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German Pages 343 [344] Year 2016
Regularität und Irregularität in Phonologie und Morphologie
Lingua Historica Germanica
Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Band 13
Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.
Regularität und Irregularität in Phonologie und Morphologie
Diachron, kontrastiv, typologisch Herausgegeben von Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke
ISBN 978-3-11-048506-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048609-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048538-7 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
| „alle grammatischen ausnahmen scheinen mir nachzügler alter regeln, die noch hier und da zucken, oder vorboten neuer regeln, die über kurz oder lang einbrechen werden.“ Jacob Grimm (1847)*
Inhalt Vorwort | IX Frans Plank Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 1 Livio Gaeta Irregularität und Systemangemessenheit | 29 Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke Motivierungsstrategien und Schemabildung | 47 Rüdiger Harnisch Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität und Prozeduren zur Bemessung ihrer Anteile | 79 René Schiering Zur Entstehung von irregulärem Wortakzent: Morphologisierung im Türkischen | 101 Jan Henning Schulze Koartikulationskompensation und Irregularität | 115 Jessica Nowak Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben im Deutschen | 127 Damaris Nübling Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 153 Peter Rosenberg Regularität und Irregularität in der Kasusmorphologie deutscher Sprachinselvarietäten (Russland, Brasilien) | 177 Thomas Menzel und Gerd Hentschel Zu Pronominalparadigmen in Kontaktvarietäten | 219 Renata Szczepaniak Vom Zahlwort eins zum Indefinitartikel ein(e) | 247
VIII | Inhalt
Elke Ronneberger-Sibold, Mir Kamaladin Kazzazi und Stefanie Potsch-Ringeisen Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität | 263 Oliver Teuber Biene, Igel, Biber | 303 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 327
Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands gehen auf einen Workshop mit dem Titel „Prozesse der Regularität und Irregularität in Phonologie und Morphologie“ zurück, den wir im Juni 2009 am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster ausgerichtet haben. Im Zentrum des Workshops stand die Suche nach gemeinsamen Theorieansätzen, Modellen und leitenden Fragestellungen für die Beschäftigung mit Regularitäts- bzw. Irregularitätsphänomenen in unterschiedlichen Bereichen der linguistischen Forschung. Thematische Kernfragen waren dabei u.a.: – Wie entsteht Irregularität, warum und unter welchen Bedingungen kann sie sich erhalten und welche Faktoren sorgen für ihren Abbau? – Welche Bedeutung kommt dem Sprach(en)kontakt bei der Entstehung von Irregularität zu? – Welche Rolle spielt die Variation bei der Etablierung irregulärer (Teil)Systeme? – Wie wird Irregularität im Erst- und/oder Zweitspracherwerb von Lernern erworben und welche Regularisierungsprozesse nehmen diese dabei vor? – Ist die Dichotomie ‚regulär‘ vs. ‚irregulär‘ bei der Beschreibung sprachlicher Teilsysteme überhaupt angemessen oder sind graduierende Modellüberlegungen adäquater? – Welche Bedeutung hat Irregularität für die Typologie? Ausgangspunkt der sprachwandel- und kontrastiv-typologisch orientierten Diskussion war die Beobachtung, dass jede natürliche Sprache sogenannte irreguläre Formen aufweist und dass das in besonderem Maße am Beispiel von Sprachen des flektierenden (morphosyntaktischen) Typs untersucht und dargestellt wird. Den allgemeinen Kontext, in den die Überlegungen zum Verhältnis von Regularität und Irregularität gestellt wurden, bilden Prozesse des Abbaus, des Ausgleichs zwischen und des Aufbaus von Regularität und Irregularität. Der Fokus der Untersuchungen lag auf phonologischen und morphologischen Phänomenen und konzentrierte sich nicht nur auf die Fixierung von Regularitäten und die Prozesse der Regularisierung, sondern gleichermaßen auf die Entwicklung von Irregularität und Subregularität in sprachlichen (Teil)Systemen und auf ihre jeweilige Motiviertheit. Im Allgemeinen wird angenommen, dass es zwischen irregulären und regulären sprachlichen Erscheinungsformen innerhalb solcher (Teil)Systeme Ausgleichsprozesse gibt, bei denen Irregularität zugunsten von Regularität abgebaut wird. Daneben kann aber danach gefragt werden, ob Irregularitäten selbst zu (morphologischen) Aufbauprozessen führen können? Im Sprachwandel werden sprachliche Elemente eher schrittweise von Veränderung bzw. Übergang erfasst, sodass Sprachen nebeneinander gleichzeitig Neues, Übergehendes und Altes aufweisen. Es lassen sich also zumindest Subregularitäten kategorisieren, die mit einer gewissen Probabilität vom
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Sprachbenutzer angewendet werden, und die zwischen Regularität auf der einen und einer singulären Irregularität auf der anderen Seite angesiedelt sind. Nimmt man also eine Subregularisierung an, bekommt man es mit Skalarem, Graduierbarem zu tun. Das Verhältnis von Regularität und Irregularität phonologischer und morphologischer Prozesse lässt sich nicht ohne Bezugnahme auf die mentale Repräsentation flexionsmorphologischen Wissens beschreiben. Das berührt unmittelbar das generelle Problem, das mit der Annahme von Regeln einhergeht. Regeln sind als operationalisierbare, heuristische Instrumente eingeführt, sie sind als grammatische Regeln bzw. Regularitäten genuiner Bestandteil der Grammatik. Irregularitäten besitzen diesen Status nicht. Sind sie als Negation von Regeln oder lediglich als Ausnahme von der Regel, somit als Regelloses bzw. Unregelmäßiges zu betrachten? Oder muss die Nutzung des Regel-Ausnahme-Instrumentariums zur angemessenen Modellierung dieses Wissens neu überdacht bzw. überwunden werden? Die Intensität der Diskussion solcher Fragestellungen im Rahmen des Workshops führte 2010 zu dem Vorhaben, diese Auseinandersetzung im Rahmen eines Sammelbandes weiter zu vertiefen und zu fokussieren und für die phonologische und morphologische Theoriebildung fruchtbar zu machen. Um möglichst große Kohärenz und eine unmittelbare Bezugnahme der Beiträge untereinander zu ermöglichen, orientierten wir darauf, die jeweilige grammatiktheoretische Verortung explizit zu machen, wobei sich in Phonologie und Morphologie die Auseinandersetzung mit Aspekten eines markiertheitstheoretischen Konzepts in den Vordergrund schob. Deutlich werden sollte außerdem, ob von einem strikten Regelkonzept ausgegangen wird oder alternative Modelle (Schema/Muster, Präferenzüberlegungen, Analogie/Ähnlichkeit, Prototypikalität, Default etc.) favorisiert werden. Daraus sollte sich das Verhältnis von Regularität und Irregularität ableiten, unterschiedliche Typen von Irregularität (Paradigmenirregularität oder Wortformenirregularität) bedacht bzw. der Frage nachgegangen werden, ob es sich überhaupt um Irregularität oder eher um unterschiedliche Grade von Regularität handelt. Anders als bei einem dichotomischen Verhältnis von Regularität und Irregularität wäre dann von graduellen Übergängen (Regularität – Subregularität – Irregularität; Skalierung; Kontinuum) auszugehen. In diesem Zusammenhang ist dann die Offenlegung von Faktoren, Triebkräften und Typen von Wandel interessant, die Veränderungen des Verhältnisses von Regularität und Irregularität auslösen bzw. begünstigen. Das Gleiche gilt für die Rolle des Sprachkontakts. Reflektiert werden sollte zudem der Produktivitätsbegriff und welche (universellen) Kriterien phonologischer und morphologischer Beschreibung bzw. Erklärung zur Anwendung kommen. Der vorliegende Band kann natürlich keine wirklich homogene und schon gar nicht vollständige Zusammenschau und Diskussion der aktuellen Phänomene und Fragestellungen präsentieren. Die Beiträge liefern aber in ihrem Bemühen um ge-
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genseitige Bezugnahme eine anregende und fundierte Basis für eine fruchtbare Auseinandersetzung. Eröffnet wird die Diskussion mit dem Beitrag Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur von Frans Plank, in dem es um die Suppletion als Extremfall der Unregelmäßigkeit in der Morphologie geht. Gefragt wird, ob das gleichbedeutend mit regellos sei und ob es Grenzen der Suppletion gibt. Und, ganz wichtig, ob diese Grenzen zeitlos und im Prinzip überall auszumachen sind. Nach der Diskussion von Grundfragen der Suppletion und der Auseinandersetzung mit universellen Beschränkungen geht Plank der zentralen Frage nach der Verteilung von Suppletion innerhalb von Flexionsparadigmen und der historischen Natur von Beschränkungen dieser Verteilungen nach. Livio Gaeta setzt sich in seinem Aufsatz Irregularität und Systemangemessenheit mit dem Verhältnis zwischen übereinzelsprachlichen Regularitäten und sprachspezifischen, systeminternen Struktureigenschaften auseinander. Dabei geht er von der These aus, dass Systemangemessenheit lokale Optimierung von durch Sprachwandel entstandener Komplexität sei. Ausgelotet wird an Beispielen aus dem Bereich der Flexionsmorphologie, was in einer Sprache überhaupt als irregulär gelten soll. In diesem Zusammenhang wird erneut das aus der Natürlichkeitsmorphologie bekannte Markiertheitskonzept, jetzt aber als lokal manifestiert, diskutiert. Gefragt wird auch, ob sprachspezifische Systemangemessenheit der Entfaltung universeller Prinzipien als nicht zu hintergehendes Hindernis im Wege steht. Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke verzichten in ihrem Beitrag Motivierungsstrategien und Schemabildung auf eine Unterscheidung von Regularität und Irregularität. Ihr Ziel ist es, am Beispiel der Entwicklung der deutschen Pluralflexion zu zeigen, dass sich im Rahmen gebrauchsbasierter Konzepte fundierte Aussagen zu Entwicklungstendenzen flexionsmorphologischer (Teil)Systeme und zu ihrer mentalen Repräsentation formulieren lassen. Letztere wird als ein skalierbares Phänomen in einem unitaristischen Modell behandelt, wobei eine schematische Repräsentation das Grundprinzip der Aneignung sprachlichen Wissens durch den Sprachbenutzer darstellt. Damit wird deutlich, dass die Antwort auf die Frage, warum sich die Nutzung unterschiedlicher Marker für ein und dieselbe grammatische Funktion etablieren und erhalten kann, in den Verwendungs- und Repräsentationsstrategien der Sprachbenutzer zu suchen ist. Rüdiger Harnisch versucht in seiner Untersuchung Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität und Prozeduren zur Bemessung ihrer Anteile phonologische und morphologische Anteile für die Bedingtheit von Irregularitäten in der Flexionsmorphologie zu bemessen. Harnisch geht konsequent paradigmatisch vor und berücksichtigt damit das Gesamtsystem, also etwa auch LexikGrammatik-Bezüge oder – innerlexikalisch – Wortbildungsbezüge. In seinem Beitrag wendet er sich exemplarisch der Verbalmorphologie zu. Entwickelt wird ein komplexes Geflecht bedingender Faktoren, das im Rahmen einer algorithmusarti-
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gen Prozedur nachvollzogen werden kann. Dabei wird auf das Konzept der phonologischen Regel zurückgegriffen, die im Rahmen der segmentalen Phonologie operiert. Außerdem werden Regeln der Präferenz aus der Natürlichen Phonologie und der Natürlichen Morphologie (vor allem Uniformität und Transparenz) bedacht. Um zu zeigen, dass morphophonologische Irregularitäten zu einer gegebenen diachronen Sprachstufe unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade in Prosodie und Morphologie widerspiegeln können, zeichnet die Analyse Zur Entstehung von irregulärem Wortakzent: Morphologisierung im Türkischen von René Schiering zwei Morphologisierungsprozesse in der türkischen Sprachgeschichte nach. Obwohl morpho(phono)logische Prozesse zu neuen gebundenen morphologischen Markern geführt haben, sind die grammatikalisierten Formen prosodisch noch nicht vollständig in die Wortakzentdomäne integriert und stellen so Mismatches zwischen morphosyntaktischer und phonologischer Struktur dar. Diese Konstellation führt zu einem Fall von morphophonologischer Irregularität, nämlich zu nicht-finalem Wortakzent und lässt den sprachübergreifenden Schluss zu, dass prosodische Domänen konservativer sind als morphologische. In seinem Beitrag Koartikulationskompensation und Irregularität setzt sich Jan Henning Schulze mit dem Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben im Althochdeutschen auseinander. Er geht dem Rätsel nach, warum entgegen der phonologischen wie morphologischen Erwartung beim Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben der Umlaut seit ältester Zeit fehlt. Eine Erklärung wird auf der Ebene der Koartikulation gesucht. Jessica Nowak beschäftigt sich mit Regularisierungsstrategien bei starken Verben. In ihrem Aufsatz Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben im Deutschen vertritt sie die These, dass der (zufällige) Zusammenschluss von Verben aus unterschiedlichen Ablautreihen zu einer vereinfachten Sonderklasse mit der Vokalalternanz x-o-o geführt hat. Nowak vermutet, dass dieses Muster eine partielle Regularisierung bei starken Verben darstellt. Sie argumentiert gegen die natürlichkeitstheoretische Annahme, Regularisierungen verfolgten das Ziel der Ikonizität und Transparenz, vielmehr begünstige die niedrige Gebrauchsfrequenz die Ausbreitung des Musters x-o-o. Warum hat das Deutsche Deklinationsklassen und die Kategorie Genus? Damaris Nübling verfolgt in ihrer Studie Flexionsklassen als morphologischer Ballast? die strikt funktionale These, dass beides zu einer Numerusprofilierung beiträgt. Genus profiliere den Singular und Flexionsklasse den Plural. Beide rahmten damit die funktional zentrale Numeruskategorie ein. Um Genus und Deklinationsklasse in ihrer funktionalen Bedeutung sichtbar werden zu lassen, untersucht Nübling deren Diachronie. Sprachinselforschung kann als sprachgeschichtliches Experiment betrachtet werden. Das Interesse von Peter Rosenberg gilt den ‚Abbau‘-Prozessen, u.a. fokussiert er in seinem Aufsatz Regularität und Irregularität in der Kasusmorphologie deut-
Vorwort | XIII
scher Sprachinselvarietäten (Russland, Brasilien) auf die Vereinfachung der morphologischen Struktur, wobei soziolinguistische Bedingungen der (interlingualen oder intralingualen) Konvergenz, des Normabbaus und des Sprachwechsels als potentiell treibende Faktoren bedacht werden. Gezeigt wird, dass Sprachinselvarietäten, wenn sie in Auflösung begriffen sind, morphologische Abbauprozesse aufweisen, die wie eine Umkehrung von Kreolisierungsprozessen erscheinen. Wie der Beitrag von Peter Rosenberg setzt sich auch der von Thomas Menzel und Gerd Hentschel mit Sprachkontaktforschung auseinander. In ihrer Untersuchung Zu Pronominalparadigmen in Kontaktvarietäten geht es um Demonstrativpronomen in der gemischten weißrussisch-russischen Rede in Weißrussland. Diskutiert werden unterschiedliche Sprachwandeltheorien. Gefragt wird dann vor dem Hintergrund der präferenztheoretischen Konzeption der Natürlichen Morphologie, wie sich Sprachwandel in einem Konfliktfall zwischen sozialen Faktoren und sprach(en)immanenten Faktoren im kontakt-induzierten Wandel vollzieht, d.h. konkret welche von zwei (oder mehreren) konkurrierenden weißrussischen oder russischen Flexionsformen sich in der gemischten Varietät durchsetzt oder zumindest dominiert. In ihrer Studie Vom Zahlwort eins zum Indefinitartikel ein(e) rekonstruiert Renata Szczepaniak einen Grammatikalisierungsverlauf. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wie sich aus dem Zahlwort der Indefinitartikel hat entwickeln können. Diese Forschungslücke versucht Szczepaniak zu schließen. Der vorliegende Beitrag repräsentiert eine Pilotstudie für ein korpusbasiertes Projekt. Gleichwohl werden auch hier schon Indizien für die Festigung des spezifischen und das Aufkommen des prädikativen und generischen Indefinitartikels im Laufe des Mittelhochdeutschen gefunden. Elke Ronneberger-Sibold, Mir Kamaladin Kazzazi und Stefanie PotschRingeisen setzen sich in ihrem Beitrag Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität mit schriftbasierten Wortschöpfungen im Deutschen, Farsi und Chinesischen auseinander. Der Begriff Wortschöpfung soll auf bewusste Abweichungen von normalen Wortbildungsprinzipien verweisen. Im Fokus steht die gesteuerte Reduktion von Transparenz durch spezifische Wortschöpfungstechniken. Transparenzreduktion wird damit nicht mehr nur als unerwünschter Effekt, sondern als potentielles Ziel betrachtet. Mit der [i:]-Schreibung im Deutschen beschäftigt sich Oliver Teuber in seinem Artikel Biene, Igel, Biber. Ziel in Bezug auf die in diesem Buch thematisierten Fragen nach Irregularität und Regularität ist die Aufspaltung des Gegenstandsbereichs in grammatische und lexikalische Schreibungen. Für die grammatischen Fälle soll eine Orientierung an strukturfundierenden Eigenschaften innerhalb des Phänomenbereichs gefunden werden. Gezeigt wird, dass die Orthographie sehr viel regulärer ist als allgemein angenommen.
XIV | Vorwort
Die Beiträge zu diesem Sammelband sind in ihrer hier präsentierten Form zwischen 2011 und 2014 entstanden. Ihre Zusammenführung und Abstimmung aufeinander hat sich leider bei der Bearbeitung durch die Herausgeber verzögert, die ungewöhnlich lange Dauer der Drucklegung ist zusätzlich einem nicht vorhersehbaren Verlags- und Reihenwechsel geschuldet. Den HerausgeberInnen der Reihe Lingua Historica Germanica gilt unser ausdrücklicher Dank für die unkomplizierte Aufnahme des Bandes in diese Reihe, die kritische Durchsicht der Beiträge und für kompetente Hinweise. Natürlich möchten wir uns an dieser Stelle auch bei all jenen bedanken, die zur unmittelbaren Fertigstellung des Sammelbandes beigetragen haben. Zuerst sind natürlich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zu nennen, bei denen wir uns für die konstruktive Zusammenarbeit und vor allem für ihre schier endlose Geduld bedanken. Für die zuverlässige und unermüdliche, mitunter mehr als mühsame Erstellung der Druckversion danken wir vor allem Jonas Furchert, unser Dank gilt in dieser Hinsicht aber auch Maximilian Frankowsky und Florian Meyer. Marleen Bruning, Judith Hochschorner, Julia Hübner, Anke Michel und Katja Politt danken wir für die redaktionelle Unterstützung. Ohne ihren Einsatz wäre der Band nicht möglich gewesen. Darüber hinaus bedanken wir uns bei Maria Zucker, Olena Gainulina und Jacob Klingner vom Verlag De Gruyter für die vertrauensvolle und freundliche Zusammenarbeit und die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm.
Münster im September 2016 Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke*
|| * Motto: Grimm, Jacob (1879): Ueber das pedantische in der deutschen sprache. In: Kleinere Schriften, Volume 1, Berlin, S. 330.
Frans Plank
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur In besonderer Rücksicht der historischen Natur beschränkter Möglichkeiten
1 Einleitung Zwar ist Suppletion der Extremfall der Unregelmäßigkeit in der Morphologie, insofern es sich um jeweils einzigartige Beziehungen zwischen Formen handelt, deren Bedeutungen in regelmäßigen und anderen Lexemen der gleichen Art auch formal regelmäßig ausgedrückten paradigmatischen Beziehungen stehen. So sucht – beispielsweise – die formale Beziehung zwischen dem Ortsnamen Napoli und der Basis der entsprechenden Einwohnerbezeichnung, [una] Partenop-ea ‚[eine] Neapolitanerin‘, im Italienischen ihresgleichen und ist folglich nicht in eine irgendwie geartete phonologisch-morphologische Regel zu fassen, während der bloße Verlust von Auslautvokalen wie bei den bedeutungsmäßig parallelen Paaren Roma – [una] Rom-ana ‚[eine] Röm-erin‘ und Milano – [una] Milan-ese ‚[eine] Mailänd-erin‘ in der italienischen Morpho(no)logie an der Tagesordnung ist. Aber: Suppletiert wird in den Sprachen mit Morphologie trotzdem nicht ohne alle Regel. Vor allem: Es gibt Grenzen – quantitative und qualitative Grenzen! Wobei die Frage ist, wie in anderen strukturellen Bereichen auch: Sind das zeitlose, immer und überall geltende, damit automatisch auch jeden Wandel beschränkende Grenzen der sprachlichen Verschiedenheit? Oder sind das Grenzen der historischen Veränderbarkeit, Beschränkungen des Wandels, aus denen sich Beschränkungen der Verschiedenheit ergeben? Und das läuft nicht auf dasselbe hinaus, so diffizil die Unterscheidung auch wirken mag. Die bemerkenswerte Lehre, die für diese allgemeine Frage nach der Natur von strukturellen Beschränkungen speziell aus dem Suppletivwesen zu ziehen ist, ist, dass Verschiedenheit unbeschränkt sein mag, zeitlos betrachtet, während die historische Veränderbarkeit doch ihre Grenzen hat. Ziel dieser Abhandlung ist es, zunächst an die Grundfragen des Suppletivwesens zu erinnern (Kap. 2) und dann universelle Beschränkungen, denen es verbreiteten Annahmen zufolge unterliegt, in systematischer Ordnung zu skizzieren (Kap. 3). Einiges dazu lehrt jede Grundschule der Morphologie, manchmal mangels weiteren und tieferen Wissens um Was und Warum zu dogmatisch; die Titel der mitgelieferten Auswahlbibliographie (um nicht jeden zweiten Satz mit Literaturverweisen überfrachten zu müssen) führen vielfach weiter. Mit der zentralen Frage nach der Verteilung von Suppletion innerhalb von Flexionsparadigmen (Kap. 4) und der
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historischen Natur von Beschränkungen dieser Verteilungen (Kap. 5) betreten wir dann Neuland, und dort verweilen wir am längsten und liebsten.
2 Suppletionsgrundfragen: Was? Wie? Woher? Wohin? Bemühungen um eine wasserdichte Definition, was Suppletion ist und nicht ist (à la Mel'čuk 1994), sind unsere Priorität nicht. Wir beschränken uns hier auf die Suppletion von Stämmen (oder Wurzeln oder Wörtern: je nachdem, welche Art von Einheiten in der betreffenden Sprache morphologische Basen bildet); ob andere Arten von Morphemen auch supplieren und ob das etwas wäre, was in die gleiche natürliche Domäne fällt, sei dahingestellt – meine Antwort, falls wirklich eine gewünscht: nein. Fragen, wie der Suppletion in diesem und jenem speziellen Beschreibungsrahmen Rechnung zu tragen wäre, stehen ebenso wenig auf der Tagesordnung. Betont sei jedenfalls, dass Suppletion stärker oder schwächer sein kann. Auch wenn das hier nicht exakt quantifiziert wird, die Suppletion in Fällen wie ital. Napoli/Partenop- oder frz. all-/v-/ir- ‚geh-‘ kann als maximal stark gelten, weil die zwei bzw. drei Supplete phonologisch nichts gemein haben; einer der Stämme des französischen Gehen-Verbs ist für sich nicht einmal silbisch, ungeachtet weiterer Verschiedenheiten der Silbenstrukturen und ihrer segmentalen Füllung. Die Suppletion ist schwächer bei den englischen Ortsnamen Liverpool und Birmingham und den ihren betreffenden Namensteilen vergleichsweise ähnlichen Basen der Adjektivbzw. Demonym-Formen Liverpudl-ian und Brumm-ie: [puːl]/ [pᴧdl], mit identischen Anfangs- und Endkonsonanten und beide Mal einem hinteren Vokal; [bɚm]/[brøm], mit r-Metathese und in der Zungenhöhe entsprechenden zentralen und hinteren Vokalen. Sie ist ähnlich schwach bei dt. geh-/gVng- (mit V = /i, a/), wo immerhin der Anlaut der Supplete übereinstimmt sowie auch annähernd die Silbenstruktur (CVC). Sie ist noch schwächer bei engl. say [sei]/say- [sɛ] ‚sag-‘ (letzteres wie in say-s ‚sag3SG.IND.PRÄS‘, sai-d ‚sag-PRÄT‘), so schwach, dass sie nur in der Monophthongierung des Silbenkerns besteht (bzw. in der Entspannung von /e/ zu /ɛ/, wenn das die Annahme zur Repräsentation der betreffenden Vokale ist: also in einem einzigen phonologischen Merkmal) – wobei aber doch unbestreitbar Suppletion vorliegt, weil ja eine Alternation von [ei] und [ɛ] für solche Flexionskategorien bei Verbstämmen im Englischen einzigartig ist (vgl. lay, lay-s, lai-d ‚leg-‘, pay, pay-s, pai-d ‚zahl-‘, stray, stray-s, stray-ed ‚streun-‘, neigh, neigh-s, neigh-ed ‚wieher-‘, usw. – alles mit unverändertem [ei]). Das Stark-Schwach-Kontinuum bei der Suppletion mag keinen systematischen Stellenwert für das mentale Lexikon und die Grammatik bzw. deren theoretische Modellierung haben: Wie formal ähnlich einander auch immer, Supplete eines Lexems sind je separat zu repräsentierten, denn sonst wäre es nicht Supp-
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 3
letion; nur mag bei schwächerer Ausprägung die Neigung von Sprechern (und Linguisten) wachsen, Supplete – irgendwie – (mor-)phonologisch aufeinander beziehen zu wollen, wie regulärere Allomorphe eines Lexems auch. Die vielleicht spannendste Frage ist, wie Suppletion entsteht und warum. Für gegenwärtige Zwecke sei nur hervorgehoben, was bekannt und unstrittig ist, nämlich, dass es zwei ganz verschiedene Wege der Suppletionsentstehung gibt: (i) DISSIMILATORISCHE Suppletion (manchmal auch „sekundär“ genannt): Phonologisch regelmäßig verteilte Stamm-Varianten eines Lexems entwickeln sich im Zuge von regelmäßigem oder unregelmäßigem Lautwandel oder auch von analogischer Substitution von phonologischem Material auseinander, bis sie synchron schließlich nicht mehr (mor-)phonologisch aufeinander zu beziehen sind, weil die betreffenden phonologischen Regeln bzw. die regelbedingenden Kontexte sich entscheidend verändert haben. Beispiele: (a) ital. ess-/son-/se-/si-/s-/Ø- (bzw. e-) Kopula ‚sein‘ (ess-ere INF, son-o 1SG, se-i 2SG, si-ete 2PL, s-iamo 1PL, Ø-e bzw. e-Ø 3SG), bzw. vergleichsweise einfacher lat. Sum-/es- 1SG/1PL/3PL vs. 2SG/3SG/2PL.IND.PRÄS: idg. einst mit phonologisch regelmäßiger betonungsabhängiger Stamm-Alternation *H1és-/*H1sund akzentbedingt unterschiedlichen Reduktionen (und dann auch weiteren analogischen Änderungen im Italienischen); (b) lat. (fer-/)tul-/lat- ‚tragen‘ (PRÄS vs.) PERF vs. SUPINUM: wobei lat- auf ein suffix-betontes, regelmäßig dem Perfekt-Stamm entsprechendes Verbaladjektiv tul-át- zurückgeht, dessen Erstsilbe um ihren unbetonten Vokal und dann auch den Ansatz des Konsonantenclusters reduziert wurde; (c) griech. énas/éna/mía Kardinal-Numerale ‚1‘ MASK/NEUT/FEM: alle lautgesetzlich bzw. analogisch auf den idg. Stamm *sem- zurückgehend: *sem-s > hens > ..., *sem > hen > ..., *sm-iH2 > m(h)ia); (d) engl. Birmingham/Brumm-ie: mit diversen Hin- und Her-Metathesen von /r/ und entsprechenden Vokalvarianten seit alten Zeiten (Ortsname belegt seit 1086 in der Form Beormingeham ‚Heimstätte der Abkömmlinge des Beorma‘, dann Bromwichham, Brummagem, Brumm u.ä., davon Demonym Brumm-ie); (e) engl. [sei]/[sɛ]: infolge idiosynkratischer Monophthongierung bzw. Entspannung vor konsonantischem Flexionssuffix.1 (ii) KOMBINATORISCHE Suppletion (manchmal auch „primär“ genannt): Stämme verschiedener individueller Lexeme, mit unterschiedlicher Etymologie,
|| 1 In Fällen wie engl. father/patern- (wie in patern-al ‚väterlich‘) liegt nicht einfache Dissimilation vor, sondern ein etymologisch verwandter Stamm ist später durch Entlehnung aus einer verwandten Sprache hinzugekommen, die bestimmte lautliche Entwicklungen (Grimm’sches Gesetz) nicht mitgemacht hat.
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jedoch gleicher oder ähnlicher Bedeutung, und mit ursprünglich je eigenen Flexionsparadigmen, werden als zu einem einzigen Paradigma gehörig reanalysiert, im Interesse etwa der Behebung paradigmatischer Schwachstellen und jedenfalls unter komplementärer Auffüllung der betreffenden (bei den beteiligten Lexemen ursprünglich möglicherweise defektiven) Paradigmen.2 Beispiele: (a) frz. all-/v-/i- ‚geh-‘: die Stämme lat. ambul-, vad-, i- kombinierend; (b) dt. geh-/gVng- PRÄS vs. PRÄT/PARTIZIP: das unregelmäßige Kurzverb ahd. gāund das etymologisch unverwandte starke Verb ahd. gang- kombinierend; (c) engl. Liverpool/Liverpudl-ian: wo der zweite Teil des Ortsnamens, der zurückgeht auf altengl. lifer-pōl ‚pool with muddy water‘, im 19. Jahrhundert in scherzhafter Absicht wortspielerisch ersetzt wurde durch ähnlich klingendes, ähnliches bedeutendes, aber abwertendes unverwandtes Wort puddle ‚Pfütze‘;3 (d) Archi (eine nakh-daghestanische Sprache) bič’ni/boždo ‚Sackzipfel‘ SG vs. PL: SG/PL mit den trotz gewisser phonologischer Ähnlichkeiten etymologisch unverwandten Stämmen selbst kumuliert und ohne weitere eigene Exponenten. Bei Suppletion mit phonologischer Vorgeschichte würde man erwarten, dass sich Verteilungen von Suppleten ergeben und erhalten, die essentiell phonologisch definiert sind. Bei Suppletion mit einer lexikalisch-morphologischen Vorgeschichte wäre die Erwartung, dass die Verteilungen der Supplete innerhalb der Paradigmen morphologisch umschrieben sind. Wie noch gezeigt wird (Kap. 5), ist dieser Zusammenhang von Diachronie und synchroner Struktur von einiger Bedeutung.
|| 2 Als kombinatorische Suppletion fassen wir auch den seltenen Fall, wo die suppletiven Stämme durch morphologische Reanalyse von Affixen erst zustande kommen. Das Extrem hier sind die Geben-Verben in Sprachen von Papua-Neuguinea mit Suppletion je nach Person des Rezipienten, wobei der Verb-Stamm selbst ursprünglich ohne jeden phonologischen Gehalt, also Null war, wie synchron noch im Amele (i), und durch Reanalyse von referentiellen Affixen für verschiedene Personen als Stämme erst an Gestalt gewann – und eben verschiedene Gestalten je nach Person (und evtl. Numerus) des Rezipienten (vgl. Comrie 2003). (i) Verb ‚geben‘ in Amele (Madang, Papua-Neuguinea; Roberts 1987) Stamm durchgängig Ø, also keine Suppletion ut-ec 3sg-inf ‚ihm/ihr geben‘ ih-ec 2sg-inf ‚dir geben‘ it-ec 1sg-inf ‚mir geben‘ al-ec 2/3du-inf ‚euch/ihnen beiden geben‘ il-ec 1du-inf ‚uns beiden geben‘ ad-ec 2/3pl-inf ‚euch/ihnen geben‘ ig-ec 1pl-inf ‚uns geben‘ 3 Bei einem alternativen, wesentlich stärkeren Supplet zum Toponym Liverpool, Scous-er ‚Labskaus-Fresser‘ (engl. scouse), ist diese Spitznamen-Motivation von Demonymen noch deutlicher.
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Die Unterscheidbarkeit von Suppletionen nach der Stärke bzw. Schwäche wurde oben besonders deshalb hervorgehoben, weil sie ihrerseits in keiner notwendigen Beziehung zur Genese von Suppletion steht. Man könnte ja vielleicht erwarten, dass dissimilatorisch entstandene Suppletion eher schwach und kombinatorisch entstandene Suppletion eher stark ist; aber effektiv kann man nicht vom einen auf das andere schließen, und auch nicht umgekehrt. Da hat ein Sprecher bzw. Lerner ohne etymologisches Fachwissen (und auch dieses selbst ist nicht immer über alle diesbezüglichen Zweifel erhaben) keinen verlässlichen Anhalt – und wozu sollte das auch gut sein? Supplete, wie auch immer entstanden und wie einander (un-) ähnlich, sind ja immer je separat zu repräsentieren. In der Frage, was mit einer Suppletion geschieht, falls einmal vorhanden, gibt es ebenfalls Optionen, und zwar drei: (i) sie kann beibehalten werden, kurz- oder auch längerfristig; (ii) sie kann ersetzt werden durch wiederum Suppletion (vgl. altengl. ga-/eo- > mittelengl. go-/wend- ‚geh-‘ PRÄS vs. PRÄT4); (iii) sie kann, über kurz oder lang, aufgegeben werden zugunsten von regelmäßiger(er) Morphologie (um beim Beispiel zu bleiben: vgl. nord- und schottisch-engl. ga-ed o.ä. ‚ging‘). Viel deutlicher als beim Werden spielt beim Vergehen die Frequenz eine Rolle, und zwar eine recht simple: Suppletion, wie andere Unregelmäßigkeit auch, bedarf der Bekanntschaft, und je häufiger Sprecher/Lerner einer Suppletion begegnen, desto eher werden sie sie sich einprägen und konformistisch replizieren; je seltener eine bestimmte Suppletion, desto weniger kommt sie überhaupt zu Bewusstsein und es tritt, eher früher als später, regelmäßige(re) Morphologie dafür ein.
3 Was dem Suppletivwesen förderlich oder hinderlich sein soll Strukturell unregelmäßig zu sein, heißt nicht, ein Spiel des Zufalls zu sein. Was an der Suppletion eben nicht ganz zufällig zu sein scheint, ist, wo genau sie präferentiell auftritt oder dispräferiert wird – welche Stämme von ihr eher betroffen sind und welche eher nicht, welche Umgebungen sie eher zeitigen und welche eher nicht. Meinungen über solche universellen (Dis-)Präferenzen sind immer wieder einmal vertreten worden und haben hier und dort Zustimmung gefunden; empirisch gut abgesichert ist aber noch wenig, denn ernsthafte typologische Studien sind selten
|| 4 Wend (fortlebend in to wend one’s way ‚seines Weges gehen‘, allerdings mit regelmäßigem Präteritum, wend-ed) geht wie bend ‚biegen‘, mit Suffix /t/ im Präteritum. Die Orthographie, went (ebenso bent), verschleiert, dass der suppletive Stamm selbst nicht kumulativ auch noch Tempus ausdrückt – was auch vormals für das schwache Verb eo- galt, das altenglisch als Präteritum zu ga- Dienst tat.
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geblieben (vgl. Hippisley et al. 2004; Veselinova 2006; Corbett 2007; The Surrey Suppletion Database). Hier seien deshalb auch nur skizzenhaft die Parameter versammelt, die hauptsächlich zur Debatte stehen, gleichsam ohne Gewähr. Links und rechts vom Größer-als-Zeichen steht, was eher bzw. was eher nicht Suppletion zeigen oder zeitigen soll; ein Stern heißt, die betreffende Kategorie soll keinerlei Suppletion zeigen oder zeitigen – was aber selten so strikt behauptet worden ist, und wenn, dann in Bezug auf bestimmte Flexionskategorien. (i) Das morphologische Milieu: flexivisch agglutinierend (Exponenten kumulativ, variant, etc.) > (Exponenten separativ, invariant, etc.) (ii) Die morphologische Abteilung: Derivation > Flexion ( > Klisis) (iii) Die Bedeutung, Frequenz und Form von betroffenen Wortstämmen, wortartenübergreifend (a–e) oder einzelne Wortarten betreffend (f–i): a. häufig > selten (was so gut wie alles Folgende subsumiert) b. kurz > lang c. allgemeine > besondere Bedeutung d. farblos > farbig e. EGO-nah > EGO-fern f. g. h. i.
Nomina: Adjektive: Numeralia: Verben:
Personen > Tiere > Dinge > Abstrakta gut/schlecht > groß/klein > alt/jung > ... eins > zwei > höhere, wobei: rund > unrund sein > haben > tun > Fortbewegung/Haltung > sehen, geben/sagen, halten, ...
(iv) Die Wortklasse: a. Verben b. geschlossene aa. Auxiliare bb. Pronomina
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Nomina offene Klasse Vollverben Nomina
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 7
(v) Die Derivationskategorie: a. Verb: Aktionsart/Ereignis-Numerus > Kausativ > ... b. Nomen: Movierung > Herkunftsbezeichnung (Stadt > Land) >... c. Numerale: Ordinal > ... d. Wortartwechsel: Deadjektivische Adverbialisierung > ... (vi) Die Flexionskategorie: a. Verb: Aspekt > Tempus > Modus > Polarität > NumerusKongruenz > PersonKongruenz ... > (*)Diathese b. Nomen: Numerus > (?)Kasus > (*)Possessor > (*)Status > (*)Definitheit c. Adj./Adv.: Komparation > ... > (*)GenusKongruenz d. allgemein: inhärente > kontextuell zugewiesene Kategorisierungen semantische > morphosyntaktische Kategorien Nach der empirischen Fundierung solcher mutmaßlich universeller Verallgemeinerungen zu Suppletionspräferenzen wäre das nächste Desiderat, die wirklich fundierten Präferenzen zu erklären, um zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind bzw. geworden sind. Dabei wäre vermutlich differentiell auf die verschiedenen historischen Lebensabschnitte von Suppletionen Bezug zu nehmen. Die Frage wäre dann nicht pauschal, was warum der Suppletion bestimmter Stämme in bestimmten Kontexten besonders zuträglich oder abträglich ist, sondern was warum speziell ihrer Entstehung und was warum ihrer Bewahrung (anstatt baldigem Verlust und Ersetzung durch morphologisch regelmäßigere Verhältnisse) besonders zu- oder abträglich ist.
4 Die paradigmatische Geometrie der Suppletion 4.1 Die Frage Erklärungsfragen zurückstellend gilt das Interesse im Folgenden jedoch der Vertiefung von Parameter (vi). Die Frage ist, ob Stamm-Suppletion nur durch jeweils eine Flexionskategorie bedingt sein kann oder deren mehrere zusammenwirken können, und wie gegebenenfalls dadurch die Verteilung der suppletiven Stämme über ein Paradigma kompliziert werden kann. Ist jede vorstellbare Verteilung möglich und auch wirklich? Legen gegebene paradigmatische Strukturen Supplet-Verteilungen Zügel an? Beschränkungen der Suppletionsverschiedenheit dieser Art sind bisher kaum in den Blick genommen worden (Bybee 1985: 91‒95 und Hippisley et al. 2004 könnte man nennen, oder die von Aronoff 1994 inspirierte Morphom-Diskussion); aus ihnen ergibt sich aber ein höchst aufschlussreicher Blickwinkel auf die zeitliche Natur von typologischen Beschränkungen im Allgemeinen.
8 | Frans Plank
Wenn wir Supplet-Verteilungen in der Flexion hier durch räumliche Anordnungen darstellen, so ist das dadurch begründet, dass sich wesentliche formale und semantische Strukturen von Flexionssystemen getreu und transparent geometrisch modellieren lassen: die Kasus-Würfel und -Gitterkäfige von Roman Jakobson oder Louis Hjelmslev waren nicht l'art pour l'art. (Mehr theoretischen Hintergrund dazu in Plank 1991.) Wichtige paradigmatische Strukturen sind die der Dominanz unter Flexionskategorien und Teilmengen-Bildungen unter Termen, die die Kategorien realisieren, nach verschiedenen semantischen und formalen Gesichtspunkten („Merkmalen“). Synkretismen sind ein Phänomen, deren paradigmatische Verteilungen sich so visualisieren lassen; die Suppletion von Stämmen – gewissermaßen das Gegenteil von synkretistischer Nicht-Distinktion – ebenso. Die Darstellungsmittel, um die Muster und etwaige Beschränkungen solcher Verteilungen zu erfassen, sind die Zahl der notwendigen Dimensionen (1, 2, 3, mehr); die vertikale vs. horizontale Anordnung der Terme von Kategorien; die Nähe und Distanz von Termen, insbesondere ihre unmittelbare Nachbarschaft; die Reihung und namentlich die Uniformität der Reihung von Termen in allen Teilparadigmen und für alle für diese Kategorien flektierenden Wörter.
4.2 Schematisch Veranschaulichen wir nun zunächst schematisch, wie suppletive Stämme innerhalb eines Flexionsparadigmas verteilt sein können, wobei x, y, ... suppletive Stämme symbolisieren und Numerus und Kasus als suppletionsbedingende Flexionskategorien willkürlich gewählt sind. Der Einfachheit halber belassen wir es hier bei zweidimensionalen Anordnungen; in der flexionsmorphologischen Realität können es leicht mehr Dimensionen werden, vor allem bei Verben. (i) Stamm-Verteilung durch eine einzige Kategorie definiert (A) JEDEM DAS SEINE NOM AKK GEN
SG
PL
SG
PL
x x x
y y y
x y y
x y y
(ii) Stamm-Verteilung durch mehr als eine Kategorie definiert (d.h. hier: durch alle zwei beteiligten) (Ba) EINZELGÄNGER NOM AKK GEN
SG
PL
x y y
y y y
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 9
(Bb) DIE EINSAME MASSE NOM AKK GEN
SG
PL
u w y
v x z
(Ca) ÜBERGRIFFE NOM AKK GEN
SG
PL
x x y
y y y
UNTER NACHBARN: HÜBEN
(Cb) NOM AKK GEN
SG
PL
x x y
x y y
UNTER NACHBARN: HÜBEN UND DRÜBEN
(Cc) NOM AKK GEN
SG
PL
x y y
y x y
ÜBERKREUZ
Die einfachste Verteilung suppletiver Stämme ist die durch eine einzige unter mehreren Flexionskategorien definierte (A): Stamm x wird selegiert durch SG bzw. durch NOM, Stamm y durch PL bzw. die anderen Kasus außer NOM. Es wird komplexer, wenn mehr als eine Kategorie die Verteilung bestimmen: Aber es bleibt relativ wohlgeordnet, darstellbar mittels Nachbarschaft in den Spalten und/oder Zeilen einer zweidimensionalen Matrix (entsprechend den zwei Flexionskategorien), solange suppletive Stämme entweder nur auf eine einzige Zelle der Matrix beschränkt sind (Ba, Bb) oder sich in die paradigmatische Nachbarschaft in eine einzige Richtung (Ca) oder beiderseits in mehr als eine Richtung ausdehnen (Cb). Also: Stamm x wird selegiert nur durch NOM und dies nur im SG, Stamm y durch alle anderen Kasus-NumerusKombinationen (Ba, EINZELGÄNGER); dito nicht nur für einen Stamm, sondern für alle (Bb, EINSAME MASSE); Stamm x wird selegiert durch NOM und AKK im SG, Stamm y sonst (Ca, ÜBERGRIFFE); Stamm x wird selegiert durch NOM und durch AKK, letzteres nur im SG, Stamm y sonst, bzw. gleich komplex gesagt, Stamm y durch GEN sowie im PL auch durch AKK, sonst Stamm x (Cb). Die komplexeste Verteilung ist die überkreuz (Cc) – ohne dass eine Umordnung der Terme der einen oder der anderen Kategorie Nachbarschaften herstellen könnte, die nicht überkreuz sind. Benennt man die selegierenden Terme der betreffenden Kategorien, ergeben sich keinerlei
10 | Frans Plank
kategoriale Zusammenfassungen: NOM im SG und AKK im PL selegieren Stamm x, ansonsten Stamm y. Durch derlei Unterschiede motiviert, könnte man vermuten, dass einfachere Verteilungen von Stamm-Suppletion jedenfalls möglich sind und auch häufiger belegt sein sollten in den Sprachen der Welt, während komplexere Verteilungen seltener sein sollten. Wenn eine der theoretischen Möglichkeiten weltweit verboten sein sollte, dann die Überkreuz-Verteilung als die komplexeste, mit paradigmatischen Strukturen am wenigsten zu vereinbaren.
4.3 Jedem das Seine Ohne dass hier so etwas wie eine repräsentative Stichprobe von Sprachen genommen und die darin vorgefundenen Suppletionen alle sauber verbucht worden wären, kann doch die Verallgemeinerung gewagt werden, dass einfache, durch eine Term-Unterscheidung bei einzelnen Kategorien bestimmte Supplet-Verteilungen à la A, mit homogenen Blöcken für die Terme von allen beteiligten Kategorien, bei weitem am häufigsten vorkommen. JEDEM DAS SEINE, jedem Term einer suppletiv gespaltenen Kategorie seinen durch alle Terme der anderen Kategorien) gehenden eigenen Stamm finden wir zum Beispiel hier: (1) Substantiv čelovek- (2. Dekl., mask.)/ljud- (3. Dekl., fem.) ‚Mensch, Leute‘ im Russischen5 (Slavisch, Idg.) NOM AKK GEN LOK DAT INS
SG
PL
čelovek čelovek čelovek-a čelovek-e čelovek-u čelovek-om
ljud-i ljud-i ljud-ej ljud-jax ljud-jam ljud-´mi
(2) Proximal-Demonstrativpronomen es(e)-/am(V)- ‚dies-‘ im Georgischen (Südkaukasisch; Hewitt 1995: 77–78) NOM ERG GEN DAT INS ADV
SG
KOLLEKTIV
PL
es ama-n am-is(a) ama-s(a) am-it(a) ama-d(a)
ese-eb-i ame-eb-ma ame-eb-is(a) ame-eb-s(a) ame-eb-it(a) ame-eb-ad(a)
ese-n-i
(direkter Kasus) (oblique Kasus)
ama-t(a)
|| 5 Čelovek auch in pluralischen Nominalphrasen, aber nur adnumerativ und in Grundform.
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 11
(3) Kardinal-Numerale hen-/m- ‚1‘ (ebenso, wenn negiert: oud-en-/oude-m-, mēd-en/ mēde-m- ‚niemand‘) im Altgriechischen (Hellenisch, Idg.; Kieckers 1926: 75‒ 79)6 NOM AKK GEN DAT
MASK
NEUT
FEM
heĩ-s hén-a hen-ós hen-í
hén hén hen-ós hen-í
m-ía m-ían m-iãs m-iã
(4) Adjektiv bon-/mel-/opt- ‚gut‘ im Lateinischen (Italisch, Idg.) POSITIV SG NOM AKK GEN
...
PL
MASK
NEUT
FEM
MASK
NEUT
FEM
bon-us bon-um bon-i
bon-um bon-um bon-i
bon-a bon-am bon-ae
bon-i bon-os bon-orum
bon-a bon-a bon-orum
bon-ae bon-as bon-arum
NEUT
FEM
NEUT
FEM
KOMPARATIV SG MASK NOM AKK GEN
...
PL
mel-ior mel-ior mel-ior-em mel-ior mel-ior-is mel-ior-is
MASK
mel-ior mel-ior-es mel-ior-a mel-ior-es mel-ior-em mel-ior-es mel-ior-a mel-ior-es mel-ior-is mel-ior-um mel-ior-um mel-ior-um
SUPERLATIV SG MASK NOM AKK GEN
...
PL NEUT
FEM
MASK
NEUT
FEM
opt-im-us opt-im-um opt-im-a opt-im-i opt-im-a opt-im-ae opt-im-um opt-im-um opt-im-am opt-im-os opt-im-a opt-im-as opt-im-i opt-im-i opt-im-ae opt-im-orum opt-im-orum opt-im-arum
(5) Murle (Nilo-Saharanisch; Arensen 1982: 60, 72; Veselinova 2006: 101‒102) IMPERFEKT
1
EXKL
regelmäßiges Verb ‚klettern‘
suppletives Verb ‚gehen‘
SG
PL
SG
PL
ka-tood-i
ka-toɔt ka-toodd-a a-toodd-u a-toɔt
ka-kɔ
ka-vɔ ka-vɔy-a a-vɔy-u a-vɔ
INKL
2 3
a-tood-i a-toɔt
a-kɔy-i a-kɔ
|| 6 Unter der Annahme, dass Nasalschwund vor Konsonant unter Ersatzdehnung noch lebendige Phonologie, und hén-/heĩ- folglich nicht auch (schwach) suppletiv ist.
12 | Frans Plank
wobei:
ka- 1 a- 2/3
-i -a -Ø -u
1/2SG 1PL.INKL 1PL.EXKL/3 2PL
(6) Papantla Totonakisch (isoliert; Corbett 2009: 30, laut Paulette Levi) INKOMPLETIV
des Verbs a’:n(a:)/pin(a:) ‚gehen‘ (gleiches Muster in den anderen Aspekten, KOM-
PLETIV und PERFEKTIV, und ebenso bei den Verben ‚liegen‘ und ‚kommen‘)
1
EXKL
SG
PL
k-an
(k-)aná: aná:(-w) t-a’:n piná:-tit
INKL
3 2
an pín-a
In (1) ist die einzige Nominal-Kategorie, deren Terme alle entweder den einen oder den anderen Stamm wählen, die des Numerus (SG vs. PL), in (2) dagegen die des Kasus (NOM vs. Rest, direkt vs. oblique). Ebensolche Verschiedenheit sehen wir bei (5) und (6) in der Verbflexion: entweder Numerus (SG vs. PL) oder Person (1/3 vs. 2) als allein ausschlaggebende Kategorie für die suppletive Stamm-Wahl.7 Man müsste das jetzt vertiefen, ob sich diese Sprachen darin unterscheiden, dass entweder die eine oder die andere Kategorie paradigmatisch dominant ist, so dass die SuppletVerteilungen diese unterschiedlichen Dominanzverhältnisse widerspiegeln würden, anstatt durch universell invariante Präferenzen Numerus > Kasus beim Nomen und Numerus > Person beim Verb gesteuert zu sein (wie angenommen worden ist, vgl. vi.a und vi.b in Kapitel 3 oben). Wo eine Kategorie so deutlich so dominant ist wie die der Gradierung bei lateinischen Adjektiven, wird die Erwartung ebenso deutlich sein, dass Supplete nach dieser Kategorie verteilt sind (4); ein Supplet für alle Nominative (Maskulin, Neutrum, Feminin; Singular, Plural: Positiv, Komparativ, Superlativ), ein zweiter für alle Akkusative, ein dritter für alle Genitive, usw., wiewohl bei einer Umordnung des Paradigmas homogene Blöcke ergebend, wäre doch überraschend. Genus als nicht inhärente, sondern per Kongruenz zugewiesene Kategorie soll eigentlich auch nicht Suppletion bedingen können (vi.c), tut es aber in (3) (und tut es anhaltend, denn Neugriechisch hat diese Genus-Supplete des KardinalNumerale ‚1‘ bewahrt). Das sei aber zurückgestellt, denn Thema hier sind nur die || 7 Das bestätigt übrigens, dass Numerus und Person distinkte Kategorien sind, was in einzelsprachlichen Beschreibungen hin und wieder in Frage gestellt worden ist, wohl auch, weil diese zwei Kategorien so beliebte Kumulationspartner und universell in der Tat eher kumuliert als separiert sind. Allerdings, wenn Numerus separat als Suppletionsparameter in Erscheinung tritt, dann geht es oft eher um vorgangs- als argument-bezüglichen Numerus (Pluraktionalität). Wenn Person an Stamm-Suppletionen bedingend beteiligt ist, kann jede Person mit jeder anderen zusammengehen – 1 & 3 vs. 2; 1 & 2 vs. 3; 2 & 3 vs. 1 –, wie schon die wenigen in diesem Aufsatz betrachteten Beispiele zeigen.
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 13
Muster der paradigmatischen Verteilung an sich – und was durch (1)–(6) illustriert wird, ist die einfachst mögliche Verteilung, und sie herrscht weltweit vor. Wenn Latein (z.B.) im Akkusativ Singular Feminin des Komparativs sowie im Genitiv Plural Maskulin des Superlativs den Stamm bon- hätte, wäre das Paradigma nicht so umzuordnen (im mindestens vierdimensionalen Raum), dass die bon-, mel-, optBlöcke jeweils zusammenhängend wären.
4.4 Einfache Übergriffe Nach suppletiven Paradigmen mit Einzelgängern (B) und/oder moderat komplexen Übergriffen in die Nachbarschaft, entsprechend (Ca/b), muss man jedoch auch nicht lange suchen. In (7) sehen wir, in Beziehung gesetzt zum russischen Muster in (1), einen typischen Übergriff – dem geometrischen Muster nach jedenfalls: dass zwei Kasus, Genitiv und Lokativ, die sonst nie ein Synkretismus-Paar bilden (vgl. AKK=GEN, LOK=DAT im SG, NOM=AKK, DAT=INS im PL), auf diesem gleichen Weg die Plural-Dual-Unterscheidung synkretisieren (sonst nur Numerus-Synkretismus SG=DU im AKK), ist andererseits doch eher ungewöhnlich (dazu Plank 1994). (7) Substantiv člóvek-/ljud- ‚Mensch‘ im Slowenischen (Slavisch, Idg.) NOM AKK GEN LOK DAT INS
SG
DU
PL
člóvek človẹ́k-a človẹ́k-a človẹ́k-u človẹ́k-u človẹ́k-om
človẹ́k-a človẹ́k-a ljud-í ljud-ẹ́h človẹ́k-oma človẹ́k-oma
ljud-ệ ljud-î ljud-í ljud-ẹ́h ljud-ệm ljud-mí
In einem kategorial komplexeren Verb-Paradigma wie (8) ist ebenso unschwer erkennbar, dass die Verteilungen der drei suppletiven Stämme dominanten Kategorienunterscheidungen folgen (FUT/KOND vs. Rest, SG vs. PL im IND und assoziierten IMP), und ansonsten in einem einzigen vertikalen Übergriff bestehen (von 3SG auf 3PL): (8) Verb a(i)ll-/v-/i- ‚gehen‘ im Französischen (Italisch, Idg.) PRÄSENS INDIKATIV
1 2 3
SUBJUNKTIV
IMPERATIV
SG
PL
SG
PL
SG
PL
v-ais v-as v-a
all-ons all-ez v-ont
aill-e aill-es aill-e
all-ions all-iez aill-ent
v-a(s)
all-ez
14 | Frans Plank
IMPERFEKT (etc.)
1 2 3
SG
PL
all-ais all-ais all-ait
all-ions all-iez all-aient
FUTUR (und KONDITIONAL)
1 2 3
SG
PL
i-r-ai i-r-as i-r-a
i-r-ons i-r-ez i-r-ont
Das Muster der Supplet-Verteilung beim georgischen Verb ‚kommen, gehen‘, das Hippisley et al. (2004: 3401–3407) insofern als ungewöhnlich („unkanonisch“) verbuchen, als es in der regelmäßigen georgischen Verbflexion, in der die diversen Teilparadigmen in drei Serien („Screeves“) untergliedert sind, sonst keine ganz genauen Parallelen hat, ist in geometrischer Sicht ganz unanstößig. Die vier suppletiven Stämme (vielleicht auch nur drei, falls -va(l)- und -(s)vl- regelmäßigere Allomorphe sein sollten) sind in kompakten Blöcken über die Terme von TempusAspekt-Modus-Finitheit verteilt, ohne alle weiteren Suppletionen innerhalb jedes Blocks (etwa nach Person oder Numerus) – ein Fall von JEDEM DAS SEINE (A): (9) Verb ‚kommen, gehen‘ im Georgischen (Südkaukasisch; Hewitt 1995: 448‒452) Stamm -di-: Präsens, Imperfekt, Präsens Subjunktiv Stamm -vid-: Konditional, Futur Subjunktiv, Aorist, Aorist Subjunktiv Stamm -va(l)-: Futur Stamm -(s)vl-: Perfekt, Plusquamperfekt, 3. Subjunktiv, Nicht-Finit Was hinzukommt, ist ein einziger Übergriff: nämlich von -di- auf den Imperativ (gleichermaßen 2SG und 2PL), dessen Formen in regelmäßiger Flexion identisch mit Aorist Indikativ sind. In der Sekundärliteratur ist früher einmal das Verb ‚schlagen‘ im Dusur als so etwas wie der Suppletionsweltmeister gehandelt worden, mit angeblich acht verschiedenen Stämmen je nach Person, Numerus, Genus von Agens und Patiens. Der analytische Fortschritt hat mittlerweile die Zahl der phonologisch voneinander unabhängigen Stämme reduziert, auf fünf oder vielleicht auch nur drei. Ihre Verteilung ist jedenfalls relativ unkomplex in Begriffen von paradigmatischer Geometrie, denn es gibt nur geordnete Übergriffe, wie sie sich in kompakten Blöcken darstellen lassen, plus einen Einzelgänger:
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(10) Verb ‚schlagen‘ im Dusur (Skou, Neuguinea; Donohue 2004: Kap. 7.2.4, mit anderer Zeilenanordnung als hier) A\P
1SG
2SG
3SG.NF 3SG.F
1PL
2PL
3PL
3PL.NF 3PL.F
2SG 3SG.F 3SG.NF 1SG 2PL 1PL 3PL
bá wá ká – ká – já
– wá ká ká – ká já
bá wá ká ká ká ká já
jí jí jí – jí – jí
– jí jí jí – jí jí
jí jí jí jí jí jí jí
jí jí jí jí jí jí jí
páng wáng láng láng láng táng jáng
jí jí jí jí jí jí jí
Erläuterung: Die Spalten unterscheiden Person, Numerus, Genus des Patiens, die Zeilen die des Agens; also bá z.B. heisst 'du schlägst mich', jí 'du schlägst uns'. NF heisst non-feminin.
Dass die Personen des Agens keine gleiche Anordnung im Singular (2 – 3 – 1) und Plural (2 – 1 – 3) zulassen, ohne die Nachbarschaftsbedingung zu übertreten, ist allerdings bemerkenswert; bei identischer Singular- und Plural-Anordnung würde das ká-Territorium durch já's bei 2SG und 3SG.NF unterbrochen. Auffällig ist des Weiteren die kategorial recht heterogene Erstreckung eines Groß-Blocks, des von ká (von Donohue 2004: 232 als merkmalsmäßig unspezifiziert analysiert). Die (Mor-)Phonologie des Dusur kann da vielleicht Aufklärung bringen.
4.5 Einzelgänger, Einsame Masse In (11) kommen zu Verteilungen nach kategorialen Hauptlinien und geordneten Übergriffen, hier in der 2. Person (historisch dadurch begründet, dass 2PL als formelle Form für 2SG genutzt und dann verabsolutiert wurde), noch zwei Einzelgänger am Rande: (11) Kopula be ‚sein‘ im Englischen (Germanisch, Idg.) PRÄSENS INDIKATIV
1 3 2
KONJUNKTIV
IMPERATIV
SG
PL
SG
PL
SG
PL
am is are
are are are
be be be
be be be
be
be
PRÄTERITUM INDIKATIV
1 3 2
KONJUNKTIV
SG
PL
SG
was was were
were were were
was/ were were was/ were were were were
PL
16 | Frans Plank
Man könnte denken, der Anteil an Einzelgängern in einem suppletiven Paradigma müsse begrenzt sein. Und das ist er meist auch: zwei in einem Paradigma mit 26 Zellen wie in (11), bei einer allerdings maximalistischen Analyse (statt viele Synkretismen anzunehmen, könnte man auch die Zellen selbst stark reduzieren), scheint nicht auffällig wenig. Auch wenn in einem Paradigma von 14 Zellen wie in (12) – vier Kategorien: Definitheit (DEF, INDEF), Numerus (SG, PL), Genus (MASK, FEM, NEUT, diese Kontraste allerdings beschränkt auf nur den Indefinit-Singular-Stamm), Gradierung (POSITIV, KOMPARATIV, SUPERLATIV) – gleich vier suppletive Stämme Dienst tun, ist darunter auch nur ein Einzelgänger, lille (bzw. vesle): (12) Adjektiv lilla (oder dialektal vesle, was stärker suppletiv gegenüber lit- ist als lilla)/små/lit-/min(d)- ‚klein‘ im Norwegischen (Germanisch, Idg.; pers. Info. Allison Wetterlin) DEF
POS KOMP SUPER
INDEF
POS
MASK
(FEM NEUT KOMP SUPER
SG
PL
lille/vesle mind-re min-ste lit-en lit-a) lit-e mind-re min-ste
små mind-re min-ste små
mind-re min-ste
Bei dreidimensionaler Anordnung, mit Gradierung als separater Tiefendimension, wäre deutlicher, dass die Supplet-Verteilungen von min(d)- und små unkompliziert sind: min(d)- wird von einer Term-Assoziation der Kategorie Gradierung selektiert (KOMP & SUPER), ungeachtet von Numerus, Definitheit und Genus; små von PL im Positiv, ungeachtet von Definitheit und Genus. Lit- ist der Stamm für SG.INDEF im Positiv, lille (bzw. vesle) für SG.DEF im Positiv – und dieser ist ein Einzelgänger, weil es bei DEF anders als bei INDEF keine Genus-Vielfalt gibt.
Andererseits finden sich aber auch solche Fälle: (13) Personalpronomen der 1. Person im Englischen (Germanisch, Idg.) SG SBJ OBJ POSS
I me my
PL (bzw. ASSOZIATIV)
we us our
Sechs Zellen, sechs Stämme: das ist DIE EINSAME MASSE (Bb). Weil dieses extreme Muster in (13) kein Einzelfall ist, wird man sich fragen müssen, ob Personalpronomina zu besonderem suppletivischen Einzelgängertum neigen (und warum), oder
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ob sie vielleicht gar keine Paradigmen im strengeren Sinn bilden und Zusammenhalt deshalb auch nicht zu erwarten ist.8
4.6 Übergriffe hinüber und herüber Mit Einzelgängern abgehakt, sind Übergriffe in zwei Richtungen (Cb) anstatt nur eine (Ca) die nächste Stufe der Verteilungskomplexität. Entsprechende Fälle, wo nicht nur ein, sondern zwei Stämme nicht auf einen Term einer Kategorie beschränkt sind, gibt es nicht in Hülle und Fülle, aber es gibt sie. Hier nur ein Beispiel eines verbalen Teilparadigmas, wo so etwas häufiger scheint als in der Nominalflexion: (14) Kopula esse ‚sein‘ im Lateinischen (Italisch, Idg.), Indikativ Präsens Aktiv 1 3 2
SG
PL
su-m es-t es
su-mus su-nt es-tis
Wie immer man die Übergriffe lokalisiert – su- von PL auf SG, es- von SG auf PL, suvon 1. auf 2. Person, es- von 2. auf 3. Person – bei einer Anordnung des Paradigmas wie in (12), mit den drei Personen gleich gereiht für beide Numeri und den zwei Numeri gleich gereiht für jede der drei Personen, greift jeder Übergriff nur in die unmittelbare paradigmatische Nachbarschaft über, entweder vertikal oder horizontal. Man kann bei der Angabe der Verteilung jedes Stamms kategorial zusammenfassen – in (14), wo keine überwältigenden Mehrheiten herrschen, zweifach, je nachdem, von welcher Kategorie man ausgeht: es- wird gewählt im SG, außer in 1. Person; su- im PL, außer in 2. Person; es- wird gewählt in 1. und 3. Person, dort aber nicht im PL, su- in 1. und 3. Person, dort aber nicht im SG. Aber Merkmalskombinationen lassen die Geordnetheit des fraglichen Musters nicht so transparent erscheinen, wie es geometrische Anordnungen tun. Ob die Nachbarschaftsbeschränkung einzuhalten ist, hängt von der Anordnung der Terme ab. In folgendem Beispiel eines kategorial identischen Teilparadigmas muss die der Personen anders als in (14) gewählt werden:
|| 8 Das englische Adverb little hat drei Stämme für die drei Stufen der Gradierung: little/ less/lea-(st). Das ist auch ein Maximum, aber doch keines in der Komplexität der paradigmatischen Verteilung, denn anders als in (13) geht es hier ja nur um eine einzige Kategorie und ihre drei Terme.
18 | Frans Plank
(15) Verb mett-ere ‚stellen, setzen, legen‘ und viele seinesgleichen im Italienischen (Italisch, Idg.), 2. Konj., PASSATO REMOTO 2 1 3
SG
PL
mett-esti mis-i mis-e
mett-este mett-emmo mis-ero
Jedenfalls können hier die Terme so angeordnet werden, dass die SuppletVerteilungen sich in das Muster nachbarschaftlicher Übergriffe fügen. Es wäre dann weiter zu fragen, ob diese spezielle Anordnung ad hoc ist oder auch motiviert ist für alle anderen Teilparadigmen dieses Lexems und für alle anderen Lexeme, die für dieselben Kategorien flektieren – und folglich etwas Tieferes über die Paradigmenstruktur in der betreffenden Sprache ausdrückt, als nur eine einzige SuppletVerteilung so einfach wie möglich zu umschreiben. Im Italienischen geht die Verallgemeinerbarkeit nun nicht so weit: manche Verben, die im PASSATO REMOTO das dafür typische Suppletiv-Muster (15) zeigen, zeigen in anderen Teilparadigmen ein Muster, wo die Personen-Terme anders angeordnet sein müssen, um der Nachbarschaftsbedingung zu genügen: (16) Verb f(a)-are ‚tun‘ im Italienischen (Italisch, Idg.) a.
PASSATO REMOTO, suppletive Stämme /fatʃ-/, /fetʃ-/
2 1 3
SG
PL
fac-esti fec-i fec-e
fac-este fac-emmo fec-ero
b. Indikativ Präsens, suppletive Stämme /fatʃtʃ-/, /f(a)-/ 1 2 3
SG
PL
facc-io9 fa-i f-a
facc-iamo f-ate f-anno
4.7 Überkreuz Übergriffe überkreuz sind jetzt alles, was theoretisch noch möglich ist, wenn man Supplet-Verteilungen in Paradigmen durch räumliche Muster modelliert. Ist ein Überkreuz-Verbot also empirisch zu halten? Wenn nicht, bleibt hier nichts an uni-
|| 9 1SG regional auch f-o, mit facc- in 1PL dann als Einzelgänger in diesem Teilparadigma.
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 19
versellen Beschränkungen. Und es bleibt in der Tat nichts, absolut gesprochen: zwar sind Übertretungen des Überkreuz-Verbots ziemlich selten, viel seltener als alle anderen Muster, aber sie kommen vor. Wenn so analysiert wie in (10), allerdings mit uniformer Anordnung der Personen des Agens im Singular und im Plural, 2 – 3 – 1, wäre das Verb ‚schlagen‘ im Dusur einschlägig, denn in den Spalten für 2SG und 3SG.NF würden dann já’s das káTerritorium kreuzen. Andere Beispiele, mit den (mor-)phonologischen Zusammenhängen und Hintergründen besser bekannt, entstammen wiederum dem Italienischen, und wiederum der Verbflexion:10 (17) Verb ven-ire ‚kommen‘ im Italienischen (Italisch, Idg.), 3. Konj.; Indikativ Präsenssuppletive Stämme /vɛŋ/, /ven, vien/ (in der Annahme, dass diese Allomorphie nicht suppletiv, sondern phonologisch regelhaft ist: /vien/ wenn stammbetont, /ven/ wenn endungsbetont; falls unzutreffend, wären die zwei /ven/ und /vien/ jeweils ja Nachbarn) 1 2 3
SG
PL
veng-o vien-i vien-e
ven-iamo ven-ite veng-ono
Auch bei anderen Anordnungen der Personen sind die beiden veng- nicht in unmittelbare Nachbarschaft zu bekommen, denn ihre Terme sind komplementär: Person 1. vs. 3., Numerus SG vs. PL – und keine weitere Zelle in diesem Teilparadigma enthält ebenfalls veng- und könnte so der vertikalen oder horizontalen Nachbarschaftsanbahnung dienen. (17') 2 1 3
SG
PL
vien-i veng-o vien-e
ven-ite ven-iamo veng-ono
1 3 2
SG
PL
veng-o vien-e vien-i
ven-iamo veng-ono ven-ite
Nur eine unterschiedliche Reihung der Personen für die beiden Numeri in diesem Teilparadigma würde Nachbarschaft herstellen, aber das würde andererseits grundlos die Beschränkung der Reihungsuniformität verletzen und so eine Beschränkbarkeit von Verteilungsmustern mit solchen Darstellungsmitteln aushebeln.
|| 10 Die folgenden Daten und Beschreibungen sind im wesentlichen Rohlfs (1968: Teil 3) entnommen; dort auch noch zahlreich historische und dialektale Variationen zu den hier skizzierten Grundthemen.
20 | Frans Plank
(17") SG
1 2 3
PL
veng-o vien-i vien-e
3 2 1
veng-ono ven-ite ven-iamo
Bei verschiedenen morpho(no)logischen Mustern der italienischen Verbflexion, die die Verteilungen von mehr oder weniger regelmäßigen Allomorphen, von Stammerweiterungen und auch von Suppleten selbst betreffen, sind die rettenden vertikalen und horizontalen Nachbarschaften zwischen 1SG und 3PL tatsächlich hergestellt: (i) 1sg = 1pl = 3pl (18) pot-ére ‚können‘, 2. Konj.11 suppletive Stämme /pot-/, /poss-/, /puo-/ im Indikativ Präsens 1 3 2
SG
PL
poss-o puo puo-i
poss-iamo poss-ono pot-ete
(ii) 1sg = 3sg = 3pl das PASSATO REMOTO Muster suppletiver Verben, wie in (15), (16a), einschließlich solcher wie ven-ire (17); ebenso im Imperativ: (19) passato remoto von ven-ire ‚kommen‘; suppletive Stämme /ven/, /venn/ 2 1 3
SG
PL
ven-esti venn-i venn-e
ven-iste ven-immo venn-ero
(20) Imperativ von ven-ire ‚kommen‘; suppletive Stämme /ven, vien/, /vɛŋ/ 2 1 3
SG
PL
vien-i – veng-a
ven-ite ven-iamo veng-ano
|| 11 Altital. noch 1PL pot-emo, also Verteilungsmuster wie (17).
Vom Suppletiv(un)wesen, in Beziehung zur Paradigmenstruktur | 21
(iii) 1sg = 2sg = 3sg = 3pl (21) dov-ére ‚müssen, sollen‘, 2. Konj. suppletive Stämme /dov-/, /dev-, debb-/, /dobb-/ im Indikativ Präsens 1 2 3
SG
PL
dev-o / debb-o dev-i dev-e
dobb-iamo dov-ete dev-ono / debb-ono
(22) fin-ire ‚enden‘, 3. Konj., mit Stammerweiterung -isc 1 2 3
SG
PL
fin-isc-o fin-isc-i fin-isc-e
fin-iamo fin-ite fin-isc-ono
1SG = 2SG = 3SG = 3PL ≠ 1PL = 2PL ist das berühmteste Morphom des Romanischen. Dieser speziellen Kombination der Terme von zwei Kategorien lässt sich nicht leicht ein kleinster kategorialer Nenner abgewinnen (deshalb nicht Morphem, sondern Morphom: so genannt und viel diskutiert seit Aronoff 1994). Obwohl sich dieses Muster immer wieder in paradigmatischen Formenverteilungen in der Verbflexion romanischer Sprachen zeigt, ist es denn auch nicht morphologisch begründet, sondern spiegelt letztlich ein persistentes Betonungsmuster wider: Stammbetonung im SG und bei 3PL, Endungsbetonung bei 1/2PL. So widerspenstig es auch merkmalsmorphologisch ist, dieses Muster lässt sich leicht durch räumliche Anordnung erfassen, als einfachste Form des Übergriffs (Ca). Es sind dann nur eine Handvoll Verben aus der 2. und 3. Konjugation im Italienischen, die dieses Morphom-Muster nicht genau reproduzieren, indem sie für 1SG und 3PL im Indikativ Präsens eine weitere Stamm-Variante differenzieren: neben ven-ire (17) noch sal-ire ‚(auf-/be-)steigen‘, dol-ére ‚schmerzen‘, ten-ére ‚halten‘, valére ‚gelten‘, riman-ére ‚bleiben‘, por-re/pon-ére ‚stellen, setzen, legen‘, sowie, mit einer zusätzlichen Komplikation bei 1PL, vol-ére ‚wollen‘ (23). (23) vol-ére ‚wollen‘, 2. Konj. suppletive Stämme /voʎ-/, /vuol-, vol-/, /vuo-/ im Indikativ Präsens 1 2 3
SG
PL
vogli-o vuo-i vuol-e
vogl-iamo vol-ete vogli-ono
1 3 2
SG
PL
vogli-o vuol-e vuo-i
vogl-iamo vogli-ono vol-ete
Diese Verben mit stammauslautendem /n, l/ haben eine Geschichte von analogischer Hinzufügung eines Velars (nach dem Vorbild ursprünglicher Stämme auf /ng, lg/), von lautgesetzlichen Palatalisierungen zu /ɳ, ʎ/ und dann von analogischen
22 | Frans Plank
Ausgleichungen innerhalb ihrer Paradigmen hinter sich. Aus einem anderen phonologischen Grund, einer vielleicht auch synchron noch durchsichtigeren Vokalisierung von stammfinalem /r/, haben Verben der 3. Konjugation wie mor-ire ‚sterben‘ und appar-ire ‚erscheinen‘ ebenfalls diese unüberbrückte Überkreuz-Verteilung mit 1SG und 3PL als Partner: (24) mor-ire ‚sterben‘, 3. Konj., Indikativ Präsens 1 2 3
SG
PL
muoi-o muor-i muor-e
mor-iamo mor-ite muoi-ono
5 Beschränkung in Zeiten des Übergangs Insgesamt, nach Ausweis solcher Evidenz, ergibt also die Verteilung von suppletiven Stämmen über Flexionsparadigmen ein dermaßen vielgestaltiges Bild, dass sich ihm durch räumliche Anordnungen von Paradigmen in Verbindung mit der Nachbarschaftsbeschränkung und der Bedingung der Anordnungsuniformität keine Grenzen setzen lassen. Gut, geometrisch einfachere Verteilungen scheinen wesentlich häufiger zu sein als komplexere: aber eine absolute, immer und überall geltende Beschränkung dieser Art, namentlich ein Überkreuz-Verbot lässt sich nicht aufrechterhalten. Wer nach den Grenzen der Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus forscht, muss für den Bereich der Suppletion resignierend einräumen, dass mentale Grammatiken menschenmöglich, und jedenfalls in Italien und vielleicht auch Neuguinea realisiert sind, die suppletive Stämme auf die komplexest mögliche Art, nämlich überkreuz verteilen. Um ihre Enttäuschung über diesen Befund zu minimieren, werden Universalisten nach jedem Strohhalm greifen, der das Chaos der grenzenlosen Verschiedenheit doch noch irgendwie begrenzen könnte. Und tatsächlich: Wenn die hier vorgelegte Evidenz nicht trügt, ist es eher schwache Suppletion, die paradigmatisch so unordentlich, speziell überkreuz verteilt ist; starke Suppletion dagegen folgt eher paradigmatischen Ordnungen. Nur: Die Unterscheidung von Suppletionsstärken hat keinen theoretischen Stellenwert – Suppletion ist Suppletion, wie schwach auch immer. Suppletionen können auch unterschiedliche Entstehungsgeschichten haben, Dissimilation oder Kombination. Aber diese sind nicht notwendigerweise widergespiegelt in Stärkegraden: kombinatorische Suppletion kann erstaunlich schwach sein und dissimilatorische Suppletion kann erstaunlich stark sein oder werden (siehe Beispiele in Kap. 2). Folglich ist daraus kein direkter Gewinn zu schlagen für eine
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zeitlose Begrenzung der Suppletionsvielfalt. Und doch ist es die Diachronie, die den ordnenden Strohhalm bereithält. In vielen Fällen scheint es müßig zu fragen, ob eine beobachtete Beschränkung sprachlicher Verschiedenheit sich einem zeitlosen Gesetz verdankt oder einem Gesetz des historischen Wandels.12 Zu sagen, „Kein Dual ohne einen Plural“ (= zeitloses Gesetz, gilt immer und überall, erlegt dem Wandel Grenzen auf), läuft effektiv auf das Gleiche hinaus wie „Keine Innovation eines Duals, ohne dass es bereits einen Plural (unterschieden von Singular) gäbe oder ein Plural gleichzeitig eingeführt würde, und kein Schwund eines Plurals, solange es noch einen Dual gibt bzw. ein Dual nicht gleichzeitig aufgegeben wird“ (= Gesetz des Wandels, aus dem sich automatisch die Grenzen der Verschiedenheit ergeben). In anderen Fällen ist eine Beschränkung, auch wenn man sie zeitlos formulieren kann, doch von ihrer Natur her ein Gesetz des Wandels. Zum Beispiel: „Keine Infixe ohne Adfixe“ beschreibt recht eigentlich ein Gesetz des Wandels, denn die Implikation „Infixe implizieren Adfixe“ ist zu lesen als „Infixe entstehen aus Adfixen und nur aus Adfixen“, wobei der einzige Mechanismus des Wandels die phonologisch motivierte und bewerkstelligte Internalisierung von Prä-, Suf- oder Circumfixen in Stämme zwecks Optimierung prosodischer Strukturen ist. Aber dann hat doch auch diese Geschichte wieder ihre zeitlose Lesart: kontinuierliche Konstituenten sind – immer und überall – leichter zu speichern und zu verarbeiten als diskontinuierliche Konstituenten, und durch Infigierung werden Stämme eben diskontinuierlich, also es besser bei Adfigierung belassen. Die diachronische Gesamtgeschichte ist dann wohl eine komplexere und dreht sich um die historische Prioritisierung und Um-Prioritisierung von phonologischer und morphologischer Optimalität. Im Fall der Verteilung von suppletiven Stämmen in Flexionsparadigmen ist die Interpretation eindeutig wie sonst selten. Es kann kein zeitloses absolutes Gesetz der Beschränkung solcher Verteilungen geben, denn sogar Überkreuzungen, der Gipfel der Unordnung, sind belegt. Aber es gibt – mutmaßlich, keine Gegenbeispiele (mir) bekannt – ein Gesetz des Wandels: Wann und wo immer Suppletion auf dem Weg der Kombination von Lexemen entsteht, müssen paradigmatische Strukturen der Dominanz, Kohärenz und Uniformität respektiert werden, und insbesondere darf nicht überkreuz kombiniert werden. Was dann nach erfolgten kombinatorischen Suppletionsentstehungen geschieht, unterliegt keinen geometrischen Beschränkungen. Ebenso unbeschränkt ist, wie sich dissimilatorisch entstandene Supplete über Paradigmen verteilen – innerhalb der wahrscheinlich weiten Grenzen dessen, was für Allomorphie möglich ist, wovon (starke) Suppletion eben der Extremfall ist. Synchron, für den Sprachlerner ohne historisch-linguistisches Wissen, || 12 Vgl. zu solchen Fragen des Verhältnisses von Typologie und Diachronie aus meiner Sicht auch Plank/Schellinger 2000, Plank 2003, 2007, Plank/Lahiri 2008.
