zumindest von seinen Kompetenzen her - mächtigsten Männer der Kirchengeschichte des deutschen Protestantismus, sondern er war trotz zahlreicher persönlicher Eigentümlichkeiten in mancher Hinsicht auch ein Prototyp für die allgemeine Mentalität und das allgemeine Denken der Deutschen Christen. Allerdings muß natürlich eingeräumt werden, daß es sich bei den Deutschen Christen um eine sehr heterogene Gruppierung handelte und daß dementsprechend Müllers Verhältnis zu Teilen der Deutschen Christen (gerade auch zu solchen, die „maßgeblich" waren) aus taktischen kirchen- und machtpolitischen, persönlichen, aber auch weltanschaulich-religiösen Gründen keineswegs ungebrochen war: Als „Führer" des ostpreußischen Landesverbandes der Deutschen Christen und DC-„Schirmherr" auf Reichsebene beschritt er 1932/33 einen relativ unabhängigen gemäßigt-konservativen Weg, der ihn in Konflikt brachte zu der radikalen DC-Reichsleitung unter Joachim Hossenfelder (bis Ende 1933). 1

G . KRETSCHMAR, Auseinandersetzung, S. 132, A n m . 19.

12

Einleitung

Während er sich dann 1934 mit dem DC-Reichsleiter Christian Kinder eng verbunden fühlte, befand er sich zu dem gemäßigten Kurs des DC-Reichsleiters Wilhelm Rehm (ab 1935) wieder in einem fundamentalen Gegensatz und „verbündete" sich mit dem „Führer" der äußerst radikalen, selbständigen Bremer Deutschen Christen Heinz Weidemann und mit den ebenfalls äußerst radikalen, selbständigen Thüringer Deutschen Christen. Müller wechselte also auch seinen eigenen Standort innerhalb des breiten Spektrums der Deutschen Christen von einer sehr gemäßigten zu einer sehr radikalen Position. Ludwig Müllers Lebensjahre in Westfalen von seiner Geburt bis zu seinem einunddreißigsten Lebensjahr hat Ernst Brinkmann in einem sorgfältig recherchierten kurzen Aufsatz von 1983 bereits erforscht 2 . Die von Manfred Koschorke verfaßten biographischen Skizzen, die 1976 veröffentlicht wurden, geben vor allem etwas Aufschluß über Müllers Tätigkeit als Wehrkreispfarrer in Königsberg/Ostpreußen (1926 bis 1933) 3 . Norbert Sahrhage veröffentlichte einen Bericht über eine 1937 in Bünde gehaltene Rede Müllers 4 , der Müllers eigene Veröffentlichungen (s. Literaturverzeichnis) ergänzt. Der ehemalige deutsch-christliche Oberkirchenrat bei der „Reichskirchenregierung" Walter Birnbaum widmete in seinen 1973 veröffentlichten Memoiren seinem früheren obersten Vorgesetzten Müller einen eigenen Abschnitt, in dem er seine immer noch geradezu begeisterte Wertschätzung für Müller zum Ausdruck brachte 5 . Ansonsten existieren, abgesehen von einigen kurzen populärwissenschaftlichen Lexikonartikeln 6 und einigen stark tendenziösen deutsch-christlichen Kurzbiographien aus dem Jahre 1933 7 sowie der kurzen satirisch-kritischen Lebensbeschreibung von Waldemar Grimm 8 explizite zu Müller keinerlei Veröffentlichungen. Was die Erforschung der Deutschen Christen allgemein angeht, so liegen außer der ausführlichen Organisationsgeschichte von Kurt Meier von 1964 9 bislang im wesentlichen lediglich zwei regionalgeschichtliche Untersuchungen 1 0 und zwei Studien zur deutsch-christlichen „Theologie" 1 1 vor. Hinzu E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre. M. KOSCHORKE, Person; DERS., Wehrkreispfarrer. 4 N.SAHRHAGE: „Wir haben jetzt ein R e i c h . . . " Sahrhage behauptete irrtümlicherweise (EBD., S. 311, Anm. 3), für die Rede sei vorher in der Presse nicht geworben worden. Vgl. aber die den Auftritt Müllers ankündigende Zeitungsanzeige L K A BIELEFELD, 5,1-305,3. 5 W. BIRNBAUM, Zeuge, S. 196-200. 2 3

6

T H . M U R K E N , M ü l l e r ; L . SNYDER, E n c y c l o p e d i a ; R . W I S T R I C H , W e r w a r w e r ? ;

CH.ZENT-

NER/F. BEDÜRFTIG, Lexikon. Vgl. ferner die Anmerkungen zur Vita Müllers bei K. MEIER, K i r c h e n k a m p f , B d . 1, S . 5 5 1 f . ; H . D E G E N E R , W e r i s t ' s ? s o w i e F . B A U K S , P f a r r e r , S . 3 4 5 ; D E R S . ,

Nachträge, S. 247. 7 W. ULMENRIED, Müller; A. DANNENMANN, Geschichte, S. 3 3 - 3 6 ; Μ. DIETRICH, Müller. 8

W . GRIMM, R e i c h s b i s c h o f .

9

K. MEIER, Deutsche Christen. Vgl. auch DERS., Art.: Deutsche Christen, in: T R E . H . BAIER, Deutsche Christen (Bayern); R. HEINONEN, Anpassung (Bremen).

10 11

W . TILGNER, V o l k s n o m o s t h e o l o g i e ; H . - J . SONNE, T h e o l o g i e .

13

Einleitung

kommen die frühe (1957) publizistische Arbeit über die Propaganda der Deutschen Christen von Karl-Heinz Götte 1 2 sowie einschlägige Abschnitte in übergreifenden Darstellungen zum Kirchenkampf 1 3 . Biographien Deutscher Christen wurden - anders als bei Vertretern der Bekennenden Kirche 1 4 - noch nicht geschrieben. Auch Autobiographien Deutscher Christen wurden kaum veröffentlicht 15 . Friedrich Wilhelm Bauks verfaßte aber eine kurze biographische Skizze über den westfälischen D C Bischof Bruno Adler 1 6 , und der Aufsatz von Jochen-Christoph Kaiser: .„Politische Diakonie' zwischen 1918 und 1941" erhellt die Vita des deutschchristlichen Direktors des Centraiausschusses für die Innere Mission und zeitweiligen „Adjutanten" des späteren Reichsbischofs Ludwig Müller Horst Schirmacher 17 . Die naturgemäß wenigen Spuren, die Müller als Schüler, während der praktischen Phase seiner Ausbildung und während seines Gemeindepfarramtes in den Akten hinterließ, sind im wesentlichen noch vorhanden und bequem zugänglich 1 8 . Das Bild, das diese Dokumente vermitteln, wurde in der vorliegenden Arbeit ergänzt durch die Auswertung retrospektiver Aussagen Müllers, wie sie sich vor allem in seinen Reden ab 1933 finden (s.u.), sowie retrospektiver Aussagen von Bekannten Müllers, wie sie sich vor allem in Briefen an den Reichsbischof Müller (1933 ff.) finden 1 9 . Ferner konnten noch Äußerungen von Zeitzeugen aus der Gegenwart verwandt werden. 12

K . - H . GÖTTE, P r o p a g a n d a .

13

V g l . v o r allem K . S C H O L D E R , K i r c h e n , B d . 1 u n d 2 ; K . M E I E R , K i r c h e n k a m p f , B d . 1 - 3 ;

H . BUCHHEIM, G l a u b e n s k r i s e . V g l . a u c h d i e e i n s c h l ä g i g e n A b s c h n i t t e in d e n i n z w i s c h e n z a h l reichen r e g i o n a l h i s t o r i s c h e n D a r s t e l l u n g e n z u m K i r c h e n k a m p f . 14

V g l . e t w a die B o n h o e f f e r - B i o g r a p h i e v o n E . BETHGE, d i e M a r t i n N i e m ö l l e r - B i o g r a p h i e n

v o n J . B E N T L E Y u n d J . S C H M I D T , d i e A s m u s s e n - B i o g r a p h i e v o n E . KONUKIEWITZ, die B o d e l s c h w i n g h - B i o g r a p h i e v o n W . BRANDT, d i e D i b e l i u s - B i o g r a p h i e v o n R . STUPPERICH, d i e K a r l K o c h - B i o g r a p h i e v o n W . NIEMÖLLER, die B i o g r a p h i e des sächsischen B K - P f a r r e r s Fischer v o n H . KLEMM ( D i e n s t ) . V g l . f e r n e r d a s B u c h v o n E . K L Ü G E L ( L a n d e s k i r c h e ) ü b e r d e n H a n n o v e r s c h e n L a n d e s b i s c h o f M a r a h r e n s u n d d i e B i o g r a p h i e v o n W . PHILIPPS ü b e r d e n V o r s i t z e n d e n d e s Reichskirchenausschusses Wilhelm Zoellner. 15

A n A u t o b i o g r a p h i e n D e u t s c h e r C h r i s t e n w u r d e n v e r ö f f e n t l i c h t : C H . KINDER, B e i t r ä g e ;

W . B I R N B A U M , Z e u g e ; F . T Ü G E L , W e g (hg. v. C . N i c o l a i s e n ) . V g l . a u c h d i e u n v e r ö f f e n t l i c h t e A u t o b i o g r a p h i e v o n F . W i e n e k e , K i r c h e u n d Partei ( M s . bei d e r E v A G MÜNCHEN). A n E r i n n e r u n g e n v o n V e r t r e t e r n d e r B e k e n n e n d e n K i r c h e ( i m w e i t e r e n S i n n e ) liegen u. a. v o r : G . D E H N , Z e i t ; O . D I B E L I U S , E i n C h r i s t ist i m m e r i m D i e n s t ; D E R S . , S o h a b e i c h ' s e r l e b t ; P . F L E I S C H , Kirchengeschichte; J . K Ü B E L , Erinnerungen; W.STÄHLIN, Via Vitae; R . v .

THADDEN-TRIEG-

LAFF, P o s t e n ; T H . W U R M , E r i n n e r u n g e n . V g l . a u c h d i e u n v e r ö f f e n t l i c h t e A u t o b i o g r a p h i e v o n P. W i n c k l e r , W i e ich es s a h u n d s e h e ( M s . im L K A BIELEFELD). 16

F . BAUKS, D C - B i s c h o f B r u n o A d l e r .

"

J . - C H . KAISER, „ P o l i t i s c h e D i a k o n i e " .

18

ARCHIV DES EVANGELISCH-STIFTISCHEN GYMNASIUMS GÜTERSLOH; L K A BIELEFELD; A R -

CHIV DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHENGEMEINDE RÖDINGHAUSEN. E . BRINKMANN, M ü l l e r s L e b e n s j a h r e , hat d i e Q u e l l e n i m e i n z e l n e n z u m G r o ß t e i l b e r e i t s e r s c h l o s s e n . konnten weitere Q u e l l e n gefunden werden. 19

E Z A BERLIN, 1 / C 4 / 7 4 - 8 0 .

Z.T.

14

Einleitung

Schließlich wurde der geistesgeschichtliche Hintergrund ein wenig ausgeleuchtet (Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung, Universitäten Halle und Bonn). Dasselbe methodische Vorgehen, nämlich aus von ihrer Art, Herkunft und ihrem Alter her unterschiedlichen Quellen unter Berücksichtigung des historischen Kontextes ein Gesamtbild zu rekonstruieren, wurde auch beim zweiten Kapitel, über Müllers Zeit als Militärpfarrer (1914 bis 1933), angewandt. Auch hier konnten noch Zeitzeugen befragt werden. Während die Zeit des Ersten Weltkrieges, den Müller in Flandern und der Türkei verlebte, und die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als Müller Marinepfarrer in Cuxhaven war, quellenmäßig recht dunkel sind und man hier hauptsächlich auf retrospektive Äußerungen angewiesen ist, ist die Quellenlage im Hinblick auf die etwa sechsjährige Tätigkeit Müllers als Marineoberpfarrer in Wilhelmshaven (1920 bis 1926) recht gut. Die wichtigste Quelle sind hier die im Militärarchiv Freiburg verwahrten Akten des Stationspfarramtes Wilhelmshaven aus jener Zeit, die freilich nicht ohne Lücken sind 2 0 . Für Müllers Jahre als Wehrkreispfarrer in Königsberg (1926 bis 1933) ist die Quellenlage dagegen wieder relativ schlecht. Die Akten des Wehrkreises I (Ostpreußen) wurden vernichtet 21 . Allerdings ist das NSDAP-Gauarchiv Ostpreußen noch vorhanden 2 2 , das freilich über die wichtige Frage nach der Hinwendung Müllers zu den Nationalsozialisten Ende der zwanziger Jahre kaum Aufschluß gibt, so daß man auch hier wieder im wesentlichen auf retrospektive Aussagen, teilweise sogar erst aus der Zeit nach 1945, angewiesen ist. Uber die sich teilweise geradezu überschlagenden kirchenpolitischen Ereignisse der Jahre 1933 und 1934 (Schaffung der evangelischen Reichskirche und Beginn des Kirchenkampfes), an denen Müller meist direkt oder indirekt beteiligt war, sind wir vor allem durch die äußerst ausführlichen Gesamtdarstellungen von Klaus Scholder und Kurt Meier gut informiert 2 3 . Scholder und Meier haben das in Frage kommende Archivmaterial nahezu vollständig erschlossen. Hinzu kommt eine kaum überschaubare Fülle von Einzeluntersuchungen und Quellensammlungen zum Kirchenkampf 1933 ff. D e m Duktus der Darstellungen von Scholder und Meier im wesentlichen folgend, wurden im dritten und vierten Kapitel, über Müllers Weg zum Reichsbischofsamt und seine Zeit an der Macht als Reichsbischof (1933 bis 1935), Literatur, gedruckte Quellen und Archivmaterial konzentriert auf die Person und die Rolle Müllers, sein Denken und Wirken, ausgewertet. Demgegenüber tritt eine detaillierte Schilderung der kirchengeschichtlichen Vorgänge 20

B A FREIBURG, R M 26.

21

B A FREIBURG, R H 53-1.

22

G S t A BERLIN, X X , R e p . 240.

23

K . SCHOLDER, K i r c h e n , B d . 1 u n d 2; K . MEIER, K i r c h e n k a m p f , B d . 1 - 3 .

Einleitung

15

1933/34 zurück; diese wurden vielmehr insofern betrachtet, als sie mit der Person Müllers zu tun haben. Dabei ergaben sich freilich nur zu einem gewissen Teil neue Aspekte; zum Teil konnten frühere Beobachtungen ergänzt oder auch revidiert werden. Dies betrifft vor allem die Amtsführung Müllers, sein Verhalten bei Verhandlungen, sein Verhältnis anderen gegenüber und die Beurteilung Müllers durch andere. Von dem benutzten Archivmaterial sind im besonderen zu nennen: der riesige Bestand, betreffend die Deutsche Evangelische Kirche 1933 bis 1945, im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin 24 , der u.a. auch die Akten des Sekretariats des Reichsbischofs enthält, die in Bielefeld und Darmstadt verwahrte umfangreiche Sammlung zum Kirchenkampf von Wilhelm Niemöller 25 , die Akten des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser 26 und der Nachlaß des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm 27 . In der Forschung nahezu unberücksichtigt blieben bislang die im Kommunalarchiv Minden verwahrten Akten der nach dem Zweiten Weltkrieg von ehemaligen Deutschen Christen gegründeten „Kirchengeschichtlichen Arbeitsgemeinschaft", die allerdings zum Großteil noch nicht verzeichnet sind 28 . Die in staatlichen Archiven verwahrten Akten über Müllers Wirken 1933 bis 1935 sind in dem von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und der Kommission für Zeitgeschichte gemeinsam herausgegebenen „Inventar staatlicher Akten zum Verhältnis von Staat und Kirchen 1933-1945" verzeichnet 29 . Müllers Tätigkeit nach seiner faktischen Entmachtung im Herbst 1935 (fünftes Kapitel) blieb bislang in der Forschung nahezu gänzlich unberücksichtigt. Die Quellenlage ist relativ gut. Uber die zahlreichen öffentlichen Reden Müllers - seine Hauptbeschäftigung bereits ab 1934 - gibt es zahlreiche Berichte, Mitschriften und sonstige Hinweise 30 . Müllers Verhältnis zu staatlichen Stellen, besonders zum Reichskirchenministerium, erhellen die einschlägigen Akten im Bundesarchiv, Abt. Potsdam 31 und die in der Form von Microfiches vom Institut für Zeitgeschichte publizierten Akten der NSDAP-Parteikanzlei 32 . Ebenfalls kaum berücksichtigt wurden in der Literatur bisher die drei

24

E Z A B E R L I N , 1.

25

L K A BIELEFELD, 5 , 1 ; L K A DARMSTADT, 3 5 .

26

L K A NÜRNBERG, Pers. X X X V I .

27

LKA STUTTGART, D 1. Wurm und Meiser, die 1933 Müller unterstützten, gehörten ab 1934 mit zu seinen schärfsten Widersachern. 28 KA MINDEN: Bestand Kirchengeschichtliche Arbeitsgemeinschaft. Vgl. hierzu den Aufsatz von B. HEY, Arbeitsgemeinschaft. 29

C H . A B E L E / H . B O B E R A C H , I n v e n t a r , S. 2 0 8 - 2 1 8 .

30

Vgl. unten die im Anhang zu Kapitel 5, S. 315 ff. aufgeführten Quellennachweise.

31

B A ABT. POTSDAM, 5 1 . 0 1 R K M .

32

IFZ MÜNCHEN, A k t e n .

16

Einleitung

größeren Publikationen Müllers aus der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre 3 3 ; sie werden in der vorliegenden Arbeit besprochen. Ein persönlicher Nachlaß Müllers existiert nicht; sämtliche Unterlagen sollen 1944 den Bomben zum Opfer gefallen sein 3 4 . Seine Personalakte enthält so gut wie kein relevantes Material 35 . Die Arbeit ist, wie es sich für eine biographische Darstellung nahelegt, chronologisch aufgebaut. An verschiedenen Stellen wird eingehalten, um in einem eigenen Abschnitt u.a. Müllers Reaktion auf bestimmte Ereignisse und Entwicklungen, sein Verhältnis zu bestimmten führenden Persönlichkeiten und sein Denken zusammenfassend, systematisch zu beleuchten. Daß die Einordnung von Müllers Denken in der Arbeit nur relativ wenig Raum einnimmt, ergibt sich aus der Sache: Selbst Müllers „Verehrer" Walter Birnbaum räumte ein, daß Müller „gewiß kein bedeutender Theologe (war)" 3 6 . Der Schwerpunkt der Arbeit sind die Kapitel I, II und V, in denen es um die bisher vernachlässigten Fragen: Woher kam Müller, und was wurde aus ihm ? geht, deren Behandlung zu einem historischen Verstehen des gleichsam kometenhaften Auftretens Müllers in den Jahren 1933 bis 1935 beitragen soll. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden offenkundige Orthographie- und Interpunktionsfehler sowie altertümliche Schreibweisen in den zitierten Quellen in der Regel stillschweigend korrigiert.

