Sichtbare und hörbare Morphologie 9783110528978, 9783110526677

Die Verarbeitung morphologischer Informationen wird im Deutschen ausdrucksseitig durch vielfache graphematische und phon

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German Pages 266 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen
3. Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen
4. Lesbare Morphologie als Lerngegenstand
5. Schwierige Lexeme und ihre Flexive im Konflikt: Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien
6. Morphologische Schemakonstanz – eine empirische Untersuchung zum funktionalen Vorteil nominalmorphologischer Wortschonung im Deutschen
7. Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge
8. Wie muss ein „guter“ deutscher Plural klingen?
9. Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung
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Sichtbare und hörbare Morphologie
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Sichtbare und hörbare Morphologie

Linguistische Arbeiten

Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese

Band 565

Sichtbare und hörbare Morphologie

Herausgegeben von Nanna Fuhrhop, Renata Szczepaniak und Karsten Schmidt

ISBN 978-3-11-052667-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052897-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052671-4 ISSN 0344-6727 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 1

Einleitung | 1

Kristian Berg 2 Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 9 Nanna Fuhrhop 3 Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen | 43 Melanie Bangel & Astrid Müller 4 Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 77 Jessica Nowak & Damaris Nübling 5 Schwierige Lexeme und ihre Flexive im Konflikt: Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 113 Tanja Ackermann & Christian Zimmer 6 Morphologische Schemakonstanz – eine empirische Untersuchung zum funktionalen Vorteil nominalmorphologischer Wortschonung im Deutschen | 145 Kristin Kopf 7 Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge | 177 Frank Domahs, Lisa Bartha-Doering, Ulrike Domahs & Margarete Delazer 8 Wie muss ein „guter“ deutscher Plural klingen? | 205 Christiane Ulbrich & Alexander Werth 9 Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 237

Nanna Fuhrhop, Renata Szczepaniak, Karsten Schmidt

Einleitung Der vorliegende Band geht aus der Arbeitsgruppe hervor, die sich im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Marburg (2014) mit dem Thema „Sichtbare und hörbare Morphologie“ beschäftigt hat. Der Leitgedanke der Arbeitsgruppe war, dass die Verarbeitung der morphologischen Information ausdrucksseitig unterstützt wird: Morphologische Einheiten werden durch graphematische und phonologische Phänomene sichtoder hörbar gemacht. Dabei verfügt das Deutsche über unterschiedliche graphematische und phonologische Strategien, die zur Markierung der morphologischen Grenzen dienen oder den "Körper" der Morpheme in Abhängigkeit von ihrer Funktion formal differenzieren. So sind lexikalische Morpheme phonologisch und graphematisch deutlich salienter als beispielsweise Flexionssuffixe. Letztere können, wenn sie überhaupt silbisch sind, phonologisch Reduktionsvokale und Dentale enthalten; sie sind nicht wortwertig. Graphematisch enthalten sie typischerweise und insbesondere keinerlei ‚Dehnungsgraphien‘ als Kennzeichen schwerer graphematischer Silben. Die Aufsätze in diesem Band setzen sich unter Anwendung von psycholinguistischen, experimentellen oder korpuslinguistischen Methoden mit Strategien der phonologischen und graphematischen Markierung der Morphologie auseinander. Dabei werden neben Strategien, die auf beiden Ebenen greifen, d.h. sicht- und hörbar sind, auch solche betrachtet, die rein graphematischer und rein phonologischer Natur sind, d.h. entweder nur sicht- oder nur hörbar die Morphologie abbilden. Die Beiträge zeigen sowohl die diachrone Entwicklung von sicht- und hörbaren Strategien als auch ihre Relevanz für die Sprachverarbeitung und den Spracherwerb. In seinem Beitrag „Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen“ untersucht Kristian Berg die Flexion mit Suffixen als eine Instanziierung sichtbarer Morphologie in der englischen wie in der deutschen Sprache. Einerseits untersucht er, wie die Suffixe im Einzelnen geschrieben werden. Andererseits – und das ist besonders innovativ – überprüft er für jede Endung, wie eindeutig sie denn ist. Gerade im Englischen, wo die Phonem-GraphemKorrespondenzen weniger einheitlich sind, zeigt sich, dass die Endungen relativ eindeutig sind. Eine Endung ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Präteritums- oder Partizip-Endung; die phonologische Entsprechung /ɪd/ wird beispielsweise in splendid nicht geschrieben. Damit wird auch faktisch die