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wäre ja auch nicht zu erkennen, wie Suppletion entstanden ist, durch Dissimilation oder Kombination.13 Also können dann keine zeitlosen Verteilungsverbote mehr gelten. Alles gesetzgeberische Augenmerk sollte also auf den entscheidenden Wandel, auf die Entstehung von kombinatorischen Suppletionen gerichtet sein. Was genau ist, was da passiert, den Gesetzen paradigmatischer Ordnung unterworfen? Sind etwa die Paradigmen der an Kombinationen beteiligten Lexeme selbst schon von Anfang an komplementär defektiv, und zwar so, dass die jeweiligen, sich dann aufs Schönste ergänzenden Lücken systematisch anstatt zufällig sind? Viele Lexeme mit defektiven und nie suppletiv ergänzten Paradigmen scheinen nicht dafür zu sprechen. Und wo Defektivität in der Tat systematisch ist – wie beispielsweise bei den mittels Suffix -i/-j abgeleiteten Verben mit umgelautetem Stammvokal im Vor-/Proto-Germanischen, denen das ganze Präteritum mangelte, weil dieses mittels Ablaut gebildet war und Umlaut-Vokale nicht vorsah –, da scheint Periphrase die klar bevorzugte Vervollständigungsstrategie gegenüber Suppletion. Oder werden Verteilungsgesetze erst wirksam im Zuge von Zusammenfügungen der (möglicherweise überhaupt nie defektiven) Paradigmen verschiedener Lexeme zu einem einzigen, wenn für die beteiligten Stämme manche Flexionsformen aufgegeben und die Stämme über die nunmehr geteilt lexikalisierten Paradigmen verteilt werden? Weil Georg von der Gabelentz das (von Osthoff 1899/1900 so genannte) Suppletivwesen „Defectivwesen“ genannt hat, könnte man versucht sein, ihm erstere Ansicht zu unterstellen – was aber wohl unzutreffend wäre: Unterscheiden wir zwischen den lautlichen Formenmitteln und deren Werthen, – den Formkategorien –: so werden wir annehmen dürfen, dass ursprünglich der einen soviele verschiedene waren, wie der anderen, dass aber nachmals sozusagen die Zahl der Ämter vermindert, und die einmal vorhandenen Beamten den Ressorts mit zugetheilt wurden, zu denen sie am Besten zu passen schienen. (Gabelentz 1891: 334)
|| 13 Was auch für Linguisten gilt: Bei den Suppleten -va(l)- und -(s)vl- des georgischen Verbs ‚kommen, gehen‘ ((9) oben) zum Beispiel würden viele auf dissimilatorischen Ursprung tippen; aber für Hippisley et al. (2004) ist das ein Hauptbeispiel von problematisch verteilter Suppletion – und ihr erklärtes Interesse gilt nur der kombinatorischen Suppletion. Wer soll das auch wissen – außer historischen Morphologen? Und die auch nicht immer: Enthält die Adjektivierung bzw. das Demonym Stopford-ian zum englischen Ortsnamen Stockport ein dissimilatorisches oder ein kombinatorisches Supplet? Ford könnte ein anderes Lexem sein; nur ist in und um Stockport (seit 1170 als Stokeport belegt: ‚Markt-weiler‘) keine Furt bekannt. Regressive Labial-Assimilation und dann Frikativisierung an der Morphemgrenze wäre eine dissimilatorische Story: aber auch eine voll überzeugende?
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6 Rückblick und Dank Bei der 7. Internationalen Morphologie-Tagung in Wien war die paradigmatische Geometrie von Suppletion und insbesondere das Überkreuz-Verbot Gegenstand eines Plenarvortrags; das war im Februar 1996. Seither gab es für mich immer wieder einmal Anlass, über dieses Thema zu reflektieren und zu referieren und mich mit Kolleg(inn)en auszutauschen, z.B. im Juni 2009, beim Workshop Prozesse der Regularität und Irregularität in Phonologie und Morphologie in Münster. Von manchen Paradigmen mit mehr oder weniger ungewöhnlichen Supplet-Verteilungen habe ich über die Jahre so erfahren dürfen: mein Dank an alle diese kenntnisreichen Suppletivisten, darunter Aleksandr E. Kibrik (†), Christoph Schwarze, Nigel Vincent und Gustav Wurzel (†). Klaus-Michael Köpcke und vor allem meinem alten Freund Andreas Bittner ist es zu verdanken (um nicht zu sagen ‚anzukreiden‘), dass diese Überlegungen jetzt doch noch an ihrem 20. Jahrestag in Druck gehen.
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Livio Gaeta
Irregularität und Systemangemessenheit 1 Einführung Dieser Beitrag untersucht das Verhältnis zwischen übereinzelsprachlichen Regularitäten und sprachspezifischen, systeminternen Struktureigenschaften. Dabei steht die Suche nach universellen Prinzipien im Fokus. Aus dieser Perspektive werden Antworten auf folgende Fragen nötig sein: Was sollte als irregulär bzw. unregelmäßig in der Sprache betrachtet werden? Bedeutet Irregularität dasselbe wie Markiertheit? Auf welche Ebene sollte sich die Dialektik von Irregularität und Regularität beziehen? Ist sie universell oder sprachspezifisch? Zugespitzt soll also ergründet werden, ob und inwiefern die Systemangemessenheit, d.h. die Menge der in einer Sprache vorkommenden systeminternen Strukturbedingungen, quasi als unüberwindbarer Schutzwall fungiert, der eine uneingeschränkte Entfaltung und Wirkung der universellen Prinzipien be- oder sogar verhindert. Die in diesem Beitrag zu verteidigende These dazu, wie sich die Systemangemessenheit konkret manifestiert, lautet: Systemangemessenheit bedeutet lokale Optimierung von aus verschiedenen Sprachwandelquellen entstandenen komplexen Fällen, die die Sprachüberarbeitung verhindern bzw. verkomplizieren können. Mit anderen Worten liegt die Systemangemessenheit dem sogenannten Markiertheitsabbau zugrunde. Dementsprechend ist aber die Markiertheit nicht auf der Basis von universellen Prinzipien, sondern rein lokal zu bewerten. In diesem Beitrag werden an konkreten Beispielen Sprachwandelphänomene aus dem Bereich der Flexionsmorphologie diskutiert, die gegen einige weithin anerkannte universelle (morphologische) Prinzipien verstoßen und damit für die lokale Bewertung der Markiertheit sprechen. Im Abschnitt 2 wird die Frage der Interpretation der Regularität bzw. Irregularität thematisiert, wobei auch der alte Begriff der Analogie diskutiert wird. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der konkreten Dialektik zwischen universellen Prinzipien und ihrem Verhältnis zur sprachspezifischen Systemangemessenheit. Darauf bezogen versucht der Abschnitt 4 einige Konsequenzen herauszuarbeiten, indem allgemeine Strukturprinzipien angestrebt werden, die jenseits der Systemangemessenheit agieren und auf eine sprachökonomische Gestaltung der Systemangemessenheit zielen. Im Abschnitt 5 wird ein abschließendes Fazit gezogen.
2 Regularität / Irregularität / Analogie Regularität bedeutet im engeren Sinne Regelgeleitetheit. Da Regeln normalerweise in der Linguistik als formale Repräsentationen betrachtet werden, die die klassische
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Formel einer ‚rewrite rule‘ verkörpern: A → B / C _ D, sollte Irregularität auf einen nicht regelgeleiteten Sachverhalt verweisen. In diese Richtung geht tatsächlich das klassische Zitat aus Bloomfield (1935: 213), das auch als Geburtsdatum der traditionellen Gegenüberstellung von Regel und Liste gilt und als Meilenstein des amerikanischen Strukturalismus betrachtet wird: We can make our general statement cover one group, but will then have to furnish a list of the cases that do not fall under the general statement. A set of forms that is not covered by a general statement, but has to be presented in form of a list, is said to be irregular.
Unter diesem Gesichtspunkt gibt es keinen Platz für eine Bewertung der Regularität bzw. Irregularität: eine Regel wird entweder angewandt – d.h. findet eine passende Eingabe – oder nicht. Der Rest wird aufgelistet, weil er sich jeder Regel entzieht. Es ist kein Zufall, dass diese Frage bei Bloomfield zuerst im Bereich der Flexionsmorphologie und insbesondere der Pluralbildung auftaucht, die auch im Zentrum der Diskussion dieses Aufsatzes stehen wird. Bekanntlich hat man aber schon in der früheren generativen Grammatik versucht, ein Bewertungsmittel der Regularität bereitzustellen, indem man zwischen sogenannten ‚major rules‘ und ‚minor rules‘ unterschieden hat (vgl. Lakoff 1970). Gegenüber den ersten seien die zweiten nicht nur weniger häufig angewandt, d.h. finden weniger passende Eingaben, sondern sie seien unter einem formellen Gesichtspunkt auch komplexer. Man beachte, dass der Unterschied an Komplexität nicht notwendigerweise eine direkte Entsprechung in der Produktivität, d.h. Häufigkeit der Regelanwendung, haben muss.1 Also kann der Begriff Regularität einerseits mit der Regelgestaltung bzw. -komplexität und andererseits mit der Häufigkeit der Anwendung verbunden werden. In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass zwei Regeln einen gewissen Regularitätsgrad aufweisen, der skalar aufzufassen ist. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Skala von unterschiedlich regelmäßig angewandten Regeln. Andererseits ergibt sich die Skalarität indirekt aus der Anwendung von anderen theoretischen Konstrukten wie dem sogenannten Paṇini-Prinzip. Bekannterweise besagt das Paṇini-Prinzip, dass man zwei Regeln aufeinander beziehen kann, indem
|| 1 Der Produktivitätsbegriff ist bekanntlich äußerst kompliziert (vgl. Bauer 2001). Er kann einerseits qualitativ aufgefasst werden, d.h. bezüglich der Eigenschaften, über die beispielsweise die Flexionsklassen verfügen müssen, um als produktiv betrachtet zu werden (vgl. Wurzel 1984; Dressler 2003a). Andererseits kann die Produktivität der Flexionsklassen quantitativ betrachtet werden, wenn beispielsweise die Häufigkeit der Regelanwendung konkret gemessen wird (vgl. Gaeta 2007a). In der oben dargestellten Auffassung wird der Verbindung zwischen der qualitativen (Komplexität der Regel) und quantitativen (seltenere Anwendung) Produktivität Rechnung getragen. Hier wird auf eine detaillierte Diskussion verzichtet, wofür der Leser auf Bauer (2001) und auf Gaeta/Ricca (2015) verwiesen wird.
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die eine in einer inklusiven Relation zur anderen steht. Inklusivität gilt also als allgemeines theoretisches Verfahren, um Skalarität in eine Markiertheitstheorie zu integrieren (vgl. Andersen 2001). Dementsprechend kann man eine Markiertheitsrelation zwischen zwei regelgeleiteten Verfahren feststellen, wobei die markierte Regel in die unmarkierte eingebettet wird. So kann beispielsweise die Beziehung zwischen der additiven Präteritumsmarkierung der deutschen schwachen Verben und der substitutiven Ablautmarkierung der starken Verben als eine hierarchisch verzweigende inklusive Markiertheitsrelation im Vergleich mit dem additiven unmarkierten Präsens ausgedrückt werden: [VU : [V-t-U : V-AblM]M]. Aus dieser Perspektive hat man versucht, auch Irregularität als skalar zu interpretieren, indem beispielsweise Dressler (1985) zwischen morphophonologischen und allomorphisch-morphologischen Regeln, schwacher und starker Suppletion unterscheidet, obwohl das oben genannte Inklusivitätsprinzip nie wirklich ernsthaft zu solchen Zwecken verwendet worden ist. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die Irregularität nicht einfach als das Gegenteil der Regularität darstellen lässt, d.h. als eine Inklusivitätsrelation mit umgekehrten Markiertheitswerten. Mit anderen Worten ist es gar nicht klar, ob in dem genannten Beispiel das markierte Verfahren, das Ablautpräteritum, auch als weniger regelmäßig – im Sinne von regelgeleitet – aufgefasst werden muss. Normalerweise bewerten diejenigen, die diese Frage bejahen, die umgekehrten Markiertheitsverhältnisse nicht nach der Regelmäßigkeit bzw. Regelgeleitetheit, sondern wiederum nach der Regularität der Instanziierung des Verfahrens. Das bedeutet, dass ein Verfahren A markierter als ein Verfahren B ist, wenn sein Anwendungspotenzial geringer bzw. weniger systematisch bzw. ‚irregulärer‘ ist. Darüber hinaus wird etwa in Dresslers Sichtweise explizit vorausgesetzt, dass die additive Markierung gegenüber den anderen (nicht-additiven) Markierungen produktiver sein sollte. Dementsprechend ist zu erwarten, dass in keiner natürlichen Sprache eine regelmäßige subtraktive Markierung statt eines Abbaus eine Expansion auf Kosten einer additiven Markierung erfahren sollte. Diese Erwartung lässt sich verstärken, indem ein allgemeines Prinzip angenommen wird, demzufolge der Sprachwandel nach einer Verringerung der Markiertheit – bzw. auf der gegenüberliegenden Seite nach einer Zunahme an Natürlichkeit – streben sollte. Dementsprechend gilt die folgende Vorhersage (vgl. Dressler 2003b: 463): if, of two comparable morphological options X and Y, X is more natural than Y on a given parameter Z, then natural/unmarked change of X to Y should be more likely to occur than the reverse, unnatural/marked change Y to X. This predicted direction of change does not imply the absurd position of overall change toward more and more naturalness, but represents the hypothesis of local improvement on just one parameter.
Die letzte Präzisierung bringt etwas Konkretheit in die Sache hinein, indem durch sie erklärt wird, dass die durch den Sprachwandel angestrebte Optimierung bzw.
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Zunahme an Regularität lokal bewertet werden muss und nicht etwa global innerhalb des gesamten Sprachsystems. Allerdings bleibt Unklarheit bezüglich des entscheidenden Bestimmungsparameters bestehen, weil die Parameter zahlreich und unterschiedlich orientiert sind. Das schwächt beträchtlich die Kraft der Vorhersagefähigkeit. Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen. Die Interpretation der Regelmäßigkeit als Regularität führt uns schließlich zu einem weiteren problematischen Aspekt der Frage, nämlich dem Unterschied zwischen Regel(-basiertheit) und Analogie (vgl. Gaeta 2010a). Trotz der prinzipiellen Behauptung von Plag (2003: 38), dass Analogie einerseits nicht imstande sei, „the systematic structural restrictions ... that are characteristic of derivational processes, and which in a rule-based framework are an integral part of the rule” aufzufassen, und dass andererseits mit der Verschmelzung von Analogie und Regel unerklärt bleibe, warum einige analogische Muster oft aber andere gar nicht ausgeführt werden, scheint die scharfe Gegenüberstellung zwischen analogischem Verfahren und Regel kaum haltbar zu sein (vgl. Becker 1990; Köpcke 1998). In der Tat ist mehrmals darauf hingewiesen worden, dass im Grunde genommen keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Regeln und analogischen Mustern bestehen: „[t]he arguments for and against analogy seem to cancel each other out to a large extent. Neither side emerges from the discussion in an unassailable position“(Bauer 2001: 96). Zum ersten Punkt kann man feststellen, dass es de facto kaum sichere Beschränkungen zu den vielfachen Möglichkeiten gibt, die die analogischen Muster anbieten können, obwohl die unterschiedlichen Schemata normalerweise mit einer unterschiedlich großen Wahrscheinlichkeit zur Anwendung kommen (vgl. Köpcke 1993, 1998). Zum zweiten Punkt sei darauf hingewiesen, dass prinzipiell jede, d.h. auch rein phonologische, Alternation mithilfe eines analogischen Musters bzw. Schemas umschrieben werden kann (vgl. Anttila 1989: 88). Aus dieser Perspektive gibt es keine Regeln mehr, nur Regularitäten, die mithilfe von analogischen Mustern ausgedrückt werden. Entscheidend dafür, ob ein Muster eine gewisse Regularität im Sinne von regulärem Anwendungspotenzial beanspruchen kann, sind im Grunde genommen behavioristische Eigenschaften wie Type- bzw. Token-Frequenz, Salienz, usw. (vgl. Köpcke 2002). In dieser Sicht verschwindet nun paradoxerweise jede Idee von Irregularität: alles ist mindestens teilweise regulär, weil sich ein Muster daraus entwickeln kann. Nur ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Muster entwickeln, unterschiedlich und sozusagen behavioristisch, d.h. Performanz-gerichtet, zu bewerten. Mit dem ihm eigenen Witz fasst Bauer (2001: 97) die Streitfrage so zusammen, dass der Unterschied zwischen Analogie und Regel jeweils mit dem Gesichtspunkt derjenigen variiert, die sich mit den sprachlichen Fakten befassen:
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It could be that speakers work with analogy, but that linguists’ descriptions of the output of this behavior are in terms of rules. ... It may also be that rule systems presuppose analogy: they must start somewhere!
Aber auch wenn die Morphologie auf das gesamte Regelwerk verzichtet, bleibt trotzdem die Frage offen, ob noch allgemeine Prinzipien übrigbleiben, die aus einer übereinzelsprachlichen Perspektive von Interesse sein können.
3 Übereinzelsprachliche Prinzipien und sprachspezifische Irregularität Um eben dem Risiko zu entgehen, dass es gar kein übereinzelsprachliches, also nicht nur strikt behavioristisches, Prinzip gibt, das für die Sprachstruktur an sich verantwortlich gemacht werden kann, muss man auf Regularitäten Bezug nehmen, die vermutlich auf übergeordneten, d.h. nicht rein behavioristischen, Prinzipien bzw. Eigenschaften beruhen. In diesem Zusammenhang kann man mindestens auf zwei in der Literatur oft zitierte Prinzipien verweisen: Ikonismus und Relevanz. Der Ikonismus wird von der Natürlichen Morphologie als Grundprinzip zelebriert: ein Mehr an Form impliziert ein Mehr an Bedeutung (und vice versa, vgl. Dressler 2000a). Also sind übereinzelsprachlich all diejenigen morphologischen Kodierungen dispräferiert, die sich anti-ikonisch verhalten: Konversion bzw. Null-Affigierung, die als nicht-ikonisch gelten (vgl. Gaeta 2013), und Subtraktion, die sogar kontra-ikonisch wirkt (vgl. Dressler 2000b). Das Prinzip der Relevanz weist darauf hin, dass die Morpheme sich bezüglich des lexikalischen Stamms nicht willkürlich verteilen lassen, sondern nach dem Grad der semantischen Relevanz (vgl. Bybee 1985 und Leiss 1995 für eine kritische Diskussion). Und zwar: je größer die Relevanz, d.h. der semantische Effekt auf den Stamm, eines Morphems ist, desto näher am Stamm wird jenes Morphem auftreten. In der übereinzelsprachlichen Perspektive sollten diese zwei Prinzipien Regularitäten gewährleisten, die nicht nur auf der Systemebene bewertet werden müssen, sondern universell. Was passiert aber, wenn diese universellen Prinzipien in Konflikt mit den Regularitäten geraten, die auf der Systemebene agieren? Mit anderen Worten: Wirken solche Prinzipien immer strikt oder sollen sprachspezifische Ausnahmen angenommen werden? Falls sich solche Ausnahmen finden lassen, ist dann die universelle Gültigkeit der Prinzipien in Frage zu stellen? Man beachte allerdings, dass die vermuteten Ausnahmen spezifischer Natur sein müssen. Sie müssen eben nicht global bewertet werden, sondern auf der Ebene von einzelnen Parametern, die dann in Konflikt miteinander stehen können. Falls es sich aber ergeben sollte, dass einzelne Ausnahmen genau die Stichhaltigkeit eines solchen Parameters in Frage stel-
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len, muss kohärent auf diesen universellen Parameter verzichtet werden. Dies würde auch bedeuten, dass das hinter dem universellen Parameter stehende allgemeine, übereinzelsprachliche Strukturierungsprinzip in Frage gestellt wird. Darüber hinaus müssen die Ausnahmen aktive Umgestaltungen eines Sprachsystems widerspiegeln. Offensichtlich können z.B. durch Lautwandel und Grammatikalisierung (morphologische) Konstrukte entstehen, die systembezogene bzw. universelle Gestaltungsprinzipien der Sprache verletzen. Das ist für eine statische Auffassung der Sprachstruktur zwar problematisch, aus einer diachronen Perspektive ist aber diese Verletzung dann nicht dramatisch, wenn gezeigt werden kann, dass der Sprachwandel genau solche Verletzungen beseitigt. Im Folgenden soll eine solche sprachliche Entität im Rahmen einer natürlichkeitstheoretischen Auffassung von der Dialektik zwischen übereinzelsprachlicher und sprachspezifischer Dimension untersucht werden.
3.1 Anti-Ikonismus im Mailändischen Als vielleicht einzige der geläufigen morphologischen Theorien befasst sich die Natürliche Morphologie systematisch mit der Dialektik zwischen der universellen Dimension der Sprachfähigkeit und der sprachspezifischen Ebene. Diese Dialektik wird offensichtlich in allen Bereichen der Morphologie behauptet, nicht zuletzt beim Thema des Ikonismus, d.h. der Kodierung von morphologischen Informationsteilen. Nach Wurzel (1984: 174) sind die übereinzelsprachlichen Prinzipien, die für den Ikonismus verantwortlich sind, nämlich P-4 und P-5, den anderen Prinzipien untergeordnet, die die sogenannte Systemangemessenheit ausmachen bzw. befördern (für eine kritische, detaillierte Diskussion, vgl. Bittner 1988 und Wheeler 1993): P-1 Typologische Einheitlichkeit und Systematik morphologischer Systeme; P-2 Implikativer Aufbau morphologischer Strukturen; P-3 Strikte Kopplung morphologischer Klassen an außermorphologische Eigenschaften; P-4 Formale Widerspiegelung inhaltlicher Identitäten und Distinktionen; P-5 Formale Widerspiegelung inhaltlicher Markierungsverhältnisse. Man beachte, dass die ersten drei Prinzipien auf innersystemische Regularitäten der Flexionsparadigmen hinweisen, die keinen Bezug zu „natürlichen” Prinzipien der Sprachzeichen wie Ikonismus bzw. Diagrammatizität haben. Insofern lassen sich solche Prinzipien auch in andere theoretische Rahmen einbeziehen, die dem Flexionsparadigma eine zentrale Rolle zuschreiben (vgl. etwa Aronoff 1994). Das am Ende angeordnete P-5 bezieht sich auf den Ikonismus und büßt in Folge der hierarchisch strukturierten Ordnung gegenüber allen anderen Prinzipien an Durchset-
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zungskraft ein. In Übereinkunft mit dieser Sichtweise (Wurzel 1984: 87) kann man eine diachrone Maxime formulieren, die voraussagt, dass der morphologische Wandel die Zunahme der Systemangemessenheit eines gewissen morphologischen Konstruktes nach den vorgegebenen Prinzipien anstrebt: [Die Prinzipien] legen die Richtung von morphologischen, d.h. genauer: morphologisch bedingten Veränderungen im Sprachsystem fest. Immer wenn im Bereich der Flexionsmorphologie solche Veränderungen eintreten, dann vollziehen sie sich in der von den Prinzipien vorgegebenen Richtung. Den Prinzipien insgesamt zuwiderlaufende morphologische Veränderungen gibt es nicht. (Wurzel 1984: 188)
Die letzte, starke Behauptung setzt voraus, dass in dem angenommenen Grammatikmodell die Prinzipien sich wiederum nach dem Paṇini-Prinzip aufeinander beziehen lassen: P-1 steht in einem Inklusivitätsverhältnis mit den anderen vier; P-5 ergibt sich per Default, nachdem alle anderen Prinzipien leer angewandt werden. Oder etwa einer optimalitätstheoretischen Auffassung entsprechend wird P-5 von den anderen Prinzipien dominiert. Das Fazit ist also, dass P-5 bestenfalls in Folge einer Art von „emergence of the unmarked“ auftauchen kann (vgl. McCarthy 2002: 129), weil die morphologischen Veränderungen im schlechtesten Fall, d.h. beim Scheitern der anderen Prinzipien, mindestens P-5 befolgen müssen. In dieser Perspektive gilt P-5, also die Präferenz zum Ikonismus in der morphologischen Kodierung, als eine Ultima Ratio, wenn nichts Spezifischeres mehr helfen kann. Wenn die Verhältnisse zwischen übereinzelsprachlichen und sprachspefizischen Prinzipien so sind, dann scheint Dresslers (2000a: 293) Optimismus, dass „the direction of morphological change should be preferrably towards more morphological naturalness“, völlig fehl am Platz zu sein, vor allem wenn man morphologische Natürlichkeit mit der Auswirkung von übereinzelsprachlichen Prinzipien wie Ikonismus, Indexikalität usw. identifiziert (vgl. Dressler 2000a). Tatsächlich muss er auch seinem Optimismus etwa folgendermaßen Grenzen setzen, wenn er zugibt: Language-specific, system-dependent naturalness … represents what is normal or systemcongruous (system-adequate) within the morphology of a language, even if it contradicts some universal morphological preference. (Dressler 2003b: 468)
Allerdings bleibt dieser Optimismus in einigen seiner Stellungnahmen fest verwurzelt, zum Beispiel in Bezug auf die vermutete Präferenz, der zufolge ein ‚natürlicherer’ Sprachwandel einem weniger natürlichen vorgezogen werden soll. Um diese Präferenz zu unterstützen, bringt er das Beispiel vom subtraktiven fränkischen Plural hond ‚Hund‘ / hon ‚Hunde‘, der tatsächlich „has become unproductive and loses items to diagrammatic additive plural formation“ (Dressler 2003b: 464). Subtraktive Markierung sei dann nicht nur universell äußerst selten zu finden. Sie müsse auch zugunsten der additiven Markierung immer zurücktreten.
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Obgleich diese Behauptung vernünftig erscheint, bleibt die prinzipielle Frage nach der Beziehung zwischen universeller Natürlichkeit und sprachspezifischer Angemessenheit unbeantwortet, und zwar: wie weit letztere die Stärke der universellen Natürlichkeit systematisch einschränken kann? Wenn die Systemangemessenheit Priorität über die universelle Natürlichkeit hat, dann kann sie sich auch durch einen Sprachwandel durchsetzen, der gegen die universelle Natürlichkeit verläuft. Also ist auch das Vorkommen eines Sprachwandels denkbar, bei dem die subtraktive Markierung gegenüber der additiven eine Expansion statt eines Abbaus erfährt. Ein solches Beispiel findet man im Stadtdialekt von Mailand (vgl. Salvioni 1975). In diesem Dialekt kommt die folgende (etwas vereinfachte) Reihe von Flexionsklassen (= FKn) vor, die mithilfe des Genus [± Maskulinum] und anderer außermorphologischer Merkmale (=AMM) wie z.B. [± Belebtheit] unterschieden werden können: Tab.1: Nominale Flexionsklassen im Mailändischen FK1
FK2
FK3
FK4
FK5
FK6
AMM
[+M]
[-M]
[+M] [+belebt]
[+M]
[+M]
[-M] [+belebt]
[-M]
Sg.
el mur ‚Mauer‘
la red ‚Netz‘
scior ‚Herr‘
el basin ‚Kuss‘
el capel ‚Haar‘
la sciora ‚Frau‘
la scala ‚Treppe‘
Pl.
i mur
i red
i sciori
i basett
i capej
i sciori
i scal
Man beachte, dass die Nomina mit dem entsprechenden Artikel angegeben werden, sodass das Genus direkt erkannt werden kann: el ist [+M] und la [-M]. Außerdem ist der Genusunterschied im Plural generell neutralisiert: der Plural i sciori kann sowohl auf el scior ‚der Herr‘ als auch auf la sciora ‚die Frau‘ zurückgehen. In der FK1 sind sowohl Maskulina als auch Feminina enthalten, die nur durch den Artikel unterschieden werden: el mur vs. la red. In dieser FK liegt nach dem Parameter des Ikonismus hinsichtlich der Pluralbildung eine nicht-ikonische (und periphrastische) Markierung vor. Die FK2 el scior / i sciori weist die einzige wirklich additive Markierung auf. Eine substitutive Markierung findet man bei den FK32 und FK4, die ebenso wie FK2 nur Maskulina enthalten und außerdem unproduktiv sind, vgl. jeweils el basin / i basett und el capel / i capej. Man beachte, dass bei der FK4 die substitutive Markierung nur die Auslautkonsonanten betrifft. Dies unterscheidet die FK3 bzw. FK4 von der FK5, die nur belebte auf -a auslautende Feminina enthält:
|| 2 In der FK3 ist eine Reihe von allomorphischen Typen belegt, die auf unterschiedliche diachrone Quellen zurückzuführen sind. Außer der substitutiven Endung bei basin / basett findet man Umlaut wie bei todesch ‚der Deutsche‘ / todisch, u.a. (vgl. Salvioni 1975 für die Einzelheiten).
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la sciora / i sciori, wo sich die Neutralisierung mit dem additiven Maskulinum el scior / i sciori feststellen lässt. Darüber hinaus betrifft diese substitutive Pluralmarkierung nur die Auslautvokale der Feminina. Also ist die substitutive Markierung ziemlich klar genusabhängig differenziert: bei den Maskulina der FK3 und der FK4 findet sie durch die Ersetzung der Auslautkonsonanten statt, während sie bei den Feminina der FK5 auf die Auslautvokale einwirkt. Schließlich findet sich eine Koppelung von Genus und Endung bei der FK6, die nur Feminina enthält, die auch auf -a auslauten. Diese Koppelung ist allerdings unidirektional Genus → Endung, weil nicht alle auf -a auslautenden Nomina Feminina sind. Die auf -a auslautenden Maskulina werden nämlich nach der FK1 flektiert: el papa ‚der Papst‘ / i papa, usw. In der FK6 lässt sich eine kontra-ikonische Markierung feststellen, weil der Plural subtraktiv gebildet wird: la scala / i scal. Dieser Sachverhalt geht auf einen Lautwandel zurück, der im Mailändischen alle (unbetonten) Auslautvokale außer -a getilgt hat:3 > mur / mur (1) lat. MŪRU(M) ‚Mauer‘ / MŪRĪ SCĀLA(M) ‚Treppe‘ / SCĀLAE > scala / scal Aus einer diachronen Perspektive ist nun zu bemerken, dass das Flexionsmuster FK6 scala / scal trotz seiner kontra-ikonischen Natur eine Expansion erfahren hat, indem andere Feminina angezogen wurden, die ursprünglich nach der FK1 flektierten, also mit nicht-ikonischen und deswegen nach dem Ikonismusparameter besser zu bewertenden Pluralformen: (2) lat. CARNE(M) ‚Fleisch‘ / CARNĒ(S) > *carn / carn > carna / carn lat. VESTE(M) ‚Kleid‘ / VESTĒ(S) > *vest / vest > vesta / vest Wie die Beispiele in (2) zeigen, hat sich der subtraktive Flexionstyp auch bei Nomina wie carna und vesta durchgesetzt, wo keine subtraktive Markierung durch Lautwandel geschaffen wurde und das Flexionsmuster von FK1 zu erwarten war. Mit anderen Worten wird die FK6 über einen Flexionsklassenwechsel von aus der FK1 kommenden Lexemen bereichert. Dieser Wandel ist vermutlich so zu verstehen, dass durch ihn eine einheitliche, d.h. reguläre, Verteilung der [-M] bezeichnenden Singularendung -a gegenüber den Maskulina der FK1 erreicht wird. Also wird die außermorphologische Eigenschaft der phonologischen Endung -a strikt mit der FK6 im Sinne von Wurzels P-3 gekoppelt. Dementsprechend kann man hier die folgende Paradigmenstrukturbedingung (PSB) formulieren, die besagt, dass bei den auf -a auslautenden Feminina eine Vokaltilgung (VT) im Plural stattfindet: || 3 Nur in einigen Fällen wurde ein -i zurückgegeben, wo der Vokal den Plural bei belebten Nomina signalisierte (vgl. FK2 und FK5 oben).
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N PSB: +Fem ⊃ {Plural/ VT} /a/# Durch diese PSB wird offensichtlich der Grad an Regularität innerhalb des Flexionssystems erhöht, weil mehr Nomina, die über die gegebenen außermorphologischen Eigenschaften [+Fem, /a/#] verfügen, einer spezifischen FK eindeutig zugeschrieben werden können. Gleichzeitig erfolgt aber diese Zunahme an Regularität auf Kosten einer Zunahme an universeller Irregularität, weil sich dadurch eine subtraktive Pluralmarkierung ausdehnt.
3.2 Anti-Relevanz in Zuid-Holland Laut Wurzel unterscheidet sich ein universelles Prinzip wie der konstruktionelle Ikonismus von den die Systemangemessenheit bestimmenden Prinzipien nicht nur in der sprachspezifischen Bedingtheit der letzteren, sondern auch noch in einer weiteren wesentlichen Hinsicht: Während der konstruktionelle Ikonismus die Bewertung einer Semantik-Form-Relation ist, stellt die Systemangemessenheit die Bewertung einer Form-Form-Relation dar, d.h. sie ist rein morphologisch zu fassen (Wurzel 1984: 87).
In diesem Sinne stellt die Systemangemessenheit den theoretischen und empirischen Kern der Autonomie der Morphologie dar: das, was ihre Natur ‚by itself‘ gestaltet (vgl. Aronoff 1994). Es gibt aber ein weiteres Prinzip, das universelle Gültigkeit beansprucht und gleichzeitig eine Semantik-Form-Relation ins Spiel bringt, nämlich Bybees (1985) Prinzip der Relevanz: Das Morphem, das die größte Bedeutungsrelevanz in Bezug auf das Lexem aufweist, wird dem Stamm am nächsten realisiert. In Übereinstimmung mit diesem Prinzip kann eine Neuordnung der einzelnen Flexionsmarker in einer Affixkette erfolgen. Beispielsweise hat sich im Isländischen ein Passivmarker aus dem altnordischen Reflexivpronomen sik entwickelt, der in der Standardvarietät noch stammfern (vgl. ég/þu/hann kallast ‚ich/du/er werde/wirst/wird gerufen‘, við köllumst ‚wir werden gerufen‘, þið kallist ‚ihr werdet gerufen‘, þeir kallast ‚sie werden gerufen‘), in der gesprochenen Sprache aber eher vor anderen Markern, also stammnah vorkommt: (3) Isl. köll-um-st > rufen-1.Pl-pass
köllu-st-um ‚wir werden gerufen‘
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Offensichtlich ist die kontextuelle Flexion (d.h. Numerus und Person) weniger relevant für die Bedeutung eines Verbstamms als die inhärente Flexion (d.h. Passiv), und erwartungsgemäß geht der Sprachwandel in die Richtung, eine solche Anomalie zu beseitigen. Implizit ist in dieser Vorhersage enthalten, dass die Auswirkung des Relevanzprinzips nicht statisch, sondern dynamisch aufzufassen ist. Verletzungen des Prinzips können durchaus entstehen; sie sollten aber durch Sprachwandel beseitigt werden. Es sei hervorgehoben, dass die Neuordnung eine strikte morphologische Motivation in dem Relevanzprinzip hat, wobei die zugrunde liegende markierte Reihenfolge das Ergebnis der Grammatikalisierung bzw. Agglutinierung des Passivmarkers ist. Also entsteht hier die Irregularisierung, d.h. die markierte Reihenfolge, als Nebeneffekt eines davon völlig unabhängig verlaufenden Grammatikalisierungsprozesses (für eine breitere Diskussion der Nebeneffekte der Grammatikalisierung vgl. Gaeta 2008). Man kann sich nun fragen, ob das Relevanzprinzip immer zuverlässig zur Wirkung gelangt, wenn eine solche Irregularisierung zustande kommt. Die Frage setzt natürlich keine deterministische Auffassung des Sprachwandels voraus: Eine Neuordnung kann jederzeit stattfinden, sie muss aber nicht (vgl. Wurzel 1988). Im limburgischen Dialekt von Genk, sowie in anderen niederländischen Varietäten (z. B. in Groningen), findet man eine markierte Reihenfolge von Markern, bei der der inhärent-flexivische Marker für Tempus erst nach dem kontextuellflexivischen Marker für Person und Numerus auftritt: (4) a. Genk (van Loon 2005: 115): dich werg-s-de / *werg-de-s du arbeit-2.Sg-Prät b. Groningen (Reker 1988): bak-s-te ‚backtest‘ back-2.Sg-Prät
‚du arbeitetest‘
bak-ng-de back-Pl-Prät
‚backten‘
Wie soll dieser Verstoß gegen das Relevanzprinzip nun interpretiert werden? Ist er das Ergebnis einer Affixumkehrung, die explizit gegen das Relevanzprinzip spricht? Oder bieten sich andere Erklärungen an, die sich aus der Interaktion von verschiedenen Faktoren ergeben, beispielsweise der Grammatikalisierung wie bei dem isländischen Passivmarker -st? Mindestens für die Sprachvarietät von Groningen lässt sich die folgende Erklärung skizzieren (vgl. Reker 1988). Für die 2.Ps.Sg. hat sich die markierte Reihenfolge dadurch entwickelt, dass das klitische Subjektpronomen einen Grammatikalisierungsprozess durchlaufen hat und als Affix innerhalb des phonologischen Wortes φ angehängt wurde (5a). Dann ist die vorkommende Reihenfolge über eine haplologische Reduzierung entstanden (5b):
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(5) a. [[[bak -te]Prät -s]2PsSg] [du]Pron > [[[[bak-te] -s]]ω [-te]]φ b. [[[[bak-te] -s]]ω [-te]]φ > bak-Ø-s-te Komplizierter ist der andere Fall, in dem phonologische Beschränkungen ins Spiel kommen. Denn in Groningen ist eine Beschränkung vorhanden, die im Allgemeinen die Reihenfolge Schwavokal vor Nasal in einer Silbenkoda verbietet (6a): (6) a. *ən]$ b. *KSt dPrät ṇPl]V Außerdem verbietet eine zweite Beschränkung (6b), die ebenfalls generell gilt, eine Reihenfolge, bei der zwei Plosive vor einem silbischen Nasal auftreten. Sie ist für die Tilgung des zweiten Plosivs verantwortlich. Aus der Interaktion dieser zwei Beschränkungen (7a–b) ergibt sich nun eine Zwischenform °bakŋ̣, die mit dem Präsens homonym ist. Um diese Homonymie zu vermeiden, wurden das dentale Suffix des Präteritums und das darauffolgende Suffix für Numerus wiederum angehängt (7c), mit dem Ergebnis einer Hypercharakterisierung. Nach der Tilgung des nach der Beschränkung (6a) in der Silbenkoda unerlaubten Nasals entsteht die belegte Form (7d): (7) a. bak-te-n b. baktṇ c. bakŋ̣ d. bakŋ̣den
> > > >
baktṇ bakŋ̣ bakŋ̣-de-n bakŋ̣de
Wiederum gibt es eine Erklärung, die die einzelnen Schritte des Sprachwandels, die zu der beobachteten markierten Form geführt haben, darlegt, das Relevanzprinzip aber nicht in Frage stellt. Nichtsdestoweniger halten andere Dialekte Schwierigkeiten für das Relevanzprinzip bereit, in denen Formen auftreten, die sich auf keine phonologische Erklärung zurückführen lassen. Beispielsweise findet man in ZuidHolland Formen wie hoor-ik-te ‚hörte ich‘ neben der konservativen Variante hoorde ik. Eine solche Form kann nur durch eine Reanalyse von Formen wie baksde und bakngde innerhalb des Präteritumsparadigmas von baken entstanden sein, die zu einer Musteranalogie geführt haben müssen: (8) Sg 1. Ps 2. Ps 3. Ps Pl
bak-Ø-de bak-s-de bak-Ø-de bak-ng-de
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Aufgrund dieser Formen ist die Wortstruktur nach dem markierten Muster VStammPerson-Tempus reanalysiert worden, wo eine leere Stelle für den Personmarker vor dem Tempusmarker angenommen wird, also eine kontextuelle Flexion in einer inneren Position vor einer inhärenten Flexion: VStamm-Tempus-Person > VStamm-Person-Tempus Dieses Muster wird dann analogisch auf andere Verben ausgedehnt: hoor-ik-de. Man beachte, dass diese Reanalyse eine neue Systemangemessenheit schafft, die sich aber gleichzeitig im krassen Konflikt mit dem Relevanzprinzip befindet.
4 Jenseits der Systemangemessenheit Wie von diesen Fallstudien deutlich gezeigt, triumphiert die Tendenz zu einer Optimalisierung der Systemangemessenheit im Sinne von Wurzel gegenüber den übereinzelsprachlichen Natürlichkeitsprinzipien. Diese Feststellung impliziert zwei unmittelbare Konsequenzen. Einerseits stellt sich die Frage nach der theoretischen Zuverlässigkeit der übereinzelsprachlichen Prinzipien. Das Hauptproblem ist eigentlich nicht, dass sie unter gewissen Umständen verletzbar sind, sondern dass nicht klar ist, unter welchen Umständen sie zur Wirkung gebracht werden können. Mit anderen Worten wäre es wünschenswert zu verstehen, in welchem Maß bzw. in welchen Grenzen die universellen Natürlichkeitsprinzipien zur Gestaltung der Normalität – im Wurzelschen Sinne – eines morphologischen Systems beitragen können. In diesem Zusammenhang muss allerdings auch die Frage gestellt werden, ob Prinzipien wie der konstruktionelle Ikonismus bzw. die Relevanz allgemeine Gültigkeit beanspruchen können, oder ob sie als Epiphänomene zu betrachten sind, die auf andere übergeordnete Ursachen zurückgeführt werden müssen. Beispielsweise kann man den Ikonismus als Nebeneffekt der Grammatikalisierung verstehen (vgl. Gaeta 2010b). Ob man ihnen dann eine eigene theoretische Relevanz zuerkennen kann, bleibt deshalb noch zu beweisen. Andererseits kann man sich fragen, welche übergeordneten Prinzipien zur Bestimmung der Systemangemessenheit von Bedeutung sind. Wenn man nun die oben erwähnten Wurzelschen Prinzipien durchgeht, stellt man fest, dass sowohl die Einheitlichkeit (P-1) als auch der implikative Aufbau (P-2) und die Kopplung von FKn an außermorphologische Eigenschaften (P-3) auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden können, der auch hinter den zwei oben skizzierten Sprachwandelphänomenen auftaucht. Das jeweilige System scheint nämlich nach einer sparsameren Selbstorganisation zu streben. Also wird eine ökonomische Strukturierung favorisiert, indem wie in beiden Fallstudien ersichtlich ein zufällig entstandenes Muster generalisiert wird, weil es zu einer besseren Selbstorganisation führt, bei der
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eine Optimierung von P-1 im Fall von Groningen und P-3 im Fall von Mailand erreicht wird. Man beachte, dass eine solche Auffassung von Ökonomie auf der Systemebene verstanden werden muss, nicht etwa auf der Zeichenebene, wie von anderen theoretischen Modellen vorgeschlagen (vgl. etwa Werner 1989; Nübling 2000, 2001 und die Diskussion von Wurzel 1997 und Gaeta 2007b). In dieser Hinsicht geht Nübling (2001: 54) davon aus, dass „irregularity ... can also be ‚created‘ actively by innovative processes“, wobei die dahinter stehende sprachökonomische Begründung mit „the advantage of protecting the forms which become increasingly shorter under the effects of high token frequency from homophony (syncretism)“ zu tun habe. Mit anderen Worten: „The more strongly and further forwards the word is differentiated, ... the more strongly it can be reduced without the danger of homonymy“ (Nübling 2001: 69). Um diese sprachökonomische Begründung, die sich auf die Ebene der einzelnen Morpheme bezieht, zu überprüfen, kann man allerdings nur die sogenannten nicht-reduktiven Irregularisierungen verwenden, deren einzelnes Ziel darin besteht, die formale Unterscheidungskapazität eines Morphems zu erhöhen. Die sogenannten reduktiven Irregularisierungen, die definitionsmäßig eine Reduzierung der Anzahl der Lautsegmente aufweisen, sind nämlich kein zuverlässiger Prüfstand, weil die Reduktion immer phonologischer Natur ist. Nübling erwähnt eine kleine Anzahl von solchen sogenannten nicht-reduktiven Irregularisierungen (vgl. Gaeta 2007b für eine detaillierte Diskussion). Hier kann nur ein Beispiel aus dem Friesischen kurz besprochen werden, wo das Verb jaan ‚geben‘ eine Präteritumsform joech aufweist anstatt der erwarteten Form *jef. Offensichtlich geht diese Form auf den Einfluss des reimenden Verbs slaan ‚schlagen‘ (Nübling 2000: 113) zurück: (9) Fries. jaan ‚geben‘ Prät. *jef / joech ← Prät. sloech / slaan ‚schlagen‘ Für Nübling stellt nun dieser Fall eine Zunahme an Irregularisierung dar, die den positiven Effekt einer erhöhten formalen Differenzierung dieser Kurzformen produziert, die dadurch gegen die Homonymie therapeutisch geschützt werden sollen. Mir scheint aber, dass diese Interpretation, die wie oben angemerkt die Sprachökonomie auf der Zeichenebene ansetzt, die unleugbare Tatsache verdunkelt, dass durch die Umgestaltung des Präteritums eine größere Systemökonomie gewonnen wird, indem zwei Verben, die aufgrund ähnlicher außermorphologischer Eigenschaften – in diesem Fall der Infinitivendung – identisch gruppiert werden, auch hinsichtlich ihrer Flexion identisch behandelt werden. Mit anderen Worten wird auch in diesem Fall ein implikativer Aufbau des Flexionssystems entsprechend P-3 angestrebt, indem aufgrund der Infinitivform das Präteritum vorhersagbar wird. Ein implikativer Aufbau sowie eine striktere Kopplung von außermorphologischen Eigenschaften mit FKn und somit eine größere Einheitlichkeit eines Systems ist also zu präferieren, wenn all das wenige explizite Kosten verlangt. In dieser Perspektive muss Irregulari-
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tät systembezogen bzw. immanent als Zunahme der Verarbeitungskosten verstanden werden (vgl. Gaeta 2007b).
5 Fazit Diese Mutmaßung, dass die Irregularität auf der sprachspezifischen Systemebene als Erhöhung der Verarbeitungskosten gewertet werden soll, die auch den Schluss dieses Beitrags bildet, scheint mir einerseits besonders relevant zu sein im Lichte der wichtigen Zielsetzung einer handhabbaren Definition des unmöglichen Sprachwandels,4 wobei für einige angeblich dysfunktionale Sprachwandelphänomene wie die Expansion der subtraktiven Markierung und der anti-relevanten Reihenfolge der Morpheme eine günstige Motivation vorgeschlagen worden ist. Andererseits konvergiert diese Schlussfolgerung mit ähnlichen Ergebnissen, die aus verschiedenen theoretischen Rahmensetzungen und empirischen Domänen resultieren. So hat Hawkins (2004: 38), um nur ein Beispiel zu nennen, aus einer strikt performanzbasierten Perspektive ein Prinzip ‚Minimize Form‘ vorgeschlagen, das unter bestimmten Bedingungen für die Verringerung der formalen Komplexität von Spracheinheiten plädiert in Korrespondenz mit den konventionalisierten Eigenschaften, die sie kodieren. Das Prinzip begünstigt ein System, in dem die Kodierungsmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert werden, das Ausdruckspotenzial aber gleichzeitig maximiert wird. In wie fern sich solche Strukturprinzipien besser bestimmen bzw. verallgemeinern lassen, bleibt ein Desiderat für die weitere Forschung.
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|| 4 Vgl. Dressler (2003b: 471): „[F]unctional explanation in terms of Natural Morphology so far has achieved the grading of preferences and thus probability of types of morphological change in relation to sets of condition. Certain types of dysfunctional change have been identified, which comes close to the definition of impossible change“.
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Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke
Motivierungsstrategien und Schemabildung Überlegungen zur schematischen Strukturierung von Flexionssystemen am Beispiel der Pluralbildung im Deutschen
Vorbemerkung Auch dieser Beitrag beschäftigt sich mit Überlegungen zum Verhältnis von Regularität und Irregularität. Anders als in der Forschungstradition gemeinhin üblich wollen wir dabei aber weder von einem Regel-Ausnahme-Konzept ausgehen noch die kritische Auseinandersetzung mit einem solchen Konzept einfach mit dem Verweis auf die Hierarchisierbarkeit sprachlicher Realisationen führen bzw. die Darstellung ihres Zusammenhangs im Rahmen von Kontinua nur auf eine mögliche Skalierbarkeit von (Ir)regularität reduzieren. Da wir keine Regelbasierung mentaler Repräsentation annehmen, erwarten wir auch nicht ihre irreguläre Ausprägung. Unser Ziel ist es, am Beispiel der Pluralflexion des Deutschen zu zeigen, dass gebrauchsbasierte Modelle zur mentalen Repräsentation des grammatischen Wissens den empirischen Tatsachen eher gerecht werden als solche, die man als ‚Regel- und (Ausnahme)Listen-Modell‘ charakterisieren könnte, und dass sich auf dieser Basis fundierte Aussagen zu den Entwicklungstendenzen flexionsmorphologischer (Teil)Systeme und über den Status sprachlicher Entitäten, den sie hinsichtlich der mentalen Repräsentation besitzen, formulieren lassen. Wir werden neben der Analyse des Istzustands zu erwartende Entwicklungen der deutschen Pluralflexion speziell an der Pluralbildung von Entlehnungen aus dem Englischen diskutieren und zur Illustration der Repräsentation die sogenannten stark flektierenden Feminina besonders unter die Lupe nehmen. Wir beginnen dazu mit Grundannahmen gebrauchsbasierter Modelle, wenden uns dann den empirischen Fakten der Entwicklung des gesamten Pluralsystems und vertiefend der Pluralbildung der Feminina zu. In einem 3. Schritt werden wir versuchen, ein Modell zu entwickeln, das nicht Regularität und Irregularität voneinander trennt, sondern stattdessen die mentale Repräsentation sprachlicher Erscheinungen als ein skalierbares Phänomen (hier zwischen den Polen einer lexem- und einer wortartbasierten Motivierung), quasi in einem unitaristischen Modell behandelt. Abschließend wollen wir versuchen, Erklärungen dafür zu liefern, warum eine weiterreichende Vereinheitlichung hin zu einer rein und ausschließlich genus-basierten Pluralbildung in den erörterten Phänomenbereichen bisher ausgeblieben ist. Wir tun das auf der Basis der Annahme, dass die Suche nach Ähnlichkeiten und Mustern, d.h. eine schematische Repräsentation das Grundprinzip der Aneignung sprachlichen Wissens durch den Sprachbenutzer darstellt. Grammatische Struktu-
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ren und Relationen werden in Form von Schemata, somit mehr oder weniger abstrakten mentalen Einheiten gespeichert, die das Resultat von Kategorisierungsund Verallgemeinerungsprozessen sind. Damit beleuchten wir dann die ganz allgemeine Frage, warum sich überhaupt in natürlich-sprachlichen Systemen Diversität, d.h. die Nutzung unterschiedlicher Marker für ein und dieselbe grammatische Funktion erhalten kann. An dieser Stelle schließt sich der Kreis, wir werden argumentieren, dass die wesentliche Erklärung für den Erhalt von unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten letztlich in der Verwendung des sprachlichen Systems, damit in den Verwendungs- und Repräsentationsstrategien der Sprachbenutzer zu suchen ist, vgl. auch Becker (1994).
1 Theoretische Überlegungen zu gebrauchsbasierten Modellen und schematischer Repräsentation Zunächst stellen wir einige Grundannahmen gebrauchsbasierter Modelle dar: a) Produktion und Perzeption sprachlicher Formen – und damit also die Performanz – beeinflussen die mentale Repräsentation linguistischen Wissens. Gebrauchsbasierte Modelle gehen bei der Erklärung struktureller Uneinheitlichkeit in sprachlichen Systemen gerade nicht von abstrakten Regeln aus, die auf spezifische Inputdaten weitgehend ‚blind’ angewendet werden, um eine grammatisch ‚richtige’ Form zu erzeugen; vielmehr ist diesen Modellen gemeinsam, dass sie von konkreten Lexemen und Wortformen ausgehen, die der Sprecher durch Kommunikationsakte mental miteinander vernetzt und denen er spezifische grammatische Funktionen zuweist. Diese an sich schlichte Annahme hat psycholinguistisch erhebliche Konsequenzen für die Vorstellungen, die wir uns über die Repräsentation sprachlichen Wissens machen: Lexeme und Wortformen haben im mentalen Lexikon einen unterschiedlichen Status, auch dann, wenn es sich bei den Lexemen um dieselbe Wortart handelt oder unterschiedlichen Wortformen dieselbe grammatische Kategorie zugewiesen werden kann. Sie differieren aufgrund ihrer semantisch-pragmatischen Wichtigkeit bzw. ihrer (spezifischen) grammatischen Funktionalität in der Frequenz ihres Gebrauchs (Tokenfrequenz).1 Solche Prozesse beeinflussen das sprachliche (Teil-)system
|| 1 Dabei kann sich die Bedeutung, die einer spezifischen Form im Gesamtsystem zugewiesen wird, durch neue gesellschaftliche Bedingungen wandeln. So hat sich die Pluralmarkierung -s nach dem 2. Weltkrieg infolge der vielen Entlehnungen aus dem Englischen ganz erheblich ausgedehnt und damit ihren Status im Gesamtsystem der Pluralmarkierungen des Deutschen verändert. Man könnte
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hinsichtlich der Gewichtung der von den Sprechern benutzten Bildungsmöglichkeiten bzw. -typen: i)
für Sprecher sind Lexeme und Wortformen, die eine hohe Tokenfrequenz aufweisen, schneller zugänglich als solche mit mittlerer oder niedriger Tokenfrequenz;2 ii) Lexeme und Wortformen mit hoher Tokenfrequenz werden somit im Allgemeinen früher und schneller erworben als Wörter mit mittlerer oder niedriger Tokenfrequenz; iii) eine hohe Tokenfrequenz sorgt außerdem dafür, dass die betroffenen Lexeme und Wortformen besser vor analogischem Wandel geschützt sind bzw. selbst analogische Attraktion aufweisen.3 b) Lexeme und Wortformen werden zudem, auch wenn sie derselben Wortartenkategorie angehören oder wenn die Wortform zum Ausdruck derselben grammatischen Funktion dient, im mentalen Lexikon des Sprechers nicht per se singulär nebeneinander abgespeichert. Vielmehr nehmen gebrauchsbasierte Modelle an, dass der Sprecher Wörter und Wortformen auf der Basis von Ähnlichkeits- bzw. Motiviertheitskriterien miteinander zu einfachen Analogien, Clustern und Schemata verbindet. Dabei gehen wir davon aus, dass der Sprecher ohnehin keine scharfe Trennung zwischen ‚Lexem‘ und ‚Wortform‘ vornimmt. Diese Trennung ist eher den analytischen Methoden der Sprachwissenschaft geschuldet und darf insofern nicht mit den kognitiven Strategien des Sprechers gleichgesetzt werden. Im Prinzip ist vorstellbar, dass man es jeweils bezogen auf sprachliche Teilsysteme mit Kontinua zu tun hat, auf die unterschiedliche Mengen unterschiedlich fest miteinander verknüpfter Wörter und Wortformen aufzutragen sind. Die Kontinua reichen von maximaler Individualität, also von der singulären Speicherung, etwa im Falle des Verbs sein, über einfache analogische Verknüpfungen (z.B. essen – fressen – messen) und komplexere Cluster
|| etwa annehmen, dass -s heute deutlich weniger als ‚fremde‘ Pluralmarkierung empfunden wird als noch vor 70 Jahren. 2 Verantwortlich hierfür ist ihre mehr oder weniger separate Speicherung im mentalen Lexikon der Sprecher. 3 Hohe Type- und Tokenfrequenz und große Validität (vgl. unter 1.c) einer spezifischen Gestalt zum Ausdruck einer spezifischen Funktion garantieren demnach den Fortbestand dieser sprachlichen Einheit. Umgekehrt gilt, dass Lexeme und Wortformen mit nur mittlerer oder niedriger Gebrauchsfrequenz vorhandene gruppenspezifisch motivierte formale Identität eher verlieren werden. Zurück bleibt also ein funktional bzw. durch Ähnlichkeitsrelationen basierter harter Kern von Wörtern, die ein spezifisches Bildungsmuster aufweisen, seine weicheren Ränder werden im Laufe der Zeit abgeschliffen und über Zwischenstufen allmählich konkurrierenden morphologischen Prozessen (mit höherer Typefrequenz) unterworfen.
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(z.B. die sog. Rückumlautverben des Deutschen wie brennen) und Schemata, etwa das der Verben des Typs ringen, zwingen, singen usw., bis hin zu maximaler Einheitlichkeit, also etwa der Flexion der Gruppe der schwachen Verben des Deutschen. Sie stecken damit den Rahmen schematischer Repräsentation bzw. Musterbildung/-favorisierung ab. Während singuläre sprachliche Tatsachen, einfache analogische Verknüpfungen und komplexere Cluster immer noch (wenn auch in abnehmendem Maße) das spezifische Wort respektive die spezifische Wortform aufscheinen lassen, gilt für Schemata, dass sie Abstraktionen von konkreten Wörtern sind. Letzteres gilt natürlich erst Recht für den (meist präferierten) Flexionstyp, bei dem schon sehr abstrakte Informationen, etwa über die Wortartenzugehörigkeit eines sprachlichen Elements, ausreichen, um dessen morphologische Prozessierung zu gewährleisten. Von Letzterem sind die Schemata im engeren Sinne zu unterscheiden, die noch auf konkrete Gestalten (oder Ähnlichkeiten zu diesen) bzw. Eigenschaften Bezug nehmen und so das gewünschte morphologische Verhalten hervorrufen (etwa [#__iŋ] wie in singen, um [#__aŋ] (ich/er) sang zu bilden). Solche Schemata stehen also, was den Abstraktheitsgrad der Information zur morphologisch angemessenen Traktierung anbetrifft, zwischen Clustern, die (noch) vergleichsweise (lexem)konkret sind, und morphologischen Prozessen, die auf abstrakten (nichtmorphologischen) Informationen basieren und als Default-Schemata bezeichnet werden können. Die Stärke eines spezifischen Schemas für die Symbolisierung einer spezifischen morpho-syntaktischen Funktion ist u.a. aus der Anzahl der zu ihm zu zählenden Types und Tokens zu bestimmen. Je mehr Types und Tokens ein Schema konstituieren, desto weniger ist es auch von Prozessen globalerer Vereinheitlichung betroffen, also auch von der Attraktionskraft eines DefaultSchemas.4 Die Lexeme und Wortformen eines Schemas stützen sich gewissermaßen gegenseitig. Eine hohe Typefrequenz trägt, ebenso wie schon für die Tokenfrequenz konstatiert, zu einer hohen Zugriffsgeschwindigkeit bei und sorgt für den Fortbestand konkreter einheitlicher Formen. Daneben kann ein(e) Wort(-form), sofern eine sehr hohe Tokenfrequenz aufgrund spezifischer Funktionalität gilt, als sprachliche Einzeltatsache in einem ansonsten weitgehend vereinheitlichten Phänomenbereich existieren. Bekanntestes Beispiel ist das Verb sein mit seinen vielen (vom Sprecher ‚gewollten‘) suppletiven Formen.
|| 4 Wir gehen davon aus, dass Sprecher jeweils nach minimalem spezifischem Aufwand und somit hohem Abstraktionsgrad bei der Motivierung von Flexionsformen streben und nicht alle Formen auf gleiche Weise im mentalen Lexikon gespeichert sind. Das löst wiederum eine Tendenz zu weitgehender Vereinheitlichung der formalen Kennzeichnung aus.
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c) Schemata sind intern nach dem Grad ihrer „lexikalischen Stärke“ (Bybee 1985, 2010; Köpcke 1988, 1993, 1998) gegliedert, die als Summeneffekt aus folgenden Faktoren bestimmt wird: Typefrequenz: Damit ist die Anzahl lexikalischer Einträge gemeint, die gemeinsam bestimmte Formeigenschaften aufweisen (wie wir im Folgenden sehen werden z.B. die Zahl der Feminina mit einer spezifischen phonematischen Struktur der Basisform); ii) Tokenfrequenz: Dabei wird die Häufigkeit berücksichtigt, mit der bestimmte Formen, die einen Type kennzeichnen, in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache auftreten. Wir werden am Beispiel der stark deklinierten Feminina zeigen, dass dieser bezogen auf die Typefrequenz weniger mächtige Deklinationstyp im Allgemeinen tokenfrequenter als der präferierte (schwach deklinierte Feminina) ist. iii) Validität: Hierunter wird die Verlässlichkeit eines Musters im Hinblick auf ein spezifisches morphologisches Verhalten zum Ausdruck einer grammatischen Funktion verstanden. Seine Validität steigt, je weniger Elemente mit identischer Struktur sich mit einem konkurrierenden morphologischen Verhalten verbinden lassen. Ein Beispiel: Einem Strukturtyp wie [der/das X] (der Baum, das Bett) kann im Unterschied zu [die Xe] nicht die Funktion [+Plural] zugeschrieben werden. Der Strukturtyp [die Xe] kann aber neben dem Plural eines Maskulinums, Femininums oder Neutrums, etwa die Tische, die Kühe, die Zelte, sehr wohl der Singular eines Femininums, etwa die Kurve, sein. Insofern ist zum Ausdruck der Funktion Singular die Validität der Struktur [der/das X] höher einzuschätzen als die der Struktur [die Xe].
i)
d) Die Kategorisierung linguistischer Objekte erfolgt wie die nichtlinguistischer Objekte entlang einer Prototypikalitätsskala, d.h., Ähnlichkeitsrelationen zwischen Wörtern und Wortformen führen zu tendenziell identischer Klassifikation (vgl. z.B. Rosch 1977, 1978; Taylor 2003). Die sich nicht wie die schwachen Feminina verhaltenden starken Feminina, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen, sind diesen Überlegungen zufolge im mentalen Lexikon des Sprechers nicht als sprachliche Einzeltatsachen und als Ausnahmen zu einer generellen Regel, derzufolge Feminina ihren Plural mit -(e)n bilden, abgelegt, sondern werden vielmehr vom Sprecher zu (einer oder mehreren) mehr oder weniger großen Gruppen (Schemata) zusammengeschlossen, die intern Prototypenstrukturen abbilden. Dazu später mehr. Fassen wir die Grundannahmen kurz zusammen: Das hier vertretene SchemaModell geht, wie konnektionistische Modelle generell, von der Voraussetzung aus, dass emergierende Muster oder Schemata, die sich als assoziative Netzwerke den-
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ken lassen, ein direkter Reflex gebrauchsbedingter Faktoren sind. Zur Bedeutung und psychologischen Realität solcher Schemata und ihrer internen Organisationsstrukturen vgl. außerdem Bybee/Moder (1983), Köpcke (1998), McClelland/Plaut (1999), MacWhinney (2000), Schiller et al. (2006) und Bittner/Köpcke (2007), zur Kritik daran Pinker (2000), Clahsen et al. (2001), Marcus (2001), Ullman (2004), Penke (2006). Diese allgemeinen Überlegungen zu gebrauchsbasierten morphologischen Modellen und der Annahme einer schematischen Repräsentation morpho-semantischen Wissens sollen nun am Beispiel der Pluralbildung deutscher Nomina konkretisiert werden. Dabei werden wir uns mit zwei Datenmengen eingehender beschäftigen: Einerseits mit der Pluralbildung von Entlehnungen aus dem Englischen und andererseits mit der Pluralbildung der starken Feminina, Typ Kuh – Kühe. Um unsere Argumentation für eine durchweg motivierte, von den Repräsentationsstrategien der Sprachbenutzer gesteuerte flexionsmorphologische Strukturbildung zu untermauern, betrachten wir darüber hinaus auch die Pluralbildung mit Umlaut + -er von ca. 100 Maskulina und Neutra und die Pluralbildung vollvokalisch auslautender Nomina.
2 Ausgangspositionen der Untersuchung Als Ausgangspunkte lassen sich zwei Grundannahmen hinsichtlich des morphologischen Verhaltens von Wörtern formulieren: Idealtyp A: Jedes Wort, das einer spezifischen grammatischen Kategorie angehört, also etwa der Genusklasse [+FEM], erhält seine ihm eigene und nur für dieses eine Wort geltende morphologische Behandlung respektive sein ihm spezifisches Formeninventar zugewiesen. Ein solches Verfahren würde zu maximaler Idiosynkrasie führen. Idealtyp B: Alle Wörter, die einer spezifischen grammatischen Kategorie angehören, also etwa der Genusklasse [+FEM], erhalten ein einheitliches Formeninventar zugewiesen. Ein solches Vorgehen würde zu maximaler Einheitlichkeit führen. Vergleicht man Flexionssysteme verschiedener Sprachen oder auch einfach verschiedene sprachliche Phänomenbereiche, wird sehr schnell klar, dass weder der Idealtyp A noch der Idealtyp B uneingeschränkt vorkommen. Auch wenn generell eine Tendenz zu Idealtyp B vorherrscht (vgl. z.B. das agglutinierende Türkische), existieren aber immer auch Abweichungen von ihm bis hin zur Singularität, also zum Idealtyp A. Auch bei der Pluralbildung im Deutschen finden sich im Lexikon sowohl Beispiele für den Idealtyp A wie auch für den Idealtyp B. Zwischen den bei-
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den durch die Idealisierungen beschriebenen Extrempunkten vermuten wir Übergangsbereiche. Sollte sich unsere Vermutung bestätigen, wäre ein Modell zu erstellen, das die Idealisierungen A und B möglichst schlüssig inkorporiert. Genau das soll in den weiteren Abschnitten geschehen.
3 Nominale Pluralbildung – Faktenlage 3.1 Entwicklungstendenzen der Pluralbildung im Deutschen Um unsere Argumentation zum motivierten Gebrauch unterschiedlicher Bildungstypen im Rahmen des Flexionssystems verifizieren zu können, wollen wir zunächst Überlegungen zur zukünftigen Entwicklung des Systems der Pluralbildung im Deutschen diskutieren. Das ist aus der Perspektive der morphologischen Theoriebildung deshalb interessant, weil man exemplarisch zeigen kann, wie ein (form)komplexes sprachliches Teilsystem zu Eindeutigkeit und Einheitlichkeit der Kategorienkennzeichnung tendiert, indem durch erneute und veränderte Formenmotivierung bisher formgruppenbasierend wirkende Motiviertheit zurückgedrängt wird bzw. schwindet und dadurch neue, veränderte Möglichkeiten der Strukturierung des Übergangsbereiches zwischen den Idealtypen A und B deutlich werden. Wir wollen zeigen, dass die Pluralbildung mittels sehr weniger Prinzipien präsentiert werden kann, um dann davon ausgehend Prognosen für die zukünftige Entwicklung zu stellen.5 Das Deutsche weist, wie Tabelle 1 zeigt, in Abhängigkeit vom Genus der Nomina acht native Formen zum Ausdruck der Funktion Plural6 auf, zu denen wir auch -s zählen wollen.7 Das, was auf den ersten Blick äußerst komplex wirkt, stellt sich bei näherer Betrachtung der einzelnen Pluralbildungsmöglichkeiten als deutlich überschaubarer dar.
|| 5 Dass man mit einem sehr überschaubaren Inventar an Prinzipien auch einen Großteil der Pluralbildung von Nomina in einem Lehrbuch für Deutsch als Fremdsprache erklären kann, zeigen Binanzer/Wecker (2010). 6 Wir vermeiden für das Deutsche bewusst die Termini Morphem und Allomorph, da es für die Pluralbildung im Deutschen schlechterdings unmöglich ist, ein zugrundeliegendes Morphem und von ihm abgeleitete allomorphische Varianten zu bestimmen. 7 Auf eine Auflistung der nicht-nativen Pluralbildungen, wie etwa bei Thema – Thema-ta oder Cherub – Cherub-im, verzichten wir, sie findet sich aber z.B. in Kunze/Rüdiger (1968) und Schluroff (1974).
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Tab. 1: Native Pluralmarkierungen im Deutschen (aus Köpcke 1993: 36) GENUS Pl.-Allomorph
Maskulinum
Femininum
Neutrum
-e
Fisch/Fische
Kenntnis/Kenntnisse
Jahr/Jahre
-(e)n8
Bauer/Bauern
Tür/Türen
Auge/Augen
-er
Geist/Geister
–
Kind/Kinder
-s
Park/Parks
Mutti/Muttis
Auto/Autos
-Ø
Adler/Adler
–
Fenster/Fenster
Umlaut
Bruder/Brüder
Tochter/Töchter
Kloster/Klöster
Umlaut + -e
Sohn/Söhne
Kuh/Kühe
Floß/Flöße
Umlaut + -er
Wald/Wälder
–
Volk/Völker
Wir beginnen unsere detaillierte Analyse (im Gegenwartsdeutschen) mit den Feminina: a) Die Pluralbildung mit -e ist bei den Feminina auf die Ableitungssuffixe -nis und -sal beschränkt. Die meisten der mit diesen Suffixen gebildeten Nomina sind als Neutra klassifiziert, es gibt nur wenige Feminina, etwa Finsternis und Mühsal. Produktivität ist für die Derivationssuffixe -nis und -sal in beiden Genera nicht nachweisbar, vor allem nicht für die Feminina. Die Pluralbildung mit -e bei den Feminina kann damit als verschwindend gering eingestuft werden. b) Die Pluralbildung mit Umlaut + -e gilt für insgesamt 38 Feminina. Auch für diese Form der Pluralbildung ist keinerlei Produktivität nachzuweisen, im Gegenteil, sie wird bei den Feminina abgebaut, vgl. etwa die Schlucht – die Schlüchte > die Schluchten. Die Sprecher nutzen dabei neben der bloßen Ersetzung der Pluralform eine weitere Veränderungsmöglichkeit, nämlich die Reinterpretation der ursprünglichen Pluralform als Singularform, vgl. mhd. die eich – die eiche > nhd. die Eiche – die Eichen, um die Bildung mit -(e)n anzustreben und die Pluralbildung mit (Umlaut +) -e zurückzudrängen. c) Die Pluralformen Mütter und Töchter sind singuläre Erscheinungen, weitere Fälle der Pluralbildung nur durch Umlautung sind bei den Feminina nicht belegt. d) Auch -s ist keine für Feminina präferierte Pluralmarkierung. Die Bildung mit -s erfolgt auf der Basis des Auslauts auf unbetonten Vollvokal der Nom. Sg.-Form, etwa die Omas, und gilt darüber hinaus für eine spezifische Gruppe von Wörtern
|| 8 Die Markierungen -n und -en fassen wir zusammen, da die Tilgung des Schwas genau voraussagbar ist. Sie erfolgt immer dann, wenn die letzte Stammsilbe schon schwa-haltig ist.
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(Entlehnungen besonders aus dem angelsächsischen Sprachraum).9 Die Markierung -s ist somit für das Fremde, nicht der Phonotaktik des Deutschen folgende vorgesehen, also für aktuelle Entlehnungen (nicht nur aus dem Englischen), aber auch für alte, im Fremdwortschatz etablierte Entlehnungen aus dem Griechischen und Lateinischen. Diese Nomina zeichnen sich in vielen Fällen eben durch einen – für das Deutsche untypischen – unbetonten finalen Vollvokal aus. Betrachtet man Nomina dieses Typs genauer, wird deutlich, dass bei den Feminina – abgeschwächter auch bei den Nicht-Feminina – nur -s und -(e)n in (oft auch unmittelbarer) Konkurrenz zueinander stehen und dass dabei -(e)n die präferierte Form für feminines Genus ist, vgl. hierzu Tabelle 2. Zur Verdeutlichung analysieren wir die Feminina und die Nicht-Feminina, die auf unbetontes /a/ auslauten, genauer. In Spalte II von Tabelle 2 finden sich die Fälle, die ihren Plural mit -s bilden, in Spalte III die, bei denen der stammauslautende Vollvokal /a/ im Plural durch -en ersetzt wird (Diva – Diven); die in Spalte IV gezählten Fälle weisen eine Konkurrenz zwischen der Pluralbildung mit -s und der Substitution des stammauslautenden /a/ mit -en auf. In Spalte V finden sich die Fälle, für die Konkurrenz zwischen -s und einer anderen, meist nicht-nativen Pluralmarkierung gilt. In Spalte VI erscheint die Anzahl der Nomina, die ihren Plural nur mit einer Markierung aus der Entlehnungssprache bilden (Tempo – Tempi). Tab. 2: Pluralbildung von Nomina auf unbetonten Vollvokal /a/ (Köpcke 1993: 129) -s
/a/ > -en
-s oder /a/ > -en
andere Form oder /a/ > -en
andere Form oder -s
andere Form
[+FEM] N=126
29/23 %
71/56 %
19/15 %
2/2 %
1/1 %
4/3 %
[-FEM] N=58
27/47 %
13/22 %
2/3 %
7/12 %
6/10 %
3/5 %
Summe N=184
56/30 %
84/46 %
21/11 %
9/5 %
7/4 %
7/4 %
Tabelle 2 zeigt, dass -(e)n dominant bei Feminina und deutlich seltener bei NichtFeminina (selten bei den Neutra und fast nie bei den Maskulina) gewählt wird. Bei mehr als der Hälfte der Feminina wird der Stammauslaut im Plural durch -(e)n ersetzt, Villa – Villen. Für die Nicht-Feminina gilt das nur in einem Fünftel der Fälle, etwa Drama – Dramen. Noch weiter klaffen die Ergebnisse auseinander, wenn man || 9 Ob die Pluralbildung mit -s von Dauer ist oder nur für den Beginn des Entlehnungsprozesses gilt, werden wir später kurz diskutieren.
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sich in Spalte IV ansieht, dass das Schwanken zwischen zwei Pluralmarkierungen für 15 % der Feminina (Diva – Divas/Diven) und nur für 3 % der Nicht-Feminina (Derma – Dermas/Dermen) gilt. Die Substitution des auslautenden Vollvokals durch -(e)n (Spalte III) und die Schwankungen zwischen -(e)n und -s (Spalte IV) treten vor allem bei finalem /a/ auf, deutlich seltener bei /o/ und nahezu gar nicht bei /u/ und /i/. Aufschlussreich sind auch die Ergebnisse in den Spalten V und VI, wo es um eine Konkurrenz zur in der Quellsprache verwendeten Form geht, also Thema – Themata/Themen. Deutlich wird, dass die nicht-native Pluralmarkierung bei den Feminina kaum erhalten bleibt, bei den Nicht-Feminina hingegen aber noch immer häufig aufscheint. An Wandelerscheinungen bei der Pluralmarkierung nicht-nativer Nomina, die auf unbetonten Vollvokal auslauten, z.B. Diva – Divas/Diven, Pizza – Pizzas/Pizzen usw., wird deutlich, dass tatsächlich nur -(e)n die für die Feminina geltende präferierte Pluralmarkierung ist (Köpcke 1993: 128ff), auch wenn dabei im strukturalistischen Sinn beschrieben (zunächst) ein Strukturtyp entsteht, bei dem eine in der deutschen Pluralflexion favorisierte Grundformflexion durch eine weniger präferierte Stammflexion ersetzt wird, vgl. dazu Wurzel (1984) und Harnisch (2001). Die Verwendung der Pluralmarkierung -(e)n sorgt allerdings ebenso wie die Grundformflexion mit -s dafür, dass eine trochäische Wortformenstruktur entsteht, die präferentiell für das Deutsche angestrebt wird. Darüber hinaus verliert wortstrukturell betrachtet das Wort durch die Pluralmarkierung mit -(e)n seine Fremdheit; es wird zumindest phonotaktisch zu einem nativen Pluralwort, zu dem in einem nächsten Schritt ein zum Plural auf -(e)n passender Singular auf Schwa gebildet werden kann. Für Feminina, die diesen Schritt schon vollzogen haben bzw. gerade dabei sind, ihn zu vollziehen10, steht das aus dem Russischen entlehnte Datscha – Datschas/Datschen > Datsche – Datschen. Dass Ähnliches auch bei Pizza – Pizzas/Pizzen > Pizze (?) – Pizzen (Pizzas) bzw. bei Nomina wie Diva, Villa usw. geschehen wird, ist sehr gut vorstellbar. Für die Feminina des Deutschen ist somit nur eine produktive native Pluralform zu registrieren, nämlich -(e)n. Bezogen auf den gesamten feminin klassifizierten nominalen Wortschatz gilt diese Pluralmarkierung, die ausschließlich über das Genus operiert, in weit mehr als 90 % aller Fälle (vgl. dazu generell Köpcke/Zubin 1996). Betrachten wir nun die Verhältnisse bei den Maskulina und Neutra: e) Nach Mugdan (1977: 213f) existieren heute noch knapp 80 Neutra und 25 Maskulina mit der Pluralbildung (Umlaut +) -er. Bei einer ganzen Reihe dieser Nomina taucht aber als neuere (oder als Parallelbildung mit spezifischer Bedeutungsveränderung) die Pluralbildung mit -e auf, etwa bei Brot, Wort, Ort, Stein. Viele || 10 Vgl. ältere Entlehnungen wie z.B. Kasse, Monete, Quote, Reserve, Zone, die diese Entwicklung bereits vollzogen haben.