33 34 35 36

L. MÜLLER, Gottesworte; DERS., Positives Christentum; DERS., Volkssoldat. Auskunft von Frau Elfriede Maeser-Müller (Cuxhaven), 14.9.1990. E Z A BERLIN, 1/C 1/40. Vgl. unten S. 31, Anm. 111. W. BIRNBAUM, Zeuge, S. 196.

KAPITEL 1

J U G E N D , AUSBILDUNG, GEMEINDEPFARRAMT (1883-1914) 1. Familie, Kindheit,

Schulzeit

Johann Heinrich Ludwig Müller wurde am 23. Juni 1883 in Gütersloh in Westfalen geboren1. Gütersloh, damals eine etwas „abseits" gelegene Stadt mit etwa 20.000 Einwohnern, mit Baumwoll- und Seidenindustrie und dem bekannten Verlag Bertelsmann, war der „Vorort" der Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung; u.a. hatte Johann Heinrich Volkening hier gewirkt2. Die Erwekkungsbewegung hatte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im allgemeinen zwar ihren Höhepunkt bereits überschritten, in Gütersloh war sie jedoch nach wie vor eine starke prägende Kraft. Noch in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die Gütersloher Gesellschaft dem Bericht eines Zeitgenossen zufolge „durch und durch vom kirchlich-pietistischen Geiste bestimmt.... Der Pfarrer stand in hoher Achtung. Regelmäßiger Besuch des Gottesdienstes gehörte zum guten Ton. Man nahm teil beim Abendmahl.... Der konservative Bauer sah es gern, wenn auf seinem Hof das Missionsfest gefeiert wurde. . . . Es wurde streng auf Sonntagsruhe gehalten, und es gab Familien, bei denen, zumal wenn man zum Abendmahl gewesen war, nicht einmal weibliche Handarbeiten erlaubt waren." 3 Theologisch vertrat die Ravensberger Erweckungsbewegung einen strengen Biblizismus und ein orthodoxes Luthertum. Jegliche rationalistischaufklärerische Strömung wurde als säkulare Aufweichung des christlichen Glaubens bekämpft. Nachdem ursprünglich die reformatorische Rechtfertigungslehre im Mittelpunkt der Predigt gestanden hatte, traten im Laufe der Zeit immer stärker das persönliche Erlebnis der „Erweckung", die „plötzliche emotionale Erfahrung von Sünde, Bekehrung und Gnade" und die „reine Lehre" in den Vordergrund4. Die Bewegung erhielt einen nomistischen Zug; weltliche Vergnügungen, wie ζ. B. Tanzen, wurden verdammt. Nach dem Vorbilde des

1

E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 193.

2

W . ULMENRIED, M ü l l e r , S. 6 ; F . BRUNS, G ü n d u n g , S. 14.

3

Zit. nach F. BRUNS, Schule, S. 86.

4

F . NIPKAU, T r a d i t i o n e n , S . 3 6 8 ; T H . SUNDERMEIER, K i r c h e n v e r s t ä n d n i s , S. 130.

18

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914)

älteren Pietismus wurden erbauliche Zirkel gegründet. Mission nach außen und innen (Diakonie) wurde wichtig 5 . In politischer Hinsicht kann die Erweckungsbewegung als entschieden vaterländisch-monarchistisch, antiliberal und sozialkonservativ charakterisiert werden. Sie war - ganz im Sinne der restaurativen Bemühungen der Heiligen Allianz - eine Gegenbewegung gegen die im „Vormärz" und während der Märzrevolution von 1848 erhobenen liberalen und demokratischen Forderungen 6 . In dem „erweckten" Gütersloh kam es dementsprechend im März 1848 sogar zu einer sogenannten „umgekehrten Revolution", einer ,,tumultartige[n] Demonstration gegen die Vertreter der Fortschrittspartei" 7 . Den modernen emanzipatorischen und industriellen Bestrebungen des Bürgertums stand die sich hauptsächlich aus dem Adel und ländlich geprägten mittleren und unteren Bevölkerungsschichten rekrutierende Erwekkungsbewegung ebenso ablehnend gegenüber wie der Sozialdemokratie. Minden-Ravensberg war um die Jahrhundertwende eine Hochburg der Christlich-Konservativen bzw. der Christlich-Sozialen Partei. Beide Gruppierungen waren entschieden protestantisch und vertraten die soeben geschilderten politischen Vorstellungen. Hinzu kam ein starker Antisemitismus. Die Christlich-Soziale Partei wurde in der Reichswahlstatistik sogar unter der Rubrik „Antisemiten" geführt. Von 1879 bis 1898 vertrat deren Vorsitzender Adolf Stoecker Minden-Ravensberger Wahlkreise im Preußischen Abgeordnetenhaus 8 . Ludwig Müllers Vater, Adolf Müller, war „Eisenbahn-Stationsdiätar" bzw. „Stationsassistent" 9 , also ein in der Bahnhofsverwaltung beschäftigter außerplanmäßiger Reichsbahnangestellter. Ihm gelang später durch Verbeamtung und Beförderung zum „Stationsvorsteher I. Klasse" ein gewisser sozialer Aufstieg, mit den sozialen Absicherungen eines Beamten und einem immerhin fast doppelt so hohen Einkommen wie dem eines Lokomotivführers 1 0 . Ludwig Müllers Mutter war Adolf Müllers Ehefrau Anna Johanne Sophie geb. Veerhof. Sie hatte noch drei weitere - sämtlich jüngere - Kinder 1 1 . Johanne Müller war eine sehr fromme Frau, in ihrer Religiosität offenbar 5

Zur Theologie der (Ravensberger) Erweckungsbewegung vgl. u.a. G.BENRATH, Erwek-

k u n g ; F . BRUNS, G r ü n d u n g ; DERS., S c h u l e ; R . DEICHGRÄBER, E r w e c k u n g ; M . GRESCHAT, E r -

weckungsbewegung; J . MOOSER, Frommes Volk; TH. SUNDERMEIER, Kirchenverständnis. 6

F . N I P K A U , Traditionen, S . 3 6 8 ; G.BENRATH, E r w e c k u n g , S . 2 1 1 ; vgl. auch K . - W . DAHM,

Pfarrer, S. 161. 7

H . HILBK, Idee, S. 43.

8

F. NIPKAU, Traditionen.

9 E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 193; L. Müller, Lebenslauf, 10.5. 1941, hds. ( B D C , Akte: Reichskulturkammer/Reichsschrifttumkammer: Ludwig Müller). 10

E . B R I N K M A N N , M ü l l e r s L e b e n s j a h r e , S . 1 9 3 ; HAUPTVERWALTUNG R E I C H S B A H N ,

bahnen, S. 443 und 445; D . KLINKSIEK, Eisenbahner, S. 261 f. 11 Telefonische Auskunft von Frau Elfriede Maeser-Müller (Cuxhaven), 14.9. 1990.

Eisen-

Familie, Kindheit, Schulzeit

19

noch ganz geprägt von der Erweckungsbewegung. Sie hatte entscheidenden Einfluß auf die religiöse Sozialisation ihres Sohnes, lehrte ihn früh das Beten. Häufig sprach Ludwig Müller später öffentlich - nicht ohne Pathos - von der großen Frömmigkeit, aber auch von der großen Güte, aufopfernden Liebe und Selbstlosigkeit seiner Mutter und davon, wie stark er durch sie geprägt wurde: „Ich habe eine fromme Mutter gehabt, die viel über uns Kindern betete." 1 2 - „Mit dem Bilde meiner Mutter bleibt mir stets der erste Eindruck verbunden von dem, was Gottvertrauen ist, - von dem vor allem, was Liebe und Güte ist. Es ist mir heute so, als ob diese Liebe und Güte und dieses Gottvertrauen noch heute mit mir gingen, noch heute spürbar lebendig, wie sie in meinen Jugendjahren und ersten Mannesjahren neben mir gestanden haben."' 3 - „Das meiste, das ich gelernt habe, habe ich von meiner Mutter . . . " 1 4 - „ H e r z und Sinne der Mutter sind immer der Vorhof zur Kirche. Die kleinen und großen Menschen, die durch diesen schönen, fröhlich geschmückten Vorhof gehen dürfen, finden die Pforte der Kirche leicht." 1 5 Johanne Müller war eine ausgesprochen milde Erzieherin. Es sei ihr, so Ludwig Müller, sehr schwer gefallen, ihrem Sohn etwas versagen zu müssen, sie habe dann „innerlich gekämpft" 1 6 . Gott diente ihr, wie so mancher christlichen Erzieherin, als Erziehungshilfe und Autoritätsstütze 1 7 . Außer dem regelmäßigen, intensiven freien Gebet, der festen Uberzeugung, daß man „dem Vater im Himmel alles sagen" müsse 1 8 , lernte Ludwig Müller von frühester Kindheit an - besonders an Feiertagen - die biblischen Geschichten kennen. Dabei wurde die Bibel „ganz als Gottes Wort" angesehen, an der Historizität der Erzählungen wurde nicht gezweifelt 19 . Im Gegensatz zu seiner Mutter hat Ludwig Müller seinen Vater bei seinen späteren öffentlichen Auftritten kaum erwähnt. Auch Adolf Müller war religiös engagiert. Als Stationsvorsteher ließ er im Bahnhofswartesaal die ersten evangelischen Gottesdienste in Hörstel im Tecklenburger Land abhalten und war somit maßgeblich an der Gründung der dortigen evangelischen Diasporagemeinde beteiligt 20 . 12

L . M Ü L L E R , M a r b a c h , S. 152.

13

L . M Ü L L E R , M i n d e n - R a v e n s b e r g , S . 1.

14

L . M Ü L L E R , B r e s l a u , S. 234.

15

L. MÜLLER, Mutter und Kirche.

16

L . M Ü L L E R , B r e s l a u , S. 234.

Ludwig Müller erzählte später: „ A m nächsten Tag hatte die Mutter Kuchen gebacken, und wir sollten nicht davon essen, und, um uns davon abzuschrecken, sagte die Mutter: ,Der liebe Gott sieht es'" (L.Müller, Rede: Der Ruf Gottes an die Deutschen, 17.11. 1937 - L K A 17

STUTTGART, D 18

1/118).

L . M ü l l e r , R e d e in M ü l h e i m , 8 . 1 1 . 1 9 4 2 ( E Z A B E R L I N , 7 / 1 0 1 5 ) .

19 Rückschauend äußerte Müller: „Die biblischen Geschichten nahmen wir als Wahrheit, z . B . Gott schuf aus einem Erdenkloß die ersten M e n s c h e n . . . " (L.Müller, Rede in Gütersloh, 2 1 . 2 . 1 9 3 7 - L K A BIELEFELD, 5,1-305,3). 2 0 Pastor Hackemann (Hörstel) an Paula Müller, 28.9. 1933 ( E Z A BERLIN, 1 / C 4/79).

20

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt ( 1 8 8 3 - 1 9 1 4 )

Ganz im Gegensatz zu seiner Frau zeichnete Adolf Müller Strenge aus, die sogar von Außenstehenden an ihm beobachtet wurde 2 1 . Dementsprechend beschrieb Ludwig Müller später seine Gefühle seinem Vater gegenüber mit den Begriffen „ R e s p e k t . . . , Ehrfurcht und Gehorsam". Sein Vater habe ihm manches verboten und nicht zugelassen, er, Ludwig Müller, habe „nicht immer alles verstanden und gespürt, daß er mich lieb hatte" 2 2 . D a Adolf Müller aus beruflichen Gründen häufig den Wohnort wechseln mußte, wuchs Ludwig Müller dann z.T. in seiner Geburtsstadt bei G r o ß mutter und Großvätern und im Hause seines Großonkels auf 2 3 . Auch die starke erweckliche Frömmigkeit der Großeltern und deren Einfluß auf die Entwicklung seines christlichen Glaubens hat er später gelegentlich erwähnt. Außer durch seine Mutter habe er „Christus durch . . . seine beiden Großväter kennengelernt" 2 4 . Von der Großmutter prägte sich ihm das Wort ein: „Beten ist das Atemholen der Seele." 2 5 Mit den Großeltern ging er jeden Sonntag zur Kirche, angeblich ohne jeden Zwang 2 6 . Von 1889 bis 1893 besuchte Ludwig Müller die Volksschule in seiner Heimatstadt 2 7 . E r erinnerte sich später: „In der Schule . . . haben wir zuerst die alttestamentlichen Geschichten kennengelernt. Und zwar so viel, daß nachher das Neue Testament viel zu kurz gekommen ist, daß wir das Allerwichtigste im Neuen Testament, das Verstehen der Person und das Wirken des Heilandes, viel zu wenig gehört haben." 2 8 Besonders erinnerte er sich an die Paradiesgeschichte und den Sündenfall - „Das auswendig zu lernen, plagte mich. Ich sagte mir, wenn ich sündige, dann sind diese beiden schuld." - sowie an die Opferung Isaaks und die König-David-Geschichten: „Wir bekamen vor der Heiligkeit und Unbarmherzigkeit Gottes, der die Sünde straft, Angst. Wir hörten, Israel sei das auserwählte Volk. Wir fragten uns damals schon, soll der Herr ausgerechnet die Juden zum erwählten Volk gemacht haben? Wir merkten, daß vieles von dem Gelernten nicht stimmte."29

21

EBD.

22

L . MÜLLER, Breslau, S. 2 3 4 .

23

W . ULMENRIED, Müller, S. 6 ; L . MÜLLER, Volkssoldat, S. 2 0 .

24

A r t . : Reichsbischof L u d w i g Müller in Halle, in: MITTELDEUTSCHLAND/SAALE-ZEITUNG,

27.6.1934. 25

L . Müller, Predigt in Berlin-Tegel, 18.11. 1936 ( E Z A BERLIN, 1 / A 4 / 4 8 8 ) . Bei den G r o ß e l -

tern w a r es, so Müller: „Sitte, daß vormittags u m elf U h r und nachmittags gegen sechs U h r die ,Betglocke' geläutet w u r d e . D a n n nahm der G r o ß v a t e r jedesmal die Samtkappe ab und sprach ein Vaterunser. O b wir gerade unterwegs waren o d e r zu Hause, beim Klang der G l o c k e w u r d e der G r o ß v a t e r still und betete" ( L . MÜLLER, Volkssoldat, S. 19). 26

L . M ü l l e r , Predigt in Berlin-Tegel, 18. 11. 1936 ( E Z A BERLIN, 1 / A 4 / 4 8 8 ) ; M . D I E T R I C H ,

Müller, S. 3 3 6 ; W . ULMENRIED, Müller, S. 6. 27

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 193.

28

L . MÜLLER, Minden-Ravensberg, S. 1.

29

L . M ü l l e r , Rede in Gütersloh, 2 1 . 2 . 1 9 3 7 ( L K A B I E L E F E L D , 5 , 1 - 3 0 5 , 3 ) .

Familie, Kindheit, Schulzeit

21

Das Glaubensbekenntnis lernte er „naiv auswendig" 3 0 . Das in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Evangelisch-Stiftische Gymnasium Gütersloh war ein „Kind" der Erweckungsbewegung 3 1 . Ihr in starkem Maße verpflichtet, waren nicht nur die Initiatoren und Gründer der Schule (u.a. Volkening) 3 2 , sondern z . B . auch der langjährige Anstaltspfarrer und spätere Generalsuperintendent der Neumark Theodor Braun, der den geistlichen Charakter des Gymnasiums in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts entscheidend prägte 3 3 . Die Schule wurde in dieser Zeit nicht nur von weiten Kreisen der Erweckungsbewegung in ganz Deutschland getragen, sondern sie hat ihrerseits auf diese Bewegung auch in stärkender Weise zurückgewirkt 3 4 . Das Gymnasium war von seiner Bildungskonzeption her gedacht als ein „Gegenpol" gegen das neuhumanistische Gymnasium mit seiner als widerchristlich empfundenen Glorifizierung der Antike, aber auch gegen die rationalistisch-aufklärerischen und säkularen Tendenzen der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus 3 5 . Auf der anderen Seite war man bemüht, nicht hinter dem wissenschaftlichen Bildungsniveau der weltlichen Gymnasien zurückzubleiben, klassisch-humanistische Lerninhalte mit der christlichen Botschaft in Einklang zu bringen 3 6 . Man war der Uberzeugung, daß „alle menschliche Wissenschaft, recht betrieben, zu Gott hinführe" und nicht notwendig, wie es vielfach geschah, von Gott entfremde 3 7 . Dementsprechend unterschied sich das Evangelisch-Stiftische Gymnasium Gütersloh von den Normalgymnasien weniger durch das „Was", als vielmehr durch das „Wie" des Unterrichts 3 8 , vor allem aber durch ein ausgeprägtes geistliches Leben neben dem Unterricht: allmorgentlich A n dacht, zweimal wöchentlich Abendandacht, sonntags Schulgottesdienst, zweimal im Jahr Abendmahlsfeier 3 9 . Das Lehrerkollegium, das sich von der Zusammensetzung her durch eine ungewöhnliche Homogenität auszeichnete, setzte sich des öfteren zusammen, „um für gefährdete Schüler im gemeinsamen Gebet die rechte

30

31 32

L . Müller, Rede in Radebeul, 1 3 . 1 0 . 1 9 4 3 ( E Z A Berlin, 5 0 / 5 6 7 C ) . F. Bruns, Gründung, S. 13 und 18. H . B l o t h , Eigenständigkeit; F.Bruns, Gründung, S . 18f.; H . Hilbk, Idee,

S. 3 9 - 4 4

und 4 8 - 5 5 . 33

K. H a r t m a n n , Braun. Hartmann war Ludwig Müllers Amtsbruder in Rödinghausen

(vgl. unten S.38f.). Vgl. auch F.Bruns, Gründung, S.43f.; H. Hilbk, Idee, S.54f. 34 H. B l o t h , Eigenständigkeit, S. 63; H. Hilbk, Idee, S. 39. 35 Η. B l o t h , Eigenständigkeit, S. 76. 36 Η. Hilbk, Idee, S. 48. 3 7 Ebd., S. 50. 38 Ebd., S. 53. 39 Ebd., S. 52.