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Richtung umgekehrt: Es ist nicht nur eindeutig, dass das ‚Vergangenheitssuffix‘ der schwachen Verben geschrieben wird, sondern es ist fast eindeutig, dass die Endung eben für das Vergangenheitssuffix steht; Fälle wie , die ein Widerspruch zu dieser These sind, sind überraschend selten; Schreibungen wie , usw. sind eher typisch für das Englische. Das dreht die Richtung vom Schreiben zum Lesen um. In diesem Sinne etabliert Berg die Idee zu ‚morphographematischen Korrespondenzen‘, also eine direkte Beziehung zwischen Graphematik und Morphologie. Berg untersucht sämtliche Flexionssuffixe des Deutschen und Englischen hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit. Auch wenn das Englische sehr viel weniger Formen mit Flexionsendungen aufweist, sind die wenigen Schreibungen, die auftreten, sehr aussagekräftig. Im Deutschen treten mehr Suffixe auf, sie sind aber sehr viel weniger eindeutig. Das wirft ein neues Licht auf die Schreibungen insbesondere im Englischen. Als Ergänzung zu Berg kann der Beitrag „Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen“ von Nanna Fuhrhop gelesen werden. Während Berg die Suffixe im Deutschen untersucht, widmet sich Fuhrhop der Nicht-Suffix-Flexion in Form der starken und unregelmäßigen Verben. Ausgehend von jeweils knapp 200 starken und unregelmäßigen Verben – Vollständigkeit wurde hier angestrebt – fragt sie, ob und welche Regularitäten zu erkennen sind, insbesondere natürlich solche Regularitäten, die besonders für die Schrift sind. Auch hier zeigt sich, dass das Deutsche nur in begründeten Fällen von der Stammkonstanz abweicht: Die Präsensform zu starben wird nicht stärben, sondern sterben geschrieben; sie würde eine morphologische Markiertheit suggerieren, die das Präsens nicht aufweist. Außerdem wird so ein möglicher Zusammenfall mit dem Konjunktiv-Präteritum auf der graphematischen Ebene verhindert bzw. eine solche Interpretation ausgeschlossen. Greifen wir aber als Extremfall die endungslosen Formen heraus – so stellt Fuhrhop fest, dass bis zu zwei Dritteln dieser Formen (insbesondere Präteritumsformen wie gab, sah) durch ihre Schreibung auf einen verwandten Zweisilber hinweisen. Auch hier ist Ähnliches wie bei Berg zu erkennen: Die Schreibung des Deutschen weist, auch wenn zwar relativ unspezifisch, auf Morphologie hin. Bei den englischen Verben hingegen erkennt Fuhrhop bestimmte Muster, besonders augenscheinlich bei den Modalverben can, shall, will und could, should, would. Die ‚Präteritumsformen‘ sehen sich sehr ähnlich. In diesem Sinne wurden alle Formen untersucht, die mehr Stammkonstanz zeigen könnten. Es sind erste Ideen zu bislang kaum beachteten geschweige denn