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 57
dieser gut 100 Maskulina und Neutra mit -er-Plural zählen entweder zum Kernwortschatz (Amt, Bad, Dorf, Ei, Kind, Geist, Mann, Mund, Wald usw.) oder sind als weitgehend veraltet (Balg, Daus, Hundsfott, Trumm) einzustufen.11 Zudem gilt, dass die Pluralbildung mit (Umlaut +) -er heute nicht mehr produktiv ist. Nicht einem einzigen in den vergangenen 100 Jahren entlehnten Nomen ist diese Pluralmarkierung zugewiesen worden. Untersuchungen mit Kunstwörtern bestätigen diesen Befund, so zeigt Köpcke (1988), dass diese Markierung unter experimentellen Bedingungen eindeutig untergeneralisiert wird, obwohl es im Realwortschatz eine substantielle Basis von zumeist hochfrequenten Nomina für die Verwendung von (Umlaut +) -er gibt.12 Es ist wohl die hohe Tokenfrequenz der zum Kernwortschatz zu zählenden Nomina mit (Umlaut +) -er-Plural, die einem weiteren Rückgang dieser Pluralmarkierung entgegensteht.13 Wir nehmen an, dass sowohl die Singular- als auch die Pluralform der Nomina mit einer weniger bzw. unproduktiven Pluralbildung – hier also (Umlaut +) -er – deutlich häufiger verwendet wird als die der Nomina, deren Pluralformen einen produktiven Marker aufweisen – im Vorgriff auf die Ergebnisse der weiteren Analyse der Maskulina und Neutra können wir hier unschwer die Pluralbildung mit (Umlaut +) -e anführen. Um diese Hypothese zu überprüfen, wurden im Leipziger Wortschatzkorpus14 alle monosyllabischen Maskulina und Neutra mit der Pluralbildung -er und (Umlaut +) -e abgefragt. Letztlich konnten insgesamt 70 Maskulina und Neutra mit der Pluralbildung -er und 335 Nomina mit der Pluralbildung (Umlaut +) -e untersucht werden. Dabei ergaben sich die in Abbildung 1 dargestellten Frequenzwerte. Vernachlässigt man jeweils die besonders häufig respektive selten verwendeten Nomina, die sich im Diagramm außerhalb der Boxen im oberen und unteren Quantil befinden und nur als senkrechte Striche dargestellt sind, wird durch die Ausdehnung der Boxen deutlich, dass sich die Nomina mit unproduktiver Pluralbildung in einem vergleichsweise engen und hohen Frequenzbereich finden, die mit pro-
|| 11 Zur Type- und Tokenfrequenz vergleiche Auszählungen von Zeitungstexten in Rettig (1972: 35). 12 Diesen Befund bestätigt Wegener (1995), die Studie Köpckes mit anderen Versuchspersonen replizierend. 13 Zur grammatisch-semantischen Funktionalität des -er-Plurals als Ausdruck distributiver Pluralität (Männ-er, Wört-er) im Gegensatz zu den Markern -e und -(e)n, die prototypisch kollektive Pluralität (Mann-en, Wort-e) ausdrücken, und somit zu seiner semantischen Motiviertheit vgl. z.B. Bittner, D.(2004) und Leiss (2005). 14 Das Leipziger Wortschatzkorpus wird fortwährend aktualisiert, unser Erhebungszeitraum reichte von Februar bis März 2013. Bei der Recherche stellte sich heraus, dass längst nicht alle Nomina im Korpus verzeichnet sind. Es fehlen besonders solche, die ihren Plural mit (Umlaut +) -e bilden. Die fehlenden und die Nomina, die im Korpus (auch) in mindestens 20 % der Fälle als Eigenamen verwendet werden, sind in den nachfolgenden Berechnungen nicht berücksichtigt.
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duktiver jedoch einen weiten und weniger hohen Frequenzbereich abdecken, sich also auch weit in den niedrig-frequenten Bereich ausdehnen.15
1000000 100000
Singularform
Pluralform
Frequenz
10000 1000 100 10 1 M od. N Pl.
M od. N Pl.
M od. N Pl.
M od. N Pl.
mit -er
mit (U)-e
mit -er
mit (U)-e
Abb. 1: Frequenz bei Maskulina und Neutra
f)
Die Umlautung des Stammvokals zur Markierung der Funktion Plural, unabhängig davon, ob sie wie bei Bruder – Brüder neben dem Artikel allein zur Markierung des Plurals dient oder in Kombination mit -e, ist nicht prognostizierbar.16 Kloster und Floß sind zudem die einzigen Neutra, die durch bloße Umlautung des Stammvokals respektive mit Umlaut + -e ihren Plural bilden; für die Neutra ist die Umlautung also ohnehin ohne Belang. g) Die -(e)n-Form ist produktiv bei der Bildung schwacher Maskulina, etwa der Kasache – die Kasachen, der Usbeke – die Usbeken. Die Produktivität gilt darüber hinaus auch für Ableitungen mit spezifischen nicht-nativen, mit maskuliner Klassifikation einhergehenden Derivationssuffixen (-and, -ant/-ent, -oge usw.), also Doktorand-en, Philologe-n, vgl. auch Köpcke (1995), Fuhrhop (1998) und Nübling (in diesem Band). h) Die Pluralform mit -(e)n findet sich auch bei den sogenannten gemischt deklinierten Maskulina und Neutra, etwa der Staat, des Staates, die Staaten oder das Ohr, des Ohrs, die Ohren. Produktivität lässt sich jedoch für die gemischte Dekli-
|| 15 Der Ausdehnungsgrad wäre noch sehr viel weiter ausgefallen, hätten auch die extrem niederfrequenten Nomina Eingang in das zugrunde gelegte Korpus gefunden. 16 Wiese (1987) spricht im Zusammenhang mit den monosyllabischen Nomina vom Umlaut als einem Epiphänomen. Köpcke (1994) nimmt dagegen an, dass die Umlautung entlang einer Belebtheitsskala erfolgt, der zufolge Umlaut + -e bei den monosyllabischen Maskulina insbesondere dann auftritt, wenn das Nomen das semantische Merkmal [+menschlich] aufweist, wie etwa bei Koch, Papst.
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 59
nation und die mit ihr auftretende Pluralform -(e)n nicht nachweisen. Sie ist vielmehr als Durchgangsklasse für Maskulina und Neutra auf ihrem Weg hin zur starken Deklination zu betrachten, vgl. Wurzel (1985) zur diachronen Entwicklung von bspw. der Balke/Funke zu der Balken/Funken. Es bleiben für die Maskulina und Neutra also drei produktive Formen zur Markierung der Funktion Plural: -e, -Ø (d.h. keine morphologische Kennzeichnung am Wortende, sondern syntagmatisch durch den Artikel) und (mit Einschränkungen) -s. Die Form auf -e wird insbesondere bei den monosyllabischen Maskulina und Neutra verwendet. Durch die Affigierung von -e an monosyllabische Nomina entsteht abermals die im Deutschen präferierte trochäische Wortstruktur. Die Pluralbildung mit der -Ø-Form wird bevorzugt bei Maskulina und Neutra auf -el, -er und -en (Himmel, Fenster, Wagen) verwendet. Damit bleibt die schon vorhandene präferierte trochäische Wortstruktur erhalten. Die Form mit -s ist wie bei den Feminina Entlehnungen, insbesondere aus dem angelsächsischen Sprachraum, und auf unbetonten Vollvokal auslautenden Nomina (Opa, Uhu) vorbehalten. Allerdings zeigen gerade die Entlehnungen, dass -s nur so lange verwendet wird, wie das entlehnte Wort noch nicht in die deutsche Phonotaktik integriert worden ist, vgl. hierzu unten die Ausführungen zu den Entlehnungen aus dem Englischen. Die Pluralkennzeichnungen -e und -Ø lassen sich zu einem Marker zusammenfassen, weil -Ø immer genau dann gewählt wird, wenn der Stammauslaut schon schwa-haltig und die Wortstruktur somit trochäisch ist und kein schwaches Maskulinum vorliegt, vgl. hierzu auch Wegener (2002). Wir wollen der Einfachheit halber bei den Maskulina und Neutra von der schwa-haltigen Form für die Pluralbildung sprechen.17 Für die starken Maskulina und die Neutra des Deutschen existiert also, vergleichbar der n-haltigen Form für die Feminina, mit der schwa-haltigen Form auch eine Pluralmarkierung, die über das Genus operiert. Hingegen wird die Markierung s für eine spezifische Gruppe von Wörtern (Entlehnungen, z.B. Anglizismen) oder auf der Basis des Auslauts der Grundform vergeben. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen, dass sie jeweils nicht-native Nomina vereinigen, also ‚Fremdes‘.
3.2 Prinzipien der Pluralbildung im Deutschen Insgesamt ist für das System der Pluralbildung des Deutschen zu konstatieren, dass die Distribution der drei produktiven Markierungen für die Funktion Plural, also n-
|| 17 Das gilt nicht für die Gruppe der schwach deklinierten Maskulina auf Schwa, wie etwa der Löwe. In diesen Fällen wird an den schon schwa-haltigen Stammauslaut wie bei den Femnina -n affigiert, vgl. dazu die Ausführungen in 3.2.
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Haltigkeit, schwa-Haltigkeit und (mit Einschränkungen) -s, auf der Basis des Genus und quergelegt hierzu der nicht-nativen Phonotaktik erfolgt. Auf der Basis des dargestellten Befundes sind zwei grundsätzliche Präferenzprinzipien anzunehmen, die ihren unterschiedlichen Bezugspunkten folgendermaßen formuliert werden können: 1. a) Der Plural eines Nomens, das der Genusklasse [+FEM] angehört, wird -nhaltig gebildet. b) Der Plural eines Nomens, das als [-FEM] klassifiziert ist, wird schwa-haltig, d.h. durch -e-Affigierung gebildet, sofern in der Endsilbe noch kein Schwa vorhanden ist. Liegt eine schwa-haltige Endsilbe vor, erfolgt die Pluralbildung mit -Ø. c) Der Plural eines Nomens, das der Genus(sub)klasse [+MASK] angehört, wird -n-haltig gebildet, sofern das Nomen das semantische Merkmal [+menschlich] aufweist und auf Schwa auslautet.18 2. Unabhängig vom Genus eines Nomens gilt, dass -s als Pluralmarkierung vergeben wird, sofern das Nomen als nicht-nativ empfunden wird. Dies kann ausdrucksseitig auf einen auslautenden unbetonten Vollvokal oder eine Entlehnung zurückgeführt werden. In dem Maße, wie das Nomen ‚nativiert‘ wird, erfolgt eine Ersetzung von -s durch -n- respektive -e-Haltigkeit.
3.3 Flexionsverhalten derivierter Nomina des Deutschen Die Annahme genusabhängiger Pluralmarkierungen wird auch durch das Flexionsverhalten derivierter Nomina des Deutschen bestätigt. Die derivierten Nomina mit dem Merkmal [+FEM] zeigen die Pluralbildung mit (e)n. Gilt dagegen [-FEM], dominiert -e; daneben findet man -Ø bei schon schwahaltigen Derivationssuffixen und -er beim nicht mehr produktiven Derivationssuffix -tum. Für schwach klassifizierte Maskulina mit den Derivationssuffixen -and und ant/-ent erfolgt die Pluralbildung natürlich mit -(e)n.
|| 18 Einzig Vize, Piefke und Raffke werden nicht von dieser Zuweisung erfasst. Für schwach deklinierte Maskulina, die zwar das Merkmal [+menschlich] aber keinen auslautenden Schwa aufweisen, lassen sich Abbautendenzen nachweisen, etwa der Prinz, Graf – dem/den Prinz, Graf, vgl. Köpcke (1995, 2000). Alternativ könnte 1. c) mit Eisenberg (2000), der das generische Maskulinum als viertes Genus im Deutschen interpretiert, wie folgt formuliert werden: ‚Der Plural eines Nomens, das der Genusklasse [+Generisches Maskulinum] angehört, wird -n-haltig gebildet‘. Das Präferenzprinzip 1 würde damit ausnahmslos auf zentrale Genusklassen und nicht auch auf Genussubklassen Bezug nehmen, vgl. auch Ágel (2005).
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 61
Tab. 3: Pluralmarkierung von Nomina mit Derivationssuffix +FEM native Suffixe
nichtnative Suffixe
Pl.
-FEM native Suffixe
Pl.
-erei/-ei
-(e)n
-heit/-(ig)keit
-(e)n
-schaft
-(e)n
-ich
-e
-ung
-(e)n
-ig
-e
-(i)ade
-(e)n
-ling
-e
-age
-(e)n
-tum
-er
-aille
-(e)n
-chen
-Ø
-aise/-äse
-(e)n
-sal
-e
-äne
-(e)n
-nis
-e
-anz/-enz
-(e)n
-and (sw.)
-en
-elle
-(e)n
-ant/-ent (sw.)
-en
-ette
-(e)n
-eur
-e
-(er)ie
-(e)n
-ar/-är
-e
-ille
-(e)n
-ine
-(e)n
-(at/t)ion
-(e)n
-isse
-(e)n
-ive
-(e)n
nichtnative Suffixe
-bold
-e
-er
-Ø
3.4 Pluralbildung von Entlehnungen aus dem Englischen Wir wollen die dargestellten Überlegungen zur durch Präferenzprinzipien gesteuerten zukünftigen Entwicklung des deutschen Pluralsystems auch anhand einer Analyse von gut 300 nominalen Entlehnungen aus dem Englischen überprüfen und dabei konkreter auf die Verwendung von -s als Pluralmarker zu sprechen kommen.19 Aus der nachfolgenden Tabelle 4 wird deutlich, dass die englischen Entlehnungen dominant als [-FEM] klassifiziert werden.20
|| 19 Vgl. hierzu: http://de.wiktionary.org/wiki/Wiktionary:Deutsch/Liste_der_Anglizismen. Nicht aufgenommen wurden Substantive mit Derivationssuffixen, Abkürzungen, Singularia- und Pluraliatantum und Entlehnungen, die eigentlich aus dem Lateinischen, Griechischen usw. stammen, wie z.B. Campus. 20 Insgesamt stehen gut 10 % Feminina nahezu 85 % Nicht-Feminina gegenüber, bei denen es sich in den meisten Fällen, insbesondere bei den monosyllabischen, um maskulin klassifizierte Nomina handelt. 5 % weisen Schwankungen zwischen femininer und nicht-femininer Genuszuweisung auf.
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Tab. 4: Zuweisung von Pluralmarkierungen zu Entlehnungstypen aus dem Englischen
+FEM
-FEM
Strukturtyp
N
-s
mono-syllabisch
18
16 (89 %)
Mehrsilber auf unbetonten VV
9
9 (100 %)
Mehrsilber auf -el/-e
4
1 (25 %)
3 (75 %)
Mehrsilber ohne spezif. Endung
4
2 (50 %)
1 (25 %)
mono-syllabisch
193
166 (86 %)
Mehrsilber auf unbetonten VV
38
38 (100 %)
Mehrsilber auf -er/-el/-en
43
14 (33 %)
Mehrsilber ohne spezif. Endung
18
14 (78 %)
e-haltig
n-haltig
schwanken (-s/Zielpl.)
Rest
2 (11 %)
1 (25 %)
13 (7 %)
12 (6 %)
24 (56 %)
5 (12 %) 1 (6 %)
Keks/-Ø/-e21 Quiz/-Ø/-e
3 (17 %)
Auf der Basis dieses Befundes könnten das Maskulinum als das Default-Genus und s als der Default-Plural für Entlehnungen dargestellt werden. Wegen der großen Zahl der mit -s ihren Plural bildenden Nomina liegt außerdem der Gedanke nahe, der -s-Plural würde zusammen mit dem entlehnten Nomen transferiert werden. Wäre das aber tatsächlich so, sollten alle diese Entlehnungen ihren Plural durch -sSuffigierung bilden.22 Dass dies offensichtlich eben nicht der Fall ist, sehen wir an einer substantiellen Zahl von Entlehnungen, deren Plural schwa- bzw. -n-haltig gebildet wird. Bei Nomina, die als [+FEM] klassifiziert werden, konkurriert die -nhaltige Pluralmarkierung mit -s. Lediglich die auf unbetonten Vollvokal auslautenden Feminina bilden ausnahmslos ihren Plural mit -s. Bei als [-FEM] klassifizierten
|| 21 Bei den beiden in der Spalte ‚Rest‘ aufgeführten Nomina Keks und Quiz konkurriert auf den ersten Blick die -Ø-Markierung und eben nicht -s mit der Zielmarkierung (Schwa-haltigkeit). Da die Wortstämme beider Nomina schon auf /s/ auslauten und damit ein als Plural interpretierbares Schema abbilden, wird die Verwendung von -Ø nachvollziehbar, vgl. auch Köpcke (1993). Eine zusätzliche Markierung des Plurals mit -s hätte zudem zur Einfügung eines epenthetischen Schwas geführt, was aber einer Bedingung für die -s-Pluralbildung widerspräche, der zufolge -s nicht silbenbildend sein sollte, vgl. Bornschein & Butt (1987). 22 Neben einigen wenigen Idiosynkrasien, wie z.B. goose/geese, tritt im Englischen nur das Pluralmorphem {s} mit seinen drei transparent auf der Basis des Stammauslauts zugewiesenen allomorphischen Ausprägungen -iz, -s und -z auf.
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 63
Nomina, konkurriert mit -s die prognostizierte schwa-haltige Pluralmarkierung. Wiederum gilt für die auf unbetonten Vollvokal auslautenden Nomina die ausnahmslose Zuweisung des -s-Pluralmarkers. Dass tatsächlich die Schwahaltigkeit bedeutsam ist, zeigt sich anhand eines Vergleichs der auf -el, -er oder -en auslautenden Maskulina und Neutra, denen die Pluralmarkierung -Ø zugewiesen wird, mit monosyllabischen, also nicht -e-haltigen Nomina, bei denen -e gewählt wird. Immer dann, wenn sich zu -s eine Konkurrenzmarkierung etabliert hat, ist diese in den Fällen von [+FEM] -n-haltig und in den Fällen von [-FEM] -e-haltig, vgl. auch Wurzel (1984: 125ff) und Bittner, D. (2003: 49). Umgekehrt gilt nicht, dass sich zu einer schwa- oder -n-haltigen Pluralmarkierung eine Form mit -s etablieren kann. Insgesamt bestätigen die Daten unsere Annahmen. Die Markierung des Plurals mit -s bei den Entlehnungen ist durch Nicht-Nativität des Lexems motiviert und kann als ein Durchgangsstadium betrachtet werden, sie erfährt in späteren Phasen eine Ersetzung durch eine der produktiven systemgemäßen Pluralmarkierungen (also -e oder -Ø bzw. -(e)n). Lediglich Nomina auf unbetonten vollvokalischen Auslaut (Baby-s, Pony-s) oder Nomina, die eine sehr hohe Gebrauchsfrequenz aufweisen, können sich einem solchen Ersetzungsprozess entgegenstellen. Der umgekehrte Fall der Ersetzung einer etablierten schwa- oder -n-haltigen Pluralmarkierung durch -s ist weitaus seltener zu beobachten.23 Aus Tabelle 5 wird deutlich, dass die Verwendung von -s als Pluralmarker in Entlehnungsprozessen nicht nur Anglizismen betrifft. Außerdem tritt diese Pluralmarkierung insbesondere bei monosyllabischen Entlehnungen auf – auch wenn die für den Plural präferierte trochäische Struktur so nicht erreicht wird und das entlehnte Nomen als ‚fremd‘ erkennbar bleibt. Warum gerade -s zu Beginn von Entlehnungsprozessen als Pluralmarkierung gewählt wird, hat mit seinen Markereigenschaften zu tun. Die Form -s lässt verglichen mit anderen Pluralmarkierungen die Basisform unangetastet, es wird weder eine Umlautung des Stammvokals ausgelöst, noch eine zusätzliche Silbe generiert oder gar eine Akzentverschiebung bewirkt.24
|| 23 Paul (1968: 130) führt lediglich folgende Fälle an: Desserte > Desserts, Basreliefe > Basreliefs, Luftballonen > Luftballons, Cartone > Kartons, Sentimente > Sentiments, Pedanten > Pendants und Portraite > Portraits. Erklären lässt sich dies u.E. damit, dass in allen diesen Fällen im Unterschied zu den in der Tabelle aufgezählten an der französischen Artikulation festgehalten wird und insofern die Markierung -s, da für ‚Fremdes‘ vorgesehen, besonders geeignet ist. 24 Auch Bornschein & Butt (1987) machen deutlich, dass -s im Unterschied zu den anderen Pluralmarkierungen am wenigsten vom Genus des Nomens ausgelöst wird und sich aufgrund dessen besonders gut als ‚Notplural‘ (man kann auch ‚Default‘ sagen) eignet.
64 | Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke
Tab. 5: Wechsel der Pluralbildung von -s zu schwa- und -n-haltiger Pluralmarkierung (aus Köpcke 1993: 155) 18. Jh.
20. Jh.
18. Jh.
20. Jh.
Actionairs
Aktionäre
Costümes
Kostüme
Admirals
Admirale/Admiräle
Couriers
Kuriere
Barons
Barone
Memoires
Memoieren
Galans
Galane
Ministers
Minister
Generals
Generale/Generäle
Officiers
Offiziere
Geometers
Geometer
Onkels
Onkel
Grenadiers
Grenadiere
Paladins
Paladine
Gouverneurs
Gouverneure
Passagiers
Passagiere
Calculs
Kalküle
Plans
Pläne
Capitals
Kapitale/Kapitalien
Postillions
Postillione
Capitains
Kapitäne
Redacteurs
Redakteure
Kastellans
Kastellane
Regisseurs
Regisseure
Cavaliers
Kavaliere
Rivals
Rivalen
Koffers
Koffer
Spions
Spione
Compliments
Komplimente
Titels
Titel
Contours
Konturen
Zephyrs
Zephyre
Corporals
Korporale/Korporäle
Fassen wir das zum -s-Plural im Entlehnungskontext Gesagte kurz zusammen: Dass die -s-Suffigierung kaum phonotaktischen Restriktionen unterliegt, macht sie für Entlehnungen mit einer vom Deutschen abweichenden phonotaktischen Struktur, wie sie häufig bei monosyllabischen Nomina vorkommt, besonders attraktiv. Weniger abweichend von der Sprechern des Deutschen bekannten Wortstruktur sind entlehnte Nomina auf -el, -er und -en. Deshalb setzt sich bei diesem Strukturtyp die präferierte Pluralmarkierung (-Ø bzw. -(e)n) eher als bei den monosyllabischen Nomina durch. Offensichtlich macht der Sprecher hier von Ähnlichkeitsrelationen Gebrauch, die außerdem mit der Präferenz einer trochäischen Wortstruktur korrespondieren. Die Verwendung der schwa-haltigen oder -n-haltigen Pluralmarkierung spiegelt somit den Grad der morphophonematischen Integration eines entlehnten Nomens in das System des Deutschen wider, vgl. auch Vennemann (1988) und Eisenberg (2011: 212ff). Je integrierter ein Nomen in das orthographische, phonologische und morphologische System des Deutschen ist, desto wahrscheinlicher wird die Verwendung der von uns prognostizierten Pluralmarkierungen. Hiermit wiederum gehen die Motivierung eines stabilen Deklinationsverhaltens durch ein festes Genus und ein Abbau der nicht-nativen Phonotaktik (und Orthographie) einher. Im Umkehrschluss heißt das: Bei (noch) schwankendem Genus und instabiler Deklina-
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 65
tionsklassenzuordnung wird auch die Pluralbildung mit -s (noch) präferentiell verwendet. Das Plural-s ist ein Indiz für Fremdheit bzw. noch nicht abgeschlossene Integration. Dies gilt für viele Entlehnungen aus dem Englischen, aber auch für die auf unbetonten Vollvokal auslautenden Nomina.25
3.5 Pluralbildung der Feminina im Deutschen – Detailanalyse Die skizzierte Entwicklung der Pluralbildung im Deutschen zeigt, dass das System auf lange Sicht insgesamt deutlich überschaubarer und transparenter werden wird. Zu erwarten ist die Konkurrenz von (nur) zwei Pluralmarkierungen, die auf der Basis des Genus zugewiesen werden. Nomina der Genusklasse [+FEM] (und Nomina, die der Genussubklasse [+MASK] angehören, und das semantische Merkmal [+menschlich] aufweisen – sogenannte schwache Maskulina) bilden ihren Plural -n-haltig, Nomina der Genusklasse [-FEM] schwa-haltig. Für nicht-native Nomina wird -s als temporäre Pluralmarkierung gewählt. Warum ein weiterreichender Abbau anderer konkurrierender Pluralbildungen in den analysierten Flexionsbereichen bisher ausgeblieben ist, warum und wie in natürlich-sprachlichen Systemen andere Bildungstypen neben den deutlich präferierten, somit produktiven erhalten bleiben können, warum also Bildungen mit -er bei nichtfemininen Nomina wie Kind-er, Männ-er, Wäld-er und mit Umlaut + -e bei den Feminina, vgl. Wänd-e, Nüss-e, Brüst-e, wohl auch zukünftig im System nachzuweisen sein werden, wollen wir am Beispiel der Pluralbildung der Feminina im Deutschen noch einmal im Detail untersuchen. Rekapitulieren wir dazu noch einmal kurz die in 3.1 zusammengetragenen Fakten: Die Feminina (Simplizia) der deutschen Gegenwartssprache lassen sich in drei Gruppen unterteilen: a) monosyllabische Feminina (Tür, Frau), b) Feminina auf -e/-el/-er (Kurve, Amsel, Kammer) und c) Feminina auf unbetonten Vollvokal (Diva). Fasst man a) und b) mit dem Argument zusammen, nur hier handelte es sich strukturell gesehen um native deutsche Feminina, während die Fälle in c) durch den vollvokalischen Auslaut strukturell als ‚fremd‘ empfunden werden, dann gilt für die erste, einige Tausend Lexeme umfassende Gruppe die dominante Verwendung von -(e)n als Pluralmarkierung. Lediglich 38 monosyllabische Feminina bilden ihren Plural mit Umlaut + -e und zwei auf -er auslautende Feminina (Mutter und Tochter) durch Umlautung des Stammvokals. Abweichend von allen für die Feminina denkbaren Pluralbildungen verhalten sich die beiden aus dem Englischen entlehnten monosyllabischen Feminina die Jeans und die Shorts. Beide verändern sich im Plural nicht. Das unterscheidet sie von den anderen Feminina, für die ein voll-
|| 25 Die dabei durch -s realisierte Grundformflexion tritt auch bei Kose- und Kurzformen auf, vgl. Pauli-s, LKW-s.
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ständig distinkt entwickeltes Paradigma hinsichtlich Singular und Plural gilt. Dementsprechend lassen sich die Jeans und die Shorts am ehesten dem unter 2.1 dargestellten Idealtyp A zuweisen. Im Sinne von Idealtyp B verhält sich aber die große Mehrheit der unter a) und b) aufzuführenden Feminina. Sie bilden auf der Basis des Merkmals [+FEM] ihren Plural mit -(e)n. Dieses sog. schwache Deklinationsverhalten gilt für ca. 80 % der zur Debatte stehenden monosyllabischen Fälle, für 99 % der auf -el/-er und für 100 % der auf -e auslautenden Feminina. Sehen wir uns die Nomina Mutter und Tochter und die 38 monosyllabischen Feminina, die ihren Plural durch Umlaut + -e bilden (also sogenanntes starkes Deklinationsverhalten zeigen) und sich damit der allgemeinen Tendenz der Feminina widersetzen, den Plural durch -(e)n-Suffigierung zu signalisieren, noch einmal näher an.26 Die Feminina Mutter und Tochter verhalten sich hinsichtlich ihrer Pluralbildung genau wie eine Reihe weiterer Verwandtschaftsbezeichnungen, vgl. die Väter, Brüder, Mütter, Töchter.27 Außerdem gilt gerade für diese Lexeme eine hohe Tokenfrequenz, und zwar sowohl im Singular als auch im Plural. Und schließlich darf davon ausgegangen werden, dass diese Nomina sehr früh im Spracherwerb erworben werden. Vor diesem Hintergrund vermuten wir, dass die Pluralbildung von Mutter und Tochter zu einem Schema gezählt werden kann, das sich strukturell durch die Gestalt [die #__UML__er] auszeichnet und auf semantischer Ebene als [+ nahe Verwandtschaftsbezeichnung] charakterisieren lässt. Werfen wir nun einen genaueren Blick auf diejenigen Feminina, die ihren Plural mit Umlaut + -e bilden, also den femininen Deklinationstyp, der die drittgrößte Anzahl von Types aufweist:28 Diese Nomina zeigen eine Reihe interessanter Gemeinsamkeiten, die u.E. neben der hohen Tokenfrequenz die innere Stabilität und vor allem den Erhalt dieser spezifischen Pluralbildung bei den Feminina motivieren: 1. alle Nomina mit dieser Pluralbildung sind monosyllabisch; 2. alle Nomina mit dieser Pluralbildung weisen einen umlautfähigen, hinteren Stammvokal auf; 3. die Koda von 30 dieser 38 Nomina (fast 80 %) lautet zusätzlich auf den alveolaren Plosivlaut /t/ aus und 4. die Koda von 4 dieser 38 Nomina lautet auf [#__(K) + /s/] aus.
|| 26 Die -e-Suffigierung gilt, wie oben schon gesagt, auch für Feminina, die mit den Derivationssuffixen -nis und -sal gebildet werden, wie z.B. die Finsternis und die Trübsal. Ursache hierfür sind allerdings die genannten beiden Derivationssuffixe, für die unabhängig von der Genuszuweisung die Pluralbildung mit -e- gilt. Wir werden uns daher mit diesen Feminina hier nicht weiter auseinandersetzen. 27 Die Unterstreichungen heben die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Lexemen hervor. 28 Eine Schwankung bezüglich der Pluralbildung ist nur für das Nomen die Schlucht festzustellen, das in dichterischer und veralteter Form seinen Plural mit Umlaut + -e bildete, während heute die für die Feminina dominierende Pluralbildung mit -(e)n angewendet wird.
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Wir argumentieren dahingehend, dass sich aufgrund dieser spezifischen Merkmale für einen Teil der monosyllabischen Feminina motivierte Singularschemata (bzw. Subklassen) herausgebildet haben, für die die Bildung des Plurals mit Umlaut + -e gilt. Diese Annahme kann wiederum durch diachrone Daten untermauert werden: Im Verlauf der sprachhistorischen Entwicklung hat sich die Verwendung der Pluralmarkierung -en auch auf Nomina ausgeweitet, die zur femininen (Umlaut +) -ePluralklasse zählten. Von dieser Markerexpansion wurden alle Feminina erfasst, die keinen umlautfähigen Stammvokal aufwiesen und ihren Plural nur mit -e bildeten, wie die Pflicht – die Pflichte > die Pflichten oder die Frist – die Friste > die Fristen, vgl. Wegera (1987: 13).29 Der Wechsel zu -en erfasste darüber hinaus aber auch Feminina mit umlautfähigem Stammvokal: die Flut – die Flüte > die Fluten, vgl. Paul (1968: 89), der folgende weitere Beispiele nennt: Brut, Bucht, Burg, Geburt, Andacht, Flur, Glut, Last, Saat, Schlucht, Tat, Tugend, Gewalt und Bildungen mit dem Derivationssuffix -schaft. Offensichtlich gewann im Übergang vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen die Pluralmarkierung -en bei den Feminina immer mehr die Oberhand. Der umgekehrte Fall eines Wechsels der Pluralmarkierung von -en zu (Umlaut +) -e ist nicht bekannt. Die geringe Signalstärke (Validität) des auf -e basierenden Pluralschemas für Feminina und die bedeutend größere Signalstärke des auf -(e)n basierenden Pluralschemas für dieses Genus ist u.E. dafür verantwortlich, dass viele Pluralformen, die dem -e-Schema folgten, zu Singularen uminterpretiert wurden, was zu weiteren Pluralbildungen mit -en führte und damit die Validität von -en als Pluralmarkierung weiter erhöhte. Für die starke Pluralbildung von Feminina erfolgte dabei die Etablierung eines spezifischen Singularschemas, das nur noch Feminina mit umlautfähigem Stammvokal präferierte. Von diesen wiederum weisen die allermeisten einen alveolaren Plosivlaut /t/ in wortfinaler Position auf. Trotzdem bleibt das entstandene Schema [die #__UML__e] zum Ausdruck der Funktion Plural von Feminina vergleichsweise schwach. Seine Validität als Pluralschema ist gering, weil eine sehr ähnliche Struktur wie [die #__Xe] gerade für die Feminina als Schema für den Singular interpretiert werden kann und weil die Struktur [die #__UML__e] auch im Singular von Feminina belegt ist, vgl. z.B. die Tüte. Tabelle 6 zeigt, wie im diachronen Prozess -e-Pluralformen als Singularformen reanalysiert wurden (Daten nach Paul 1968: 90) und sich dann auf der Grundlage dieser neuen Singularformen die Pluralbildung auf -(e)n etablieren und weiter ausdehnen konnte.
|| 29 Erst in den letzten Jahrzehnten vollzog sich mit dem Wechsel von die Niss – die Nisse zu die Nisse – die Nissen der letzte Fall einer langen und jetzt abgeschlossenen Kette von Übertritten ehemals starker Feminina mit nicht-umlautfähigen Stammvokalen zu den schwachen. Die Ausdehnung der Pluralmarkierung -en war zudem nicht nur auf Feminina mit der Pluralbildung (Umlaut +) -e beschränkt, sondern betraf auch Feminina, die auf -el und -er auslauten, wie z.B. Amsel, Gabel, Mauer, vgl. Paul (1968: 48).
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Tab. 6: Reanalyse von Plural- als Singularformen und Bildung neuer Pluralformen MHD Singular
NHD Plural
Singular
Plural
biht
>
bihte
Beichte
>
Beichten
eich
>
eiche
Eiche
>
Eichen
arweiz
>
arweize
Erbse
>
Erbsen
lich
>
liche
Leiche
>
Leichen
geschiht
>
geschihte
Geschichte
>
Geschichten
blout
>
blüete
Blüte
>
Blüten
druos
>
drüese
Drüse
>
Drüsen
ant
>
ente
Ente
>
Enten
huf
>
hüfte
Hüfte
>
Hüften
hurt
>
hürte
Hürde
>
Hürden
sul
>
süle
Säule
>
Säulen
furch
>
fürche
Furche
>
Furchen
stuot
>
stüete
Stute
>
Stuten
niss
>
nisse
Nisse
>
Nissen
Aus der dargestellten historischen Entwicklung der Feminina lässt sich nun folgendes Ergebnis ableiten: -(e)n ersetzt als Pluralmarkierung bei den Feminina solche Markierungen, deren Validität als Pluralmarkierung nicht hinreichend ist. Dies gilt insbesondere für die Pluralbildung durch -e, das für sich (also ohne die gleichzeitige Umlautung des Stammvokals) kaum Signalstärke als Pluralmarkierung besitzt. Vielmehr wird das auslautende Schwa als Genusindikator interpretiert.30 Nun ist schon mehrfach eine ‚Restgruppe‘ hochfrequenter, monosyllabischer, umlautfähiger und auf ein Konsonantencluster mit finalem /t/ auslautender Feminina erwähnt worden, für die die Pluralbildung mit Umlaut + -e als ernstzunehmende Möglichkeit in Konkurrenz zur Pluralbildung mit -en steht. Um die Validität von Umlaut + -e zu ermitteln, soll zunächst überprüft werden, wie viele Feminina mit den gleichen Merkmalen (monosyllabisch, umlautfähiger hinterer Stammvokal, Auslaut (K)/t/) ihren Plural auf diese Weise oder durch -en bilden. In Tabelle 7 sind alle monosyllabischen Feminina mit dem Pluralmarker Umlaut + -e aufgeführt. Wir haben die Nomina geordnet, um ein spezifisches Verhalten bei der Pluralbildung deutlich werden zu lassen.
|| 30 Die Pluralmarkierung -e wird natürlich in dem Maße weiter an Signalstärke einbüßen, je mehr Feminina ihren Nom.Sg. auf -e bilden.
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Tab. 7: Monosyllabische Feminina mit Umlaut + -e-Pluralbildung Muster
Belege (vollständige Liste)
#__/t/
Braut, Haut, Naht, Not, Stadt
#__K+/t/
Abzucht, Ausflucht, Brust, Faust, Frucht, Gruft, Hand, Kraft, Kluft, Luft, Lust, Macht, Magd, Nacht, Sucht, Wand
#__(K)KK+/t/
Angst, Auskunft, Brunft, Brunst, Kunst, Schwulst, Wulst, Wurst, Zunft
#__(K) + /s/
Gans, Laus, Maus, Nuss,
Restfälle
Bank, Kuh, Sau, Schnur
Wie gesagt endet die phonologische Struktur von 30 der insgesamt 38 Nomina auf den Verschlusslaut /t/. Um diese Auffälligkeit bewerten zu können, prüfen wir, wie oft und in welcher konsonantischen Clusterkonstellation dieses Muster bei den monosyllabischen Feminina mit -en-Plural auftritt. Von den in Köpcke (1982) angegebenen 27 Fällen lauten dabei 11 auf das Konsonantencluster [velarer Frikativ + Verschlusslaut /t/] aus, das bei den Feminina mit Umlaut + -e-Plural nur bei Abzucht, Ausflucht, Frucht, Macht, Nacht und Sucht auftritt, wobei für eine Reihe von Umlaut + -e-Fällen eine Konkurrenzbildung mit -en gilt (Flucht, Vollmacht, Sucht, Zucht). Wir können somit davon ausgehen, dass Sprecher des Deutschen das auslautende Konsonantencluster [velarer Frikativ + Plosivlaut /t/] nicht als spezifische Motivierung (spezifisches Schema) für die Pluralbildung mit Umlaut + -e werten sondern mehrheitlich -en zuweisen. Die damit noch verbleibenden monosyllabischen Feminina verteilen sich folgendermaßen über die möglichen Auslautcluster mit /t/. Tab. 8: Feminina (Schema [#__(K)(K)(K)+/t/]) mit Umlaut + -e- oder -en-Plural31 Auslautcluster mit /t/
Pluralbildung mit U+ -e
Pluralbildung mit -en
#__/t/
5 (= 56 %)
4 (= 44 %)
#__(K)(K)K+/t/ (ohne #__/xt/)
19 (= 61 %)
12 (= 39 %)
Tabelle 8 verdeutlicht, dass die Tendenz, den Plural mit Umlaut + -e zu bilden, mit zunehmender Komplexität des auf /t/ auslautenden Konsonantenclusters zunimmt. Angesichts der sonst so dominanten Verwendung von -(e)n bei Feminina sollten die festgestellten Typefrequenzen für spezifische Schemata nicht unterschätzt werden.
|| 31 In der Tabelle bedeutet „K“, dass an dieser Stelle ein Konsonant dem finalen /t/ vorausgeht und „(K)(K)K“, dass dem Verschluss /t/ maximal drei Konsonanten vorausgehen können.
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Insgesamt hat man es hier mit einem zwar zahlenmäßig kleinen, aber strukturell motivierten Nest stark flektierender Feminina zu tun. Dies ist der harte Kern, um den sich quasi sattelitengleich noch weitere starke Feminina gruppieren, die ihrerseits nun wiederum Cluster (Gans, Laus, Maus, Nuss) respektive sprachliche Einzeltatsachen (Bank, Kuh, Sau, Schnur) darstellen.32 Dass die Etablierung von Schemata durch die hohe Gebrauchsfrequenz der betroffenen Items unterstützt wird, zeigt noch einmal Abbildung 2. Wir haben oben postuliert, dass gebrauchsbasierte Modelle zur mentalen Repräsentation des grammatischen Wissens den empirischen Tatsachen eher gerecht werden als solche, die man als „Regel- und (Ausnahme)Listen-Modell“ charakterisieren könnte. Deshalb würden wir erwarten, dass – analog zu den Maskulina und Neutra mit -er-Plural, vgl. Abb. 1 – auch die ihren Plural mit Umlaut +-e bildenden Feminina in ihrer Singular- und in ihrer Pluralform (deutlich) frequenter sind als Feminina, die ihren Plural mit der ansonsten präferierten Pluralmarkierung -en bilden. Die hinsichtlich ihrer Frequenzdaten überprüften monosyllabischen Feminina – 33 Nomina mit nicht produktiver Pluralbildung und 68 Nomina mit dem präferierten -en-Pluralmarker – wurden wiederum dem Leipziger Wortschatzkorpus entnommen.
1000000 100000
Singularform
Pluralform
Frequenz
10000 1000 100 10 1 F Pl. mit U-e
F Pl. mit -en
F Pl. mit U-e
F Pl. mit -en
Abb. 2: Frequenz der Feminina
Abbildung 2 illustriert höhere Gebrauchsfrequenzwerte bei den Feminina, die ihren Plural mit Umlaut + -e bilden. Der Medianvergleich für die Singular- und die Pluralformen bestätigt also auch für die Feminina eine erwartete deutliche Differenz zwischen der Frequenz der Nomina mit unproduktiver und denen mit präferierter (pro-
|| 32 Die Möglichkeit einer (zusätzlichen) semantischen Motivierung dieser Gruppen schließen wir nicht aus, gehen ihr allerdings hier nicht weiter nach.
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 71
duktiver) Pluralbildung, auch wenn dieser Unterschied für die Singularformen nicht besonders ausgeprägt ist. Ein weiteres Muster, das die Pluralbildung mit Umlaut + -e favorisiert, betrifft Feminina mit der Koda #__(K)s. Es ist aufgrund der geringen Zahl seiner Mitglieder eher als Cluster [#__(K)s], denn als Schema zu klassifizieren. Andererseits weist es eine vergleichsweise hohe Validität für die Pluralbildung mit Umlaut + -e auf, weil die Konkurrenzmarkierung -en bei diesem Cluster überhaupt nicht vertreten ist. Bisher nicht berücksichtigt haben wir vier Feminina (Bank, Kuh, Sau, Schnur), die mit dem Kern des oben vorgestellten Schemas [#__(K)(K)(K)+/t/] nur die spezifische Vokalqualität (Umlautfähigkeit) teilen. Gleichwohl lassen sich auch für diese Restnomina das Flexionsverhalten motivierende Aspekte beobachten: Sau und Schnur lassen fachsprachlich oder dialektal auch die Bildung des Plurals mit -en zu und zum Paar Bank – Bänke gibt es mit Bedeutungsdifferenzierung das Paar Bank – Banken. Wir sehen also, dass, wie oben angedeutet, in den weicheren Schichten, die den harten Kern umgeben, die konkurrierende Pluralmarkierung zu greifen beginnt. Bleibt die Kuh. Hier handelt es sich wahrlich um ein Kernlexem, das so häufig benutzt und so früh erworben wird, dass es sich (noch) jedweden Reklassifikationsprozessen entgegenstemmen kann.
4 Theoretische Konsequenzen und Fazit Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse scheint uns eine Unterscheidung von Regulärem und davon Abweichendem, das dann als Irregularität betrachtet wird, nicht der sprachlichen Realität zu entsprechen. Wir schließen aus ihnen nicht auf eine einfache mentale Repräsentation in Form von Regel und Ausnahme sondern interpretieren die beiden in Abschnitt 2.1 zugrunde gelegten Grundtypen strukturalistischen Denkens, also das, was traditionell Regularität und Irregularität genannt wird, als die beiden Endpunkte eines Kontinuums schematischer Repräsentation. Zwischen diesen beiden Polen vermitteln unterschiedliche Ausprägungen und Grade von Motiviertheit und daraus resultierender Einheitlichkeit. Totale Idiosynkrasie und maximale Einheitlichkeit der Repräsentation sind somit lediglich der jeweils extreme Ausdruck einer identischen Strategie. Das nicht oder weniger Einheitliche steht im Allgemeinen nicht als singuläres Ereignis da, vielmehr verbinden sich die Items zu einfachen Analogien, allgemeineren Clustern und zunehmend abstraktere Eigenschaften abbildenden Schemata.33 Ein Schema wird dabei definiert als eine ausdruckseitige Gestalt, die ein spezifisches Konzept – hier Mehrzahlig-
|| 33 Obwohl wir auf den Begriff der Regel verzichten, ist die Nähe zum Konzept der major und minor rules, vgl. z.B. Dressler (1997), Tomasello (2006), natürlich unverkennbar.
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keit – mit einer mehr oder weniger großen Probabilität zum Ausdruck einer grammatischen Funktion signalisiert. Schemata sind genauso das Resultat unseres Sprachgebrauchs, wie die Entstehung von Clustern oder das Auftreten bzw. Fortbestehen singulär klassifizierter sprachlicher Einheiten. Sie gehören zum klassifikatorischen Repertoire von Sprechern, seiner Fähigkeit zur Musterbildung und Mustererkennung und sind gleichsam als Repräsentationsstrategien aus dem Sprachgebrauch, der sprachlichen Erfahrung extrahiert. Das Auftreten von Wörtern und Wortformen in pragmatischen Kontexten bewirkt Verstärkungen und Aktualisierungen unseres Wissens um die Bedeutung eines Musters (Schemas, Clusters etc.) zum Ausdruck eines spezifischen semantischen oder grammatischen Konzepts. In dem Maße, wie z.B. neue Entlehnungen, Neologismen usw. nach einem spezifischen Muster traktiert werden, wird dieses Muster immer mächtiger; entsprechend werden andere Schemata, Cluster usw. in ihrer Bedeutung für den Sprecher und damit in ihrer Reichweite geschwächt. Auf lange Sicht können weniger bzw. nichtpräferierte Schemata, Cluster usw. im sprachlichen System nur noch fortbestehen, wenn die sie repräsentierenden Items neben einer hohen Gebrauchsfrequenz ausdrucks- und/oder inhaltsseitig untereinander Ähnlichkeits-beziehungen aufweisen, wie etwa die Kernverwandtschaftsbezeichnungen Mutter, Vater, Tochter, Bruder bzw. die oben ausführlich diskutierten starken Feminina, oder eine extrem hohe Type- und Tokenfrequenz aufweisen, wie etwa das singuläre Nomen Kuh. Sprachverwendung erfolgt in der Zeit und im Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen. Sie ist damit Veränderung unterworfen und zieht Veränderung nach sich. Demzufolge können sich auch Schemata aufgrund sprachimmanenter und/oder sprachexterner Bedingungen (nicht nur in ihrem Stellenwert) verändern – alte Schemata verschwinden, neue werden von der Sprachgemeinschaft entwickelt. In der folgenden Abbildung 3 nehmen wir diesen Gedanken auf und stellen vollständige Idiosynkrasie (Idealtyp A) und vollständige Einheitlichkeit (Idealtyp B) als den jeweiligen Endpunkt eines Kontinuums einander gegenüber. Je weiter man sich von links nach rechts auf diesem Kontinuum bewegt, desto autonomer werden die grammatischen Flexive, nimmt die itemspezifische Abhängigkeit der Flexive ab. Aus der Perspektive eines Sprechers und seiner mentalen Repräsentation des grammatischen Wissens bedeutet das, je weiter links die Items auf dem Kontinuum angesiedelt sind, desto itemspezifischer und umgekehrt, je weiter rechts ein Item auf dem Kontinuum zu verorten ist, desto genereller, abstrakter, itemunabhängiger ist seine mentale Repräsentation. Damit korreliert die Produktivität eines Schemas, während Schemata mit hohem Abstraktionsgrad, wie z.B. ein Default-Schema, (hohe) Produktivität aufweisen, also ihre Flexionsmerkmale auf neue Items und auf solche durch weniger abstrakte Schemata motivierte ausdehnen, besitzen konkrete, itemspezifische Schemata, Cluster usw. wenig bis keine Produktivität.
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Während (vollständige) Idiosynkrasie maximale Individualität bzw. Eindeutigkeit der Symbolisierung sichert und um den Preis erhöhter Lern- und Gedächtniskapazität erkauft wird, gilt für (vollständige) Einheitlichkeit, dass mit vergleichsweise wenig Lern- und Gedächtniskapazität sehr viel in vergleichsweise kurzer Zeit gespeichert werden kann; dies aber bei Verlust an Individualität bzw. Eindeutigkeit der Symbolisierung. Gut möglich, dass wir es bei Prozessen wie den hier beschriebenen mit einem an sprachlicher Ökonomie orientierten Ausbalancieren zwischen Repräsentations- und Lernaufwand und Funktionalität der sprachlichen Entitäten zu tun haben.34 Je mehr sich die Repräsentation im Rahmen des Kontinuums von links nach rechts verschiebt, umso mehr setzt sich mit dem vom spezifischen Item absehenden Verhalten – kulminierend im Default-Schema – das ‚Ideal‘ einer 1:1Beziehung zwischen Form und Funktion durch. Für die Pluralbildung des Deutschen heißt das, dass den dort angesiedelten Items auf der Grundlage sehr einfacher und durchsichtiger Faktoren wie [± FEM], eine Markierung zugewiesen wird. Das Wirken solch polarer Strategien kann generell unterstellt werden und ist auch ohne formale Abweichungen vorhanden. Für die formale Abweichung gilt allerdings, dass ein hohes Maß an formaler Differenzierung/Distinktivität ein entsprechendes Maß an funktionalem ‚Nutzen‘ mit sich bringen muss. Es ist für Sprecher nur dann ökonomisch, wenn ein formal abweichender Bereich funktional (relativ) eindeutig gegliedert/motiviert werden kann. Ist das nicht der Fall, setzt sich eine Tendenz zur Vereinheitlichung bzw. einheitlichen, möglichst abstrakten Motivation von Flexionssystemen durch, die durch Sprachveränderung verursachte formale Diversität per erneuter Sprachveränderung wieder abbaut. Durch Sprachwandel und im Erwerb erzeugen die Sprecher innerhalb eines funktional eigentlich auf Einheitlichkeit ausgerichteten Systems die hier beispielhaft als Kontinua beschriebenen Repräsentationen als Folge der Anwendung (möglicher) unterschiedlicher kognitiver Repräsentationsstrategien auf den Input. Spannt man nun, wie wir es getan haben, die Pluralbildung der Feminina35 in das in Abbildung 3 aufgezogene Kontinuum ein, ergibt sich folgendes Bild: Die englischen Entlehnungen die Jeans und die Shorts sind vollständig idiosynkratisch, weil es sich bei diesen beiden Feminina um die einzigen handelt, bei denen sich Singular- und Pluralparadigmen überhaupt nicht unterscheiden. Betont wird somit, auch wegen der fehlenden trochäischen Wortstruktur, ihre ‚Fremdheit‘, sie sind als echte individuelle Einheiten im System der nominalen deutschen Pluralbildung zu
|| 34 In der Morphologie finden die beiden Pole in suppletiven Formen einerseits und Formen mit vollständiger Uniformität, Transparenz und Ikonizität andererseits ihren jeweils maximalen Ausdruck. Zu den Konzepten, die die hier verwendeten Termini repräsentieren, vgl. z.B. Plank (in diesem Band) und Wurzel (1984). 35 Wir sehen hier aus den o.g. Gründen von den Feminina auf unbetonten Vollvokal (Oma, Mama usw.) ab.
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interpretieren. Das Femininum die Kuh steht als singuläre Erscheinung auf diesem Kontinuum, es hat im Unterschied zu den Mini-Clustern Mutter/Tochter und Bildungen auf -nis und -sal keine Partner, mit denen es sich via analogischem Prozess verbinden und vor Abbautendenzen schützen könnte. Einzig seine extrem hohe Gebrauchsfrequenz bewahrt es vor der Veränderung seines Pluralmarkers. Die Cluster Laus/Maus und Naht/Not weisen gegenüber den Mini-Clustern eine größere Anzahl von Mitgliedern auf. Zudem zeigen sie in dieser Reihenfolge Ähnlichkeitsrelationen zu dem Schema [#__(K)(K)K/t/]: Beide Cluster teilen mit dem Schema den umlautfähigen, hinteren Stammvokal. Das Cluster Naht/Not hat darüber hinaus auch den wortfinalen Plosiv /t/. Noch type-mächtiger als die Cluster ist das Schema [#__(K)(K)K/t/] (Wand, Brust). Alle anderen nicht durch diese spezifischen Merkmale in ihrem Flexionsverhalten motivierten Feminina bilden ihren Plural mit -en. Idealtyp A (vollständige Idiosynkrasie/ max. lexikalisch) Jeans Shorts
Kuh
Mutter Tochter
Idealtyp B (vollständige Einheitlichkeit/ max. schematisch) -nis -sal
Laus Maus etc.
Naht Not etc.
Wand Brust etc.
alle anderen
zunehmende Autonomie grammatischer Formen (schematische Repräsentation) zunehmende itemspezifische Repräsentation (lexikalische Repräsentation) Abb. 3: Die Idealisierungen A und B als Endpunkte eines Kontinuums36
Wichtig ist zudem generell festzuhalten, dass die Tokenfrequenz der durch spezifische Merkmale (konkretere Schemata) motivierten Types deutlich höher ausfällt als die der durch weniger spezifische (abstraktere Schemata) motivierten. In Abbildung 4 sei noch einmal auf diese Frequenzunterschiede sowohl für die Singular- als auch für die Pluralformen hingewiesen.
|| 36 Aus strukturalistischer Sicht lassen sich anhand des Kontinuums weitere Differenzierungen vornehmen: So wird die Segmentierbarkeit, d.h. das Verhältnis zwischen Wortstamm und Affix, von links (suppletiv) nach rechts transparenter, in der gleichen Richtung verringert sich die Formenvariation von ‚ein Item = mehrere Formen‘ zu ‚ein Item = eine Form‘. Die Selektionsbeschränkung nimmt dagegen von rechts (keine) nach links (random) zu.
Motivierungsstrategien und Schemabildung | 75
1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 M/N Sg.
M/N Pl. konkreter
F Sg.
F Pl.
abstrakter
Abb. 4: Medianwerte für schematisch unterschiedlich motivierte monosyllabische Nomina37
Eine auf gebrauchsbasierten Konzepten beruhende Modellierung sprachlichen Wissens verzichtet auf die Annahme eines dualen Prinzips von Regel und Ausnahmen bzw. von Irregularität (Regellosigkeit). Sie geht davon aus, dass Sprecher bei der Klassifikation und Strukturierung des Inputs Strategien der Motivierung flexionsmorphologischen Verhaltens anwenden, die sich im Grad der Abstraktheit der aus ihnen resultierenden schematischen Repräsentation unterscheiden. Sprecher verbinden Wörter und Wortformen auf der Basis von Ähnlichkeits- bzw. Motiviertheitskriterien miteinander zu einfachen Analogien, Clustern und Schemata. Sie nutzen dabei in Abhängigkeit von typologischen Parametern die mögliche Spannbreite zwischen itemspezifisch und itemunabhängig motivierter Speicherung, d.h. Sprecher etablieren und hierarchisieren Schemata, die auf einer Skala zwischen maximaler formaler Ähnlichkeit zwischen den Items und minimalem Abstraktionsgrad der Motivierung (spezifische (konkrete) Schemata) und minimaler formaler Ähnlichkeit zwischen den Items und maximalem Abstraktionsgrad der Motivierung (Default-Schema) angeordnet sind. Aus diesen Verwendungs- und Repräsentationsstrategien der Sprachbenutzer resultiert der Erhalt, das (motivierte) Beharrungsvermögen unterschiedlicher Bildungsmöglichkeiten. Dabei kommt den Kategorisie|| 37 Insgesamt tritt die höhere Frequenz der Nomina mit der weniger präferierten Pluralbildung (spezifisches Schema) gegenüber denen mit der präferierteren (abstrakteres Schema) bei den Maskulina und Neutra viel deutlicher zutage als bei den Feminina. Verantwortlich hierfür ist aber die vergleichsweise geringe Zahl von feminin klassifizierten monosyllabischen Nomina (vgl. Köpcke 1982).
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rungs- und Abstraktionsprozessen, mit denen Sprecher, wie hier am Beispiel der Pluralmorphologie des Deutschen illustriert, eine schematische Strukturierung des (Teil)Flexionssystems vornehmen, zentrale Bedeutung zu. Die aus dem Sprachgebrauch resultierenden Schemata sind also mehr oder weniger abstrakte mentale Einheiten; die jeweilige Stärke eines spezifischen Schemas für die Symbolisierung einer morpho-syntaktischen Funktion korreliert mit seiner Gebrauchsfrequenz, seine Produktivität ist abhängig vom Grad der Abstraktheit seiner Motivation. Mit ihnen lassen sich die reale Struktur und – auf der Basis ihres Konfligierens, das aus dem Vereinheitlichung favorisierenden Streben zur kognitiven ‚Aufwandsminimierung‘ resultiert, – die Entwicklungs- und Veränderungstendenzen flexionsmorphologischer (Teil)Systeme adäquat beschreiben.
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78 | Andreas Bittner und Klaus-Michael Köpcke
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Rüdiger Harnisch
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität und Prozeduren zur Bemessung ihrer Anteile 1 Problemaufriss und exemplarischer Varietätenvergleich Um die Anteile phonologischer und morphologischer Bedingtheit an Irregularitäten in der Flexionsmorphologie bemessen zu können, ist es zur Vermeidung voreiliger Formulierungen von solchen Irregularitäts-Bedingungen notwendig, das gesamte Sprachsystem, das gesamte flexivische System oder ein gesamtes flexivisches Teilsystem daraufhin zu prüfen, ob eine ad hoc entdeckte Irregularitäts-‚Regel‘ uneingeschränkt gültig ist oder ob es zu ihr gegenteilige Befunde innerhalb dieser (Teil)Systeme gibt. Das Vorgehen dabei ist immer paradigmatisch, so dass in Bezug auf das Gesamtsystem etwa Lexik-Grammatik-Bezüge oder – innerlexikalisch – Wortbildungsbezüge berücksichtigt werden müssen, in Bezug auf das gesamte flexivische System die Verhältnisse in der Verbal- und Nominalmorphologie, in Bezug auf ein flexivisches Teilsystem dieses insgesamt. In diesem Beitrag wird als exemplarisches flexivisches Teilsystem die Verbalmorphologie/Konjugation vorgeführt. Dem komplexen Geflecht aus bedingenden Faktoren geschuldet, muss diese Analyse sehr kleinschrittig vorgehen, damit der daraus entwickelte Vorschlag einer algorithmus-artigen Prozedur nachvollzogen werden kann. Was den grammatiktheoretischen Hintergrund der vorliegenden Untersuchung angeht, ist mit dem oben verwendeten Begriff der ‚Regel‘ bereits angedeutet, dass ein regelbasierter Ansatz gewählt wurde. Mit ‚*R1‘ und ‚R2‘ sind diese Regeln unten formuliert. Bei ihnen handelt es sich um solche phonologischer Art. Sie operieren im Rahmen einer segmentalen Phonologie, kennen aber Bedingungen der Segmentverkettung, haben insofern phonotaktischen Zuschnitt und sind silbensensitiv.1 In ihrer phonotaktischen (etwa in der Moren-Ökonomie fundierten) Motiviertheit folgen die betreffenden Regeln Präferenzen der ‚Natürlichen Phonologie‘. Sie kollidieren damit aber unmittelbar mit Präferenzen der ‚Natürlichen Morphologie‘ (vor || 1 Es ist nicht Ziel dieser Untersuchung, theoriekritisch für oder wider regelbasierte bzw. schemaorientierte Ansätze zu argumentieren, auch nicht pro oder contra segmentale bzw. suprasegmentale Herangehensweisen. Es wird nicht in Abrede gestellt, vielmehr sogar für wahrscheinlich erachtet, dass mit Ansätzen des Schema-Modells oder auch der Optimality Theory bzw. der prosodischen Phonologie/Morphologie in Bezug auf den hier behandelten Gegenstand vergleichbare Ergebnisse erzielt würden.
80 | Rüdiger Harnisch
allem Uniformität und Transparenz) und (zer)stören – aus Sicht der universellen Natürlichkeitstheorie ‚optimale‘ – morphologische Strukturen. Anderseits können ihre Produkte hingenommen werden, wenn sie ‚systemangemessen‘ sind (z.B. der Flexionsklassendifferenzierung dienen oder dem lautlichen Muster einer Position im Flexionsparadigma entsprechen).2 Im Sinne des Konzepts von ‚Natürlichkeitskonflikten‘ geht der Anstoß zum Wandel zwar von lautlichen Prozessen aus, doch werden deren Folgen morphologisch gesteuert und ziehen auf diese Weise morphologisch motivierte Wandelprozesse nach sich. Die Morphologie setzt den phonologischen Regeln insofern Bedingungen und lässt sie zu oder nicht. Wendet man den oben angesprochenen Algorithmus auf unterschiedliche Varietäten einer Sprache an, können horizontale und vertikale Unterschiede in den Irregularitätstoleranzen der betroffenen Varietäten bestimmt werden: horizontale von Substandard A und Substandard B, vertikale von Substandard A (oder B) und Standardvarietät S.3 Exemplarische Substandardvarietät ist im Folgenden immer ein südthüringischer Ortsdialekt.4 In Kap. 3 werden unterschiedliche Varietäten unter dem Aspekt ihres Verhaltens gegenüber potentiell morphologische Irregularität hervorbringenden phonologischen Prozessen verglichen: in Kap. 3.1 ein Dialekt und die deutsche Standardsprache (Varietäten vertikal geschichtet), in Kap. 3.2 ein Dialekt mit einem andern Dialekt (Varietäten horizontal auf derselben Sprachschichtenebene befindlich). Als flexionsmorphologisch irregulär werden im Folgenden sprachliche Gebilde bestimmt, in deren Paradigma Varianten vorkommen, bei denen das Prinzip der morphologischen Uniformität und/oder das Prinzip der morphologischen Transparenz verletzt sind (vgl. Mayerthaler 1981: 34). Die morphologische Uniformität ist zum Beispiel bei Stammallomorphie gestört; diese kann etwa die Qualität und/oder Quantität des Stammvokals betreffen. Die morphologische Transparenz ist insbesondere durch die Elision von lautlicher Substanz der Morphe und durch Ver|| 2 Dass im Fall des Konflikts zwischen universeller Natürlichkeit und einzelsprachlicher Normalität letztere obsiegt, hat Wurzel (1984: 110‒115) gezeigt. 3 Unter dem Aspekt einer „‚Natürliche[n]‘ Sozio-Morphologie“ widmet sich Harnisch (2004: 526‒ 528) dem „Verhältnis von systemischer und sozialer Markiertheit“ und der sozialen Bewertung morphologischer Formen auf der vertikalen/diastratischen Varietätenskala. Solche normativen Irregularitäts- (und Regularitäts-)Bewertungen und sozialen Bemessungen von IrregularitätsToleranzen bleiben hier zugunsten der Bestimmung systemischer und funktionaler Faktoren weitgehend ausgespart. 4 Im Folgenden mit ‚südthür.‘ abgekürzt. Er ist in Harnisch (1987a) vollständig beschrieben, die sprachlichen Rohdaten auch vorliegender Analyse sind dieser Monographie entnommen und dort nachprüfbar. Die Transkription wurde für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung adaptiert. Der Anspruch darauf, vor generalisierenden Aussagen (etwa über Regularität/Irregularität bestimmter Muster oder Prozesse) jeweils das gesamte System durchzuprüfen, der im vorliegenden Beitrag erhoben wird, war auch schon bei Harnisch (1987a) im Untertitel formuliert worden: „Die Erprobung eines Grammatikmodells an einem einzelsprachlichen Gesamtsystem“ (Kursivsetzung R.H.).
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 81
schmelzungen der lautlichen Substanz von Morphen mit benachbarten identischen oder in vielen Merkmalen übereinstimmenden Lauten anderer morphologischer Einheiten innerhalb eines morphologisch komplexen Gebildes gefährdet. In diesem Sinne irreguläre Abweichungen stehen in Opposition zu regulären Formen; das sind solche, die in Bezug auf ihre lautliche Nachbarschaft ‚unverdächtig‘ und (kategorial)semantisch unmarkiert sind.5 Am Beispiel (1) aus der südthür. Verbalmorphologie soll im Folgenden beides kurz gezeigt werden: Irregularitäten der oben beschriebenen Art (Uniformitäts- und Transparenz-Verletzungen) zum einen, Unterschiede zwischen dem Standarddeutschen und der dialektalen Varietät im Grad der Irregularität zum andern. (1) Inf. – 3. Sg. Präs.
Südthüringisch6
Hochdeutsch7
dra:də – drid
treten – tritt
V: > V / tˆt > t
bro:də – brid
braten – brät
V: / tˆt > t
bi:də – bid
bieten – bietet
V: / tˆt > tət
Ausgegangen wurde zunächst von einem Fall, bei dem die Formen beider Varietäten gleichartig irregulär sind. Bei Fällen wie südthür. [ar drid], hd. er tritt weicht die dialektale Form nicht von der standardsprachlichen ab. Beide haben Vokalkürzung und bei beiden verschmelzen die Dentalplosive von Stammauslaut und Suffix. Die Alternation bei thür. [bro:də] – [brid] geht jedoch im Grad der Verschiedenheit der Stammallomorphe weiter als die Alternation bei hd. braten – brät. Zwar verschmelzen im Hochdeutschen die Dentalplosive auch, doch der Stammvokal bleibt lang.
|| 5 Lautnachbarschaftliche ‚Verdächtigkeit‘ liegt insbesondere vor, wenn tiefenstrukturell benachbarte Segmente in ihren Merkmalen eine totale Gleichheit aufweisen (Geminaten) oder in vielen Merkmalen übereinstimmen, so dass Assimilation bis hin zur Verschmelzung zu einem Segment vorkommen kann, oder wenn durch morphologische (etwa Suffigierungs-)Prozesse silbenquantitative Probleme entstehen, die intrasyllabische Kompensation fordern. Relative morphologische Unmarkiertheit ist nach dem Postulat des konstruktionellen Ikonismus der Natürlichkeitstheorie an relative ausdrucksseitige Merkmallosigkeit gebunden, so dass bei unmarkierten Formen tendenziell weniger mit morphologischen Kettenstrukturen und demzufolge weniger mit ‚verdächtigen‘ Syntagmatiken lautlicher Substanzen von Morphotaxen zu rechnen ist. 6 Zur hier vereinfachten phonetischen Transkription der dialektalen Beispiele: Laute, die mit Symbolen für stimmhafte Obstruenten geschrieben werden, sind als spontan stimmlose (in stimmhafter Umgebung sonorisierte) Lenes zu lesen. Das Symbol [j] steht im Folgenden für die spontan stimmlose (in stimmhafter Umgebung sonorisierte) Lenis des palatalen Frikativs (Widerpart der Fortis [ç]), das Symbol [χ] für die spontan stimmlose (in stimmhafter Umgebung sonorisierte) Lenis des velaren Frikativs (Widerpart der Fortis [x]). Da das Symbol [v] für spontan stimmlosen labiodentalen Lenisfrikativ steht, muss der labiodentale Semivokal mit einem anderen Symbol transkribiert werden, hier [w]. Für velaren tiefen Vokal steht das Symbol [α]. 7 ‚Hochdeutsch‘, abgekürzt ‚hd.‘, wird im Folgenden synonym mit ‚deutscher Standardsprache‘ verwendet.
82 | Rüdiger Harnisch
Im Dialekt dagegen wird dieser zusätzlich gekürzt. Im dritten Fall wird standardsprachlich weder gekürzt, noch werden die Dentalplosive verschmolzen (man bietet). Im Dialekt werden aber beide Prozesse durchgeführt, und es heißt südthür. [mər bid].8
2 Das Bedingungsgefüge der Irregularitäten in der südthüringischen Verbalflexion Im Folgenden wird anhand der südthür. Verbalmorpho(phono)logie Schritt für Schritt aufgedeckt, wie lautliche und grammatische Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel irreguläre Flexionsformen bedingen. Diese Faktoren sind zum einen lautliche Merkmale von Stammvokalismus, Stammauslaut und Suffix sowie deren phonotaktische Syntagmatik, zum andern die morphologischen Merkmale flexivischer Kategorien, hier aus dem Konjugationsparadigma (Person, Numerus), sowie die das Flexionsverhalten steuernden Klassen-Merkmale (starke/schwache Verben).9 Nach dem Verhalten der unter (1) vorgeführten Beispiele könnte man vorläufig (deshalb mit Asterisk *) folgende Regel für den südthür. Dialekt formulieren: *R1 Wenn im Auslaut durch Suffigierung zwei dentale Plosive nebeneinander zu stehen kommen, wird ein langer Stammvokal gekürzt und werden die Auslautkonsonanten degeminiert/verschmolzen. Alle betroffenen Fälle haben die gleiche zugrundeliegende Vokal-KonsonantStruktur aus langem Stammvokal, Stammauslaut [d-] und Suffix [-d], die durch *R1 in die Struktur aus kurzem Stammvokal und einfachem [d]-Auslaut überführt wird, wobei Stammauslaut und Suffix verschmelzen und damit auch die Grenze zwischen Stamm und Suffix verloren geht – siehe die Formalisierung unter (2). Wie die Phonotaxe (2.c) mit Stammvokalkürzung zeigt, ist ein solcher Vorgang vor dem Hintergrund der Verhältnisse in der Ausgangsform (2.a) von der Moren-Zahl bzw. der Silbenschwere her gedacht quantitätsphonotaktisch/prosodisch durchaus plausibel.
|| 8 Zur morphologisch motivierten Vereinheitlichung von lautlichen Mustern in flektierten dialektalen Formen wie hier dem Zusammenlaufen aller Vokalalternationsprozesse in einem ZielStammvokal [i] der 3. Sg. Präs. vgl. die Ausführungen von Nowak (in diesem Band). Dazu auch Harnisch (1987a: Kap. 8.1.1.) und, in Bezug auf das Luxemburgische, Werner (1990). 9 Zur Ordnungs- und Steuerungsfunktion von flexivischen ‚Klassen‘ siehe Nübling (in diesem Band).
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 83
(2)
Stamm
flektierte Form aus Stamm + Suffix
(a) Suffigierungsbasis
(b) zugrundeliegende Morphotaxe
(c) Stammvokalkürzung
(d) Konsonantenverschmelzung
bi:d
*bi:d-d
*bidˆd
bid
…V:d
*…V:d-d
*…Vdˆd
…Vd
Aus morphologischer Sicht ist bei den drei Beispielen unter (1) allerdings zu bedenken, dass es sich ausnahmslos um starke Verben handelt. Man muss also prüfen, ob die formulierte phonologische Bedingung auch bei schwachen Verben gilt. Die Beispiele unter (3) bestätigen die aufgestellte Regel *R1.10 (3)
Inf. – 3. Sg. Präs.
schwaches Verb
hi:də – hid
hüten – hütet
bra:də – brad
breiten – breitet
re:də – red
reden – redet
Geht man in der Entdeckungsprozedur weiter, ist ausgehend von der lautlichen Substanz des bisher in Betracht genommenen Suffixes [-d] der 3. Sg. Präs. zu fragen, ob nicht auch das im betreffenden Dialekt homophone Suffix [-d] der 2. Pl. Präs. die gleichen phonotaktischen Prozesse bewirkt. Wenn es sich in dem von Regel *R1 beschriebenen Fall wirklich um einen phonotaktischen Automatismus handelt, dürften also nicht nur die Formen der 3. Sg. Präs. einen gekürzten Vokal und verschmolzene Auslautkonsonanten aufweisen, sondern müssten das auch die Formen der 2. Pl. Präs. tun. Dass dies sowohl bei starken als auch bei schwachen Verben der Fall ist, zeigt (4). Damit wäre die Regel *R1 auch hierdurch bestätigt.
|| 10 Die lautlichen Prozesse machen also diese ‚schwachen‘ Verben schon einmal ‚irregulär‘. Im betreffenden Dialekt reichert sich dann in Fällen wie [vli:də] – [vlid] – [gəvlud] (‚flüten‘ – ‚flütet‘ – ‚geflutet‘ mit der Bedeutung ‚schwemmen‘) oder [laidə] – [lid] – [gəlud] (‚läuten‘ – ‚läutet‘ – ‚gelautet‘ zu ‚läuten‘) in der P.P.-Form die Irregularität insofern weiter an, als zur Stammvokalkürzung noch ein Rückumlautmuster hinzukommt (siehe dazu und mit weiteren Beispielen Harnisch 1987a: 166‒169) und sich diese Verben noch ein Stück weiter auf den Weg „von ‚schwach‘ zu ‚stark‘“ begeben (vgl. Bittner 1996: 109). Zur Kumulation von Irregularitäten siehe auch unten Kap. 4.2 und Anm. 30.
84 | Rüdiger Harnisch
(4)
Inf. – 2. Pl. Präs.
starkes Verb
schwaches Verb
dra:də – drad
treten – tretet
bro:də – brαd
braten – bratet
bi:də – bid
bieten – bietet
hi:də – hid
hüten – hütet
bra:də – brad
breiten – breitet
re:də – red
reden – redet
Die Regel *R1 reicht jedoch nicht aus, alle Fälle dieser Art von morphologischer Irregularität zu erfassen. Das zeigt der unter (5) zu sehende Umstand, dass dieselben Verben in der 2. Sg. Präs., die mit dem Suffix [-zd] ) symbolisiert wird, ebenfalls gekürzten Stammvokal aufweisen. Phonotaktisch beschrieben würde das also bedeuten, dass der Stammvokal auch gekürzt wird, wenn zwischen den Dentalplosiven noch ein [z] steht. (5)
Inf. – 2. Sg. Präs., [dzd]-Kette
dra:də – dridzd
treten – trittst
bro:də – bridzd
braten – brätst
bi:də – bidzd
bieten – bietest
hi:də – hidzd
hüten – hütest
bra:də – bradzd
breiten – breitest
re:də – redzd
reden – redest
Die unter (2) vorgeschlagene Verkettungsformel für die Beispielverben muss also um ein fakultatives [z] erweitert werden – dazu (6): (6)
Stamm
flektierte Form aus Stamm + Suffix
(a) Suffigierungsbasis bi:d …V:d
(b) zugrundeliegende Morphotaxe *bi:d-(z)d *…V:d-(z)d
(c) Stammvokalkürzung *bid(z)d *…Vd(z)d
(d) Konsonantenverschmelzung nur bei Fällen ohne [z] in [d_d] – s.o. (2.d)!
Aufgrund dieses Befundes muss also die oben vorformulierte Regel *R1 erweitert werden und erhält die Form R2: R2 Treffen ein postvokalischer stammauslautender dentaler Plosiv und ein Suffix mit ebenfalls dentalem Plosiv ohne oder mit vorausgehendem [z] zusammen ([d(z)d]), wird ein langer Stammvokal gekürzt und ggf. die Plosivgeminate vereinfacht.
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 85
Aus den bisherigen Befunden könnte man die Hypothese ableiten, dass für die Kürzung des Stammvokals nicht allein Ketten von Verschlusslauten, sondern Ketten von Obstruenten überhaupt verantwortlich sind. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, in die weitergetriebene Entdeckungsprozedur auch Verben mit Stammauslaut auf Frikativ einzubeziehen wie unter (7). Sie bestätigen diese Hypothese: (7) Inf. – 3. Sg. Präs., frik. Stammauslaut, starkes Verb
la:zə – lizd
lesen – liest
la:və – levd
laufen – läuft
li:jə – lijd
liegen – liegt
Die drei Beispiele unter (7) waren allerdings ausschließlich starke Verben. Soll die Hypothese phonotaktisch bedingter Kürzungen aber verifiziert werden, müssten auch die schwachen Verben gekürzt werden, wenn an den stammauslautenden Frikativ bei Suffigierung ein [-d] tritt. Doch der Stammvokal der schwachen Verben bleibt in dem Fall lang, wie die Fälle unter (8) zeigen: (8) Inf. – 3. Sg. Präs., frik. Stammauslaut, schwaches Verb
ni:zə – ni:zd
niesen – niest
gha:və – gha:vd
kaufen – kauft
vre:jə – vre:jd
fragen – fragt
Was für die 3. Sg. Präs. mit ihrem [-d]-Suffix gegolten hat, gilt, wie aus (9) und (10) ersichtlich wird, auch für die 2. Sg. Präs. mit ihrem [-zd]-Suffix: Kürzung bei den starken Verben unter (9), aber stabile Länge bei den schwachen unter (10): (9)
Inf. – 2. Sg. Präs., starkes Verb
la:zə – lizd
lesen – liest
(*zˆzd > zd)
(10) Inf. – 2. Sg. Präs., schwaches Verb
la:və – levzd
laufen – läufst
li:jə – lijzd
liegen – liegst
ni:zə – ni:zd
niesen – niest
(*zˆzd > zd) gha:və – gha:vzd
kaufen – kaufst
vre:jə – vre:jzd
fragen – fragst
Es kristallisiert sich also bei der Umschau im Material ein weiterer Faktor heraus, den eine Kürzungstheorie für das Südthüringische einbeziehen muss, wenn sie nicht ad hoc urteilen will. Dieser Faktor gehört nicht dem phonologischen Bereich
86 | Rüdiger Harnisch
an, sondern ist morphologisch. Es handelt sich um den Parameter der Klassenzugehörigkeit zur starken oder schwachen Konjugation. Der Vergleichstest mit dem Suffix [-d] der 2. Pl. Präs., das mit dem Suffix der 3. Sg. Präs. homophon ist, bietet sich auch hier an. Bei den schwachen Verben wird in der 2. Pl. Präs. die Vokallänge genauso bewahrt wie in der 3. Sg. Präs. So heißt es wie unter (8) [di: ni:zd] ‚sie niest‘ usw. auch [i:r ni:zd] ‚ihr niest‘ usw. – dazu (11): (11) Inf. – 2. Pl. Präs., schwaches Verb
ni:zə – ni:zd
niesen – niest
gha:və – gha:vd
kaufen – kauft
vre:jə – vre:jd
fragen – fragt
Bei den starken Verben jedoch wird in der 2. Pl. Präs. die Vokallänge zwar auch bewahrt, doch in der 3. Sg. Präs. wird der Stammvokal gekürzt. So heißt es einerseits ausweislich (7) mit Vokalkürze [di: lizd] ‚sie liest‘, anderseits [i:r la:zd] ‚ihr lest‘ – siehe (12): (12) Inf. – 2. Pl. Präs., starkes Verb
la:zə – la:zd
lesen – lest
la:və – la:vd
laufen – lauft
li:jə – li:jd
liegen – liegt
Dass in der 2. Pl. Präs. nicht gekürzt wird, kann nicht am Suffix liegen, denn es handelt sich wie bei dem der 3. Sg. Präs. um [-d]. Wie gesehen, taugt auch der KlassenUnterschied zwischen ‚stark‘ und ‚schwach‘ hier nicht zur Begründung. Also kann es in dieser Merkmalskonstellation nur am morphologischen Faktor der Kategorien ‚Person‘ und ‚Numerus‘ liegen, dass einmal die Kürzung erfolgt, nämlich bei der 2. und 3. Sg. Präs. ([du: levzd, ar levd]), das andere Mal, bei der 2. Pl. Präs., aber nicht ([i:r la:vd]). Dennoch kann nicht postuliert werden, dass der Stammvokal von starken Verben in der 2. und 3. Sg. Präs. generell gekürzt wird, denn es gibt Typen von verbalem Stammauslaut, bei denen es auch in der 2. und 3. Sg. Präs. nicht zu Vokalkürzungen kommt, wie aus (13) hervorgeht.11 (13)
Inf. – 2./3. Sg. Präs.
moələ – moəl(z)d
mahlen – mahl(s)t
grainə – grain(z)d
greinen – grein(s)t12
|| 11 In den Beispielen unter (13) sind Verben mit diphthongischem Stammvokalismus vertreten. Diphthonge sind im betreffenden System wie Langvokale zu behandeln. Auch sie werden – bei Vorliegen der entsprechenden Bedingungen – gekürzt, z.B. [boədə] – [bαd] ‚baden – badet‘ oder [baezə] – [bizd] ‚beißen – beißt‘. 12 Das südthür. Verb für ‚weinen‘.