22

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt ( 1 8 8 3 - 1 9 1 4 )

Wegweisung zu erbitten" 4 0 . Es gab auch immer einige Schüler, die sonntagnachmittags zusammenkamen, „um unter Gebet die Bibel erbaulich auszulegen" 4 1 . Auf das Amt des Anstaltspfarrers, der nicht nur Religionslehrer, sondern zugleich auch Seelsorger der Schüler war, wurde bereits hingewiesen. Der Religionsunterricht war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ganz und gar bibelorientiert. Der historisch-kritischen Dogmen- und Bibelkritik wurde eine radikale Absage erteilt 4 2 . Noch in der Oberprima machte das „Memorieren von Psalmen und Kirchenliedern" einen Großteil des Lehrplanes im Fache Religion aus 4 3 . Typisch für das Evangelische Gymnasium Gütersloh war auch die Vielzahl der freiwilligen außerunterrichtlichen Interessengemeinschaften („Gesellige Prima", Trommler-Korps, Posaunenchor, Turnverein, Spielverein, Stenographen verein, Leseverein): „ . . . jeder, der es wollte - und wer wollte es wohl nicht - , (konnte) sich einer Verbindung anschließen . . . , in der er sich gut aufgehoben, in seinem Selbstwertgefühl anerkannt und zu gemeinsamem Wettstreit angehalten wußte." In den Interessengemeinschaften wurde „ein strenges Amterritual" gepflegt, „nach außen traten . . . sie als farbentragende Korporationen auf" 4 4 . O b diese Vereine wirklich geeignet waren, demokratisches Bewußtsein und Dialogbereitschaft zu erlernen, erscheint fraglich. Ein Mitschüler Ludwig Müllers hat dies später behauptet: „Ganz abgesehen von der Pflege treuer Kameradschaft, bildeten sie [sc. die Vereine] in einer hochkonservativen, stark auf Autorität (göttliche und menschliche) gegründeten Gesellschaft demokratische Zellen und eine Schule selbständigen Handelns, ein gesundes Korrektiv auch gegen den Geist der alten Lernschule. Ohne ausgesprochene Tendenz gewöhnte man sich, in einer, wenn auch beschränkten Öffentlichkeit zu reden und seine Ansichten zu vertreten, lernte, zu verhandeln und Kompromisse zu schließen, zu führen und geführt zu werden, lernte, nur seinen Kameraden verantwortlich, ein Amt gewissenhaft zu verwalten." 4 5 Die Schulvereine ermöglichten von Seiten der Schule eine gewisse K o n trolle der durch Nachmittagsunterricht und Andachten ohnehin stark limitierten Freizeit der Schüler. Sonstige Freizeitbeschäftigungsmöglichkeiten waren durch Verbote des Gymnasiums erheblich eingeschränkt. So war es den Schülern ζ. B. untersagt, Lokale, Kaffeehäuser oder Konditoreien aufzusuchen 4 6 . 40

EBD.

41

Zit. nach F . BRUNS, Schule, S. 86.

42

EBD., S. 8 4 - 8 8 .

43

LÜNZNER, G y m n a s i u m , S. 5.

44

H . HILBK, Idee, S. 58.

45

Zit. nach F . BRUNS, G r ü n d u n g , S. 5 3 .

46

A . KÜBLER, Penne, S. 10.

Familie, Kindheit, Schulzeit

23

Mitunter unternahm der Klassenlehrer „am frühen Morgen einen Rundgang in die Wohnungen seiner Klasse, um sich zu überzeugen, ob auch wirklich alle seine Jungen rechtzeitig aufstehen und am Morgen fleißig lernen." 4 7 Entsprechend dem politisch konservativen Zug der Erweckungsbewegung wurden mit der Gründung des Evangelischen Gymnasiums Gütersloh auch politische Ziele verfolgt. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der den Grundstein des Schulbaus legte, und der Adel begünstigten aus politischen Gründen die Errichtung der Schule 4 8 . Dem revolutionären Geist von 1848 sollte ein streng obrigkeitsstaatlicher preußisch-royalistischer Geist entgegengesetzt werden 4 9 . Nach der Reichsgründung von 1871 machten sich immer stärker deutschnationalistische Tendenzen an der Schule bemerkbar, die teilweise chauvinistische und antisemitische Züge annahmen 5 0 . Höhepunkte des schulischen Lebens wurden Feiern aus Anlaß nationaler Gedenktage sowie die „zu einer nationalen Kundgebung sich auswachsende Turnfahrt", bei der der Direktor eine vaterländische Rede hielt 5 1 . Daß sich das Gymnasium bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bemüßigt fühlte zu erklären: „Es ist natürlich selbstverständlich, daß unsere Anstalt das Dritte Reich freudig bejaht und begeistert hinter unserm Führer steht" 5 2 , zeigt, daß auch Ludwig Müllers frühere Schule - wie der ehemalige Schüler - die Hinwendung zum Nationalsozialismus vollzog. Es war nur folgerichtig, daß die sozial aufstrebende, pietistisch-erweckte preußische Beamtenfamilie Müller ihren Sohn in das Evangelisch-Stiftische Gymnasium einschulte, zumal sich diese Schule auch noch am Heimatort befand. So trat Ludwig Müller 1893 in die dortige Sexta ein 5 3 . Entsprechend dem lutherischen Zug der Ravensberger Erweckungsbewegung wurde er im Religionsunterricht vermutlich mit der Wittenberger Reformationsgeschichte vertraut gemacht. Martin Luther übte offenbar eine große Faszination auf ihn aus, allerdings nicht der Theologe und Reformator, sondern der „Mensch", den er sich wie einen seiner Nachbarn vorstellte - ruhig und stark, 47

Zit. nach H. HILBK, Idee, S. 57.

48

H . B L O T H , E i g e n s t ä n d i g k e i t , S . 6 9 ; F . BRUNS, G r ü n d u n g , S . 2 8 F . ; H . H I L B K , I d e e , S . 4 4 .

4 9 Noch im Jahre 1926, also während der „Blütezeit" der Weimarer Republik, hieß es in einem Zeitungsartikel anläßlich des 75jährigen Bestehens des Evangelisch-Stiftischen Gymnasiums Gütersloh: „Jeder wird verstehen, daß man in Gütersloh stets an dieser pietätvollen Stellung zum Königshaus festhielt. So war es denn auch jetzt nicht zu verwundern, daß in der ganzen Stadt überaus zahlreiche schwarz-weiß-rote Fahnen zu sehen waren..." (Art.: Das 75jährige Jubiläum des evangelischen stiftischen Gymnasiums in Gütersloh, in: DER REICHSBOTE, 25. 8. 1926). 50

V g l . A . K Ü B L E R , P e n n e , S. 5 7 .

51

F . BRUNS, G r ü n d u n g , S. 3 0 - 3 7 ; H . H I L B K , I d e e , S. 5 9 .

52

Z u s a t z v e r m e r k z u m H a u s p r o s p e k t v o n 1 9 2 9 ( E Z A BERLIN, 7 / 6 3 7 0 ) .

53

E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 193.

24

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914)

ernsthaftig und immer mit einer ,,strahlende[n] tiefe[n] Freude in seinen Augen", eine Vorstellung, die er nach eigenen Angaben auch noch als erwachsener Mann behielt 54 . Das siebte Schuljahr absolvierte Müller am Lyzeum II in Hannover (Ostern bis 1. Juli 1895) sowie an der Cuxhavener Staatlichen Realschule mit Latein-Abteilungen (Sommer 1895 bis Ostern 1896). Wahrscheinlich lebte er in dieser Zeit bei den Eltern. Ostern 1896 kehrte er als Untertertianer an seine alte Gütersloher Schule zurück 5 5 . Es ist zu vermuten, daß man dem Schüler keinen ständigen Schulwechsel zumuten wollte. Außerdem hatte ja das Gütersloher Gymnasium ein unvergleichbares christliches Gepräge. A b Mai 1897 war Müller mit Begeisterung und viel Engagement Mitglied des „Gymnasial-Trommel-Corps", zunächst als recht guter Flötist, der „allgemeinen Anklang findende" - Soli spielen und anderen Instrumentalunterricht erteilen konnte, ab 1899 dann als Trommler 5 6 . Im September 1900 wurde er für das Vereins jähr 1900/1901 zum Vereinsleiter mit dem Titel „Präses des C o r p s " gewählt. Damit war er zugleich Tambourmajor. Als solcher führte er den Festzug bei den Jubiläumsfeierlichkeiten anläßlich des 50-jährigen Bestehens des Gütersloher Gymnasiums im Jahre 1901 an 5 7 . Er berichtete ausführlich darüber in seinem Jahresbericht in der Chronik des Trommelkorps. Der Bericht, in dem von Flaggen, „Zapfenstreich", Marschieren „in Reihe und Glied" und „Kameradschaftlichkeit" die Rede ist, belegt vor allem Müllers große Affinität zum Militär bereits als Schüler, was angesichts der geradezu „paramilitärischen" Struktur des Trommler-Korps nicht weiter verwundern kann und im übrigen wohl auch typisch für damalige Schüler war. Es heißt dort u. a.: „Wir grüßten... in militärischer strammer Haltung, wie wir denn überhaupt so viel wie möglich militärische Strammheit im Verein gepflegt hatten.... das ganze Auftreten war so schneidig .. ." 5 S Über die Militärbegeisterung in seiner Jugend schrieb Müller später noch: „Wir liebten die Armee, wir kannten alle Regimenter und ihre Uniformen, wir waren stolz auf die Kriegsflotte, wir kannten alle Schiffe." 5 9 Er trug sich ernsthaft mit dem Gedanken, einmal Marineoffizier zu werden 6 0 . Der „Flottenenthusiasmus" der zweiten Hälfte des Kaiserreichs, der „hinter der Au54 55 56

Vgl. W. ULMENRIED, Müller, S. 6 f . ; E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 193. EBD., S. 194. Chronik des Gütersloher G y m n a s i a l - T r o m m e l - C o r p s , Vereinsjahr 1898/1899 (Verf.:

C . v . S y d o w ) ( A R C H I V DES E V A N G E L I S C H - S T I F T I S C H E N G Y M N A S I U M S G Ü T E R S L O H ) ; v g l .

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 194. 5 7 BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9. 5 8 Chronik des Gütersloher G y m n a s i a l - T r o m m e l - C o r p s , Vereinsjahr 1900/1901 Ludwig

Müller)

( A R C H I V DES E V A N G E L I S C H - S T I F T I S C H E N

GYMNASIUMS

auch

(Verf.:

GÜTERSLOH).

Bei

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 194 ist Müllers Bericht auszugsweise zitiert. 59 L.MÜLLER,Volkssoldat,S.23. 6 0 Hermann Heckart (?) (Aachen) an [seinen Vetter] L . M ü l l e r , 2 5 . 9 . 1934 ( E Z A BERLIN, 1 / A 4 / 3 3 ) ; BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9.

25

Familie, Kindheit, Schulzeit

ßenseite modernster Waffentechnik der sozialdefensiven Verhinderung politischer und sozialer Modernisierung (diente)" 6 1 , verfehlte also auch bei dem jungen Ludwig Müller seine Wirkung nicht. Daß Müller in seiner Eigenschaft als „Präses" des Trommelkorps einen „scharfen Verweis" erhielt, weil er verbotenerweise Tertianer mit zu einem Ausflug des Korps genommen hatte, von denen einer „höchst unmäßig im Biertrinken (war)" 6 2 , hat er in seinem Jahresbericht verschwiegen (nicht aber die Bestrafung des Tertianers) 6 3 . Über seinen Religionsunterricht äußerte Müller Ende 1936, es sei der übliche lehr- und lernhafte Unterricht gewesen, „in dem die lebendigen Kräfte des Christentums nicht stark genug hervortraten." 6 4 Im Gegensatz hierzu heißt es in der kurzen Müller-Biographie von Will Ulmenried (Pseudonym) aus dem Spätsommer des Jahres 1933: „Auch aus dem, was am Sonntag der Geistliche [sc. der Anstaltspfarrer, der ja gleichzeitig Religionslehrer war, in der Schulkirche] verkündete, glaubte er [sc. Ludwig Müller], Gottes Stimme zu vernehmen. Und so entging ihm kein Wort, wenn er mit seinen Schulfreunden in der Kirche der Predigt des Pfarrers voll tiefer Andacht lauschte. Schon den Heranwachsenden ergriff nicht nur Wort und Gedanke im Unterricht des Gymnasiums und in der sonntäglichen Predigt, vielmehr brach in ihm die Überzeugung durch, daß ,die lebendige Kraft' wie er es später nannte - hinter allem steht und stehen muß, und daß diese Kraft dem Wort und dem Gedanken erst ihren Sinn und Inhalt verleiht." 6 5 Die zwei widersprüchlichen Zitate müssen aus der jeweiligen Zeit heraus, aus der sie stammen, interpretiert werden. Während Müller nach seiner faktischen Entmachtung als Reichsbischof im Herbst 1935 zunehmend auf offene Distanz zur Kirche und deren Lehre ging und dies u. a. mit negativen Erfahrungen aus seiner Jugend zu begründen versuchte, mußte er (bzw. sein ihm wohl gesonnener Biograph, der sich vermutlich auf Aussagen Müllers stützte) unmittelbar vor seiner Ernennung zum Reichsbischof im September 1933 darauf bedacht sein, den Eindruck eines kirchlichen, seit langem in seiner Frömmigkeit gefestigten Mannes zu erwecken 6 6 . Beide Momente schließen sich indes nicht aus: Eine grundsätzlich vorhandene erweckliche Frömmigkeit des Schülers Müller muß ja nicht frei von gewissen Vorbehalten und Kritik gewesen sein. Müllers Religionslehrer war der Anstaltspfarrer Julius Möller, ein tief 61

H . - U . W E H L E R , K a i s e r r e i c h , S. 166.

62

Konferenz-Protokolle von Ostern 1898 bis 17. Juli 1907, Protokoll vom 2 6 . 9 . 1901 (AR-

C H I V DES E V A N G E L I S C H - S T I F T I S C H E N G Y M N A S I U M S G Ü T E R S L O H ) . 63

C h r o n i k des Gütersloher G y m n a s i a l - T r o m m e l - C o r p s , Vereinsjahr 1900/1901

(Verf.:

L u d w i g M ü l l e r ) ( A R C H I V DES E V A N G E L I S C H - S T I F T I S C H E N G Y M N A S I U M S G Ü T E R S L O H ) . 64

L . Müller, Rede bei der Gemeinschaft des Nordens, 2 6 . 1 1 . 1936 ( E Z A BERLIN, 50/333).

65

W . U L M E N R I E D , M ü l l e r , S. 6.

66

Vgl. unten Kap. 5, S. 277 und Kap. 3, S. 126 u.a.

26

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914)

religiöser, von seinem Christusglauben völlig durchdrungener Mann, der von seinen Schülern allgemein sehr geachtet und verehrt wurde. Er war zu seiner Zeit der einzige Lehrer am Gütersloher Gymnasium, der im Unterricht Diskussionen zuließ. Der jugendlichen rationalen Religionskritik begegnete er „mit der Unantastbarkeit des Bibeltextes und vermochte vorgetragene Widersprüche für die unreifen Geister nicht zu entkräften" 6 7 . In einer von ihm verfaßten und im Jahre 1896 veröffentlichten Meditation begegnet uns Julius Möller als energischer Vertreter der Lehre Luthers von Gesetz und Evangelium und als ebenso energischer Kritiker der liberalen Theologie. Im Apostolikumstreit bezog er eine kompromißlose orthodoxe Position. Möller mahnte zum Rückzug aus der Welt, zur Ruhe, Stille und Besinnlichkeit. Seine Vorbilder waren neben Luther Bengel, Löhe und Zinzendorf 6 8 . Ein Chronist des Gütersloher Gymnasiums bezeichnete Möllers Wirken als tragisch, da er zu einer Zeit gelehrt habe, „in der die Erweckungsbewegung [der er sich zweifelsohne sehr verbunden wußte] ihre K r a f t . . . zu verlieren beginnt" 6 9 . Ein Biograph nannte ihn sogar den ,,letzte[n] der großen Zeugen" der Ravensberger Erweckung 7 0 . Politisch war Möller ein „überzeugter Anhänger des königs- und kaisertreuen Konservativismus" 7 1 , der sich in die Zeit Bismarcks zurücksehnte 7 2 . Von 1902 bis 1918 war er Gesamtvorsitzender der Christlich-Konservativen Partei Minden-Ravenbergs 7 3 . Als Primaner galt Ludwig Müller „als der Eleganteste und Unwiderstehlichste . . d i e Höhe seiner Kragen und der Schick seiner Glacehandschuhe waren einfach nicht zu überbieten" 7 4 . Zum Ostertermin 1902 unterzog er sich der Reifeprüfung. Von seinen Abiturarbeiten wird noch sein Deutschaufsatz über das Thema: „Der Nationalcharakter der alten Germanen" im Schularchiv verwahrt. Ernst Brinkmann hat diese Arbeit auszugsweise veröffentlicht 75 . In ihr wurden hauptsächlich Gedanken aus Tacitus' Germania referiert: Müller kontrastierte die Treue, Sittenreinheit, Tapferkeit, Ehrlichkeit, Gastfreundschaft und Gottesfurcht der Germanen mit der Charakterschwäche und dem Sittenverfall der Römer und hob dabei die Treue zum Fürsten unter Einsatz des Lebens als die „schönste und beste Eigenschaft" hervor. Er räumte dann auch schlechte Eigenschaften der Germanen, die Praxis des Menschenopfers sowie die „Spiel- und Trinkwut", ein, kam jedoch abschließend zu dem Ergebnis: „Wenn wir nun zum Schlüsse den gesamten Nationalcharakter betrachten, so leuchtet doch trotz der schlech67

F . B R U N S , G r ü n d u n g , S . 5 0 f.

68

J . MÖLLER, Zeit und Ewigkeit.

69

F . BRUNS, G r ü n d u n g , S. 51.

70

KLEIN, M ö l l e r , S. 158.

71

EBD., S. 163. J. MÖLLER, Zeit und Ewigkeit, S. 88 f.

72 73

F . NIPKAU, T r a d i t i o n e n , S. 3 7 3 ; E . H O E N E R , G e s c h i c h t e , S. 104.

74

BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9. E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 194 f.