Einleitung | 3

systematisierten schriftsprachlichen Regularitäten, die sich in erster Annäherung als graphematische Flexionsmuster bezeichnen lassen. In ihrem Beitrag „Lesbare Morphologie als Lerngegenstand. Ergebnisse einer schriftstrukturbezogenen Intervention mit Blick auf mehrsprachige Lernerinnen und Lerner“ stellen Melanie Bangel und Astrid Müller eine Interventionsstudie zur morphologischen Bewusstheit (‚morphological awareness‘) vor. Die morphologischen Prinzipien wurden im deutschsprachigen Bereich auch didaktisch eher von der Schreibrichtung her dargestellt, beispielsweise unter Bezug auf das Stammkonstanzprinzip. Im angloamerikanischen Bereich werde hier jedoch schon länger auch die Leserichtung berücksichtigt, was im Literaturüberblick auch gezeigt wird. In der vorliegenden Studie werden überwiegend leseschwache Fünftklässler getestet. In der einen Gruppe wird Wortbildung mit Blick auf das Ineinandergreifen von phonographisch-silbischen und morphologischen Regularitäten der Wortschreibung thematisiert, in der Kontrollgruppe geschieht die gerade anstehende Arbeit an Wortstrukturen, ohne explizit auf die Schriftstruktur einzugehen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die typischen morphologischen Aufgaben (Wortbausteine segmentieren, Wortstämme identifizieren, Wortfamilien bilden) in den Interventionsklassen stärker verbessern, die Dekodierfähigkeit aber gerade nicht. Das führen die Autorinnen u.a. darauf zurück, dass ein Transfer der entwickelten morphologischen Analysefähigkeiten auf die Leseleistung vermutlich mehr Zeit braucht. Zudem würden die unterschiedlichen Lernausgangslagen der Interventions- und Kontrollgruppe im Bereich der Dekodierfähigkeit den Vergleich der Lernentwicklungen erschweren. In dem Beitrag liegt ein besonderer Fokus auf der Lernentwicklung mehrsprachig aufwachsender Lerner/-innen. Diese Gruppe profitiert am stärksten von der Intervention. Ihnen helfen unterrichtliche Angebote, die ihnen die Entdeckung schriftstruktureller Regularitäten ermöglichen. Dass wir in diesem Band einen solchen Beitrag haben, freut uns besonders. Denn es zeigt uns doch, wie praxisrelevant die Frage nach der Sichtbarkeit von Morphologie ist; in der Studie werden graphematische Erkenntnisse genutzt, um möglicherweise die Lesefähigkeit der Schüler/innen und hier eher schwächerer Leser/innen zu stärken. In dem Beitrag „Schwierige Lexeme und ihre Flexive im Konflikt: Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien“ betrachten Jessica Nowak und Damaris Nübling phonologische und graphematische Besonderheiten des peripheren Wortschatzes. Als „schwierige Lexeme“ werden solche bezeichnet, die eine abweichende wortphonologische Struktur aufweisen, d.h. von der für das Deut-

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sche prototypischen Ein- bzw. (trochäischen) Zweisilbigkeit abweichen, und eine semiotisch-pragmatische Sonderstellung einnehmen. Zu den „schwierigen Lexemen“ zählen Eigennamen, Fremdwörter, Kurzwörter, Onomatopoetika, Interjektionen und Substantivierungen. Diese schwer zu verarbeitenden Wörter unterliegen hör- und sichtbaren Schonungsstrategien: Im Gegensatz zu phonologisch und semiotisch unmarkierten Substantiven werden „schwierige Lexeme“ hörbar und sichtbar unterstützt. Zu den hörbaren Wortschonungsstrategien gehört das uniforme s-Pluralflexiv, das den Wortkörper gering affiziert, da es keine Modifikation durch Vokalwechsel, Resilbifizierung oder Silbenanzahl herbeiführt und damit den Wortkörper in beiden Numerusausprägungen maximal ähnlich hält. Das s-Pluralflexiv setzt sich diachron im Bereich der schwierigen Lexeme durch. Maximal wortschonend ist die sich durchsetzende Deflexion schwieriger Lexeme in Bezug auf Genitivmarkierung. Die uniforme Genitivmarkierung mit kurzer Genitivendung (-s) wird in der Geschichte des Deutschen allmählich aufgegeben: Heute gilt bei Personen- und Ortsnamen die flexivlose Variante (des H. Kohl), während andere Toponyme wie Flußnamen sowie eigennamenähnliche Substantive (z.B. Monatsbezeichnungen), Akronyme und Substantivierungen zwischen flexivhaltigen und flexivlosen Genitivformen schwanken. Zu den sichtbaren (d.h. nur auf der graphematischen Ebene greifenden) Wortschonungsstrategien gehören der Bindestrich und der Apostroph. Dabei wird unter Bezug auf Korpusstudien gezeigt, dass sich die Funktionserweiterung des Apostrophs vom phonographischen zum morphographischen Syngraphem, d.h. zu einem grenzmarkierenden Element, gerade im Bereich der schwierigen Lexeme vollzieht. Hier übernimmt der Apostroph die Funktion, die Grenze zwischen dem Wortkörper der schwierigen Lexeme und der grammatischen Information zu markieren, z.B. Mao’s, Buddha’s, die LKW’s oder die Hm’s. Tanja Ackermann und Christian Zimmer fokussieren in ihrer psycholinguistischen Studie „Morphologische Schemakonstanz – eine empirische Untersuchung zum funktionalen Vorteil nominalmorphologischer Wortschonung im Deutschen“ ebenfalls die flexivische Variation im peripheren substantivischen Bereich, wobei der Schwerpunkt hier auf der Variation der genitivischen Nominalgruppen mit Eigennamen, Fremdwörtern und Kurzwörtern als NP-Kernen liegt. Diese können im Gegensatz zum substantivischen Kernbereich, wo overte Markierung von morphosyntaktischen Informationen für Numerus und Kasus stabil ist, zwischen Mono- und Polyflexion, z.B. des Orinokos (Polyflexion) neben des Orinoko (Monoflexion), schwanken. Diese Schwankungen werden auf das Prinzip der morphologischen Schemakonstanz zurückgeführt, das dafür sorgt, dass durch die Vermeidung von graphematisch wie phonologisch wort-