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 87
An Merkmalen der Kategorien ‚Person‘ und/oder ‚Numerus‘ allein liegt es also offensichtlich nicht, ob gekürzt wird oder nicht. Vielmehr spielt die Art der Konsonantenkette eine Rolle: Geraten nämlich die obstruentischen Suffixe an stammauslautende Sonoranten wie Liquiden oder Nasale (oben z.B. l- bzw. n-), wird auch bei noch so kürzungsförderlichen Paradigmenpositionen der Stammvokalismus nicht gekürzt. Dies geschieht offensichtlich nur, wenn sich nach der Suffigierung eine reine Obstruentenkette ergibt. In diesem Zusammenhang ist allerdings ein weiterer Faktor zu berücksichtigen, damit eine Formulierung der Kürzungsregularitäten der Datenlage vollends gerecht wird. Diesen Faktor verrät die vergleichende Zusammenstellung unter (14).13 (14)
Inf. – 3. Sg. Präs.
…V:z-d → …Vzd
la:zə – lizd
lesen – liest
Inf. – 2. Sg. Präs.
…V:-zd → …V:zd
ge:ə – ge:zd
gehen – gehst
Eine nicht unterbrochene Kette aus Obstruenten – Bedingung für Kürzung des Stammvokals – läge ja auch schon im Suffix [-zd] der 2. Sg. Präs. alleine vor. Addiert man aber diese Lautkette an Verbalstämme mit langem Auslautvokal wie [ge:-] ‚geh‘ oder [droə-] ‚trag-‘ wird der Stammvokal nicht gekürzt: [du: ge:zd] ‚du gehst‘, [du: droəzd] ‚du trägst‘. Es spielt also durchaus eine Rolle, ob die Morphemgrenze zwischen den Obstruenten [z] und [d] liegt wie bei [ar liz-d] ‚er liest‘ (dann Kürzung), oder ob sie vor dem Suffix [-zd] liegt wie bei [du: ge:-zd] ‚du gehst‘ (dann erhaltene Länge). Unter einer weiteren Sonderbedingung unterbleibt im betreffenden Dialekt eine Kürzung, obwohl in der zugrundeliegenden Form kürzungsbedingende Faktoren vorlägen, z.B. beim Verb [raibə] ‚reiben‘. Wenn an dessen Stamm [raib-] ein [-d]oder [-zd]-Suffix angefügt wird, müsste den bisherigen Regularitäten nach eine Obstruentenkette aus dem konsonantischen Stammauslaut [b-] und dem Suffix [-(z)d] entstehen, die kürzungsverdächtig ist: *[ar rebd], *[du: rebzd] ‚er reibt‘, ‚du reibst‘.14 Dass dies aber im Südthür. nicht der Fall ist, belegen die Fälle unter (15): (15)
Inf. – 2./3. Sg. Präs.,
raibə – raibə(z)d
reiben – reib(s)t
[…V:b-]-Stamm
groəbə – gre:bə(z)d
graben – gräb(s)t
gloəbə – gloəbə(z)d
glauben – glaub(s)t
we:bə – we:bə(z)d
weben – web(s)t
|| 13 Man beachte die Schattierung der Morphemgrenzposition zwischen Stammauslaut und Suffix, die einmal innerhalb des [zd]-Syntagmas liegt, das andere Mal vor ihm. 14 So z.B. im südlich benachbarten Ostfränkischen des Frankenwalds.
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Wenn eine zugrundeliegende Obstruentenkette an der Realisierungsoberfläche durch Vokale unterbrochen ist, wird also keine Kürzung des Stammvokalismus bewirkt. Eine phonotaktische Regel fordert im betreffenden Dialekt ein epenthetisches Schwa nach einer Kette aus Langvokal und [b], wenn ein weiterer Obstruent folgt. Die [ə]-Epenthese verhindert dann eine durchgehende Obstruentenkette, so dass bei diesen Verben keine Kürzung stattfindet, auch wenn sie in der 2. oder 3. Sg. Präs. stehen und starke Verben sind. Die Kürzungstheorie muss also auch offen dafür sein, dass morphologische Regeln erst die Ergebnisse von oberflächenphonotaktischen Regeln abwarten, bevor sie wirken.15 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jede Erweiterung des Datensatzes neue Bausteine für eine beobachtungs- und beschreibungsadäquate Darstellung der Kürzungsvorgänge geliefert hat. Auf allen Stufen der noch nicht vollständigen Datenerfassung hätte jede ungeprüfte Evidenz zu falschen, ad hoc aufgestellten ‚Erklärungen‘ oder ‚Regel‘-Formulierungen geführt. Es wäre nicht klar geworden, dass man es bei diesem Phänomen mit zwei wesentlichen Bedingungskomplexen zu tun hat: – mit einem rein phonologischen Komplex, wie er für die Verben mit Stammauslaut auf dentalen Plosiv (unter R2) als Regel formuliert worden ist; – und einem komplizierten morpho-phonologischen Faktorengeflecht für die Verben auf stammauslautenden Frikativ, wo dann und nur dann gekürzt wird, wenn alle im einzelnen besprochenen Bedingungen gleichzeitig vorliegen: 1. Es muss sich um ein starkes Verb handeln. 2. Dieses starke Verb muss in der 2./3. Sg. Präs. stehen. 3. Bei der Suffigierung muss eine reine Obstruentenkette gebildet werden, die eine Morphemgrenze umschließt.
3 Varietätenvergleiche unter dem Aspekt von Irregularitäts-Toleranzen und deren funktionalen Hintergründen – am Beispiel der Dentalplosivverschmelzung 3.1 Dialekt/Hochdeutsch – kontrastiv Die Verhältnisse in der Standardsprache konnten aus den hd. Interpretamenten zu den dialektalen Beispielen in implizit kontrastiver Weise immer gleich mitersehen || 15 Dazu Plank (1985) und Harnisch (1987a) in Kap. 9 („Morphologie nach Phonologie: Kompensatorische Symbolisierung“).
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werden. Unter allen Fällen hat es dort nur einen mit Vokalkürzung gegeben: hd. treten – trittst – tritt. Die Verschmelzung der Dentalplosive von Stammauslaut und tSuffix war in der obigen Darstellung nur durch zwei Fälle repräsentiert: wiederum durch die 3. Sg. Präs. von tritt, dazu noch durch den Typ der 3. Sg. Präs. brät, der stellvertretend für eine ganze Gruppe von starken Verben mit Stammvokalwechsel in der 3. Sg. Präs. und Stammauslaut auf Dentalplosiv steht. Dagegen hieß es im Hochdeutschen unter anderem nicht sie *hüt, sondern sie hütet, nicht ihr *tret, *brat, *biet und *hüt, sondern ihr tretet, bratet, bietet und hütet mit einem [ə], das die beiden Dentalplosive sozusagen auf Abstand hält und dadurch die morphotaktische Transparenz sichert. Nachdem in Kapitel 2 nur langvokalische Stämme untersucht wurden, soll in diesem Kapitel zusätzlich geprüft werden, wie es sich mit der Verschmelzung von Dentalplosiven verhält, wenn schon die Basisformen kurzvokalisch sind. Im dialektalen System der Verben mit langvokalischer Basisform war es immerhin so, dass der Suffixverlust, der mit einer Verschmelzung zwangsläufig verbunden ist, mit dem modulatorischen Marker der Vokalkürzung gewissermaßen kompensiert werden konnte. Dabei war die Vokalkürzung manchmal der einzige Marker ([i:j hi:d] – [ar hid] ‚ich hüte‘ – ‚er hütet‘), manchmal war sie nur Nebenmarker, weil der Stammvokal auch qualitativ alternierte ([i:j bro:d] – [ar brid] ‚ich brate‘ – ‚er brät‘). Womöglich, so könnte man unter funktionellem Aspekt spekulieren, wird aber die Dentalplosiv-Verschmelzung und damit der Suffixverlust nicht zugelassen, wenn eine kompensatorische Vokalkürzung gar nicht möglich ist, weil der Stammvokal der Basisform bereits kurz ist. Auch diese Frage kann wieder nur durch eine im System umsichtig durchgeführte Testprozedur geklärt werden, die auf bereits zum Teil in Kapitel 2 herausgearbeitete maßgebliche morphologische und lautliche (phonologisch-phonotaktische) Faktoren zurückgreift: – den Klassen-Unterschied zwischen starken und schwachen Verben – 3. Sg. und 2. Pl. Präs. – einerseits als morphologische Kategorien – anderseits als Kategorien mit der Ausdrucksseite eines [-d]-Suffixes, bei den schwachen Verben dazu genommen das Präterital-Partizip mit ebendiesem homophonen [-d]-Suffix, damit morphologische Sonderbedingungen ausgeschlossen werden können, – Fälle, die keinen qualitativen Vokalwechsel im Paradigma (Umlaut o.ä.) aufweisen und damit kein Mittel zur Kompensation eines eventuellen Suffixverlustes besitzen. Aus (16) geht hervor, dass in der dialektalen Varietät bei der Suffixaddition die Konsonantenverschmelzung ausnahmslos und ohne Rücksicht auf Tranparenzverluste greift. Dagegen sorgt in der Standardsprache die [ə]-Epenthese für eine Wahrung des Abstands der Dentalplosive von Stammauslaut und [-d]-Suffix und bewahrt das
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morphologische Syntagma damit vor einem Verlust der morphotaktischen Transparenz. (16)
starkes Verb 1. Sg. Präs. (ich …) 3. Sg. Präs. (er …) 2. Pl. Präs. (ihr …)
bind bind bind
binde bindet bindet
schwaches Verb 1. Sg. Präs. (ich …) 3. Sg. Präs. (er …) 2. Pl. Präs. (ihr …) P.P.
wed wed wed gəwed
wette wettet wettet gewettet
Dagegen nimmt die hd. Varietät die Verschmelzung der Dentalplosive und damit den Transparenzverlust ähnlich der südthür. Varietät dann hin, wenn der kurze Stammvokal, wie das bei starken Verben der Fall sein kann, eine qualitative Alternation aufweist, die diesen Verlust an morphotaktischer Durchsichtigkeit kompensieren kann. Der qualitative Vokalwechsel von hd. e zu i bzw. von a zu ä übernimmt, mit anderen Worten, die flexivische Kennzeichnung, nachdem das t-Suffix durch seine Verschmelzung mit dem homophonen Stammauslaut verlorengegangen ist. Das geht aus (17) hervor: (17)
1. Sg. Präs. (ich …)
vlaχd
flechte
3. Sg. Präs. (er …)
vlijd
flicht (< flicht’t) statt *flichtet
1. Sg. Präs. (ich …)
hαld
halte
3. Sg. Präs. (sie …)
held
hält (< hält’t) statt *hältet
In der Form der 2. Pl. Präs. wird in der Standardsprache hingegen ein Suffixverlust und damit eine Form wie ihr *flecht nicht toleriert: Diese Form hat keinen mit der Basisform alternierenden Stammvokal, der den Suffixverlust kompensieren könnte, und lautet konsequenterweise ihr flechtet. Im schmalen Bereich der Fälle mit qualitativem (Kurz!-)Vokalwechsel gehen Standard und Dialekt also einmal völlig konform. Das ist nicht ganz der Fall dort, wo ein qualitativer Vokalwechsel von langvokalischen Basisformen ausgeht. Hier weist das dialektale System sowohl Verschmelzung der Auslautkonsonanten als auch Vokalkürzung auf, während die Standardsprache zwar auch die Verschmelzung der Auslautkonsonanten duldet, es aber nicht zu einer Vokalkürzung kommen lässt – siehe (18):
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 91
(18)
1. Sg. Präs. (ich …)
bro:d
brate
3. Sg. Präs. (er …)
brid
brät (< brät’t)
1. Sg. Präs. (ich …)
loəd
lade
3. Sg. Präs. (sie …)
led
lädt (< läd’t)
Bietet das System der starken Verben jedoch keine Vokalalternation an, die den Suffixverlust infolge der Konsonantenverschmelzung ausgleichen würde, dann wird im Standarddeutschen anders als im südthür. Dialekt auch die Konsonantenverschmelzung nicht toleriert, sondern durch epenthetisches [ə] verhindert – dazu (19): (19)
1. Sg. Präs. (ich …)
bi:d
biete
3. Sg. Präs. (er …)
bid
bietet
1. Sg. Präs. (ich …)
zi:d
siede
3. Sg. Präs. (sie …)
zid
siedet
Abschließend zu diesem Punkt sei die Hypothese aufgestellt, dass homophone dentale Plosive (wie alle zugrundeliegenden Geminaten) in den untersuchten Varietäten generell zur Verschmelzung tendieren, selbst im Standarddeutschen (siehe tritt, brät usw.). Doch setzen Substandard und Standard dieser generellen Tendenz unterschiedliche varietätenspezifische Grenzen: Im Südthüringischen ist die Verschmelzung des dentalplosiven Suffixes [-d] mit dem Auslaut-[d-] des Stamms ohne Rücksicht auf Transparenzverluste unaufhaltsam. Im Standarddeutschen dagegen wird diese Verschmelzung nur toleriert, wenn der dadurch entstehende Transparenzverlust durch qualitative Modulation des Stammvokals kompensiert wird. Ansonsten wird die Verschmelzung durch [ə]-Epenthese verhindert und damit die morphotaktische Durchsichtigkeit gewahrt.16 Aus (20) ist insofern ein komplementäres Verhalten zu ersehen, als im Standard keine unkompensierte Verschmelzung geduldet wird17 (im Substandard aber schon) und es im Substandard keinen Fall gibt, bei dem Verschmelzung nicht aufgehalten wird (im Standard – durch [ə]-Epenthese – aber schon). Im Standard kommt eine
|| 16 Zu varietätenspezifischen Unterschieden in den Irregularitätstoleranzen ausführlicher Harnisch (1998). 17 Nur der Fall beredt, gekennzeichnet durch Dentalverschmelzung trotz fehlendem Vokalwechsel (der hier durch Kürzung des Stammvokals nur quantitativer Art sein könnte), fällt im Standard aus dem Rahmen. Doch gehört der Fall nicht mehr der eigentlichen Verbalflexion an, sondern ist als adjektivierte Partizipialbildung nominal.
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rein quantitativ verfahrende Kompensation durch Kürzung nicht vor. Im Substandard wird gekürzt, wenn immer das möglich ist.18 (20) keine Kompensation der Verschmelzung Kompensation der Verschmelzung
Südthüringisch
Standarddeutsch
wed
—
qualitative Modulation
held
quantitative Modulation
zid
keine Verschmelzung
led drid
—
hält lädt
tritt
— wettet siedet
3.2 Unterschiedliche Dialekte – kontrastiv Auf Substandard-Ebene ist bis hierher nur eine Varietät herausgenommen und ihre Irregularitätstoleranz mit der Standardvarietät verglichen worden. Es wäre natürlich ebenso interessant, neben diesem vertikalen/diastratischen Vergleich zu untersuchen, wie sich andere Dialekte verhalten und was ein solcher horizontaler/diatopischer Vergleich für eine Typologie leisten könnte, die vergleichend nach den Anteilen phonologischer und morphologischer Bedingungen flexionsmorphologischer Irregularität in unterschiedlichen Sprachlandschaften fragt und den Unterschieden nachgeht, die einzelne Sprachlandschaften in ihren jeweiligen Irregularitätstoleranzen aufweisen. Zuerst müsste hierfür eine Bestandsaufnahme der phonotaktischen/prosodischen Möglichkeiten gemacht werden, auf deren Basis die einzelnen Dialekte dann mit dem Problem der drohenden Verschmelzung umgehen und gegebenenfalls Strategien zur Kompensation des Transparenzverlusts entwickeln müssen, die, wie gesehen, dann durchaus gegen das Gebot der Stamm-Uniformität verstoßen dürfen: Die kompensatorische Kürzung von [zi:d-d] ‚siedet‘ zu [zid] stellt ja in Form der Kürzung einen Flexionsmarker bereit, doch wird das mit einer Stamm-Allomorphie von Basisform und flektierter Form ([zi:d] vs. [zid]) erkauft. Im hier ausgewählten Fall des Südthüringischen hat man es mit einem Dialekt zu tun, der keine oberflächenphonologische Gemination und keinen Lenis-FortisUnterschied kennt, sondern nur mit unterschiedlichen Vokalquantitäten arbeiten kann. Das ermöglicht paradigmatische Alternationen wie die zwischen einer Basis
|| 18 Für folgende Darstellung wurden als prototypische Beispiele die Verben ‚wetten‘, ‚halten‘, ‚laden‘, ‚treten‘ und ‚sieden‘ in der 3. Sg. Präs. gewählt.
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 93
[re:d-] und der 3. Sg. Präs. [red] zum Verb ‚reden‘, jedoch keine zwischen der schon kurzvokalischen Basis [wed-] des Verbs ‚wetten‘ und der 3. Sg. Präs., die auch [wed] lautet. In den ostfränkischen Dialekten verhält es sich ebenso. Im Bairischen dagegen gibt es Lenis-Fortis-Unterschiede, die mit Vokalquantitäten fest korreliert sind.19 Dort wechseln – mit phonetisch redundanter Kennzeichnung durch abweichende Vokalquantität und Konsonantenstärke – im Paradigma Basen wie [re:d-] und die 3. Sg. Präs. [ret]. Doch bei einer Basis, die schon kurzvokalisch ist und auf Fortiskonsonanz ausgeht, unterscheiden sich Basis und 3. Sg. Präs. – beide [wet] – genauso wenig wie im Südthüringischen oder Ostfränkischen. Bezieht man – in einem weiten sprachgeographischen Sprung – etwa niederdeutsche und niederländische Dialekte mit ein, trifft man alle möglichen Kombinationen von Lenes/Fortes und Lang-/Kurzvokalen an, so dass langvokalische Basen mit Leniskonsonant ([bi:d] zu ‚bieten‘), kurzvokalische Basen mit Leniskonsonant ([dyd] zu ‚deuten‘), langvokalische Basen mit Fortiskonsonant ([xi:t] zu ‚gießen‘) und kurzvokalische Basen mit Fortiskonsonant ([slyt] zu ‚schließen‘) im Paradigma immer mit Formen der 3. Sg. Präs. alternieren, die eine Verkettungsstruktur Kurzvokal-Fortis aufweisen: [bœt], [dœt], [xœt] und [slœt].20 Eine Kreuzklassifikation der Kombinationsmöglichkeiten von Vokalquantitäten und Konsonantenstärken sähe für den Anfang einer Typologie in diesem Phänomenbereich dann wie unter Abb. 1 aus.21
|| 19 Hinderling (1980) mit einer ausführlichen Diskussion der Forschungslage und weiterer Literatur. In Auseinandersetzung damit Harnisch (1995). 20 Exemplarisch wurde hier das von Bloemhoff (1991) gut beschriebene Stellingwerfs (im Folgenden ‚Stwf.‘ abgekürzt) mit seinem Reichtum an Alternationsvarianten herangezogen. 21 Linke Spalte: Stammvokal/Stammauslaut-Phonotaxe der zugrundeliegenden Form. Obere Zeile: Stammvokal/Stammauslaut-Phonotaxe der flektierten Form 3. Sg. Präs. Die Oppositionspaare werden in dieser Reihenfolge (Stamm – Flexionsform) in die Felder eingetragen. Bei Berücksichtigung weiterer Varietäten ist die Füllung hier leer gebliebener Felder denkbar. Zu bedenken ist jedoch, dass sich bei dem hier untersuchten phonotaktisch-prosodischen Typ mit Quantitätsausgleich in der Silbe die suffigierten Formen zwangsläufig in den Spalten mit Kurzvokal [V] sammeln, bei entsprechend sprachspezifischem Typ ferner in der Spalte mit [V] und konsonantischer Fortis [F].
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3.Sg. Stamm
V:L
VL
V:L
thür./frk. [re:d]–[red]
VL
thür./frk. [wed]–[wed]
V:F
VF
V:F
VF stwf. [bi:d]–[bœt] bair. [re:d]–[ret] stwf. [dyd]–[dœt]
stwf. [xi:t]–[xœt] stwf. [slyt]–[slœt] bair. [wet]–[wet]
V: = Langvokal; V = Kurzvokal; L = Leniskonsonant; F = Fortiskonsonant Abb. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Vokalquantitäten und Konsonantenstärken
Alle regionalen Typen tolerieren also, dass in der Zielform ‚3. Sg.‘ der Dentalplosiv des Stammauslauts und der des Suffixkonsonanten total verschmelzen und dadurch die Transparenz des zugrundeliegenden morphologischen Konstrukts aus Stamm und Endung verlorengeht. Auch tolerieren sie immer die mit der zugrundeliegenden Konsonantenhäufung verbundene Kürzung des Stammvokals. Wenn es sich allerdings um eine Kürzung zugrundeliegender Länge handelt, gibt das ein Signal für die Alternation im Paradigma; wenn der Stammvokal jedoch schon kurz war, kann kein Signal für die Alternation im Paradigma gegeben werden, doch wird auch das notfalls toleriert (thür./frk. [wed]–[wed], bair. [wet]–[wet]). Beim bairischen und stellingwerfischen Typ ist mit der zugrundeliegenden Konsonantendopplung an der Grenze von Stammauslaut und Suffix unabhängig von der konsonantischen Ausgangsstärke immer auch eine Fortisierung der Konsonanz verbunden. Hier gilt Ähnliches wie bei dem zur Vokalquantität Gesagten: Wenn die Fortis ein Fortisierungsprodukt zugrundeliegender Leniskonsonanz ist, stellt das immerhin ein Signal für die Alternation im Paradigma dar; wenn der Stammauslaut jedoch schon fortis war, wird vom Wechsel der Konsonantenstärke her kein Signal für die Alternation im Paradigma gegeben (stwf. [xi:t]–[xœt] bzw. [slyt]–[slœt], bair. wiederum [wet]– [wet]). Nur muss im Stellingwerfischen die Toleranz der Morphologie gegenüber
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 95
phonologischen Störungen nie so weit gehen, dass Ausgangs- und Alternationsform völlig zusammenfallen. Die hier exemplifizierte ‚3. Pers. Sg. Präs.‘ weist auch nach globaler Konsonantenverschmelzung, globaler vokalischer Ziel-Kürze und globaler konsonantischer Ziel-Fortis immer noch unterschiedliche Vokal-Qualität auf. Sie ist das einzig übrigbleibende Signal der flexivischen Alternation bei [slyt]–[slœt], während [xi:t]–[xœt] auch noch Kürzung, [dyd]–[dœt] auch noch Fortisierung und [bi:d]–[bœt] sogar beides, Kürzung und Fortisierung, zusätzlich an Mitteln zur Kennzeichnung flexionsmorphologischer Kategorien hat.
4 Zusammenfassung 4.1 Zur Entdeckungsprozedur Eingangs war von einem algorithmusartigen Vorgehen die Rede, mit dem man das komplexe Bedingungsgeflecht von lautlichen und morphologischen Faktoren entwirren muss. Einstieg in diese Testkaskade ist immer die Beobachtung einer im Paradigma vorkommenden Irregularität im oben eingegrenzten Sinne (Form mit Uniformitäts- und/oder Transparenzverlust). In einem weiteren Schritt ist dann eine im Sinne der Natürlichen Generativen Phonologie abstrakte, aber gleichzeitig durch die ‚Alternationsbedingung‘ in ihrer Abstraktheit begrenzte, zugrundeliegende Form zu rekonstruieren (dazu im Einzelnen Harnisch 1987b) und der Satz von lautlichen Merkmalen zu gewinnen, die von der Irregularisierung betroffen sind oder sie (mit)verursachen. Im Beispielfall sind dies die Quantität des Stammvokals, die Art des Stammauslauts und die Lautsubstanz des addierten und mit dem Stammauslaut in direkten syntagmatischen Kontakt tretenden Markers (Suffixes). Ist die explanative Potenz lautlicher Ursachen für die Irregularisierung erschöpft, ist bei den morphologischen Merkmalen der betreffenden Form weiterzusuchen. Dies sind im exemplarischen Fall Positionen im Person-Numerus-Paradigma und Zugehörigkeiten der Verben zu Flexionsklassen (hier zur ‚starken‘ vs. ‚schwachen‘ Konjugation). Nachdem diese Merkmale bestimmt sind, wird Merkmal für Merkmal geprüft, wie sich der Austausch eines Merkmals durch ein dazu in Opposition stehendes auf die Realisierung der jeweiligen Formen auswirkt. Dies wird sukzessive für alle ‚in Verdacht‘ stehende Merkmale durchgeprüft, gegebenenfalls – durch Rückkehr zu einem anderweitig schon getesteten Merkmal – auch mehrmals. Ein Vergleich von zugrundeliegender und realisierter Form einerseits, dieser Formen mit der jeweils gegebenen Merkmalskonstellation anderseits, gibt schließlich Auskunft über die Wirksamkeit/Unwirksamkeit bestimmter lautlicher und/oder morphologischer Faktoren in Hinsicht auf die Irregularisierung. In Retrospektive der in den Kapiteln 2 und 3 durchgeführten Testprozeduren wird nachfolgend in Tab. 1 noch einmal in komprimierter Form gezeigt, wie eine
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Prüfungsstufe im Zuge der Ersetzung des einen Merkmals durch ein oppositionelles anderes die nächste Stufe speist und welche Rückschlüsse sich aus dem Vergleich der realisierten Formen mit den bei ihnen vorliegenden Merkmalen auf die Bedingungen der Irregularität ergeben. Dabei sind die Merkmale der zuerst in den Blick genommenen irregulären Form sowie die jeweils getesteten, dazu in Opposition stehenden Merkmale schattiert dargestellt. Strukturgleiche Merkmale und Verbformen sind jeweils in einer Zelle vereint abgebildet (z.B. [bidzd] und [hidzd] nach (5) mit den Gemeinsamkeiten [V], [d-] und [-zd]), strukturverschiedene in geteilten Zellen (z.B. [lijd] und [vre:jd] nach (7) und (8) zwar mit dem gemeinsamen Stammauslautfrikativ [j-] und dem gemeinsamen Suffix [-d], aber mit dem Stammvokalunterschied [V] vs. [V:]). Tab. 1: Zusammenfassung der Testprozeduren Test Nr.
zugrundeliegende Form
lautliche Merkmale
morphologische Merkmale
realisierte Form
nach (1)
bi:d-d
V: d-
-d
3. Sg.
starkes Verb
bid
nach (3)
hi:d-d
V: d-
-d
3. Sg.
schwaches Verb
hid
nach (4)
bi:d-d hi:d-d
V: d-
-d
2. Pl.
starkes Verb
bid hid
bi:d-zd hi:d-zd
V: d-
-zd
2. Sg.
li:j-d vre:j-d
V: frik- -d
3. Sg.
li:j-zd vre:j-zd
V: frik- -zd
2. Sg.
nach (12)
vre:j-d li:j-d
V: frik- -d
2. Pl.
nach (13)
grain-(z)d
V: son- -(z)d
(2.) 3. Sg. starkes Verb
grain(z)d
nach (14)
la:z-d
lizd
nach (5)
nach (7) nach (8) nach (9) nach (10) nach (11)
ge:-zd
V:
schwaches Verb starkes Verb schwaches Verb
bidzd hidzd
starkes Verb
lijd
schwaches Verb
vre:jd
starkes Verb
lijzd
schwaches Verb
vre:jzd
schwaches Verb
vre:jd li:jd
starkes Verb
z-
-d
3. Sg.
starkes Verb
–
-zd
2. Sg.
ge:zd raibə(z)d
nach (15)
raib-(z)d
V: b- [ə] -(z)d
(2.) 3. Sg. starkes Verb
nach (16)
bind-d wed-d
V
3. Sg. / 2. Pl.
d-
-d
starkes Verb schwaches Verb
bind wed
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 97
Dass die Kürzung und Suffixanschmelzung bei [bi:d-d] > [bid] nicht nur starke Verben, sondern auch schwache erfasst, was für eine lautliche Bedingtheit spricht, geht aus (3) hervor; dass es nicht an der Paradigmenposition 3. Sg. liegt, sondern auch in der 2. Pl. mit homophonem Suffix gekürzt und verschmolzen wird, aus (4); dass diese Prozesse nicht nur bei zugrundeliegender Plosiv-*Geminate in Gang kommen, sondern auch mit dazwischen stehendem [z], aus (5); dass die MuschelschalenBedingung [d-(X)-d] aber gegeben sein muss, um Kürzung zu bewirken, zeigt der Umstand, dass (neben dem gekürzten [lijd] in (7)) das quantitätsstabile [vre:jd] in (8) vorkommt. Damit und mit (9) und (10) wird gleichzeitig erwiesen, dass KlassenUnterschiede berücksichtigt werden müssen, mit (11) und (12) dann aber auch, dass es für eine Kürzung zusätzlich auf die Paradigmenpositionen der 2. und 3. Sg. ankommt, während in der 2. Pl. mit dem Suffix [-d], das mit dem der 3. Pers. homophon ist, keine Kürzung erfolgt. Nach (13) bis (15) erweisen sich Stammauslaute auf sonorante Konsonanz, auf Vokal und durch Schwa-Epenthese unterbrochene Obstruentenketten als kürzungsresistent. Mit (16) schließlich ist die Unvermeidlichkeit der Geminatenvereinfachung nachgewiesen, auch wenn der Verlust an additiven Markern nicht durch modulatorische (qualitative oder wie im vorliegenden Fall quantitative) Marker kompensiert werden kann.
4.2 Zum Radius der Umsicht im Gesamtsystem Die Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass man bei der Formulierung von Regularitäten über die lautlichen Bedingungen und die morphologischen Faktoren flexionsmorphologischer Irregularitätsphänomene keine kurzschlüssigen, ad hoc getroffenen Festlegungen treffen sollte. Zur adäquaten Erfassung phonotaktisch motivierter Phänomene einer Varietät muss deren gesamtes phonologisches Regelwerk in die Betrachtung einbezogen werden, damit zum Beispiel nicht vorschnell von einer Kürzung wie bei [gi:zə – gizd] ‚gießen – gießt‘ auf eine generelle phonotaktische Regel geschlossen wird, denn für diese Kürzung sind morphologische Bedingungen mitverantwortlich. Bei diesen morphologischen Bedingungen wiederum muss das gesamte Paradigma und müssen die spezifischen Paradigmenstrukturbedingungen ins Auge gefasst werden. Das sind im vorliegenden exemplarischen Fall morphologische Sonderbedingungen eines ‚klassen‘-spezifischen Verhaltens (stark/ schwach, Klassen mit/ohne Vokal-Alternation), des flexivischen Verhaltens von Formen auf bestimmten Paradigmenpositionen (z.B. 3. Sg. / 2. Pl. Präs.) oder der vorgeführten Morphemgrenz-Sensitivität, nach der z.B. [ge:-zd] ‚(sie) geht‘ auf Basis des Stamms [ge:] ungekürzt bleibt, [liz-d] ‚(er) liest‘ auf Basis des Stamms [la:z] aber gekürzt wird (siehe oben (14)).
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Schließlich sind eventuelle funktionelle Hintergründe zu bedenken. So wäre z.B. zu fragen, ob ein Suffixverlust durch ein Kürzungs-Signal auf jeden Fall kompensiert werden kann wie in diesem Fall in der Substandard-Varietät ([zi:d] – [zid] ‚sied-‚ – ‚siedet‘), oder ob ein solcher Suffixverlust nur toleriert wird, wenn gleichzeitig ein qualitativer Vokalwechsel vorliegt wie in der Standard-Varietät (halt- – hält). Auch ein Unterschied wie der folgende fällt dann auf: ob nämlich ein totaler Transparenz- und damit Funktionsverlust, der durch die Suffix-Anschmelzung verursacht wurde, toleriert wird, auch wenn kein Kompensat in Form einer Stammvokalalternation zur Verfügung steht (so hier der Substandard mit Fällen wie [wed] – [wed] ‚wett-‘ – ‚wettet‘) oder ein solcher Totalverlust nie toleriert, sondern immer, hier durch verschmelzungsverhindernde [ə]-Epenthese, abgewendet wird (so der Standard mit dem Verfahren, aus der zugrundeliegenden Morphotaxe *wett-t ein wett-et zu bilden, in dem das Schwa als ‚Abstandshalter‘ und damit Transparenzbewahrer fungiert). Erst nach solchen Umschauen im betreffenden lautlichen und morphologischen Gesamtsystem kann beurteilt werden, welche Möglichkeiten die phonotaktischen Zwänge (die im Prinzip die Morphologie immer stören) womöglichen morphologischen Kompensationsprozessen (die die morphosemantischen Funktionen sichern und Störungen aus der Phonologie abfedern können) überhaupt noch lassen.
4.3 Zur Skalierung von Irregularität Aus der Perspektive des hier behandelten Gegenstandsbereichs lassen sich im Wesentlichen drei Stufen von Irregularitätsgraden erkennen. Zunächst ist natürlich auch hier das Faktum sichtbar geworden, dass die lautlichen Prozesse morphologischen Präferenzen zuwiderlaufen und Störungen einer ‚regulären‘ Morphologie verursachen. Das reicht bis hin zur Zerstörung von konstruktionellem Ikonismus und Transparenz22 in der Flexion. Bei Formen wie [ar]/[i:r] [wed] ‚er/ihr wettet‘ unter (16) ist gegenüber dem Stamm [wed] kein additiver Marker mehr wahrnehmbar. Von anderer Qualität sind Fälle von Irregularität, bei denen aus der lautlichen Not gleichsam eine morphologische Tugend gemacht wird. Wenn eine Suffixverschmelzung (und damit ein Transparenzverlust) ebenso unausweichlich ist wie ein Quantitätsausgleich in der Silbe (und damit ein Uniformitätsverlust), kann das Produkt der lautlichen Störung (die Vokalkürzung) doch zum morphologischen Marker (modulatorischer Art) avancieren und damit die Alternation im Paradigma retten: [i:j hi:d] – [ar hid] ‚ich hüte‘ – ‚er hütet‘, [i:j dra:d] – [i:r drad] ‚ich trete‘ – ‚ihr tretet‘ usw.; vgl. dazu oben (3) bzw. (4). || 22 ‚Schemata‘ dagegen bleiben womöglich erhalten. Zum ‚Schema‘-Konzept grundlegend Köpcke (1993).
Phonologische und morphologische Bedingtheit flexivischer Irregularität | 99
Schließlich ist noch das Phänomen zu erwähnen, dass sich Irregularitäten gerne dazugesellen, wo schon andere Irregularitäten sind. Wenn es einmal „systemangemessen“23 ist, die 2. und 3. Sg. Präs. der starken Verben ausdrucksseitig vom Rest des Paradigmas durch Stammvokalalternation abzusetzen, dann kann Irregularität an der betreffenden Position der flektierten Form kumuliert werden. So bleibt es etwa im südthür. Dialekt dann, wenn die Kürzung – lokal ursprünglich lautlich bedingt – einmal als probater Marker reanalysiert ist, nicht bei einem qualitativen Vokalwechsel ([lAv] – [lEvd]),24 sondern ein quantitativer Vokalwechsel kommt hinzu ([lV:v] – [lVvd])25, so dass sich schließlich die flektierte Form [levd] ‚läuft‘ durch Umlaut und Kürzung von der Basisform [la:v-] ‚lauf-‘ abhebt – vgl. (7). So missachten die Sprecher – in der einen Varietät weniger, in der andern stärker – in ihrem lautlichen Natürlichkeitsstreben nach artikulatorischer Vereinfachung (Konsonantenverschmelzung, intrasyllabischem Quantitätsausgleich etc.)26 also nicht nur ihre Bedürfnisse nach einer – universellen – natürlichen (uniformen, transparenten) Morphologie,27 sondern achten in ihrer morphologischen Kodierungstätigkeit auch nicht auf einen sparsamen Umgang mit „irregulären“ flexivischen Markern,28 so dass es – einzelsprachbezogen und insofern durchaus ‚systemangemessen‘ – zu Redundanzen der ausdrucksseitigen Symbolisierung (z.B. Umlaut plus Stammvokalkürzung) kommt.
Literatur Bittner, Andreas (1996): Starke ‚schwache‘ Verben – schwache ‚starke‘ Verben. Deutsche Verbflexion und Natürlichkeit. Tübingen: Stauffenburg. Bloemhoff, Hendrik (1991): Fonologie en morfologie van het Stellingwerfs. Een toetsing van de natuurlijke generatieve fonologie. Groningen: Sasland. Gaeta, Livio (in d. Band): Irregularität und Systemangemessenheit.
|| 23 Zu diesem Konzept und zur Unterscheidung von universeller Natürlichkeit, wie sie v.a. Mayerthaler (1981) behandelt, und einzelsprachlicher Normalität siehe Wurzel (1984: Kap. 2.2 und 3). Für die Entscheidung über die (Ir-)Regularität von Strukturen einer Sprache ist wohl deren systemspezifische (Ab-)Normalität entscheidend und nicht die universelle (Un-)Markiertheit. 24 [A] und [E] seien die quantitätsneutralen Schreibweisen für die betreffenden Vokalqualitäten. 25 [V:] und [V] seien die qualitätsneutralen Schreibweisen für die betreffenden Vokalquantitäten. 26 Dass artikulatorische Natürlichkeit nicht einfach universell und generell einzelsprachunabhängig ist, sondern dass auch in der Phonologie zwischen universeller Natürlichkeit und phonologischer Systemangemessenheit (einzelsprachspezifischer lautsystemischer Normalität, wenn man es im Sinne von Wurzel 1984 ausdrücken will) unterschieden werden muss, hat Hurch (1988) betont. 27 Die oben formulierten Regeln *R1 und R2 legen davon Zeugnis ab. 28 Im Sinne des Beitrags von Gaeta (in d. Band) liegen Quellen der Irregularisierung also nicht nur in der Phonologie, die die Morphologie stört, sondern auch in der Morphologie selbst, die irreguläre Kennzeichnungsverfahren anhäuft.
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Harnisch, Rüdiger (1987a): Natürliche generative Morphologie und Phonologie des Dialekts von Ludwigsstadt. Die Erprobung eines Grammatikmodells an einem einzelsprachlichen Gesamtsystem. Tübingen: Niemeyer. Harnisch, Rüdiger (1987b): Wie konkret ist abstrakt? Zur Rechtfertigung und Begrenzung von Abstraktheit in der Phonologie. In: Abraham, Werner und Ritva Ǻrhammar (Hrsg.): Linguistik in Deutschland. Akten des 21. Linguistischen Kolloquiums, Groningen 1986. Tübingen: Niemeyer, 185‒196. Harnisch, Rüdiger (1995): Lenis und Fortis im Bairischen – naturaliter. In: Harnisch, Rüdiger, Ludwig M. Eichinger und Anthony R. Rowley (Hrsg.): „… im Gefüge der Sprachen“. Studien zu System und Soziologie der Dialekte. Stuttgart: Steiner, 69‒93. Harnisch, Rüdiger (1998): Zum Zusammenspiel von Auslautkonsonanz und Stammvokalismus beim Verb. Südthüringisch/Hochdeutsch kontrastiv. In: Butt, Matthias und Nanna Fuhrhop (Hrsg.): Variabilität und Stabilität in der Wortstruktur. Untersuchungen zu Entwicklung, Erwerb und Varietäten des Deutschen und anderer Sprachen. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 61‒76. Harnisch, Rüdiger (2004): [The social implications of levels of linguistic analysis:] Morphologie/Morphology. In: Ammon, Ulrich et al. (Hrsg.): Sociolinguistics / Soziolinguistik. An international handbook of the science of language and society / Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Aufl., 1. Teilband. Berlin/New York: De Gruyter, 522‒530. Hinderling, Robert (1980): Lenis und Fortis im Bairischen. Versuch einer morphophonemischen Interpretation. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 47, 25‒51. Hurch, Bernhard (1988): Phonetics and phonology or phonology and phonetics. In: ZPSK 41, 346‒352. Köpcke, Klaus-Michael (1993): Schemata bei der Pluralbildung im Deutschen. Versuch einer kognitiven Morphologie. Tübingen: Narr. Mayerthaler, Willi (1981): Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden: Athenaion. Nowak, Jessica (in d. Band): Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben im Deutschen. Nübling, Damaris (in d. Band): Flexionsklassen als morphologischer Ballast? Zur numerusprofilierenden Funktion von Deklinationsklasse und Genus im Deutschen. Plank, Frans (1985): On the reapplication of morphological rules after phonological rules and other resolutions of functional conflicts between morphology and phonology. In: Linguistics 23, 45‒82. Werner, Otmar (1990): Die starken Präterita im Luxemburgischen. Ideale Analogie oder vergeblicher Rettungsversuch? In: German Life and Letters 43, 182‒190. Wurzel, Wolfgang U. (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung. Berlin: Akademie-Verlag.
René Schiering
Zur Entstehung von irregulärem Wortakzent: Morphologisierung im Türkischen 1 Einführung In der morphem-basierten Grammatikalisierungstheorie werden diverse voneinander abhängige phonetische, morphosyntaktische und funktionale Prozesse mit der graduellen Entwicklung eines Inhaltswortes zu einem grammatischen Marker assoziiert (Heine/Reh 1984; Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Hopper/Traugott 1993; Lehmann [1982] 1995; Croft 2003: 253). So sollen morphosyntaktische Prozesse, wie z.B. Klitisierung und Komposition, mit phonetischer Erosion und semantischer Ausbleichung einhergehen (vgl. die Hypothese der parallelen Reduktion von Bybee/ Perkins/Pagliuca 1994). Obwohl sich dieser theoretische Rahmen bei der Erforschung der Morphologieentwicklung bewährt hat, wurde die Frage, wie die tatsächlichen Manifestationen dieser Subprozesse zu grammatischen Irregularitäten führen können, selten behandelt. Nimmt man beispielsweise an, dass sich Form und Bedeutung parallel entwickeln, weckt das Modell die Erwartung, dass die unterschiedlichen Subprozesse der Grammatikalisierung im diachronen Wandel über die gleiche Zeitspanne stattfinden. Synchron betrachtet können sich Grammatikalisierungsgrade auf den verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen allerdings sehr wohl unterscheiden. Um zu zeigen, dass morphophonologische Irregularitäten zu einer gegebenen diachronen Sprachstufe unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade in Prosodie und Morphologie widerspiegeln können, zeichnet dieser Beitrag zwei Morphologisierungsprozesse in der attestierten Sprachgeschichte des Türkischen nach. Obwohl die Enklitisierung von nachgestellten Subjektpronomina und die Univerbierung von Konverbkomplexen zu neuen gebundenen morphologischen Markern geführt haben, sind die grammatikalisierten Formen prosodisch noch nicht vollständig in die Wortakzentdomäne integriert und stellen so Mismatches zwischen morphosyntaktischer und phonologischer Struktur dar. Unter anderem führt diese Konstellation zu einem Fall von morphophonologischer Irregularität in der Wortakzentuierung, nämlich zu nicht-finalem Wortakzent. Die Argumentationskette verläuft dabei in folgenden Schritten. Zunächst werden in Abschnitt 2 die Prinzipien der Wortakzentuierung im Türkischen beschrieben. Dabei können die Enklitisierungs- und Univerbierungskonstruktionen im weiteren Kontext der Abweichungen vom regulären wortfinalen Akzent eingeordnet werden. Abschnitt 3 legt einen Fokus auf die Relevanz von prosodischen Domänen bei den phonologischen Subprozessen der Grammatikalisierung und führt die Prosodische Phonologie als den ausgewählten theoretischen Analyserahmen ein. Die
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diachronen Fakten zu den zwei türkischen Fallbeispielkonstruktionen werden in Abschnitt 4 präsentiert. Dieser Abschnitt wird außerdem zeigen, dass prosodische Domänen konservativer als morphologische Domänen sind. Abschnitt 5 schließt diesen Beitrag ab, indem er seine Hauptpunkte zusammenfasst und seine wichtigsten Implikationen benennt.
2 Wortakzentuierung im Türkischen Im Normalfall werden türkische Wörter auf der letzten Silbe akzentuiert. Bei monomorphemischen Wörtern fällt der Akzent entsprechend auf die stammfinale Silbe (1a). Werden im Zuge der Suffigierung weitere Silben an den Stamm angefügt, wandert der Akzent zur jeweils letzten Silbe der Suffixkette (1b‒d). (1) Finaler Wortakzent im Türkischen (Lewis 2000: 19‒20) a. b. c. d.
ço'cuk çocuk-'lar çocuk-lar-ı'mız çocuk-lar-ımı'z-ın
‚Kind‘ ‚Kinder‘ ‚unsere Kinder‘ ‚unserer Kinder (gen.)‘
Bei monomorphemischen Formen gibt es jedoch in diversen Bereichen des Lexikons Abweichungen vom wortfinalen Akzent (Lewis 2000: 20‒22). Türkische Ortsnamen werden meistens auf ihrer ersten Silbe akzentuiert. Mehrsilbige nicht-türkische Ortsnamen behalten ihre ursprüngliche Akzentuierung, vgl. A'nadolu ‚Anatolien‘, İs'tanbul, 'Paris, 'Zonguldak, 'Misir ‚Ägypten‘, 'Sirkeci, 'Bebek, 'Karaman, 'Ordu, İngil'tere ‚England‘, İs'panya ‚Spanien‘, An'talya und Ma'latya. Die Akzentuierung der Gebersprache bleibt auch in Lehnwörtern wie z.B. lo'kanta ‚Restaurant‘, 'olta ‚Angelschnur‘, 'radyo ‚Radio‘, 'taksi ‚Taxi‘, 'kokteyl ‚Cocktail(-party)‘ und ga'zete ‚Zeitung‘ erhalten. Einige Verwandtschaftsbezeichnungen und Nomina, die Lebewesen denotieren, weichen auch vom wortfinalen Akzent ab: 'anne ‚Mutter‘, 'abla ‚ältere Schwester‘, gö'rümce ‚Schwester des Ehemanns‘, 'yenge ‚Ehefrau des Bruders‘, 'hala ‚väterliche Tante‘, 'teyze ‚mütterliche Tante‘, 'amca ‚väterlicher Onkel‘, çe'kirge ‚Heuschrecke‘, ka'rınca ‚Ameise‘ und ko'karca ‚Iltis‘. Adverbien tragen den Akzent normalerweise auf der ersten Silbe ('şimdi ‚jetzt‘, 'sonra ‚danach‘, 'evvelâ ‚zuerst‘, 'ansız(ın) ‚plötzlich‘ und 'ancak ‚bloß‘). Bei Komposita fällt der Akzent auf das erste Glied der Verbindung, z.B. 'baş ‚Kopf‘ + ba'kan ‚Minister‘ > 'başbakan ‚Ministerpräsident‘ und 'bir ‚ein‘ + ta'kım ‚Set‘ > 'birtakım ‚einige‘. Diminutive auf -cIk
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sind auch initialakzentuiert, s. 'ufacık ‚winzig‘ und 'evcik ‚Häuschen‘.1 Dasselbe gilt für Interjektionen ('haydi ‚Auf geht’s‘) und Vokative ('garson ‚Kellner!‘). Einige dieser Ausnahmen werden von Sezers Akzentregel erfasst, die besagt, dass die Antepänultima akzentuiert wird, wenn die Antepänultima schwer und die Pänultima leicht ist; ansonsten wird die Pänultima akzentuiert (Kabak/Vogel 2001: 317). Diese Regel muss allerdings so eingeschränkt werden, dass sie nur in dem Teilbereich des Lexikons appliziert, in dem diese Subregularität auftaucht. Die Abweichungen, die im letzten Abschnitt diskutiert wurden, betreffen gewisse Stämme. Es gibt allerdings auch gebundene Morpheme, die in nicht-trivialer Weise mit den Prinzipien der Wortakzentuierung interagieren. Mehrsilbige Suffixe, wie z.B. die in gi'd-ince ‚gegangen (having gone)‘ oder ya'p-arak ‚machend (by doing)‘, tragen den Akzent immer auf der ersten Suffixsilbe. Sogenannte ‚enklitische Suffixe‘ tragen zwar nie selbst den Akzent, werfen ihn aber auf die Silbe, die ihnen unmittelbar vorangeht, z.B. o-'nun-la ‚mit ihr/ihm‘ und ya'z-ar-kan ‚während des Schreibens (while writing)‘. ‚Enklitische Wörter‘ zeigen schließlich dasselbe Akzentverhalten und erscheinen oft entweder gebunden oder als freie Form an der Oberfläche: arkada'şım idi oder arkada'şım=dı ‚er war mein Freund‘. Diverse Aspekte der türkischen Wortakzentuierung, wie z.B. ihr Ursprung und ihre Beschaffenheit (Johanson/Csató 1998) oder ihre adäquate formale Repräsentation (Kabak/Vogel 2001, Inkelas/Orgun 2003), werden weiterhin ‒ teils kontrovers ‒ diskutiert. Die folgenden Abschnitte werden sich aber auf ihre Relevanz bei der Erforschung der Entstehung von irregulärem Wortakzent beschränken (s. auch Kabak/Revithiadou 2009). In diesem Kontext soll die diachrone Entwicklung ausgesuchter morphologisch bedingter Abweichungen vom wortfinalen Akzent nachvollzogen werden.
3 Phonologie der Grammatikalisierung Im Vergleich zu den morphosyntaktischen und funktionalen Subprozessen hat die Phonologie der Grammatikalisierung deutlich weniger Aufmerksamkeit in der relevanten Literatur erhalten. Während die meisten Autoren sich damit begnügen, die zentrale Rolle der Erosion zu betonen, präsentieren Heine/Reh (1984: 17‒25) einen ausführlichen Überblick über die phonologischen Prozesse, die bei Grammatikalisierungsphänomenen beobachtet werden konnten. Auf der höchsten Ebene ihrer || 1 In einigen Fällen variieren sowohl die Beschreibungen, als auch die muttersprachlichen Intuitionen beim türkischen Wortakzent. Während Lewis (2000: 21) zum Beispiel Initialakzent bei Diminutiva auf -CIk beobachtet, stellen Göksel/Kerslake (2005: 26) fest, dass Anredeformen ihre ursprüngliche Akzentuierung beibehalten, wenn das Diminutivsuffix -CIk oder seine flektierte Form -CIğIm an die Wurzel angefügt wird, vgl. Sem'racığım ‚Liebe Semra!‘.
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Taxonomie unterscheiden sie grundlegend zwischen Adaption und Erosion. Adaption umfasst dabei Assimilation, junkturale Adaption und Dissimilation. Erosion wird weiter aufgeschlüsselt in junkturale, silbische, periphere und nicht-segmentale Erosion. Auf einer abstrakteren Ebene stellen sie außerdem eine Verbindung her zwischen der allmählichen Schwächung und letztendlichen Tilgung von Wortgrenzen und den morphosyntaktischen Prozessen der Klitisierung und Komposition. Im Folgenden wird die Phonologie der Grammatikalisierung im Hinblick auf die Prosodisierung der betroffenen morphosyntaktischen Strings in der prosodischen Hierarchie analysiert (Selkirk 1984; Nespor/Vogel 2007). Bei dieser Herangehensweise wird Klitisierung, wie sie hier anhand der georgischen Daten in (2) illustriert wird, als ein Fall von prosodischer Integration verstanden2 (Schiering 2006, 2010). (2) Proklitisierung im Georgischen (Harris 2002: 236) a.
merab-i ekim-i 'ar 'aris Merab-NOM Arzt-NOM NEG er.sein ‚Merab ist nicht ein Arzt.‘ b. puli ara='m-akvs Geld NEG=1sg.OBL-haben ‚Ich habe kein Geld.‘ c. puli 'ara=m-akvs Geld NEG=1sg.OBL-haben ‚Ich habe kein Geld.‘
Georgische Wörter wie das Verb aris in (2a) werden auf der ersten Silbe akzentuiert. Die präverbale Partikel in diesem Beispiel trägt auch initialen Akzent. Die NegatorVerb-Kombination wird als zwei prosodische Wörter (ω) prosodisiert, die unter dem Knoten einer phonologischen Phrase (P) gruppiert werden: [('ar)ω ('aris)ω]Ρ. In (2b) bleibt die Negationspartikel unakzentuiert und der Wortakzent wird nur auf der initialen Silbe des verbalen Stützwortes realisiert. Das Proklitikum lehnt sich demnach an das folgende prosodische Wort an: [(ara) ('m-akvs)ω]Ρ. Ara wird in (2c) schließlich prosodisch in die Wortdomäne des Stützwortes integriert: [('ara m-akvs)ω]Ρ. Weil Akzent nur einmal innerhalb des prosodischen Wortes zugewiesen wird, fällt der Akzent hier auf die initiale Silbe des gesamten Strings, in diesem Fall die erste Silbe des klitisierten Negationsmarker. Diese synchrone Variation bei der Prosodisierung von Klitikon-Stützwort-Kombinationen legt eine graduelle prosodische Entwicklungsskala nahe, deren Stufen wie folgt repräsentiert werden können:
|| 2 Dieser Terminus wird auch von Booij (1996) verwendet. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass weder Booij noch Selkirk die hier diskutierten Prosodisierungsoptionen als evolutionäre Schritte bei der graduellen prosodischen Integration von Klitika interpretieren.
Zur Entstehung von irregulärem Wortakzent: Morphologisierung im Türkischen | 105
(3) Prosodische Domänenstrukturen in der Klitisierung (Selkirk 1995)3 S-Struktur: P-Struktur:
(a)
[Fnk Lex] ((fnk)ω (lex)ω)P
(b) (c) (d)
(fnk(lex)ω)P ((fnk lex)ω)P ((fnk(lex)ω)ω)P
Prosodisches Wort Prosodische Klitika: freies Klitikon internes Klitikon affixales Klitikon
In dieser Terminologie wird der georgische Negationsmarker als prosodisches Wort in (2a) viz. (3a), als freies Klitikon in (2b) viz. (3b) und schließlich als internes Klitikon in (2c) viz. (3c) prosodisiert. Außerdem kann Klitisierung mit segmentalen Prozessen einhergehen, die in der Domänenstruktur, die die klitische Form mit ihrem Stützwort konstituiert, applizieren. Tabelle 1 fasst die übereinzelsprachlich attestierten segmentalen Effekte der Klitisierung zusammen. Als Weiterentwicklung zu Heine/Rehs (1984: 17‒25) Taxonomie müssten vier übergeordnete Regeltypen an der höchsten Ebene angenommen werden: Strukturerhaltung, Assimilation, Schwächung und Stärkung. Zusätzlich kann jeder Regeltyp entweder an der Morphemgrenze oder über mehrere Morphemgrenzen der Klitikon-Stützwort-Kombination hinweg applizieren. In der hier benutzten Terminologie bezeichnet ‚junktural‘ ‚an der Morphemgrenze‘ und ‚silbisch‘ ‚über mehrere Silben der Kombination hinweg‘. Tab. 1: Segmentale Effekte der Klitisierung (Schiering 2006: 82, 2010) Junktural
Silbisch
Strukturerhaltung
Keine Regel appliziert oder die Applikation einer Regel wird blockiert
Assimilation
z.B. Konsonanten-Assimilation
z.B. Vokalharmonie
Schwächung
z.B. Vereinfachung von Konsonantenhäufungen
z.B. Vokalreduktion und -tilgung
Stärkung
z.B. Epenthese
z.B. Vokaldehnung
Strukturerhaltung umfasst Fälle, bei der die segmentale Zusammensetzung des Klitikon sich nicht verändert, entweder weil keine Regel appliziert, oder weil die durch die Klitisierung veränderte Domänenstruktur die Applikation einer Regel verhindert. Assimilation korrespondiert mit Heine/Rehs (1984) Adaptation und || 3 In den formalen Repräsentationen werden folgende Abkürzungen benutzt: S-Struktur = morphosyntaktische Repräsentation, P-Struktur = phonologische Repräsentation, Fnk = Funktionswort, Lex = lexikalisches Wort, ω = prosodisches Wort, P = phonologische Phrase.
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umfasst dabei Prozesse, die die segmentale Beschaffenheit des Klitikon abändern, um es in die grammatikalisierende Konstruktion einzupassen. Konsonanten an der Klitisierungsgrenze können an den Artikulationsort eines benachbarten Stützwortkonsonanten assimilieren, oder die klitischen Vokale können mit den Vokalen des Stützwortes harmonisieren. Prozesse, die zur Reduktion oder gar Tilgung phonologischer Substanz führen, wie z.B. Vereinfachung von Konsonantenhäufungen an der klitischen Grenze oder Vokalreduktion in unbetonten Silben, fallen unter die Kategorie Schwächung. Stärkung, zu guter Letzt, beschreibt segmentale Effekte der Klitisierung, die substantiell zur segmentalen Beschaffenheit des Klitikon beitragen, z.B. durch Dehnung oder Einfügen zusätzlicher Segmente. Erosion ist somit nur ein Untertyp der Schwächungskategorie und keine universelle Begleiterscheinung der Grammatikalisierung. Unter den vielen möglichen segmentalen Effekten bei Grammatikalisierungsprozessen ist die Erosion lediglich eine von vielen (Schiering 2010). Im Türkischen bringt die Umorganisation prosodischer Domänen im Zuge der Grammatikalisierung diverse phonologische Begleiterscheinungen mit sich. Zum einen beeinflusst sie die Akzentzuweisung in den grammatikalisierenden Konstruktionen. Zum anderen legt sie den Grundstein für die Applikation segmentaler Regeln, wie z.B. die Ausweitung der silbischen Assimilationsregel der Vokalharmonie.
4 Morphologisierung im Türkischen4 Durch zahlreiche Morphologisierungstendenzen in der dokumentierten Sprachgeschichte stellt das Türkische der Grammatikalisierungstheorie ein reichhaltiges Datenmaterial bereit (s. u.a. Bassarak 1988). Im Folgenden werden wir zwei solche Fälle beleuchten. Zum einen führte die Klitisierung von Personalpronomina zum Ausbau der verbalen Personenkongruenz (vgl. Givón 1976). Zum anderen elaborierte die Univerbierung von Konverbkomplexen das System der Tempus-Aspekt-Markierung (vgl. Lehmann [1982] 1995).
4.1 Klitisierung von Subjektpronomina Im Alttürkischen werden Sätze mit pronominalem Subjekt mit einem nachgestellten Pronomen am Ende des verbalen oder nicht-verbalen Prädikats gebildet. Unter Em-
|| 4 Alle Daten und Fakten, sowohl zum Alttürkischen als auch zum modernen Türkischen, stammen aus diesen Referenzgrammatiken: Erdal (2004), Gabain (1950), Göksel/Kerslake (2005), Kornfilt (1997), Lewis (2000) und Swift (1997).
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phase- oder Kontrastbedingungen kann ein weiteres Personalpronomen in präverbale Position gestellt werden. (4) Nachgestellte Subjektpronomina im Alttürkischen (Adamović 1985: 27; Gabain 1950: 183) a. (ben) bay ben ‚Ich bin reich‘ b. (sen) kiši sen ‚Du bist ein Mann‘ c. (ol) ädgü Ø ~ ol ‚Er ist gut‘
(ben) kelür ben ‚Ich komme‘ (sen) kelür sen ‚Du kommst‘ (ol) qїlur Ø ~ ol ‚Er tut‘
In Texten des dreizehnten Jahrhunderts erscheinen die nachgestellten Pronomina in prädikatsfinaler Position klitisiert ans vorangehende Wort. Sandhi-Regeln, die an der Morphemgrenze greifen, sind dabei symptomatisch für die phonologische Bindung. Zum Beispiel der b > v-Sandhi in der ersten Person Singular, s. ben > van ~ ven, und die Vokalharmonie, die die Stützwort-Klitikon-Grenze überspannt. Beispielhafte Paradigmen für nicht-verbale und verbale Prädikate finden sich in (5). (5) Klitisierte Subjektpronomina im Türkischen (13. Jahrhundert) (Adamović 1985: 27‒28, 48) a. b. c. d. e. f.
(ben) bay-van ~ bay-am ‚Ich bin reich‘ (sen) bay-sїn ‚Du bist reich‘ (ol) bay-durur ‚Er ist reich‘ (biz) bay-uz ‚Wir sind reich‘ (siz) bay-sїz ‚Ihr seid reich‘ (anlar) bay-durur(lar) ‚Sie sind reich‘
(ben) diler-ven ~ diler-em ‚Ich wünsche‘ (sen) gelür-sin ‚Du kommst‘ (ol) gelür ‚Er kommt‘ (biz) bilür-üz ‚Wir wissen‘ (siz) diler-siz ‚Ihr wünscht‘ (anlar) gelür(ler) ‚Sie kommen‘
Im modernen Türkischen haben sich die klitisierten Subjektpronomina zu dem sogenannten z-Paradigma der Personenkongruenz entwickelt, vgl. (6). (6) Formen des z-Paradigma im Türkischen (Lewis 2000: 93‒94, 117‒118) a. b. c. d. e. f.
(ben) ha'zır-ım ‚Ich bin bereit‘ (sen) ha'zır-sın ‚Du bist bereit‘ (o) ha'zır(-dır) ‚Er ist bereit‘ (biz) ha'zır-ız ‚Wir sind bereit‘ (siz) ha'zır-sınız ‚Ihr seid bereit‘ (onlar) ha'zır(-dır)-lar ‚Sie sind bereit‘
(ben) ge'lir-im ‚Ich komme‘ (sen) ge'lir-sin ‚Du kommst‘ (o) ge'lir ‚Er kommt‘ (biz) ge'lir-iz ‚Wir kommen‘ (siz) ge'lir-siniz ‚Ihr kommt‘ (onlar) ge'lir-ler ‚Sie kommen‘
Auf der Grundlage rein distributioneller Kriterien verhalten sich die Formen des zParadigmas immer noch wie Klitika. Sie zeigen ein geringes Maß an Selektivität in Bezug auf ihr Stützwort, sie weisen keine morphophonologischen Idiosynkrasien auf und sie können in der conjunction reduction fallen gelassen werden (vgl. Kornfilt 1996 und Good/Yu 2005 für ausführliche Analysen). Unter Verweis auf phonologische Kriterien verweigern sie sich einer eindeutigen Bestimmung als Klitika oder
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Suffixe. Als Klitika zählen sie beim Wortakzent, aber gleichzeitig als Suffixe bei der Vokalharmonie. Prosodisch gesehen konstituieren präverbale Subjektpronomina eigenständige Wörter, die ihren eigenen Wortakzent tragen. Die nachgestellten Pronomina hingegen erscheinen schon immer in postverbaler Position unakzentuiert. Im Hinblick auf die phrasale Akzentzuweisung im Türkischen ist dieses Verhalten durchaus regelhaft: in phonologischen Phrasen mit zwei Wörtern fällt der Phrasenakzent stets auf das erste Wort. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass das erste Wort von kelür sen ‚du kommst‘ Phrasenakzent trägt, während das zweite Wort weniger prominent erscheint, vgl. ((ke'lür)ω (sen)ω)P. Im Zuge der Grammatikalisierung kann dieser Phrasenakzent mitunter als Wortakzent reinterpretiert werden. Im gegenwärtigen Türkischen werden die Subjektkongruenzmarker als unakzentuierte Silben prosodisiert, die an das vorangehende prosodische Wort adjungieren, s. ((ge'lir)ωsin)P. Als Abweichung vom regulären finalen Wortakzent machen sie entsprechend die morphophonologische Irregularität aus, die Lewis (2000) ‚enklitisches Suffix‘ nennt. (7) Entwicklung der Akzentdomäne S-Struktur: P-Struktur: =>
[Lex Fnk] ((ke'lür)ω (sen)ω)P ((ge'lir)ω-sin)P
Was die Vokalharmonie angeht, haben die Subjektkongruenzmarker eine andere Entwicklung durchlaufen, an dessen Ende sie jedoch regulär in den Prozess eingebunden sind. Die Tatsache, dass der Vokalismus der nachgestellten Subjektpronomina im Alttürkischen sehr stabil war, legt nahe, dass die betroffenen Formen prosodischen Wortstatus hatten. Der String kelür sen ‚du kommst‘ kann entsprechend als zwei prosodische Wörter analysiert werden, die unter einem prosodischen Phrasenknoten gruppiert sind: ((ke'lür)ω (sen)ω)P. Im 13. Jahrhundert werden die pronominalen Formen prosodisch in die Vokalharmoniedomäne des vorangehenden Worts integriert. So harmonisiert im Gegenwartstürkischen der klitische Vokal /i/ mit dem Stammvokal /e/ in Bezug auf die Merkmale [vorne] und [ungerundet] innerhalb eines einzelnen prosodischen Wortes: ((ge'lir-sin)ω)P. In diesem Sinne verhält sich der Subjektkongruenzmarker genau wie das genuine verbale Aoristsuffix Ir, das im genannten Beispiel auch an den Stamm gel- ‚kommen‘ affigiert wird. (8) Entwicklung der Vokalharmoniedomäne S-Struktur: P-Struktur: =>
[Lex Fnk] ((ke'lür)ω (sen)ω)P ((ge'lir-sin)ω)P
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Synchron betrachtet zeigt die Konstruktion verschiedene Grade der Grammatikalisierung in Morphologie und Phonologie. In der Morphosyntax haben die nachgestellten Pronomina sich von Wörtern zu Klitika entwickelt. Dieser Status wird auch durch ihren klitischen prosodischen Status in der Wortakzentuierung deutlich. Gleichzeitig entwickeln sich die Pronomina, was die Vokalharmonie angeht, weiter zu Affixen. (9) Mehrfache Wortdomänen S-Struktur: [Lex Fnk] P-Struktur (Akzent): ((ge'lir)ω-sin)P P-Struktur (Vokalharmonie): ((gelir-sin)ω)P Wegen der unterschiedlichen Grade der prosodischen Integration in den zwei prosodischen Mustern müssen mehrere Wortdomänen in der synchronen Analyse postuliert werden, vgl. (9). Die Akzentdomäne zeigt sich dabei konservativer, weil sie die grammatikalisierende Form nicht vollständig integriert, sondern sie unakzentuiert am rechten Rand der Konstruktion belässt. Diese unvollständige prosodische Integration resultiert somit in einer Abweichung vom wortfinalen Akzent.
4.2 Univerbierung von Konverbkomplexen Ein weiterer Morphologisierungsprozess, der durch die dokumentierte Sprachgeschichte des Türkischen verfolgt werden kann, fußt auf einer Konverbkonstruktion, die aus einem nicht-finiten Verb mit Konverbmarkierung und einem für Aspekt, Tempus, Modus, Person und Numerus flektierten, finiten Verb besteht (vgl. Heine/Kuteva 2002). Die Beispiele in (10) veranschaulichen alttürkische Konverbkonstruktionen, die zum Ausdruck von Aktionalität, Intentionalität, Abilität und Version grammatikalisiert wurden (Erdal 1979; Johanson 1998; Ağcagül 2004). (10) Verbalkomplexe im Alttürkischen (Gabain 1950: 129; Adamović 1985: 116) a. b. c. d. e. f.
gel-i yür-ür ‚Er kommt‘ kör-ü bil- ‚zu gehorchen wissen‘ qїl-u u- ‚machen können‘ ay-u bir- ‚kommunizieren‘ alta-yu tur- ‚weiter betrügen‘ kü-yü tut- ‚weiter bewachen‘
(yüri- ‚gehen, laufen‘) (bil- ‚wissen‘) (u- ‚können‘) (bir- ‚geben‘) (tur- ‚stehen‘) (tut- ‚halten‘)
Obwohl der Konverbmarker sich in manchen Fällen, wie z.B. von -(y)I zu -(y)A in Kombination mit dem Verb bil- ‚wissen‘, geändert hat, ist die Konstruktion selbst auch heute noch im modernen Türkisch gebräuchlich.
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(11) Univerbierte Verbalkomplexe im Türkischen (Lewis 2000: 106‒107, 153, 190‒ 191) a. gel-iyor-um ‚Ich komme‘ b. gel-ebil-ir-im ‚Ich kann kommen‘ c. neler çek-e-gel-di ‚Was für Dinge er immer erlitten hat‘ d. onu kaldır-ı-ver-elim ‚Lass es uns schnell entfernen‘ e. söylen-e-dur-ur ‚Er grummelt weiter‘
(yor- ‚gehen, laufen‘) (bil- ‚wissen‘) (gel- ‚kommen‘) (ver- ‚geben‘) (dur- ‚stehen‘)
Die verschiedenen Formen unterscheiden sich in Bezug auf ihren grammatischen Status. Auf einer Grammatikalisierungsskala markieren sie so unterschiedliche Grade der Morphologisierung. Zumindest -Iyor-‚progressiv‘ (11a) und -(y)Abil- ‚potential‘ (11b) gelten inzwischen als zweisilbige Suffixe, weil sie vollständig desemantisiert sind und ein kohäsives morphologisches Wort mit ihrer Basis bilden. Zusätzliche Evidenz für die unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrade findet sich in der (Un-)Möglichkeit, das Klitikon =dA ‚und, auch‘ zwischen dem einstigen Konverbmarker und dem zweiten Verbalstamm einzufügen. Dieses scheint möglich bei der Kombination -(y)A-dur- was auf einen geringeren Grad der Univerbierung deutet. Auch wenn nur marginal und weniger akzeptabel ist die Aufspaltung des Potentialmarkers -(y)Abil- durch das Klitikon belegt, z.B. in yapmaya-da-bilirim ‚oder ich könnte es NICHT tun‘ (Bainbridge 1988: 95). Weil das Klitikon an der ehemaligen Morphemgrenze zwischen dem Konverbmarker -(y)A und dem Verbalstamm bil- ‚wissen‘ eingefügt wird, tritt hier die unvollständige Morphologisierung der Konstruktion zu Tage. Bei dem vollständig grammatikalisierten Progressivmarker –Iyor- ist die Einsetzung von =dA an dieser Stelle ungrammatisch. Obwohl die Wortgrenze im Zuge der morphologischen Reanalyse getilgt wurde, spiegelt die prosodische Domänenstruktur – auch bei dem am stärksten grammatikalisierten Vertreter dieser univerbierten Verbalkomplexe – immer noch den phrasalen Ursprung der Konstruktion wider. Im Hinblick auf die Akzentzuweisung wurde die Konverbkonstruktion ursprünglich als phonologische Phrase prosodisiert, in der die akzentuierte Silbe des ersten Wortes phrasale Prominenz bekommt, vgl. ((ge'l-i)ω (yür-ür)ω)P. Nach den Regeln der Wortakzentuierung fungiert die letzte Silbe des Konverbmarkers als Lokus für den Akzent in diesen Fällen. Synchron referiert die Akzentzuweisung immer noch auf die ehemalige rechte Wortgrenze des Konverbs, sodass der disfunktionalisierte Konverbmarker immer noch akzentuiert wird und nicht etwa die letzte Silbe des gesamten Strings. Das frühere Konverb konstituiert somit ein prosodisches Wort, an das das ehemalige finite Verb als unakzentuierte Silben adjungiert wird, vgl. ((ge'l-i)ωyor-um)P.
Zur Entstehung von irregulärem Wortakzent: Morphologisierung im Türkischen | 111
(12) Entwicklung der Akzentdomäne S-Struktur: P-Struktur: =>
[Lex Fnk] ((ge'l-i)ω (yür-ür)ω)P ((ge'l-i)ωyor-um)P
Diese Konstellation, bei der die vorherige Wortgrenze weiterhin zwei prosodische Domänen abgrenzt, findet eine Parallele bei der Vokalharmonie. Sowohl der Verbalstamm mit dem fossilisierten Konverbmarker, als auch das Suffixmorphem, das von dem finiten Verb in der Konverbkonstruktion abstammt, initiieren ihre eigenen Vokalharmoniedomänen, vgl. ((ge'l-i)ω(yor-um)ω)P. Dieses prosodische Verhalten ist bei dem phrasalen Ursprung des univerbierten Verbalkomplexes, bei dem zwei Verben mit prosodischem Wortstatus zu einer phonologischen Phrase gruppiert werden, zu erwarten, vgl. ((ge'li)ω (yür-ür)ω)P. Während der erste Suffixvokal /i/ in der letzten Zeile von (13) die Merkmale [vorne] und [ungerundet] mit dem Stammvokal /e/ teilt, assimiliert der Vokal des Suffixes für die 1. Person Singular -(y)Im an die Merkmale [hinten] und [gerundet] des zweiten Suffixvokals /o/ von -Iyor. (13) Entwicklung der Vokalharmoniedomäne S-Struktur: P-Struktur: =>
[Lex Fnk] ((ge'li)ω (yür-ür)ω)P ((ge'l-i)ω(yor-um)ω)P
Obwohl sich die morphologische Struktur im Zuge der Grammatikalisierung verändert, zeigt sich die prosodische Struktur wieder konservativer, indem sie immer noch den phrasalen Ursprung der Konstruktion widerspiegelt. Die grammatikalisierende Form ist nicht vollständig in die Wortakzent- und Vokalharmoniedomänen integriert und stellt somit nicht nur eine weitere Abweichung vom wortfinalen Akzent dar, sondern auch eine Ausnahme von dem wortsensitiven Assimilationsprozess der Vokalharmonie. (14) Mehrfache Wortdomänen S-Struktur: [Lex Fnk] P-Struktur (Akzent): ((ge'l-i)ωyor-um)P P-Struktur (Vokalharmonie): ((ge'l-i)ω(yor-um)ω)P Als weitere Konsequenz dieser Entwicklung müssen synchron zwei verschiedene prosodische Strukturen für ein und denselben morphosyntaktischen String postuliert werden. Während geliyorum für die Akzentzuweisung ein prosodisches Wort mit adjungierten Silben konstituiert, besteht es für die Vokalharmonie aus zwei prosodischen Wörtern. So machen verschiedene Grade der prosodischen Integrati-
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on, die wiederum fortschreitende Grammatikalisierung charakterisiert, die diachrone Ursache für multiple prosodische Wortdomänen aus (vgl. Bickel/Hildebrandt/ Schiering 2009; Schiering/Bickel/Hildebrandt 2010).
5 Zusammenfassung und Ausblick In diesem Beitrag wurden zwei Morphologisierungsprozesse in der dokumentierten Geschichte des Türkischen nachgezeichnet, um dafür zu argumentieren, dass morphophonologische Irregularitäten zu einer gegebenen Sprachstufe unterschiedliche Grade der Grammatikalisierung in Prosodie und Morphologie widerspiegeln können. Während die Enklitisierung von nachgestellten Subjektpronomina, z.B. Alttürkisch kelür sen > modernes Türkisch gelir-sin ‚du kommst‘, von der prosodischen Integration in die Vokalharmoniedomäne begleitet wird, vgl. ((ge'lir-sin)ω)P, werden die Morpheme nicht in die Akzentdomäne integriert, sondern werden als unakzentuierte Silben an das prosodische Wort adjungiert, vgl. ((ge'lir)ω-sin)P. Diese Entwicklung führt also zu einem Fall von irregulärem, nicht-finalem Wortakzent. Bei der Univerbierung von Konverbkomplexen, z.B. Alttürkisch gel-i yür-ür ‚er kommt‘ vs. modernes Türkisch gel-iyor-um ‚ich komme‘, konstituiert die stark morphologisierte Konstruktion immer noch zwei Vokalharmoniedomänen, vgl. ((ge'l-i)ω(yorum)ω)P. In Hinblick auf die Akzentzuweisung wird das frühere phrasale Muster, mit finalem Akzent auf dem ersten Glied des Verbalkomplexes, weitergeführt, was zu einer weiteren Abweichung vom finalen Akzent führt, vgl. ((ge'l-i)ωyor-um)P. Die Ergebnisse dieser Fallstudie implizieren, dass die grammatische Evolution auf den verschiedenen linguistischen Strukturebenen im Prinzip weniger stark aneinandergeknüpft sein kann als oft angenommen wird. Obwohl die phonetischen, morphosyntaktischen und funktionalen Prozesse der Grammatikalisierung wie vorhergesagt fortschreiten, brauchen sie dabei unterschiedlich viel Zeit. Prosodische Domänen im Speziellen scheinen konservativer zu sein als morphologische Domänen, was wiederum nahelegt, dass die phonologischen Begleiterscheinungen der Grammatikalisierung hinter den morphosyntaktischen hinterher hinken. Innerhalb der Prosodie kann die Phonologie der Grammatikalisierung über Grammatikalisierungspfade hinweg variieren, sodass sich sogar in einer einzelnen Sprache Prosodisierungsstrategien für die Enklitisierung von Subjektpronomina und die Univerbierung von Konverbkonstruktionen unterscheiden können. Diese Variation existiert auch zwischen phonologischen Ebenen, zum Beispiel, wenn sich Akzentdomänen und Vokalharmoniedomänen in einer Einzelsprache nicht synchronisiert entwickeln. Unterschiedliche Grade der prosodischen Integration führen so zur Multiplikation von prosodischen Wortdomänen und letztendlich zu Irregularitäten in wort-prosodischen Regeln, wie z.B. dem Wortakzent.