75

27

Familie, Kindheit, Schulzeit

ten Eigenschaften unserer Vorfahren das Gute unter allen Völkern der damaligen Zeit so herrlich hervor, daß wir uns der Bewunderung nicht enthalten können und stolz darauf sein dürfen, von solch herrlichen Vorfahren abzustammen." 7 6 Daß er mit derartigen nationalistischen Tönen nicht nur kein Außenseiter war, sondern daß solche Töne von ihm und seinen Mitschülern sogar erwartet wurden, beweist die Bewertung der Klausur: „Die Arbeit ist gewandt und im Ganzen korrekt geschrieben, so daß sie wohl noch als Gut gelten kann." 7 7 Müllers Deutschlehrer H u g o Hoffmann kann im übrigen als typischer Vertreter der oben beschriebenen Bildungsziele des Evangelisch-Stiftischen Gymnasiums gelten. In der Festschrift anläßlich des 50-jährigen Bestehens der Schule bezeichnete er einerseits den Religionsunterricht „als den wichtigsten Lehrgegenstand", andererseits beantwortete er die Frage, „was denn das Ziel der Erziehung für diese Welt sei", wie folgt: „Natürlich wird hier die engere Gemeinschaft, in der wir leben, das eigene Volk und Vaterland, den ersten Rang beanspruchen dürfen. Somit steht für uns das nationale Interesse im Vordergrunde aller übrigen menschlichen Interessen. Die Jugend in nationalem Sinne zu erziehen, ist ein hohes und köstliches Ziel, das jeder Schule . . . gesteckt ist. . . . aber die Vorliebe, die der Deutsche nun einmal für alles Ausländische und Fremde hat, und der Mangel an nationalem Stolze müssen mit aller Gewalt ausgerottet werden, und dazu ist die Schule berufen." 7 8 Außer in Deutsch schloß Müller auch in dem Doppelfach „Geschichte und Erdkunde" mit der N o t e „ G u t " ab, in den übrigen Fächern erhielt er das Prädikat „Genügend". Zusammenfassend wurde er von der Königlichen Prüfungskommission folgendermaßen beurteilt: „Er hat bei regelmäßigem Schulbesuch im ganzen guten Fleiß gezeigt u[nd] ein gutes Betragen bewiesen, hat sich genügend Kenntnisse erworben u[nd] einen genügenden Grad geistiger Reife erreicht." Müller wurde mit dem Wunsche entlassen, „daß er die akademische] Studienzeit recht gewissenhaft benutzen möge, um dereinst mit Gottes Hülfe ein treuer Diener der Kirche zu werden" 7 9 . Müller strebte also das Pfarramt an. Der Aussage eines jüngeren Mitschülers zufolge war das Theologiestudium für ihn allerdings „nur eine Notlösung" 8 0 . Eigentlich hatte er ja Marineoffizier werden wollen. Bei seiner Berufsentscheidung spielte der Einfluß seiner Familie, besonders seiner Mutter, wohl 76

L. Müller, Der Nationalcharakter der alten Germanen, Unterlagen der Reifeprüfung

Ostern

1902

(ARCHIV

DES

EVANGELISCH-STIFTISCHEN

GYMNASIUMS

GÜTERSLOH);

vgl.

E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 195. 7 7 L. Müller, Der Nationalcharakter der alten Germanen, Unterlagen der Reifeprüfung Ostern

1 9 0 2 ( A R C H I V DES E V A N G E L I S C H - S T I F T I S C H E N G Y M N A S I U M S G Ü T E R S L O H ) . V g l .

L . KERSSEN, T h e m a . 78 79 80

H . HOFFMANN, Wert, S. 88-90. E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 195. BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9.

auch

28

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914)

die entscheidende Rolle 8 1 . Unter den 21 Schülern aus seiner Klasse, die Ostern 1902 das Abitur bestanden, waren insgesamt fünf spätere Theologen, die im übrigen sprachfrei ihr Studium beginnen konnten 8 2 . Diese Zahl entsprach Anfang des 20. Jahrhunderts in etwa dem Durchschnitt der Berufswahl des Gütersloher Gymnasiums 8 3 . In der „Bierzeitung" kam der Abiturient L u d w i g Müller nicht eben gerade gut weg: „Müller, du redest so viel von andrer Leute Gebrechen, denkst wohl im Stillen, du wärst selbst ein vollkommener G o t t ; ja der Gedanke ist göttlich, bewundernd, muß ich sagen, da ihn, gesellig vereint, Dünkel und Dummheit gebar [sie!]." 8 4

2.

Studium

Die Friedrichs-Universität in Halle/Saale war Anfang des 20. Jahrhunderts seit langem die mit - freilich geringer werdendem - Abstand beliebteste Hochschule der Minden-Ravensberger Theologiestudenten. D a der Anteil derer, die in den geographisch näher gelegenen Städten Göttingen und Marburg studierten, wesentlich niedriger war, wird man wohl davon ausgehen müssen, daß die Lehrenden und die von ihnen vertretenen Lehrmeinungen einen nicht unbeträchtlichen Einfluß auf die Wahl des Studienortes hatten 8 5 . Halle galt traditionell als Zentrum pietistischer Frömmigkeit. A n der ursprünglich rein pietistischen evangelisch-theologischen Fakultät war nach einer längeren rationalistisch-aufklärerischen Phase unter dem „epochemachenden" Einfluß August Tholucks (Professor in Halle von 1826 bis 1877) „die Wendung v o m Rationalismus zum modernen erweckten Pietismus auf akademischem B o d e n " vollzogen worden 8 6 . N e b e n Tholuck wirkte in Halle auch der Erweckungstheologe Julius Müller, dessen Berufung Tholuck an

8 1 Telefonische Auskunft von Frau Elfriede Maeser-Müller (Cuxhaven), 14.9. 1990; vgl. auch M. KOSCHORKE, Person, S. 45. Fehlende gesundheitliche Eignung scheidet als Ursache dafür, daß Müller nicht Marineoffizier wurde, wohl aus. Müller wurde offenbar „tauglich" gemustert. Im Jahre 1908 gab er in einem handschriftlich von ihm ausgefüllten Formular sein Militärverhältnis mit „Landsturm I " an (Nachweisung der persönlichen und dienstlichen Verhältnisse des Hilfspredigers Ludwig Müller in Herford, Stiftberg, 26.2. 1908 - L K A BIELEFELD, 0,0/199). Regulären Wehrdienst leistete er nicht. 8 2 FESTSCHRIFT 1926, S. 74. Griechisch wurde am Stiftischen Gymnasium von Untertertia bis zum Abitur und Hebräisch von Untersekunda bis zum Abitur unterrichtet (vgl. LÜNZNER, Gymnasium). 8 3 F.BRUNS, Schule, S. 85. 84

L K A BIELEFELD, 5 , 1 - 3 0 5 , 3 .

85

C H . PETERS, S o z i a l p r o f i l , S. 6 5 u n d 75.

86

E. KAHLER, Halle, S. 361; vgl. ZSCHARNACK, Halle, in: R G G 2 , Sp. 1587-1590. Zu Tholuck

vgl. P . KEYSER, T h o l u c k ; M . SCHMIDT, T h o l u c k .

29

Studium

Stelle derjenigen von Ferdinand Christian Baur durchgesetzt hatte 8 7 . Einen strengen lutherisch-orthodoxen Konfessionalismus vertrat Heinrich Ernst Ferdinand Guericke, der mit z.T. sehr fragwürdigen Mitteln gegen den alten Halleschen Rationalismus kämpfte 8 8 . Nach dem fast gleichzeitigen Tode von Tholuck, Müller und Guericke fanden in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch andere theologische Richtungen Vermittlungstheologie, Ritschlianismus, religionsgeschichtliche Schule Eingang in die evangelisch-theologische Fakultät Halle 8 9 - vermutlich mit ein Grund für die nachlassende Attraktivität von Halle bei den MindenRavensberger Theologiestudenten, die in Halle nicht mehr ausschließlich die „reine Lehre" fanden. Ein jegliche Vermittlungstheologie scharf ablehnender, Bekehrung und Mission betonender Biblizismus wurde in Halle freilich weiterhin durch den Tholuck-Schüler Martin Kähler (Professor für Dogmatik in Halle bis 1912) vertreten, der mit Adolf Stoecker zugleich verwandt und befreundet war 9 0 . Biblizist war auch Gustav Warneck, von 1896 bis 1908 Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Missionswissenschaft in Halle 9 1 . Das nunmehr auch akademische Interesse an der Mission muß ohne Zweifel in Zusammenhang gesehen werden mit der Erwekkungsbewegung, aber auch mit dem deutschen Imperialismus und Kolonialismus 92 . Gleichwohl, der Neupietismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Halle nicht mehr allein dominierend. Die Einrichtung zweiter Lehrstühle in den einzelnen Disziplinen zu dieser Zeit erfolgte u.a. auch aus dem Bemühen um einen gewissen lehrmäßigen Pluralismus heraus 9 3 . Außer durch Kähler und Warneck wurde das Gesicht der Halleschen Fakultät im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts vor allem durch den Kirchengeschichtler Friedrich Loofs und den Alttestamentler Emil Kautzsch beeinflußt 9 4 . Loofs, ein Ritschl-Schüler, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Dogmengeschichte der alten Kirche und führte in Halle die von Julius Köstlin begonnene historische Lutherforschung auf dogmengeschichtlicher Ebene weiter. Er bemühte sich um ein „,weltoffenes' Neuluthertum", um eine „Neuerfassung des reformatorischen Grundanliegens von seiner Mitte, der Rechtfertigungslehre und dem in ihr sich gestaltenden Gottesgedanken, her" 9 5 . Der Name Kautzsch steht für die 8 7 E.KÄHLER, Halle, S . 3 6 1 ; E . W O L F , J . M ü l l e r ; E . FAHLBUSCH, Müller, J .

Halle, S p . 3 7 .

Zu J . M ü l l e r

vgl.

F.SCHUMANN,

88

ZSCHARNACK, H a l l e , in: R G G 1 , Sp. 1812f. Z u G u e r i c k e vgl. G . SPRENGLER, G u e r i c k e .

89

E . W O L F , Halle, S p . 3 7 .

90

Zu M . Kähler vgl. J . SCHNIEWIND, K ä h l e r ; R . HERMANN, Kähler.

91

Z u W a r n e c k vgl. Η . SCHOMERUS, W a r n e c k ; A. LEHMANN, W a r n e c k .

92

T H . NIPPERDEY, R e l i g i o n , S. 97.

93

ZSCHARNACK, H a l l e , i n : R G G 1 , S p . 1 8 1 5 .

94

E . KAHLER, H a l l e , S. 3 9 1 .

Z u L o o f s vgl. E . W O L F , L u t h e r f o r s c h u n g , S. 1 0 7 f . ; K.ALAND, L o o f s . Zitat: E . W O L F , L u t h e r f o r s c h u n g , S. 108. 95

30

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt ( 1 8 8 3 - 1 9 1 4 )

philologische, literatur- und religionsgeschichtliche Erforschung der Bibel in Halle 9 6 . Fünf Semester lang, vom Sommersemester 1902 bis zum Sommersemester 1904 war Ludwig Müller Student an der evangelisch-theologischen Fakultät der Friedrichs-Universität in Halle 9 7 . Wir wissen nicht, ob er sich bewußt für den Studienort Halle entschied, oder ob er, was angesichts der Tatsache, daß die Aufnahme des Theologiestudiums nicht seinen eigentlichen Wünschen entsprach, nahe zu liegen scheint, bloß einem allgemeinen Trend folgte. In Halle wohnte Müller im Reformierten Konvikt, in dem eigentlich spätere Pfarrer reformierter Gemeinden mit den Eigenarten der reformierten Konfession vertraut gemacht werden sollten. Der Studieninspektor des Konviktes war damals Wilhelm Gustav Goeters, der später als Professor in Bonn zu Müllers theologischem Beraterkreis gehörte 9 8 . Als Müller im zweiten Semester war, starb sein Vater. Dies brachte die Familie offenbar in eine gewisse wirtschaftliche Notlage. Müller berichtete später, er habe zur weiteren Finanzierung seines Studiums einen Kredit aufnehmen müssen 9 9 . In Halle fühlte Müller sich im übrigen sehr wohl. Er erinnerte sich später, er habe dort „in Ruhe und Frieden" studieren können: „ . . . jeder (hatte) die Empfindung, wenn er einigermaßen fleißig war und arbeiten konnte, dann war die Zukunft seines Lebens gesichert." 1 0 0 Zum Wintersemester 1904/1905 wechselte Müller für ein Semester - es war sein letztes Studiensemester, das vermutlich schon ganz im Zeichen der Examensvorbereitung stand - an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität nach B o n n 1 0 1 . Bonn war nach Halle - mit zunehmender Tendenz der beliebteste Studienort der Minden-Ravensberger Theologiestudenten 1 0 2 . Die Bonner Universität hatte damals einen gewissen elitären Charakter, galt als „Prinzenuniversität". Wegen der vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten konnten es sich für gewöhnlich nur wenige leisten, hier zu studieren 1 0 3 . Ahnlich wie in Halle mit August Tholuck hatte in Bonn mit Theodor Christlieb ein „aggressiver [erweckter] Pietismus" Einzug in die evangelischtheologische Fakultät gehalten. In der wilhelminischen Ära war Bonn zwar 96

Z u Kautzsch vgl. R . RENDTORFF, Kautzsch.

97

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 195.

98

Z u m Reformierten

Konvikt vgl. B . WEIBENBORN, Universität, S. 1 0 9 f . ; zu

Goeters:

O . RITSCHL, Fakultät, S. 97F.; K . SCHOLDER, Kirchen, B d . 1, S. 4 0 3 . 99

L . Müller, R e d e in Gütersloh, 2 1 . 2 . 1 9 3 7 ( L K A BIELEFELD, 5 , 1 - 3 0 5 , 3 ) ; L . Müller, Rede in

Radebeul, 1 3 . 1 0 . 1 9 4 3 ( E Z A BERLIN, 5 0 / 5 6 7 C ) . 100

A r t . : Reichsbischof Müller in Halle, in: MITTELDEUTSCHE NATIONAL-ZEITUNG, 2 7 . 6 .

1934. 101

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 196.

102

C H . PETERS, Sozialprofil, S. 6 5 und 75.

103

SIMONS, B o n n , Sp. 1300.

Studium

31

wieder eine mehrheitlich liberale Fakultät, nach 1894 wurde sie jedoch „Zielscheibe kirchenpolitischer Angriffe und einer ministeriellen ,Entritschlung'" 1 0 4 . Bis 1914 hatte sie zwei „Strafprofessoren", die der Positiven Union angehörten, und alle freiwerdenden Lehrstühle wurden mit „positiven" Theologen besetzt 1 0 5 . Im Winter 1904/1905 lehrten an der Bonner evangelisch-theologischen Fakultät u.a. an liberalen Professoren der Alttestamentler Johannes Meinhold 1 0 6 , der Neutestamentier Eduard Gräfe 1 0 7 und der Systematiker O t t o Ritsehl 1 0 8 , an „positiven" Professoren der Alttestamentler Eduard König 1 0 9 und der Neutestamentier Siegfried Goebel 1 1 0 . Uber Müllers Theologiestudium selbst ist kaum etwas bekannt 1 1 1 . Die wenigen Äußerungen Müllers bzw. ihm wohl gesonnener Biographen über sein Studium, die freilich allesamt aus den Jahren 1933 und 1934 stammen, lassen erkennen, daß er der akademisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Theologie äußerst distanziert gegenüberstand. Müller, der angeblich mit „heiligem Ernst" sein Studium aufnahm 1 1 2 , ließ sich dem nationalsozialistischen Schriftleiter Max Dietrich zufolge bei seinem Studium von der Frage leiten: „ . . . was kannst du in deinem persönlichen Leben aus der neutestamentlichen Verkündigung machen, wo und wie kann dir das Gehörte selbst Erlebnis werden?" 1 1 3 Weiter heißt es bei Dietrich über Müllers Studium: „Wie eine Gnadengabe empfand der junge Student in Halle und später in Bonn die Erkenntnis, daß ein aufrechter Mensch niemals sein Ziel darin erblicken kann, zur verstandesmäßigen Zustimmung zu einem Dogma zu kommen. So wurde der deutsche Reformator des sechzehnten Jahrhunderts noch einmal unmittelbar Lehrmeister für einen ehrlich suchenden und ringenden Deutschen. Nun durfte Ludwig Müller jene ,Freiheit eines Christenmenschen' aus unmittelbarem eigenem Erleben heraus verstehen, zugleich aber auch lernen, daß nur der so innerlich frei Gewordene der seelsorgeri104

W . KÜPPERS, B o n n , Sp. 1359. Z u Christlieb vgl. G . GOETERS, Christlieb; K . KUPISCH,

Christlieb. 105

G . GOETERS, B o n n , S. 77. Z u r B o n n e r Fakultät vgl. auch O . RITSCHL, Fakultät, S. 7 5 - 8 5 .

106

Z u Meinhold vgl. R . SMEND, Meinhold.

107

Z u Gräfe vgl. PH. VIELHAUER, Gräfe.

108

Z u O . Ritsehl vgl. E . BIZER, O . Ritschl.

109

Z u K ö n i g vgl. R . MEYER, König.

110

Z u Goebel vgl. O . RITSCHL, Fakultät, S. 9 4 f.

111

D i e im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin verwahrte Personalakte Müllers

(EZA

BERLIN, 1 / C 1 / 4 0 ) enthält hierüber keinerlei Material, so wie sie überhaupt nur sehr wenige und historisch kaum interessante D o k u m e n t e enthält. D a vergleichbare A k t e n (etwa die von F r i t z Engelke E Z A BERLIN, 1 / C 1 / 2 4 - 2 6 ) z . B . sämtliche Prüfungsunterlagen (einschließlich der Examensklausuren) enthalten, liegt die Vermutung nahe, daß aus Müllers Personalakte zahlreiche wichtige D o k u m e n t e entfernt wurden, eventuell sogar von Müller selbst, etwa bei der R ä u m u n g seines B ü r o s im Kirchenbundesamt im H e r b s t 1935. 112

A r t . : U n s e r e m Reichsbischof z u m Willkommen, in: DEUTSCHER SONNTAG, Stuttgart,

1 2 . 5 . 1935, S. 121. 113

M.DIETRICH,Müller,S.237.