Einleitung | 5

körperaffizierenden Elemente die Konstanthaltung des Wortkörpers solcher peripheren Substantive erzielt wird. Es wird weiter angenommen, dass diese peripheren Substantive auf diese Weise leichter wiedererkennbar sind. Die Annahme, dass die Konstanthaltung einen Verarbeitungsvorteil für HörerInnen bzw. LeserInnen ergibt, wird in einer dreistufigenVorgang, die eine Korpusuntersuchung, einen Akzeptabilitätstext und ein Self-Paced-Reading-Experiment (SPR) umfasst, empirisch überprüft. Als Stimuli dienen 15 Substantive (Fremd-, Kurzwörter und Eigennamen), deren s-haltige und s-lose Varianten im Akzeptabilitätstest nicht signifikant unterschiedlich bewertet wurden. Das psycholinguistische Self-Paced-Reading-Experiment zeigt, dass die flexivlosen (wortkörperschonenden) Varianten solcher genitivischen Nominalgruppen (z.B. des Orinoko) signifikant schneller gelesen wurden als ihre stärker affizierten, flexivhaltigen Äquivalente (z.B. des Orinokos). Diese Studie zeigt, dass mit der Aufgabe der overten, d.h. hör- und sichtbaren, morphologischen Marker, die den phonologischen wie graphematischen Wortkörper affizieren, im peripheren Bereich tatsächlich ein Verarbeitungsvorteil erzielt wird. In ihrem Beitrag „Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge. Zur Herausbildung phonologischer und graphematischer Grenzmarkierungen in (früh-)neuhochdeutschen N+N-Komposita“ diskutiert Kristin Kopf die Verfugung und die Bindestrichsetzung bei Komposita im Deutschen als Beispiele für hör- bzw. sichtbare Morphologie in dem Sinne, dass beide Verfahren der Markierung spezifischer morphologischer Komplexität dienen, die zudem in historischer Perspektive auf interessante Weise miteinander verschränkt waren. In der Frage nach der Funktion von Fugenelementen kann die Autorin mit ihrer historischen Untersuchung zunächst einmal keine Evidenz dafür finden, dass die Fuge der Markierung schlechter phonologischer Wörter diente. Dies macht die von ihr auch für das Gegenwartsdeutsche angezweifelte „phonologische These“ noch unplausibler. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass zumindest die s-Fuge sowohl diachron als auch synchron die Funktion der Markierung morphologisch komplexer Erstglieder übernommen hat. Dies betrifft Derivate und N+NKomposita als Erstglieder. Das durch Reanalyse syntaktischer Strukturen gewonnene Verfahren der Verfugung in Komposita war seinerseits eine für das Frühneuhochdeutsche komplexe, ungewöhnliche morphologische Strukturierung. Genau hier trat bei seinem Aufkommen der Bindestrich bevorzugt auf, der nun, so die Interpretation der Autorin, im Geschriebenen das noch ungewöhnliche Kompositionsmuster als solches markiert. Mit der Etablierung der Kompositionsfuge als einem festen Bestandteil der Morphologie des Gegenwartsdeutschen verschwindet auch der Bindestrich an dieser Stelle. Geblieben ist