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Jan Henning Schulze
Koartikulationskompensation und Irregularität Der Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben im Althochdeutschen
1 Der i-Umlaut als regulärer Lautwandel Die Beleglage zum althochdeutschen i-Umlaut ist unter (1) in groben Zügen dargestellt. Beim i-Umlaut werden velare Stammvokale an ein unbetontes i oder j der Folgesilbe partiell assimiliert. Traditionell unterscheidet man zwischen dem sogenannten Primärumlaut des kurzen a zu e, der sich schon früh in althochdeutschen Denkmälern nachweisen lässt, und dem sogenannten Sekundärumlaut der übrigen velaren Vokale, der erst in mittelhochdeutschen Texten orthographisch markiert wird. (1) Beleglage zum i-Umlaut (1a) Primärumlaut: ahd. gast − gesti ‚Gast‘ − ‚Gäste‘ ahd. faru − feris ‚(ich) fahre‘ − ‚(du) fährst‘ ahd. kraft − kreftīg ‚Kraft‘ − ‚kräftig‘ (1b) Hemmung des Primärumlauts: ahd. mahti > mhd. mähte ‚Mächte‘ ahd. garwita > mhd. gärbte ‚(ich/er) bereitete‘ ahd. zahari > mhd. zähere ‚Tränen‘ ahd. chalbir (obdt.) > mhd. kelber‚Kälber‘ (1c) Sekundärumlaut der übrigen velaren Vokale in mhd. Texten: ahd. swāri > mhd. swære ‚schwer‘ ahd. rōtī > mhd. rœte ‚Röte‘ ahd. sūrī > mhd. siure ‚Säure‘ ahd. loubir > mhd. löuber ‚Laub (Pl.)‘ ahd. guotī > mhd. güete‚das Gute, die Güte‘ ahd. wurfil > mhd. würfel ‚Würfel‘ ahd. oli > mhd. öl ‚Öl‘
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Der Primärumlaut des Kurzvokals a zu e wird durch ein unbetontes i oder j in der Folgesilbe ausgelöst. Zum Singular gast lautet der Plural gesti. Das i der Flexionssilbe löst den Umlaut von a zu e aus, vgl. (1a). Die 1. Sg. Präs. von faran lautet faru, die 2. Sg. Präs. lautet feris. Zum Substantiv kraft lautet die Adjektivableitung kreftīg. Vor bestimmten Konsonantenverbindungen unterbleibt der Primärumlaut. Die Beispiele unter (1b) illustrieren dies. In althochdeutschen Texten findet sich systematisch kein Umlaut vor h+Konsonant (ahd. mahti), vor Konsonant+w (ahd. garwita), durch i in dritter Silbe (ahd. zahari). Außerdem fehlt der Primärumlaut in oberdeutschen Dialekten oft vor /x/ wie in obdt. slahit ‚(er) schlägt‘ oder vor l oder r in der Silbenkoda wie in obdt. chalbir ‚Kälber‘. Eben jene Wortformen, die im Althochdeutschen noch ohne Umlaut geschrieben werden, erscheinen im Mittelhochdeutschen, also mehrere hundert Jahre später, mit Sekundärumlaut (ahd. mahti, garwita, zahari etc. > mhd. mähte, gärbte, zähere etc.). Verwunderlich an den Daten in (1b) ist, dass alle unbetonten Vokale gegen Ende der althochdeutschen Sprachperiode zu [ə] reduziert werden oder gänzlich schwinden. Der Auslöser für den Umlaut, das unbetonte i in der Folgesilbe, ist also im Mittelhochdeutschen, als die Umlaute schriftlich wiedergegeben werden, gar nicht mehr vorhanden. Unter (1c) sind Beispiele für den i-Umlaut der übrigen velaren Vokale in mittelhochdeutschen Texten aufgeführt. In althochdeutschen Texten fehlt die Umlautmarkierung noch bei allen Langvokalen und Diphthongen sowie bei den Kurzvokalen o und u (ahd. swāri, loubir, wurfil), die im Mittelhochdeutschen dann auftauchen (mhd. swære, löuber, würfel). Wieder gilt, dass das i, das den Umlaut ausgelöst haben muss, bereits im Althochdeutschen reduziert wird und im Mittelhochdeutschen − wenn überhaupt − nur als [ə] weiterbesteht. Die Lösung dieses Rätsels hat Freeman Twaddell (1938) vorgestellt. Der Ansatz wurde im Weiteren von Penzl (1949), Marchand (1956), Antonsen (1961, 1964) und anderen ausgebaut. (2) Standard-Hypothesen zum althochdeutschen i-Umlaut (2a) Phonetische Hypothese: i und j sind die ursprünglichen Auslöser des Umlauts im Althochdeutschen. (2b) Phonemische Hypothese: Im Althochdeutschen gab es allophonische Umlautvarianten: ahd. /u/ → [u, y], /o/ → [o, ø], /ɑ/ → [ɑ, a, e]. (2c) Graphemische Hypothese: In den althochdeutschen Texten wurden Vokalphoneme verschriftlicht, nicht allophonische Varianten: ahd. /u/ → 〈u〉, /o/ → 〈o〉 Besonderheit: [e] → 〈e〉
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Die Phonetische Hypothese (2a) besagt, dass i und j die Auslöser des Umlauts im Althochdeutschen sind. Nach der phonemischen Hypothese (2b) traten alle Umlaute bereits zu Beginn der althochdeutschen Sprachperiode als allophonische Varianten auf: Die Phoneme /u/ und /o/ hatten zwei Allophone − hinteres [u]/[o] und vorderes [y]/[ø]; das Phonem /ɑ/ besaß drei Allophone: ein hinteres [ɑ] und zwei vordere [a] und [e]. Entscheidend ist nun die Graphemische Hypothese (2c). In der Regel werden nur Phoneme, nicht aber Allophone verschriftlicht. Bezogen auf das Althochdeutsche heißt das: Repräsentiert wurden nur die Vokalphoneme /ɑ, o, u/ durch die entsprechenden lateinischen Vokalbuchstaben 〈a, o, u〉. Eine Besonderheit stellt dabei der Umlaut a > e dar, der schon sehr früh mit dem lateinischen Buchstaben 〈e〉 wiedergegeben wurde, denn hier musste nicht erst ein neues Schriftzeichen (wie für [y] und [ø]) erfunden werden.1
2 Das Problem: ahd. i ohne i-Umlaut Kommen wir zum eigentlichen Problem: dem Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben. Hier fehlt der Umlaut seit ältester Zeit. Sowohl aus phonologischer als auch aus morphologischer Sicht wäre bei ahd. sazti, branti, wanti der Umlaut zu erwarten. Aus phonlogischer Sicht sollte das -ī der Optativ-Flexive den Umlaut auslösen. Auch morphologisch gesehen markiert der Umlaut im Allgemeinen sowohl den Optativ als auch das Präteritum, z.B. bei den starken Verben oder den Präterito-Präsentien. (3) Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben im Althochdeutschen (Braune/Reiffenstein 2004: § 26 Anm. 2, § 361 Anm. 1) ahd. sezzen − sazti ‚setzen (Inf.− Opt. Prät.)‘ ahd. brennen − branti ‚brennen (Inf.− Opt. Prät.)‘ ahd. wenten − wanti ‚wenden (Inf.− Opt. Prät.)‘ nach phonologischer Regel zu erwarten wären: *sezti, *brenti, *wenti
|| 1 Diese Standard-Hypothesen waren schon immer umstritten und wurden auch in den letzten Jahrzehnten immer wieder angegriffen. Insbesondere Iverson und Salmons (1996, 1999, 2003 u.a.) sowie Voyles (1991, 1992 u.a.) haben zuletzt in einer ganzen Reihe von Beiträgen darzulegen versucht, dass Primär- und Sekundärumlaut zwei strukturell und zeitlich zu unterscheidende Prozesse seien. Ohne hier auf die Argumente und vorgeschlagenen Alternativen im Einzelnen eingehen zu können, bleibt festzustellen, dass Twaddells Ansatz noch immer die plausibelste Erklärung für das Umlauträtsel bietet.
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(4) Konjunktiv Präteritum der rückumlautenden Verben im Mittelhochdeutschen (Paul 2007: § M 70 Anm. 14) mhd. wænen − wânde < ahd. wānen − wānti ‚wähnen‘ mhd. hœren − hôrte < ahd. hōren − hōrti ‚hören‘ mhd. grüezen − gruozte < ahd. gruozen − gruozti ‚grüßen‘ Da im Althochdeutschen nur der Primärumlaut schriftlich wiedergegeben wird, kann der Rückumlaut im Althochdeutschen nur für den kurzen Stammvokal a nachgewiesen werden. Ein Blick auf die mittelhochdeutschen Verhältnisse zeigt jedoch, dass sich die Rückumlautverben mit Stammvokal /ɑː, o(ː), u(ː)/ parallel verhalten: im Mittelhochdeutschen fehlt auch ihnen der Umlaut und es heißt z.B. mhd. hœren − hôrte < ahd. hōren − hōrti, vgl. (4).
3 Bisherige Erklärungsversuche und ihre Probleme Werfen wir zunächst einen Blick auf die bisher vorgeschlagenen Erklärungen für das Unterbleiben des Umlauts im Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben. Einige Autoren haben umlauthindernde Konsonantenverbindungen als Grund genannt (Brinkmann 1931: 87; Baesecke 1918: 26; Wilmanns 1897: 252). In ahd. dualti, zalti, harti könnte der Umlaut unterblieben sein, weil die Verbindungen l oder r+Konsonant den Umlaut hinderten. Aber der Primärumlaut fehlt auch in ahd. branti, hangti, sazti etc., die gar keine umlauthemmende Konsonanz haben. Außerdem wäre zumindest im Mittelhochdeutschen der Sekundärumlaut zu erwarten. Es heißt mittelhochdeutsch aber nicht *bränte, *hängte, *säzte, sondern brante, hangte, sazte. Eine weitere mögliche Begründung, die von Robinson (1980: 451) diskutiert und verworfen wird, lautet: Silben mit Nebenton bzw. mit Langvokal, wie die Optativendungen -ī/-īn, lösten Umlaut nicht aus. Als Beispiel können die von Adjektiven abgeleiteten Feminina ahd. argī, baldī, ganzī (z.B. bei Otfrid) angeführt werden. Auch ihnen fehlt im Althochdeutschen gelegentlich der Primärumlaut. Aber spätestens im Mittelhochdeutschen wäre doch Umlaut zu erwarten. Aus ahd. argī, baldī, ganzī wird mhd. erge, belde, genze. Aber aus ahd. branti, hangti, sazti wird nicht mhd. *brente, *hengte, *sezte. Außerdem hat das Optativ-Flexiv -ī in anderen Verbklassen durchaus den Umlaut ausgelöst, wie z.B. beim Präterito-Präsens ahd. magan. Hier lautet der Optativ ahd. megi − mehti. Und auch durch vergleichbare Derivationssuffixe tritt Umlaut ein, z.B. -īg in ahd. kreftīg. Joseph Voyles (1991: 170‒171) vermutet, dass die doppelte Morphemgrenze bei den Rückumlautverben den Umlaut im Präteritum verhindere. Eine einfache Morphemgrenze wie in ahd. /gast+i/ lasse den Umlaut zu, aber durch das Dentalsuffix -t- entstehe bei den schwachen Verben eine undurchlässige, doppelte Morphem-
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grenze. Deshalb müsse ein Wort wie /zal+t+īn/ umlautlos bleiben. Demnach dürften allerdings auch andere Wörter mit doppelter Morphemgrenze wie z.B. ahd. /far+t+i/ ‚Fahrt (Gen./Dat. Sg.)‘ keinen Umlaut haben. Trotzdem heißt es ahd. ferti, nicht *farti. Voyles’ Vorschlag scheidet daher aus. Eine Erklärung durch Analogie nach dem Indikativ wurde von Orrin Robinson vorgeschlagen (Robinson 1980: 455; vgl. auch Franck 1909: 19). Das Fehlen des Umlauts markiere bei den rückumlautenden Verben gerade das Präteritum. Durch den Umlaut im Optativ Präteritum wären die Präteritumstämme mit den Präsensstämmen zusammengefallen. Gegen diese Begründung spricht allerdings, dass die betroffenen Wortformen aufgrund ihrer Flexionsendungen (insbesondere das -t- des Dentalsuffixes) distinktiv geblieben wären. Zudem gab es durchaus präteritale Nebenformen mit Umlaut, wie ahd. zelitun neben zaltun. Warum findet sich nie ahd. *zalitun mit rückgenommenem Umlaut? Problematisch ist außerdem, dass sich in anderen Verbklassen der Umlaut durchaus als Optativ- und Präteritum-Markierung etabliert; dies zeigt sich sowohl bei den starken Verben des Mittelhochdeutschen (vgl. Ind. Prät. nam − Konj. Prät. næme) als auch bei den Präterito-Präsentien (wie mhd. muoste − müeste) oder dem Verb mhd. dâhte − dæhte. Der neueste Vorschlag stammt von Paul Kiparsky (2009: 113‒114) und bezieht sich auf prosodische Wortgrenzen. Das Präteritum der schwachen Verben hat seinen Ursprung in periphrastischen Konstruktionen. Der Verbstamm wurde nominalisiert und die Präteritalformen von ‚tun‘ *dō-/*dē- angehängt. Aufgrund dieser Herkunft sind schwache Verben auch noch im Althochdeutschen prosodische Komposita. Ahd. [[bran]ω[tī]ω]ω ist prosodisch gesehen wie ein Kompositum strukturiert und besteht aus zwei prosodischen Wörtern. Der Umlaut wirkt nun im Althochdeutschen nicht über prosodische Wortgrenzen hinweg, z.B. nicht in Komposita wie ahd. gast-wissi ‚Aufenthalt‘ oder kraft-līh ‚stark‘. Damit kann Kiparsky zwar das Unterbleiben des Primärumlauts erklären, der Sekundärumlaut wäre aber trotzdem zu erwarten, wie etwa bei den prosodischen Komposita mit -līh: ahd. [[al]ω[-līh]]ω, [[taga]ω[-līh]]ω, [[scant]ω[-līh]]ω entsprechen mhd. ällich, tägelich, schäntlich (Paul 2007: § L 16 Anm. 5). Und auch der Konjunktiv Präteritum hat im Mittelhochdeutschen Sekundärumlaut, der natürlich auf die i-haltige Flexionssilbe des Althochdeutschen zurückgeht. Der Konjunktiv Präteritum zu mhd. denken lautet dæhte < ahd. dāhtī. Ebenso verhält es sich bei den Präterito-Präsentien wie mhd. mugen/mügen − Konj. Prät. mehte/möhte < ahd. Opt. Prät. mahtī (Paul 2007: § M 89, § M 94). Die prosodische Wortgrenze erklärt also nur das Fehlen der Hebung zu Primärumlaut-e, nicht aber das Fehlen des Sekundärumlauts.
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4 Ein neuer Vorschlag Meine erste These lautet nun: „Umlautphonemisierung vollzieht sich durch das Aussetzen der Koartikulationskompensation.“ Koartikulation bedeutet, dass die Artikulation eines Lautes von benachbarten Lauten beeinflusst wird. Auch die Vokale des Althochdeutschen unterlagen der Koartikulation mit benachbarten Lauten. In Abb. 1 ist die Variation der Vokale im Althochdeutschen schematisch dargestellt.2
Vor der Umlautphonemisierung i
(y) ë
u (ø) (a)
o ɑ
Nach der Umlautphonemisierung i
u
y ø
ẹ/ë a
o ɑ
Abb. 1: Schematische Darstellung der artikulatorischen Streubereiche
Die linke Grafik zeigt die Streubereiche der Vokale im Vokaltrapez vor der Umlautphonemisierung. Die Sprecher müssen z.B. zur Artikulation eines /i/ die Zunge weit nach vorne oben nahe der Schneidezähne bringen. Es spielt dabei keine Rolle, wo genau die Zunge landet. Wichtig ist nur, dass sie sich irgendwo im Umkreis des Artikulationszieles /i/ befindet. Gleiches gilt für das /ë/. Die Vokale /u, o, ɑ/ haben einen besonders weiten Streubereich. Bei diesen Lauten kommt es nicht so sehr darauf an, ob die Zunge eher vorn oder eher hinten im Mundraum liegt. Vielmehr sind bei der Artikulation von /u/ und /o/ die Lippenrundung und die Vokalhöhe von Bedeutung, bei der Artikulation von /ɑ/ ist die tiefe Zungenlage entscheidend. Wenn nun im Frühalthochdeutschen ein unbetontes /i/ in der Folgesilbe stand, so bewirkte dieses /i/, dass vorangehende betonte /u, o, ɑ/ weiter vorne im Mundraum artikuliert wurden, nämlich als [y, ø, a]. Physiologisch steckt Folgendes dahinter: Nimmt man die Zungenstellung des /i/ und kombiniert sie mit der Lippenrundung des /u/, so erhält man [y]. Umgekehrt gilt dasselbe: Artikuliert man ein /u/ und schiebt die Zunge währenddessen nach vorne, so landet man wiederum beim
|| 2 Zur phonetischen Erklärung vokalischer Assimilationsprozesse durch Koartikulation siehe schon Öhman (1966), Butcher/Weiher (1976) u.a.
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[y]. Genau das taten die Sprecher des Althochdeutschen, als sie die hinteren Vokale umlauteten. Schon während der Artikulation des /u/ nahmen sie die Zungenstellung des /i/ voraus. Im Ergebnis sprachen sie [y] statt [u]. Ganz parallel verhält es sich mit [ø] und [a]. Schiebt man während der Artikulation eines [o] die Zunge nach vorne, erhält man ein [ø], und aus [ɑ] wird [a]. Diese ganz natürliche Vorwegnahme der vorderen Zungenstellung des /i/ während der Artikulation von /ɑ, o, u/ wurde von den Hörern zunächst gar nicht bewusst wahrgenommen. Die Koartikulation wurde also kompensiert.3 Da [y], [ø] und [a] nicht als eigenständige Laute wahrgenommen wurden, sind sie in der schematischen Darstellung in Abb. 1 auf der linken Seite eingeklammert. Sie stellten keine eigenständigen Artikulationsziele dar, sondern ergaben sich nur durch Koartikulation mit einem /i/ der Folgesilbe. Im Laufe der Zeit muss sich die Koartikulation aber immer weiter verstärkt haben, und zwar so weit, dass gegen Anfang der althochdeutschen Sprachperiode die jüngeren Hörergenerationen die Koartikulation nicht mehr kompensieren konnten. Diese jüngeren Generationen nahmen einen Unterschied zwischen den Lauten a, o, u auf der einen Seite und den Lauten ä, ö, ü, ẹ auf der anderen Seite wahr. Wenn die Eltern ihren Kindern ein Wort wie ahd. wurfil (realisiert als [wyrfil]) beibrachten, so hörten die Kinder deutlich ein [y] in der ersten Silbe und kompensierten die Koartikulation nicht, d.h. sie verarbeiteten das gehörte Wort nicht in dem Sinne, dass die Eltern eigentlich /wurfil/ sagen wollten und nur durch Koartikulation das /u/ zu einem [y] geworden sei. Auf kognitiver Ebene wurden also die Umlautvarianten von den ursprünglichen Hinterzungenvokalen entkoppelt. Ab dann bildeten /y, ø, a/ eigenständige Artikulationsziele mit jeweils eigenen Streubereichen, wie in Abb. 1 auf der rechten Seite dargestellt ist. Das Aussetzen der Koartikulationskompensation ist nun eine Voraussetzung dafür, dass die Abschwächung der Koartikulationsauslöser nicht in einer Veränderung der koartikulierten Laute resultierte. Angewandt auf unser Problem: Das [i], das den Umlaut ursprünglich auslöste, wurde ab dem 9. Jahrhundert in den Nebensilben zu [ə] reduziert. Weil [ə] im Gegensatz zu [i] keine umlautähnliche Koartikulation bewirkt, hätte die Koartikulation in den Stammvokalen zurückgehen müssen. Auf lautlicher Ebene blieb im Althochdeutschen jedoch alles beim Alten, weil die Umlautallophone für die jüngeren Sprecher bereits eigene Artikulationsziele darstellten. Die palatalen Vokalvarianten hingen nicht mehr davon ab, dass ein [i] oder [j] folgte.4
|| 3 Die Kompensation der Koartikulation ist Gegenstand zahlreicher phonetischer Studien seit den 1980er Jahren, siehe unter anderem Mann/Repp (1980, 1981) oder auch Fowler (1981, 2006). 4 Auf die Bedeutung dieses Entwicklungsschrittes hat Ronneberger-Sibold (1990) bereits hingewiesen und ihn in semiotischer Hinsicht detailliert erläutert. Die neu entstandenen Einheiten, also die Umlautallophone, werden demnach von den Sprechern als Index auf die alten Einheiten, also auf
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Die Phonemisierung der Umlaute erfolgte in (mindestens) vier Phasen, die unter (5)–(5d) beschrieben sind. (5) Phonemisierung der Umlautvokale in vier Phasen
a → b = ‚a wird artikulatorisch realisiert als b‘ c ⇒ d = ‚c wird phonemisch interpretiert als d‘ (5a) Phase 1: Sprecherseitige Koartikulation und hörerseitige Kompensation der Koartikulation (= allophonische Umlautphase)
ältere Sprecher: /wurfil/ → [wyrfil] jüngere Hörer: [wyrfil] ⇒ /wurfil/ (5b) Phase 2: Sprecherseitige Koartikulation, aber keine hörerseitige Kompensation (= kognitive Entkoppelung von den Umlautauslösern)
ältere Sprecher: /wurfil/ → [wyrfil] jüngere Hörer: [wyrfil] ⇒ /wyrfil/ (5c) Phase 3:Weitere Wirkung der Koartikulation und damit Entwicklung neuer artikulatorischer Streubereiche (= Stärkung der Opposition zw. /u, o, ɑ/ und /y, ø, a/)
ältere Sprecher: /wyrfil/ → [wyrfil] jüngere Hörer: [wyrfil] ⇒ /wyrfil/ (5d) Phase 4: Reduktion der Nebensilbenvokale und damit Morphologisierung des Umlauts (= Phonemisierung im strukturalistischen Sinne)
ältere Sprecher: /wyrfil/ → [wyrfəl] jüngere Hörer: [wyrfəl] ⇒ /wyrfəl/ Wie kommt es dazu, dass der Umlaut im Optativ Präteritum der rückumlautenden Verben unterbleibt? Entscheidend ist Phase 2: Die ältere Generation koartikuliert, die jüngere Generation kompensiert die Koartikulation aber nicht mehr, sondern fasst die Umlautvokale als bewusst angesteuerte Artikulationsziele auf. Nun gibt es bestimmte Wortformen, die relativ häufig gebraucht werden und denen die Spracherwerber daher auch oft ausgesetzt sind, z.B. die Präteritumformen des Rückumlautverbs zellen [tsɑltɑ, tsɑltoːs, tsɑltum, tsɑltut, tsɑltun]. Der Optativ Präteritum dagegen ist eine relativ selten gebrauchte Kategorie, die entsprechenden Wortformen [tseltiː, tseltiːs, tseltiːm, tseltiːt, tseltiːn] werden daher nicht oft gehört. Dass der Optativ Präteritum selten gebraucht wird, merkt man bereits, wenn man in || die Umlautauslöser [i, j], aufgefasst. Diese Indexfunktion der Umlautvokale bereitet ihre spätere strukturelle Selbständigkeit vor.
Koartikulationskompensation und Irregularität | 123
Graffs Wörterbuch die Belege für die rückumlautenden Verben durchgeht. Es ist kein Problem, Beispiele für präteritale Formen zu finden. Aber keines der von mir nachgeschlagenen Rückumlautverben ist in allen Flexionsformen des Optativs Präteritum belegt. Meist sind nur ein oder zwei Formen angegeben (und zwar die 3. Person Singular und Plural). Es folgt daraus, dass die Spracherwerber der jüngeren Generation den Präteritumstamm /zal-/ bzw. /zal-t-/ lexikalisieren. Da sie die Umlautvokale /y/, /ø/, /e/, /a/ als eigene Artikulationsziele auffassen, entstehen auch keine Umlautvokale mehr durch Koartikulation. Bei Bedarf werden die Formen des Optativ Präteritum gebildet, indem an den Präteritumstamm /zal-/ bzw. /zal-t / die Optativ-Endung angehängt wird. Die jüngeren Sprecher sagen also [tsɑlti] statt [tselti]. Eine Ausnahme dazu bilden allerdings hochfrequente Wörter bzw. solche Wörter, die häufig im Optativ Präteritum gebraucht werden. Untersucht man etwa die Präterito-Präsentien, so zeigt sich, dass sie im Optativ Präteritum den Umlaut durchaus behalten. Im Mittelhochdeutschen etwa lauten die Präteritumformen von dürfen: dorfte im Indikativ und dörfte im Konjunktiv Präteritum. Auch ein Wort wie mhd. denken wird durchaus öfter mal irreal gebraucht. Dementsprechend häufig sind die Optativformen im Althochdeutschen belegt (nur die 2. Pl. im Opt. Prät. fehlt bei Graff). Im Mittelhochdeutschen zeigt sich, dass hier der Umlaut bewahrt geblieben ist. Die Präteritumformen der 3. Sg. lauten mhd. dâhte (Ind.) − dæhte (Konj. Prät.).5 Diese Erklärung für die Umlautschwankungen im Optativ Präteritum lässt sich ohne Weiteres ausweiten auf alle Verben, die ihr Präteritum schwach bilden. Der Umlaut ist nur in hochfrequenten Wörtern erhalten. Niederfrequente Wörter haben schon seit althochdeutscher Zeit keinen Umlaut im Optativ Präteritum. Allerdings zeigt sich dies in keiner anderen Kategorie so deutlich wie bei den rückumlautenden Verben.
5 Fazit Der Grundstein für phonologische Irregularitäten kann bereits in der allophonischen Phase eines Lautwandels gelegt werden. Entscheidend dafür ist die Phonemisierungsphase 2, wenn ältere Sprechergenerationen zwar noch Koartikulation aufweisen, die jüngeren Hörergenerationen diese Koartikulation jedoch nicht mehr kompensieren. Dieses Ausbleiben der Kompensation führt dazu, dass Lautvarianten nur in hochfrequenten Wortformen erlernt werden. Bei selten gebrauchten Wort-
|| 5 Vgl. auch Nübling (2000) sowie Nübling/Dammel (2004) zum Einfluss der Gebrauchsfrequenz auf die Regularität und Irregularität der Formbildung.
124 | Jan Henning Schulze
formen wird die Alternanz schlicht nicht miterlernt. Was anschließend als morphologisch bedingte Ausnahme erscheint, z.B. das Unterbleiben des Umlauts im Optativ Präteritum, ist nicht auf einen aktiven morphologischen Prozess oder eine aktive morphologische Beschränkung zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein passiv herbeigeführtes Ergebnis. Die Gebrauchsfrequenz wirkt sich auf die Lexikalisierung der Alternanzen aus.
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Koartikulationskompensation und Irregularität | 125
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Jessica Nowak
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben im Deutschen 1 Das Phänomen ‚8. Ablautreihe‘ Regularisierungen im verbalmorphologischen Bereich stehen symptomatisch für den Übergang starker Verben in die schwache Klasse. Doch wie sind bloße Veränderungen der Ablautstruktur bei starken Verben zu beurteilen, bei denen offensichtlich eine reduzierte, zweivokalische Alternanz entsteht? Das Verb melken unter (1) ist ein solcher Fall: Melken bildet im Zuge des präteritalen Numerusausgleichs eine vereinfachte Alternanz e-o-o heraus und entzieht sich damit der regulären Entwicklung zu einer dreivokalischen Ablautalternanz e-a-o wie bei helfen, vgl. (1): (1)
fnhd. melken – malk – mulken – gemolken
*reg. melken – malk – gemolken nhd. melken – molk – gemolken
reg. fnhd. helfen – half – hulfen – geholfen
nhd. helfen – half – geholfen
Man könnte die Entwicklung von melken – das wäre die einfachste Lösung – nur als analogische Übertragung des Part. II-Vokals o auf das gesamte Präteritum abtun und das Verb als ‚Ausreißer‘ abstempeln. Doch damit würde man einen Analogieprozess größeren Ausmaßes und das dahinterstehende Movens einfach unter den Teppich kehren, denn Fälle wie die unter (1) sind gewiss keine Einzelfälle und bestimmt keine Zufälle. So verändern im Zuge des präteritalen Numerusausgleichs insgesamt 24 starke Verben verschiedener Ablautreihen (AR 3–6) ihre Alternanz zu oPrät. – oPart.II nach dem Vorbild von Reihe 2, also von Verben wie bieten – bot – geboten oder schließen – schloss – geschlossen. Tab. 1 liefert eine Übersicht über die Verben, die an diesem Analogieprozess beteiligt waren.
128 | Jessica Nowak
Tab. 1: Die ‚8. Ablautreihe‘ im frühen Neuhochdeutschen AR
Verben
Anzahl
3a
glimmen, klimmen
2
3b
bellen, melken, quellen, schellen (> nhd. schallen), schmelzen, schwellen, werren (> nhd. wirren)
7
4
dreschen, fechten, flechten, löschen, rächen, scheren, schwären, verhehlen
8
5
bewegen, gären, pflegen, weben, wägen
5
6
heben, schwören
2 Gesamt:
24
Im Ergebnis entsteht durch den Zusammenschluss mehrerer starker Verben eine noch auf starken Klassenmerkmalen fußende, aber in ihrer Ablautstruktur stark vereinfachte Sonderklasse mit der Alternanz x-o-o (x als relativ beliebiger, meist palataler Inf.-Vokal), für die die Bezeichnung einer ‚8. Ablautreihe‘ geeignet erscheint (s. auch Nowak 2010). Obwohl aus natürlichkeitstheoretischer Sicht nur der Übergang irregulärer oder starker Verben in die schwache Klasse als Regularisierung angesehen wird (s. Kap. 2) und daher eine Veränderung der Ablautstruktur und damit das Verharren am modulatorischen Tempusausdruck mittels Ablaut kein hinreichendes Kriterium für das Vorliegen von Regularisierungen ist, wird hier für die These argumentiert, dass es sich bei der Übernahme von x-o-o um eine – wenn auch partielle Regularisierung bei starken Verben handelt (s. Kap. 3). Weiterhin – und auch hier entgegen der natürlichkeitstheoretischen Annahme, Regularisierungen ergäben sich aus dem grundsätzlichen (Be-)Streben nach ikonischen und transparenten morphosemantischen Strukturen –, soll nachgewiesen werden, dass rückläufige bzw. niedrige Gebrauchsfrequenzen die Vereinfachung der Ablautstruktur zu x-o-o motivieren (s. Kap. 4).
2 (Ir-)Regularität(sgrade) bei starken Verben Wie bereits angeklungen ist, haben Veränderungen der Ablautstruktur bei starken Verben wie die unter (1) im Regularisierungskonzept der morphologischen Natürlichkeitstheorie nach Mayerthaler (1981) und Wurzel (1984, ²2001) keinen Platz. Das liegt daran, dass sich Regularisierungen starker Verben aus natürlichkeitstheoretischer Sicht nur im Übergang in die schwache Klasse manifestieren und somit über segmental-additive Prozesse laufen, bei denen die arbitrarisierten modulatorischen Symbolisierungsverfahren starker Verben von den rein affigierenden Ausdrucksverfahren schwacher Verben abgelöst werden (vgl. z.B. Mayerthaler 1981,
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 129
Wurzel 1984/²2001, 1994a, 1994b), vgl. z.B. die Beseitigung der Wechselflexion in der 2./3. Sg. Präs. (bäckst, -t > backst, -t) oder des Ablauts im Prät. Ind. (buk > backte). Dass schwache Verben als regulär (= „maximal natürlich“) und somit Ziel verbalmorphologischen Wandels betrachtet werden, hat zwei Gründe: erstens ihre hohe Typenfrequenz (ca. 4.000 Verben) und uneingeschränkte Produktivität; zweitens ihre transparente und wurzeluniforme Tempusbildung (Typ AAA, sagen – sagte – gesagt). Diese ist aufgrund des segmental-additiven Ausdrucksverfahrens maximal ikonisch und entspricht dem Prinzip ‚eine Funktion (z.B. Prät.) = eine Form (→ Dentalsuffix)‘ – ist also auch uniform. Die starken Verben zeichnen sich dagegen mit ihren rund 50 Möglichkeiten des Tempusausdrucks durch eine reichhaltige Allomorphie aus und verletzen damit das Uniformitätsprinzip (vgl. Nübling 2002: 98). Darüber hinaus nutzen sie zur Formenbildung ein weniger ikonisches Symbolisierungsverfahren, nämlich die Modulation (z.B. Ablaut: geben – gab, Wechselflexion: geben – gibst, -t). Das führt nicht nur zu Stammallomorphie innerhalb des Paradigmas, sondern verstößt gegen das Transparenzgebot: Eine starke Präteritalform wie gab lässt sich im Gegensatz zu einer schwachen Form wie sag-t-e nicht weiter in ihre morphologischen Einzelbestandteile zerlegen. Nicht nur die Formenbildung starker Verben rückt diese vom natürlichkeitstheoretischen Ideal schwacher Verben weg und in Richtung irregulärer Flexion (= „minimal natürlich“). Auch hinsichtlich der Typenfrequenz und Produktivität können die starken Verben mit der schwachen Großklasse nicht „mithalten“: Sie sind weder typenfrequent (ca. 160 Verben) noch produktiv – damit instabil – und treten immer wieder Mitglieder an die schwache Konjugation ab. Der Klassenwechsel von stark > schwach erfolgt dabei weder willkürlich noch in einem Schritt, sondern – wie Bittner (1985, 1996) nachgewiesen hat – etappenweise und in einer festen Reihenfolge. Dies zeigt Abb. 1 in vereinfachter Weise am Beispiel von bellen unter (a). Zuerst werden (sofern vorhanden) der e/i-Wechsel im Imp. Sg. und die Wechselflexion in der 2./3. Sg. Präs. abgebaut, gefolgt vom ablautenden Prät. Ind. (und damit einhergehend dem Konj. II1). Zuletzt „fällt“ das starke Part. II. Diese Etappen des Abbaus starker Merkmale werden auch von der Diachronie gestützt (vgl. Nowak 2013). Die Skala in Abb. 1 lässt sich zudem als gerichtete Implikation lesen: Besitzt ein Verb den e/i-Wechsel im Imp. Sg., so weist es auch alle anderen starken Flexionscharakteristika rechts davon auf, vgl. helfen in Abb. 1 (b);
|| 1 Im Bittnerschen Modell (1985, 1996) wird bei starken Verben das Prät. Ind. vor dem Konj. II abgebaut. Allerdings wird der Konj. II über Umlautung des Prät. Ind.-Vokals gebildet, d.h., wird das Prät. Ind. schwach, so geht damit automatisch die Ableitungsbasis für den Konj. II verloren und demnach dürften diese beiden Positionen im Paradigma eher gemeinsam als strikt nacheinander wegfallen. Dies bestätigen auch die Angaben der Duden-Grammatik (2009: 491‒502): Alle Verben, die im Prät. Ind. zwischen starker und schwacher Konjugation schwanken, sind auch im Konj. II instabil. In Abb. 1 wurde der Einfachheit halber der Konj. II weggelassen.
130 | Jessica Nowak
umgekehrt kann man von einem starken Part. II wie gemahlen jedoch nicht auf weitere starke Eigenschaften schließen (vgl. mahlte usw.), vgl. Abb. 1 (b). Imp. Sg.
Präs. Sg.
Prät. Ind.
e/i-Wechsel
Wechselflexion
Ablaut
Part. II -en-Endung
(2./3.Pers.)
(1./3. Sg.: -Ø)
(+ Ablaut)
(a) Abbau starker Merkmale:
Bill! → Bell!
bill(s)t → bell(s)t boll → bellte
gebollen → gebellt
(b) gerichtete Implikation:
Hilf!
⊃
hilf(s)t
⊃
half
⊃
geholfen
Mahl!
⊄
mahl(s)t
⊄
mahlte
⊄
gemahlen
Abb. 1: Etappen des Abbaus starker Merkmale bei nhd. Verben (modifiziert; n. Bittner 1985, 1996)
Aus dieser Beobachtung des stufenweisen Abbaus starker Flexionsklassenmerkmale heraus wird schnell deutlich, dass eine rein dichotomische Einteilung in ‚maximal natürliche‘ und damit reguläre schwache Verben und ‚minimal natürliche‘ und damit (eher) irreguläre starke Verben sehr vergröbernd ist und weiter verfeinert werden kann. Das bedeutet, ob und inwieweit (Ir-)Regularität bei nhd. Verben vorliegt, lässt sich nicht nur an der Ikonizität, Uniformität und Transparenz der Tempussymbolisierung und des dabei genutzten Ausdrucksverfahrens (z.B. Affigierung, Modulation) festmachen, sondern kann zudem über das spezifische Flexionsverhalten der Verben definiert werden. Basierend auf der Implikationsskala aus Abb. 1 hat Bittner (1985, 1996) ein stark-schwach-Kontinuum aufgestellt, in dem mehrere Übergangsklassen zwischen dem ‚prototypisch starken‘ und ‚prototypisch schwachen‘ Pol vermitteln. Dies illustriert Abb. 2 an ausgewählten Beispielen. prototypisch stark prototypisch schwach Imp. Sg. 2./3. Sg. Präs. Prät. Ind. Part. II e/i-Wechsel Wechselflexion Ablaut -en-Endung/Ablaut | ----------------------- | ---------------------------| ------------------------ | -------------------------- | helfen fallen singen mahlen sagen Hilf! Fall! Sing! Mahl! Sag! hilfst, -t fällst, -t singst, -t mahlst, -t sagst,-t half fiel sang mahlte sagte geholfen gefallen gesungen gemahlen gesagt
stehen stand gestanden (suppletiv) 1 Vb.
gehen ging gegangen (suppletiv) 1 Vb.
singen sang gesungen (Typ ABC) 20 Vb.
reiten ritt geritten (Typ ABB) 22 Vb.
rufen rief gerufen (Typ ABA) 1 Vb.
Abb. 2: Stark-Schwach-Kontinuum der nhd. Verben (modifiziert; nach Bittner 1985, 1996)
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 131
Die einzelnen (Ir-)Regularitätsgrade von Verben lassen sich über die starken Flexionscharakteristika, die auf der waagerechten Achse aufgetragen sind, bestimmen. Hiernach ist ein Verb wie helfen ‚prototypisch stark‘, weil es hinsichtlich der Kategorienmarkierung den höchsten Komplexitätsgrad aufweist, m.a.W. alle starken Charakteristika vom e/i-Wechsel im Imp. Sg. bis hin zum starken Part. II in sich vereint. Von links nach rechts nehmen die starken Flexionsklassenmerkmale stufenweise ab – in Abb. 2 durch die graue Schriftfarbe angedeutet –, das Konjugationsverhalten der starken Verben nähert sich damit dem natürlichkeitstheoretischen Ideal schwacher Verben an, in Abb. 2 durch sagen repräsentiert. Für die Einstufung ablautender Verben in mehr oder weniger starke Vertreter dieser Makroklasse spielt aber auch in Bittners Konzept weder die konkrete Ablautalternanz und ihre Typenfrequenz noch der sie konstituierende Distinktionstyp eine Rolle (vgl. Abb. 2). Das soll am Beispiel der in Abb. 2 eingerahmten Teilklasse vom Typ singen demonstriert werden, die sich in weitere Untergruppen auffächern lässt. So stehen bspw. Einzelalternanzen wie rufen – rief – gerufen auf einer Stufe mit typenfrequenten Alternanzen wie singen – sang – gesungen (19 Vb.) oder reiten – ritt – geritten (22 Vb.), weil sie ebenfalls weder im Imp. Sg. noch im Präs. Sg. einen Vokalwechsel aufweisen; ebenso schwach suppletive Verben mit zusätzlichen konsonantischen Modifikationen wie etwa gehen – ging – gegangen oder stehen – stand – gestanden, die nach diesem Modell genauso ‚irregulär‘ wie singen, reiten oder rufen sind, aber ‚regulärer‘ als helfen, s. Abb. 2 (vgl. Bittner 1996: 84, 92). Eine Veränderung der Ablautstruktur von einer drei- zu einer zweivokalischen Alternanz wie von fnhd. heben – hub – gehaben (Typ ABC) > nhd. heben – hob – gehoben (Typ ABB) kann in diesem (Kontinuums-)Modell nicht erfasst werden. Das liegt daran, dass auch die drei Distinktionstypen ABC, ABB und ABA gleichgestellt sind, vgl. singen, reiten und rufen in Abb. 2. M.E. muss bei der Beurteilung des (Ir-)Regularitätsgrades starker Verben nicht nur das Ausmaß an Komplexität der Kategorienmarkierung (e/i-Wechsel, Wechselflexion, etc.) einbezogen werden, sondern auch die konkrete Ablautalternanz, der sie konstituierende Distinktionstyp und die Anzahl ihrer Mitglieder. Dabei geht es hier gewiss nicht darum, um jeden Preis mit endlos vielen Regeln, die von sämtlichen Ausnahmen überschattet werden, Regelhaftigkeit in das längst arbitrarisierte nhd. Ablautsystem ‚reinzupressen‘,2 sondern darum zu zeigen, dass es für starke Verben Zwischenstufen der Regularisierung in Form konkreter Vokalalternanzen gibt.
|| 2 Zu Kritik an synchronen Klassifikationsversuchen für die starken Verben vgl. z.B. Köpcke (1999: 46‒50).
132 | Jessica Nowak
3 Die Alternanz x-o-o als Produkt einer Regularisierung Dadurch, dass natürlichkeitstheoretische Ansätze hinsichtlich der ‚Qualität‘ der konkreten Ablautalternanzen und ihren zugrundeliegenden Distinktionstypen keine Unterschiede treffen, berauben sie sich m.E. der Möglichkeit, weitere (Ir-)Regularitätsgrade, aber auch Regularisierungspfade bei starken Verben aufzudecken. Denn auch der Wandel der Ablautalternanz zu x-o-o bei starken Verben ist das Produkt einer Regularisierung. Diese Regularisierung ist allerdings nur partiell, weil durch den Wandel der Ablautstruktur zu x-o-o weiterhin am modulatorischen Tempusausdruck starker Verben mittels Ablaut festgehalten wird. Diese Regularisierung spielt sich folglich innerhalb der Makroklasse starker Verben ab und manifestiert sich in erster Linie im Abbau morphologischer Komplexität und Differenziertheit bei der Tempussymbolisierung, betrifft also zunächst die intraparadigmatische Ebene. Die meisten Verben der nhd. ‚8. Ablautreihe‘ hätten regulär eine dreivokalische Alternanz ABC herausbilden müssen, unabhängig davon, ob diese wie bei melken in (2) aus dem präteritalen Numerusausgleich resultiert wäre oder – wie bei heben in (3) – fnhd. Verhältnisse fortsetzen würde. Mit der analogischen Übernahme von x-oo vereinfachen diese Verben jedoch ihre Ablautstruktur von einer dreivokalischen zu einer strukturell weniger komplexen zweivokalischen Alternanz ABB3 (s. 2, 3). (2) fnhd. melken – malk – mulken – gemolken > *nhd. melken – malk – gemolken ABC → nhd. melken – molk – gemolken
(3) fnhd. heben – hub – huben – gehaben
ABB
> *nhd. heben – hub – gehaben ABC → nhd. heben – hob – gehoben ABB
Auf diese Weise wird der Tempusausdruck für Prät. und Part. II uniformiert, die Vergangenheitstempora nunmehr durch den Marker o symbolisiert (s. 4). (4)
fnhd. → nhd.
heben – hub – gehaben
Präs. ≠
Prät. ≠ Part. II
heben – hob – gehoben
Präs. ≠
Prät. = Part. II
analog: glimmen, klimmen; bellen, melken, quellen, (er)schallen, schmelzen, schwellen, wirren, dreschen, fechten, flechten, löschen, rächen, scheren, schwären, (ver)hehlen, pflegen, schwören.
|| 3 Auch der weitgehende Funktionszusammenfall (Verlust der Aspektopposition) zwischen Prät. und Perf. begünstigt zudem die Herausbildung von Ablautstrukturen mit einer uniformen Symbolisierung von Prät. und Part. II bei starken Verben, vgl. dazu Dammel/Nowak/Schmuck (2010).
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 133
Von dieser Uniformierungstendenz werden auch die vier ABA-Verben gären, wägen, bewegen und weben erfasst, die sich dem x-o-o-Muster anschließen (s. 5). Auch ihr Distinktionstyp ABA kodiert – ähnlich wie der ABC-Typ in (4) – das Prät. und Part. II mit unterschiedlichen Ablautvokalen (Prät. ≠ Part. II), s. (5). Darüber hinaus ist der Typ ABA trotz seiner zweivokalischen Struktur weniger ikonisch als ABB, weil er den Tempusunterschied durch die Vokalidentität von Präs. und Part. II nicht eindeutig symbolisiert (Präs. = Part. II vs. Prät.), vgl. (5). (5)
fnhd. weben – wab – geweben → nhd. weben – wob – gewoben
A-B-A
Präs. = Part. II ≠ Prät.
A-B-B
Präs. ≠ Prät. = Part. II
Mit der Übernahme von x-o-o wird folglich die Tempussymbolisierung der Verben beider Distinktionstypen (ABC, ABA) lokal optimiert: Nun besteht eine saliente Opposition zwischen dem unmarkierten Kategorienwert Präs. und den markierten Werten der Vergangenheitstempora (= Prät./Part. II), s. (4) und (5). Neben der Vereinfachung der Ablautstruktur bauen die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ auch in anderer Hinsicht Komplexität und Überdifferenzierung in ihrem Paradigma ab, indem sie nämlich – gemäß der Bittner-Skala – starke Flexionsklassenmerkmale wie den e/i-Wechsel im Imp. Sg. und die Wechselflexion in der 2./3. Sg. Präs. aufgeben4 (sofern vorhanden gewesen; vgl. Nowak 2010), s. dazu weben in (6). (6) Abbau starker Flexionsklassenmerkmale bei weben Imp. Sg.
(e/i-Wechsel):
Wib! → Web!
Präs. Sg.
(Wechselflexion):
wibst, -t → webst, -t
Das bedeutet, dass sich das modulatorische Kodierungsverfahren aus den minderrelevanten Person/Numerus-Kategorien zurückzieht und auf die relevante Flexionskategorie Tempus konzentriert5. Tempus versetzt die Verbalhandlung in verschiedene Zeitstufen, affiziert also die Verbsemantik viel stärker und ist damit auch relevanter als die Kongruenzkategorien Person und Numerus, die lediglich Informationen über die Aktanten liefern (vgl. Bybee 1985). Mit zunehmender Relevanz der Kategorie || 4 Nur wenige x-o-o-Verben halten heute noch an der binnenflektierenden Pers./Num.-Symbolisierung im Imp. und Präs. Sg. fest (s. Duden 2009). Doch sind auch diese Fälle im Gegenwartsdeutschen von Abbautendenzen betroffen, entweder durch Nivellierung des Vokalwechsels (z.B. drischt → drescht) oder – wie rezente Stichproben mit google.de zeigen – durch Ausdehnung der i-Formen auf das Gesamtparadigma und die Etablierung eines neuen Infinitivs mit i (z.B. quellen → quillen, erlöschen → erlischen, s. Nowak 2010). 5 Für die Moduskategorie gilt Ähnliches wie für die Tempuskategorie. Modus wurde hier konsequenterweise weggelassen, da auch im Bittnerschen Modell der Abbau des Konj. II als Etappe ausgespart wurde, s. Abb. 1.
134 | Jessica Nowak
erhöht sich auch der Fusionsgrad zwischen Basis und grammatischem Marker, d.h., modulatorische Symbolisierungsverfahren treten in der relevanten Tempuskategorie häufiger auf als in den minderrelevanten Pers./Num.-Kategorien (vgl. Bybee 1985). Daraus kann man folgern, dass Stammalternationen wie Ablaut, die die relevante Tempuskategorie betreffen, als weniger irregulär einzustufen sind als Stammalternationen wie die Wechselflexion, die minderrelevante Kategorien kodieren (vgl. Dammel 2008: 19; Corbett 2007: 25). Folglich regularisieren sich die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ auch in dieser Hinsicht. Neben der Reduktion von Heteromorphismus im Verbalparadigma als maßgebliche Bedingung für das Vorliegen von Regularisierungen spielt auch die Singularität bzw. Generalität der Alternanzmuster, in die starke Verben eingebettet sind, eine Rolle bei der Zumessung von (Ir-)Regularität(sgrad)en (vgl. z.B. Dammel 2008: 11): je typenfrequenter ein Muster, desto regulärer, und umgekehrt. Zieht man also Typenfrequenz als weiteres Kriterium heran, an dem man Regularität festmacht, so ist die Übernahme von x-o-o auch auf interparadigmatischer Ebene als partielle Regularisierung zu betrachten, die über die Einbindung in typenfrequente Muster erzielt wird. So schließen sich die Verben der ‚8. Ablautreihe‘mit der Übernahme von ‚oPrät. = oPart.II‘ dem mitgliederstarken Flexionsmuster von Reihe 2 an: Geht man von den quantitativen Verhältnissen im Mhd. aus, wie sie in Tab. 2 für die drei bestbesetzten Ablautreihen 1, 2 und 3a dargestellt sind, so ist Reihe 2 mit 54 Mitgliedern bzw. einem Anteil von 14 % am Gesamtinventar starker Verben die zweitstärkste Ablautreihe, dicht gefolgt von Reihe 3a mit 52 Verben (= 13 %). Ablautreihe 1 ist mit 91 Mitgliedern (= 24 %) mit Abstand am besten vertreten (Zahlen nach Dammers et al. 1988: §§ 94, 95). Tab. 2: Typenfrequenz der mitgliederstärksten Ablautreihen 1, 2 und 3a im Mhd. AR 1
AR 2
AR 3a
Vb. ges.
91
54
52
prozentualer Anteil
24 %
14 %
13 %
Bsp.
rîten
biegen
singen
Dadurch, dass die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ o im Prät. und Part. II generalisiert und sich damit der 2. Ablautreihe angenähert haben, verdoppelt sich das ursprünglich nur in Reihe 2 enthaltene Flexionsmuster ‚oPrät. = oPart.II‘ zum Nhd. hin: Machte es im Mhd. noch einen Anteil von 14 % am Gesamtinventar starker Verben aus, so sind es heute 28 %, vgl. Tab. 3. Dadurch erfährt das Muster ‚oPrät. = oPart.II‘ eine Stabilisie-
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 135
rung durch ansteigende Mitgliederzahl (Zahlen nach Dammers et al. 1988: §§ 94, 95, 172; Duden 2009: 491–502).6 Tab. 3: Prozentualer Anstieg des Flexionsmusters ‚oPrät. = oPart.II‘ vom Mhd. zum Nhd. Mhd.
Nhd.
st. Vb. ges.
377
164
AR 2 ges.
54 (14 %)
27 (17 %)
AR 8 ges.
---
18 (11 %)
prozentualer Anteil
14 %
28 %
Genau genommen ist das Flexionsmuster ‚oPrät. = oPart.II‘ mit 45 Mitgliedern die typenfrequenteste Alternanz bei starken Verben im Nhd., wenn man vom Präs.-Vokal absieht, s. Tab. 4. Damit hat X-o(:)-o(:) die im Mhd. noch mitgliederstärkste Ablautreihe 1 auf den zweiten Platz verdrängt: Ihrer Alternanz ai-i(:)-i(:) folgen heute ‚nur‘ 38 Verben (= 23 %). Die ehemalige Reihe 3a belegt mit dem Ablautmuster i-a-u weiterhin Rang 3. Tab. 4: Typenfrequenz der mitgliederstärksten Vokalalternanzen im Nhd. X-o(:)-o(:) (< AR 2+8)
ai-i(:)-i(:) (< AR 1)
i-a-u (< AR 3a)
Vb. ges.
45 Vb.
38 Vb.
19 Vb.
prozentualer Anteil
28 %
23 %
12 %
Bsp.
biegen, quellen
reiten, scheiden
singen, trinken
Die konkrete Alternanz x-o-o wird wiederum vom Distinktionstyp ABB starker Verben überdacht, dem knapp über die Hälfte (50,3 %) aller nhd. starken Verben folgen, vgl. Tab. 5. Damit dominiert ABB über die Strukturtypen ABC und ABA, die jeweils rund 30 % bzw. 20 % ausmachen. D.h., die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ haben zum Nhd. hin die beiden typenfrequentiell weniger starken Distinktionsmuster ABC und ABA verlassen und sich mit der Vereinheitlichung von Prät.- und Part.IIVokal zu o in den heute vorherrschenden und damit reguläre(re)n ABB-Typ starker Verben einbettet.
|| 6 Für die in den Tab. 2‒6 aufgeführten nhd. Verhältnisse wurden die Angaben bei Duden (2009: 491‒502) ausgewertet, die sich zusammengefasst in Tab. 11 des Anhangs finden.
136 | Jessica Nowak
Tab. 5: Distribution der nhd. starken Verben über die Distinktionstypen Distinktionstyp
ABB
ABC
ABA
Mitglieder
82 Vb.
49 Vb.
32 Vb.
prozentualer Anteil
50,3 %
30,1 %
19,6 %
Bsp.
reiten, biegen
helfen, singen
geben, fallen
Der Distinktionstyp ABB wiederum ist mit der Opposition ‚Präs. vs. Prät./Part. II‘ in das übergreifende Distinktionsmuster ‚Präs. ≠ Prät. = Part. II‘ schwacher Verben integriert. Somit nähern sich die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ durch die Uniformierung von Prät.- und Part.II-Vokal zu o der ikonischen Tempussymbolisierung der schwachen Klasse an (vgl. Hempen 1988: 306‒307, 317). Der wesentliche Unterschied besteht im Ausdrucksverfahren: modulatorisch vs. segmental-additiv, vgl. schwellen – schwoll/geschwollen vs. sagen – sagte/gesagt. Aber auch die Bindung an einen konkreten Vergangenheitsmarker – dem Vokal o – ist als eine Annäherung an die transparente Tempusbildung schwacher Verben mittels Dentalsuffix zu sehen (vgl. Dammel 2003: 134; s. auch Hempen 1988: 306‒307, 317 und Durrell 2001: 13). Berücksichtigt man, dass o als Präs.-Vokal bei starken Verben mit Ausnahme von kommen und stoßen ungenutzt ist, so ist der Ablautvokal o hinsichtlich der Tempusinformation ‚Vergangenheit‘ (= Prät. + Part. II) salient (zu Details s. Nowak 2013). Darüber hinaus ist das Flexionsmuster ‚oPrät. = oPart.II‘ hinsichtlich des Präs.Vokals relativ offen, wie man Tab. 6 entnehmen kann. Diese gibt eine Übersicht über die bei starken Verben vorkommenden Präs.-Vokalen und darüber, wie die x-oo-Verben und andere Ablautmuster auf diese Vokale zahlenmäßig verteilt sind. Von den neun qualitativ verschiedenen Präs.-Vokalen bei starken Verben treten sechs in Kombination mit dem Flexionsmuster ‚oPrät. = oPart.II‘ auf, nämlich a (erschallen), e (z.B. heben), i (z.B. glimmen), ö (z.B. schwören), ü (z.B. lügen) und au (z.B. saufen). Die letzten drei Präs.-Vokale treten ausschließlich bei x-o-o-Verben auf, a dagegen nur bei erschallen; am häufigsten wird das x mit den Präs.-Vokalen e und i besetzt (15 bzw. 24 Vb.), vgl. Tab. 6. Bedenkt man zudem, dass u nur bei rufen und o nur bei kommen und stoßen vorkommt und im letzten Fall in Kombination mit oPrät. – oPart.II der Tempusausdruck unter Homophonien leiden würde (z.B. ich komm ‚Präs. *= Prät.‘), so schließen sich lediglich der Diphthong ai7 im Präs. und die Alternanz ‚oPrät. = oPart.II‘ gegenseitig aus. Das bedeutet, dass sich der Marker -o- hinsichtlich seiner tempusanzeigenden Funktion bis zu einem gewissen Grad dearbitrarisiert hat. Überspitzt formuliert: o rückt dadurch in die Nähe eines uniformen und transparen-
|| 7 Der Diphthong ai mit postvokalischem Plosiv/Frikativ steht für ein relativ starkes phonologisches Schema bei ablautenden Verben und impliziert die Alternanz ai-i-i (Ausnahme: heißen), zu Details s. Köpcke (1999: 54‒55).
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 137
ten Vergangenheitsmarkers für starke Verben und ist hier vergleichbar mit dem Dentalsuffix der schwachen Klasse (zu Details s. Nowak 2013). Tab. 6: Verteilung des Flexionsmusters oPrät. – oPart.II und anderer Ablautmuster auf die Präs.-Vokale bei starken Verben
Nr.
Präs.Vokal Flexionsmuster oPrät. – oPart.II Anzahl
Beispiel
andere Ablautmuster Anzahl
ges.
Beispiel
1.
ɑə/a
1
erschallen
17
fahren, fallen
18
2.
eə/ǫ
15
heben, gären
32
nehmen, helfen
47
3.
iə/Ǻ
24
biegen, glimmen
29
liegen, singen
53
4.
oə/Ǥ
1
stoßen, kommen
2
5.
uə/ʊ
1
rufen
1
6.
øə/œ
2
schwören, erlöschen
2
7.
yə/ȟ
2
lügen, trügen
2
8.
aʊ
3
saufen, saugen, schnauben
9.
aǺ
3 38
reiten, heißen
38
4 Rückläufige/Niedrige Gebrauchsfrequenzen bewirken Regularisierung Wie bereits angedeutet, resultieren Regularisierungen wie der Wandel der Ablautstruktur zu x-o-o bei starken Verben nicht aus dem unter 2 angesprochenen Bestreben nach ‚Natürlichkeitsaufbau‘, sondern sind die Folge niedriger bzw. rückläufiger Gebrauchsfrequenzen, wie sie von der morphologischen Ökonomietheorie postuliert werden. Sich verändernde Gebrauchsfrequenzen sind nämlich die Grundvoraussetzung für Auf- und Abbau von Irregularitäten im Flexionsparadigma (vgl. im Folgenden Werner 1987a, 1987b, 1989; Ronneberger-Sibold 1988; Fenk-Oczlon 1990, 1991; Nübling 2000). Mit zunehmender Gebrauchsfrequenz nehmen (stark) fusionierende und komprimierende Ausdruckstechniken zu und damit einhergehend opake und amorphe morphologisch-semiotische Strukturen; im Extremfall liegt starke Suppletion vor wie etwa bei sein: bin – ist – war – gewesen. Aufgrund fehlender Regelgeleitetheit müssen die Formen eigens erlernt und im mentalen Lexikon separat abgespeichert werden. Das erhöht zwar die kognitiven Kosten, bringt aber bei Hochfrequenz den großen Vorteil mit sich, dass die einzelnen Formen jederzeit gebrauchsfertig abrufbar und zudem kurz, phonotaktisch einfach und sehr differenziert sind (vgl. Nübling 2000: 252‒257). Daher stellen sich Irregularitä-
138 | Jessica Nowak
ten bei starkem Frequenzanstieg ein wie etwa von ahd. habēn – habēta zu nhd. haben – hatte (vgl. Ronneberger-Sibold 1988: 455‒459). Dieser kognitive Mehraufwand relativiert sich allerdings nur bei sehr häufigem Gebrauch der lexikalischen Einheiten, und nur hohe Tokenfrequenzen bewahren vor Abbau morphologischer Komplexität. Bei Frequenzverlust hingegen steht die Kosten-Nutzen-Relation irregulärer Formen in einem Missverhältnis. Die Folge sind Regularisierungen wie etwa der Übergang irregulärer bzw. starker Verben in die schwache Flexion, z.B. hauen: hieb → haute (vgl. Fenk-Oczlon 1990: 48‒49). Dieser theoretische Vorspann soll nun auch an konkretem Datenmaterial nachgewiesen werden. Mittels Frequenzanalysen8 zum Mittelhoch- und Neuhochdeutschen soll gezeigt werden, dass die geringe bzw. abnehmende Gebrauchshäufigkeit der Verben der ‚8. Ablautreihe‘ für den Wandel der Ablautstruktur zu x-o-o verantwortlich ist. Die nachstehenden Diagramme zeigen die Frequenzverhältnisse für die 24 x-oo-Verben aus Tab. 1 zu mhd. (Abb. 3a) und nhd. (Abb. 3b) Zeit. Dabei ist jeweils die durchschnittliche absolute Gebrauchsfrequenz eines x-o-o-Verbs angegeben, repräsentiert durch die schraffierten Balken. Da diese Frequenzen für sich allein genommen kaum eine Aussage über eine niedrige oder hohe Vorkommenshäufigkeit der xo-o-Verben erlauben würden, wurde ihnen für beide Zeitstufen die durchschnittliche Gebrauchsfrequenz der starken Verben gegenübergestellt, die x-o-o nicht angenommen haben, in Abb. 3a und 3b durch die schwarzen Balken dargestellt.
a) Mittelhochdeutsch
b) Neuhochdeutsch
4274
631
Übergang zu x-o-o
32089
1144 kein Übergang
Übergang zu x-o-o
kein Übergang
Abb. 3: Durchschnittliche Tokenfrequenz der x-o-o-Verben im Vergleich zu nicht-x-o-o-Verben (AR 3–6) im Mittel- und Neuhochdeutschen
|| 8 Die Datenbasis für die Frequenzanalysen stellen folgende Korpora dar: Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank fürs Mhd. und Projekt Deutscher Wortschatz fürs Nhd. (Stand: Februar 2010).
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 139
Diese Verben entstammen zur besseren Vergleichbarkeit, wie die Verben der ‚8. Ablautreihe‘, ebenfalls den Reihen 3–6 (z.B. gewinnen, helfen, nehmen, geben, fahren).9 Schon fürs Mhd. ergibt sich aus dem linken Diagramm (Abb. 3a) die verschwindend geringe Beleghäufigkeit der x-o-o-Verben im Vergleich zu den Verben, die zum Nhd. hin keine Veränderung ihrer Ablautalternanz zu x-o-o erfahren haben: So überschreitet die durchschnittliche Frequenz eines x-o-o-Verbs im Mhd. mit nur 631 Belegen nicht einmal die 1.000-Tokens-Schwelle. Dagegen sind die Verben der Reihen 3–6, die nicht in die ‚8. Ablautreihe‘ übergangen sind, um das Siebenfache frequenter: Sie sind im mhd. Korpus mit durchschnittlich rund 4.300 Tokens belegt (vgl. Abb. 3a). Dasselbe Bild ergibt sich auch fürs Nhd., wie man Abb. 3b entnehmen kann. Auch hier sind die Tokenfrequenzen der x-o-o-Verben überaus niedrig und liegen bei knapp über 1.000 Belegen pro Verb. Demgegenüber beläuft sich die Beleghäufigkeit der Verben der Reihen 3–6, die ihre ursprüngliche Alternanz beibehalten haben, bei durchschnittlich über 30.000 Tokens pro Verb. Damit sind sie im Nhd. sogar um das 28-Fache frequenter als die Verben der ‚8. Ablautreihe‘. D.h., die Kluft zwischen der durchschnittlichen Frequenz der x-o-o-Verben und der Verben mit unveränderter Ablautstruktur hat sich vom Mhd. zum Nhd. vervierfacht (vom 7- zum 28-Fachen, s. auch Abb. 3a und 3b). Darüber hinaus verzeichnen die Verben der ‚8. Ablautreihe‘ vom Mhd. zum Nhd. hin ganz drastische Frequenzverluste. Dies veranschaulicht Abb. 4 an zwei Beispielen: heben und schwören der ehemaligen Reihe 6, beides Verben, die mit je über 1.000 Tokens sowohl im Mhd. als auch Nhd. zu den frequenteren innerhalb der ‚8. Ablautreihe‘ zählen (zur Datenbasis s. Tab. 8 im Anhang). Dabei gibt Abb. 4 nicht die Gesamtheit aller Belege dieser Verben an, sondern den prozentualen Anteil des Verbs am mhd. bzw. nhd. Gesamtkorpus. Das liegt daran, dass der unterschiedlich große Umfang der beiden Korpora keine verlässlichen Aussagen über die tatsächlichen Frequenzeinbußen erlauben würde, vgl. mhd. ca. 8 Mio. Tokens vs. nhd. ca. 217 Mio. Tokens (Stand: Februar 2010). Da das mhd. Korpus also um ein Vielfaches kleiner ist, würde das viel eher den Eindruck einer Frequenzzunahme erwecken, weil in einem Korpus von rund 217 Mio. Wörtern die Anzahl der potentiellen Belege natürlich steigt (vgl. auch Scherer 2006: 38‒40). Wie man Abb. 4 entnehmen kann, zeichnen sich beide Verben durch relativ starke Frequenzverluste aus: So minimiert sich die Frequenz von heben um das 10Fache, von einem Anteil von mhd. 0,04 % auf nhd. 0,004 % am Gesamtkorpus. Bei schwören ist die Frequenzabnahme noch drastischer: Es büßt über das 30-Fache seiner ursprünglichen Gebrauchsfrequenz ein. Beliefen sich seine Formen im Mhd. || 9 Tab. 8 und 9 im Anhang schlüsselt die hier in Abb. 3a und 3b zusammengefassten Tokenfrequenzen für jedes einzelne Verb auf.
140 | Jessica Nowak
auf einen Anteil von 0,02 % am Gesamtkorpus, so sind es im Nhd. nur noch 0,0006 %. Im Durchschnitt verlieren die x-o-o-Verben zum Nhd. hin fast das 20Fache ihrer ursprünglichen Frequenz (s. auch Tab. 8 und 9 im Anhang). 0,045 0,04 0,035 0,03
–10fach
0,025 0,02 0,015
–33fach
0,01 0,005 0 mhd.
nhd.
heben
mhd.
nhd.
schwören
Abb. 4: Frequenzverluste der Verben schwören und heben vom Mhd. zum Nhd.
Heute geht der durchschnittliche Anteil eines x-o-o-Verbs am Gesamtkorpus gegen Null, er beläuft sich bei nur 0,0005 %. Die Verben der Reihen 3–6 mit unveränderter Ablautstruktur machen pro Verb immerhin 0,02 % aller Belege im nhd. Korpus aus. Zur Orientierungshilfe: Der Anteil hochfrequenter Verben wie sein, haben oder werden beläuft sich jeweils auf rund 1 % am Korpus, vgl. Tab. 7 (zur Datenbasis vgl. Tab. 8‒10 im Anhang): Tab. 7: Durchschnittlicher prozentualer Anteil eines x-o-o-Verbs, eines nicht x-o-o-Verbs und der Verben werden, haben, sein am nhd. Gesamtkorpus Verbtyp x-o-o-Verb kein x-o-o-Verb werden, haben, sein
Anteil in % (pro Verb) 0,0005 0,02 1,0
Als Zwischenbilanz kann also festgehalten werden, dass Tokenfrequenzen mit dem Abbau bzw. Erhalt von Irregularitäten, in unserem Fall die Komplexität bzw. Differenziertheit des Ablautmusters, korrelieren. Wie die Frequenzanalysen gezeigt haben, sind es extrem minderfrequente und zudem massiv an Gebrauchsfrequenz einbüßende starke Verben der Reihen 3–6, die ihre Ablautstruktur im Fnhd. zu x-o-o
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 141
vereinfacht haben. Demgegenüber haben frequentere Verben derselben Ablautreihen keinen Wandel ihres Ablautmusters vollzogen: Sie bewahren weiterhin eine Alternanz, die den Ausdruck für Prät. und Part. II mit unterschiedlichen Ablauten kodiert (ABC/ABA), und leisten sich meist noch eine differenzierte dreivokalische Alternanz (Typ ABC, z.B. helfen). Diese Korrelation zwischen lexikalischer Frequenz von starken Verben und den Differenziertheitsgraden ihrer Ablautmuster trifft nicht nur auf die Mitglieder der ‚8. Ablautreihe‘ zu, sondern auf das gesamte System nhd. starker Verben.10 Die Frequenzunterschiede, die sich an der Verteilung der starken Verben auf die Distinktionstypen festmachen lassen, sind den grauen Balken in Abb. 5 zu entnehmen. Der Linienverlauf gibt zudem Auskunft über die Mitgliederstärke der jeweiligen Distinktionstypen. Auch hier zeigt sich, dass der zweivokalische Alternanztyp mit Ablautidentität von Prät.- und Part.II-Vokal im Durchschnitt weniger bis mittelfrequente starke Verben in sich vereint, während sich in den Distinktionstypen ABC und ABA nur sehr frequente Verben stark gehalten haben. So erreichen die Verben des Distinktionstyps ABB nur eine Durchschnittsfrequenz von ca. 9.000 Tokens pro Verb, die Verben der beiden anderen Distinktionstypen hingegen sind mit ca. 21.000 (Typ ABC) bzw. 48.000 (Typ ABA) Tokens pro Verb um das Doppelte oder gar 5-Fache frequenter als ABB (vgl. Abb. 5; Datenbasis: Projekt Deutscher Wortschatz, Stand: Februar 2010, s. Tab. 11 im Anhang). Die Tatsache, dass der Typ ABA dermaßen frequent ist, liegt in seiner strukturellen Disposition für den Übertritt in die schwache Klasse begründet. Mit zunehmendem Präteritumschwund verblasst allmählich der Zugriff auf die einzige ablautende Position im Paradigma und diese kann – wie in den obd. Mundarten – komplett wegfallen; was übrig bleibt, ist ein vereinfachtes Schema ABA mit Vokalidentität von Präs. und Part. II, so dass sich die Anzahl der Klassenunterschiede zwischen starker und schwacher Flexion auf die starke Part.II-Endung -en reduziert. Dies und die geringere Salienz des Klassenunterschieds durch die fehlende Ablautopposition zwischen Part. II und Präs. erweisen sich als Einfallstor für einen Übertritt in die schwache Klasse: Für den Klassenwechsel fehlt nämlich nur noch ein kleiner Schritt, der Ersatz der starken Part.II-Endung -en durch das Dentalsuffix. Diese strukturelle Disposition von Verben des ABA-Typs für einen Übertritt in die schwache Klasse findet auch in der Diachronie ihre Bestätigung: So kann Solms (1984: 323‒324) nachweisen, dass über die Hälfte (56 %) der mhd. starken Verben vom Typ ABA (= AR 5‒7) zum Nhd. hin schwach geworden sind, während es bei den Distinktionstypen ABB und ABC im Durchschnitt gerade mal 22 % gewesen sind. Stark geblieben sind also nur noch sehr frequente Verben vom Typ ABA.
|| 10 Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt auch eine Analyse von Dammel (2003: 51‒52).
142 | Jessica Nowak
Abb. 5 bestätigt darüber hinaus das von Harnisch (1986: 499, 1988: 433) angesprochene Prinzip der Reziprozität von Typen- und Tokenfrequenz(en), wonach mit abnehmender Typenfrequenz (s. Linienverlauf) ansteigende Tokenfrequenzen (s. Balkenverlauf) einhergehen, und umgekehrt. So ist ABB mit 82 Mitgliedern der mit Abstand dominierende Alternanztyp bei starkenVerben, enthält dafür aber auch die durchschnittlich weniger frequenten Fälle; umgekehrt ist ABA mit nur 32 starken Verben der mitgliederschwächste Typ, dafür aber auch der im Durchschnitt tokenfrequentiell stärkste unter den drei Distinktionstypen des Nhd. Typ ABC steht dazwischen. 50000
80
40000
60
30000
40
20000
20
10000 0
0 ABB
ABC Token
ABA Types
Abb. 5: Type-Token-Asymmetrie bei den Distinktionstypen starker Verben im Nhd.11
Damit erweist sich neben Tokenfrequenz auch Typenfrequenz als wichtiger Stabilisierungsfaktor für starkes Konjugationsverhalten. Weniger bis mittelfrequente starke Verben können sich eher in ikonischen und strukturell weniger komplexen, aber zugleich auch mitgliederstarken Ablautmustern stark halten. Dies legt nicht nur die in Abb. 5 illustrierte Frequenzanalyse nach Distinktionstypen nahe, sondern auch die durchschnittliche Frequenz aller Einzelalternanzen nach Distinktionstyp, wie Abb. 6 zeigt. Während die Tokenfrequenzen der Einzelalternanzen der Typen ABA (z.B. laufen) und ABC (z.B. hängen) im fünfstelligen Bereich liegen (rund 94.000 bzw. 51.000 Tokens), zeichnen sich die Einzelalternanzen des ABB-Typs (z.B. erschallen) durch eine verschwindend geringe durchschnittliche Gebrauchsfrequenz von nur rund 600 Tokens pro Verb aus, vgl. Abb. 6 (Datenbasis: Projekt Deutscher Wortschatz, Stand: Februar 2010, s. Tab. 11 im Anhang). || 11 Ausgezählt wurden nur die Simplizia aus Tab. 11 im Anhang. Die Einbeziehung sämtlicher Wortbildungen dürfte zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 143
ABB
583
laufen,
kommen,
stoßen,
rufen, heißen
ABC
hängen,
gebären,
nehmen,
ABA
erschallen, saugen, saufen,
sitzen, liegen, bitten
51260
erlöschen, schwören
93895
Abb. 6: Durchschnittliche Tokenfrequenz der Einzelalternanzen12 nach Distinktionstyp
Rückblickend ist es daher keineswegs verwunderlich, dass die minderfrequenten Verben der ‚8. Ablautreihe‘ die Distinktionstypen ABC und ABA verlassen und sich dem typenfrequenten, ikonischen und strukturell einfacheren Typ ABB angeschlossen haben.
5 Die ‚8. Ablautreihe‘: Stabile Endstation der Regularisierung? Nachdem deutlich geworden ist, dass es sich bei der Übernahme von x-o-o um einen frequenzgesteuerten partiellen Regularisierungsprozess bei starken Verben handelt, bleibt noch zu klären, wie ‚stark‘ die x-o-o-Verben heute sind. Haben sie sich durch den Übergang in die ‚8. Ablautreihe‘ stabilisiert? Abb. 7 ordnet – basierend auf Duden (2007, 2009) – die 24 Verben, die im Fnhd. x-o-o angenommen haben, nach ihrem nhd. Konjugationsverhalten auf einer Skala an, die die letzten beiden Etappen des Abbaus starker Flexionsklassenmerkmale aus dem Bittnerschen Modell herausgreift: Aufgabe des starken Prät. und Part. II (Hebung im Imp. Sg. und Wechselflexion wurden ja bereits (weitestgehend) aufgegeben, vgl. Kap. 3). Wie man sehen kann, besitzen heute weniger als die Hälfte aller x-o-o-Verben (10 von 24) ein stabiles starkes Prät. und Part. II (z.B. erlöschen, fechten), weitere acht Verben sind von unterschiedlich starken Abbautendenzen betroffen (angedeutet durch die Pfeile in Abb. 7): entweder bauen sie derzeit ihr starkes Prät. ab (z.B. drosch/dreschte, aber
|| 12 Das Verb schinden mit seiner singulären Alternanz schund – geschunden ist nach Duden 2007 insbesondere im Prät. Ind. in der starken Flexion nicht mehr üblich. Daher wurde es hier nicht miteinbezogen.
144 | Jessica Nowak
gedroschen) oder sie sind im Begriff, den Wechsel in die schwache Klasse abzuschließen (z.B. gärte/gor, gegoren/gegärt). Sechs Verben sind sogar längst in die schwache Flexion übergegangen (z.B. rächen: roch – gerochen > rächte – gerächt). Abbaurichtung starker Charakteristika + st. Part. II
+ st. Part. II
schwach
+ st. Prät. stabil
Abbau des st. Prät.
Abbau des st. Part. II
stark > schwach
erlöschen
dreschen
→
gären
→
bellen
fechten
glimmen
→
weben
→
pflegen13
erschallen
→
rächen
flechten
klimmen
→
heben
melken
→
quellen
erwägen
→
scheren
schwären verhehlen verwirren
schmelzen schwellen schwören bewegen Abb. 7: Stadien des Abbaus starker Charakteristika bei den x-o-o-Verben im Nhd.
Damit erweist sich die Übernahme von x-o-o nicht nur als Endpunkt des partiellen Regularisierungsprozesses, sondern auch als mögliche ‚Durchgangsstation‘ für minderfrequente starke Verben auf dem Weg in die schwache Klasse. D.h., starke Verben nähern sich nicht nur über den Abbau der arbitrarisierten starken Verfahren (vgl. Bittner-Skala) der schwachen Klasse an und regularisieren sich damit, sondern auch durch die Übernahme konkreter Vokalalternanzen. Abb. 8 erweitert Bittners Implikationsskala um diesen Aspekt: Bevor bestimmte ‚schwächelnde‘ starke Verben im Prät. und Part. II endgültig schwach werden, vollziehen sie – wie bellen in Abb. 8 – einen Wandel ihrer Ablautalternanz zu x-o-o. Andere Verben wiederum wie etwa scheren, verbleiben nach dem Wandel der Ablautalternanz zu x-o-o in der ‚8. Ablautreihe‘. Für scheren und weitere neun starke Verben stellt die ‚8. Ablautreihe‘ also eine seit fnhd. Zeit anhaltende und stabile Endstation des Regularisierungsprozesses dar (vgl. Nowak 2010).
|| 13 Das Verb pflegen konjugiert inzwischen bis auf Wendung der Ruhe pflegen durchgehend schwach (vgl. Duden 2007 und 2009).
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 145
Abbau des e/i-Wechsels im Imp. Sg.
⊃
Abbau der Wechselflexion
bellen:
bill! → bell!
scheren: schier! → scher!
⊃ 8. AR Übernahme von x-o-o
Aufgabe des st. Prät. Ind.