32

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt ( 1 8 8 3 - 1 9 1 4 )

sehen Aufgabe gewachsen, Arbeiter im Weinberg sein kann. Denn nur wer selbst Wege gesucht und gefunden hat, kann anderen Wege weisen." 1 1 4 Nach Will Ulmenried zog Müller unter all das während seines Studiums Gehörte den „Schlußstrich": „Theologie läßt sich nicht studieren oder erlernen. Zu Jesus kommt man nicht durch menschliche Weisheit - man muß Jesum selbst erleben!" 1 1 5 Ganz ähnliche Sätze finden sich auch in Arnold Dannenmanns „Geschichte der Glaubensbewegung,Deutsche Christen'" von 1933: „In der gesunden Luft des Pietismus... lernte er Jesus als seinen Herrn kennen, dem er unbedingte Gefolgschaft leisten wollte. So kam sein Entschluß zur Theologie. Auch während seines ganzen Studiums hatte er diese Haltung. Er wollte während seines Studiums nicht Jesus ,erforschen'. Er wußte eines: Jesus kann man nur erleben. Durch irgendwelche theologischen Erörterungen kann kein Mensch die Kraft des Gotteswortes in seinem Herzen und Leben verspüren." 1 1 6 In einer Würdigung Müllers in einer deutsch-christlichen Sonntagszeitung im Jahre 1934 wird interessanterweise unterstrichen, Müller sei kein „gelehrter Theologe" 1 1 7 . Müller selbst äußerte bei einem Besuch in Halle im Juni 1934 über sein Studium, er habe Christus „hier in Halle zu Ende seines Studiums selbst e r l e b t . . . , nachdem er allen Gelehrsamkeitsballast über Bord warf; denn die Dogmen täten es nicht." 1 1 8 Diese Äußerung, aus deren ersten Teil man so etwas wie ein Bekehrungserlebnis herauslesen könnte, paßt in ihrem zweiten Teil zu zahlreichen späteren Äußerungen Müllers, in denen er schroff die Beschäftigung mit theologischen Problemen als völlig irrelevante Sophisterei abtat und in denen er sich vehement gegen jeglichen kirchlichen „Dogmatismus" wandte 1 1 9 . Nach seinen eigenen Angaben widmete Müller sich während seines Studiums hauptsächlich der Kirchengeschichte 1 2 0 - die beste Möglichkeit, den aktuellen systematisch-theologischen und exegetischen Diskussionen zu entfliehen. Insgesamt läßt sich im Hinblick auf Müllers Theologiestudium mit einem gewissen Vorbehalt angesichts der dürftigen Quellenlage folgendes festhalten: Müller ist während seines Studiums nicht tiefer in die theologischen Wissenschaften eingedrungen, er scheint vielmehr eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit bzw. -skepsis entwickelt zu haben. Jedenfalls führte das Studium wohl kaum zu einer In-Frage-Stellung seiner angestammten, das religiöse Erlebnis betonenden, pietistisch-erweckten Frömmigkeit. Seine Wendung gegen „die Dogmen" könnte auf eine Ablehnung des konservativ114

EBD.

115

W . ULMENRIED, Müller, S. 7.

116

A . DANNENMANN, Geschichte, S. 34.

117

A r t . : D e m Reichsbischof z u m G r u ß ! in: DEUTSCHER SONNTAG, Stuttgart, 3 0 . 9 . 1934.

1,8

A r t . : Reichsbischof Ludwig Müller in Halle, in: MITTELDEUTSCHLAND/SAALE-ZEITUNG,

2 7 . 6 . 1934. 119

Vgl. z . B . L. MÜLLER, G o t t e s w o r t e , S. 3 6 ; DERS., Volkssoldat, S. 128f.

120

E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 195.

Studium

33

kirchlich engagierten Dogmenhistorikers Friedrich Loofs hindeuten; seine starke Hervorhebung der persönlichen Christusbegegnung berührt sich zweifellos mit Gedanken Martin Kählers 121 . Wenn man dem ironisch-satirischen Artikel über Müller von Waldemar Grimm in der in Prag und Zürich im Exil erschienenen „Neuen Weltbühne" vom November 1934 Glauben schenken darf, bestand Müller seine Erste Theologische Prüfung, die er am 13. Oktober 1905 in Münster abschloß, wegen seiner Distanz zur wissenschaftlichen Theologie „nur mit Ach und Krach" 1 2 2 . In Halle Schloß Ludwig Müller sich dem Verein deutscher Studenten an. Den Aussagen von Zeitgenossen zufolge war er „oft auf dem Haus" 1 2 3 , galt als „flotter Student und gefürchteter Fechter" 1 2 4 , mischte sich „unter das zechende Volk" 1 2 5 . Die im Kyffhäuser-Verband zusammengeschlossenen Vereine deutscher Studenten waren in erster Linie „Agitationsvereine zur ,Bekämpfung des Judentums als eines Hemmnis nationaler Entwicklung'". Zudem bekannten sie sich leidenschaftlich zu einem starken monarchischen Regiment (sie bezeichneten sich als „Leibgarde der Hohenzollern"), zu den Werten des Christentums, zu der vereinten deutschen Nation und zur Pflege des Deutschtums 1 2 6 . Auf Grund der starken politischen Betätigung wurden das Christentum und auch z.T. das Studentenwesen mehr und mehr vernachlässigt 127 . U m konfessionelle und dogmatische Streitigkeiten zu vermeiden, einigte man sich gleichsam auf einen christlichen Minimalkonsens, der gleichzeitig die Mitgliedschaft jüdischer Studenten verhinderte. Es wurde festgesetzt: „Die Mitglieder müssen Christen sein. Infolgedessen fordern die Vereine von ihren Mitgliedern, daß dieselben getauft sind und dem Christentum in Anerkennung des hohen sittlichen Einflusses, den es während seiner tausendjährigen Verbindung mit dem deutschen Volksleben auf letzteres geübt hat, nicht feindlich gegenüberstehen. Die Vereine haben von ihren Mitgliedern weder Ablegung eines religiösen Glaubensbekenntnisses noch Stellungnahme zu irgendeinem konfessionellen oder dogmatischen Standpunkte zu verlangen, wohl aber dürfen sie von ihnen eine Gesinnung erwarten, welche alle zur Tötung der religiösen, idealen und moralischen Triebe im Menschen führenden Bestrebungen verwirft." 1 2 8 U m die Jahrhundertwende 121

V g l . J . SCHNIEWIND, K a h l e r .

W . GRIMM, Reichsbischof, S. 1408. Zum ON und Datum der Prüfung vgl. E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 196. 122

123

H e n s c h k e ( K ö n i g s b e r g ) a n L . M ü l l e r , 3 . 6 . 1 9 3 4 ( E Z A BERLIN, 1 / C 4 / 7 8 ) .

124

BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9.

125

W . G R I M M , R e i c h s b i s c h o f , S. 1 4 0 8 .

126

K. JARAUSCH, Deutsche Studenten, S. 8 6 - 8 8 , Zitat: S. 86; DERS., Students, society, S. 270.

127

G L A U E / J . MÖLLER, S t u d e n t e n v e r b i n d u n g e n , S p . 9 6 6 ; v g l . L . CORDIER, S t u d e n t e n v e r b ä n -

de, Sp. 856f. 128

F . SCHULZE/P. SSYMANK, S t u d e n t e n t u m , S. 3 2 4 .

34

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt ( 1 8 8 3 - 1 9 1 4 )

ging der Nationalismus des Vereins deutscher Studenten „nahtlos in den alldeutschen Imperialismus über, der die Tirpitzsche Flottenrüstung und machtbewußte Weltpolitik unterstützte". Zentral blieb - unter dem Einfluß der Ideen von Adolf Stoecker, Heinrich von Treitschke und Richard Wagner - der Antisemitismus, der auch schon rassistisch motiviert war 129 . Im Jahre 1910 konnte Karl Kormann als Erfolg der Vereine deutscher Studenten, die sich in z.T. sogar blutigen (Duell-)Kämpfen gegen liberale Studentenverbindungen mehr und mehr an den deutschen Hochschulen durchgesetzt hatten (u.a. mit Unterstützung Bismarcks), herausstellen: „Heute ist der Gedanke des gesellschaftlichen Antisemitismus ja so ziemlich ein selbstverständliches Gemeingut aller akademischen Kreise geworden." 130 Dem Verein deutscher Studenten gehörten u.a. Müllers spätere deutsch-christlichen Mitstreiter Wilhelm Kube und Joachim Hossenfelder, aber auch z.B. Otto Dibelius

3. Inspektorentätigkeit,

Vikariat,

Hilfspredigerzeit

Noch bevor Müller im Oktober 1905 das Erste Kirchliche Examen ablegte, kehrte er im Juni 1905 als Alumnatsinspektor an seine frühere Gütersloher Schule zurück 132 . Als Inspektor war er in erster Linie für die Beaufsichtigung der Schularbeiten zuständig, aber auch für den gleichsam militärischen Drill, der in den Gütersloher Alumnaten geübt wurde. Einer seiner Nachfolger berichtete über die Inspektorentätigkeit: „Da schrillt . . . das scharfe Kommando des ,Weckers': Aufstehen! Im Hui geht's aus den Federn. . . . Da ertönt das Kommando des Inspektors, in Linie stehen die frischen Jungen und marschieren auf, dehnen und recken den jungen Körper, bis das Blut schneller durch die Adern pulst. Nach den Freiübungen noch ein kurzer Dauerlauf ..." 1 3 3 Der Einschätzung eines damaligen Alumnen zufolge war Ludwig Müller im Jahre 1905 für die Stelle des Alumnatsinspektors „noch nicht reif". Die Primaner lud er des öfteren in sein Zimmer „zu fröhlichem Umtrunk" ein, lehrte sie die „Kunst", eine Feuerzangenbowle anzusetzen. Als Schüler sich einmal in Müllers Zimmer, das dieser ihnen - während er selbst abwesend war - zur Verfügung gestellt hatte, betranken, versuchte er in Briefen an die Eltern, die Schuld gänzlich auf die angeblich „willensschwachen, dem Alkohol verfallenen" Schüler abzuwälzen 134 . Einem Untersekun129 130 131 132 133

K. JARAUSCH, Deutsche Studenten, S. 85, 88, 90f., Zitat: S. 91. EBD., S. 86 und 91. Zitat nach EBD., S. 90. K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, S. 259; H . MEISER, Verantwortung, S. 367. E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 196. Hausprospekt: Evang. stift. Gymnasium Gütersloh, s.d. [1929] (EZA BERLIN, 7/6370),

S. 23 f. 134

BÜCKMANN, Gymnasiast (Ms.), S. 9 f .

Inspektorentätigkeit, Vikariat, Hilfspredigerzeit

35

daner, der angeblich in finanziellen Nöten war, lieh der Inspektor Müller einen Geldbetrag, den jener dann prompt bei einem Pferderennen verpraßte 1 3 5 . Nicht genauer bekannte Differenzen zwischen Müller und der Hausdame des Alumnates I führten dazu, daß die Hausdame ihre Stellung aufgab 1 3 6 . Im Jahre 1906 leistete Müller neben seiner Inspektorentätigkeit ein zwölfmonatiges Lehrvikariat in Gütersloh ab 1 3 7 . Hierbei beeindruckten ihn nach eigenen Angaben am meisten die durch seinen Lehrpfarrer veranlaßten „regelmäßigen Besuche . . . bei einem ihm aus seiner Jugendzeit bekannten früheren Trinker, de„r sich durch das Blaue Kreuz gewandelt und bekehrt hatte" 1 3 8 . Nachdem er Ende September 1907 seinen Dienst im Alumnat beendet hatte, unterzog er sich der Zweiten Theologischen Prüfung, die er am 15. Oktober 1907 mit der Gesamtnote „Bestanden" erfolgreich abschloß. Im Oktober/November 1907 nahm er an einem sechswöchigen pädagogischen Seminarkurs teil; ein Predigerseminar besuchte er nicht. Anschließend war Müller für ein knappes Jahr Hilfsprediger, zunächst in Stiftberg bei Herford, dann - ab Juli 1908 - in Röhlinghausen im Ruhrgebiet. Nachdem ihm während seines Vikariats und zu Beginn seiner Hilfspredigerzeit eine tadellose Führung und ein eifriges Bemühen um Fortbildung bescheinigt worden waren, geriet er mit dem Presbyterium der Evangelischlutherischen Marien-Kirchengemeinde Stiftberg in Konflikt. Dieses versagte seine Mitwirkung bei der Erstellung der Dienstinstruktion und weigerte sich zudem, den üblichen Antrag auf Ordination Müllers zu stellen, wenngleich es auch erklärte, gegen eine stattfindende Ordination „keine Einwendungen" machen zu wollen. Entgegen den eigentlichen Vorschriften wurde Müller dann auch nicht in Stiftberg, sondern in Kirchlengern, dem Sitz des ordinierenden Superintendenten Höpker, ordiniert, und zwar am 16. Februar 1908. Von dem „Erfordernis des gesetzlichen Alters" von fünfundzwanzig Jahren war er zuvor durch den Evangelischen Oberkirchenrat dispensiert worden. Die genauen Hintergründe der Probleme Müllers in Stiftberg sind, wie es schon Ernst Brinkmann konstatiert hat, nicht mehr aufzuklären 1 3 9 . Es ist sehr möglich, daß in diesen Zusammenhang das gehört, was Müller in seinem Buch „Was ist positives Christentum?" von 1938 als „das grundlegende Erlebnis" seines Lebens beschrieb und was sich wie ein „Turmerlebnis" liest: „Es war in der Zeit, als ich in das praktische Pfarramt eingeführt wurde. Auf mir lastete der Druck einer Schuld, die mich so quälte, daß ich sogar körperlich litt. Ich tat alles, was ich gelernt hatte. Ich betete so, wie ich es gelernt 135

Protokoll-Buch des Alumnat-Vorstandes, Protokoll vom 21. 7. 1905 (ARCHIV DES EVAN-

GELISCH-STIFTISCHEN GYMNASIUMS GÜTERSLOH). 136 137 138 139

Protokoll-Buch E. BRINKMANN, L. Müller, Rede E. BRINKMANN,

des Alumnat-Vorstandes, Protokoll vom 8.3. 1906 (EBD.). Müllers Lebensjahre, S. 196. bei der Gemeinschaft des Nordens, 26.11. 1936 ( E Z A BERLIN, 50/333). Müllers Lebensjahre, S. 196 f.

36

Jugend, Ausbildung, Gemeindepfarramt (1883-1914)

hatte. Ich nahm den Katechismus und ,exerzierte' seelisch die einzelnen Stufen von Sündenerkenntnis, Reue und Buße; aber das alles half mir nichts. Das Schuldbewußtsein blieb, und ich wurde nicht frei. Bereut hatte ich mein Unrecht so, wie man überhaupt nur etwas bereuen kann. Trotzdem kam ich nicht zu innerer Freiheit. Eines Tages mußte ich eine Frau beerdigen, die in der Einsamkeit gestorben war und die kaum jemand gekannt hatte. Infolgedessen standen am Grab nur sehr wenige Leute. Es war ein kalter, unfreundlicher Tag. . . . Mir war so schwer ums Herz, daß ich am liebsten selbst da unten gelegen hätte. Als ich die vorgeschriebenen Formeln gesprochen hatte, mußte ich zum Schluß das Vaterunser beten; an diesem Tag habe ich das Gebet zum erstenmal nicht gesprochen, sondern erlebt: Als ich an die Stelle kam: ,Vergib uns unsere Schuld', packte es mich plötzlich, wie man mit ganz neuen Augen ein neues, helles, sonniges Land erblickt. Ich fühlte mit einem Mal: Wenn hier die Aufforderung des Heilandes dahin geht, eine Vergebung zu erbitten, dann muß es auch eine Vergebung der Schuld geben. Jetzt war ich in der Lage, voller Vertrauen diese geheimnisvoll göttliche Wahrheit anzunehmen. Ich spürte auch, wie ich frei und freier wurde, und als ich nach Hause kam, fragte meine Mutter: Junge, was ist mit dir passiert? D u siehst so aus, als ob du ein großes Glück erlebt hättest.' J a , Mutter', sagte ich,,jetzt bin ich endlich befreit und glücklich.'" 140 Zu „dunklen Stunden" in seiner Vergangenheit, in der im übrigen niemand „herumwühlen" solle, da der „Herrgott" ihm seine Verfehlungen vergeben habe, bekannte Müller sich auch in öffentlichen Reden als Reichsbischof, offenbar als Reaktion auf entsprechende Vorwürfe 1 4 1 . Einem privaten Brief an Müller aus dem Jahre 1934 zufolge wurde behauptet, er habe damals „seine Braut sitzen lassen, um eine reiche zu heiraten" 1 4 2 .

4. Gemeindepfarramt

in Rödinghausen

Am 8. September 1908 wurde Ludwig Müller zum zweiten Pfarrer an der evangelisch-lutherischen St. Bartholomäus-Kirche in Rödinghausen bei Bünde (Minden-Ravensberger Land) gewählt. Er setzte sich auch schon bei einer Probeabstimmung im August 1908 mit überwältigender Mehrheit gegen seine fünf Mitbewerber durch 1 4 3 . Müller behauptete spä140

L. MÜLLER, Positives Christentum, S. 75 f. L. Müller, Rede in Crailsheim, 12.5.1935 (LKA STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.). 142 Berta Hermann (Münster) an L. Müller, 23.4. 1934 (EZA BERLIN, 1/C 4/75). 143 E.BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 198; Protokolle der Sitzungen der kirchlichen Gemeinde-Vertretungen Rödinghausen (1895-1909), Protokoll vom 7.8. 1908: Müller erhielt bei einer ersten Probeabstimmung 16 Stimmen, ein weiterer Bewerber 2 Stimmen, ein 141

37

Gemeindepfarramt in Rödinghausen

ter, „rein äußerliche Gründe" seien für seine Wahl maßgebend gewesen, vor allem die Herkunft seiner Braut 144 . Die Cuxhavenerin Paula Emilie Reineke, die er am 16. September 1909 heiratete (die Hochzeit war wegen Erkrankung der Braut verschoben worden), stammte aus sehr wohlhabenden Verhältnissen; ihr Vater war ein reicher Kaufmann und schwedischer Konsul und konnte seiner Tochter offenbar eine größere Mitgift mitgeben 145 . Paula und Ludwig Müller hatten einen Sohn und eine Tochter, ab 1935 zudem für einige Jahre eine Pflegetochter 146 . Müller wurde 1908 in Rödinghausen „mit großen Ehren empfangen", sämtliche Schulkinder und der Posaunenchor holten ihn vom Bahnhof ab. Er war in seiner Rödinghauser Gemeinde sehr beliebt, galt als kontaktfreudig, gesprächig, humorvoll, machte gern einen Spaß, war stets hilfsbereit und sozial eingestellt: „Wenn junge Leute gern heiraten wollten und es nicht konnten, half er ihnen mit Sachen, die ihnen fehlten." Wenn er predigte, dann war die Kirche jedesmal „schwicktevoll", es gab Leute, die extra seinetwegen zum Gottesdienst kamen 147 . Er war sehr naturverbunden, unternahm mit den Konfirmanden und Katechumenen oft Ausflüge. Im Sommer fand der kirchliche Unterricht im Walde statt. Müller kam nie pünktlich zum Unterricht, sondern blieb oft extra lange weg, angeblich damit die Kinder länger spielen und sich vergnügen konnten. Wenn die Jugendlichen etwas „ausgefressen" hatten, nahm er sie mit dem Argument in Schutz: „Wenn die Bengels immer brav wären, dann wäre mit ihnen nicht viel los." 148 Häufig machte er Krankenbesuche. Diese seelsorgerliche Tätigkeit prägte ihn nach eigenem Bekunden stark. Bei einem Besuch in Rödinghausen im Jahre 1937 erklärte er: „Nicht auf der Universität - denn das kann ich offen und mit Dank gegen Gott sagen - , bei euch in der Gemeinde an Krankenund Sterbebetten habe ich wahre Seelsorge und den Glauben gelernt." 149 Die Hausbesuche unternahm er mit einer Pferdekutsche, die ihm sein Schwiegerdritter

1 Stimme

( A R C H I V DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN

KIRCHENGEMEINDE

RÖDING-

HAUSEN). 144

L . M ü l l e r , R e d e in R ö d i n g h a u s e n - W e s t k i l v e r , 11.3. 1 9 3 7 ( L K A BIELEFELD, 5 , 1 - 1 8 , 2 ) .