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indessen seine Funktion der Markierung auffälliger morphologischer Konstituenten wie etwa bei Fremdwörtern oder Akronymen als Bestandteilen von Komposita. Eine morphologische Kategorie wie ‚Plural‘ ist mit Blick auf ihre Wahrnehmbarkeit im gesprochenen Deutsch weder nur einzelwortgebunden (lexikalisch) zu modellieren noch lässt sie sich über die Anwendung symbolischer Regeln (wie beim s-Plural im Englischen) explizieren, denn ein Default-Plural, der sich etwa an ein einzelnes Suffix binden ließe, ist für das Deutsche nicht sinnvoll anzusetzen. Angemessen ist vielmehr eine dritte, gleichsam vermittelnde Modellierung, derzufolge wir bei der Sprachperzeption auf Hinweisreize zurückgreifen können, deren Zusammenspiel sich als Formierung typischer Pluralschemata beschreiben lässt. Genau dafür argumentieren Frank Domahs, Lisa-Bartha Doering, Ulrike Domahs und Margarete Delazer in ihrem Beitrag „Wie muss ein ‚guter‘ deutscher Plural‘ klingen? Numerusverarbeitung bei einer Patientin mit Primärer Progressiver Aphasie“. Ausgehend von dem schemabasierten Ansatz von Köpcke (1988, 1993, 1994, 1998) liefern die Autor/innen experimentelle Evidenz dafür, dass die Wahrnehmbarkeit der Kategorie ‚Plural‘ im Deutschen probabilistischen Charakter hat: Hinweisreize wie der definite Artikel die, die Zweisilbigkeit von Wortformen oder der Trochäus als prosodische Struktur sind zwar für sich genommen keine validen Hinweise auf das Vorliegen einer Pluralform, bilden aber zusammengenommen Schemata, die die Interpretation des betreffenden Wortes als Pluralform nahelegen (vgl. z.B. die Hürden als ein Beispiel für eine ‚gute‘ Pluralform). Nur mithilfe solcher probabilistischer perzeptueller Cues, so die Schlussfolgerung der Autor/innen, konnte die Probandin im Experiment entscheiden, ob eine Singular- oder Pluralform vorliegt – auf lexikalisches Wissen konnte sie aufgrund ihrer Aphasie nicht zurückgreifen. Dass die Ergebnisse nur vorsichtig zu generalisieren sind, darauf weisen die Autor/innen hin. Sie sprechen aber deutlich für die Annahme, dass Sprecher/innen des Deutschen bei der Numerusinterpretation nicht nur auf ihr lexikalisches Wissen angewiesen sind, sondern ebenso auf gleichsam formal hörbare Schemata zurückgreifen können, die sie bei ihrer morphologischen Interpretation unterstützen. In diesem Sinne lässt sich die nominale Pluralbildung im Deutschen als eine Instanziierung hörbarer Morphologie beschreiben. Christiane Ulbrich und Alexander Werth überprüfen in ihrer Studie „Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung“, ob der phonologische Unterschied zwischen Präposition-Artikel-Klisen wie am, aufs oder vorm und den entsprechenden Vollformen (an dem, auf das und vor dem) einen