⊃
Aufgabe des st. Part. II
billt → bellt
ball → boll
schiert → schert
schar → schor
boll → bellte
gebollen → gebellt
Abb. 8: Einbindung der ‚8. Ablautreihe‘ in die Bittnersche Implikationsskala
6 Fazit und Ausblick Es hat sich erwiesen, dass Regularisierungen minderfrequenter starker Verben im Deutschen nicht nur über die stark-schwach-Schiene laufen und nicht zwangsweise in einen Übergang stark > schwach münden, sondern auch den Weg über makroklasseninterne Übergänge zu typenfrequenten, salienten und simplifizierten Ablautmustern nehmen können. Die Übernahme der Ablautalternanz x-o-o und damit der Übergang in die ‚8. Ablautreihe‘ ist eine solche Regularisierungsstrategie innerhalb des Verbandes starker Verben, die bestimmte wenig frequente starke Verben nutzen. Dabei kann die ‚8. Ablautreihe‘ für ‚geschwächte‘ starke Verben eine Zwischenstufe der Regularisierung darstellen, der ein endgültiger Wechsel in die schwache Konjugation folgt (z.B. bellen, rächen). Sie kann aber auch den (vorläufigen) Endpunkt des partiellen Regularisierungsprozesses markieren (z.B. heben, fechten). Folglich stellt der Übergang stark > schwach nur ein Extrem dar. Als Antriebskraft für die analogische Übernahme von x-o-o im Speziellen und Regularisierungen im Allgemeinen haben sich rückläufige bzw. niedrige Gebrauchsfrequenzen erwiesen. Die logische Konsequenz aus der Erkenntnis, dass auch die Übernahme konkreter Ablautalternanzen einen Schritt in Richtung Regularität bedeuten kann, ist: (Ir-)Regularitätsgrade bei starken Verben lassen sich nicht nur über die Einlösung starker Flexionseigenschaften wie Wechselflexion oder Ablaut bestimmen (→ Bittner-Skala). Vielmehr müssen zukünftige Modelle auch die Distinktionsmuster und konkreten Ablautalternanzen von starken Verben sowie deren Typenfrequenz berücksichtigen. Abb. 9 unternimmt abschließend einen solchen Versuch, die Parameter Typenfrequenz, Distinktionsmuster und Symbolisierungsverfahren in ein Kontinuum, das von den weniger regulären und damit starken Verben bis hin zu den regulären schwachen Verben reicht. Mit zunehmendem Regularitätsgrad geht eine
146 | Jessica Nowak
hohe Typenfrequenz und fallende Tokenfrequenz einher. Ausschlaggebend für den (Ir-)Regularitätsgrad der Verben ist jedoch nicht nur die Typenfrequenz, sondern auch das Ausmaß an Ikonizität und Transparenz der Tempussymbolisierung. So ist in Abb. 9 der Distinktionstyp ABB (82 Vb.) nicht nur wegen seiner hohen Typenfrequenz im Vergleich zu den Typen ABC (49 Vb.) und ABA (32 Vb.) als regulärer einzustufen. ABB ist trotz des modulatorischen Ausdrucksverfahrens gerade wegen seiner ikonischen Tempussymbolisierung transparenter und damit näher am regulären Pol, mit dem er das Distinktionsmuster ‚Präs. ≠ Prät. = Part. II‘ teilt. Innerhalb von ABB hat sich die Ablautalternanz x-o-o zum regulärsten Repräsentanten dieses Strukturmusters profiliert. Das Flexionsmuster ‚oPrät. = oPart.II‘ überwiegt nicht nur typenfrequentiell, sondern nutzt einen relativ dearbitrarisierten und hinsichtlich der Information ‚Vergangenheit‘ (= Prät. + Part. II) salienten Marker o. Dieser kommt innerhalb der starken Klasse dem uniformen transparenten Tempusmarker schwacher Verben (→ Dentalsuffix) am nächsten, vgl. Abb. 9. stark ------------------------------------------------------------------------------------------------------------- schwach – regulär -------------------------------------------------------------------------------------------------------- regulär + – typenfrequent .................................................................................................typenfrequent + + tokenfrequent ................................................................................................ tokenfrequent – Verfahren: modulatorisch ........................................................................................................... affigierend Distinktionsmuster: Präs. = Part. ≠ Prät., Präs. ≠ Part. II.............................................................. Präs. ≠ Prät. = Part. II ABA (32 Vb.) / ABC (49 Vb.) ................................................ ABB (82 Vb.) ..................... AAA (offen) Tempussymbolisierung: – transparent, uniform .............................................................................. transparent, uniform + andere Ablautalternanzen lesen, helfen las/gelesen, half/geholfen
…Übergangsklasse…
x-o-o heben hob/gehoben
-tsagen sagte/gesagt
Abb. 9: Stark-Schwach-Kontinuum – Ein Klassifikationsversuch
Das Kontinuum in Abb. 9 ist durchaus modifizier- und erweiterbar und lässt sich bestimmt feiner abstufen. Doch bevor dies möglich sein wird, muss zunächst geklärt werden, wie weitere Parameter gewichtet werden müssen. Ist bspw. ein Verb wie helfen mit einer dreivokalischen Alternanz und starken Flexionsklassenmerkmalen wie e/i-Wechsel im Imp. Sg. und Wechselflexion im Präs. Sg. wirklich irregulärer als Einzelalternanzen wie rufen oder kommen, die jedoch keine weiteren Stammmodifi-
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 147
kationen im Imp. und Präs. aufweisen? Solange darüber keine endgültige Klarheit herrscht, ist die Ergründung des Spannungsfelds zwischen starken und schwachen Verben noch längst nicht erschöpft und wird weiterhin für reichhaltigen Diskussionsstoff sorgen.
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148 | Jessica Nowak
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Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 149
Anhang Die folgenden Frequenzangaben basieren fürs Mhd. auf den Daten der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (Stand: Februar 2010), die fürs Nhd. auf den Angaben des Projekts Wortschatz deutsch (Stand: Februar 2010). Es wurden immer alle Flexionsformen des jeweiligen Einzelverbs zu einer Gesamtfrequenz zusammengezählt. Tab. 8: Tokenfrequenzen der x-o-o-Verben im Mhd. und Nhd. AR
Verb
3a 3b
Mhd.
Nhd.
glimmen
1
89
klimmen
26
2
bellen
41
293
scheren
melken
1
125
schwären
Verb löschen rächen
7
341
(er)schallen
18
119
schmelzen
36
1.092
schwellen
33
398
(er)wägen
(ver)wirren
537
1.145
bewegen
quellen
4
AR
24
313
fechten
1.767
507
flechten
146
190
dreschen
(ver)hehlen 5
gären pflegen
6
Mhd.
Nhd.
49
578
1.626
993
54
110
7
3
266
255
2
168
5.314
5.086
78
4.502
263
486
weben
85
154
heben
3.354
9.170
schwören
1.409
1.328
Frequenzen ges.
15.144
27.447
Ø Frequenz
631
1.144
Tab. 9: Mhd. und nhd. Frequenzen der Verben aus AR 3–6 mit unveränderter AL-Alternanz AR
Verb
Mhd.
Nhd.
3a
beginnen
8.958
63.032
gewinnen
6.953
68.769
rinnen
142
219
sinnen
551
226
spinnen
68
286
schwimmen
65
2.901
150 | Jessica Nowak
AR 3b
14
Verb
Mhd.
Nhd.
bergen
171
5.197
bersten
303
144
gelten
732
79.316
helfen
8.138
30.028
499
194
sterben
2.786
30.363
verderben
1.936
1.465
schelten
4
werben
1.825
10.201
werfen
1.665
28.514
befehlen
980
802
brechen
2.555
15.300
0
11.226
empfehlen gebären
2.116
8.755
nehmen
7.338
99.551
schrecken/er-
789
1.394
49.167
79.447
stechen
1.984
2.007
stehlen
215
3.893
treffen
476
59.439
2.274
6.773
0
1.765
sprechen
5
essen fressen
15.484
371.705
genesen
2.961
195
geschehen
9.652
11.643
lesen
1.406
28.159
geben
427
7.930
sehen
24.877
163.427
treten
1.072
33.729
vergessen
1.945
10.528
messen
|| 14 Werden blieb unberücksichtigt, da es u.a. auch als Hilfsverb fungiert und damit ähnlich wie haben oder sein extrem tokenfrequent ist (s. Tab. 10) und die Ergebnisse stark verzerren würde. Des Weiteren mischt werden schwache und starke Merkmale in einer singulären Art und Weise, die es von den restlichen starken Verben abhebt, vgl. z.B. die e-Erweiterung im Prät. Ind. (wurde), den hebungslosen Imp. Sg. mit -e-Endung (werde!) und die Durchsetzung des pluralischen Vokals im Prät. Ind. (wurde, nicht ward), zu Details s. Nübling (2000:270).
Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben | 151
AR 6
Verb
Mhd.
Nhd.
backen
45
914
fahren
6.751
46.093
graben
108
852
laden schaffen
842
9.623
2.461
20.680
6.218
30.469
10.048
39.000
wachsen
911
24.318
waschen
140
1.461
Frequenzen ges.
188.034
1.411.933
4.274
32.089
schlagen tragen
Ø Frequenz
Tab. 10: Nhd. Tokenfrequenzen der Verben werden, haben und sein werden: 1.889.553 haben: 1.977.291
sein: 2.840.412
Tab. 11: Liste nhd. starker Verben (modifiziert; nach Duden 2007 und 2009) Typ
Alternanz
MitVerben glieder (nur Simplizia)
Tokens ges.
ABB
aǺ-Ǻ-Ǻ
22
bleichen, gleichen, schleichen, streichen, weichen, leiden, schneiden, kneifen, greifen, schleifen, pfeifen, befleißen, beißen, reißen, scheißen, (ver)schleißen, schmeißen, spleißen, gleiten, reiten, schreiten, streiten
96.258
aǺ-i:-i:
16
bleiben, gedeihen, leihen, meiden, preisen, reiben, scheiden, 330.794 scheinen, schreiben, schreien, schweigen, speien, steigen, treiben, weisen, (ver)zeihen
i:-Ǥ-Ǥ
11
fließen, genießen, gießen, kriechen, riechen, schießen, schließen, sieden, sprießen, triefen, verdrießen
i:-o:-o:
11
biegen, bieten, erkiesen15, fliegen, fliehen, frieren, schieben, stieben, verlieren, wiegen, ziehen
Ǻ-Ǥ-Ǥ
2
glimmen, klimmen
y:-o:-o:
2
lügen, trügen
2.011
ǫ-Ǥ-Ǥ
7
dreschen, fechten, flechten, melken, quellen, schmelzen, schwellen
2.966
74.049 186.977 91
|| 15 Von diesem Verb sind nur noch die Präterital- und Part. II-Formen in Gebrauch, als heutiger Inf. fungiert erküren. Dieser wurde nicht in die Zählung einbezogen, um eine Doppelung zu vermeiden (vgl. Duden 2007 und 2009).
152 | Jessica Nowak
Typ
ABC
ABA
Alternanz
MitVerben glieder (nur Simplizia)
Tokens ges.
ǫ:-Ǥ-Ǥ
2
gären, wägen/er-,
4.670
e:-o:-o:
4
heben, scheren, weben, bewegen
9.434
œ-Ǥ-Ǥ
1
erlöschen
578
ø-o:-o:
1
schwören
1.328
aʊ-o:-o: 2
saugen, schnauben
907
aʊ-Ǥ-Ǥ
1
saufen
306
a-Ǥ-Ǥ
1
erschallen
ges.
83
Ǻ-a-ʊ
19
binden, empfinden, finden, schwinden, winden, dringen, gelingen, klingen, misslingen, ringen, schlingen, schwingen, singen, wringen, zwingen, springen, sinken, stinken, trinken
Ǻ-a-Ǥ
6
beginnen, gewinnen, rinnen, schwimmen, sinnen, spinnen
135.433
ǫ-a-Ǥ
9
bergen, bersten, gelten, helfen, schelten, sterben, verderben, werben, werfen
185.422
ǫ-ɑ:-Ǥ
6
brechen, sprechen, stechen, erschrecken, stecken, treffen
157.587
e:-ɑ:-o:
3
befehlen, empfehlen, stehlen
ǫ:-ɑ:-o:
1
gebären
e:-ɑ:-Ǥ
1
nehmen
99.551
ǫ:-i:-a
1
hängen
16.390
Ǻ-ɑ:-ǫ
1
sitzen
34.846
i:-ɑ:-e:
1
liegen
129.413
Ǻ-ɑ:-e:
1
bitten
e:-ʊ-Ǥ
1
werden
1.889.553
ges.
49
(Summe ohne werden)
1.035.626
e:-ɑ:-e:
6
geben, genesen, geschehen, lesen, sehen, treten
ǫ-ɑ:-ǫ
4
essen, fressen, messen, vergessen
ɑ:-u:-ɑ:
5
fahren, graben, laden, schlagen, tragen
a-u:-a
3
backen, schaffen, waschen
ɑ:-i:-ɑ:
4
schlafen, raten, blasen, braten
a-i:-a
3
fallen, halten, lassen
a-Ǻ-a
2
fangen, empfangen
14.668
laufen
50.028
aʊ-i:-aʊ 1 Ǥ-ɑ:-Ǥ
1
kommen
o:-i:-o:
1
stoßen
u:-i:-u:
1
rufen
aǺ-i:-aǺ
1
heißen
ges.
32
GESAMT
163
119 710.488 233.701
15.921 8.755
18.607
608.858 26.996 126.037 47.373 25.503 328.361
278.917 15.114 22.891 102.525 1.521.234
Damaris Nübling
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? Zur numerusprofilierenden Funktion von Deklinationsklasse und Genus im Deutschen
1 Das Problem Flexionsklassen werden üblicherweise als Allomorphie ohne Informationsgewinn begriffen. Etwas drastischer drückt sich Wurzel (1986: 76) aus, wenn er sie gar als „morphologischen Ballast“ bezeichnet und ihnen nur dann eine berechtigte Existenz unterstellt, wenn sie sich an sog. außermorphologische Eigenschaften binden, wie dies im Fall der Präteritopräsentia mit den Modalverben geschehen ist: Konnten im Mhd. auch andere Verben außer Modalverben dieser Klasse angehören, so findet auf dem Weg zum Nhd. ihre Gleichschaltung statt. Doch ist eine solche Entwicklung hin zu eindeutiger außermorphologischer Motivation eher die Ausnahme als die Regel. Flexionsklassen bilden unbestrittenermaßen eine große Quelle von Komplexität, sie produzieren auch Irregularität. Wir beziehen uns im Folgenden ausschließlich auf die Nominalflexion und damit auf Deklinationsklassen (hierzu vgl. ausführlich Kürschner 2008; für eine diachrone Analyse der Konjugationsklassen vgl. Dammel 2011). Tab. 1: Flexionsklasse und Genus als die beiden Nominalklassifikationen des Deutschen Deklinationsklassen (am Beispiel einiger Maskulinklassen)
Genera (drei Genera im Dt.)
Markierung am Nomen selbst in Form spezifischer Kasus- (Gen.Sg.) und Numerus-(Pl.)-Allomorphie
Markierung an den Begleitern, hier: Definit-, Indefinitartikel, Adjektiv
Kennformen starke er-Klasse Nom.Sg. Mann Gen.Sg. Mannes Nom.Pl. Männer
schwach gemischt
Femininum
Maskulinum Neutrum
Affe Affen Affen
die Gabel eine Gabel große G.
der Löffel ein Löffel großer L.
Staat Staates Staaten
das Wiesel ein Wiesel großes W.
Im Deutschen gibt es zwei relativ arbiträre und damit stark grammatikalisierte Nominalklassifikationssysteme, die stark interagieren: Flexionsklasse und Genus (Tab. 1). Ihre prinzipielle Unterscheidung besteht im Markierungsort, den sog. targets (der controller ist der gleiche: das Nomen): Während Flexionsklasse am Wortkörper selbst markiert wird – sei es overt über ein eigenes Segment, z.B. über einen sich durch das Paradigma ziehenden Themavokal, sei es verdeckt, d.h. parasitär über
154 | Damaris Nübling
den allomorphischen Ausdruck anderer Kategorien –, definiert sich Genus als Kongruenzsystem:1 Genus wird nicht am genushaltigen Substantiv selbst, sondern obligatorisch nur an seinen Begleitern bzw. Stellvertretern markiert. Im Deutschen sind dies der Artikel, das Adjektiv und das Pronomen.2 In den Worten von Wurzel: Eine Klassifizierung von Substantiven liegt dann vor, wenn die Substantive einer Sprache in eine begrenzte Anzahl von Klassen eingeteilt werden, wobei sich die Klassenzugehörigkeit zumindest in bestimmten Kontexten formal am Wort [d.h. Flexionsklasse – DN] und/oder über das Wort hinaus auswirkt [d.h. Genus – DN]. (Wurzel 1986:77)
Die Regeln, nach denen zum einen Flexionsklasse, zum anderen Genus zugewiesen wird, sind nicht einfach und oft idiosynkratischer Natur, d.h. im Lexikon verankert. Dennoch gibt es einige Indikatoren, denen im Fall der Flexionsklasse im Folgenden nachzugehen ist.3 Insgesamt ist es aus der Perspektive jeder Sprachwandeltheorie erstaunlich, mit welch diachroner Persistenz sich beide Klassifikationssysteme bis heute erhalten, ja teilweise sogar ausgebaut haben. Seit einigen Jahrhunderten können wir z.B. die Entstehung einer weiteren Deklinationsklasse, der sog. gemischten Maskulina und Neutra, beobachten. Auch Genus erfährt diachron mehrfach Stärkungen, derzeit eine syntagmatische in Form von Movierungen von Nomina agentis mit Bezug auf Unbelebtes, dem allerdings hohe Agentivität zukommt, wie Institutionen, Parteien, Organisationen vom Typ die Stadt als/ist Eigentümerin (vgl. Scott 2009, der hierin eine verstärkte Femininkongruenz sieht). Damit erfolgt die Genusmarkierung overt (am Wortkörper selbst statt nur an den Begleitern), was sie salienter macht. Die Ratio dahinter ist noch wenig verstanden. M.E. kommt man der Ratio unverstandener Phänomene wie dem der Existenz von Flexionsklassen dann am nächsten, wenn man konsequent ihre Diachronie verfolgt, d.h. ihre Entstehung und weitere Entwicklung beobachtet. Diese Perspektive erweist z.B., ob eher eine Stärkung und Ausdifferenzierung erfolgt oder eher eine Schwächung, ein Rückzug bis hin zum Abbau. Nimmt man das Englische als eine Vergleichssprache, so kann man verfolgen, wie schnell beide Klassifikationen komplett abgebaut wurden. Offensichtlich bedarf eine Sprache ihrer nicht zwingend. In Sprachkontaktsituationen werden Genus- und Flexionsklassensysteme bekanntlich rapide abgebaut. || 1 Diese fundamentale und typologisch relevante Unterscheidung zwischen Flexionsklasse und Genus wird von Ansätzen ignoriert (und damit eingeebnet), die die schwachen Maskulina als sog. 4. Genus klassifizieren (vgl. Eisenberg 2000). 2 Die universell geltende sog. agreement hierarchy, wie sie Corbett (1991) beschreibt, wird dabei einzelsprachlich unterschiedlich weit abgedeckt. So sieht das Deutsche beim prädikativen Adjektiv keine Genuskongruenz (mehr) vor, andere Sprachen lassen nur den Artikel, doch nicht das Attribut genuskongruieren, etc. 3 Was die Zuweisungsprinzipien und damit Regelgebundenheit von Genus betrifft, so ist auf Köpcke (1982) sowie Köpcke/Zubin (1984, 1996, 2009) zu verweisen.
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 155
Gegenstand dieses Beitrags ist das Deklinationsklassensystem des Standarddeutschen, das unter der Fragestellung „Stärkung oder Schwächung von Flexionsklasse?“ sowie seinen möglichen Funktionen diachron verfolgt wird (zu Entwicklungen in Dialekten vgl. Nübling 2008). Mit in den Blick genommen wird Genus, mit dem Flexionsklasse stärker verzahnt zu sein scheint als bisher angenommen, sowie die Kategorie Numerus, die sich als zentraler Faktor zum Verständnis von Flexionsklasse erweist (s. Abschnitt 5). Es wird die Behauptung vertreten, dass Genus und Flexionsklasse heute primär dazu da sind, Numerus zu markieren: Genus profiliert den Singular, Flexionsklasse den Plural. Sie rahmen damit die hochfunktionale und -relevante Numeruskategorie von beiden Seiten und interagieren dabei – diachron zunehmend – auf komplementäre Weise. Damit verfolgen wir einen strikt funktionalistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass jede sprachliche Form funktional motiviert ist. Gibt es (vermeintlich) Form ohne Funktion, dann hat man die Funktion entweder noch nicht erkannt oder es überlagern sich mehrere Funktionen, weil funktionaler Sprachwandel stattfindet (meist durch Reanalyse von Form, worunter auch die Exaptation fällt). Dies kann dazu führen, dass sich „die“ Funktion synchron (noch) nicht erschließt. Um Genus und Deklinationsklasse unter funktionaler Perspektive verstehbar zu machen, wird nun deren Diachronie untersucht.
2 Woher kommen Deklinationsklassen? lexical class-terms measure terms
morphosyntactic ‚CLASSIFIERS‘
nounclasses/gender
Abb. 1: ‚Kontinuum‘ der Nominalklassifikation
Deklinationsklassen sind in aller Regel semantisch leere, arbiträre Klassifikationssysteme, die nach Grinevald (2002) das Endstadium der Grammatikalisierung von sog. Classifiern oder Nominalklassifikatoren bilden, d.h. semantischen Klassen, wie sie aus vielen Sprachen bekannt sind.4 Auch Genus steht auf dieser Stufe der noun classes (s. Abb. 1). Classifier wiederum gehen oft auf lexikalisch realisierte, produk-
|| 4 Dass es sekundär zur Remotivierung komplett grammatikalisierter Flexionsklassen kommen kann wie im Fall der berühmten schwachen Maskulina im Deutschen, deren wichtigster Prototyp maskulin und mehrsilbig ist, auf Schwa auslautet, Pänultimabetonung trägt und männliche Säugetiere einschließlich Menschen denotiert (vgl. Köpcke 1995), fällt unter den Begriff der Reanalyse, hier auch Exaptation, was insgesamt eine Degrammatikalisierung impliziert (vgl. Szczepaniak 2009, Simon 2010). Manche klassifizieren das auslautende -e in Matrose, Kurde als Belebtheitszeichen.
156 | Damaris Nübling
tive und wenig obligatorische Informationen zu Maß-/ Mengeneinheiten oder Form/Beschaffenheit der bezeichneten Objekte (vgl. ein Glas Wein, ein Stück Brot, eine Prise Salz) zurück. Dem Grammatikalisierungsgrad entsprechend lassen sich Kriterien formulieren, die Classifier von den uns interessierenden Nominalklassen unterscheidbar machen (s. Tab. 2). Tab. 2: Classifier und Nominalklassen – einige Unterschiede nach Grinevald (2002: 260) Classifier 1. 2. 3. 4. 5.
Nominalklassen / Genus
semantisch klassifizierend/ordnend klassifizieren nicht alle Nomen differenzieren mehr Klassen offene Systeme fusionieren nicht mit anderen Kategorien
nicht semantisch klassifizierend (arbiträr) klassifizieren alle Nomen differenzieren weniger Klassen geschlossene Systeme treten oft fusioniert mit anderen grammatischen Kategorien auf 6. treten nicht am Nomen selbst auf können am Nomen auftreten (Muss bei Nominalklassen, Kann bei Genus – hier ist dagegen Kongruenz ein Muss) 7. Nomen können mehreren Klassen angehören Nomen können nur einer Klasse angehören 8. Sprecher können variieren Sprecher können nicht variieren
Classifier verhalten sich in jeder Hinsicht weniger grammatikalisiert als Nominalklassen: Sie sind noch semantisch gefüllt, ihre Paradigmatizität ist noch nicht komplett erreicht, sie bilden noch offene, erweiterbare Systeme, sind noch nicht mit dem Nomen fusioniert, und sie sind variabel. Was die germanischen Flexionsklassen betrifft, so nimmt man an, dass sie auf ehemalige Wortbildungen zurückgehen (Bittner 2003): Am deutlichsten wird dies bei den ahd. sog. nt-Stämmen, substantivierten Präsenspartizipien, denen im Ahd. hauptsächlich noch friunt ‚Freund‘ und fīant ‚Feind‘ angehörten. Ein anderes Beispiel liefert die Klasse der sog. ter-Stämme, die Verwandte bezeichneten: ahd. muoter, fater, tohter, bruoder, swester. Auch hier ist die semantische Motivation noch gut erkennbar. Eine zwar kleine, für die Folgezeit jedoch ungemein wichtige Klasse bildeten (innerhalb der Neutra) die sog. iz/az-Stämme, auch s-Klasse, vulgo „Hühnerhofklasse“ genannt, die im Ahd. noch weitgehend Tier(jung)e bzw. Lebewesen rund um die bäuerliche Siedlung enthielt und damit deutlich auf ihre ursprüngliche Motivation, das alte Classifier-System, verweist: ahd. kalb, lamb, huon, hrind, farh ‚Ferkel‘, ei, luog ‚Tierlager‘, hrīs ‚Reis, Spross‘, blat ‚Blatt‘ (Braune/Reiffenstein 2004: §197). Diese nur 9 Mitglieder umfassende Kleinklasse, die in den meisten germanischen Sprachen gänzlich abgebaut wurde, erfährt noch im Ahd. einen (zunächst semantisch motivierten) Zuwachs, einige Jahrhunderte lang noch streng innerhalb der Neutra und erst später auf die Maskulina ausgreifend, z.B. ahd. feld,
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 157
har ‚Haar‘', hol ‚Höhle‘, loub ‚Laub‘, krūt ‚Kraut‘, brët, rad, grab, holz, loh, hūs, wëlf ‚Junges‘, lid ‚Glied‘ etc. (Braune/Reiffenstein 2004: §197, Wurzel 1986: 86). Heute enthält diese Klasse ca. 100 hochfrequente Neutra und Maskulina (die Feminina hatten nie Zugang zu dieser Klasse). Die Karriere dieser Kleinklasse zeigt mehrerlei: Zunächst ist die häufig geäußerte Annahme zurückzuweisen, dass nur hohe Typenfrequenzen, also große Klassen, den gewichtigsten Faktor für Klassenübertritte bilden (so z.B. Wurzel 2001, Haspelmath 2002: 136). So gesehen dürfte es nie zur Entstehung neuer Klassen kommen, denn jede neue Klasse beginnt irgendwann bei Null. Fragt man nach den Gründen für den Erfolg dieser Klasse, so ist es ihre sog. Numerustüchtigkeit (Hotzenköcherle 1962), d.h. das Pluralverfahren {UL + -er}, das diese Klasse im Laufe der Zeit herausgebildet hat: Zum einen ist es durch die zweifache Pluralanzeige salient, zum anderen verhilft es der großen, aber numerusuntüchtigen Klasse der sog. starken Neutra (Typ hūs – hūs), einer Nullpluralklasse, zu einem neuen, dazu monofunktionalen Pluralmarker, da {UL + -er} nie als Kasuszeichen verwendet wurde und wird. Hiermit ist bereits eine mögliche Funktion von Flexionsklasse festzuhalten: Indem Flexionsklasse zur Allomorphie hochfunktionaler Kategorien wie z.B. Numerus beiträgt, bereichert sie das Inventar an Markern, aus denen später Auswahlen getroffen werden können. Flexionsklasse könnte – zumindest ergibt sich dies aus der Retrospektive – dazu beitragen, den Bestand anderweitiger Marker anzureichern und zu stärken. Damit ist der Übergang zu den nächsten Fragen, denen nach dem Wohin und Warum von Flexionsklassen, geebnet.
3 Wohin gehen Deklinationsklassen? Im Germanischen scheinen nur noch Reste eines alten classifier-Systems durch. Die Deklinationsklassen lassen sich als vollgrammatikalisierte, semantisch weitgehend leere und arbiträre Klassifikationssysteme greifen. Aller Voraussicht nach sollte damit die letzte Phase eingeläutet werden, nämlich der sukzessive Abbau der Klassen, generieren sie doch nur Allomorphie, morphologischen Ballast. In einigen germanischen Sprachen wie Englisch, Niederländisch, Friesisch, Dänisch stellt sich dieses Szenario auch ein, zumindest teilweise (nur das Englische, das mehrfach von starkem Sprachkontakt betroffen war, hat radikalen Flexionsklassenabbau betrieben). Ganz anders im Deutschen, das nie intensivem Sprachkontakt ausgesetzt war: Hier verändert sich nur der Ausdruck, die Materialisierung von Deklinationsklasse, doch nicht unbedingt deren Anzahl: Noch heute haben wir ein Inventar an Deklinationsklassen, das sich vom Umfang her nicht substantiell von dem des Mhd. unterscheidet. Syntagmatisch ist Flexionsklasse allerdings geschwächt worden, paradigmatisch jedoch weniger. Mit syntagmatischer Flexionsklassenschwächung ist gemeint, dass noch im Germanischen fast jede Flexionsform bzw. Paradigmenzelle
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die Deklinationsklasse offenbart hat, meist durch sog. stammbildende Suffixe oder Themavokale bzw. –konsonanten. Diese Segmente verschmelzen im Laufe der Jahrhunderte mit dem Stamm bzw. der Kasus-/Numerusendung, oder sie schwinden: Die Zahl an flexionsklassenmarkierenden Paradigmenzellen nimmt ab. Damit verändert sich der Ausdruck von Flexionsklasse einerseits von einem separaten (segmentierbaren) zu einem fusionierten (nicht segmentierbaren) Verfahren und andererseits von einem omni- zu einem partiell präsenten Phänomen. Auch dies lässt sich beispielhaft anhand der Hühnerhofklasse zeigen. Tab. 3: Separate Flexionsklassenmarker (stammbildende Suffixe) im Paradigma von germ. ‚Lamm‘ (s-Klasse); „FK“ = Flexionsklasse Germanisch Numerus Kasus
separat FK
Sg.
N/A G D
Wurzel (Lexem) lambiz lambiz lambiz
Pl.
N/A G D
lamblamblamb-
iz iz iz
Neuhochdeutsch (overt) Flexiv (Kas./Num.) -Ø -aza -ai
fusioniert/verdeckt (kovert) Wurzel + FK/Flexiv
-ō -om -omoz
Lämm – er Lämm – er Lämm – ern
Lamm Lamm – (e)s Lamm
Tab. 3 zeigt, wie dieses overte Verfahren in ein verdecktes (fusioniertes) übergeht, d.h. sich zunehmend auf grammatischen Markern festsetzt. Flexionsklasse manifestiert sich heute durch eine spezifische Kombination von Gen. Sg.- und Pl.-Endungen. Das Interessante ist, dass dieser Fusionierungsprozess gesteuert verläuft, und zwar: 1. gemäß der Relevanzskala von Bybee (1985) (Abb. 2) und 2. innerhalb der Kategorien markiertheitsgesteuert (Abb. 3). Numerus + relevant
Kasus
Deklinationsklasse – relevant
Abb. 2: Der relevanzgesteuerte Pfad verdeckter Flexionsklassenmarker
Flexionsklasse wandert zunächst auf das Kasus- und auf das Numerussuffix, verharrt jedoch am längsten auf dem für das Nomen relevanteren Numerusmarker, weil Kasusmarker oft abgebaut werden oder leicht überstabile Marker übernehmen, d.h. Kasusmarker aus anderen Klassen. In vielen deutschen Dialekten ohne synthetische Kasusmarker ist die Plural- mit der Deklinationsklasse identisch. Dies ist das letzte
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 159
Stadium von Flexionsklasse. Würde die Pluralallomorphie abgebaut (wofür mir kein deutscher Dialekt bekannt ist), fiele auch Flexionsklasse weg (s. Abb. 2). Den zweiten Schritt zeigt Abb. 3. Der Ausdruck von Flexionsklasse zieht sich innerhalb des Numerus auf den (markierten) Plural und innerhalb des Kasus auf den (markierten) Genitiv zurück: War Deklinationsklasse im Germanischen auch noch im Singular und im Nominativ sichtbar, so reduziert sich ihr Ausdruck immer mehr auf die markierten Kategorienwerte Plural und Genitiv (bei den schwachen Maskulina auch Dativ und Akkusativ).5 markiert:
unmarkiert:
Plural
Genitiv
Numerus
Kasus
Singular
Nominativ
Deklinationsmarker
+ relevant
– relevant
Abb. 3: Der Rückzug der Deklinationsmarker von unmarkierten Kategorienwerten und ihre Persistenz bei markierten Werten
Das Paradoxe an diesen ‚Rückzugsgefechten‘ ist, dass genau hierdurch Flexionsklasse gestärkt wird: Je eher sie sich auf hochrelevanten Kategorien und womöglich sogar in der Wurzel festsetzt (Umlaut), als desto geschützter vor Abbau, d.h. als desto stabiler erweist sie sich damit. Was wie ein geordneter Rückzug aussieht, erweist sich als umso hartnäckigere Verfestigung.
4 Entwicklungen im Deklinationsklassensystem des Deutschen Wie bereits deutlich wurde, hat die Zahl der Deklinationsklassen vom Ahd. zum Nhd. zwar abgenommen – je nachdem, wie man sie genau zählt, d.h. ob z.B. die ahd. w- und j-Stämme getrennt oder nicht –, doch nicht in dem Maße, in dem man dies erwarten würde und wie dies in anderen westgermanischen Sprachen auch geschehen ist. Auch hat sich auffälligerweise das volle Dreigenussystem erhalten. Genus und Deklinationsklasse haben schon immer interagiert, doch mit unter|| 5 Diese Prinzipien wurden von Dammel (2011) für das Verb beschrieben.
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schiedlichen Kräfteverhältnissen, die man mit Enger (2004) wie folgt etikettieren und definieren kann: a) „DeclensionFirst“ gilt, wenn Genus auf der Grundlage von Flexionsklasse vorhersagbar ist („Gender is predicted on the base of declension“); b) „GenderFirst“ gilt dagegen, wenn Genus hierarchisch über Flexionsklasse steht („Declension is predicted on the base of gender“). Dem Deutschen unterstellt Enger ein GenderFirst-Prinzip, doch ist dies zu sehr vereinfacht und zu einseitig: Das Geflecht zwischen diesen beiden Klassifikationssystemen ist komplexer, auch was ihr (diachron wechselndes) Dominanzverhältnis betrifft. Was sich nämlich in der Geschichte des Deutschen leitmotivartig herausbildet, ist eine sich im Flexionsverhalten manifestierende zunehmende Feminin/Nichtfeminin-Opposition (oder +/–Feminin-Opposition) (Bittner 1994, 2003; Eisenberg 2006). Das heißt, auf Flexionsklassenebene interagieren die Maskulina und Neutra zunehmend in Gestalt ähnlicher Flexive, während die Feminina immer weniger am Flexionsverhalten der beiden anderen Genera teilhaben (s. Abb. 5 unten). Im Folgenden werden nur die wichtigsten Entwicklungsstränge skizziert: Noch im Ahd. sind viele Feminina und Maskulina sowie einige Neutra in der schwachen Deklination (auch konsonantische oder n-Klasse genannt) vereint und werden in den historischen Grammatiken unter dieses DeclensionFirst-Darstellungsprinzip subsumiert, auch wenn die Endungen im Singular nicht identisch, sondern nur ähnlich sind. Beinahe identisch werden sie jedoch im Mhd., verursacht durch die Nebensilbenabschwächung. Nur die Neutra halten im Singular an ihrem Nom./ Akk.-Synkretismus fest (Kürschner 2008: 90). Tabelle 4 enthält drei Beispielwörter. Tab. 4: Die Flexion der schwachen Feminina, Maskulina und Neutra im Mhd. Num.
Kasus
Feminina
Maskulina
Neutra
Singular Nom. Gen.-Akk.
zunge-Ø zunge-n
bote-Ø bote-n
herze-Ø: N/A herze-n: G/D
Plural
zunge-n
bote-n
herze-n
Nom.-Akk.
Diese große Gemeinschaftsklasse zerbricht im Laufe der deutschen Sprachgeschichte zugunsten eines stark genusdifferenzierenden und damit -profilierenden Flexionsverhaltens: Die Neutra ziehen sich komplett aus dieser Klasse zurück, die Maskulina partiell, indem sie ein auf mehreren Ebenen operierendes Schema entwickeln, was die Klasse – wegen der erschwerten Zugangsbedingungen – m.E. tendenziell schließt, zumindest aber stark reduziert (s. hierzu Abschnitt 6). Die Feminina schließlich erheben genau diese Klasse zu ihrer größten und prototypischen,
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 161
allerdings mit einer wichtigen Modifikation: Aus Gründen der Numerusprofilierung werden die (e)n-Endungen im Singular morphologisch abgebaut6 – womit ihr Erhalt im Plural ein klares, segmentales Pluralisierungsverfahren garantiert. Diese Divergenz zeigt Abbildung 4. Der Fragmentierung der schwachen Klasse liegt eine deutliche Genussteuerung zugrunde. Hier hat sich DeclensionFirst im Mhd. zu GenderFirst im Nhd. entwickelt. Mhd.
Num.
Kasus
Feminina
Maskulina
zunge
bote
N
zunge_
bote_
G
zungen
boten
D
zungen
boten
A
zungen
boten
N–A
zungen
boten
DeclensionFirst Sg.
Pl.
Nhd.
Feminina
Maskulina
GenderFirst
gemischt
schwach
Zunge_
Bote_
Zunge_
Boten
Zunge_
Boten
Zunge_
Boten
Zungen
Boten
Abb. 4: Die schwachen Feminina und Maskulina als mhd. Einheitsklasse und ihre genusgesteuerte Aufspaltung zum Nhd. hin
Abb. 5 illustriert die Relation zwischen Genus und Deklinationsklasse im Mhd. und Nhd. und macht damit schlagartig die diachrone Entwicklung sichtbar. Der karierte Streifen im linken Bild steht für die genusübergreifende schwache Klasse im Mhd., der sich im rechten Bild im Nhd. nicht mehr wiederfindet. Stattdessen haben sich stärkere Genuszäsuren herausgebildet – einerseits. Andererseits teilen sich im Nhd. die Maskulina und Neutra vier gemeinsame Klassen (Bild rechts: quergestreiftes Feld). Hier verfügte das Mhd. noch über je zwei maskuline und neutrale Klassen (s. Bild links). || 6 Die Genese dieser (deshalb auch als ‚gemischt‘ bezeichneten) Klasse ist etwas komplizierter (sie geht auf die Fusion zweier Femininklassen zurück).
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Mittelhochdeutsch Fem. Anzahl Klassen
Mask.
Neuhochdeutsch Neut.
1 3
2
Fem.
> 2
Anzahl Klassen
Mask.
Neut.
3
0
2 4
Abb. 5: Die Verteilung der Deklinationsklassen auf die Genera vom Mhd. zum Nhd. (die Ziffern bezeichnen die Anzahl der Flexionsklassen)7
Abb. 5 zeigt außerdem, dass die nhd. Maskulina exklusiv drei eigene Klassen kultivieren, während die Neutra nicht einmal mehr eine einzige exklusive Klasse besitzen (schwarzes Feld): Sie teilen sich alle (vier) Klassen mit den Maskulina. Damit sind die Neutra heute flexivisch am wenigsten profiliert. – Die nhd. Feminina haben keinen Anteil mehr an einer gemeinsamen Klasse, sie kultivieren zwei eigene (wovon nur eine produktiv ist). Hier haben sich im Deklinationssystem tiefe Umbrüche ereignet: Zum einen hat sich zum Nhd. hin eine +/-Feminin-Opposition herausgebildet (markiert durch den senkrechten Balken im rechten Bild), zum anderen mehrere (vier) Maskulin/Neutrum-Koalitionen, die im Mhd. noch nicht bestanden. Diese vier Gemeinschaftsklassen sprechen für DeclensionFirst, d.h. für die Schwächung von Genus und seine zunehmende Überlagerung durch Deklinationsklassen. Die Dominanz der Deklination über Genus manifestiert sich also in gegenseitigen flexivischen Annäherungen zwischen den Maskulina und den Neutra. Diese werden nun kurz skizziert. Die ‚Koalition‘ der Maskulina und Neutra (und ihre umso stärkere ‚Opposition‘ gegenüber den Feminina) beginnt in nachmhd. Zeit, grob gesagt, wie alle wichtigen morphologischen Umbrüche, im Frühnhd. Das mhd. System ist in Tab. 5 enthalten; die Pfeile zeigen die späteren Entwicklungen an, wobei wir uns auf die Maskulina und Neutra beziehen. Klasse Nr. 1 in Tab. 5 wurde bereits kommentiert: Hier zeigen die gestrichelten Pfeile bei den Maskulina die Teilräumung an (Köpcke 2000a). Einige Maskulina wechseln auch zu den Feminina, andere in neue Klassen (die sich in Tab. 6 befinden), was durch die nach oben in das Leere weisenden Pfeile angezeigt wird. Der nach oben weisende Pfeil bei den Neutra zeigt die komplette Räumung der schwachen herze-Klasse an. Wichtiger sind die Interaktionen, die Koalitionsbildungen zwischen diesen beiden Genera: Hier wird nämlich zum einen die sog. Tage-Klasse
|| 7 Nach Paul (2007). Dies ist eine vereinfachte Darstellung, die kleine und schon im Mhd. im Abbau begriffene Klassen wie die mask. Wurzelnomina vernachlässigt. Auch wurden die s-Plurale im Nhd. nicht berücksichtigt (hierzu s. jedoch Tab. 6). Zu einer ausführlicheren Darstellung der Diachronie vgl. Bittner (2003) und Kürschner (2008).
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 163
(starke Maskulina, Nr. 4) für die Neutra geöffnet: Die Neutra hatten im Ahd. und Mhd. eine große numerusuntüchtige, die sog. a-Klasse (Nr. 5), die einen vierfachen Synkretismus zwischen Nom./Akk. Sg. und Pl. enthielt (mhd. daz hûs – diu hûs). Diese Klasse wurde in der Folgezeit komplett geschlossen. Die Mitglieder nahmen entweder das Plural-e aus der maskulinen a-Klasse (das Jahr – die Jahre, das Boot – die Boote) oder das neutrale Pluralverfahren {UL + -er} an (das Haus – die Häuser). Einige Neutra zeugen noch von der damaligen Wahlfreiheit und praktizieren beides (mit feinen semantischen Differenzierungen): das Wort – die Worte/Wörter, das Land – die Lande/Länder. Damit haben die Neutra flexionsmorphologisch auf die Maskulina übergegriffen. Umgekehrt haben die Maskulina auf das neutrale Pluralverfahren der Hühnerhofklasse zugegriffen: Nach und nach bedienen sich auch Maskulina dieses salienten Verfahrens. Heute sind es ca. 20 von sehr hoher Tokenfrequenz (Köpcke 1993: 110), d.h. sie spielen mehr als nur eine Nebenrolle (z.B. der Mann – die Männer, der Wald – die Wälder). Damit expandieren genusübergreifend Deklinationsklassen (DeclensionFirst), von denen die Feminina ausgeschlossen und dadurch umso stärker abgegrenzt bleiben (GenderFirst). Tab. 5: Das mhd. Deklinationssystem mit den wichtigsten Entwicklungen zum Nhd. hin Genus
Nr.
bzgl. Tab. 6
stark/schwach (germ. Klasse)
FlexKl. = Gen.Sg.|Nom.Pl.
1
1+3
schwach (germ. n-Kl.)
-n | -n
2
4
+UL -e | +UL -e
3
5
4
6
5
>7
6
7
stark (germ. i-Kl.) stark (germ. i-Kl.) stark (germ. a-Kl.) stark (germ. a-Kl.) stark (germ. s-St.)
7
>3
8
> 7, 8
stark (germ. ō-Kl.) schwach (germ. Wurzelst.)
Feminina
Maskulina
Neutra
zunge
bote
herze
kraft
-(e)s | +UL -e
gast
-(e)s | −UL -e
tac
(wird geöffnet) wort
(wird geöffnet)
kalp
-(e)s | -Ø -(e)s | +UL -er ‚Hühnerhofklasse‘ -Ø | -Ø (Gen./Dat.Pl. –n!) -Ø | -Ø (überall!)
gebe man (wenige)
Anm.: Die Pfeile bezeichnen die wichtigsten Entwicklungen zum Nhd. hin; durchgezogene Pfeile: die entspr. Klasse wird geschlossen; gestrichelte Pfeile: viele Übergänge ohne Klassenschließung; gestrichelte Pfeile über die Maskulina hinausweisend: Übergang unbelebter Maskulina in andere, neue Klassen bzw. zu den Feminina (hierzu vgl. eingehend Köpcke 2000a).
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Die folgende Tab. 6 enthält das Deklinationssystem im Neuhochdeutschen. Es kamen seit dem Mhd. einige Klassen hinzu, für deren Genese auf Köpcke (1993, 2000a, b) und Kürschner (2008) verwiesen sei und die insgesamt die Maskulin/NeutrumKoalition stärken: Dies ist die sog. gemischte Klasse (Nr. 2) mit (e)s-Genitiv und enPlural (Hemd – Hemdes – Hemden). Tab. 6: Das Deklinationsklassensystem im Neuhochdeutschen (mit Types|Tokens) Genus
Feminina
Maskulina
stark/ Nr. schwach
FlexKl. = Gen.Sg.|Nom.Pl.
1
schwach
-(e)n | -(e)n Schema: belebt, trochäisch, Schwa
(17,4|12,5 %) Kunde, Matrose
2
gemischt
(3 %|2,5 %) Staat, Strahl
3
gemischt
-s | -en (Unbelebtes) -Ø | -(e)n
4
stark
5
stark
6
stark
7
stark ‚Hühnerhofklasse‘
8
stark
9
stark
10
stark
11
stark
-Ø | +UL -e (Sg. immer mit ULfähigem Vokal) -(e)s | +UL -e (Sg. einsilbig bzw. finalbetont) -(e)s | −UL -e (Sg. einsilbig/finalbet.)
(0,5 %|10 %) Stadt, Kunst (8,5 %|21,6 %) (1 Ausnahme: Gast, Hahn Floß)
(Sg. einsilbig bzw. finalbetont) (2 Ausnahmen: Mutter, Tochter)
-s | -UL -Ø (Sg. trochäisch mit Pseudosuffix) -s | -s (Wörter auf Vollvokal; Namen + Fremdwörter) -Ø | -s (Wörter auf Vollvokal; Namen + Fremdwörter)
(2 %|8 %) Auge, Hemd
(97 %|88 %) Blume, Frau
-(e)s | +UL -er
-s | +UL -Ø (Sg. trochäisch mit Pseudosuffix)
Neutra
(22,2 %|28 %) Tag, Hund (0,3 %|4,5 %) Mann, Wald
(42 %|40 %) Jahr, Boot (3,5 %|26,3 %) Kalb, Haus
(0,2 %|4 %) Schaden, Boden
(1 Ausnahme: Kloster)
(35,5 %|23 %) Brunnen, Lehrer
(29,2 %|19 %) Kissen, Ufer
(11,5 %|1,4 %) Opa, Zoo
(20,8 %|4,7 %) Klo, Konto
(1,7 %|0,2 %) Oma, Pizza
Anm.: Die in Klammern angegebenen Prozentwerte sind Pavlov (1995:45‒48) entnommen. Sie beziehen sich nur auf das jeweilige Genus und bezeichnen zuerst die Typenfrequenz (basierend auf 6.505 Einträgen des Wahrig-Wörterbuchs), und, nach dem Senkrechtstrich, die Tokenfrequenz
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 165
(basierend auf literarischen Prosawerken mit insg. 13.587 Tokens; Details zu den Korpora vgl. bei Pavlov 1995: 45‒48, 231). Die Prozentwerte erreichen pro Genus knapp 100 %, die fehlenden Prozente betreffen Ausnahmen und einzelne Fremdwörter. Kleinstgrüppchen wie Mütter/Töchter werden hier nicht als Klasse gezählt. Die dunkelgraue Hinterlegung bedeutet, dass die betreffenden Zellen keine Klassen bilden, die hellgraue (Nr. 4+7), dass die Klasse geschlossen ist. Die Verklammerungen links zeigen Makroklassen auf.
Des Weiteren etabliert sich eine neue Nullpluralklasse, die Zweisilber mit Reduktionssilbe bzw. Pseudosuffix (auf -en, -el, -er) umfasst (Nr. 9), sowie die s-Plurale (Nr. 10), die bei den Maskulina und Neutra mit einem s-Genitiv einhergehen (bei den Feminina mit Null, s. Nr. 11). Zusammen mit der neuen s-Pl.-Klasse teilen sich Maskulina und Neutra fünf gemeinsame Deklinationsklassen. Das kann einerseits als Regularitätszunahme gewertet werden (verschiedene Genera flektieren gleich), die Vielzahl der Klassen hingegen als Komplexitätszunahme (hierzu unter Punkt 6 mehr). Auffallend ist, dass sich die Maskulina drei weitere Exklusivklassen leisten (was wiederum für GenderFirst spricht), die vermehrt von Umlaut Gebrauch machen. Umlautende Plurale sind nur noch bei Maskulina leicht produktiv (vgl. Schwankungsfälle vom Typ die Verdachte/Verdächte, die Wagen/Wägen), und sie haben ihr mit Abstand größtes Vorkommen bei diesem Genus. Auffälligerweise haben die Maskulina den Neutra keine Umlautverfahren entlehnt – umgekehrt haben die Maskulina jedoch an der neutralen, obligatorisch umlautenden Hühnerhofklasse partizipiert. Die feminine Umlautpluralklasse ist längst geschlossen und umfasst noch 35‒40 Mitglieder. Man erkennt: Auch die Verteilung von Pluralumlauten differenziert und stärkt Genus diachron, bis heute. Ausgerechnet im Plural, wo Genus neutralisiert ist, manifestiert es sich indirekt am Wortkörper in Gestalt der (weitgehend genusgesteuerten) Pluralallomorphie. Dies leitet zur nächsten Frage über, der nach der Interdependenz und einer möglichen Funktionalität von Deklinationsklasse und Genus.
5 Zur Interdependenz und zur Funktionalität von Deklinationsklasse und Genus Nur der Blick auf die Diachronie liefert die entscheidenden Hinweise auf eine mögliche Funktion von Deklinationsklasse und Genus: Beide dienen m.E. der Numerusprofilierung, einer Art Leitmotiv der deutschen Sprachgeschichte. Die beiden Klassifikationssysteme fusionieren nämlich diachron auf mehrfache Weise und ranken sich dabei um die Numeruskategorie, der nach Bybee (1985) relevantesten nominalen Flexionskategorie. Manifestiert sich Flexionsklasse heute am deutlichsten im Plural, so ist Genus strikt auf den Singular beschränkt. Dies war historisch nicht immer so: Noch im Ahd. manifestierte sich Flexionsklasse auch im Singular
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und Genus auch im Plural. Erst durch die mhd. Nebensilbenabschwächung, aber auch durch morphologische Prozesse haben sich Genus und Flexionsklasse ausdrucksseitig entkoppelt und so die komplementären Verhältnisse im Nhd. ausgebildet. Dabei ist es Numerus, der die beiden Klassifikationssysteme kontrolliert, indem er sie aktiviert bzw. deaktiviert. Umgekehrt tragen Flexionsklasse und Genus zunehmend dazu bei, ihre ‚Wirtskategorie‘ formal auszustatten. Dieses komplexe Geflecht illustriert Abb. 6: Numerus
Singular
Genus
Plural
Flexionsklasse
Pfeile: durchgezogen: ‚determiniert Kategorie‘; gepunktet: ‚determiniert Form/Allomorphie‘ Abb. 6: Interkategorielle Dependenzverhältnisse zwischen Numerus, Genus und Flexionsklasse im Nhd.
Numerus ist der Kopf, das Steuerungszentrum des ganzen Geschehens: Singular aktiviert Genus (fetter Pfeil) und manifestiert kaum noch Flexionsklasse, abgesehen vom Gen.Sg. als letztem Relikt.8 Plural aktiviert dagegen Flexionsklasse (fetter Pfeil) und deaktiviert (blockiert, neutralisiert) Genus (sog. Genusneutralisierung im Plural). Die Aktivierungen werden durch die durchgezogenen, nach unten weisenden Pfeile angezeigt, die Deaktivierung durch den fetten, grob gestrichelten Querpfeil von Plural zu Genus. Aus alledem folgt: Erscheint Genus, so verweist dies eindeutig auf die Singularkategorie. Erscheint Flexionsklasse, so liegt dominant die Pluralkategorie vor.
|| 8 Diese Sicht der Entkopplung von Singular und Flexionsklasse wird mit Blick auf viele deutsche Dialekte, die das Gen.Sg.-Flexiv bereits abgebaut haben, bestätigt.
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 167
Flexionsklasse ist ein Produzent von Allomorphie, die sich auffälligerweise bei hochrelevanten Kategorien immer wieder ausbreitet (s. auch die starke Tempusallomorphie in Gestalt der starken Verbstämme). Allomorphie ist als Indikator für intakte Morphologie zu sehen und nicht etwa als Störfaktor, während ihr Gegenstück, sog. überstabile (also flexionsklassenunabhängige) Marker, genau umgekehrt den Anfang vom Ende der Morphologie einläuten, wie in Dammel/Nübling (2006) gezeigt: An mehreren Beispielen aus der Sprachgeschichte wird dokumentiert, dass (und wie) die Ausbreitung überstabiler Marker eine Schwächung der betreffenden Kategorien anzeigt, die in der Folgezeit auch nicht selten abgebaut wurden. Diese konträre Bewertung von Allomorphie und Markerüberstabilität steht den natürlichkeitstheoretischen Bewertungen diametral entgegen (vgl. z.B. Wurzel 1987, 2001): Für häufig verwendete und v.a. relevante Flexionskategorien lohnt sich Allomorphie aus kognitiver Perspektive – Allomorphie steht für morphologische Stärke –, während die weitere Entwicklung überstabiler Marker immer wieder erweist, dass dies in Deflexion mündet, d.h. Markerüberstabilität steht für morphologische Schwäche. Wenn – wie in dem hier interessierenden Fall – Numerus von beiden Ausprägungen her von reicher Allomorphie flankiert wird, dann spricht dies insgesamt für die Stärke der Numeruskategorie. Die Numerusprofilierung gilt in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung als unumstrittenes Faktum, nur dass man Flexionsklasse als Pluralprofilierung und vor allem Genus als Singularprofilierung bisher nicht damit in Verbindung gebracht hat. Die profilierenden Verfahren unterscheiden sich dabei stark: Singular wird durch das syntagmatische Verfahren der Genuskongruenz in der gesamten Nominalphrase, nur nicht am Nomen selbst angezeigt. Genus und damit Singular erfährt am Artikel eine deutlichere Markierung als der Plural, der nur den Einheitsartikel die führt (der außerdem mit dem Fem.Sg. synkretisiert). Indem es insgesamt drei Genera gibt, ist dieses Verfahren auch paradigmatisch gut ausgestattet. Plural wird zwar auch in der NP, doch vor allem am Nomen selbst durch ein paradigmatisches Verfahren, nämlich den Einsatz verschiedener Allomorphe angezeigt. Die Numeruskategorie wird also durch die beiden „durchgrammatikalisierten“ (desemantisierten) Klassifikationssysteme, die damit selbst eine Neufunktionalisierung (Renovation) erfahren, von beiden Seiten her gestärkt und gestützt. Funktional gehen Flexionsklasse und Genus eine Symbiose ein. Auch nähern sie sich formal einander an, wie weiter unten gezeigt wird. Ob auch eine aus theoretischer Sicht zu erwartende 1:1-Verschränkung zwischen Genus und Flexionsklasse erfolgt, ist nur mit Blick auf die heute produktiven Flexionsklassen zu beantworten: Bei den Feminina sind dies die (e)n-Plurale, bei den Maskulina und Neutra die e-Plurale (mit Ausnahme der schwachen Maskulina). Denkt man diese Entwicklung weiter, so könnte man für die fernere Zukunft ein Zweigenussys-
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tem (Feminina, Nichtfeminina) mit zwei Flexionsklassen (-(e)n, -e) prognostizieren. Was uns indessen die Dialekte sagen, geht nicht in diese Richtung (hierzu vgl. Nübling 2008, auch Duke 2005, 2009).9 Zurück zu Abb. 6: Die nach oben weisenden gepunkteten Pfeile zeigen die formale Gestaltung, die materielle Ausstattung der betreffenden Kategorie am Wortkörper selbst an: Dass Flexionsklasse die Pluralform ausstattet, ist deutlich geworden. Es stattet jedoch auch Genus zunehmend die Singularform des substantivischen Wortkörpers aus insofern, als die Feminina ein echtes Femininschema (im Singular) entwickelt haben: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein zweisilbiges, auf Schwa auslautendes Wort ein Femininum ist, ist extrem hoch. Köpcke (1993: 128) geht sogar so weit, dieses Schwa als „Genusindikator“ zu bezeichnen. Schwache Maskulina, die ähnlich geformt sind, sind durch ein ganzes Geflecht an Konditionierungsbedingungen ausgewiesen, sie sind z.B. semantisch auf die Bezeichnung männlicher Lebewesen beschränkt. Wie deutlich das feminine Singularschema wirkt, zeigt Tab. 7, die heutige Genusschwankungen zwischen Feminina und Maskulina enthält sowie deren formale Auswirkungen auf den Wortkörper. Tab. 7: Genusschwankungen und das feminine Genusschema Feminina im Sg. festes Schema: Trochäus auf -[ə]
Maskulina im Sg. kein festes Schema (*Trochäus auf -[ə])
Akte, Hacke, Hode, Knolle, Nacktmulle, Quelle, Akt, Hacken, Hoden, Knollen, Nacktmull, Quell, Ruine, Scherbe, Socke, Spalte, Sprosse, Truppe, Ruin, Scherben, Socken, Spalt, Sprossen, Trupp, Type, Zacke, Zehe, Zinke Typ, Zacken, Zeh, Zinken
Damit wird deutlich: Genus greift im Fall der Feminina zu einem Verfahren, das eigentlich Deklinationsklassen eignet, indem es sich zunehmend am Wortkörper selbst verfestigt. Nach der Definition von Corbett (1991:62) entwickelt sich das Femininum von einem „covert gender“ zu einem „overt gender“ (die obligatorische Kongruenz bleibt ja erhalten). Somit interagieren Genus und Deklinationsklasse nicht
|| 9 Ein Blick auf andere germanische Sprachen erweist, dass eine Interaktion zwischen Genus und Deklinationsklasse nicht stattfinden muss, d.h. beide Systeme können unabhängig voneinander existieren. Dies zeigt eindrucksvoll das Niederländische mit zwei Genera und drei Deklinationsklassen, darunter zwei produktiven, der en- und der s-Plural-Klasse (Genitive werden nicht mehr synthetisch realisiert). Die Pluralbildung (= Deklinationsklasse) ist von Genus vollkommen entkoppelt (seit dem Mittelniederländischen) und folgt outputorientierten, prosodisch konditionierten Regeln, die Trochäen produzieren: -en tritt an monosyllabische bzw. finalbetonte Stämme, -s an Zweisilber (inkl. Diminutiva). Von einstiger Genussteuerung kündet nur noch die unproduktive, 15 Mitglieder umfassende einstige Hühnerhofklasse mit dem Doppelpluralmorphem -eren (Typ lam – lammeren): Sie enthält ausschließlich Neutra (ausführlich zum Niederländischen vgl. Kürschner 2008: 145‒173).
Flexionsklassen als morphologischer Ballast? | 169
nur bzgl. ihrer Funktion, sondern auch ihrer Materialisierungstechniken, ihrer targets.10 Schließlich ist in Abb. 6 von ‚Genus‘ zu ‚Flexionsklasse‘ eine Verbindung enthalten, die in einen gepunkteten Pfeil mündet: Hiermit ist das GenderFirst-Prinzip gemeint, d.h. die bei den Feminina und Nicht-Feminina geltende Tatsache, dass sich deren Pluralallomorphe gegenseitig weitestgehend ausschließen. Solchermaßen vermittelt schlägt sich Genus nicht nur am singularischen, sondern auch – overt – am pluralischen Wortkörper nieder: -(e)n im Plural verweist stark auf ein Femininum (hohe „Signalstärke“ nach Köpcke 1993), -e oder Null oder UL + -er auf ein Nicht-Femininum (Kürschner 2008: 139). Damit interagieren Genus und Flexionsklasse auf mehreren Ebenen. Diese durch Genus und Deklination weitgehend komplementär erfolgende Numerusstärkung ist als sekundäre Funktionalisierung zu erfassen, d.h. als eine Anbindung (oder Bändigung) zweier bisher weitgehend arbiträrer Nominalklassifikationen. Damit war Form vorhanden, die an eine (als solche bereits bestehende) Funktion angebunden wurde (daher keine Exaptation, da diese eine neue Funktion verlangt): Hier also gilt function follows form. Doch nicht nur das: Die seit dem Mhd. stattfindende Entstehung neuer Klassen zeigt, dass Flexionsklassen nicht nur End- oder Abfallprodukte der Grammatikalisierung einstiger classifier sind, sondern dass sie auch über andere Wege als die Grammatikalisierung entstehen können, nämlich – und dies zeigt die gemischte Klasse, bestehend aus Maskulina und Neutra – über die Rekombination bereits bestehender Klassenmarker: Der Genitivmarker -(e)s entstammt der starken und der Pluralmarker -en der schwachen Flexion (das Hemd - des Hemdes – die Hemden; der Staat – des Staat(e)s – die Staaten). Die Frage, warum zu der ohnehin hohen nominalflexivischen Komplexität auch noch eine weitere Klasse hinzutritt, ist nur mit Blick auf die neue, numerusprofilierende Funktion von Flexionsklassen zu beantworten: Es ist kein Zufall, dass die gemischte Klasse nicht zu der anderen (theoretisch auch möglich gewesenen) Mischung an Markern gegriffen hat (*en-Genitiv + sPlural): -en ist das signalstärkste Pluralflexiv (und wird umgekehrt im Kasussystem abgebaut), während -(e)s das noch deutlichste Kasussuffix ist.11 Durch diese spezifische Neukombination wird die Uniformität dieser Marker gestärkt: Flexionsklasse, selbst die Entstehung einer neuen, steht im Dienst ihrer Wirtskategorien: Sie dient
|| 10 Zu diesem Komplex verstärkter overter Femininanzeige am Wortkörper gehört auch die vermehrt auftretende sog. Femininkongruenz via in-Movierung ohne Bezug auf belebte Entitäten vom Typ die EU als Förderin (hierzu vgl. Scott 2009 und Jobin 2004). 11 Der s-Plural wird in seinem Status meist überbewertet. Im Fall von Fremdwörtern wird er bei morphologischer Integration oft abgebaut (Köpcke 1993: 143‒157; Wegener 2004). Keinesfalls handelt es sich um ein Pluralflexiv mit hoher Signalstärke.
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der deutlicheren, monofunktionaleren Kategoriensymbolisierung. Nur so lassen sich die Zuwächse an Flexionsklassen verstehen. Doch auch der Schwund von Flexionsklassen ist nur vor diesem funktionalen Hintergrund zu verstehen: Die mhd. Deklinationsklassen, die nicht überdauert haben, waren allesamt numerusuntauglich (Nullpluralklassen): die fem. ō-Klasse (mhd. sünde – sünde), die neutr. a-Klasse (mhd. wort – wort), die mask. Wurzelnomen (man – man) sowie die -(t)er-Stämme (mhd. vater – vater). Das heißt: Schon im Frühnhd. muss Flexionsklasse in den Dienst der Numerusanzeige gestellt worden sein und entscheidet das Pluralmorphem über den Fortbestand der Klasse.12 Was das Genussystem betrifft, so liegt eine weitere Funktion und damit Begründung für seinen Erhalt in einer ganz anderen Domäne, der Syntax: Wie Ronneberger-Sibold mehrfach gezeigt hat, dient Genus maßgeblich der Stabilisierung und Funktionstüchtigkeit der Nominalklammer (Ronneberger-Sibold 1991, 1994, 2007, 2010a, b). Genus als einzige ‚Kategorie‘, auf die die Sprecher nicht frei zugreifen können (im Gegensatz zu Kasus und Numerus), zieht sich als konstantes Merkmal vom linken bis zum rechten Nominalklammerelement, d. h. vom Artikel(wort) zum dazugehörigen Kernnomen. Tatsächlich lässt sich innerhalb der germanischen Sprachen eine Korrelation zwischen Genusanzahl und Ausbaugrad der Nominalklammer (ermittelbar anhand der Strapazierfähigkeit des Mittelfelds) feststellen. Englisch als genuslose Sprache erlaubt nur minimale Mittelfelder, Niederländisch als Zweigenussprache etwas ausgebautere. Das Deutsche mit seinem Dreigenussystem leistet sich die mit Abstand größten Mittelfelder.13
6 Deklinationsklassen und (Ir-)Regularität Abschließend ist der Frage nachzugehen, ob Deklinationsklassensysteme Irregularität generieren. Sicherlich ist eine Sprache ohne Deklinationsklassen regulärer und einfacher zu beschreiben als eine mit Deklinationsklassen. Deklinationsklassen verursachen Allomorphie: Je mehr Klassen, desto mehr Allomorphie. Es wurde jedoch deutlich, dass Flexionsklassen nicht nur um- oder abgebaut werden, sondern auch aufgebaut durch die Kombination von Exponenten verschiedener Flexionsklassen. Auch erfahren nicht nur Klassen mit hoher Typenfrequenz Zuwächse, sondern es können auch Kleinklassen produktiv und damit größer werden. Dies wurde || 12 Es ist daher stark verkürzt, wenn Bittner/Bittner (1990) kategorisch von „der Tendenz des Verschwindens ganzer Flexionsklassen“ (18) sprechen: Erstens kommt es auf ihre numerusmarkierende Qualität an, und zweitens können auch neue Klassen entstehen (zur Entstehung neuer Verbklassen vgl. Dammel 2011, Kap. 3). 13 Die Funktion eines erleichterten reference trackings mag eine weitere, doch sicher nicht die primäre Funktion von Genus sein (Duke 2005, 2009).
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anhand der Hühnerhofklasse gezeigt. Umgekehrt können große Klassen an Produktivität und damit an Mitgliedern verlieren. Das Phänomen Flexionsklasse ist von ungemeiner Komplexität, der dieser Beitrag nur ansatzweise gerecht werden konnte. Hier ging es primär um eine (re)funktionale Begründung von Flexionsklassen und Genus und um eine Abkehr von dem Gedanken, Flexionsklassen seien nur morphologischer Ballast. Bei der Frage nach dem Irregularitätspotential von Flexionsklassen ist von maßgeblicher Bedeutung, ob man dem Substantiv seine Flexionsklasse irgendwie ‚ansieht‘, d.h. ob das Substantiv konditioniert ist, ob es bestimmten Zuweisungsprinzipien bzw. Zugangsbeschränkungen folgt. Die Konditionierung bildet eine Stütze zur Erschließung der Flexionsklasse, sie hat daher mit einer möglichen Funktion von Flexionsklasse nichts zu tun (deshalb ist der Begriff der sog. „außermorphologischen Motivierung“ von Wurzel 1986 irreführend). M.E. bildet die Etablierung von Zuweisungsregeln eine Schwächung des Phänomens Flexionsklasse: Flexionsklasse ist nicht mehr autonom, sie bedarf einer Memorierungsstütze. Diese Stütze vermag Flexionsklassen durchaus Stabilität zu verleihen, manchmal vielleicht auch Produktivität, wobei dieser Zusammenhang m.E. noch nicht ausreichend untersucht wurde. Abschließend seien in Abb. 7 die wichtigsten Zuweisungsregeln präsentiert und hierarchisiert (vgl. auch Dammel/Kürschner 2008: 254). Den höchsten Komplexitäts- und Irregularitätsgrad bilden die Klassen, die ohne jegliche Anbindung sind, die also mit dem Lexikoneintrag des betreffenden Wortes gelernt werden müssen. Dies betrifft z.B. die starken und schwachen Verben, aber auch manche Substantivklassen wie die gemischten Maskulina und Neutra. Doch erweist sich schon hier, dass sie immerhin auch auf der nächsten Stufe zu verorten sind insofern, als sie eben nur maskulines oder neutrales Genus besitzen können. Die meisten Deklinationsklassen sind zumindest bzgl. +/– feminin auf Stufe 2 zu verorten (Bittner 1994). Eine klare 1:1-Zuordnung von Flexionsklasse und Genus hat im Deutschen nicht stattgefunden, doch wurde mit der Aufgabe der schwachen, genusübergreifenden Einheitsklasse im Mhd. deutlich, dass Flexionsklasse verstärkt mit Genus verzahnt wird: Die Feminina setzen auf die en-Plural-Klasse, die Maskulina und Neutra auf den e-Plural (wobei die Maskulina auch Umlaute kultivieren). Gemeinschaftsklassen gibt es nur bei den Nichtfeminina. Ob diese verstärkte Genusverschränkung regularisierend wirkt, ist angesichts der quantitativen Asymmetrien, d.h. der Relation „1 Genus – mehrere Flexionsklassen“ oder „2 Genera – 1 Flexionsklasse“, nur bedingt anzunehmen. Doch werden diese asymmetrischen Verhältnisse durch weitere Konditionierungen kompensiert.
172 | Damaris Nübling
1. lexikalisch
Keine Regel: Deklinationsklasse muss mit dem Lexem
nicht-referenzieller Gebrauch
Abb. 2: Der Grammatikalisierungspfad vom Zahlwort ‚eins‘ zum Indefinitartikel in der Geschichte des Deutschen
In dieser Studie wurden Indizien für die Festigung des spezifischen und das Aufkommen des prädikativen und generischen Indefinitartikels im Laufe des Mhd. aufgeführt. Die Entwicklung des nicht-spezifischen Artikels wie in Ich brauche einen neuen Schreibtisch wird in einer späteren Phase vermutet. Es ist nach Weiss (2004) anzunehmen, dass diese Funktion im Anschluss an die prädikative und generische Verwendung, also vermutlich erst im Frühneuhochdeutschen, entsteht.
Vom Zahlwort eins zum Indefinitartikel ein(e) | 259
Die in dieser Pilotstudie aufgezeigte Forschungsrichtung sollte in einer systematischen Korpusuntersuchung fortgeführt werden, um alle Facetten der Grammatikalisierung vom Zahlwort zum Indefinitartikel zu erfassen. Da der Grammatikalisierungspfad mehrere, aufeinander aufbauende grammatische Funktionen umfasst, sind beide zu Beginn zitierten Meinungen zum Grammatikalisierungsstand im Ahd. berechtigt, denn sie beziehen sich auf unterschiedliche Entwicklungsphasen. Während Donhauser (1995) die spezifizierende Funktion des emergierenden Indefinitartikels betrachtet, konzentriert sich Oubouzar (1997, 2000) wohl auf den späteren nicht-referentiellen Gebrauch.
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260 | Renata Szczepaniak
Otfrids Evangelienbuch. Titus-Version von Jost Gippert. Frankfurt a. M. 1997‒2003. Eingetragen von Roland Schuhmann and Martin Bayer. Online unter: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/ germ/ahd/otfrid/otfri.html (20.08.2014). Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007. Walter von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beitr. von Thomas Bein und Horst Brunner, hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin/New York 141996. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Berlin/New York 1998.
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Vom Zahlwort eins zum Indefinitartikel ein(e) | 261
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Elke Ronneberger-Sibold, Mir Kamaladin Kazzazi und Stefanie Potsch-Ringeisen
Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität Schriftbasierte Wortschöpfung im Deutschen, Farsi und Chinesischen
1 Einleitung 1.1 Wortschöpfung als intendierte Irregularität: Definitionen – Funktionen – Rolle der Transparenz Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist eine besondere Form der Irregularität in der Wortbildung: Es geht um bewusste Abweichungen von den normalen Wortbildungsregeln bzw. -modellen einer Sprache zu verschiedenen kommunikativen Zwecken. Deutsche Beispiele sind etwa Kürzungen wie Limonade > Limo, Lastkraftwagen > LKW, Verfremdungen wie Wie Leder > Vileda oder Kreuzungen wie von ja und nein zu jein. Dieses absichtliche Erzeugen inhalts- und/oder ausdrucksseitig neuer Wörter außerhalb der einzelsprachlichen Grammatik bezeichnen wir als Wortschöpfung im Gegensatz zur regulären Wortbildung1 Die dabei verwendeten Operationen, die zwar einen konventionalisierten Kern haben, aber je nach den Umständen der Schöpfung relativ frei variiert werden können, nennen wir Wortschöpfungstechniken, ihr Ergebnis Wortschöpfungsprodukt oder – wo keine Verwechslung zu befürchten ist – ebenfalls Wortschöpfung. Die Absichtlichkeit unterscheidet die Wortschöpfungstechniken von teilweise ähnlichen Operationen, die in der Natürlichen Morphologie als extragrammatisch bezeichnet werden (z.B. Kilani-Schoch/Dressler 2005: 98; Dressler et al. 2005: 456– 458 – mit Bezug auf Reduplikation). Sie werden von Kindern in der so genannten prä- und protomorphologischen Phase des Spracherwerbs, d.h. vor dem Erwerb einer regulären morphologischen Kompetenz, durchgeführt. Die Kinder werden dabei von universellen kognitiven Prinzipien wie z.B. Ikonizität geleitet. Berührungspunkte mit der Wortschöpfung ergeben sich dadurch, dass diese Prinzipien
|| 1 Wie die Beispiele zeigen, ist der Terminus Wortschöpfung hier entgegen einem weit verbreiteten Usus (z.B. Bußmann 2002: 755) nicht auf die so genannte Urschöpfung ohne sprachliches Ausgangsmaterial beschränkt, obwohl er diesen Fall mit einschließt. Alle in diesem Aufsatz behandelten Wortschöpfungen beruhen auf bereits existierenden Wörtern.
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auch nach dem Erstspracherwerb verfügbar bleiben und unter anderem bei der absichtlichen Wortschöpfung aktiviert werden können. Weitere Berührungspunkte bestehen zu verschiedenen Arten von sprachlichen Irrtümern in der Performanz und von Sprachstörungen (Ronneberger-Sibold 2010: 205). Auch beim Sprachwandel wird die Sprachgemeinschaft offenbar bei der Produktion und vor allem der Auswahl von Varianten unter anderem durch solche Prinzipien geleitet, obwohl beides sich normalerweise überindividuell, unbewusst und in langen Zeiträumen vollzieht (Ronneberger-Sibold 2001, 2006). Wortschöpfung hat zwei Hauptfunktionen: die Erzeugung von bestimmten Lautgestalten, die mit den Mitteln der regulären Wortbildung nicht oder nur schwer zu erreichen sind2, und die gesteuerte Reduktion von Transparenz. Letztere steht in diesem Aufsatz im Mittelpunkt. Mit Transparenz einer Wortschöpfung ist die Möglichkeit gemeint, das zugrunde liegende sprachliche Material zu erkennen und auf dieser Basis das Wortschöpfungsprodukt semantisch zu interpretieren.3 Das zugrunde liegende Material kann entweder die feste sogenannte Ausgangsform von Kürzungen und Verfremdungen sein, z.B. Lastkraftwagen zu LKW, Wie Leder zu Vileda, oder, bei Wortschöpfungstechniken ohne feste Ausgangsform, das neu kombinierte sprachliche Material, z.B. die gekreuzten Wörter ja und nein in der Kreuzung jein. Wie die Beispiele zeigen, ist der Grad, in dem die Ausgangsform durch die Wortschöpfung verhüllt wird, je nach Kürzungstechnik verschieden. Beispielsweise ist die Ausgangsform Lastkraftwagen in dem Akronym LKW sehr viel schwerer zu erkennen als die gekreuzten Wörter ja und nein in jein. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von verschiedenen Graden der Transparenzreduktion durch Wortschöpfung. In diesem Aufsatz werden wir zeigen, dass die verschiedenen Wortschöpfungstechniken gezielt eingesetzt werden, um für verschiedene kommunikative Zwecke jeweils Wörter mit dem optimalen Transparenzgrad herzustellen. Durch die produktiven Regeln bzw. Modelle der Wortbildung ist das nicht möglich, denn diese erzeugen grundsätzlich transparente Wörter.4
|| 2 Häufig repräsentieren diese Lautgestalten bestimmte universell präferierte, d.h. in diesem Sinn unmarkierte, Muster wie z.B. mehrsilbige Folgen von Konsonant plus Vokal (KVKV…) (vgl. etwa die entsprechenden preference laws in Restle/Vennemann 2001: 1316). 3 Transparenz ist nicht zu verwechseln mit Motivation. Beispielsweise ist das deutsche Wort Junggeselle transparent, aber synchron nicht (mehr) motiviert: Man erkennt die beiden Wörter jung und Geselle und kann das Kompositum semantisch interpretieren als 'junger Geselle', aber diese Wortbildungsbedeutung passt synchron nicht zu der Gebrauchsbedeutung 'unverheirateter Mann'. Umgekehrt ist z.B. ein lautmalendes Wort wie platsch zwar motiviert, aber nicht transparent, denn es beruht nicht auf sprachlichem Material, sondern auf einem Sinneseindruck, der direkt vom Referenten ausgeht. Folglich ist Transparenz zwar eine günstige, aber nicht unbedingt notwendige Bedingung für Motivation. 4 Die transparenten Produkte der regulären Wortbildung können ihre Transparenz zwar im Laufe der Zeit durch Sprachwandel in verschiedenem Grade einbüßen, aber dieser Vorgang kann weder
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Die Transparenzreduktion durch Wortschöpfung wird im Allgemeinen als unerwünschte, aber unvermeidliche Begleiterscheinung der lautlichen Optimierung betrachtet (z.B. Lappe 2007). Bei den verschiedenen Formen der Kürzung und Kreuzung scheint das einleuchtend wegen ihres kürzenden Effekts, insbesondere in Kontexten, die durch Mangel an Zeit und Raum geprägt sind wie Zeitungsüberschriften, SMS-Nachrichten, Chat und dergleichen. Auch in fachsprachlicher Routinekommunikation ist die Kürze des Ausdrucks wichtiger als eine transparente Kodierung der ohnehin allen Kommunikationsteilnehmern weitgehend bekannten Inhalte. Aber schon bei einer orthographischen Verfremdung in einem Markennamen wie Vileda < Wie Leder versagt die Motivation durch lautliche Optimierung, denn hier bleibt die Aussprache von Ausgangsform und Schöpfungsprodukt ja weitgehend gleich. Und selbst bei den Kürzungen fragt man sich bei genauerer Betrachtung, warum nicht solche Techniken stärker bevorzugt sind, die einen hohen Grad an lautlicher Optimierung mit einem relativ hohen Transparenzgrad verbinden wie etwa die akronymische Kürzung (z.B. Schutzpolizist > Schupo). Daher betrachten wir die Transparenzreduktion nicht als eine unwillkommene Begleiterscheinung, sondern als eigenes Ziel der Wortschöpfung. Wortschöpfung wird nämlich besonders häufig zu solchen kommunikativen Zwecken eingesetzt, zu deren Erreichung volle Transparenz unerwünscht ist wie z.B. – das Amüsieren und Unterhalten der Hörer/Leser in humoristischen, vor allem satirischen Texten im weitesten Sinne, einschließlich Kinder- und Jugendliteratur sowie in der Werbung, – das Verhüllen der mitgeteilten Inhalte gegenüber ‚Outsidern‘ in Gruppen- oder gar Geheimsprachen, – das Beschönigen von Inhalten in Euphemismen, Tabuwörtern und dergleichen. Der wichtigste solche Zweck aber, der mit allen bisher genannten verbunden sein kann, ist das Benennen von individuellen Personen, Gegenständen und Sachverhalten durch Eigennamen. Wie Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 20) mit Recht hervorheben, besteht die Funktion eines Eigenenamens nicht nur darin, das bezeichnete Objekt zu identifizieren, d.h. eindeutig von allen ähnlichen abzugrenzen, sondern auch zu individualisieren: Im Minimalfall identifiziert der Name, dies ist seine Grundfunktion. Wenn er außerdem individualisiert, dann exponiert er das Objekt zusätzlich, er rückt es stärker ins Gesichtsfeld des Be-
|| augenblicklich durchgeführt noch gezielt gesteuert werden. Bezeichnenderweise werden solche Sprachwandelergebnisse mit reduzierter Transparenz jedoch gerade in solchen Wortschatzdomänen bevorzugt beibehalten, in denen auch die Wortschöpfung besonders aktiv ist (RonnebergerSibold 2001).
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trachters. Bildlich gesprochen hebt der Name es auf die Bühne und beleuchtet es mit Scheinwerfern.