145

E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 198; L. Müller an E O K Berlin, 31.3. 1910 (EZA BERLIN, 7/6624); F. BAUKS, Pfarrer, S. 345; Anonymus an L. Müller, s.d. (EZA BERLIN, 1/C 4/ 74); Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6.2. 1990 (Karl Stallmann wurde 1914 von Müller konfirmiert); vgl. auch Johannes Scharlock (Berlin) an Präses Moeller (Berlin), 19.3. 1949 (EZA BERLIN, 7/1015). 146 Erklärung Müllers über die für Kinderbeihilfen maßgebenden Verhältnisse, 24. 5. 1936 (EZA BERLIN, 1/C 1/40). 147 E. MÖLLER, Befragungsprotokolle ehemaliger Konfirmanden Müllers (Ms.). 143 Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6.2. 1990. 149 L . M ü l l e r , R e d e in R ö d i n g h a u s e n - W e s t k i l v e r , 11.3. 1937 ( L K A BIELEFELD, 5 , 1 - 1 8 , 2 ) ; vgl. u . a . auch M.DIETRICH, M ü l l e r , S . 2 3 7 ; W.ULMENRIED, M ü l l e r , S. 8; W.BRANDT, B o d e l -

schwingh, S. 116; E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 200.

38

J u g e n d , A u s b i l d u n g , G e m e i n d e p f a r r a m t (1883-1914)

vater geschenkt hatte. Dieser bezahlte auch Häcksel und Hafer für das Pferd. Wenn Müller das Futter vierteljährlich abrechnete, pflegte er zu sagen: „Schreibense mal man nicht zu wenig auf die Rechnung, mein Schwiegervater hat genug Geld." 1 5 0 Ein wesentlicher Grund für seine große Beliebtheit in Rödinghausen war wohl, daß er sich durch seine weltliche Offenheit 1 5 1 stark von seinem Amtsbruder, dem ersten Pfarrer Klamor Hartmann, unterschied, der eine besonders enge erweckt-pietistische Einstellung hatte und z . B . versuchte, Tanzveranstaltungen zu verhindern und Alkoholkonsum zu unterbinden, und der auf Beibehaltung sehr altertümlicher liturgischer Formeln beharrte. Dementsprechend war das Verhältnis zwischen Müller und Hartmann - entgegen der Darstellung von Dietrich und Ulmenried - gespannt 1 5 2 . U . a . in der Jugendarbeit, in der er sich besonders engagierte, stieß Müller auf die Kritik seines um eine Generation älteren Amtsbruders: Der „Versuch, von der Peripherie zum Zentrum der Seelenpflege an der Jugend zu gelangen", könne, so Hartmann bei einer Presbyteriumssitzung im Hinblick auf Müllers Aktivitäten, „auch veräußerlichend u[nd] vom Zentrum abziehend wirken" 1 5 3 . Gegen den Widerstand von Hartmann setzte Müller den Bau eines neuen Gemeindehauses durch, das hauptsächlich der Ausweitung seiner Jugendarbeit dienen sollte 1 5 4 . Außer dem „Jünglings- und Männer-Verein" mit angegliederter Jugendturnabteilung leitete er den Posaunenchor und den Blaukreuzverein 1 5 5 . Letzteres hinderte ihn freilich nicht daran, auch schon mal die „Schluckpulle" kreisen zu lassen, vermutlich sehr zum Ärgernis seines Amtsbruders 1 5 6 . Bei allen persönlichen und kirchlich-theologischen Differenzen zwischen Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6 . 2 . 1990. EBD. und E . MÖLLER, B e f r a g u n g s p r o t o k o l l e ehemaliger K o n f i r m a n d e n Müllers (Ms.). 1 5 2 U b e r das gespannte Verhältnis Müller - H a r t m a n n vgl. u . a . : L . M ü l l e r , R e d e bei der Gemeinschaft des N o r d e n s , 26.11. 1936 ( E Z A BERLIN, 50/333); Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. G e m e i n d e Rödinghausen (1909-1928), Protokoll v o m 150 151

2 5 . 1 0 . 1911 ( A R C H I V D E R E V A N G E L I S C H - L U T H E R I S C H E N K I R C H E N G E M E I N D E R Ö D I N G H A U S E N ) ;

Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6 . 2 . 1990; E.MÖLLER, B e f r a g u n g s p r o t o k o l l e ehemaliger K o n f i r m a n d e n Müllers (Ms.). Z u H a r t m a n n vgl. auch R. BOTZET, Ereygnisse, S. 112 und 143. Von einem guten Verhältnis zwischen Müller und H a r t m a n n ist - ganz offensichtlich fälschlicherweise - bei M . DIETRICH, Müller, S. 237 und W. ULMENRIED, Müller, S. 8 die Rede. 1 5 3 Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. G e m e i n d e R ö d i n g h a u s e n ( 1 9 0 9 - 1 9 2 8 ) , P r o t o k o l l v o m 2 6 . 4 . 1911 ( A R C H I V D E R E V A N G E L I S C H - L U T H E R I S C H E N

KIR-

CHENGEMEINDE RÖDINGHAUSEN). 1 5 4 Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. G e m e i n d e R ö d i n g h a u sen (1909-1928), Protokoll v o m 2 3 . 1 . 1913 u n d „ Z u m G e d ä c h t n i s " , 1913 (EBD.). Vgl. auch

W E S T F Ä L I S C H E S S O N N T A G S B L A T T FÜR S T A D T U N D L A N D , 1 . 1 . 1 9 3 3 , S . 5 8 7 . 1 5 5 E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 198; Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. G e m e i n d e Rödinghausen (1909-1928), „ Z u m G e d ä c h t n i s " , 1913 (ARCHIV

DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN K I R C H E N G E M E I N D E R Ö D I N G H A U S E N ) . 156

E . MÖLLER, Befragungsprotokolle ehemaliger K o n f i r m a n d e n Müllers (Ms.).

Gemeindepfarramt in Rödinghausen

39

den beiden Pfarrern - in politischen Fragen herrschte Einmütigkeit zwischen ihnen. Ein Großteil der Rödinghauser verdiente damals seinen Lebensunterhalt außer durch eine bescheidene Landwirtschaft durch die Herstellung von Zigarren in Heimarbeit bzw. in Filialbetrieben. Unter diesen Zigarrenarbeitern faßte die S P D seit Anfang des Jahrhunderts immer mehr Fuß, im Jahre 1912 erzielte sie bei der Reichstagswahl im Amt Rödinghausen mehr als 3 5 % der Stimmen 1 5 7 . Ihr schärfster Konkurrent war die Christlich-Soziale Partei, die es bei derselben Wahl immerhin auf etwa 2 0 % der Stimmen brachte 1 5 8 . Pfarrer Hartmann führte nun einen regelrechten Kreuzzug gegen die Sozialdemokratie und schreckte dabei auch nicht vor der Drohung mit gerichtlicher Anklage und Kirchenzucht bzw. dem tatsächlichen Ausschluß vom Abendmahl zurück. Müller unterstützte seinen Amtsbruder in seinem Kampf gegen S P D und Gewerkschaften tatkräftig 1 5 9 . Dabei befand er sich im übrigen im Einklang mit dem altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrat, der z . B . im Jahre 1890 die Geistlichen in einem Erlaß aufgefordert hatte, die Sozialdemokratie „in freien Versammlungen, verbunden mit Rede und Gegenrede", zu bekämpfen 1 6 0 . Der von Ernst Brinkmann bereits zitierte offizielle „Jahresbericht der Gemeinde Rödinghausen" für das Jahr 1909, den Müller verfaßte, beschäftigt sich zu einem Großteil mit den angeblich verderblichen Folgen der „scharfen" sozialdemokratischen „Verhetzung", die, so Müller, selbst bei den Mitgliedern der christlichen Vereine Erfolg gezeitigt habe. Die Ursache für diesen Erfolg sah Müller nicht in sozialen Problemen, sondern darin, „daß bei manchen Christen ein großer Mangel an innerer Einsicht u[nd] Erkenntnis vorhanden ist", sowie in dem „verderblichen Werk" der „jüdisch-liberalen Presse in unauffälligem Gewand" und der „Zeitungen der Berufsorganisationen", deren Absichten der einzelne nicht ohne weiteres durchschaue. Er erklärte, man begegne der „sozialdemokratischen Agitation" „nicht ohne Erfolg" durch „rechte Aufklärung", „öffentlich in der Predigt und in der Stille im persönlichen Umgang" 1 6 1 . Bereits in Rödinghausen galt Müller als talentierter Redner. Karl Stallmann, 1914 Müllers Konfirmand, erinnerte sich: „Pastor Müller hat eigentlich nie außerhalb der Kirche öffentlich gesprochen. Einmal aber, bei einer nationalen Gedenkfeier, da fiel ein Redner aus, und alle sagten: ,Pastor Müller soll sprechen.' Müller zögerte zunächst, dann erbat er sich zwanzig Minuten Bedenkzeit und Schloß sich allein in einer Scheune ein. Es dauerte 157

R . BOTZET, Ereygnisse, S. 143, vgl. auch EBD., S. 182.

158

F . NIPKAU,Traditionen, S. 387.

159

Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. Gemeinde Rödinghau-

sen ( 1 9 0 9 - 1 9 2 8 ) , Protokoll v o m 2 . 3 . 1910 und Gemeindechronik Rödinghausen (ARCHIV DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHENGEMEINDE RÖDINGHAUSEN); R . BOTZET,

Ereygnisse,

S. 143. 160

A . V O G T , Religion, S. 171.

161

L . M ü l l e r , Jahresbericht der Gemeinde Rödinghausen [für das Jahr 1909], 1910 ( L K A

BIELEFELD, 4 - 1 3 / V , B d . 1,28). Vgl. E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 199.

40

J u g e n d , A u s b i l d u n g , G e m e i n d e p f a r r a m t (1883-1914)

auch tatsächlich nur zwanzig Minuten, bis er wieder herauskam. Dann hat er eine Rede geschwungen, die war aber eins a ! " 1 6 2 Vermutlich handelte es sich um die Sedanfeier am 2. September 1910, als Müller der Rödinghauser Schulchronik zufolge als „Vertreter der jüngeren Generation . . . ein Hoch dem geeinten Deutschen Vaterlande (brachte)" 1 6 3 . In den Jahren 1910 bis 1913 bemühte Müller sich des öfteren, sich beruflich zu verbessern. Er bewarb sich - erfolglos - um Pfarrstellen in der Schweiz 1 6 4 , in Cuxhaven, Buenos Aires und - zweimal - in Hamburg 1 6 5 . Im Zusammenhang mit seiner Bewerbung um die Auslandspfarrstelle in Argentinien schrieb der damalige westfälische Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner eine Stellungnahme. Dieses bereits bei Ernst Brinkmann abgedruckte Dokument sei hier wegen der eindrücklichen Charakterisierung Müllers durch seinen Vorgesetzten und wegen der späteren Bedeutung Wilhelm Zoellners im Kirchenkampf - als Vorsitzender des Reichskirchenausschusses wurde er 1935 gleichsam Nachfolger des Reichsbischofs Ludwig Müller - noch einmal zitiert: „Müller ist, wie angegeben [bezieht sich auf eine Stellungnahme von Müllers Superintendenten Höpker], gewandt und sicher im Auftreten, Redebegabung fehlt ihm nicht. Doch sind Worte und Gedanken bei ihm nicht immer gleich bedeutend u[nd] gleich bedeutsam. Die Landgemeinde genügt ihm nicht. Im Anfang glaubte er, es würde ihm sicher nicht fehlen, daß ein Mann seiner Begabung rasch von einer Stadt geholt würde. Das ist nun nicht eingetroffen. Deshalb wohl der Zug in die Ferne. Trotzdem befürworten wir die Aussendung. Er wird den draußen an ihn zu stellenden Anforderungen genügen können." 1 6 6 Müller zog dann allerdings die Bewerbung für Buenos Aires „mit Rücksichtnahme auf den Gesundheitszustand seiner Gattin" wieder zurück 1 6 7 . Daß Müller das ländliche Pfarramt tatsächlich nicht genügte, wie Wilhelm Zoellner es behauptete, beweist eine Äußerung Müllers vom November 1937: Er entschuldigte gleichsam seine Tätigkeit als Landpfarrer damit, daß er „Luftveränderung nötig (hatte)" 1 6 8 . Kurioserweise begründete er im Jahre 1910 seine Bewerbung um eine Pfarrstelle in der Schweiz beim Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin ebenfalls mit der Notwendigkeit einer Luftveränderung (wegen einer Lungenerkrankung sei1 6 2 Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6 . 2 . 1990 (nach stichwortartiger Mitschrift). 163

R . B O T Z E T , E r e y g n i s s e , S . 137.

L . M ü l l e r an E O K Berlin, 3 1 . 3 . 1910 und E O K Berlin an K o n s i s t o r i u m Münster, 3 . 6 . 1910 ( E Z A BERLIN, 7/6624). 1 6 5 E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 199 f. 1 6 6 Zoellner an E O K Berlin, K o n z . 3 0 . 4 . 1912 ( L K A BIELEFELD, 2-4995); E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 199. 1 6 7 E O K Berlin an K o n s i s t o r i u m Münster, 12. 7. 1912 ( L K A BIELEFELD, 2-4995); E . BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 199. 1 6 8 L . M ü l l e r , R e d e : D e r R u f G o t t e s an die Deutschen, 17.11. 1937 ( L K A STUTTGART, Dl/118). 164

Gemeindepfarramt in Rödinghausen

41

ner Frau) 169 . Müller mußte sich freilich belehren lassen, daß dem preußischen Oberkirchenrat „die Besetzung von Pfarrstellen in der Schweiz nicht zusteht" 170 . Erst im Frühjahr 1914 hatte Müller mit einer Bewerbung als Marinepfarrer Glück. Ende April 1914 verließ er Rödinghausen 171 . Außer den Erfahrungen seines ersten und einzigen Gemeindepfarramtes nahm er eine Leidenschaft für Zigarren aus diesem Tabakort mit. Seinen für seine Rödinghauser Zeit charakteristischen Spitzbart legte er später ab 172 .

169

L . M ü l l e r an E O K B e r l i n , 3 1 . 3 . 1 9 1 0 ( E Z A BERLIN, 7 / 6 6 2 4 ) .

170

EOK Berlin an Konsistorium Münster, 3.6. 1910 (EBD.). E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 200. Interview des Verf. mit Karl Stallmann (Rödinghausen-Ostkilver), 6 . 2 . 1 9 9 0 .

171 172

KAPITEL 2

D E R M I L I T Ä R P F A R R E R (1914-1933)

1. In Wilhelmshaven und Flandern Müllers Weggang aus Rödinghausen geschah recht plötzlich 1 . In einem auch für die damaligen Verhältnisse sehr devot formulierten Brief an Zoellner vom 21. März 1914 teilte er mit, daß er am letzten Sonntag „vor dem Herrn Feldpropst gepredigt" habe und bereits am 15. April, zunächst auf Probe, eine Stelle als Marinepfarrer in Kiel antreten könne. Er bat um Urlaub und um Mithilfe bei der Suche nach einem Vertreter für sein Rödinghauser Pfarramt 2 . Seinen Dienst als Marinepfarrer auf Widerruf begann er dann allerdings erst am 1. Mai, und zwar auch nicht in Kiel, sondern in Wilhelmshaven. Einem handschriftlichen tabellarischen Lebenslauf Müllers zufolge fuhr er ab dem 31. Mai auf der „S.M.S. Westfalen" mit 3 . In den Besatzungslisten des Schiffes aus dieser Zeit ist er allerdings nicht verzeichnet 4 , er scheint also nur außerplanmäßig und kurzfristig an Bord gewesen zu sein. Nach Ablauf der dreimonatigen Probefrist wurde Müller im August - der Erste Weltkrieg hatte begonnen - eine feste Anstellung als Marinepfarrer zugesichert. Am 24. August kündigte er deshalb in einem Schreiben an den Superintendenten in Kirchlengern sein Rödinghauser Pfarramt 5 . Seiner alten Gemeinde teilte er die Kündigung am selben Tage in einem kurzen Telegramm mit, da „Ernennung Marinepfarrer soeben eingetroffen" 6 . Diese Formulierung war sachlich nicht ganz korrekt, denn noch war er ja nominell Pfarrer in Rödinghausen. Bereits am 26. August wurde ihm dann allerdings vom Presbyterium Rödinghausen „unter dankbarer Anerkennung seiner treuen Wirksamkeit in der Gemeinde die . . . geforderte Entlassung aus dem II. Pfarramt erteilt zum 31. August" 7 . Am 1. September erfolgte die Ernen1

Vgl. E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 200.

2

L K A BIELEFELD, 2 - 4 9 9 5 .

3

E Z A BERLIN, 1 / C 1/40 (Lebenslauf s.d.).

4

B A FREIBURG, R M 9 2 / 1 8 8 0 und 1881.

5

L K A BIELEFELD, 2 - 4 9 9 5 .

6

Sitzungsberichte der Kirchlichen Vertretungen der evang. luther. Gemeinde Rödinghausen

( 1 9 0 9 - 1 9 2 8 ) , P r o t o k o l l v o m 2 6 . 8 . 1914 (ARCHIV DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN

GEMEINDE RÖDINGHAUSEN). D o r t wird das Telegramm Müllers wörtlich zitiert. 7

EBD.