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Einfluss auf die Verarbeitung der morphologischen Information hat. Zwischen den beiden Realisierungsformen der Präposition-Artikel-Sequenzen gibt es einen grundsätzlichen phonologischen Unterschied, da in den nicht-klitisierten Sequenzen sowohl Präposition als auch der Definitartikel je ein phonologisches Wort bilden, wohingegen die Klitisierung, unabhängig vom Verschmelzungsgrad, zur Reduktion des phonologischen Materials auf ein phonologisches Wort führt, z.B. [an]ω [dem]ω vs. [a=m]ω. So bilden sowohl fusionierte PräpositionArtikel-Sequenzen, z.B. a=m, als auch solche, in denen der Artikelrest (-s oder einen Nasal) an eine nicht phonologisch affizierte Präposition agglutiniert ist, z.B. auf=s (s-Agglutination) oder vor=m (Nasalagglutination), gleichermaßen ein phonologisches Wort. In der Reaktionszeitstudie mit insgesamt 456 SatzBild-Zuordnungsaufgaben (und weiteren 144 Filleraufgaben) werden Verarbeitungsunterschiede zwischen den aus einem phonologischen Wort bestehenden klitisierten Sequenzen (am, im; ans, aufs; vorn, vorm) und den entsprechenden nicht-klitisierten Sequenzen (an dem, in dem; an das, auf das; vor den, vor dem) untersucht. Die Studie ergab, dass die Verarbeitungszeit des gehörten Satzes von der phonologischen Struktur der Präposition-Artikel-Sequenz unabhängig war. Die divergierende phonologische Struktur beeinflusste die Verarbeitung der mophologischen Information nicht. Die Reaktionszeit war nur bei den klitisierten Formen kürzer, die eine höhere Gebrauchsfrequenz aufweisen als die entsprechenden Vollformen. Wir möchten uns zum Schluss herzlich bedanken bei unseren Gutachterinnen und Gutachtern, bei den Leserinnen und Lesern des Graphematischen Lesekreises in Oldenburg sowie bei unserem Reihenherausgeber Ingo Plag, die uns allesamt mit ihren kritischen Kommentaren und Überarbeitungshinweisen unterstützt haben. Außerdem bedanken wir uns herzlich bei Juliane Böttcher und Aleksa Krieg für ihre Hilfe bei der Formatierung der Beiträge sowie bei Janina Jauken und Niklas Reinken, die den Satz für das fertige Manuskript übernommen haben und zudem dabei halfen, verbliebene formale wie inhaltliche Inkonsistenzen auszubessern. Schließlich danken wir Daniel Gietz vom Verlag für die reibungslose Zusammenarbeit.

Kristian Berg

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen Der Umgang mit Variation in der Schreibung von Stämmen und Affixen Abstract: The aim of this paper is twofold. The first is to develop a theoretical framework for the relation between spelling and morphology. To this end, morphological spellings are divided into stem and affix spellings. A second orthogonal classification divides both according to the respective perspective, reading and writing. The second aim is to show that this framework can be operationalized. To do so, one subtype of morphological spellings, the reading of inflectional affixes, is empirically investigated in both English and German. The results show that in English, inflectional affixes are often spelled in a unique way, with little to no homographic word endings of monomorphemic words. In German, this is not the case: Here we find widespread homography between affix spellings and word endings. Keywords: writing system, morphology, affix, inflection, English, German

1 Ausgangspunkt und Zielsetzung1 Im Deutschen ist die Stammkonstanz ein prägendes Strukturprinzip des Schriftsystems. Stämme werden, bis auf wenige gut fassbare Ausnahmen, konstant verschriftet. Ausgangspunkt ist in der Regel die mehrsilbige Explizitform; die Verschriftung dieser Explizitform bleibt in allen morphologischen und syntaktischen Umgebungen unverändert. Dieses Phänomen kann ohne Zweifel als Instanz sichtbarer Morphologie gewertet werden. Eine gegebene Funktion (ein Stamm) hat genau eine Form

|| 1 Ich danke dem Graphematischen Lesekreis Oldenburg, einer anonymen Gutachterin/einem anonymen Gutachter sowie Ingo Plag für viele hilfreiche Fragen, Hinweise und Vorschläge. || Kristian Berg: Universität Oldenburg, Institut für Germanistik, Ammerländer Heerstraße 114118, +49.441.798-4772, [email protected]