Für den Betrachter bedeutet das, dass er das Objekt nicht als eine Ansammlung von Merkmalen wahrnimmt, die es im Extremfall bis auf eins mit anderen Objekten teilt, sondern als ein unteilbares Ganzes, ein In-dividuum. Für ein solches holistisch wahrgenommenes Konzept ist eine einfache, d.h. morphologisch nicht zerlegbare ‚etikettierende‘ Benennung im Sinne von Seiler (1975) ikonisch. Tatsächlich würde jede transparentere, deskriptive Benennung des Objekts diesem Konzept weniger gut entsprechen, weil sie ja notwendigerweise auf andere Konzepte Bezug nehmen müsste. Sie würde, um im Bild zu bleiben, das Objekt nicht allein auf seiner Bühne stehen lassen. Daher wird bei der historischen Entwicklung von Personen- und Ortsnamen von der Sprachgemeinschaft mehr Transparenzreduktion akzeptiert oder sogar gesucht als bei den entsprechenden Nicht-Eigennamen.5 Ein Beispiel ist etwa der synchron opake Familienname Beck im Vergleich mit dem synchron transparenten Appelativum Bäcker. Aus der Sicht der Natürlichen Morphologie bedeutet das, dass bei Eigennamen eine niedrige oder gar keine Transparenz konstruktionell ikonischer und damit weniger markiert ist als eine höhere Transparenz.6 Transparenzreduktion durch Wortschöpfung bei Eigennamen wäre demnach eine synchron durchführbare Form des Markiertheitsabbaus, die strukturell zum selben Ergebnis führt wie langfristiger Sprachwandel (Ronneberger-Sibold 2001). Sollte sich nachweisen lassen, dass bei Eigennamen universell opakere Wortschöpfungsprodukte bevorzugt sind als bei Nicht-Eigennamen, so wäre Wortschöpfung neben Sprachwandel, Spracherwerb, Sprachstörungen, Kreolisierung u.a. ein weiteres Feld, auf dem sich eine statistische Tendenz von kognitiv schwierigeren, eben markierten, zu kognitiv einfacheren, eben unmarkierten Konstruktionen beobachten ließe.7 Freilich kann eine solche Tendenz nicht absolut gelten, sondern nur relativ und statistisch: Nicht jede Wortschöpfung im Bereich der Eigennamen ist völlig opak, nur im Vergleich zu den Nicht-Eigennamen wären sie nach unserer Hypothese im Schnitt opaker. Für die einzelne Wortschöpfung kann man daraus keine exakte Voraussage ableiten. Das unterscheidet die Wortschöpfung nicht von Sprachwan-
|| 5 Eine Zusammenfassung verschiedener Wege des diachronen Transparenzabbaus bei Eigennamen s. in Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 50–56). Zur Frage, warum Eigennamen trotzdem häufig auch transparente Teile enthalten, Nübling (2000). 6 Das Argument der Ikonizität von morphologisch einfachen Ausdrücken für holistisch wahrgenommene Konzepte wurde von Osthoff (1899) mit Bezug auf Motionsformen in die Diskussion über morphologische Irregularität eingeführt und durch Wurzel (1985, 1990) auf Flexionsparadigmen bezogen – unseres Erachtens nicht wirklich sinngemäß (Ronneberger-Sibold 1988). Bei den Eigennamen ist es hingegen wirklich einschlägig. 7 Vgl. Wurzel (1984), zusammenfassend Dressler (2000).
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del, Spracherwerb usw. Auch dort interagieren ja immer mehrere, unterschiedlich motivierte Tendenzen, die auf verschiedenen Parametern von Markiertheit beruhen, von denen sich im Einzelfall in Abhängigkeit von verschiedenen inner- und außersprachlichen Faktoren einmal die eine, einmal die andere stärker durchsetzt (z.B. morphologische vs. phonologische Markiertheit, universelle Markiertheit vs. einzelsprachliche Systemangemessenheit usw.). Ähnlich wie bei Sprachwandel, Spracherwerb usw. muss man zudem davon ausgehen, dass eine eventuelle Bevorzugung niedrigerer Transparenzgrade für Eigennamen als für Nicht-Eigennamen den Wortschöpfern nicht bewusst ist. Zwar erfolgt die Schöpfung z.B. von Produktnamen sehr bewusst durch einzelne, manchmal sogar individuell bekannte Sprachbenutzer, aber diese denken dabei an Ziele wie Wohlklang, Kürze, Witzigkeit und dergleichen, und nicht etwa an eine Reduktion der Transparenz. Sollte sich daher selbst unter diesen extrem „unnatürlichen“ Bedingungen die „natürliche“ Tendenz zu relativ opaken Eigennamen durchsetzen, spräche das dafür, dass die Kenntnis der Markiertheitswerte von Transaprenzgraden in Abhängigkeit von kommunikativen Funktionen Teil der sprachlichen Kompetenz ist, der die Sprachbenutzer bei der Wortschöpfung genauso unbewusst folgen wie bei der normalen Sprachverwendung den Regeln ihres Systems.
1.2 Forschungsfrage und untersuchte Sprachen Tatsächlich hat eine Untersuchung von deutschen Wortkreuzungen in RonnebergerSibold (2006) ergeben, dass Techniken, die die Transparenz sehr stark reduzieren oder völlig vernichten, fast ausschließlich bei Eigenamen verwendet wurden, während bei den Nicht-Eigennamen transparentere Kreuzungstechniken bevorzugt waren. Dieses Ergebnis wird in Ronneberger-Sibold (2014) für den Bereich der Kürzungen auf sprachvergleichender Basis bestätigt. In diesem Aufsatz überprüfen wir, ob die Präferenz für starke Transparenzreduktion in Eigennamen sogar für solche Wortschöpfungstechniken gilt, die auf der schriftlichen Realisierung ihres sprachlichen Ausgangsmaterials beruhen und die zu ihrer Durchführung der Schriftkenntnis bedürfen, auch wenn ihre Produkte nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich realisiert werden.8 Wir nennen sie schriftbasierte Wortschöpfungstechniken. Angesichts der stärker normierenden und kodifizierenden Einflüsse, denen Schriftsysteme und die in ihnen geschriebene Sprache im Vergleich zur gesprochenen ausgesetzt ist, kann man ja keineswegs selbstverständlich davon ausgehen, dass Tendenzen, die sich bei der spontanen mündlichen Wortschöpfung wie z.B. der Kürzung von Limonade zu Limo oder der Kreuzung von || 8 Wortschöpfungsprodukte, die nur schriftlich existieren, wie z.B. dt. bzw. < beziehungsweise werden hier nicht behandelt.
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ja und nein zu jein durchsetzen, auch im Bereich der schriftbasierten Wortschöpfung gelten. Besonders fraglich erscheint das bei Schriftsystemen, die, etwa im Vergleich zum lateinischen Alphabet im Deutschen, die Lautung nur unvollständig und indirekt abbilden wie das arabische, oder die überhaupt nicht primär auf der Lautung aufbauen wie das chinesische. Zudem bestehen Interdependenzen zwischen dem Schriftsystem und der Grammatik einer Sprache, z.B. zwischen dem morphembasierten „isolierenden“ Sprachtyp des Chinesischen und der logographischen Schrift, die gerade die Morpheme wiedergibt. Ist unter solchen Bedingungen damit zu rechnen, dass es überhaupt verschiedene Wortschöpfungstechniken mit unterschiedlichen Transparenzgraden gibt und dass diese nach denselben Gesichtspunkten im Wortschatz verteilt sind wie etwa im Deutschen? Um diese Frage zu beantworten, haben wir für unsere Untersuchung der schriftbasierten Wortschöpfung bewusst drei radikal verschiedene Sprach- und Schriftsysteme ausgewählt. Diese sind: (a) das für eine moderne indogermanische Sprache noch relativ stark flektierende Deutsche, das mit dem lateinischen Alphabet geschrieben wird, (b) das genetisch indogermanische, typologisch aber im Vergleich zum Deutschen sehr viel analytischere Farsi (Persisch), die Staatsprache des Iran, geschrieben mit der (leicht adaptierten) arabischen Schrift und (c) die chinesische Standardsprache pǔtōnghuà mit ihrer logographischen Schrift. Sowohl in China als auch im Iran ist in der jüngeren Generation daneben auch die lateinische Schrift verfügbar. Sollten in allen drei Sprachen bei den Eigennamen niedrigere Transparenzgrade bevorzugt sein als bei den Nicht-Eigennamen, so wäre das ein starkes Argument für unsere kognitiv basierte Hypothese, dass Transparenz bei Eigennamen tatsächlich universell markiert ist und daher durch Wortschöpfung in stärkerem Maße abgebaut wird als bei Nicht-Eigennamen.
1.3 Material und Methode Das Untersuchungskorpus umfasst für jede der drei Sprachen die (unten näher beschriebenen) Teilkorpora der kommerziellen Eigennamen, der offiziellen Eigennamen und der Nicht-Eigennamen. Das deutsche Material stammt aus den folgenden Quellen: Für das Teilkorpus der kommerziellen Eigennamen wurden alle einschlägigen Einträge aus Lötscher (1992) sowie aus dem Material eines Projekts über die historische Entwicklung deutscher Produktnamengebung von 1894 bis 1994 entnommen.9 Das Teilkorpus der
|| 9 Dieses Projekt wurde von 1999 bis 2002 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt durchgeführt. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung sowie den
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offiziellen Eigennamen sowie ein großer Teil der Nicht-Eigennamen stammt aus dem Korpus von Ronneberger-Sibold (1992), das seinerseits auf dem RechtschreibDuden (1986) und den Listen von Abkürzungen in den Anhängen von Weis/Mattutat (1988) sowie von Wildhagen/Héraucourt (1972) beruht.10 (Ziel war nicht, möglichst viele durch Wortschöpfung entstandene Eigennamen aufzunehmen, sondern solche, die so weit in den allgemeinen Usus integriert sind, dass sie in einem allgemeinen zweisprachigen Wörterbuch gelistet werden.) Das Teilkorpus der NichtEigennamen wurde ergänzt durch alle einschlägigen Wörter in Grésillon (1984) und Wabner (2005). Einige Schöpfungen fanden sich zudem in Dürscheid (2002), Forgács/Göndöcs (1997), Janich (2010), Leitner (2004), Schlobinski, Simone (2004) sowie Schlobinski/Siever (2005). Insgesamt umfasst das deutsche Korpus 393 schriftbasierte Wortschöpfungen. Das persische und chinesische Untersuchungsmaterial entstammt einem wissenschaftlichen Projekt zur Erforschung der Wortschöpfung im Farsi und im Chinesischen im Vergleich mit dem Deutschen. Es wurde von 2009 bis 2011 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt durchgeführt.11 Insgesamt wurden 415 persische Wortschöpfungen von Mir Kamaladin Kazzazi und 809 chinesische von Stefanie Potsch-Ringeisen gesammelt. Davon sind 252 persische und 306 chinesische schriftbasiert. Die wichtigsten Quellen waren Spezialpublikationen12, die Dokumentation gesicherter kommerzieller Namen,13 Firmenseiten, Chatrooms und Foren im Internet und persönliche Interviews und Notizen im Land. Die gefundenen Wortschöpfungen wurden in taxonomischen Phonemen (nicht in Morphophonemen!) nach IPA transkribiert. (Rad und Rat würden nach diesem Verfahren also beide als /ra:t/14 transkribiert. Dies ist wichtig, um bestimmte Formen der Verfremdung durch Homophone zu verstehen.) Phonetische Details unterhalb der Phonemebene blieben unberücksichtigt, weil sie den Sprachbenutzern nicht bewusst sind. Außerdem wurden die chinesischen Schöpfungen nach dem landesüblichen Transkriptionssystem pīnyīn transkribiert, die persischen nach dem
|| Bearbeiterinnen Kerstin Kazzazi und Victoria Schnitzlein für ihren großen Einsatz und viele weiterführende Diskussionen [E.R.-S.]. 10 Beispiele aus diesen Werken werden im Folgenden nicht einzeln kenntlich gemacht. 11 Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre Förderung dieses Projekts, sowie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt für die Finanzierung der notwendigen Feldforschungsreisen. 12 Ekrāmi 2005, Farhangestān-e zabān va adabiyāt-e Fārsi. Goruh-e takhasosi-ye ekhtesārāt (Hrsg.)1999; Parchami 2004; Samā'i 2004; Ling 2002; Liu 2007; Shanghai Daily (Hrsg.) 2007; Sun 2009, Xiandai hanyu cidian 2009. 13 Kātālog-e asāmi-ye sherkathā (Katalog der Firmennamen). Teheran 1975. 14 Bei den deutschen Vokalen wurde die Quantitätsgegensatz als distinktiv betrachtet, bei den persischen der Qualitätsgegensatz. Das erklärt die gegenseitigen Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Vokalphoneme.
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Usus der Orientalistik (z.B. in Houtsma 1913–1936) transliteriert. Die Originale und alle Transkriptionen bzw. Transliterationen wurden in eine Datenbank vom Typ Access eingegeben. Wenn auch die graphische Gestaltung etwa eines Firmenlogos für die Interpretation einer Schöpfung von Bedeutung ist, wurde auch diese aufgenommen. In der Datenbank wurden die Wortschöpfungen in eine Typologie von Schöpfungstechniken eingeordnet, von denen für diesen Aufsatz nur die schriftbasierten ausgewählt wurden. Diese wurden nach abnehmender Transparenz der durch sie erzeugten Wortschöpfungsprodukte auf einer Skala angeordnet. Die Typologie war ursprünglich für deutsche Markennamen entwickelt worden (Ronneberger-Sibold 2010: 207–213), erwies sich jedoch auch für die persischen und chinesischen Schöpfungen als durchaus praktikabel.15 Die Unterschiede betreffen größtenteils die Belegdichte und die Untergliederung der einzelnen Typen. So sind z.B. einige Typen im Chinesischen feiner untergliedert als im Deutschen, andere werden gar nicht benötigt. Eine grundlegend andere Technik haben wir jedoch nur in einem Fall im Chinesischen gefunden. Sie hängt mit der logographischen Schrift zusammen. Außerdem wurden die Wortschöpfungen in der Datenbank nach ihren Wortschatzdomänen klassifiziert: Allgemeinsprache, verschiedene Fachsprachen (Technik/Naturwissenschaften, Militär, Verwaltung/Recht, Politik, Kunst/Kultur), verschiedene Gruppensprachen (Jugend, „Szene“, Lati (eine bestimmte Subkultur im Iran), Dissidenten in China), kommerzielle Eigennamen (Produkt- und Unternehmensnamen), „offizielle“ Eigennamen (Organisationen, Institutionen, Länder usw.) Für diesen Aufsatz wurden diese Wortschatzdomänen in drei Gruppen zusammengefasst: Alle Nicht-Eigennamen, alle kommerziellen Namen und alle anderen Namen, wobei unter letzteren die offiziellen Eigennamen den weitaus größten Teil ausmachen. Für jede dieser drei Gruppen wurden die prozentualen Anteile der verschiedenen Schöpfungstechniken festgestellt. Unsere Hypothese war, dass bei den Eigennamen im Schnitt opakere Techniken überwiegen würden als bei den NichtEigennamen. Innerhalb der Eigennamen vermuteten wir, dass die kommerziellen transparenter als die anderen sein würden, weil es aus Gründen der Werbewirksamkeit günstig ist, ein Produkt oder eine Firma durch den Namen etwas (aber nicht zu deutlich!) zu charakterisieren (Nübling/Fahlbusch/Heuser 2012: 267–268). Der folgende Abschnitt 2 ist den deutschen Wortschöpfungen gewidmet. Zunächst werden die schriftbasierten Schöpfungstechniken und ihre Skalierung nach
|| 15 Dieser Befund ist nicht selbstverständlich, legt er doch den Schluss nahe, dass die Wortschöpfungstechniken des Deutschen und damit auch der anderen ‚westlichen‘ Kultursprachen eine Art Pool bilden, aus dem die verschiedensten Sprachen schöpfen. Die naheliegende Frage, inwieweit dies auf kulturell bedingter Übernahme vor allem aus dem Angloamerikanischen oder auf bestimmten universellen Prädispositionen beruht, lässt sich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht beantworten.
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dem Transparenzgrad ihrer Produkte vorgestellt. Danach wird der prozentuale Anteil jeder Technik an jeder der drei Wortschatzgruppen ermittelt. In den Abschnitten 3 und 4 werden sinngemäß die persischen beziehungsweise chinesischen Wortschöpfungen behandelt. Eine Erläuterung der zum Verständnis notwendigen innerund außersprachlichen Fakten ist jeweils vorangestellt. Abschnitt 5 enthält eine vergleichende Zusammenfassung und einige weiterführende Überlegungen.
2 Schriftbasierte Wortschöpfungstechniken im Deutschen: Typologie, Transparenzskala und Verwendung In Abbildung 1 wird an deutschen Beispielen die Typologie der schriftbasierten Techniken, die im vorliegenden Aufsatz zur Sprache kommen, gezeigt. Zunächst wird unterschieden zwischen einerseits solchen Techniken, die eine bereits existierende Ausgangsform lediglich ausdrucksseitig verändern (nämlich Kürzung und Verfremdung) und andererseits der so genannten Einschlusskreuzung, bei der tatsächlich ein nach Inhalt und Ausdruck neues Wort geschaffen wird.
2.1 Schriftbasierte Wortschöpfung ohne feste Ausgangsform: Einschlusskreuzung Bei der Einschlusskreuzung schließt ein längeres Wort (im Beispiel communication) ein kürzeres Wort (Munich) lautlich ein. Das kürzere Wort wird dabei nur durch seine Orthographie und eventuell weitere graphische Hervorhebungen kenntlich gemacht.16 Inhaltlich verbinden sich wie bei der regulären Komposition die Bedeutungen beider Wörter zu einer neuen: Der Name bezeichnet einen Kongress und ein Internet-Forum in München. Im Extremfall kann das eingeschlossene Wort das einschließende auch ganz überdecken, z.B. in der Headline der Seite mit Sonderangeboten einer Kosmetikfirma: ein Meer an Angeboten. Hier verbinden sich ja die Bedeutungen von mehr und Meer in dem Sinne ‚ein Mehr an Angeboten, das so groß wie ein Meer ist‘.17 || 16 Daher wird diese Art der Kreuzung auch als graphic blend bezeichnet (z.B. Soudek 1978). Reischer (2008: 189) ordnet sie ein unter „graphemischer Unifikation“. 17 Eine zusätzliche Motivation ergibt sich aus der Tatsache, dass die Firma Biomaris Kosmetik auf der Basis von Meerwasser herstellt und daher das lateinische Wort maris ‚Genitiv Singular von mare ‚Meer‘ im Namen führt. Übrigens liegt das gleiche Wortspiel der Werbung von McDonalds für ein Fischgericht zu Grunde: Schmeckt nach Meer (Wabner 2003: 106).
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Abb. 1: Schriftbasierte Wortschöpfungstechniken im Deutschen.
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Daher kann man Meer hier nicht einfach als Verfremdung von mehr betrachten (vgl. 2.2.2). Man könnte sich jedoch fragen, ob dieser Vorgang überhaupt zur Wortschöpfung gezählt werden sollte, da weder Ausdruck noch Inhalt von Ausgangs- und Ersatzwort (Mehr und Meer) jeweils für sich genommen neu sind. Neu und im Sprachsystem nicht vorgesehen ist lediglich die Kombination der Inhalte von beiden. Wenn man also das neue sprachliche Zeichen als Ganzes betrachtet, ist eine Interpretation als Wortschöpfung durchaus gerechtfertigt.
2.2 Schriftbasierte Wortschöpfung mit fester Ausgangsform: Akronymie und Verfremdung 2.2.1 Akronymie Akronymie ist eine Form der Kürzung, die die morphologische Analyse ihrer Ausgangsform voraussetzt: Initiale Buchstaben oder Buchstabenkombinationen von Konstituenten eines existierenden komplexen Wortes oder festen Syntagmas werden zu einem neuen Wort zusammengefügt. In einem Buchstabierakronym wie LKW < Lastkraftwagen sind diese Elemente Buchstaben, die mit ihren Alphabetnamen ausgesprochen werden, in einem Lautwertakronym wie Saba /za:ba/ < Schwarzwälder Apparatebauanstalt Buchstaben, die ihrem Lautwert nach realisiert werden.18 Um dem Schöpfungsprodukt eine optimale Lautgestalt mit genügend Vokalen zu verleihen, wird nicht selten außer dem Anfangsbuchstaben einer Konstituente auch der folgende Vokal entnommen, z.B. in Gruga < Große ruhrländische Gartenbauausstellung. Solche Fälle rechnen wir hier zu den Lautwertakronymen.19 Einen Sonderfall von Buchstabierakronymen stellen die so genannten Kürzungskomposita wie UBahn < Untergrundbahn dar, bei denen nur das Erstglied eines Kompositums auf seinen Anfangsbuchstaben gekürzt wird.
|| 18 Dass diese Techniken tatsächlich auf der Schreibung und nicht der Lautung der Ausgangsform basieren, zeigt sich z.B. an dem S- von Saba: Es repräsentiert den ersten Buchstaben von Schwarzwälder; das erste Phonem wäre hingegen /ʃ-/, geschrieben Sch. 19 Kürzungen, die ganz aus den Anfangsrändern plus Kernen der initialen Silben der Ausgangsform bestehen wie Schupo < Schutzpolizist (so genannte akronymische Kürzungen) haben wir dagegen nicht berücksichtigt, weil sie zu ihrer Realisierung nicht auf den schriftlichen Kode angewiesen sind. Fälle wie der Markenname Fewa < Feinwaschmittel, dessen erste Silbe Fe- offensichtlich auf der Schreibung der Ausgangsform beruht (auf phonologischer Basis hätte das Kürzungsverfahren zu /faiva/ Feiwa oder allenfalls, bei diphonematischer Wertung des Diphthongs /ai/, zu /fa:va/ Fawa geführt) sind extrem selten.
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2.2.2 Verfremdung Auch die Verfremdung operiert lediglich auf der Ausdrucksseite der Ausgangsform. Diese soll jedoch nicht kürzer, sondern nur anders, eben fremd erscheinen. Die Reduktion der Transparenz ist hier also das primäre Ziel. Unter Zuhilfenahme der Schrift kann dies entweder mit oder ohne Bezug auf andere, homophone Wörter erreicht werden. Besteht kein Bezug zu einem homophonen Wort, d.h. wird einfach bei gleich bleibender Lautung die Schreibung der Ausgangsform so stark verändert, dass diese schwer oder gar nicht erkennbar ist, so sprechen wir von (einfacher) orthographischer Verfremdung. Ein Beispiel ist der Markenname Vileda (< Wie Leder), ursprünglich für ein künstliches Fensterleder. Die orthographische Verfremdung kann auch zusätzlich zu anderen, nicht unbedingt schriftbasierten Kürzungstechniken angewandt werden. Ein Beispiel ist der Ersatz von K- durch C zusätzlich zur Apokope des konsonantischen Auslauts im Namen Compo < Kompost für Düngemittel. Wird dagegen die Ausgangsform ganz oder zum Teil durch (eventuell nur umgangssprachlich oder dialektal) bereits existierende, homophone Wörter ersetzt, ohne dass sich die Bedeutungen von Ausgangsform und Ersatzwort wie bei einer Einschlusskreuzung verbinden, nennen wir dies Ersatz durch Homophone. Ein Beispiel ist der Ersatz von kostet das in der (umgangssprachlich realisierten) Frage Was kostet das? durch den griechischen Vornamen Kostas in einer Werbeanzeige für griechische Gerichte von McDonald’s: WAΣ KΩΣTΛΣ (Wabner 2003: 113), zusätzlich verfremdet durch einige Buchstaben aus dem griechischen Alphabet. (Ähnlich wie beim oben besprochenen Beispiel mehr – Meer liegt die Wortschöpfung auch hier in der Zuordnung zwischen Ausdruck und Inhalt: Kostas ist ja nicht als Name verwendet, sondern mit der Bedeutung von ‚kostet das‘.) Das homophone Ersatzwort kann auch eigens zu diesem Zweck regulär gebildet werden, z.B. im Produktnamen Märchen-Prints ‚Prints (Ausdrucke) wie im Märchen‘ als Verfremdung von Märchenprinz (Forgács/Göndöcs 1997: 51) in einer Werbung für Drucker. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um künstlich erzeugte Volksetymologien ohne Lautveränderung (Olschanski 1996: 172-174 mit weiteren Beispielen, die allerdings nach unserer Einteilung großenteils als Kreuzungen zu interpretieren sind, vgl. Ronneberger-Sibold 2002).20 Verfremdungen durch Homophone und erst recht durch andere Schriftsysteme sind im Deutschen relativ selten. Am häufigsten werden noch Zahlwörter in Ziffernschreibweise als Ersatzwörter gebraucht, so dass die Ausgangsform gleichzeitig
|| 20 Nicht aufgenommen wurden dagegen die zahlreichen Fälle von Remotivierung, in denen ein Wort in einem mehr oder weniger stark idiomatisierten Phraseologismus oder Kompositum auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt wird, z.B. Jetzt haben wir den Salat in einer Werbung für Salat von McDonald’s (Wabner 2003: 110).
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gekürzt wird, z.B. in rebusartigen Konstruktionen wie Gute N8 < Gute Nacht (Dürscheid 2002). Im Chinesischen ist die Verfremdung durch Homophone auch mit anderen Wortarten dagegen viel stärker ausgebaut. Auch Akronyme und andere opake Wortschöpfungsprodukte wie z.B. Splitterkreuzungen können die Ausgangsform von zusätzlichen Verfremdungen sein. Es handelt sich dann gewissermaßen um ein zweistufiges Schöpfungsverfahren. Eine orthographische Verfremdung eines Akronyms liegt z.B. vor, wenn in einem Buchstabierakronym die Buchstabennamen ausgeschrieben werden, etwa in dem Markennamen für Strümpfe Elbeo < LBO < Louis Bahner, Oberlungwitz. Wie das Beispiel zeigt, können auf diese Weise Pseudoxenismen mit der Lautgestalt von Prestigefremdsprachen geschaffen werden. Wie bei dem einfachen Ersatz durch Homophone kann auch ein Wortschöpfungsprodukt völlig mit einem bereits existierenden homophonen Wort zusammenfallen, z.B. das Lautwertakronym AStA < Allgemeiner Studentenausschuss mit dem weiblichen Vornamen AStA. Das Wortschöpfungsprodukt wird in solchen Fällen gewissermaßen auf die verfremdete Form „aufgepropft“ wie ein Propfreis auf eine Pfropfunterlage im Gartenbau. Daher werden solche Schöpfungen auf Englisch prop lexeme genannt, ins Deutsche übersetzt als Propfwort (Ungerer 1991: 138). Im Fall von AStA ist das Pfropfwort nicht motiviert: Es besteht kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen Studentenausschuss und dem Vornamen. Es gibt jedoch (im Deutschen nur selten) auch motivierte Pfropfwörter. Ein berühmtes Beispiel ist der englische Name der US-amerikanischen Hilfsorganisation CARE < Cooperative for American Remittances to Europe, „aufgepropft“ auf das gleich lautende englische Wort care ‚Fürsorge‘. Ein deutsches Beispiel ist der Verlagsname Libri, lat. ‚Bücher‘, aus dem Namen des Verlegers Lingenbrink. Bei allen Formen der Verfremdung ist wichtig, dass die Ausgangsform und die verfremdete Form als homophon intendiert sind; sie müssen nicht tatsächlich vollständig gleich klingen. Schon bei unserem Ausgangsbeispiel Vileda besteht ja bei sorgfältiger Aussprache ein sogar phonologisch relevanter Unterschied zwischen dem auslautenden /-ɐ/ der Ausgangsform wie Leder und dem unbetonten /-a/ der verfremdeten Form Vileda. Dieser Unterschied ist für die Wortschöpfung jedoch irrelevant. Vom deutschen Standpunkt aus ist es erstaunlich, wie große phonologische Unterschiede etwa im Chinesischen als irrelevant für Verfremdungen durch Homophone betrachtet werden können.21
|| 21 Verfremdungen durch unvollkommene Homophone sind nicht zu verwechseln mit so genannten Hüllwörtern wie etwa Armleuchter für Arschloch, bei denen das eigentlich gemeinte Wort gerade nicht ausgesprochen werden soll. Daher soll die verfremdete Form tatsächlich nicht gleich, sondern nur ähnlich lauten wie die Ausgangsform, so dass nur ein gewisser phonologischer Anklang deren Identifizierung ermöglicht. Natürlich zieht bei solchen Wörtern die veränderte Lautung auch eine
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2.3 Skalierung von schriftbasierten Wortschöpfungsprodukten nach ihrer Transparenz Ein-
Ersatz
Ersatz
Kürzungs- Ortho-
Einf. Buch- Verfrem-
Einfache
Pfropf-
schluss-
durch
durch
komposita graph.
stabier-
Lautwert-
wörter:
kreuzung
exist.
neue
Homoph.
Homoph.
Verfremd.
dete
akronyme Buchsta-
akronyme
bier-akronyme
ComMU-
Kostas
NICHation
Märchen-
U-Bahn
Vileda
LKW
Prints
Sehr transparent
Elbeo
Saba
AStA, CARE
Opak
Abb. 2: Transparenzskala schriftbasierter Wortschöpfungen
Die transparentesten Wortschöpfungsprodukte, die durch die hier vorgestellten Techniken erzeugt werden, sind die Einschlusskreuzungen vom Typ ComMUNICHation, weil in ihnen beide gekreuzte Wörter lautlich und semantisch enthalten sind wie in einem regulären Kompositum, nur dass die Form der Zusammenfügung nicht dem regulären Modell entspricht. Auf den nächsten Stufen folgen die (im Deutschen relativ seltenen) Verfremdungen durch existierende und neue Homophone (Kostas, Märchen-Prints). Durch die lautliche (Fast-)Identität mit der Ausgangsform und den Kontext ist diese relativ leicht zu rekonstruieren: Immerhin sind diese ‚Rätsel‘ ja dazu da, gelöst zu werden. Die Bedeutung des Ersatzwortes oder der Ersatzphrase hilft dabei nicht direkt, aber dadurch, dass sie nicht in den Kontext passt, signalisiert sie, dass dieses Wort hier nicht ‚ernst gemeint‘ sein kann, dass sich etwas anderes dahinter verbergen muss. Genau dieser Hinweis fehlt bei einfachen orthographischen Verfremdungen vom Typ Vileda. Dies ist für den Rezipienten ja kein bekanntes Wort in einem unpassenden Kontext, sondern einfach ein unbekanntes Fremdwort, das (scheinbar) aus einer Prestigefremdsprache22 entlehnt ist. Der Leser wird also eher die Strategien anwenden, mit denen er normalerweise versucht, die Bedeutung von Fremdwörtern zu ermitteln, nämlich aus dem Kontext oder der Ähnlichkeit mit anderen, ihm bekannten Fremdwörtern. Die Idee, die Lautung auf ein möglicherweise zugrunde || veränderte Schreibung nach sich, aber letztere ist nicht das primäre Mittel der Verfremdung. Deswegen zählen sie nicht als orthographische Verfremdungen. 22 In diesem Fall Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch; ein durchschnittlicher deutscher Sprachbenutzer kann die typischen Lautgestalten dieser Sprachen nicht unterscheiden. Sie genießen aber Prestige als Sprachen aus typischen Urlaubsländern, mit denen man einen unbeschwerten und kultivierten Lebensgenuss verbindet.
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liegendes deutsches Wort oder eine deutsche Phrase hin zu untersuchen, liegt dabei eher fern; erst wenn er darauf gekommen ist, kann er die Ausgangsform erraten. Dies ist ein ‚schweres Rätsel‘, das von seinem Schöpfer eigentlich gar nicht dazu gedacht ist, gelöst zu werden. Daher sind in Abbildung 2 vor den orthographischen Verfremdungen die Kürzungskomposita vom Typ U-Bahn eingeordnet. Sie sind halbtransparent: Das Grundwort ist voll in der Kürzung enthalten und durch seine Stellung am Ende und den vorausgehenden Bindestrich auch deutlich in seiner Funktion als Grundwort zu erkennen. Dadurch weiß der Rezipient zumindest in groben Zügen, um was für ein Objekt es sich handelt, bei U-Bahn z.B. um eine Bahn. Das Bestimmungswort ist dagegen akronymisch auf seinen ersten Buchstaben gekürzt und dadurch nur schwer rekonstruierbar. Noch weiter reduziert ist die Erkennbarkeit selbstverständlich, wenn alle Konstituenten der Ausgangsform auf ihre Anfangsbuchstaben gekürzt sind, d.h. in allen Arten von Akronymen. Unter diesen sind die Buchstabierakronyme vom Typ LKW noch die relativ durchsichtigsten, weil die Großbuchstaben im schriftlichen und die Buchstabennamen im mündlichen Kode zumindest den Status als Akronym verraten. Der Rezipient kann also, sofern er die Gebrauchsbedeutung des Akronyms kennt, versuchen, eine Ausgangsform zu rekonstruieren, deren Konstituenten mit den Buchstaben des Akronyms beginnen. Die graphische Information durch die Großbuchstaben ist unterdrückt bei den orthographisch verfremdeten Akronymen vom Typ Elbeo. Da man Buchstabennamen im Allgemeinen nicht in ausgeschriebener Form erwartet, erkennt der Leser sie normalerweise nicht als solche. Daher stellen sich oft Leseaussprachen ein, die tatsächlich von der Aussprache einer Buchstabenfolge abweichen. Z.B. wird der Name Elbeo normalerweise ohne Kehrkopfverschlusslaut vor dem /o/ ausgesprochen, und häufig wird der Akzent von der letzten auf die vorletzte oder erste Silbe verschoben: /el'be:o/ oder /'elbe:o/. Vor allem /el'be:o/ weist dieselbe, auf die romanischen Mittelmeerländer verweisende silbisch-rhythmische Gestalt auf wie Vileda, was vermutlich vom Schöpfer des Namens beabsichtigt war. Bei den Lautwertakronymen sind die Buchstabennamen nicht nur verfremdet, sondern sie fehlen vollständig. Nur im schriftlichen Kode kann noch ein Hinweis auf den Status als Akronym durch Majuskelschreibung erhalten sein wie in CIBA /tsi:ba/ < Chemische Industrie Basel; fehlt jedoch auch dieser Schlüssel wie bei Saba oder dem wie ein Gallizismus wirkenden Namen der Strumpfmarke Ergee < Edwin Rösler, Gelenau Erzgebirge, so ist nicht einmal die Tatsache zu erschließen, dass es sich um ein Akronym handelt, geschweige denn die Ausgangsform. Der Gipfel des Transparenzabbaus ist bei motivierten Propfwörtern wie CARE erreicht, weil nicht nur die eigentliche Ausgangsform verdunkelt, sondern zudem ein anderes Wort gewissermaßen untergeschoben wird. Da dieses motiviert ist, kommt der Rezipient gar nicht darauf, dass es mit seiner Herkunft irgendeine be-
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sondere Bewandtnis haben könnte. Nur bei den nicht motivierten Propfwörtern wie AStA könnte ähnlich wie beim einfachen Ersatz durch Homonyme die semantische Unverträglichkeit mit der Gebrauchsbedeutung des Wortes einen Hinweis den Status als Akronym geben, aber von diesem Hinweis bis zur Entschlüsselung der Ausgangsform ist es dann immer noch ein weiter Weg. Im Vergleich zum Farsi sind Pfropfwörter im Deutschen relativ selten.
2.4 Abhängigkeit des Transparenzgrads von der Wortschatzdomäne im Deutschen Tabelle 1 zeigt die Belegung der verschiedenen Transparenzgrade in den Wortschatzdomänen ‚Nicht-Eigennamen‘, ‚Offizielle Eigennamen‘ und ‚Kommerzielle Eigennamen‘ absolut und prozentual. Techniken mit weniger als 10 Belegen im Gesamtkorpus sind wegen ihrer mangelnden statistischen Relevanz nicht erfasst. Daher erscheinen Verfremdungen durch Homophone und Pfropfwörter nicht in dieser Tabelle. Die Zahlen bestätigen unsere Hypothese, dass die transparenten Typen tendenziell bei den Nicht-Eigennamen stärker präferiert sind als bei den Eigennamen: Die Produkte der transparentesten Typen, nämlich Einschlusskreuzungen und Kürzungskomposita, sind bei den Eigennamen fast gar nicht vertreten, bei den NichtEigennamen dagegen mit insgesamt 40,2 %, wobei die transparentesten Einschlusskreuzungen mit 30,9 % die nur halb transparenten Kürzungskomposita (U-Bahn) (10,3 %) sogar noch deutlich übertreffen. Bei den Eigennamen sind dagegen weniger transparente Typen stark bevorzugt: bei den kommerziellen Eigennamen die einfachen orthographischen Verfremdungen (Vileda) (55,4 %), bei den offiziellen die Lautwertakronyme (NRW < Nordrhein-Westfalen, SPD < Sozialdemokratische Partei Deutschlands usw.) (88,1 %). Damit bestätigt sich sogar unsere Vermutung, dass innerhalb der Eigennamen die kommerziellen relativ transparenter sind als die offiziellen. Dass trotzdem die sehr opaken verfremdeten Buchstabierakronyme (Elbeo) und die Lautwertakronyme (Saba, Ergee) bei den kommerziellen Eigennamen relativ stärker vertreten sind als bei den offiziellen Eigennamen (11,4 % bzw. 16,2 % gegenüber 0 % bzw. 11,8 %) liegt an der Möglichkeit, auf diesem Wege Pseudoxenismen aus Prestigefremdsprachen zu schaffen, was selbstverständlich bei den kommerziellen Namen eine attraktivere Option ist als bei den offiziellen.
Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität | 279
Tab. 1: Belegung der Transparenzskala nach Wortschatzdomänen im Deutschen
Technik
NichtEigennamen
Offizielle Eigennamen
Kommerzielle Eigennamen
Absolut
%
Absolut
%
Absolut
%
Einschlusskreuzungen ComMUNICHation
39
30,9
0
0
6
3,6
Kürzungskomposita U-Bahn
13
10,3
0
0
0
0
Einfache orthograph. Verfremdungen Vileda
10
7,9
0
0
92
55,4
Einfache Buchstabierakronyme LKW
54
42,8
89
88,1
22
13,2
Verfremdete Buchstabierakronyme Elbeo
0
0
0
0
19
11,4
Einfache Lautwertakronyme Saba
10
7,9
12
11,8
27
16,2
Gesamt
126
99,8
101
99,9
166
99,8
Im Folgenden wird überprüft, ob die gleichen Präferenzen auch im Farsi und im Chinesischen gelten und wie sie gegebenenfalls realisiert sind.
3 Schriftbasierte Wortschöpfung im Farsi 3.1 Außer- und innersprachliche Rahmenbedingungen Farsi, die Staatssprache des Iran, wird mit einer (geringfügig adaptierten) Variante der arabischen Schrift geschrieben. Daneben ist die Lateinschrift heute allgemein bekannt, und zwar nicht nur zur Schreibung von (meist englischen, seltener französischen) Fremdwörtern, sondern auch von indigenen Wörtern nach einer landesüblichen Transkriptionskonvention. Insgesamt ist die Sprachgemeinschaft der Wortschöpfung gegenüber aus sprachexternen Gründen eher abgeneigt. Die Nationalsprache Farsi wird mehr als prestigeträchtiges nationales Kulturerbe betrachtet, das es möglichst rein zu bewahren gilt und mit dem man keinesfalls spielt, denn als ein praktisches Verständigungsmittel, das man ständig den sich wandelnden historischen Umständen anpas-
280 | Elke Ronneberger-Sibold, Mir Kamaladin Kazzazi und Stefanie Potsch-Ringeisen
sen darf und sogar muss. Daher beschränkt sich die schriftbasierte Wortschöpfung weitgehend auf die Produktion von Akronymen in Wortschatzdomänen, in denen ein besonders großer Bedarf nach kurzen Wörtern besteht. Wie im Deutschen sind dies in erster Linie Eigennamen von öffentlichen Institutionen im weitesten Sinne (‚offizielle Eigennamen‘) und von Unternehmen (‚kommerzielle Eigenamen‘). Als Nicht-Eigennamen kommen Akronyme vor allem in der fachsprachlichen Terminologie der Naturwissenschaften/Technik, der Wirtschaft und des Militärs vor. Verfremdung findet, wenn überhaupt, dann fast ausschließlich durch Pfropfwörter auf der Basis von Akronymen statt. (Aus Gründen, die unten erläutert werden, ist dies im persischen Schriftsystem besonders leicht möglich.) Einschlusskreuzungen und Verfremdungen von ungekürzten Ausgangsformen sind zwar in einzelnen raffiniertspielerischen Produktnamen belegt, bleiben aber insgesamt selten.23
3.2 Lautwertakronymie Bekanntlich werden in der persischen Schrift die Vokale nicht eins zu eins graphisch wiedergegeben. Für die Akronymie sind dabei besonders zwei Regeln relevant: Erstens werden im Anlaut alle Vokale unterschiedslos durch den Buchstaben Aleph (hier mit A transliteriert) realisiert (Bei anlautendem /i/ und /u/ kommen noch die Buchstaben Ye und Waw hinzu, bei /ɒ/ eine Tilde über dem Aleph.). Siehe dazu die folgenden Beispiele: 1. A (+ y) für anlautendes /i/: AyrAn /irɒn/ ‚Iran‘ 2. A für anlautendes /e/: AslAmy /eslɒmi/ ‚islamisch‘ 3. A für anlautendes /a/: Art_sh /arteʃ/ ‚Armee‘ 4. A für anlautendes /o/: Atwm_byl /otumobil/ ‚Auto‘ 5. Ã für anlautendes /ɒ/: ÃzAdyb_khsh /ɒzɒdibaχʃ/ ‚Befreiungs-‘ Das bedeutet, dass in einem Akronym jedes vokalisch anlautende Wort unterschiedslos durch Aleph, gesprochen /ɒ/, repräsentiert wird. (Die Tilde bei A für anlautendes /ɒ/ wird nicht in Akronyme übernommen.) Beispielsweise kommt in dem Akronym (transliteriert)
|| 23 Außerhalb der genannten Wortschatzdomänen finden sich Wortschöpfungen in nennenswerter Zahl – allerdings keine schriftbasierten – lediglich im Lati, der Sprache einer vorwiegend von Jugendlichen getragenen Subkultur, die sich bewusst von bestimmten gesellschaftlichen Normen absetzt (wenn auch durch andere Werte und auf andere Weise als vergleichbare Gruppen in der „westlichen“ Kultur). Im Allgemeinwortschatz oder in literarischen Texten (im weitesten Sinne) sucht man hingegen weitgehend vergeblich nach Wortschöpfungen.
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smAğA < /setɒd-e moʃtarek-e arteʃ-e ʤomhuri-ye eslɒmi-ye ‚Stab gemeinsam Armee Republik islamisch ‚Generalstab der Armee der islamischen Republik Iran‘
irɒn/ Iran’
das erste A aus /a/ in /arteʃ/ Artsh ‘Armee’, das zweite aus /e/ in /eslɒmi/ AslAmy ‘islamisch’, und wenn das anlautende /i/ von /irɒn/ AyrAn ’Iran‘ ebenfalls in dem Akronym enthalten wäre, würde es auch durch A repräsentiert. Zweitens werden im In- und Auslaut /a/, /e/ und /o/ überhaupt nicht geschrieben. Dies lässt sich in den oben angeführten Beispielen 3 bis 5 an den unterstrichenen Vokalen und den entsprechenden Lücken in der Transliteration erkennen. Nur /ɒ/, /i/ und /u/ werden im In- und Auslaut durch , und respektive wiedergegeben. Ein Leser des Persischen muss also das ganze Wort an seinem Konsonantengerüst und den wenigen Vokalschreibungen erkennen, um zu wissen, ob er eine schriftliche Konsonantenverbindung in der Aussprache durch einen Vokal auflösen muss und wenn ja, durch welchen. Da die Sprachbenutzer an diese Strategie der Vokalinsertion bereits im normalen Wortschatz gewöhnt sind, fällt es ihnen leicht, sie auch bei der Aussprache von Akronymen anzuwenden. Lautwertakronyme lassen sich daher im Farsi von jeder beliebigen morphologisch komplexen Ausgangsform ebenso problemlos und nahezu regelhaft schaffen wie Buchstabierakronyme auf Grund der lateinischen Schrift im Deutschen und in anderen Sprachen. Das Problem der fehlenden Vokale wie bei LKW stellt sich ja nicht. Zudem sind die aus der Vokalinsertion resultierenden offenen Silben aus Konsonant plus Vokal auch im Normalwortschatz typisch für mehrsilbige Wörter im Farsi (Majidi 1986: 223). Daher ist hier Lautwertakronymie die bei weitem bevorzugte Kürzungstechnik. Durch welche Vokale ein Lautwertakronym zu vokalisieren ist, ergibt sich in jedem Einzelfall aus einem Konventionalisierungsprozess innerhalb der Sprachgemeinschaft, ähnlich wie bei Fremdwortlautungen im Deutschen, wenn diese aus der Schrift nicht eindeutig hervorgehen. Der häufigste Füllvokal ist /a/. Beispielsweise wird das Akronym smAğA /samɒʤɒ/ ausgesprochen. /o/ und /e/ kommen als Füllvokale vor allem dann zum Einsatz, wenn auf diese Weise ein Propfwort entsteht. Die Freiheit in der Wahl der Vokale begünstigt nämlich die Schöpfung von Pfropfwörtern, eine Möglichkeit, die vor allem gern genutzt wird, um offizielle und kommerzielle Eigennamen zu motivieren oder zumindest positiv zu konnotieren. Ein besonders gelungenes Beispiel ist der Name der staatlichen Fluggesellschaft aus der Zeit des Schahs hmA, ein Akronym aus hvApymAy-y mly AyrAn ‚Fluggesellschaft national Iran‘.
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hmA wird vokalisiert als /homɒ/, lautgleich mit dem Namen eines mythologischen Wesens, das als der König der Vögel gilt – sehr passend für die nationale Fluggesellschaft einer Monarchie, die in besonderer Weise an die antike Tradition anknüpfte. Aus dem Gesagten geht hervor, dass persische Lautwertakronyme noch opaker sind als deutsche, denn selbst wenn der Leser oder Hörer überhaupt merkt, dass er ein Akronym vor sich hat, weiß er nicht, auf welchen Vokal jedes einzelne Aleph bzw. /ɒ/ zurückgeht. Zudem weiß er als Leser nicht, welchen Vokal, /a/, /e/ oder /o/, er in die Konsonantenverbindungen einfügen soll, und selbst wenn er es aus Konvention weiß oder als Hörer hört, weiß er immer noch nicht, ob diese Vokale sekundär zum Zweck der Vokalisierung eingefügt oder nach dem Verfahren der akronymischen Kürzung (wie bei deutsch Gruga) aus der Ausgangsform entnommen worden sind. Schließlich sind sehr viel mehr Lautwertakronyme als im Deutschen durch motivierte Pfropfwortschöpfung noch weiter verfremdet.
3.3 Buchstabierakronymie Buchstabierakronyme haben meist persische, gelegentlich auch englische Ausgangsformen. Bei englischen Ausgangsformen kann das Akronym in lateinischen Buchstaben geschrieben und mit den englischen oder französischen Buchstabennamen ausgesprochen werden (manchmal nicht ganz korrekt), z.B. im Namen eines wissenschaftlichen Magazins Knowlege and Science News Agency > KSNA /kɒ.es.nɒ/ (statt /kɒ.es.en.ɒ/). Meistens werden jedoch solche Akronyme zusätzlich orthographisch verfremdet, indem die englischen Buchstabennamen auf Persisch ausgeschrieben werden, z.B. girl friend (englische Ausgangsform) > djyAf (auf Persisch ausgeschriebene englische Buchstabennamen /dʒi.ef/. Das entspricht dem deutschen Typ Elbeo, wobei der Schriftwechsel von der Lateinschrift in die persische Schrift bei Beibehaltung der englischen oder französischen Buchstabennamen als zusätzliches verfremdendes Element hinzukommt. Bei persischen Ausgangsformen ist das Nächstliegende ein Akronym aus persischen Buchstaben, die mit ihren persischen Namen ausgesprochen werden, z.B. mAdr-zlyl (persische Ausgangsform) /mɒdar-zalil/ wörtlich ‚mutter-unterdrückt‘ ‚Mann der von seiner Mutter unterdrückt wird‘ > m. z. (persisch geschriebenes Akronym, hier transliteriert) /mim.zɒl/ (Aussprache der persischen Buchstabennamen). In knapp der Hälfte aller einschlägigen Fälle werden jedoch auch bei persischer Ausgangsform die Buchstabierakronyme verfremdet. Die einfachste Möglichkeit ist die Aussprache des Akronyms mit englischen Buchstabennamen. So kann im obigen Beispiel m.z. auch /mi zi/ ausgesprochen werden (wobei /mi/ als „englischer“ Buchstabenname für m betrachtet wird, wohl in Analogie zu engl. /bi/ für b, /si/ für c usw.). Hier ist der Sprachwechsel vom Persischen ins Englische das einzige verfremdende Element. Die persischen Buchstabennamen können jedoch (nach dem
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Elbeo-Verfahren) zusätzlich verfremdet werden, indem man sie auf Persisch ausschreibt. Z.B. wird in der Ausgangsform gh(-dAdn) /goh(-dɒdan)/ wörtlich ‚Scheiße (-geben)‘ ‚falsch machen‘ das Wort gh ‚Scheiße‘ akronymisch auf seinen ersten Buchstaben gekürzt. Dieser wird aber nicht *g geschrieben, sondern durch seinen auf Persisch ausgeschriebenen persischen Namen gAf in gAf(-dAdn) ersetzt. (Auf Deutsch würde dem esceha machen statt sch machen entsprechen.) Ein Beispiel mit ausgeschriebenen englischen Buchstabennamen in einem persischen Akronym ist Am.djy.py /em.dʒi.pi/ < mrd djwAn pwldAr /mard-e djavɒn-e pul-dɒr/ wörtlich ‚Mann-welch jung-welch Geld-haben‘ ‚ein wohlhabender junger Mann‘ (wobei der englische Name /dʒi/ für persisch dj zwar phonetisch, aber nicht funktional korrekt verwendet ist, denn eigentlich bezeichnet er im englischen Alphabet ja den Buchstaben g). Wie die Beispiele gezeigt haben, sind nicht nur die Lautwertakronyme, sondern auch die Buchstabierakronyme im Persischen großenteils noch weniger transparent als die deutschen, weil sie nach dem ‚Elbeo-Verfahren‘ orthographisch und/oder durch Sprachwechsel zusätzlich verfremdet sind. Sie werden hauptsächlich in der Jugendsprache eingesetzt, um im Ausdruck Begriffe zu verhüllen, die als leicht anstößig empfunden werden (wie z.B. Freund oder Freundin, mit dem oder der man nicht vorheiratet ist‘ (boy friend oder girl friend) oder ‚Pantoffelheld‘ (mAdr-zlyl).
3.4 Transparentere Wortschöpfungstechniken Andere, transparentere schriftbasierte Wortschöpfungstechniken werden so selten eingesetzt, dass sie statistisch nicht relevant sind. Wenn sie überhaupt verwendet werden, dann in sehr kreativen kommerziellen Eigennamen, die zudem oft souverän mit den beiden im Lande verfügbaren Schriftsystemen, dem persischen und dem englischen, spielen. Das soll wenigstens an einem Beispiel demonstriert werden: Eine Imbisskette, die gegrilltes Fastfood anbietet, heißt in lateinischer Schrift Zheehot /ʒihɔt/, in persischer (transliteriert) žyyhAt /ʒihɒt/. Beide Versionen sind orthographisch verfremdet. Die englische enthält zudem eine Einschlusskreuzung. Die Ausgangsform ist das Wort žihAt /ʒihɒt/ ‚kompetent, geschickt‘. Die landesübliche umgangssprachliche Transkription in lateinischen Buchstaben wäre zhihat. Diese Transkription ist in der englischen Version orthographisch verfremdet, indem der Vokal /i/ nach einer häufigen englischen Phonem-Graphem-Korrespondenz ee geschrieben wird, natürlich mit dem Ziel, dem Namen der Imbisskette ein modernes, jugendliches Flair nach amerikanischem Vorbild zu verleihen. Noch weiter in diese Richtung geht der Ersatz der Silbe -hAt der Ausgangform durch das englische Wort hot ‚heiß, scharf gewürzt‘, da hier auch die Semantik einbezogen ist. Da (für persische Ohren) die Silbe /hΖt/ und die amerikanische Aus-
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sprache des Wortes hot homophon sind, handelt es sich bei Zheehot also um eine Einschlusskreuzung aus pers. žihAt und engl. hot mit der Bedeutung ‚geschickt/ kompetent in der Bereitung von heißen/würzigen Speisen‘. Selbst für Sprachbenutzer, die möglicherweise das englische Wort hot nicht kennen, ergibt sich die gewünschte Assoziation mit modernem Fastfood amerikanischer Prägung durch Anklang an das allgemein bekannte Lehnwort hotdog. In der persisch geschriebenen Version, transliteriert žyyhAt, ist diese Einschlusskreuzung nicht realisierbar, weil der Vokal o in engl. hot nicht geschrieben werden kann. Daher ist das Konzept ‚Hitze‘ auf einem anderen, nämlich dem semiotischen Weg realisiert durch die bildliche Ausgestaltung des Buchstabens ﻩ/h/ zu einer Flamme. Die orthographische Verfremdung der Schreibung von /i/ ist jedoch auch in der persischen Version durchgeführt, indem /i/ nach dem Muster von engl. ee statt durch das einfache Graphem y durch das im Persischen völlig ausgeschlossene verdoppelte ی یyy wiedergeben wird, wobei یzudem ein Allograph darstellt, das eigentlich dem Wortauslaut vorbehalten ist. Diese Verfremdung ist im Persischen sehr auffällig und nur unter Rückgriff auf die englische Doppelschreibung interpretierbar. Auch sie erzeugt also sehr effizient die gewünschte Assoziation mit Amerika.
3.5 Abhängigkeit des Transparenzgrads von der Wortschatzdomäne im Farsi Tab. 2: Belegung der Transparenzskala nach Wortschatzdomänen im Farsi Technik
NichtEigennamen
Offizielle Eigennamen
Kommerzielle Eigennamen
Absol. %
Absol. %
Absol. %
Einfache Buchstabierakronyme
13
16,2
1
1,2
6
6,3
Verfremdete Buchstabierakronyme
11
13,7
0
0
2
2,1
Einfache Lautwertakronyme
34
42,5
49
62,8
60
63,8
Verfremdete Lautwertakronyme: Pfropfwörter
22
27,5
28
35,8
26
27,6
Gesamt
80
99,9
78
99,8
94
99,8
Tabelle 2 zeigt die prozentuale Verteilung der Transparenzgrade auf die drei Gruppen Nicht-Eigennamen, offizielle Eigennamen und kommerzielle Eigennamen. Wie
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oben erwähnt, sind die relativ transparenten, nicht-akronymischen Schöpfungen so selten (weit unter 10 Belegen), dass sie nicht in der Tabelle erscheinen. Unter den Akronymen überwiegen die besonders undurchsichtigen Lautwertakronyme zwar in allen Wortschatzdomänen, aber bei den Eigennamen mit 62,8 % und 63,8 % deutlich stärker als bei den Nicht-Eigennamen mit 42,5 %. Dagegen kommt bei den Nicht-Eigennamen die relativ transparentere Buchstabierakronymie mit und ohne zusätzliche Verfremdung deutlich mehr zum Einsatz als bei den Eigennamen. Damit bestätigt sich auch für das Persische unsere Hypothese, dass bei den Eigennamen opakere Wortschöpfungen bevorzugt sind als bei den Nicht-Eigennamen. Innerhalb der Eigennamen zeichnet sich eine Abstufung insofern ab, als bei den offiziellen Eigennamen die zusätzliche Verfremdung der Lautwertakronyme durch Pfropfwörter etwas stärker vertreten ist als bei den kommerziellen Eigennamen. Der Grund ist, dass – anders als bei den deutschen Eigennamen – die Pfropfworttechnik weniger zur Erzeugung von positiven Assoziationen mit fremden Prestigekulturen genutzt wird als zur Anknüpfung an ethische und religiöse Hochwertbegriffe bei offiziellen Institutionen. Z.B. kommt allein sechs Mal smA /samɒ/ ‚Himmel‘ als „Pfropfunterlage“ vor: für eine lokale Partei in der Provinz Kermanshah (sAzmAn mdAf'yn AzAdy ‚Organisation, die die Freiheit verteidigt‘), für ein elektronisches Ausschreibungssystem (systm mnAqshgzAry Alktrwnyky), für das elektronische Informationsmagazin des Teheraner Rathauses (sAmAnhy mdyryt ArtbAtAt shhrdry thrAn) und für drei weitere Informationsportale. In solchen Details machen sich die unterschiedlichen außersprachlichen Rahmenbedingungen der Wortschöpfung bemerkbar. Die grundsätzliche Bevorzugung von opakeren Wortschöpfungen bei den Eigennamen bleibt davon allerdings unberührt.
4 Schriftbasierte Wortschöpfung im Chinesischen 4.1 Außersprachliche Bedingungen Auch in China ist neben der ideographischen chinesischen Schrift die Lateinschrift weithin bekannt. Wie im Farsi wird das lateinische Alphabet einerseits zur Transkription chinesischer Wörter nach verschiedenen Systemen benutzt, unter denen das so genannte pīnyīn dominiert und offizielle Geltung hat, andererseits zur Schreibung des Englischen als prestigeträchtiger lingua franca bei Angehörigen der jüngeren Generation mit guter Schulbildung. Das Nebeneinander der beiden grundverschiedenen Schriftsysteme eröffnet weite Möglichkeiten der schriftbasierten Wortschöpfung, die bereitwillig genutzt werden. Im Gegensatz zur persischen Sprachgemeinschaft empfindet die chinesische keine Scheu gegenüber der Wortschöpfung, obwohl auch hier die eigene Schrift (weniger als ihre Aussprache) höchstes Prestige als nationales Kulturgut genießt.
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Wortschöpfungen finden sich nicht nur wie im Farsi bei den offiziellen Eigennamen und in den Fachsprachen, sondern darüber hinaus auch im Allgemeinwortschatz, in (im weitesten Sinne) literarischen Texten und vor allem in den neuen Medien. Bei der Kommunikation per E-Mail oder SMS, in Chat-Rooms, Blogs, auf den Seiten von Facebook und dergleichen sind alle Möglichkeiten willkommen, die es erlauben, durch Rückgriff auf das lateinische Alphabet die komplizierte Kodierung einer Botschaft in chinesischen Zeichen zu umgehen24 und sich dabei nach Möglichkeit witzig und besonders kurz auszudrücken. Aber auch in rein chinesisch geschriebenen Texten sind vor allem Kürzungen beliebt, die es erlauben, einige Silben und damit auch einige Schriftzeichen einzusparen. Die dazu verwendeten Kürzungstechniken sind jedoch bis auf wenige Ausnahmen nicht im selben Sinne schriftbasiert wie etwa die Akronymie im Deutschen und im Farsi. Dies hat sprachstrukturelle Gründe, die in Abschnitt 4.2 erklärt werden. Auch im Chinesischen ist die Transparenzreduktion ein wichtiges Ziel der Wortschöpfung; anders als im Deutschen und Persischen wird es jedoch gern durch verschiedene Techniken der Verfremdung erreicht. Sie dienen zur Verhüllung von anstößigen Ausdrücken oder von Internet-Botschaften vor der Zensur, aber auch einfach dazu, die Leser spielerisch zu amüsieren. Außer den verschiedenen Schriftsystemen bietet auch die chinesische Sprachstruktur selbst ideale Voraussetzungen für Verfremdungen.
4.2 Innersprachliche Bedingungen Bekanntlich gehört das Chinesische dem isolierenden Sprachtyp an. Für die moderne Standardsprache bedeutet das bis auf wenige Ausnahmen eine systematische 1 : 1-Entsprechung im Syntagma zwischen Silben, Morphemen und ideographischen Zeichen: In der Sprechkette drückt jede Silbe genau ein Morphem aus, welches in der Schrift durch genau ein Zeichen kodiert wird, z. B. dà 大 ‚groß‘. Diese Zeichen geben also die Bedeutung eines Morphems wieder, nicht aber seine Phoneme. Daher sind alle buchstabenbezogenen Formen der Akronymie ausgeschlossen. Im modernen Chinesischen können mehrere (meistens zwei) solche Silben-MorphemeZeichen zu Komposita verbunden werden, z.B. dà-xué 大学 wörtlich ‚groß-lernen‘ ‚Universität‘.25
|| 24 Chinesische Wörter werden in den elektronischen Medien geschrieben, indem man zunächst die Pīnyīn-Umschrift eingibt. Das Programm bietet dann eine Auswahl an Schriftzeichen an, die zu dieser Umschrift passen könnten. Aus diesen muss man das gemeinte Zeichen (oder die gemeinte Zeichenkombination) auswählen. Genaueres s. z.B. in Hauptstock/König/Zhu (2010: 10–13). 25 Für eine Typologie chinesischer Wörter vgl. Packard (2000: 80–133).
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Die Silbe ist die fundamentale phonologische Einheit des chinesischen Sprachsystems. Eine Segmentierung der Silben in Phoneme ist zwar theoretisch möglich (und wird bei der Transkription ins lateinische Alphabet auch weitgehend durchgeführt), aber innerhalb des chinesischen Sprachsystems wird diese Möglichkeit nicht genutzt: Morphonologische Prozesse (soweit sie überhaupt existieren) greifen nicht in die Silben ein (Norman 1988: 138, 151). Die einzigen Strukturelemente von Silben, die den Sprachbenutzern (z.B. zum Zweck der Auflistung) intuitiv zugänglich sind und die auch eine gewisse Rolle bei der Wortschöpfung spielen, sind der konsonantische Anlaut und der Reim. Nach ihnen ist sogar das Silbeninventar der offiziellen lateinischen Umschrift pīnyīn angeordnet. Es ist nicht etwa in der Art eines Alphabets aufgebaut, sondern umfasst zwei getrennte, nach phonetischen Kriterien strukturierte Tabellen für alle in chinesischen Silben möglichen 21 Anlaute und 39 Reime (Chen 1999: 34–35). Wenn jeder Anlaut mit jedem Reim kombiniert werden könnte, müsste das 21 mal 39, d.h. 819 verschiedene Silben ergeben. Tatsächlich umfasst das Inventar (ohne Berücksichtigung der Töne) jedoch nur ca. 420 Einheiten (Chen 1999: 36). Das chinesische Silbeninventar enthält also Lücken. Teilweise sind diese Lücken durch bestimmte systematische Selektionsbeschränkungen zwischen Anlauten und Reimen verursacht; z.B. können im Standardchinesischen gutturale Anlaute nicht mit dem Reim /i/ verbunden werden (Norman 1988: 142), wie es etwa in der Silbe */ki/ der Fall wäre; solche Silben können die Sprachbenutzer nicht ohne weiteres aussprechen. Manche Kombinationsmöglichkeiten sind aber auch nur zufällig nicht realisiert. Solche Lücken können die Sprachbenutzer problemlos ausfüllen. Dieser Unterschied spielt eine Rolle für die Wortschöpfung (s.u. 4.3). Jede Silbe kann in der chinesischen Standardsprache pǔtōnghuà mit bis zu vier verschiedenen Tönen gesprochen werden. Auch diese Möglichkeit der Differenzierung wird jedoch nicht voll ausgenutzt, denn statt der rechnerisch möglichen 420 mal 4, d.h. 1680 distinktiven Einheiten gibt es nur ca. 1300 (Chen 1999: 36). Gemessen am Morphembestand einer ausgebauten Standardsprache ist diese Zahl natürlich relativ klein.26 Die Folge ist eine sehr große Zahl von homophonen Morphemen, die lediglich in der Schrift durch verschiedene ideographische Zeichen differenziert werden. In der Wortschöpfung ist dies die Grundlage vieler Verfremdungen durch Homophone. Die Zahl der ideographischen Zeichen ist zwar sehr groß,27 trotzdem entsteht durch außersprachliche Entwicklungen immer wieder ein Bedarf nach neuen Zei-
|| 26 Zum Vergleich: Kluge/Seebold (2011) enthält ca. 13000 einfache oder stark lexikalisierte komplexe deutsche Wörter. 27 Norman (1988) gibt für ein großes, 1916 erschienenes Wörterbuch die Zahl von 48000 an; ein durchschnittlich gebildeter Sprachbenutzer beherrscht von diesen ca. 3000 bis 4000 (Norman 1988: 72–73).
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chen. Das Inventar ist darum in der Vergangenheit immer wieder erweitert worden.28 Allerdings kann das normalerweise nicht individuell durch jeden beliebigen Sprachbenutzer geschehen, denn sowohl die genaue Bedeutung als auch vor allem die Aussprache des neuen Zeichens müssen ja durch einen Konventionalisierungsprozess bekannt gemacht werden. Dass genau dies heutzutage durch das Internet möglich ist, hat Folgen für die schriftbasierte Wortschöpfung. Dies wird im Folgenden erklärt.
4.3 Schriftschöpfung im Chinesischen: kontrahierte Zeichen Das Schaffen neuer Zeichen durch Kontraktion von vorhandenen ist die transparenteste unter den schriftbasierten Wortschöpfungstechniken im Chinesischen.29 Trotz ihrer großen Transparenz wirkt sie auf Chinesen extrem irregulär, weil sie die Begrenztheit des Zeicheninventars nicht respektiert. In diesem Sinne ist sie gleichzeitig amüsant durch den Überraschungseffekt und in gewisser Weise revolutionär. Daher ist sie typisch für einen kritischen Diskurs in den neuen Medien. Dort bietet sie zudem den Vorteil, dass die neuen Zeichen nicht automatisch von der Zensur erkannt werden können. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Angeblich bezahlen chinesische Behörden gewissen Personen, die in Internetforen die Parteilinie vertreten und dabei Kritiker mit Schmähungen überziehen, 5 Máo für jeden Beitrag. (5 Máo, ein halber Yuán, ist eine sehr geringe Summe.) Diese Form der Käuflichkeit hat dieser Personengruppe die verächtliche Bezeichnung wǔmáodǎng 五毛党, wörtlich 'Fünf-Mao-Partei' eingetragen, wobei dǎng in diesem Zusammenhang einen sehr pejorativen Beiklang hat, etwa wiederzugeben durch Konsorten. wǔmáodǎng 五毛党 wurde zunächst elliptisch zu wǔmáo 五毛 gekürzt, ein im Chinesischen sehr gängiger Prozess, der in etwa einer deutschen elliptischen Kürzung wie von Kornschnaps zu Korn entspricht, aber keine schriftbasierte Wortschöpfung darstellt. Die eigentliche schriftbasierte Schöpfung ist die Kombination von Elementen der Zeichen 五 wǔ 'fünf' und 毛 máo zu einem neuen: . Mit der Schöpfung dieses neuen Schriftzeichens haben seine Schöpfer die Norm der chinesischen Schrift ebenso verletzt wie die käuflichen Kommentatoren die Normen des Anstands. Es ist mehr diese Ikonizität der Normüberschreitung als die Verkürzung der Ausgangsform, was diese Schöpfung so wirkungsvoll macht. Die semantische Interpretation ist für geübte Leser kein Problem: Sie erkennen im oberen Teil das Zeichen für wǔ ‚fünf‘, im unteren das für máo. Ein Problem stellt || 28 Norman (1988: 74–75). 29 Auch in Alphabetschriften gibt es kontrahierte Grapheme wie z.B. das deutsche , aber dadurch wird kein neues Morphem geschaffen.
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hingegen die Frage dar, wie das neue Zeichen ausgesprochen werden soll. Hier gibt es zwei Lösungen: Im Fall von wurde parallel zur schriftlichen auch eine lautliche Kontraktion durchgeführt: Der Anlaut von wǔ wurde mit dem Reim von máo kombiniert zu der neuen Silbe wǎo.30 Diese Silbe füllt eine zufällige Lücke im chinesischen Silbeninventar. Daher ist sie für chinesische Sprachbenutzer problemlos auszusprechen. Trotzdem ist auch im lautlichen Bereich die bewusste Überschreitung des festgelegten Inventars eine hochgradig auffällige Normverletzung (selbst wenn sie in der Performanz in Allegroformen vorkommt). Auch lautlich bildet wǎo also die „Unerhörtheit“ des bezeichneten Verhaltens ab. Die zweite Möglichkeit ist die Beibehaltung der ursprünglichen mehrsilbigen Aussprache, z.B. bei < 木 Yuán Mù, dem Namen eines Regierungssprechers. Auch dies ist ein größerer Verstoß gegen die Norm, als es aus westlicher Perspektive zunächst erscheinen mag, denn die grundsätzliche syntagmatische 1 : 1-Beziehung zwischen Silben und Zeichen ist hier durchbrochen.
4.4 Einschlusskreuzungen Einschlusskreuzungen sind im Chinesischen relativ leicht zu bilden, indem in einem Kompositum einzelne Morpheme durch andere, homophone ersetzt werden. Z.B. ist in 参考 cān kǎo ‚nachschlagen/zu Rate ziehen‘ (wörtlich ‚teilnehmen, prüfen/testen‘) das Morphem 参 cān ‚teilnehmen‘ ersetzt durch das gleich lautende Morphem 餐 cān ‚Gericht, Mahlzeit‘ mit dem Ergebnis 餐考 cān kǎo ‚Restaurantempfehlungen‘ (Rubrik in einem Stadtmagazin).
4.5 Verfremdungen durch Homophone Häufiger als Einschlusskreuzungen, bei denen sich die Bedeutungen der beiden gekreuzten Wörter verbinden, sind jedoch Verfremdungen durch Homophone, in denen einfach spielerisch ein Morphem in der Schrift durch ein anderes, gleich lautendes ersetzt wird. In semantischer Hinsicht stammen die homophonen Ersatzmorpheme häufig aus dem Frame ‚Essen‘. Günstige Voraussetzungen für diese Art der Verfremdung sind außer den vielen homophonen Morphemen auch die nebeneinander im Gebrauch befindlichen Systeme der chinesischen und der lateinischen Schrift sowie der chinesischen und der arabischen Ziffern. || 30 Diese Technik wird im Deutschen nicht für Kürzungen, sondern für so genannte Konturkreuzungen wie z.B. jein < ja x nein angewandt (zum Begriff der Konturkreuzung vgl. RonnebergerSibold 2006: 170-173).
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Chinesen, die nach einem Studium im Ausland nach China zurückgekehrt sind, bezeichnet man als háiguī 归, wörtlich ‚Meer Rückkehr‘, also in etwa ‚Rückkehrer aus Übersee‘. Zufällig ist dieses Wort bis auf den Ton der ersten Silbe homophon mit hǎiguī 龟 ‚Meeresschildkröte‘. (Das Fleisch dieser Tiere ist eine bekannte und teure Delikatesse.) Das wird gerne in humoristischer Absicht ausgenutzt, indem man statt 归 ‚Meer Rückkehr‘ 龟 ‚Meeresschildkröte‘ schreibt.31 Es handelt sich also um eine orthographische Verfremdung durch ein Homophon aus demselben semantischen Frame ‚Meer‘ und zusätzlich aus dem Frame ‚Essen‘. Häufig sind die homophonen Ersatzwörter Zahlwörter. Dies hat (wie bei gute N8, s.o. § 2.2.2) den Vorteil, dass sie auf einer gängigen TAStAtur leicht realisiert werden können.) Ein Beispiel ist die orthographische Verfremdung 3q für engl. thank you, phonetisch sinisiert als [sān.kju]. Die Silbe sān repräsentiert u.a. das Morphem 三 ‚drei‘. Dieses wird statt mit seinem chinesischen Schriftzeichen mit der arabischen Ziffer 3 geschrieben. (Zur Wiedergabe der zweiten Silbe durch den Buchstaben q s.u. § 4.9.2.) Häufig werden chinesische Wörter auch nicht durch bereits existierende, sondern durch zu diesem Zweck regulär neu gebildete Homophone verfremdet (wie bei Märchen-Prints, s.o. 2.2.2), allerdings ohne jede Motivation. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn statt der sehr beleidigenden und vulgären Beschimpfung cào nǐ mā 你妈, wörtlich ‚penetrieren Personalpron. 2. P. Sg., Mutter‘ ‚Verkehre mit deiner Mutter!‘ ein bis auf die Töne lautgleiches Kompositum cǎo ní mǎ ‚Grasschlammpferd‘ geschrieben wird. Grasschlammpferde (=Alpaka) haben in bestimmten Internetgemeinden inzwischen nahezu den Status von ‚mythologischen Figuren‘.
4.6 Einfache orthographische Verfremdung durch Schreibungen mit lateinischen Buchstaben Einfache orthographische Verfremdungen ohne jede lexikalische Bedeutung (Typ Vileda, s.o. § 2.2.2) sind im logographischen chinesischen Schriftsystem nicht möglich. Etwas Vergleichbares kann jedoch auf der Basis der Lateinschrift durchgeführt werden, indem eine chinesische Ausgangsform in lateinischen Buchstaben, aber nicht nach den Regeln von pīnyīn geschrieben wird. Auf diese Weise werden gerne pseudowestliche kommerzielle Namen kreiert, z.B. der Name Pulanna für eine Kosmetikmarke < pǔ lán nà 普兰娜, wörtlich ‚allgemein, Orchidee, elegant‘ ‚elegante Orchidee‘. Durch die Zusammenschreibung mit initialer Majuskel und ohne Töne ist die in pīnyīn geschriebene Ausgangsform weitgehend verhüllt.
|| 31 Dieses Wortspiel ist auch dadurch begünstigt, dass bei der Nutzung von Textverarbeitungssystemen die Zeichen für die beiden Wörter nebeneinander angeboten werden.
Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität | 291
4.7 Buchstabierakronymie Die häufigste Technik auf der Grundlage der Lateinschrift ist die Buchstabierakronymie. Die Ausgangsformen sind entweder englische Übersetzungen von chinesischen Wörtern wie z.B. BOC < Bank of China, eine Übersetzung von zhōng guó yín háng 中国银行, wörtlich ‚Mitte, Land, Silber, Geschäftsstelle‘, oder in pīnyīn transkribierte chinesische Wörter, diese allerdings fast nur in Verbindung mit englischen wie z.B. in JG < Jiangsu (ein Ortsname) Glassworks. Die Buchstabennamen werden auf Englisch ausgesprochen. Verfremdungen durch Ausschreiben dieser Namen (Typ Elbeo) kommen nicht vor. Einige Lautwertakronyme (mit englischer Aussprache) sind vorhanden, aber so selten, dass sie statistisch nicht ins Gewicht fallen. Sie werden hier nicht weiter behandelt.
4.8 Kürzungskomposita Recht aktiv ist hingegen die Schöpfung von Kürzungskomposita (Typ U-Bahn). Ein Beispiel ist etwa A qián A 钱 ‚Bestechungsgeld‘, mit A < engl. Abuse.32
4.9 Andere Techniken Abschließen sollen noch einige Techniken der chinesischen schriftbasierten Wortschöpfung vorgestellt werden, die zwar im Folgenden nicht in unsere Statistik eingehen, weil sie zu selten angewendet werden, die aber linguistisch so interessant sind, dass sie zumindest erwähnt werden sollten.
4.9.1 Verfremdung durch pīnyīn in chinesischem Kontext Die einfache Umsetzung der chinesischen Schrift in lateinische Buchstaben nach der Pīnyīn-Umschrift ist allgemein bekannt und für die Verständigung mit Ausländern viel benutzt (z.B. auf Straßenschildern in den großen Städten). Normalerweise kann sie daher nicht als Verfremdung interpretiert werden. In einem rein chinesischen Kontext kann sie jedoch ebenso verfremdend wirken wie etwa ein Fremdwort in einem entsprechenden deutschen Kontext. Dieser Effekt ist z.B. bewusst angestrebt in der Schreibung 口 jiāo statt 口交 für kǒu jiāo, wörtlich ‚Mund-Verkehr‘33 || 32 Riha/Baker (2010: 199) interpretieren in solchen (und anderen) Fällen die englischen Majuskeln als eine Form von neuen chinesischen Schriftzeichen. 33 Jiāo 交 kann wie im Deutschen auch ganz neutral verwendet werden, z.B. für Straßenverkehr.
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‚Oralverkehr‘. Für chinesische Augen wirkt dieses Wort sehr viel weniger anstößig, wenn – bei gleich bleibender Aussprache – das Zeichen für ‚Verkehr‘ 交 durch seine Pīnyīn -Umschrift jiāo ersetzt wird. Offenbar liegt für Chinesen die Peinlichkeit mehr in der Schreibung als in der Lautung dieses Morphems. Außer der Abmilderung der Peinlichkeit eines tabuisierten Ausdrucks (und Inhalts) hat diese Verfremdung den Vorteil, dass sie das Auffinden und damit die Zensur dieses Ausdrucks im Internet erschwert. Der Einfluss der Schreibung auf die emotionale Bewertung von Morphemen in diesem Beispiel unterstreicht die im Vergleich zum Deutschen extrem hohe Bedeutung der Schrift im Chinesischen. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass ja auch im deutschen Wort Oralverkehr die distanzierende Wirkung einer Fremdsprache bei einem der beiden Kompositionsglieder, nämlich oral, ausgenutzt ist, nur dass dieser Effekt hier auf lexikalischem Wege durch ein wissenschaftlich wirkendes Fremdwort erreicht wird. Die Schreibung trägt dazu nichts bei.
4.9.2 Verfremdung durch Buchstabennamen Einen noch stärkeren Verfremdungseffekt erreicht man, wenn die lateinischen Buchstaben nicht ihren Lautwert im Pīnyīn-System repräsentieren sondern ein chinesisches Morphem mit dem Lautwert ihres Buchstabennamens. In Frage kommen die englischen Buchstabennamen und die chinesischen so genannten BōpōmōfóMerkwörter. Ein englischer Buchstabenname dient als verfremdendes Homonym z.B. in G 肉 für 鸡肉 jī ròu, wörtlich ‚Huhn Fleisch‘ ‚Hühnerfleisch‘ auf Märkten in Taiwan. Dies entspricht ungefähr der englischen Schreibung cu für see you (Dürscheid 2002). Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem englischen Namen des Buchstabens q, z.B. in der oben erwähnten Verfremdung 3q für thank you. Die Silbe [kju], in pīnyīn wäre das *kiu, ist im Standardchinesischen (pǔtōnghuà) systematisch ausgeschlossen.34 Folglich existiert für diese nicht-existente Silbe weder ein chinesisches Schriftzeichen noch eine usuelle Transkription in pīnyīn. Da es sich um eine systematische Lücke im Silbeninventar handelt, ist sie für reine Pǔtōnghuà-Sprecher schwierig auszusprechen.35 Diese schwere Aussprechbarkeit sowie die Bedeutungsleere der Silbe [kju] machen den Buchstaben q geradezu zu einem Schibboleth für „westliche“ Sprache und
|| 34 S.o. 4.2: Vor /i/ müsste der velare Anlaut /k/ in pǔtōnghuà durch den palatalen Anlaut /ʨ'/ ersetzt werden. 35 Für viele Südchinesen ist die Aussprache [kju] jedoch leichter, weil ihre Dialekte weniger Palatalisierung von gutturalen Konsonanten zeigen (Norman1988: 211).