KIRCHEN-

In Wilhelmshaven und Flandern

43

nung Müllers zum Marinepfarrer durch den Marinepropst 8 . Er war zunächst für das I. Geschwader in Wilhelmshaven (Pfarramt IV) zuständig 9 . Eine „förmliche Übergabe der Pfarrsachen" in Rödinghausen und eine Verabschiedung von seiner Rödinghauser Gemeinde konnten wegen des begonnenen Krieges - Müller befand sich auf See - nicht erfolgen 1 0 . Seit dem 24. November 1914 tat Müller Dienst bei der I. Marinedivision in Flandern 1 1 . Er hatte zunächst seinen Sitz in Ostende, wo er im April 1915 ein Marineheim einrichtete 1 2 , und war zuständig für die Seelsorge im Bereich der II. Marinebrigade, der Marine-Infanterie-Brigade und der schweren Korpsartillerie sowie ab Frühjahr 1915 zusätzlich in verschiedenen Marinelazaretten. Sein Arbeitsgebiet umfaßte insgesamt etwa dreißig Predigtstellen. Wegen dieser großen Arbeitsbelastung forderte der Kommandeur der I. Marinedivision in einem Schreiben an das Generalkommando in Brügge vom 5. Mai 1915 dringend die Abkommandierung eines weiteren - dritten evangelischen Pfarrers für seine Division, der hauptsächlich Müller entlasten sollte. Gleichzeitig wurde in dem Schreiben „besonders anerkennend" Müllers ,,aufopfernde[.] und unermüdliche[.] Tätigkeit" hervorgehoben 1 3 . Die Initiative zu diesem Schreiben war offenbar von Müller ausgegangen. Das Antwortschreiben des Chefs des Brügger Generalkommandos, in dem die Bitte um Abkommandierung eines weiteren evangelischen Pfarrers u.a. mit dem Hinweis auf die noch größere Arbeitsbelastung des - einen - katholischen Marinepfarrers der Division rundherum abgelehnt wurde, wurde Müller urschriftlich unter Rückerbittung zur Kenntnisnahme zugesandt. Auf der Rückseite dieses Antwortschreibens formulierte Müller handschriftlich einen recht energischen, ausführlich begründeten Widerspruch gegen die Ablehnung der nach seiner Ansicht „voll begründeten]" Bitte und bat möglichst um Wiederholung des Gesuches, was aber wohl nicht geschah 1 4 . Im Juni 1915 mußte Müller sich „wegen einer dringenden Operation" beurlauben lassen 15 . Seine Vertretung konnte er vorher offenbar noch selber regeln, er versäumte allerdings wohl eine Abstimmung mit seinen übergeordneten Dienststellen, was ihm anscheinend eine Rüge des Divisionskommandos einbrachte. In einem Schreiben an das Kommando vom 18. September 1915 1 6 rechtfertigte er sich jedenfalls gegenüber dem Vorwurf der „Umge8

E Z A B E R L I N , 7 / 4 2 5 3 , BL. 2 2 7 .

W. ULMENRIED, Müller, S. 8. 1 0 E. BRINKMANN, Müllers Lebensjahre, S. 200. " EBD., S.200, Anm.26; L. Müller, Tabellarischer Lebenslauf, s.d., hds. (EZA BERLIN, 1/C 1/40). 12 Prof. Dr. Hugo Gilbert (Lübeck) an Müller, 6. 8. 1934 (EZA BERLIN, 1/C 4/75). 9

13

B A FREIBURG, R M

14

A n t w o r t s c h r e i b e n v o m 8 . 5 . 1915 (EBD.).

15

Kommandeur der I. Marinedivision (Ostende) an Generalkommando (Brügge), 4 . 6 . 1915

(EBD.). 16

EBD.

120/205.

44

Der Militärpfarrer (1914-1933)

hung des Dienstweges" bei der Regelung seiner Vertretung. Er berief sich auf seine Arglosigkeit und zeigte sich keiner Schuld bewußt. Offenbar war er mit der hierarchischen Struktur des Militärapparates noch nicht vertraut, wie auch seine ungewöhnliche Reaktion auf die Entscheidung des Chefs des Generalkommandos bezüglich der geforderten dritten Pfarrstelle zeigt. Nach Rückkehr aus seinem Genesungsurlaub im Juli 1915 übernahm Müller bei der I. Marinedivision die Seelsorge im Bereich des Ostabschnitts der belgischen Küste mit Sitz in Blankenberghe, wo er in einer am Seedeich gelegenen Villa wohnte 17 . Ob ein Zusammenhang besteht zwischen dieser Versetzung und Müllers Mißachtung des Dienstweges, ist unbekannt, ebenso, ob die Mitte Januar 1916 durch den Marine-Staatssekretär Alfred von Tirpitz verfügte Versetzung Müllers zum Marine-Sonderkommando in der Türkei - der bisherige Pfarrer dort war erkrankt - 1 8 als Sanktion für mangelnde Unterordnung oder im Gegenteil sogar als Aufwertung von Müllers Position zu interpretieren ist. Einem Brief an ihn aus dem Jahre 1935 zufolge war Müller in Flandern durchaus auch an vorderster Front tätig. In dem Brief heißt es, ein Feldgottesdienst Müllers in Middelkerke sei „stark beschossen" worden 19 . Müller berichtete später in seinen Reden verschiedentlich von Erlebnissen im Schützengraben in Flandern, auch vom Erlebnis des Massensterbens an der Front und den dadurch bei vielen verursachten Glaubensanfechtungen 20 . In dem von ihm herausgegeben „Marine-Kalender" für das Jahr 1926 schilderte er eine plötzliche „feindliche Beschießung": „Während wir im Regiments-Geschäftszimmer versammelt waren [um die Trauerfeier einer „Massenbeerdigung" zu besprechen], begann plötzlich eine feindliche Beschießung aus langen Schiffsgeschützen . . . Gleich nach dem ersten Einschlag stürzte mein Bursche bleich und völlig aufgeregt ins Zimmer. Er hatte neben einer Gruppe von Soldaten gestanden, von der gleich 4 Mann durch die Granate zerrissen waren. Der 2. Einschlag lag ganz nahe neben dem Regiments-Geschäftszimmer; die wenigen noch heilen Scheiben zersprangen, ganze Stücke flogen aus der Wand, und wir verholten uns in den Unterstand." 21 Müller selbst scheint durch solche Erfahrungen nicht an der Sinnhaftigkeit des Krieges irre geworden zu sein, bei ihm überwog das Gefühl der soziale Grenzen überschreitenden Frontkameradschaft. Gleichwohl räumte 1 7 Generalkommando (Brügge) an Kommandeur der I. Marinedivision (Ostende), 2. 8. 1915 (EBD.); L. Müller an Verwaltungsamt Nordsee, 4.1. 1921 (BA FREIBURG, RM 26/30). 18 Alfred von Tirpitz (Berlin) an Generalkommando (Brügge), 15.1. 1916 (BA FREIBURG, R M 120/205). 1 9 Curt Roßberg (Werdau) an Müller, 31.10. 1935 (EZA BERLIN, 1 / C 4/77). 2 0 Vgl. z.B. L.Müller, Rede in Stettin, 6.6. 1934 (LKA BIELEFELD, 5,1-758,1); L.Müller, Rede in Stuttgart, 1.10. 1934 (LKA STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.); L.MÜLLER, Ansprache, S. 58; L. Müller, Rede in Gütersloh, 21.2. 1937 (LKA BIELEFELD 5,1-305,3). 2 1 L. MÜLLER, Marine-Kalender 1926, S. 27.

In Wilhelmshaven und Flandern

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er später ein, er habe einmal dem verzweifelten Vater eines gefallenen Soldaten „nichts sagen" können 22 . Im Hinblick auf Müllers Predigtweise in Flandern schrieb ein ehemaliger Hauptmann 1934 in einem Brief an Müller, er habe es damals „als beglückend und beseligend empfunden", daß Müller den Soldaten das Evangelium „gerade so, wie wir es liebhatten und brauchten", gepredigt habe 23 . Müller behauptete später des öfteren, während seiner Tätigkeit als Militärpfarrer im Kriege sei ihm die Sinnlosigkeit der Zersplitterung des deutschen Protestantismus, aber auch der konfessionellen Trennung vor Augen geführt worden 2 4 . Wenngleich er auch auf diese Weise seine zweifellos erst später entwickelten nationalkirchlichen Vorstellungen rechtfertigen wollte, so sind diese Aussagen in ihrem Kern doch wohl durchaus glaubwürdig. Bei der Durchführung der Gottesdienste und der Seelsorge im Kriege wird er wie seine Amtsbrüder tatsächlich immer wieder auf praktische Probleme auf Grund landeskirchlicher und konfessioneller Unterschiede (Liturgie, Lieder, Abendmahl etc.) gestoßen sein. Wegen des hohen Stellenwertes, den er der nivellierenden „Frontkameradschaft" beimaß, wird Müller solche Unterschiede, zumal angesichts der nationalen Hochstimmung im Kriege, wiederholt und zunehmend als Ärgernis empfunden haben. Hinzu kommt, daß die Militärseelsorge im Kaiserreich in wesentlichen Teilen der äußeren Ordnung eine überkonfessionelle Struktur aufwies und daß bei den Militärseelsorgern des ausgehenden Kaiserreiches generell ein tendentiell „überkonfessionelles Bewußtsein" auf Grund dieser Strukturen sowie auf Grund der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Arbeit im politisch-nationalistischen Sinne vorhanden war 25 .

22

L.Müller, Rede in Gütersloh, 21.2. 1937 (LKA BIELEFELD, 5,1-305,3). K.MEIER, Kirchenkampf, Bd. 1, S. 552 hat aus der Tatsache, daß Müllers Kriegseinsatz später von vielen „nicht ganz für voll genommen" wurde, gefolgert, daß Müller „im Grund kein Frontkämpfer" gewesen sei. Dies muß wohl insofern modifiziert werden, als Müller bei einzelnen Kampfhandlungen in der für einen Militärpfarrer üblichen Weise zugegen war. Vgl. hierzu auch unten S. 46ff. Müllers Wirken in der Türkei! O b Müller sich freilich tatsächlich in Flandern „den Namen eines aufopfernden,... keine Gefahr scheuenden Seelsorgers" erwarb, wie W.ULMENRIED, Müller, S. 8 es behauptete, ist fraglich. Wenn Müller später in vermutlich übertriebener Weise seine Kriegserlebnisse schilderte, so ist dies sicherlich nicht außergewöhnlich. 23 Prof. Dr. Hugo Gilbert (Lübeck) an Müller, 6. 8. 1934 (EZA BERLIN, 1/C 4/75). 24 Vgl. u.a. L. Müller, Rede in Stuttgart, 1.10. 1934 (LKA STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.); Rede in Güstrow, 20.2. 1935 (LKA BIELEFELD, 5,1-758,2); Rede in Berlin-Tegel, 18.11. 1936 (EZA BERLIN, 7/1015); Rede in München, 5.5. 1937 (LKA NÜRNBERG, Pers. XXXVI, 39). 25

A . V O G T , R e l i g i o n , S. 1 9 3 , 1 9 5 , 1 9 9 u n d 5 2 8 f .

46

Der Militärpfarrer (1914-1933)

2. In der Türkei Müller reiste nicht sofort nach der Tirpitzschen Verfügung in die Türkei ab, man wartete vielmehr erst das Eintreffen seines Nachfolgers in Flandern ab 26 . Wann er dann tatsächlich aufbrach, ist unbekannt, jedoch wird der Aufbruch wohl noch in den ersten Monaten des Jahres 1916 erfolgt sein 27 . Beim Sonderkommando der Kaiserlichen Marine in der Türkei tat er Dienst auf den Schlachtkreuzern „Goeben" und „Breslau" sowie bei den vor allem bei den Dardanellen und am Bosperus stationierten Landkommandos. Einen Wohnsitz hatte er in Konstantinopel (Cospoli-Jeniköi). Die spärlichen Quellen über Müllers Aufenthalt in der Türkei ergeben ein recht ambivalentes Bild. Einerseits scheint es für ihn eine recht unbeschwerte, bequeme Zeit gewesen zu sein. Ein Amtsbruder, dessen Ehefrau und ein Arzt erinnerten ihn später in Briefen übereinstimmend an die gemeinsamen „schönen Jahre" in Konstantinopel 28 . Bald nach seiner Ankunft in der Türkei konnten auch seine Frau und sein Sohn nach Konstantinopel übersiedeln 29 . Andererseits war Müller aber doch wohl auch in das Kriegsgeschehen verwickelt. Einem Brief an ihn aus dem Jahre 1935 zufolge nahm er gemeinsam mit dem Verfasser des Briefes, vermutlich im Frühjahr 1916, an einer Dardanellenschlacht teil 30 . Am 18. März 1916 hielt Müller gemeinsam mit einem islamischen Geistlichen bei den Dardanellen eine „gottesdienstliche Feier" zum Gedächtnis an eine ein Jahr zuvor stattgefundene Schlacht. Er berichtete über diese Feier, an der sowohl deutsche als auch türkische Soldaten und Offiziere, einschließlich der beiden Dardanellenkommandanten, teilnahmen, später in dem schon erwähnten „Marine-Kalender" für das Jahr 1926, es sei das erste Mal gewesen, „daß ein christlicher und mohammedanischer Gottesdienst gemeinsam abgehalten wurde." Nach dem Bericht bestand Müllers Predigt lediglich aus

2 6 Vgl. den hds. Vermerk vom 2 2 . 1 . 1916 auf dem Schreiben Alfred von Tirpitz (Berlin) an Generalkommando (Brügge), 15.1. 1916 (BA FREIBURG, R M 120/205). 2 7 Müllers Nachfolger war ein vorher in Wilhelmshaven tätiger Militärgeistlicher, dessen Ankunft in Flandern sich nicht allzu lange verzögert haben dürfte (vgl. Anm. 26). In seinem hds. tabellarischen Lebenslauf (EZA BERLIN, 1/C 1/40) gab Müller später an, er sei am 16.1. 1916, also einen Tag nach Abfassung der Tirpitzschen Verfügung, Pfarrer des Sonderkommandos in der Türkei geworden. Demnach müßte die Verfügung bereits vor dem Eintreffen des Briefes (vgl. Anm. 18) am 2 2 . 1 . 1916 (Eingangsvermerk auf dem Schreiben) in Flandern bekannt gewesen sein. Eventuell hatte man von Flandern aus auch die Versetzung Müllers empfohlen. 2 8 Hermann Kieser (Eßlingen) an Müller, 2 8 . 9 . 1933; Clara Kieser (Eßlingen) an Müller, 3 0 . 9 . 1933; Osman Grosholz (Bad Nauheim) an Paula Müller, 2 9 . 4 . 1934 (EZA BERLIN, 1 / C 4/ 79 und 75). 2 9 Lebenslauf Adolf-Ludwig Müllers, s. d. ( E Z A BERLIN, 1/C 4/74). 3 0 Reinhold Hohaus (Berlin) an Müller, 8.11. 1935 (EBD.); vgl. H . DEGENER, Wer ist's? S. 1110, dem zufolge Müller an mehreren Kämpfen in den Dardanellen teilnahm.

In der Türkei

47

einer Schilderung des Kampfes, den die deutschen und türkischen Verbündeten trotz großer Materialunterlegenheit gewonnen hätten 31 . In einer Rede 1937 äußerte er über seine Türkei-Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, die Gebete der Moslems seien „erhebend und feierlich" gewesen. Demgegenüber seien die christlich-orthodoxen Gottesdienste, die er damals ebenfalls kennengelernt habe, „kirmesartige Zeremonien" gewesen. Es seien ihm angesichts dieser Eindrücke Zweifel gekommen, „welche Religion nun die richtige sei" 3 2 . Im Frühjahr 1917 brach in Konstantinopel in einer Kraftfahrabteilung eine Cholera- und Typhusepidemie aus. Nach dem Bericht einer Krankenschwester engagierte Müller sich sehr bei der Seelsorge an den Kranken, ließ sich mit dem Wasserflugzeug der „Goeben" zu Infektionsbaracken bringen, deren Zugang vom Lande aus gesperrt worden war 3 3 . Das mutige, die Gefahr der Ansteckung nicht scheuende Verhalten wurde später in der DC-Zeitung „Deutscher Sonntag" propagandistisch für den kirchenpolitisch unter starken Druck geratenen Reichsbischof ausgeschlachtet. Dem „Deutschen Sonntag" zufolge kümmerte sich Müller nicht nur um die deutschen Kranken, sondern auch um die - verbündeten - türkischen Kranken islamischen Glaubens und erhielt dafür den türkischen Halbmondorden mit Stern 3 4 , den er später stets trug und der „viel belacht" wurde 3 5 . Es ist sehr möglich, daß er bei der Gelegenheit auch sein Eisernes Kreuz erster Klasse verliehen bekam 3 6 . Den türkischen Halbmond, dessen Inschrift: „Tod allen Christenhunden" lauten soll, trug übrigens gelegentlich auch Müllers späterer Gegenspieler Martin Niemöller 3 7 , dessen Biographie überhaupt in mancherlei Hinsicht in der Zeit vor 1933, wie schon James Bentley bemerkt hat, derjenigen Müllers „verblüffend ähnlich" ist 3 8 . Nach Bentley hatten die beiden Männer sich bereits im Kriege kennengelernt. Niemöller habe, so Bentley, Müller damals

31

L . M Ü L L E R , M a r i n e - K a l e n d e r 1926, S. 25.

32

L. Müller, Rede in Bad Oeynhausen, 15.2. 1937 ( L K A BIELEFELD, 5,1-305,3).

33

K ä t h e F ö r s t e r ( K ö l n ) an Müller, 16.10. 1935 ( E Z A BERLIN, 1 / C 4/80).

34

A r t . : D e m R e i c h s b i s c h o f z u m G r u ß ! in: DEUTSCHER SONNTAG, S t u t t g a r t , 2 3 . 1 2 . 1934. I m

Februar 1935 berichtete Müller in einer Rede in Güstrow von einer schweren und gefährlichen Fiebererkrankung, die er sich bei einem Krankenbesuch im Lazarett zugezogen habe (L. Müller, Rede in Güstrow, 20.2. 1935 - L K A BIELEFELD, 5,1-758,2). D a jedoch weder hier eine Verbindung zu Konstantinopel noch in den Quellen über Müllers Zeit in Konstantinopel eine Verbindung zu der Erkrankung hergestellt wird, erscheint ein Zusammenhang mit der Epidemie in Konstantinopel unwahrscheinlich. 3 5 Vgl. K . SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, Text zur Abbildung 89. 36

A . D E G E N E R , W e r i s t ' s ? S . 1110.

Eisenhardt, Bericht über die Ereignisse in Martin Niemöllers Pfarrhaus in Berlin-Dahlem am 25.1.1934, 9.10. 1958 ( L K A DARMSTADT, 35/34). 37

38

J . BENTLEY, N i e m ö l l e r , S . 67.