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(eine Schreibweise). Der Stamm {Kind} wird immer verschriftet, unabhängig davon, in welcher Umgebung er vorkommt (vgl. z.B. , ). Dieses Strukturprinzip ist im Deutschen so stark, dass es uns selbstverständlich vorkommt. Erst ein Blick in die Phonologie oder in andere Schriftsysteme lässt dieses besondere Charakteristikum des Schriftsystems des Deutschen klar hervortreten. Phonologisch variiert der Stamm kontextabhängig (/kɪnt/, /kɪndɐ/, /kɪntlɪç/). Je nach Silbenstruktur des Wortes greift die Auslautverhärtung oder nicht. Ähnlich zeigt der Blick in andere Schriftsysteme, dass die Stammkonstanz nicht selbstverständlich ist. So werden bspw. im Englischen grosso modo segmentalphonologische und prosodische Alternationen auch in der Schrift gespiegelt, vgl. /, //. Nun stellt aber die konstante Schreibung eines Stamms – oder allgemeiner: eines Morphems – nur eine Möglichkeit dar, Morphologie sichtbar zu machen. Es ist denkbar, dass alternativ (oder zusätzlich) auch das Lesen eines Morphems eindeutig ist. In diesem Fall hat eine schriftliche Form immer eine (und zwar genau eine) Funktion. So verweist im Englischen – wie in 4.2 unten gezeigt wird – finales fast immer auf das (polyfunktionale) Suffix {-s}. Dass das nicht so sein muss, zeigt ein exemplarischer Blick auf finales im Deutschen: Hier gibt es mehr als einhundert Substantive, deren Stamm auf endet (z.B. , , , vgl. 4.3.1). Die relativ eindeutige Kennzeichnung im Englischen ist noch bemerkenswerter, weil eine Vielzahl englischer Wörter phonologisch auf /s/ endet, aber nicht mit verschriftet wird (z.B. , , ). Eine solche Verschriftung wäre aber phonographisch durchaus möglich, vgl. die Schreibungen *, *, *. Offenbar ist finales für die Verschriftung des Suffixes {-s} ‚reserviert‘. Auf diese Weise kann (mit einigen wohldefinierten Ausnahmen, s. 4.2) jedes finale dem Suffix {-s} zugeordnet werden. Aufbauend auf diesen Überlegungen hat der Aufsatz zwei Ziele. Zum einen soll ein theoretischer Rahmen für die Erfassung von morphologischgraphematischen Bezügen entwickelt werden. Genauer: Es soll aus systemlinguistischer Perspektive präzise beschrieben werden, an welchen Stellen welche morphologische Information kodiert werden – und wo morphologische Informationen dekodiert werden können. Auf diese Weise lässt sich für eine gegebene Sprache wesentlich genauer als bisher erfassen, wie die Bezüge zur Morphologie funktionalisiert sind. Das scheint angesichts der großen Bedeutung, die morphologische Strukturen für das Lesen haben, angebracht. Eine solche Untersuchung ist daher neben dem systemtheoretischen Erkenntnisgewinn potentiell interessant für die Didaktik und die Leseforschung. Hier wird im Deutschen seit kurzem die Relevanz der sog. morphological awareness anerkannt (vgl. z.B.

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Bangel/Müller 2013), verbunden mit der Forderung, dieses Feld, das im Englischen (vor allem für die Derivationsmorphologie) längst etabliert ist, auch im Deutschen systematisch zu untersuchen. Eine genauere Gliederung der Morphemkonstanz hilft dabei, die Ergebnisse zu interpretieren und typologische Unterschiede zu erklären. Zum anderen soll exemplarisch ein Subtyp morphologischer Schreibungen im Deutschen und Englischen analysiert werden, und zwar das Dekodieren von Flexionssuffixen. Auf diese Weise können die Vorzüge dieses theoretischen Rahmens verdeutlicht werden. Dazu wird im folgenden Abschnitt ein kursorischer Forschungsüberblick über die Morphemkonstanz gegeben (2). Anschließend wird der vorgeschlagene Rahmen entwickelt (3), bevor die empirischen Analysen (eines Teils) der Morphemkonstanz im Deutschen und Englischen vorgestellt werden (4). Die Beobachtungen werden schließlich im Fazit (5) zusammengefasst und interpretiert.