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Kultur36 etwa in kommerziellen Namen wie Baby Q (aus Baby cute?) für einen Babyausstatter, aber auch in literarischen Kontexten. So heißt der Held des bekannten Romans Die wahre Geschichte des Ah Q von Lu Xun (1921) 阿Q, ā [kju]. Die Verbindung des traditionellen chinesischen Familiennamens 阿ā mit dem Buchstaben Q als Vornamen37 symbolisiert die Zerrissenheit der Romanfigur, die in Folge der politischen und sozialen Umwälzungen in China in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weder in der ‚alten‘ noch in der ‚neuen‘ chinesischen Gesellschaft ihren Platz findet. Der Name war so gut gewählt, dass er sogar zur Wortbildungsbasis der verallgemeinernden Bezeichnung 阿Q主义 āQzhǔyì ‚Ah-Q-ismus‘ für eine gesellschaftlich unintegrierte, innerlich leere Geisteshaltung wurde. Nicht nur die englischen Buchstabennamen werden zur Verfremdung genutzt, sondern auch die nach dem akrophonischen Prinzip vergebenen chinesischen Merkwörter der in Taiwan verbreiteten so genannten Bōpōmōfó-Umschrift. Diese Merkwörter, die etwa mit deutsch Vogel für den Buchstaben v im deutschen Erstschreibunterricht (das so genannte ‚Vogel-V‘) vergleichbar sind, werden von den Sprachbenutzern so eng mit den lateinischen Buchstaben assoziiert, dass diese Buchstaben genügen, um in der Wortschöpfung das ganze Merkwort nach Inhalt und Ausdruck zu vertreten. Z.B kann der lateinische Buchstabe s das ganze Wort sī 思 ‚denken‘ repräsentieren, weil dies das Merkwort für das Bōpōmōfó-Zeichen für den Anlaut /s/ ist. Als wäre das noch nicht genug verfremdet, wird häufig das so evozierte Merkwort selbst durch ein Homophon verfremdet. So steht s in Internet-Botschaften häufig statt für sī 思 ‚denken‘ für das (bis auf den Ton) homophone Wort sǐ 死 ,sterben, Tod, tödlich‘ etwa im Kontext von ‚sich langweilen‘.
4.10 Abhängigkeit des Transparenzgrads von der Wortschatzdomäne im Chinesischen Für das Chinesische müssen wir unsere Transparenzskala um die spezifisch chinesischen kontrahierten Zeichen erweitern. Wir ordnen sie als transparenteste Technik von allen ein.
|| 36 Es ist aber durchaus denkbar, dass dieser Effekt sich mit der zunehmenden Englischkenntnis der jüngeren Generation überlebt. 37 Ausgerechnet bei einer Verwendung als chinesischer Vorname verstößt der Name eines phonographischen Buchstabens durch seine Inhaltsleere in geradezu provokanter Weise gegen den chinesischen Usus. Chinesische Vornamen sind nämlich grundsätzlich motiviert. Sie können völlig frei gewählt werden, und häufig nutzen Eltern dies, um Wünsche und Hoffnungen für das Kind oder auch Umstände der Geburt durchaus individuell zum Ausdruck zu bringen. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, einen Sohn qīng huá 清华 ‚strahlendes China‘ zu nennen.
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Trotz des von der Lateinschrift extrem verschiedenen logographischen Schriftsystems bestätigen sich auch für die chinesischen schriftbasierten Wortschöpfungen unsere Hypothesen sehr deutlich: In Bezug auf die Transparenz zerfallen die Schöpfungen in die beiden nahezu komplementären Gruppen der Eigennamen und der Nicht-Eigennamen: Bei den Nicht-Eigennamen entfallen insgesamt 95,8 % der Schöpfungen auf den transparenteren Teil der Skala bis zu den Kürzungskomposita, wobei der transparenteste Typ der kontrahierten Zeichen mit 30,1 % an der Spitze steht, während bei den Eigennamen die beiden intransparentesten Typen einfache orthographische Verfremdung und Buchstabierakronyme deutlich bevorzugt sind. Innerhalb der Eigennamen sind erwartungsgemäß die kommerziellen relativ transparenter: Sie verteilen sich vorwiegend auf die beiden letztgenannten Typen mit einer Bevorzugung für die etwas transparenteren Verfremdungen (47,5 %), während die offiziellen Eigennamen zu 100 % dem intransparentesten Typ der Akronyme angehören. Tab. 3: Belegung der Transparenzskala nach Wortschatzdomänen im Chinesischen Technik
NichtEigennamen
Offizielle Eigennamen
Kommerzielle Eigennamen
Absol. %
Absol. %
Absol. %
Kontrahierte Zeichen
54
30,1
0
0
0
0
Einschlusskreuzungen
14
7,8
0
0
8
7,7
Ersatz durch existierende Homophone
47
26,2
0
0
4
3,8
Ersatz durch neue Homophone
27
15,0
0
0
7
6,7
Kürzungskomposita
30
16,7
0
0
0
0
Einfache orthographische Verfremdungen
0
0
0
0
49
47,5
Einfache Buchstabierakronyme
7
3,9
24
100
35
33,9
Gesamt
179
99,7
24
100
103
99,6
5 Vergleichende Zusammenfassung In diesem Aufsatz haben wir die Anwendung schriftbasierter Wortschöpfungstechniken in den drei typologisch verschiedenen Sprachen Deutsch, Farsi und Chinesisch (pǔtōnghuà) mit ihren drei grundverschiedenen Schriftsystemen untersucht. Als Wortschöpfung bezeichnen wir Techniken zur Erzeugung neuer Wörter außer-
Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität | 295
halb der regulären Wortbildungsverfahren Komposition, Derivation und Konversion. Schriftbasiert sind solche Techniken dann, wenn sie zu ihrer Durchführung den schriftlichen Code benötigen, die Wortschöpfungsprodukte jedoch nicht nur geschrieben, sondern auch ausgesprochen werden. Solche Techniken sind verschiedene Arten der Akronymie und der Verfremdung sowie die Einschlusskreuzung (graphic blend). Neben der Erzeugung bestimmter Lautgestalten ist die gesteuerte Reduktion der morphosemantischen Transparenz eine der Hauptfunktionen der Wortschöpfung: Während durch reguläre Wortbildung nur transparente komplexe Wörter entstehen, können durch die Techniken der Wortschöpfung gezielt feine Abstufungen von leicht reduzierter Transparenz bis hin zur völligen Opakheit erzeugt werden. Eine Wortschatzdomäne, in der die Transparenzreduktion sehr funktional ist, sind Eigennamen: Da der Referent eines Eigennamens holistisch konzeptualisiert wird, ist eine einfache, d.h. morphologisch nicht zerlegbare „etikettierende“ Benennung im Sinne von Seiler (1975) ikonischer als eine „deskriptive“ Benennung, die ihren Referenten gerade nicht holistisch für sich alleine, sondern in Relation zu anderen Konzepten erfassen würde. In der Tat konnte in Ronneberger-Sibold (2006) und (2014) gezeigt werden, dass bei deutschen Kreuzungen bzw. deutschen, persischen und chinesischen Kürzungen für Eigennamen signifikant niedrigere Transparenzgrade bevorzugt sind als für Nicht-Eigennamen. In diesem Aufsatz wurde überprüft, ob dies auch für so artifizielle Schöpfungstechniken wie die schriftbasierten gilt, und das trotz der extrem verschiedenen Schriftsysteme der drei verglichenen Sprachen, die zudem teilweise miteinander gemischt werden. Tatsächlich hat die Untersuchung eine klare Abhängigkeit des Transparenzgrades von der Wortschatzdomäne (Eigennamen vs. Nicht-Eigennamen) erwiesen. Dies wird in Abbildungen 3–5 in parallelen Diagrammen für alle drei Sprachen dargestellt. Die absoluten Zahlen sind in Tabelle 4 zusammengefasst.
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50 40 30 20 10 0
Nicht-Eigennamen
Eigennamen
Abb. 3: Deutsch: Belegung der Transparenzskala durch Eigennamen und Nicht-Eigennamen
70 60 50 40 30 20 10 0
Nicht-Eigennamen
Eigennamen
Abb. 4: Farsi: Belegung der Transparenzskala durch Eigennamen und Nicht-Eigennamen
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50 40 30 20 10 0
Nicht-Eigennamen
Eigennamen
Abb. 5: Chinesisch: Belegung der Transparenzskala durch Eigennamen und Nicht-Eigennamen Tab. 4: Belegung der Transparenzskala durch Eigennamen und Nicht-Eigennamen – Zusammenfassung Technik
Nicht-Eigennamen
Eigennamen
Deutsch
Farsi
Chinesisch
Deutsch
Farsi
Chinesisch
Kontrahierte Zeichen
0
0
30,1
0
0
0
Einschlusskreuzungen
30,9
0
7,8
2,2
0
6,2
Ersatz durch existierende Homophone
0
0
26,2
0
0
3,0
Ersatz durch neue Homophone
0
0
15,0
0
0
5,5
Kürzungskomposita
10,3
0
16,7
0
0
0
Einfache orthographische Verfremdungen
7,9
0
0
34,4
0
38,5
Einfache Buchstabierakronyme
42,8
16,2
3,9
41,5
4,0
46,4
Verfremdete Buchstabierakronyme
0
13,7
0
7,1
1,1
0
Einfache Lautwertakronyme
7,9
42,5
0
14,6
63,3
0
Pfropfwörter
0
27,5
0
0
31,3
0
Gesamt
99,8
99,9
99,7
99,8
99,7
99,6
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Abbildungen 3–5 und Tabelle 4 zeigen, dass zwar nicht alle schriftbasierten Wortschöpfungsmöglichkeiten in allen drei untersuchten Sprachen genutzt werden – z.B. beschränkt das Persische sich insgesamt auf die verschiedenen Spielarten der Akronymie und damit auf die weniger transparenten Techniken – aber bei denen, die genutzt werden, verteilen sich die Eigennamen schwerpunktmäßig auf die opakeren Techniken (auf der Skala in Abbildungen 3–5 zum rechten Rand tendierend), während bei den Nicht-Eigennamen transparentere (zum linken Rand tendierende) Techniken bevorzugt oder (im Farsi) zumindest einbezogen sind. Offenbar handelt es sich um ein außerordentlich stabiles, kognitiv motiviertes Verteilungsmuster, das sich in sehr verschiedenen Sprach- und Schriftsystemen und unter den verschiedensten inner- und außersprachlichen Bedingungen erstaunlich konsistent durchsetzt. Auf die Darstellung der internen Differenzierung der Eigennamen in offizielle und kommerzielle wurde der Übersichtlichkeit halber hier verzichtet. Wir konnten in unserer Untersuchung jedoch nachweisen, dass auch hier die Wortschöpfungsprodukte funktional nach ihrem Transparenzgrad verteilt sind: Produkt- und Firmennamen (hier zusammengefasst als kommerzielle Eigennamen) sind in allen drei untersuchten Sprachen etwas transparenter als offizielle Eigennamen von Organisationen, Parteien, Ländern usw., weil kommerzielle Namen zur Erfüllung ihrer werbenden Funktion ein gewisses (aber nicht zu hohes) Maß an Deskriptivität benötigen. Insgesamt kann Wortschöpfung also als ein synchrones Mittel verstanden werden, um eine funktional begründete Transparenzverteilung im Wortschatz zu befördern, die sich sonst nur durch langfristige diachrone Entwicklungen einstellt: Selbst so artifizielle Wortschöpfungstechniken wie die schriftbasierten reduzieren Transparenz überproportional da, wo sie markiert ist, nämlich bei den Eigennamen und unter diesen insbesondere bei den offiziellen. Damit ist Transparenzreduktion durch Wortschöpfung bei Eigennamen eine Form des synchronen Markiertheitsabbaus.
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Oliver Teuber
Biene, Igel, Biber Regeln der [i:]-Schreibung im Deutschen1
1 Schrift und Regularität Nicht nur unter sprachwissenschaftlichen Laien gilt die Rechtschreibung als Hort ungezählter Ausnahmen von unverstehbaren, willkürlichen Regeln. Auch innerhalb der Linguistik ist die Schreibung ein Bereich, dem die Möglichkeit der ansonsten verbreiteten Differenzierung von Deskription und Präskription mitunter schlicht abgesprochen wird, indem sie als von bewusst gesetzten (und damit willkürlichen) Regeln festgelegt und damit den deskriptiven Beschreibungsmethoden von vornherein unzugänglich betrachtet wird. Dies wird im Folgenden in Einklang mit der neueren Schriftlinguistik anders gesehen. Zum einen kann man für eine solche Sicht aus dem Umkehrschluss heraus argumentieren, dass die Frage der Fundierung eines sprachlichen Standards in den Bereichen jenseits der Schreibung (also beispielweise im Bereich der Phonologie, was die Standardlautung betrifft, oder im Bereich der Morphosyntax des Deutschen, was die Etablierung der starken und schwachen Adjektivdeklination angeht) nur deshalb nicht beantwortet wird, weil sie nicht gestellt wird. Vielleicht substantieller ist zum anderen die Tatsache, dass die Schreibung jedenfalls ein lernbarer Bereich des Sprachsystems ist, für den allein aus diesem Grund eine von der Deskription ausgehende funktionale Beschreibung theoretisch möglich sein muss. Für das Folgende soll aus dem Bereich der Graphematik des Deutschen die Schreibung des ‚langen i‘ im Mittelpunkt stehen, oder phonetisch-graphematisch gesprochen die [i:]-Schreibung; noch technischer gewendet, die Relationen zwischen dem oberen, vorderen, ungerundeten, gespannten und langen Vokal und bestimmten Einheiten der Schrift.
|| 1 Nach Fertigstellung der ersten Fassung dieses Manuskripts im Oktober 2010 ist mit Bredel et al. (2011) eine Monographie erschienen, die sich (u.a.) relativ eingehend mit der [i:]-Schreibung beschäftigt (Bredel et al. 2011: 140‒147), sowie mit Eisenberg (2012; in der ersten Auflage ebenfalls 2011) eine umfängliche Studie zum Fremdwort, einem Thema das hier in den Abschn. 2.1 u. 3.2 in Kürze abgehandelt wird. Insofern also die beiden genannten und der vorliegende Text parallel und unabhängig voneinander entstanden sind, wird auf eine ausführliche Diskussion von Bredel et al. (2011) und Eisenberg (2012) hier verzichtet; Hinweise sind an den auffälligsten Stellen (insbesondere, wenn sich die Ergebnisse gleichen) eingefügt. – Der Autor dankt Karsten Schmidt, Osnabrück, für die Korrektur des Manuskripts.
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In Einklang mit gängigen Darstellungen kann als Standardfall der [i:]Verschriftung angenommen werden, vgl. (1), wohingegen für Fremdwörter zunächst -Schreibung die Regel zu sein scheint (2), wovon es jedoch ‚Ausnahmen‘ wie in (3) gibt, die wiederum -Schreibung aufweisen. Andererseits findet sich die Verschriftung mit auch in Wörtern, denen kein Fremdwortstatus zukommt (4) sowie – offenbar ‚regelmäßig‘– bei i am Wortanfang (5). Eine überschaubare Gruppe zeigt -Schreibung (6) und das Wort Vieh (7) gilt als Einzelfall, bei dem [i:] gar mit verschriftet wird. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Knie, Lied, Biene, wieder Krise, Kamin, Kabine, Karabiner Chemie, Melodie, kopierLid, wider, wir, Biber Igel, Iglu, Isar ihm, ihr, ihnen Vieh
Bereits eine solch vereinfachte Überblicksdarstellung kommt praktisch kaum ohne eine Terminologie von ‚Regel‘ und ‚Ausnahme‘ (oder ‚Regularität‘ und ‚Irregularität‘) aus. Im Folgenden wird weitgehend versucht, solche Termini, wenn überhaupt, so nur unter Vorbehalt zu verwenden. Ziel in Bezug auf (Ir-)Regularitätsfragen ist zum ersten eine Scheidung des Gegenstandsbereichs in grammatische gegenüber lexikalischen Schreibungen und zum anderen in Bezug auf die grammatischen Fälle eine Orientierung an strukturfundierenden Eigenschaften innerhalb des Phänomenbereichs. Bevor diese Sicht auf Regularität und Irregularität im letzten Abschnitt (4) zusammengetragen werden kann, ist das Vorgehen am Sachgegenstand orientiert das folgende. Es wird zunächst ein knapper Überblick gegeben über die Schreibprinzipien des Deutschen im Allgemeinen sowie über bestimmte Vorüberlegungen zur [i:]Schreibung des Deutschen, die aus den Besonderheiten dieses Gegenstands folgen (Abschn. 2). Im zentralen dritten Abschnitt sind die bereits in der Übersicht angeklungenen Einzelfragen im Detail zu beleuchten. Nach einer knappen Übersicht (3.1) ist zunächst auf den Fremdwortbegriff einzugehen (3.2), bevor die Schreibung der fremden Wörter untersucht werden kann (3.3). Wörter, die oben als Ausnahmen bezeichnet wurden, weil sie keine Fremdwörter sind, aber nicht der -Schreibung unterliegen, werden in 3.4 analysiert, bevor der Kernbereich der ‚einheimischen‘ Wörter beschrieben wird (3.5). Die Schreibung von [i:] im Wortanlaut bildet den letzten inhaltlichen Punkt (3.6), bevor die Struktur der [i:]-Schreibung des Deutschen zusammengefasst in 3.7 dargestellt werden kann.
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2 Schreibprinzipien und [i:]-Schreibung 2.1 Zu den Schreibprinzipien des Deutschen Es wird im Folgenden entlang der Auffassung vorgegangen, dass die Wortschreibung des Deutschen sich an drei Schreibprinzipien orientiert und dass die Schreibung von ‚Fremdwörtern‘ bestimmte (d.h. bestimmbare) Eigenschaften besitzt, die sich von der Schreibung der Nicht-‚Fremdwörter‘ unterscheiden (vgl. Eisenberg 2012: 316‒353). Die Prinzipien der Wortschreibung, die in Einklang mit einer großen Zahl an Literatur zum Thema, wenn auch in unterschiedlicher Benennung, zugrunde gelegt werden, sind das phonographische (oder alphabetische) Prinzip, das syllabographische (oder silbische) Prinzip und das logographische (oder Wort-)Prinzip. Das phonographische Prinzip erfasst die Abbildung segmental-lautlicher Eigenschaften der zu verschriftenden Wortform auf segmental-graphische Einheiten, was im Allgemeinen durch die sogenannten Phonem-Graphem-Korrespondenzen erfasst wird. Das heißt, jeder lautlichen Einheit (Phonem) ist eine graphische Einheit (Graphem) zugeordnet, mit der sie verschriftet wird. So wird wohl ausnahmslos jedes Vorkommen des Phonems /l/ im Deutschen durch das Graphem verschriftet. Es ergeben sich für die [i:]-Schreibung hier bereits spezifische Fragen, da der Phonemstatus von /i:/ nicht selbstverständlich ist; darauf wird im nächsten Abschnitt einzugehen sein. Das syllabographische Prinzip erfasst Verschriftungsstrategien, die auf Eigenschaften der Silbe beruhen, bzw. auf prosodischen Eigenschaften in einem bestimmten Sinne. So ist beispielsweise die Konsonantenverdoppelung im Deutschen (wie das Doppel- in ) nach der amtlichen Regelung (2006: 18) nicht nur an vorausgehende Vokalkürze gebunden, sondern – was gerne in Didaktisierungen vergessen wird – auch an die Tatsache, dass die vorausgehende Silbe betont ist. Andere (und bessere) Beschreibungen legen für die Verdoppelung – je nach phonologischer Theorie – den Silbenanschluss (‚fester Anschluss‘, Maas 1992), den Silbenschnitt (‚scharf geschnitten‘, Vennemann 1990, 1991a, 1991b) oder das Konzept des sogenannten Silbengelenks (Eisenberg 1998: 297-299) zugrunde. In jedem Fall ist jedoch deutlich, dass mit segmental-lautlichen Voraussetzungen alleine die Verdoppelung nicht herleitbar ist (sondern bestenfalls die Frage klärbar ist, welcher Konsonant zu verdoppeln ist). Das logographische Prinzip erfasst Verschriftungsstrategien, die zusammengefasst gesprochen auf der Ebene lexikalischer Wörter angesiedelt sind, im Unterschied zu den beiden vorher genannten Prinzipien, die auf Wortformebene anwendbar sind. Mitunter werden in der Literatur eine ganze Reihe von ‚Schreibprinzipien‘ genannt, die hier als mit dem logographischen Prinzip erklärbar zusammengefasst werden. Dies ist zuvorderst das sog. Stammprinzip, das die Tatsache erfasst, dass Formen desselben lexikalischen Wortes sowie verwandte lexikalische
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Wörter möglichst ähnlich zu schreiben sind (also mit demselben Doppel- wie und mit statt wegen der Ähnlichkeit zu in ). Es fallen jedoch auch Homonymie-Differenzierungsschreibungen (wie vs. ) unter das logographische Prinzip, da auch hier auf das lexikalische Wort zugegriffen werden muss, um die Schreibung zu definieren (also nicht auf die Lautform /zaɪtə/ allein, sondern nur zusammen mit genau einer Bedeutung). Neben diesen Prinzipien der Wortschreibung gibt es insbesondere das syntaktische Schreibprinzip, das weitgehend wortübergreifend wirkt, also beispielsweise Spatiensetzung, Großschreibung und Interpunktion regelt. Diese einzelwortübergreifenden Eigenschaften stehen für die vorliegende Fragestellung zunächst nicht zur Debatte; es kann jedoch an späterer Stelle (3.6) auf die Frage eingegangen werden, ob syntaktische Verschriftungsstrategien im Bereich der [i:]-Schreibung auch auf Wortebene anzunehmen sind. Betrachtet man die verschiedenen Schreibprinzipien jeweils als (Menge von) Regeln, ergibt sich nach dem üblichen Vorgehen ein Problem der Regelordnung. So wird – zu Recht – durchgängig davon ausgegangen, dass das phonographische Schreibprinzip das grundlegende Prinzip der Schreibung ist, oder in verbreiteter Terminologie, dass es das Default-Prinzip der deutschen Wortschreibung darstellt. Etwas vereinfacht ausgedrückt, werden in algorithmus-ähnlichen Darstellungen interagierender Regeln zunächst die ‚Ausnahmen‘ abgearbeitet, bevor die allgemeinen Regeln zur Anwendung kommen. Nun sind jedoch Darstellungen zum Verhältnis der verschiedenen Schreibprinzipien im Allgemeinen so aufgebaut, dass von den phonographischen Schreibungen ausgegangen wird, die dann unter Einbeziehung der anderen Prinzipien teilweise ‚überschrieben‘ (also nachträglich verändert) werden. Soweit das hier überblickt wird, ist die einzige fachwissenschaftliche Darstellung entlang einer regel-logischen Ordnung (in Bezug auf Logographie und Phonographie) Maas (1992: insbes. 242). Das dargestellte Vorgehen vom ‚Regel‘- zum ‚Sonderfall‘ könnte der Nähe zur Didaktik geschuldet sein, da es allgemein didaktisch nicht sinnvoll ist, die logische Ordnung von der spezifischen Regel hin zum Default in der Vermittlung aufzunehmen. (Man müsste, vereinfacht gesprochen, immer erst die ‚Ausnahmen‘ abarbeiten, bevor man zu den allgemeinen Regeln kommt.) Es muss aber doch angemerkt werden, dass diese allgemein sicher richtige Einschränkung weite Teile der Schriftdidaktik allerdings nicht davon entschuldet, das Schriftsystem in verfälschendverkürzter Weise darzustellen. So ist es verbreitet, allein das phonographische Prinzip der Verschriftung zugrunde zu legen und alle anderen Schreibprinzipien einem diffusen Bereich der ‚Rechtschreibung‘ zuzuschlagen (lautgetreues vs. ‚orthographisches‘ Schreiben), was schon deshalb Unfug ist, als – wenn man denn von „Rechtschreibung“ oder „Orthographie“ sprechen will – natürlich auch die PhonemGraphem-Korrespondenzen dazu zählen. Rein praktisch ist das Fatale an der Verbreitung dieser Ansicht, dass die mindestens unterschwellig mitvermittelte Eintei-
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lung in Regelmäßigkeit (phonographisches Schreiben) und Willkürlichkeit (silbisches und logographisches Schreiben) gerade zur (lange Zeit der Schullaufbahn tolerierten) Nichtbeherrschung einfacher Schreibprinzipien des Deutschen führt. Auch stärker fachwissenschaftliche Darstellungen des deutschen Schriftsystems, die versuchen, Schreibungen, die mit silbischen Prinzipien zu klären sind, in die phonographischen zu integrieren, müssen als prinzipiell unangemessen betrachtet werden. Darunter fällt insbesondere die Auffassung, Schrifteinheiten wie (in ) oder (in ) hätten Graphemstatus (Nerius 2007: 122) und könnten auf Phoneme bezogen werden. Das gleiche gilt für die Benennung von Einheiten wie und als „Orthographeme“ (Thomé, z.B. 2006: 370) (gegenüber einem „Basisgraphemen“, wie hier , Thomé 2006: 370), da gerade dadurch der sachlich unangemessene und didaktisch kontraproduktive Gegensatz zwischen ‚normalem‘ und ‚orthographischem‘ Schreiben konstruiert wird. Neben den dargelegten Schreibprinzipien steht die Schreibung der ‚Fremdwörter‘. Wie auch immer der Fremdwortbegriff gefasst wird – dazu gleich mehr –, deutlich ist, dass fremde Schreibungen jedenfalls nicht in gleicher Weise den Schreibprinzipien gehorchen. Diese Desintegration der ‚Fremdwörter‘ ist jedoch für das Sprachsystem des Deutschen alles andere als ungewöhnlich; sie gilt keinesfalls nur in der Schrift, sondern in ähnlicher Weise mindestens für Phonologie und Morphologie. So können ‚Fremdwörter‘ lautliche Eigenschaften besitzen, die im sonstigen Lautsystem nicht vorkommen, wie beispielsweise fremde Phoneme (/ʒ/ in /gɑʁɑ:ʒə/) oder sie können z.B. flexionsmorphologisch ‚fremdes‘ Verhalten zeigen (wie die s-Plural-Bildung Bars zu dem femininen Einsilber Bar). Was die Klärung des Begriffs des Fremdworts betrifft, so stehen sich insbesondere ein etymologisches und ein sprachsystematisches Verständnis gegenüber. Der etymologische Fremdwortbegriff betrachtet tatsächlich entlehnte lexikalische Einheiten als fremd, den Erbwortschatz des Deutschen andererseits als nativ. Ein sprachsystematischer Fremdwortbegriff hingegen wird Eigenschaften definieren, die zum Kernbereich des Deutschen gehören; was diesen Eigenschaften in bestimmtem Maß widerspricht, ist strukturell fremd (auch wenn es sich beispielsweise um Erbwörter handelt; zur Diskussion um den Fremdwortbegriff in diesem Sinne vgl. Wurzel 1981: 909; Eisenberg 1998: 37, 2012: 15‒18; Maas 2006: 147). Nach diesem zweiten Fremdwortbegriff, dem hier der Vorzug gegeben werden soll, sind beispielsweise die Wörter Holunder und Forelle strukturell fremd, da morphologisch nicht-komplexe Wortformen des Deutschen ein- oder zweisilbig, nicht jedoch dreisilbig sind. Man mag freilich zu bedenken geben, ob der Terminus „fremd“ bei einer solchen Sicht noch aussagekräftig ist, oder ob nicht besser von einem peripheren (im Gegensatz zu einem Kern-)System die Rede sein sollte (vgl. wiederum Eisenberg 2012: 16). Jenseits solcher terminologischen Überlegungen sollte aber deutlich sein, dass der sprachsystematische Fremdwortbegriff leichter graduell handhabbar ist, also auch die allmähliche Integration eines ursprünglichen Fremdwortes in das
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Kernsystem beschreiben lässt (wovon an späterer Stelle Gebrauch gemacht werden soll).
2.2 Vorüberlegungen zur [i:]-Schreibung Folgt man den gängigen Darstellungen der Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Deutschen, so ist [i:] mit zu verschriften, wobei der Mehrgraph ein Graphem darstellt. Damit ist die Verschriftung des [i:] nach phonographischen Prinzipien ein Einzelfall insofern, als bei keinem anderen Vokal die lange gespannte Variante ([o:], [u:] usw.) anders verschriftet wird, als die kurze ungespannte ([ɔ], [ʊ] usw.). Will man diese Unterscheidung zwischen [i:] und [ɪ] überhaupt mit PhonemGraphem-Regeln erfassen, so ist notwendig vorausgesetzt, dass es sich um zwei verschiedene Phoneme (/i/ und /ɪ/) handelt. Diese Ansicht (vgl. z.B. Kohler 1977: 173; Eisenberg 1998: 94‒95; Noack 2010: 34) setzt insgesamt 14‒15 phonologische Vollvokale voraus, vgl. Abb. 1 (zwei Vokalreihen gespannter und nicht-gespannter Vollvokale; die Annahme oder Nicht-Annahme eines vorderen unteren gespannten Vokals, hier als /ä/ bezeichnet, ist unabhängig von den hier diskutierten Fragestellungen). Eine solche Auffassung ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Andere (z.B. Vennemann 1990, 1991a, 1991b; Becker 1998) gehen von einer einzigen Reihe phonologischer Vollvokale aus (sieben bis acht), vgl. Abb. 2 (eine Vokalreihe; Status von /ä/ wie zu Abb. 1 vermerkt). Längen- und Gespanntheitsunterschiede auf phonetischer Ebene ergeben sich aus prosodischen Gegebenheiten (also aus der Gesamtsilbe, deren Kern der Vokal ist; zur Diskussion vgl. auch Maas 2006: 153‒154, 162‒175, 256‒259). (In vorliegendem Text wird deshalb der entsprechende Langvokal phonetisch als [i:] bezeichnet, um in dieser Frage keine Vorentscheidung zu treffen.) vorne
hinten
ungerundet gespannt
ungesp.
gerundet gespannt
ungesp.
gesp.
ungesp.
oben
/i/
/ɪ/
/y/
/ʏ/
/u/
/ʊ/
mitte
/e/
/ɛ/
/ø/
/œ/
/o/
/ɔ/
unten
(/ä/)
/ɑ/
/a/
Abb. 1: Phonologisches System der deutschen Monophthonge mit 14/15 Vokalen
Biene, Igel, Biber | 309
vorne
hinten
unger.
gerundet
oben
/i/
/y/
/u/
mitte
/e/
/ø/
/o/
unten
(/ä/)
/ɑ/
Abb. 2: Phonologisches System der deutschen Monophthonge mit 7/8 Vokalen
Nach der Theorie, die mit nur einer Vokalreihe arbeitet, stellt sich der Unterschied zwischen den Formen Miete und Mitte phonologisch wie folgt dar. Beiden liegt dieselbe segmentale Folge /mitə/ zugrunde. Die erste Form ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass ihre Silbenfolge aus einer sog. sanft geschnittenen und einer Reduktionssilbe besteht, wohingegen die Form Mitte aus einer scharf geschnittenen und einer Reduktionssilbe besteht. Scharf und sanft geschnitten sind Kategorien des Silbenschnitts und regeln, sehr grob gesprochen, bestimmte phonetische Eigenschaften an der Silbengrenze. Der phonetische Quantitäts- und Qualitätsunterschied im Vokal – [mi:tə] vs. [mɪtə] – ist damit aus Segmentfolge und Silbenschnitt ableitbar. Bei Annahme von zwei Vollvokalreihen stellen sich bereits die Segmentfolgen unterschiedlich dar, /mitə/ gegenüber /mɪtə/. Hier wird i.d.R. lediglich die Länge des gespannten /i/ in der Akzentsilbe aus den silbischen Gegebenheiten (hier: Betontheit) abgeleitet. Die Frage nach einer gegenüber zwei Vollvokalreihen im Deutschen ist zunächst natürlich ein rein phonologietheoretisches Problem. Versucht man jedoch, weitgehend mit Regeln des phonographischen Schreibens allein auszukommen, um das Schriftsystem zu explizieren, wird es zu einem graphematischen: Will man die [i:]-Schreibung über Phonem-Graphem-Korrespondenzen regeln, ist man darauf angewiesen, dem /i/ einen phonologischen Status zuzuweisen, und also zwei Vollvokalreihen anzunehmen. Wenn man auf der anderen Seite, wie das hier vorausgesetzt wird, sowieso der Überzeugung ist, dass Verschriften immer auch silbisches Verschriften ist, stellt sich das phonologische Problem völlig unabhängig von der Graphematik. Sollte man nur eine Vollvokalreihe annehmen, ist die i-Schreibung silbisch zu erfassen.2 Hat man hingegen unabhängige Gründe für die Annahme zweier Vokalreihen, kann man die i-Schreibung phonographisch beschreiben. In keinem Fall gelangt man jedoch zu phonetischen Verschriftungen. || 2 Genau diejenigen silbenspezifischen Bedingungen, die ein segmentalphonologisch unspezifisches /i/ zu einem phonetisch langen, gespannten [i:] machen, sind auch hinreichend für eine Default-Verschriftung dieses Vokals mit .
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An dem -Graphem hängt eine weitere Besonderheit der i-Schreibung. Wie bereits einleitend aufgeführt, steht für wortinitiales [i:] (eigentlich [ʔi:], was im Folgenden jedoch vernachlässigt wird) niemals , sondern immer . Probleme ergeben sich hier logischerweise für solche (Schuleingangs-)Didaktiken, die mit dem phonographischen Allheilmittel der Anlauttabelle versuchen, den Einstig in das Schriftsystem zu bahnen; dort lässt man durchgängig zunächst für [i:] schreiben (nach dem Anlautbild Igel) um später mühsam korrigierend die Schreibung im Wortinneren und im Wortauslaut einzuüben. Dabei gerät der wahrnehmungspsychologisch begründete Anspruch von Anlauttabellen, leichter zu diskriminierende Initiallaute für die Phonem-Graphem-Korrespondenzen bereitzustellen, zwangsläufig mit der Regel in Konflikt, dass anlautendes [i:] anders zu verschriften ist, als inlautendes. Was das Schriftsystem unabhängig von Didaktisierungsfragen betrifft, ist zunächst einmal festzuhalten, dass die ‚ungewöhnliche‘ Initialschreibung des [i:] mit der Tatsache korreliert, dass ein dem entsprechender Majuskel-Allograph nicht existiert, den man als * rekonstruieren kann (vgl. *). Entsprechend der Singularität des Vokal-Mehrgraphen im System der Monophthong-Grapheme hat auch dieses Fehlen keinen direkten Vergleich im Deutschen. Mehrgraphen werden ansonsten durch Großschreibung des ersten Buchstabens zu Majuskeln (– , – usw.), das nicht-lateinische Graphem hat überhaupt kein Gegenstück in der Großschreibung, muss aber deshalb im Gegensatz zu bei durchgängiger Majuskelschreibung durch Doppel- ersetzt werden ( vs. ). Diese Lücke kann für deshalb in Kauf genommen werden, weil es nie am Wortanfang steht (die Lücke wird also nur bei Versalienschreibung offensichtlich). Das systematische und begründbare Fehlen von am Wortanfang hat jedoch – wenigstens empirisch – gewisse Parallelen zu (dazu in 3.6).
3 Die [i:]-Schreibung 3.1 Überblick über den Phänomenbereich Der ‚Normalfall‘ der [i:]-Schreibung ist . Dies soll jedoch nicht heißen, dass die [i:]-Schreibung nicht positiv bestimmbar wäre. Zunächst muss noch einmal wiederholt werden, dass die phonologische Grundlage, also die Identifizierung des zu verschriftenden langen gespannten [i:] je nach zugrundeliegender phonologischer Theorie entweder allein auf Grundlage der Phonem-Graphem-Korrespondenzen geschieht (bei Annahme eines von /ɪ/ verschiedenen Phonems /i/), oder auf Grundlage einer Interaktion segmentalphonologischer und silbischer Eigenschaften (bei Annahme eines einzigen Phonems /i/ als Vorkommen in einer offenen oder einer einfach geschlossenen schweren Akzentsilbe).
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In einem ersten Schritt der Einordnung sollen zunächst folgende Gruppen unterschieden werden: etymologisch native Wörter mit -Schreibung (8), etymologisch native Wörter mit -Schreibung (9), Wörter mit [i:] am Wortanfang (10), etymologische Fremdwörter mit -Schreibung (11) und etymologische Fremdwörter mit -Schreibung (12). (8) Knie, die, sie, nie, wie, Tier, Stiel, Lied, Biene, Fliege, wieder (9) wir, gib-, Lid, wider, Biber (10) Igel, Isar, ihn, ihren (11) Maschine, Legislative, Granit, Detektiv (12) Chemie, Melodie, radier-, sozialisier-, qualifizierDas Vorgehen ist folgendes. Es soll zunächst eine von etymologischen Fragen unabhängige, sprachstrukturelle Bestimmung des ‚Fremdworts‘ vorgenommen werden (3.2), wobei für die Fälle in 12 die -Schreibung zu begründen bleibt (3.3). Anschließend soll der etymologisch native Wortschatz systematisiert werden, wobei die -Schreibungen in 9 besonderer Begründung bedürfen (3.4), bevor der eigentliche Kernbereich beschrieben wird (3.5). Die [i:]-Anlautschreibungen in 10 stellen einen gesondert zu behandelnden Fall dar (3.6), bevor das Regelsystem der [i:]Schreibung im Deutschen zusammenfassend dargestellt werden kann (3.7).
3.2 Abgrenzung der ‚Fremdschreibungen‘ Etymologische Fremdwörter gibt es mit - (13-18) wie mit -Schreibung (19‒21) für [i:]. Der Klärung dieser Verteilung ist die Frage vorgeordnet, wie ‚Fremdwörter‘ bestimmt werden können, ohne die Etymologie jedes einzelnen Lexems kennen zu müssen. (13) Elite, Devise, Legislative, Karabiner (14) Maschine, Gardine, Konkubine (15) Sabine, Christine, Berlin, Paris (16) Granit, Kamin, Ventil (17) stabil, infantil (18) plausibel, kompatibel (19) Chemie, Phobie, Melodie, Akademie (20) Biologie, Geographie (21) produzier-, buchstabier-, sozialisier-, qualifizierDer Weg, der hier zur strukturellen Fremdwortbestimmung eingeschlagen wird, führt über die prosodische Wortstruktur. Als Kernbereich (entsprechend dem struk-
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turell nativen Wortschatz) wird eine Wortformprosodie angenommen, die drei Strukturen für Simplizia kennt: 1. eine einzelne betonte Silbe (Kind, lang), 2. ein Trochäus (Abfolge betonter und einer unbetonten Silbe; Blume, langer), 3. ein Daktylus (Abfolge betonter und zweier unbetonter Silben; längerer, ruderten). Entscheidend ist dabei jedoch, dass es sich bei den unbetonten Silben immer um Reduktionssilben handelt, also solche, die keinen Vollvokal als Kern haben, sondern einen Reduktionsvokal ([ə], [ɐ]) oder einen silbischen Konsonanten ([n], [l], selten [m]), wie die jeweils zweiten Silben in Lehre, Lehrer, lehren, Löffel, Atem ([le:ɐʁə], [le:ɐʁɐ], [le:ɐʁn], [lœfl], [ʔɑ:tm]). Im Gegensatz dazu kann der prosodisch periphere Bereich (entsprechend den etymologischen Fremdwörtern) schon dadurch bestimmt werden, dass er mehr als eine Vollsilbe (mehr als eine Silbe mit einem Vollvokal als Kern) enthält. 13 und 14 enthält Beispiele für dreisilbige Wortformen aus einer Folge von unbetonter Vollsilbe – Akzentsilbe – Reduktionssilbe, worunter auch die zwei Eigennamen Sabine und Christine in 15 und Formen wie plausibel in 18 fallen; solche Formen könnte man als teilangepasst an das Kernsystem betrachten, insofern die Reduktionssilbe am Ende die Formen auf einen typischen Trochäus enden lässt, jedoch genügt die unbetonte Vollsilbe am Wortanfang, um sie als nicht vollständig dem Kernbereich angepasst zu identifizieren. 16 enthält zweisilbige Formen aus unbetonter Vollsilbe und Akzentsilbe, also deutlich dem Kernbereich fremde Silbenfolgen, worunter auch die beiden Eigennamen Berlin und Paris aus 15 fallen. (Man beachte, dass sich beispielsweise für Berlin die Frage danach, ob es sich um einen etymologisch fremden Namen handelt oder nicht, nicht stellt; die Wortstruktur ist prosodisch bestimmbar nicht dem Kernsystem angeglichen und dies allein ist hinreichend für die Bestimmung als strukturell peripher / ‚fremd‘.) Ähnlich verhält es sich mit stabil, wobei für 17 eher durchgängige Endbetonung charakteristisch ist, ein ebenfalls aus dem Kernbereich fallendes prosodisches Verhalten. Bis an diese Stelle kann die [i:]-Schreibung strukturell fremder Wörter im dargelegten Sinne eindeutig auf bezogen werden. Erklärungsbedürftig sind danach eher die -Schreibungen bei den prosodisch markierten Wörtern in 19‒21. Als ausschlaggebend für deren Zugehörigkeit zum Kern soll angesehen werden, dass sie das [i:] in einer morphologisch abspaltbaren Silbe haben und insbesondere, dass damit verbundene morphologische Prozesse als produktiv angesehen werden können. Um dies aufzuzeigen, ist insbesondere nachzuweisen, dass gleiches für die Wörter in 14, 17 und 18 nicht gilt.
3.3 Schreibung strukturell fremder Wörter 22 bis 28 gibt alle Einheiten wieder, die als Suffixe mit akzenttragendem [i:] infrage kommen, 22 bis 26 zeigen -Schreibung, 27 und 28 -Schreibung.
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plausibel, kompatibel, sensibel, flexibel, penibel, reversibel stabil, infantil, debil, mobil, agil, fragil, senil, skurril, grazil Profil, Fossil, Utensil, Textil, Zivil, Exil, Konzil (24) astrophil, technophil, ornithophil, frankophil, xenophil (25) ultimativ, demonstrativ, informativ, explosiv, exklusiv, intensiv, offensiv b. naiv, kursiv, oliv c. massiv / Massiv (26) -ine: Maschine, Gardine, Margarine, Ruine, Blondine (27) -ie: Chemie, Apathie, Genie, Autonomie, Phobie, -graphie/-grafie, -pädie (28) a. -ier: produzier-, respektier-, kommandier-, passier-, buchstabier-, lautierb. -isier: sozialisier-, alphabetisier-, pulverisier-, elektrisier-, finnlandisier-, französisierc. -ifizier: personifizier-, mumifizier-, plastifizier-, elektrifizier-, entnazifizier-, russifizier(22) (23)
-ibel: -il: a. b. -phil: -iv: a.
Das entscheidende Kriterium, ein produktives Suffix zu sein, soll ausgehend von den Fällen in 28a festgemacht werden. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Fällen in 22 bis 27 ist die Zugehörigkeit des [i:] zum Suffix einigermaßen deutlich (Respekt : respektier-, Experiment : experimentier-, Zitat : zitier-, etc.). Ausschlaggebend ist aber insbesondere, dass nicht nur fremde (teilweise gebundene) Stämme durch -ier abgeleitet werden können, sondern auch (etymologisch wie strukturell) native Stämme, wie Buchstabe und Laut (für weitere Beispiele siehe Eisenberg 2012: 292). Dies kann sozusagen als das ultimative Produktivitätskriterium für ursprünglich fremde Suffixe betrachtet werden. Dabei ist die Schreibung mit vergleichsweise jung; noch bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts scheinen Schreibungen wie usw. der Standardfall zu sein. Dies soll als deutlicher Hinweis darauf verstanden werden, dass zum einen Produktivität ein graduelles Phänomen ist (oder gar eine Frage der Interpretation) und zum anderen strukturadäquates Schreiben für graphematische Untersuchungen ausschlaggebend gegenüber Fragen normgerechter Schreibungen (d.h. wichtig ist hier die Frage, warum in den Fällen von 28 ein Übergang von - zu Schreibung stattfindet, nicht wann und unter welchen Begleitumständen eine Normveränderung eintritt. Entsprechend dürfen im Folgenden auch empirisch zu überprüfende Hypothesen darüber aufgestellt werden, in welchen anderen Fällen Normabweichungen strukturell wahrscheinlicher sind). In 28b und c ist zwar Produktivität mit nativen Stämmen kaum gegeben, obschon Pulver der prosodischen Wortstruktur des Kernbereichs vollständig angeglichen ist (wenn auch durch die -Schreibung nicht graphisch!) und entnazifizie-
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ren insgesamt ziemlich deutsch ist. Hier genügt aber wohl der enge Bezug der drei Suffixe untereinander, dass sich -isier und -ifizier der Basisform -ier anschließen. Für 28 lautet die Argumentation also, dass die Produktivität des Suffixes Grund für dessen Zugehörigkeit zum Kernbereich ist. Aus dieser Zugehörigkeit zum Kernbereich folgt dann die -Schreibung von akzenttragendem [i:]. Die Nagelprobe für diese Argumentation stellt der Vergleich von 26 und 27 dar: Warum soll -ine nicht als produktives Suffix angesehen werden, -ie hingegen schon? Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Fall Blondine in 26 isoliert dasteht; Ableitung von Stämmen aus dem Kernbereich (hier: blond) sind (ansonsten) nicht möglich. Im Gegenteil handelt es sich bei -ine eher um einen reihenbildenden Wortausgang als um ein Suffix. Wenn überhaupt Ableitungen möglich sind, wie bei Maschine : maschinell, erweist sich das [i] als dem Stamm zugehörig: [mɑˈʃi:n+ə] : [mɑʃiˈn+ɛl]. Das sollte man für die Fälle in 27 anders sehen. Auch wenn man von Relationen wie Chemie : chemisch, Apathie : apathisch ausgeht, sollte das [i:] als Suffix betrachtet werden, schon um die Identität von -isch als solchem zu wahren (Apath+ie : apath+isch, [ʔɑpɑˈti:] : [ʔɑˈpɑ:tɪʃ]). Ganz deutlich, wenn auch wohl nicht prototypisch, ist dies natürlich bei Autonomie : autonom. Was für 27 allerdings nicht gegeben ist, ist Produktivität mit Stämmen aus dem prosodischen Kernbereich (vgl. *Kindie : kindisch). Insofern ist die -Schreibung hier erst einmal als strukturell weniger stabil verankert zu betrachten. Vielmehr sind verstärkend zwei weitere unabhängige Eigenschaften in die Betrachtungen mit einzubeziehen, zum einen, dass [i:] hier im absoluten Auslaut steht; Überlegungen dazu werden im folgenden Abschnitt angestellt. Zum anderen alterniert dort, wo morphologische Bezüge herstellbar sind, langes gespanntes mit kurzem gespanntem i ([mɑˈʃi:nə] Maschine zu [maʃiˈnɛl] maschinell). Wie auch weiter unten argumentiert werden wird, kann dies allein bereits als hinreichender Grund für -Schreibung angesehen werden: nachdem für maschinell -Schreibung phonographisch unangemessen wäre, bleibt die -Schreibung schon aus logographischen Gründen (Konstantschreibung von morphologischen Einheiten) in Maschine erhalten. Insgesamt wird also die entscheidende Trennung zwischen 26 und 27 gesehen. 27 ist in gewissem Maß produktiv, woraus -Schreibung folgt; 26 ist dies nicht, woraus -Schreibung folgt. Durch die umfangreiche Reihenbildung von 26 sind jedoch Normverstöße erwartbarer als in anderen Fällen (wie 22 bis 25). D.h. Schreibungen wie * sind wohl nicht nur einer unangemessenen Schriftdidaktik anzulasten, sondern der Tatsache geschuldet, dass der Übergang zwischen Reihenbildung und Produktivität nicht unbedingt immer klar erkennbar sein muss. Wäre das Ableitungsverhältnis zwischen blond und Blondine nicht isoliert, müsste die Schreibung * erwartet werden. Stabiler dem Bereich der -Schreibung zugehörig sind nach der hier verfolgten Argumentation die Fälle 22 bis 25, die mit Sicherheit nicht für native (= prosodisch
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unmarkierte) Stämme produktiv sind, bzw. deren Status als Suffix überhaupt fraglich ist. Der Endung -ibel sollte überhaupt kein Suffixstatus zugeschrieben werden. In der Wortliste in 22 käme allein reversibel mit Bezug auf Reversion für eine morphologische Abspaltung von -ibel infrage. Ähnliches gilt für -il, wo suffixbegründende Bezüge nur vereinzelt und teilweise schwer herstellbar sind: grazil wohl zu Grazie, agil eventuell zu Agens, infantil kaum zu Infant. Keinerlei Ableitbarkeit ist für die gleichlautende Substantivendung gegeben, deren Reihenbildung beschränkt ist (die Liste in 23b ist wohl erschöpfend). Nach der hier verfolgten Argumentation reicht diese Nichtproduktivität (die aus dem Nicht-Suffix-Status von -ibel und -il folgt) als Begründung für die Schreibung aus. Nach phonographischen Kriterien könnte ebenfalls als Begründung angefügt werden, dass das [i:] nach Ableitung mit einem akzenttragenden Suffix jeweils seine Länge verliert und entsprechend nicht mehr mit verschriftet werden kann: [plaʊˈzi:bl] plausibel zu [ˌplaʊzibiliˈtɛ:t] Plausibilität, [ʃtɑˈbi:l] stabil zu [ˌʃtabiliˈtɛ:t] Stabilität usw. Wie im Beispielfall Maschine zu maschinell oben angeführt bleibt die -Schreibung in allen Ableitungen erhalten. Die Endung -phil (vgl. 24) erweist sich nach dem morphologischen Kriterium als anderer Fall. Nach Eisenberg (1998: 236; 2012: 311) ist es als Konfix zu klassifizieren (zum Begriff vgl. Schmidt 1987: 49); selbst wenn der Übergang vom Konfix zum Affix fließend sein sollte, so ist hier offensichtlich, dass -phil ausschließlich mit fremden Konfixen kombiniert und gerade im Gegensatz zu dem für die -ier-Gruppe oben angeführten nicht mit nativen. Bemerkenswert vom Standpunkt der Schrift alleine ist die Tatsache, dass die ‚Fremdheit’ der -Schreibung einhergeht mit markierter -Schreibung; dies kann unter logographischem Gesichtspunkt als sich gegenseitig stützende Fremdschreibungen betrachtet werden. (D.h., -phil ist ein Fremdkonfix, daraus folgt Schreibung mit und ; oder: wenn -phil mit geschrieben wird, ist es ein Fremdkonfix, woraus folgt, dass es mit geschrieben wird; oder: wenn -phil mit geschrieben wird, ist es ein Fremdkonfix, woraus folgt, dass es mit geschrieben wird.) Morphologisch randständig ist auch -iv (vgl. 25). Einheitliche Bezüge zu anderen morphologisch komplexen Wörtern, die für einen morphologischen Status von -iv sprechen, kommen zwar vor (demonstrativ zu Demonstration, explosiv zu Explosion), sodass ebenfalls von einem Konfix ausgegangen werden kann. Jedoch kombiniert dieses wiederum ausschließlich mit fremden Konfixen. Des Weiteren gibt es Fälle, bei denen -iv überhaupt nicht abspaltbar ist (offensiv zu Offensive aus 25a sowie alle Fälle in 25b), bzw. einmalige Konversion angenommen werden kann (25c). Alles in allem ist auch hier mit Sicherheit kein produktives Suffix anzunehmen. Insgesamt liegt bei strukturell fremden Wörtern -Schreibung also genau dann vor, wenn das [i:] in einem produktiven Affix (wohl ausschließlich: Suffix) vorkommt. Produktivität wird dabei so verstanden, dass die Wortbildung im Deut-
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schen selbst stattfindet, was im ausgeprägtesten Fall damit einhergeht, dass das fremde Affix mit strukturell nativen Stämmen kombiniert. Sieht man ein in diesem Sinne produktives Affix als (in das morphologische System des Deutschen) integriertes Morphem an, beschränkt sich die -Schreibung bis hierhin tatsächlich auf strukturell fremde Einheiten. Als einigermaßen rätselhaft dürfen die Fälle von Substantiven betrachtet werden, die auf [i:ɐ] auslauten und bei denen 18 mit - (29) und sieben mit Schreibung (30) zu zählen sind. (29) a. Barbier, Grenadier, Pionier, Kurier, Quartier, Kavalier, Papier, Klavier b. Passagier, Spalier, Manier, Revier, Juwelier c. Furnier, Visier, Turnier, Polier d. Brevier (30) Vampir, Saphir, Menhir, Zephir, Souvenir, Geysir, Wesir Röber (2006a, b) legt den Schreibungen in 29 eine phonographische Regel zugrunde, wonach das von ihr als Diphthong analysierte [i:ɐ] allgemein als zu verschriften ist, ganz wie im strukturell nativen Wortschatz (Bier, vier usw.), wohingegen Bredel et al. (2011: 146) hier (in unserer Terminologie) eher logographisch argumentieren. Es bietet sich möglicherweise an, die -Schreibungen auf das verbbildende Suffix -ier(en) zu beziehen. Allerdings gibt es nur zu den Fällen in c entsprechende Verben, wobei turnieren wohl nur mhd. gebräuchlich war (und bei polieren der etymologische Bezug zum Substantiv unklar ist). Ansonsten ist zunächst natürlich der Bezug zum Französischen auffällig; die Fälle in a gibt es genauso im Französischen (bis auf Abweichungen, die hier keine Rolle spielen wie - vs. -Schreibung und Konsonantenverdopplungen), die in b finden sich in dieser Form im Altfranzösischen, bzw. ist bei Juwelier die Ableitung aus frz. joelier etwas verunklarter. Brevier (29d) scheint das einzige Wort zu sein, das die -Schreibung im Deutschen angenommen hat (aus lat. brevārium). Dem gegenüber stehen die Wörter in 30, wobei gerade Souvenir als buchstabengetreue Übernahme aus dem Französischen den deutlichsten Hinweis darauf liefert, dass hier offensichtlich logographische Schreibungen vorliegen, da die begründenden lautlichen ([iɛ] vs. [iʀ]) und grammatischen (Substantiv vs. Infinitiv) Unterschiede im Deutschen gerade nicht gegeben sind.
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3.4 Etymologisch fremde, strukturell native Wörter: logographische Schreibungen Nachdem fremde Wörter hier prosodisch und nicht etymologisch bestimmt wurden, ist zu erwarten, dass es eine Reihe von Wörtern gibt, die zwar etymologisch fremd sind, sich jedoch (zufällig oder nicht) dem Kernbereich der deutschen Wortprosodie soweit angepasst haben, dass sie strukturell nicht von nativen Wörtern unterscheidbar sind. Es handelt sich dabei um die Wörter in 31, wobei – wenn der Versuch geglückt ist, eine vollständige Liste zusammenzustellen – zunächst auffällt, dass es sich um eine äußerst kleine Gruppe handelt. (31) a. b. c. d. e. f.
Krise, Brise, Prise, Tide, Pike, Mime Chile, Ire, Brite Viper, Tiger, Liter Bibel, Fibel Ski, Pi, Pli vif, Prim
Diese Wörter entsprechen wie gesagt dem prosodischen Kernbereich des Deutschen, in 31a bis d stehen Trochäen (a und b auf auslautendes [ə], darunter sind die Wörter in b Eigennamen bzw. von Eigennamen abgeleitet, c lautet auf [ɐ] aus, d auf [(ə)l]; e und f enthalten Einsilber, davon sind die in e offene Silben, in f geschlossene). Nachdem eine ‚Fremdheit‘ also nicht erkennbar ist, muss dies für jedes Lexem einzeln gewusst werden. Derartige Fälle sind natürlich keine Besonderheit der Schreibung; vielmehr gibt es mindestens morphologisch sowohl (ansonsten strukturell) native wie (strukturell erkennbare wie nicht erkennbare) fremde Wörter, deren Flexions- oder auch Derivationsverhalten jeweils idiosynkratisch ist oder sich auf kleine Gruppen beschränkt. Ein solches Verhalten kann man als lexikalisch bezeichnen, insoweit diese Eigenheiten zum Lexikoneintrag jedes einzelnen Wortes gerechnet werden müssen. Inwieweit dafür die Bezeichnung Ausnahme (oder Irregularität) angemessen ist, soll in Abschn. 4 diskutiert werden. In jedem Falle wird ein solches Verhalten im Bereich des Schriftsystems durch den Terminus des logographischen Schreibens (mit-)erfasst; für jedes Wort ist die Schreibung (in den genannten Fällen ausschließlich der Aspekt der [i:]-Schreibung) lexikalisch festgelegt. Genauer sollte man hier wohl von lexikalischem Verschriften als einem Unterfall logographischen Verschriftens sprechen. Im Einzelnen sind zumindest für die Fälle in 31a Normverstöße in der Art von usw. erwartbar; Liter gehört wohl eher dem Sichtwortschatz an, sodass -Schreibung hier unwahrscheinlicher ist und die Schreibung kann als
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gestützt angesehen werden durch die ebenfalls markierte -Schreibung (gegenüber vollständig dem Kernsystem angepasstem *; beide 31c). Was 31d angeht, ist man geneigt anzunehmen, dass sie sich gegenseitig stützen (Fibel ist wohl etymologisch auf Bibel zurückzuführen). Die Fälle in b tendieren als Eigennamen ohnehin zu lexikalischen Idiosynkrasien und werden darüber hinaus durch morphologische Bezüge zu nicht-langem i (Chilene, Irland, Britannien) gestützt. Die Fälle auf einsilbig auslautendes [i:] (31e) werden im folgenden Abschnitt aufgegriffen.
3.5 Schreibung etymologisch nativer Wörter Es wurde bisher weitgehend vermieden, Begriffe wie Regularität oder Regelmäßigkeit (in Abgrenzung zu Irregularität oder Unregelmäßigkeit / Ausnahme) zu verwenden. In diesem Sinne wird ein bestimmter Typ der [i:]-Schreibung als strukturfundierend betrachtet, und zwar derjenige in 32. (32) a. b. (33) (34) a. b.
Tier, Stiel, Lied Biene, Fliege, Striemen, wieder flieh-, zieh-, liehdie, nie, sie, wie Knie, Vieh
Es handelt sich dabei um Substantive, die einsilbige geschlossene Formen besitzen (32a) und Wörter, die ausschließlich zweisilbige Formen als kanonische Trochäen besitzen (32b). Zusammenfassend soll von Wörtern mit inlautendem [i:] gesprochen werden. Hier ist außerhalb der lexikalischen Fälle die -Schreibung strukturell verankert, die Wortlisten in 32 sind erweiterbar. Randständig sind offenbar bereits Verbstämme (Präsens- und Präteritumstämme), die ebenfalls einsilbige Formen bilden können; es existieren nur die drei in 33. (Adjektivstämme, die auf [i:] auslauten, gibt es nicht.) Diskussionswürdiger sind die Fälle in 34, bei denen es sich um offene Einsilber handelt. Die vier Fälle nicht-flektierender Formen in 34a schließen sich ebenfalls dem strukturfundierenden Typ an. Die beiden Substantive in 34b verhalten sich unterschiedlich. Möglicherweise wäre zu erwarten, dass neben der -Schreibung wie in den Fällen der Verben (33) ein silbentrennendes geschrieben wird, um in den trochäischen Formen die Silbengrenze zu markieren ( statt * oder * usw.) Bei Knie findet dies jedoch nicht statt, mit der Konsequenz, dass die Pluralform [kni:ə] nicht so verschriftbar ist, dass sie kontextfrei als Pluralform erkennbar wäre (Plural zum Singular statt Plural zum Singular ). Die Schreibung mit ‚silbentrennendem’ findet jedoch bei Vieh
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statt, einem Wort, das gar keine zweisilbigen Formen besitzt. (Alternativ könnte man das in als quasi-etymologische Verbindung zur ‚Nebenform‘ betrachten, bzw. – wenn man Viecher als Plural von Vieh akzeptieren würde – als abgewandelte Stammkonstantschreibung; in jedem Fall ist auffällig, dass die singuläre -Schreibung mit markierter -Schreibung einhergeht, was ja bereits früher als Hinweis auf logographische Schreibung genommen wurde.) Der wohl von niemanden angezweifelte Fall logographischer [i:]-Verschriftung findet sich in 35. Hier gibt es homonyme Wörter, die jeweils mit geschrieben werden (Lied, wieder, Stiel, Miene), womit die Schrift Differenzierungen vornehmen kann, die lautlich nicht möglich sind. (35) Lid, wider, Stil, Mine (36) Biber, gibKeinesfalls darf aber daraus geschlossen werden, dass Homonymiedifferenzierung ein in irgendeiner Weise notwendiger oder hinreichender Grund für logographische Verschriftungsstrategien (unterschiedlicher Arten) wäre. Vielmehr ist es so, dass Logographie Bestandteil des Verschriftungssystems des Deutschen ist. Homonymiedifferenzierung mag einen nachvollziehbaren Grund für bestimmte logographische Verschriftungen (hier: [i:] als ) abgeben; sie ist jedoch für die Form Lid in keiner anderen Weise lexikalisch fixiert (‚idiosynkratisch’) als beispielsweise für die Form Biber (aus 36). Schließlich ist es in keinster Weise eine grammatische (d.h. in irgendeiner Weise strukturelle) Eigenschaft des Wortes Lid, dass es ein homonymes Wort Lied gibt; oder anders ausgedrückt, um zu wissen, wie Lid zu verschriften ist, ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass es das Wort Lied gibt, es ist aber weder zwingend, noch folgt unmittelbar, welches der beiden Homonyme wie zu schreiben ist (vgl. auch Eisenberg 1998: 311). Wird das Wort Stil als [sti:l] realisiert (und nicht [ʃti:l]), so ist es phonologisch (nämlich phonotaktisch) als ‚fremd‘ gekennzeichnet; dies kann als hinreichend dafür betrachtet werden, dass auch die Schreibung ‚fremd‘ ist, wenn auch segmental an anderer Stelle. Das Wort ist lexikalisch als dem peripheren Bereich zugeordnet gekennzeichnet und so stützen sich Lautung und Schreibung, ohne dass überhaupt ein unmittelbarer Bezug zwischen ihnen ([st]-Anlaut und -Schreibung) besteht.
3.6 [i:]-Anlautschreibungen Wie bereits auch auslautendes [i:], so scheint sich auch [i:] im Wortanlaut in der Schreibung anders zu verhalten, als der strukturfundierende Typ des inlautenden
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[i:]. (Für die Identifikation eines anlautenden [i:] wird der Einfachheit halber nach wie vor [ʔ] vernachlässigt.) Es wurde bereits in Abschnitt 2.2 darauf hingewiesen, dass initiales [i:] einer -Schreibung schon aus graphematischen Gründen nicht zugänglich ist. Es gibt stattdessen zwei Schreibungen, -Schreibung (37) und -Schreibung (38). (37) Igel, Iglu, Isegrim, Iris, Isar, Island, Ire (38) ihn, ihm, ihnen, ihr, ihre, ihrer, ihren, ihrem, ihres Auffällig ist zunächst die Verteilung auf Substantive (37, -Schreibung) und Pronominalformen (38, -Schreibung). Weiter ist bemerkenswert, dass sich unter den Substantiven praktisch ausschließlich ein (strukturelles) Fremdwort (Iglu) und Eigennamen finden. (Von letzteren sind wohl noch einige andere zu finden, unter denen Ihle mit -Schreibung ein Einzelfall ist.). Das einzige native Appellativum mit initialem [i:] ist Igel. (Es erstaunt also nicht, dass praktisch alle Anlauttabellen mit diesem Wort – wenn nicht mit dem Fremdwort Iglu – arbeiten. Dies ist aber umso widersinniger, da wortinitiale [i:]-Schreibung eben überhaupt nicht prototypisch für irgendetwas sein kann, was bedeutet, dass [i:]-Schreibung und Anlauttabelle nicht zusammengehen – oder anders gewendet, dass die Anlauttabelle als didaktisches Werkzeug spätestens an dieser Stelle an unüberwindbare Grenzen stößt.) Die initiale -Schreibung der Substantive kann also weder (aus rein graphemtechnischen Gründen) verwundern, noch kann sie als strukturbildend betrachtet werden. Man könnte sich rein theoretisch die Frage stellen, ob sich die strukturfundierende -Schreibung, so wie sie im Deutschen vorzufinden ist, hätte durchsetzen können, wenn es eine halbwegs große Anzahl an Wörtern mit initialem [i:] gäbe, bzw. ob sich dann auch initiale -Schreibung (und damit insbesondere der Majuskelallograph *) durchgesetzt hätte. Überlegenswerter sind die Formen in 38. Hier gibt es offensichtlich einen engen Bezug einer spezifischen Schreibung mit phonographischer Basis zu einer vom Formumfang her kleinen grammatischen Klasse: initiales [i:] wird in Formen der Personal- und Possessivpronomina mit verschriftet. Vom theoretischen Standpunkt der Graphematik ist hier zu fragen, ob neben den bekannten und einleitend erwähnten drei Schreibprinzipien des phonographischen, silbischen und logographischen Verschriftens hier ein Fall syntaktischen Verschriftens vorliegt. So schreibt Nübling (2006: 177): „Exklusiv auf die Wortart Pronomen verweist die Schreibung in ihr, ihn, ihnen, ihm. Mit dieser Schreibung wird also eine grammatische Information vermittelt: ‚Bei diesem Wort handelt es sich um ein Personalpronomen der 3.Ps.‘.“ Personal- und Possessivpronomina sind als syntaktische Klasse zu betrachten und auf eben diese muss in jeder Form von Regelformulierung hierzu Bezug genommen werden (vgl. auch Röber 2006a u. -b) – außer man zählt den ge-
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samten Formbestand in 38 zum Sichtwortschatz, was graphematisch gewendet heißen würde, dass logographisch verschriftet wird. Noch erstaunlicher wird die Pronominalschreibung, wenn man nicht nur die initialen, sondern alle [i:]s in diesen Formen betrachtet: initiale (39, wiederholt aus 38), mediale (40) und finale (41) Pronominal-[i:]s. (39) ihn, ihm, ihnen, ihr, ihre, ihrer, ihren, ihrem, ihres (40) wir, dir, mir (41) sie Wenn man aus dem geringen Formbestand überhaupt Ableitungen ziehen will – wie dies auch Bredel et al. (2011: 143) tun –, so gilt: in Pronominalformen wird initiales [i:] mit , mediales [i:] mit und finales [i:] mit verschriftet, das heißt alle denkbaren Verschriftungen kommen nicht nur vor, sondern sind auch noch funktionalisiert (außer der Verschriftung , der nicht zuletzt aus diesem Grund ein anderer Status zugeordnet werden sollte, als den drei genannten Verschriftungen).
3.7 Zusammenfassung Insgesamt stellt sich die [i:]-Schreibung des Deutschen als Verschränkung von Aspekten aller Verschriftungsprinzipien dar. Wenn als Ausgangspunkt die Lautung angenommen wird, so stellt sich die Identifikation des zu verschriftenden Lauts je nach phonologischer Theorie als rein segmentale oder bereits als segmentalsilbenstrukturelle dar, d.h. für die Verschriftung sind phonographische oder phonographische und syllabographische Gesichtspunkte relevant. (Default-Verschriftung von [i:] ist .) Des Weiteren sind silbenstrukturelle Eigenschaften ausschlaggebend, um einen Bereich abzugrenzen, der gemeinhin als Fremdwörter bezeichnet wird (Wörter mit mehr als einer Vollsilbe; Verschriftung in diesem Bereich mit ). Für das Schreiben heißt dies wiederum, dass Phonographie und Syllabographie ineinandergreifen. Dies kombiniert mit logographischen Aspekten insoweit, als produktive Wortbildungssuffixe von der silbenstrukturellen Beschränkung ausgenommen sind (‚produktiv gebildete Wörter sind keine Fremdwörter in diesem Sinne‘; Verschriftung nach dem Default mit ). Logographisch ist daran, dass die Eigenschaft, produktiv zu sein, einem bestimmten Suffix zukommt (oder eben nicht); die Eigenschaft ist nicht grammatisch ableitbar, nur lexikalisch ermittelbar. Weiterhin logographisch ist die [i:]-Schreibung für eine Reihe von Wörtern in einem lexikalischen Sinne geregelt, was bedeutet, dass es zu den idiosynkratischen Eigenschaften des Wortes gehört, dass [i:] mit verschriftet wird. Es kommt dabei zu bestimmten Überschneidungen mit logographischen Schreibungen nach dem
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sog. Stammprinzip, bei denen ein [i:], das in morphologischer Relation zur kurzen, gespannten Variante [i] steht ( nach etc.) einheitlich wegen fehlender Länge im Bezugswort mit verschriftet wird. Marginal aber bemerkenswert scheint eine syntaktische Regularität bei der Verschriftung von Pronominalformen, nach der (mindestens) anlautendes [i:] mit wiedergegeben wird (und eventuell inlautendes [i:] mit , sowie auslautendes mit ). Abb.3 versucht in kompakter Weise diese Aspekte zusammenzufassen. Dabei deuten ‚…‘ jeweils an, dass die entsprechende Wortreihe größer ist; fehlende ‚…‘ bedeuten umgekehrt, dass die aufzählten Fälle nach bestem Wissen vollständig sind.
prosodischer Kernbereich: eine Vollsilbe offene Einsilber
geschl. Einsilber
Zweisilber
prosodische Peripherie: mehr als eine Vollsilbe
Knie, die, wie, nie Tier, Stiel, Lied, … Biene, Striemen, Miene, wieder, …
Stämme
syntakt. Schreibung
Vieh
sie wir, mir, dir ihn-, ihr-, ihm
gibLid, Stil
Ski, Pi, Pli
vif, Prim
Igel, Ire
Initialschreibung Isar, …, Iglu
Chile, Brite
Berlin, Paris EigenChristine, Sabine namen
Biber
Elite, Satire, Legislative, … Granit, Kamin, Ventil, … Detektiv, Kerosin, …
wider, Mine Krise, Brise, Prise, Tide, Pike, Mime
Viper, Tiger, Liter Karabiner
Pseudosuffixe (?)
Masch(-)ine, Gard(-)ine, Konkub(-)ine, …
prod. Suffixe
Bibel, Fibel
-ier, -isier, -ifizier -ie
Vampir (+ 6 weitere) Pap(-)ier (+ 17 weitere)
Abb. 3: System der Bedingungen der [i:]-Schreibung; grau hinterlegt die anzunehmenden logographischen Schreibungen (‚Ausnahmen‘)
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4 [i:]-Schreibung und (Ir-)Regularität Betrachtet man die [i:]-Schreibung des Deutschen zunächst quasi vortheoretisch in Bezug auf Regularitäten, so ließe sie sich etwa wie folgt darstellen. Die reguläre Verschriftung von [i:] ist (‚Hauptregel‘). Ist ein Wort ein ‚Fremdwort‘ (wie auch immer dies zu bestimmen ist), wird [i:] hingegen als verschriftet. (Dies könnte man als ‚Subregularität‘ oder eben als ‚Ausnahme‘ bezeichnen.) Ist das fremde Wort hingegen produktiv im Deutschen gebildet, ist wiederum mit zu verschriften. (Hier wäre man bei einer Subregularität der Subregularität – oder Ausnahme von der Ausnahme angekommen, was natürlich nicht zuletzt deshalb unelegant ist, als die Schreibung ja nach der ‚Hauptregel‘ erfolgt.) Weiterhin gilt -Schreibung für anlautendes [i:] (als unabhängige Subregularität zur ‚Hauptregel‘), wovon ihrerseits die Pronominalformen auszunehmen sind, für die -Schreibung im Anlaut gilt (eine ‚echte‘ Ausnahme zur Ausnahme). Schließlich bliebe eine Liste von praktisch arbiträren Einzelfällen, für die -Schreibung jeweils individuell festgelegt ist (und eventuell Vieh mit -Schreibung). In ähnlicher wie dieser Weise kann man übliche Darstellungen zur [i:]Schreibung (und zu graphematischen Fragestellungen allgemein, insbesondere, wenn sie als orthographische Fragen verstanden werden) wohl wiedergeben. Die Antwort auf die Frage insbesondere nach Irregularitäten (‚Ausnahmen‘) bei der [i:]- Schreibung im Deutschen erweist sich nach dem hier dargestellten jedoch als eine der Perspektive, gerade in Bezug darauf, welcher Stellenwert den hier so genannten lexikalischen Schreibungen (als Unterfall der logographischen Schreibungen) beigemessen wird. Dazu ist zunächst zweierlei festzuhalten. Zum einen lassen sich selbstverständlich strukturfundierende Eigenschaften feststellen, die problemlos als Regularitäten (oder ‚Regeln‘) zu interpretieren sind – und sich somit von oben formuliertem erst einmal nicht groß unterscheiden. Zum zweiten sind sowohl diese Regularitäten wie die Grenzen ihrer Gültigkeit für die Schreibung gerade nicht prinzipiell anders beschaffen als diejenigen beispielsweise im Bereich der Flexionsmorphologie. Für beide Beschreibungsbereiche – Graphematik wie Wortformbildung – kann man eine Trennung in einen grammatischen und einen lexikalischen Gegenstandsbereich vornehmen; für die Flexionsformen des Verbs sein wird man im Allgemeinen eine relativ große Anzahl lexikalischer (Stamm-)Formen annehmen (bin, ist, war, wes etc.), auf die nur sehr eingeschränkt noch auf grammatische Regeln der Wortformbildung anwendbar sind; für andere Verben wird eine geringere Zahl lexikalischer Formen anzusetzen sein (haben, bringen), für andere genügt ein einziger Wortstamm im Lexikon, um das gesamte Forminventar ableiten zu können. Man führe sich an dieser Stelle vor Augen, dass die generelle Annahme eines sog. Vollformlexikons – also des Verzichts auf grammatische Regeln zur ‚Erzeugung‘ einzelner Flexionsformen zugunsten einer vollständigen Auflistung aller Formen aller
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Verben – im Grunde eine Terminologie wie ‚Irregularität‘ oder ‚Unregelmäßigkeit‘ nicht mehr zulässt. Wenn jeder Einzelfall einzeln verzeichnet ist, stellt sich die Frage nach Regeln nicht und umgekehrt kann gar nicht festgestellt werden, was diesen Regeln nicht gehorcht. Nach der hier vertretenen Sicht gilt die Feststellung, dass Konzepte von Regularität und besonders Irregularität im Bereich des Lexikons gar nicht anwendbar sind aber auch noch dann, wenn Teile des Gegenstandsbereichs sehr wohl Regularitäten unterworfen sind. So wenig, wie die Annahme eines Vollformlexikons für eine flexionsmorphologische Beschreibung zufriedenstellend ist, kann ein Wörterverzeichnis zur Schreibung der Endpunkt einer graphematischen Beschreibung sein. Wenn es jedoch das Ziel einer grammatischen Beschreibung ist, den grammatisch zugänglichen Teil des Gegenstandsbereichs zu untersuchen, nicht jedoch den lexikalischen, so kann es eben genau der Fall sein, dass nur von Regularitäten die Rede ist, nicht aber von Irregularitäten. Die lexikalischen Fälle – oder genauer: lexikalischen Aspekte einzelner Fälle) entziehen sich gerade der Grammatik bzw. grammatischen Beschreibung. Wenn man dem Lexikon andererseits seinen unbestreitbaren Stellenwert innerhalb der Sprache zugesteht, wird man zu Aspekten jenseits von Regularitätsfragen gelangen. Dies ist im Bereich der Schrift natürlich nicht anders, als in anderen Beschreibungsebenen; man muss allein akzeptieren, dass logographisches Schreiben – und hier insbesondere lexikalisch-logographisches Verschriften – im gleichen Sinne, wie das Lexikon zur Sprache gehört, konstitutiver Bestandteil der Schrift ist.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Andreas Bittner Westfälische Wilhelms-Universität Münster Germanistisches Institut Schlossplatz 34 D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Livio Gaeta Università degli Studi di Torino Dipartimento di Studio Umanistici Via S. Ottavio 20 IT-10124 Turin E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Rüdiger Harnisch Universität Passau Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft Innstraße 25 D-94032 Passau E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Gerd Hentschel Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Slavistik Ammerländer Heerstraße 114–118 D-26111 Oldenburg E-Mail: [email protected] Dr. Mir Kamaladin Kazzazi Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Universitätsallee 1 D-85072 Eichstätt E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Klaus-Michael Köpcke Westfälische Wilhelms-Universität Münster Germanistisches Institut Schlossplatz 34 D-48143 Münster E-Mail: [email protected]
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PD Dr. Thomas Menzel Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Slavistik Ammerländer Heerstraße 114–118 D-26111 Oldenburg E-Mail: [email protected] Dr. Jessica Nowak Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsches Institut Jakob-Welder-Weg 18 D-55128 Mainz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsches Institut Jakob-Welder-Weg 18 D-55128 Mainz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Frans Plank Universität Konstanz FB Sprachwissenschaft Universitätsstraße 10 D-78457 Konstanz E-Mail: [email protected] Dr. Stefanie Potsch-Ringeisen Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Universitätsallee 1 D-85072 Eichstätt E-Mail: [email protected] Prof. em. Dr. Elke Ronneberger-Sibold Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Universitätsallee 1 D-85072 Eichstätt E-Mail: [email protected] Dr. Peter Rosenberg Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Fakultät für Kulturwissenschaften Große Scharrnstraße 59 D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected]
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Dr. René Schiering Freier Autor, Linguist und Musiker Lützenkampstr. 122 D-45968 Gladbeck E-Mail: [email protected] Dr. Jan Henning Schulze Otto-Friedrich-Universität Bamberg Institut für Germanstik Hornthalstraße 2 D-96045 Bamberg E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Renata Szczepaniak Universität Hamburg Institut für Germanistik Von-Melle-Park 6 D-20146 Hamburg E-Mail: [email protected] Dr. Oliver Teuber Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Germanistik Ammerländer Heerstraße 114-118 D-26111 Oldenburg E-Mail: [email protected]