48

D e r Militärpfarrer ( 1 9 1 4 - 1 9 3 3 )

schon „als einen Opportunisten mit wenigen religiösen Grundsätzen zu verachten (gelernt)" 39 . Auf Müllers Seelsorge an den Typhus- und Cholerakranken nahm im Dezember 1933 auch sein theologischer Berater Emanuel Hirsch in einer Andacht im DC-Blatt „Evangelium im Dritten Reich" bezug. Hirsch führte u.a. aus, Müller habe ihm erzählt, unter den Sterbenden im Seuchenlazarett seien etliche gewesen, die sich an Diebstählen von Autoteilen beteiligt und angesichts ihres bevorstehenden Todes unter großen Gewissensqualen gelitten hätten. Auf Hirschs Frage, ob Müller habe helfen können, habe dieser geantwortet, „er habe ihre ganze seelische Not [die der Diebe] mit ihnen durchlebt in eigener Erschütterung. ,Da habe ich [Müller] ihnen helfen können und zeigen können, daß es in der Liebe Gottes einen Weg zur Freiheit gibt selbst in solcher Lage .. ."' 4 0 . Im Juni 1917 begleitete Müller den Schlachtkreuzer „Breslau" auf einer „Kriegsfahrt" durch das Schwarze Meer, bei der ein gegnerischer U-BootStützpunkt zerstört wurde und die Donaumündung und die Fahrstraße vor Odessa vermint wurden. Anschließend wurde die „Breslau" von russischen Schiffen verfolgt und beschossen, erreichte aber unversehrt den Hafen 41 . Im Januar 1918 erlebte Müller während eines Seegefechts vor der Insel Imbros den Untergang der auf eine Mine gelaufenen „Breslau" mit, bei dem mehr als zwei Drittel der Besatzung ums Leben kamen. Müller befand sich jedoch wohl nicht mit an Bord der „Breslau", wie es der Brief der Tochter eines gefallenen Deckoffiziers der „Breslau" an ihn aus dem Jahre 1933 nahelegt 42 . Er befand sich dem an ihn gerichteten Schreiben eines ehemaligen Matrosen aus dem Jahre 1935 zufolge vielmehr an Bord der sich in unmittelbarer Nähe der „Breslau" befindlichen „Goeben" 4 3 . Anstatt die Schiffsbrüchigen der „Breslau" aufzunehmen, zog sich die „Goeben" aus Furcht, selbst auf eine Mine zu laufen oder beschossen zu werden, sofort zurück, weshalb viele der Besatzungsmitglieder der „Breslau" nicht mehr rechtzeitig aus dem eiskalten Meer geborgen werden konnten. Bei der anschließenden Flucht der „Goeben" vor einer befürchteten Verfolgung durch englische Schiffe lief die „Goeben" auf Grund 44 . Müller wurde von einem deutschen Torpedoboot

39

EBD.

40

E m a n u e l H i r s c h , A r t . : Die Freiheit, in: EVANGELIUM IM DRITTEN REICH, 3 . 1 2 . 1 9 3 3 .

41

Vgl. L . MÜLLER, Marine-Kalender 1926, S. 5 9 .

42

Charlotte B ö h m e (Rüstringen) an Müller, 2 6 . 1 2 . 1933 ( E Z A BERLIN, 1 / C 4 / 7 4 ) .

43

Alfred Tannenberger (Kirchhain) an Müller, 3 0 . 5 . 1 9 3 5 ( E Z A BERLIN, 1 / C 4 / 7 8 ) .

44

Z u den Ereignissen während des Seegefechtes v o r I m b r o s im Januar 1918 vgl. H . LOREY,

Krieg, S. 3 3 0 - 3 4 9 und die einschlägigen A k t e n B A FREIBURG, R M 3 / 3 4 2 9 ; 9 2 / 3 9 4 4 und 3 9 4 9 . Vgl. auch die Berichte Müllers über den U n t e r g a n g der „Breslau" und die Schlacht in: L . MÜLLER, Marine-Kalender 1926, S. 7 ; Marine-Kalender 1927, S. 5 und 3 3 . Die „unterlassene Hilfeleistung" der „ G o e b e n " hatte n o c h ein gerichtliches N a c h s p i e l ; es w u r d e jedoch niemand v e r u r teilt.

Die Zäsur 1918

49

aufgenommen und harrte während der nächtlichen Rückfahrt dieses Bootes auf der Kommandobrücke aus 45 . Am 6. November 1918, also wenige Tage vor dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und dem Kriegsende, wurde Müller zum Divisionspfarrer der Mittelmeerdivision befördert 4 6 . Er befand sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon nicht mehr in der Türkei, oder er war zumindest dabei, die Türkei zu verlassen. Nachdem die mit Deutschland verbündete Türkei bereits Ende Oktober 1918 die Waffen niedergelegt hatte, zogen sich nämlich die deutschen Orienttruppen - und mit ihnen Müller - zunächst über das Schwarze Meer nach Sewastopol auf der Krim-Halbinsel zurück, die wie die gesamte Ukraine von deutschen Truppen besetzt war. Nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens durch die deutsche Regierung am 11. N o vember 1918 traten diese Truppen den Rückzug an. Dieser Rückzug, an dem die ursprünglich in der Türkei stationierten Truppen und Müller teilnahmen, gestaltete sich deshalb als besonders schwierig, weil die Bolschewisten in der seit ein paar Monaten unabhängigen Ukraine während des Abzugs der Deutschen Fuß zu fassen versuchten, was wiederum ukrainische Separatisten und Konterrevolutionäre zu verhindern sich bemühten 4 7 . Angesichts des herrschenden Chaos in der Ukraine kam es zudem dort zu zahlreichen Bandenbildungen 4 8 . Wenn Müller später von „schwerer, übler Flucht ... durch Südrußland [gemeint war wohl die Ukraine] in die Heimat" sprach, bei der er zum ersten Male „rote Fahnen und Bolschewistenherrschaft" gesehen habe, so entsprach das wohl durchaus den Tatsachen 49 . Wie in Flandern und schon in Rödinghausen scheint Müller auch in der Türkei mit seinen Predigten gut angekommen zu sein. Ein ehemaliger Maat der „Goeben" schrieb ihm 1933, alle hätten in der Türkei seine „erbauungsvollsten Reden" gern gehört, die Grabrede für einen Kameraden sei ihm „unvergeßlich" 50 .

3. Die Zäsur 1918 Müller dürfte, wie er es auch später andeutete 51 , während seines Türkeiaufenthaltes kaum etwas von den sozial-ökonomischen, politischen und stimmungsmäßigen Änderungen in Deutschland während und vor allem am 45 46 47

Alfred Tannenberger (Kirchhain) an Müller, 30.5. 1935 (EZA BERLIN, 1/C 4/78). L. Müller, Tabellarischer Lebenslauf, s. d., hds. (EZA BERLIN, 1/C 1/40). Art.: Zum Abschied des ev. Stationspfarrers Ludwig Müller, in: WILHELMSHAVENER

ZEITUNG, 2 8 . 8 . 1 9 2 6 ; v g l . K . D . ERDMANN, W e l t k r i e g , S. 2 1 7 - 2 2 3 u n d 2 3 7 . 48

49

V g l . B A FREIBURG, R M 4 1 / 1 6 .

L. MÜLLER, Minden-Ravensberg, S. 1; vgl. L. Müller, Rede in Friedrichshafen, 16.5. 1935 (LKA STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.). 50 Wilhelm Schröder (Magdeburg) an Müller, 30.9. 1933 (EZA BERLIN, 1/C 1/44). 51 L. Müller, Rede in Ulm, 13.5.1935 (LKA STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.).

50

D e r Militärpfarrer (1914-1933)

Ende des Krieges mitbekommen haben. Vom Ausbruch der deutschen „ N o vemberrevolution" erfuhr er nach eigenen Angaben erst, als er sich beim Rückzug bereits in der Nähe des polnischen Bialystok befand. Als er dann schließlich Deutschland erreicht und „überall die rote Flagge" gesehen habe, sei es ihm „durchs H e r z " gegangen 5 2 . Der Schock über den verlorenen Krieg und den Zusammenbruch des Kaiserreiches - und damit der eigenen Ideale wird für den Orientheimkehrer noch weitaus größer gewesen sein als für die meisten anderen Offiziere, Bildungsbürger, Pfarrer, die bis zuletzt mehrheitlich vom Sinn des Krieges und einem bevorstehenden deutschen Sieg sowie von der Notwendigkeit und Legitimität der alten monarchischen Ordnung überzeugt waren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß, wie Arnold Vogt es aufgezeigt hat, die Militärgeistlichen im Kaiserreich des letzten Wilhelm massiv und systematisch „zur ideologischen Bekämpfung revolutionärer oder liberaler Ideen" und besonders „als Kampfmittel g e g e n . . . die Sozialdemokratie" eingesetzt wurden 5 3 . Die Intensivierung der Militärkirchenpolitik in jener Zeit geschah, so Vogt, primär aus diesen innenpolitischen Gründen 5 4 . Der preußische Feldpropst Max Ernst Ferdinand Wölfing beklagte in einer Verfügung von 1916 die Praxis, „daß namentlich jüngere in der Heeresseelsorge stehende Geistliche in ihren Predigten und Ansprachen die Verkündigung des Evangeliums gegenüber vaterländischen Gedanken zurücktreten lassen" 5 5 . Der historische Einschnitt 1918 markiert, wie er es später selbst immer wieder betonte, auch in Müllers Leben eine tiefe Zäsur. Er akzeptierte weder die Tatsache der militärischen Unterlegenheit Deutschlands noch die Tatsache der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Deutschland als Gründe für den Umschwung. Ganz im Sinne der „Dolchstoßlegende" war er davon überzeugt, daß das an sich heldenhafte, durch den Krieg freilich zermürbte, „Volk von so viel heiligem Tun, von so viel Einsatz, von so viel Größe" lediglich das Opfer einer kleinen Clique egoistischer „Schieber" und „Schufte" geworden sei, die er dann allesamt als Juden identifizierte („Leute, denen man an der Nase ansah, daß sie keine Deutschen waren") 5 6 , so wie er überhaupt den Geist der Weimarer Republik mit dem „jüdischen Geist" gleichsetzte 57 : „Mir ist damals deutlich geworden, daß der Hauptfeind der Jude ist." 5 8 Müller räumte allerdings auch einmal ein, die „Führerschaft" in 52

L . Müller, Rede in Friedrichshafen, 16.5. 1935 (EBD.).

53

A . VOGT, Religion, S. 170.

EBD., S. 168. Zit. nach EBD., S. 551. 5 6 L . M ü l l e r , Rede in München, 5 . 5 . 1937 ( L K A NÜRNBERG, Pers. X X X V I , 39); vgl. u.a. auch L. Müller, Rede in Friedrichshafen, 16.5. 1935 ( L K A STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.). 5 7 L . M ü l l e r , Rede in Stuttgart, 1.10. 1934 (EBD.); vgl. u.a. auch Rede in Stettin, 6 . 6 . 1934 ( L K A BIELEFELD, 5,1-758,1); Rede in U l m , 13.5. 1935; Rede in Friedrichshafen, 16.5. 1935 ( L K A STUTTGART, 115 b V/1935 Altreg.). 58 L . Müller, Rede in Crailsheim, 12.5. 1935 (EBD.). 54

55

Die Zäsur 1918

51

Deutschland vor dem Zusammenbruch sei „schlapp und morsch" gewesen 5 9 , womit er vermutlich weniger den Kaiser und die Militärs als vielmehr die Regierungen von Theobald von Bethmann Hollweg bis Max von Baden meinte. Die eklatanten Versorgungsengpässe in den letzten Kriegsjahren in Deutschland bagatellisierte er zu dem Problem „um schlechten Kaffee oder schwaches Bier" 6 0 . Die tiefe Ablehnung gegenüber dem neuen deutschen Staat hat er beibehalten. Dabei mischte sich die Trauer über den Zusammenbruch des Alten mit Modernitätsangst und Kulturpessimismus angesichts der technischen Entwicklung 6 ' und angesichts der allmählichen Auflösung der bürgerlichen Normen des 19. Jahrhunderts in einer zunehmend offener werdenden Gesellschaft, die er schlicht als Dekadenz bzw. völligen Sittenverfall empfand: „In den Nachkriegs jähren ist bei uns überall jüdischer Geist eingedrungen. Kino, Theater, Presse, Kirche - alles war vom Judentum durchdrungen. Der Jude wollte auch den letzten Rest von Scham den Deutschen aus dem Herzen reißen." 6 2 Eine wirkliche intellektuelle, differenzierende Auseinandersetzung mit liberalem, demokratischem und marxistischem Gedankengut suchte Müller zweifellos nicht. Zwar behauptete er u. a. in einer Rede im Mai 1935, er habe nach dem Umsturz 1918 „angefangen, alle die Schriften zu studieren, die hinter der Bewegung standen, die nun in Deutschland die Herrschaft hatte", er offenbarte jedoch gleich selbst die ausschließlich irrationalen, auf primitivem Antisemitismus beruhenden Motive seiner Einstellung, wenn er in der Rede, die Bilanz seines angeblichen Schriftenstudiums ziehend, fortfuhr: „Was sind denn nun die Gedanken der Marxisten, worauf begründen sie sich, wer ist der eigentliche Vater all [!] dieser Ideen? Und da wurde mir klar, daß dieser Karl Marx, nach dem wir heute noch die marxistische] Bewegung nennen, nicht ein Mann war, der aus deutschem Blut stammte, sondern daß gerade der ein Vollblutjude gewesen ist, der durch seinen Werdegang gerade Deutschland bis aufs Blut haßte." 6 3 Da auch diese Äußerung Müllers, wie seine bereits vorher zitierten antisemitischen Deutungen der Ergebnisse der „Novemberrevolution", aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, sind natürlich Zweifel geboten, ob Müller tatsächlich, wie er es selbst behauptete, schon in der Zeit unmittelbar nach 1918 so dachte. Antisemitische Äußerungen Müllers sind jedoch auch 59

L . Müller, Rede in Stettin, 6 . 6 . 1934 ( L K A BIELEFELD, 5 , 1 - 7 5 8 , 1 ) .

60

A r t . : Reichsbischof Ludwig Müller in Halle, in: MITTELDEUTSCHLAND/SAALE-ZEITUNG,

2 7 . 6 . 1934. 61

Vgl. etwa L . M ü l l e r , Rede in Berlin-Tegel, 1 8 . 1 1 . 1936 ( E Z A BERLIN, 7 / 1 0 1 5 ) .

Dort

äußerte Müller sich naiv-kritisch über die m o d e r n e Maschinisierung. 62

L . Müller, Rede in Günzenhausen, 3 . 1 2 . 1941 ( L K A NÜRNBERG, L K R I I , 2 4 6 , B d . 9 ) ; vgl.

auch L . MÜLLER, Minden-Ravensberg, S. 2. 63

L . Müller, Rede in Friedrichshafen, 1 6 . 5 . 1935 ( L K A STUTTGART, 115 b V / 1 9 3 5 Altreg.).

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D e r Militärpfarrer ( 1 9 1 4 - 1 9 3 3 )

bereits für die Zeit vor 1933 (s.u.) und, freilich in weniger scharfer Form, für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg 6 4 bezeugt, so daß die von Müller hergestellte Verbindung zwischen den von ihm im Zusammenhang mit der „Novemberrevolution" empfundenen Mißständen und dem Judentum durchaus ohne Beeinflussung durch die Nationalsozialisten möglich erscheint. So sehr sich Müllers „Analyse" des Umbruchs 1918 auch mit nationalsozialistischen Anschauungen deckt, so behielt er doch wohl während der gesamten Epoche der Weimarer Republik eine durch und durch monarchistische Gesinnung. Selbst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung blieb er dem ehemaligen Kaiserhause treu. Ahnlich wie schon Paul von Hindenburg nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten hielt Müller es beispielsweise nach seiner Wahl zum Reichsbischof im September 1933 für „eine selbstverständliche Pflicht", dem exilierten Kaiser, den er mit „Eure Majestät" anredete, „ehrerbietigst" von seiner Berufung „Meldung zu erstatten" und um eine Audienz für einen Antrittsbesuch zu bitten 6 5 . Für den 14. November 1933 wurde in Berlin ein Treffen Müllers mit der Ehefrau Wilhelms vereinbart 6 6 . Auch mit Prinz August Wilhelm von Preußen hatte Müller nach 1933 offenbar Kontakt 6 7 . Sein Büro als Reichsbischof schmückte ein Porträt des Ex-Kaisers 6 8 . Auf Grund von Befragungsprotokollen, die heute leider nicht mehr auffindbar sind, kam Hans Buchheim bereits 1953 - ganz im Gegensatz zur Auffassung von Heinrich Schmid 1947 - zu dem Ergebnis, daß Müller zu den Nationalsozialisten „ideologisch eigentlich nicht paßte", sondern vielmehr im damaligen Sinne konservativen, d.h. monarchistisch-obrigkeitsstaatlichen, nationalistischen Kreisen zuzurechnen gewesen sei 6 9 . Was den Antisemitismus anbetrifft, dem auch Müller anhing, so ist oft vergessen worden, daß dieser ja keineswegs nur der Nazi-Partei eigen war, sondern in der Zeit nach 1918, in der „Sündenböcke" gesucht wurden, in weiten Bevölkerungskreisen, in denen er latent schon seit längerem vorhanden war, einen Aufschwung und eine Radikalisierung erfuhr. 64

Vgl. oben Kap. 1 , S . 3 9 .

65

REICHSARCHIV UTRECHT, 1 4 / 2 6 3 ; auszugsweise abgedruckt in C W 1934, Sp. 5 2 3 f .

-

Wilhelm II. vermerkte neben Müllers Bitte, seine „Meldung persönlich wiederholen" zu dürfen, „ja." - F ü r den Hinweis auf diesen Brief v o m 3 1 . 1 0 . 1933 danke ich H e r r n C h r . Welling, Lüdinghausen. 66

O b e r s t v o n Giese (Berlin) an Müller, 2 3 . 1 0 . 1933 und Müller an v o n Giese, 1.11. 1933

( E Z A BERLIN, 1 / C 4 / 7 9 ) . 67

K . SCHOLDER, Kirchen, B d . 1, Abbildung 89.

68

Vgl. unten Kap. 4, S. 155.

69

H . SCHMID, Wetterleuchten, S. 3 3 ; H . BUCHHEIM, Glaubenskrise, S. 9 3 ; vgl. auch die

Einschätzung v o n W.CONRAD, K a m p f , S . 2 3 . Z u den Befragungsprotokollen, auf die B u c h heim sich stützte, teilte mir das Institut für Zeitgeschichte ( M ü n c h e n ) am 1 7 . 1 0 . 1989 mit, daß die fraglichen Quellen t r o t z intensiver Suche nicht m e h r ausfindig zu m a c h e n seien.

Die Zäsur 1918 Der 3eid?sbifd?of

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