2 Kursorischer Forschungsüberblick Wenn es um die invariante Schreibung von Stämmen geht, wird in der deutschen Forschung meist von „Morphemkonstanz“ gesprochen (Günther 1988: 87ff., Primus 2010, Eisenberg 42013: 310), teilweise auch von „Schemakonstanz“ (Dürscheid 42012: 141; Nerius 42007: 148ff.) oder vom „Stammprinzip“ (Gallmann/Sitta 1996: 35). Formuliert wird dieses „Prinzip“ häufig wie in Eisenberg (42013: 310): „Die geschriebene morphologische Einheit behält ihre Gestalt unter fast allen Bedingungen, ihre Segmentfolge ist stabil.“ Das lässt sich wie gesagt gut an einem Beispiel wie verdeutlichen. Im Singular ist die Auslautverhärtung nicht verschriftet – * wäre phonographisch naheliegender. Da es im Paradigma allerdings zweisilbige Formen mit stimmhaftem Plosiv gibt (z.B. /kɪndɐ/), überbrückt die Schreibung diese phonologische Variation. Umgekehrt ist in Formen wie die -Schreibung phonographisch nicht abschließend zu klären. Eine Schreibung wie wäre aufgrund der einschlägigen Phonem-Graphem-Korrespondenzen erwartbar (vgl. , etc.). Allerdings verdeutlicht das die morphologische Verwandtschaft zu Formen wie . Graphisch sind sich und sehr ähnlich. Im Englischen ist das anders. Stämme werden hier weit weniger systematisch konstant geschrieben. Zwar gibt es Fälle, die immer wieder als Instanzen von Stammkonstanz interpretiert werden, so z.B. die konstante Verschriftung von in und trotz großer Variation in der

12 | Kristian Berg Lautung (/k, s, ʃ/; vgl. z.B. Carney 1994: 18; Venezky 1999: 208; Rollings 2004: 56). Allerdings wird auch regelmäßig gegen die Konstantschreibung verstoßen, vgl. , oder . Den zahlreichen Verstößen bei der Stammkonstanz steht allerdings im Englischen eine recht konstante Schreibung von Flexionssuffixen gegenüber. So wird {-ed} konstant als verschriftet, trotz relativ großer lautlicher Variation (/ɪd, t, d/ wie in , , ; vgl. z.B. Carney 1994: 19). In Berg et al. (2014) wird gezeigt, dass diese konstante Verschriftung auch für andere Suffixe gilt (s. auch 4.2 unten). Vor diesem Hintergrund plädieren Fuhrhop/Barghorn (2012: 141) dafür, Morphemkonstanz in Stamm- bzw. Affixkonstanz zu gliedern. Beide sind im Deutschen und Englischen potentiell unterschiedlich gewichtet. Im Englischen ist Affixkonstanz (zumindest in der Flexion) dominant, im Deutschen ist es Stammkonstanz. Bei der Frage nach der globalen Bewertung von Morphemkonstanz in einem gegebenen Schriftsystem weist Venezky (2004: 146ff.) darauf hin, dass berücksichtigt werden muss, ob eine morphologische Schreibung phonographisch überhaupt möglich wäre. Bei , ist das bspw. nicht der Fall, da eine Korrespondenz - /ʒ/ ausgeschlossen ist (vgl. *). Seiner Ansicht nach dürfen nur solche Fälle bewertet werden, in denen zwei Verschriftungen möglich sind, von denen eine als Konstanzschreibung aufgefasst werden kann. In diesen Fällen, so seine Vermutung, sei in der Mehrheit auch Konstanzschreibung zu beobachten. In eine ähnliche Richtung zielt der Vorschlag von Fuhrhop/Barghorn (2012), explizite Konstanzschreibung von impliziter zu unterscheiden: Erstere ist dadurch definiert, dass der Konstanzschreibung Variation in der Lautung gegenübersteht; bei letzterer ist das nicht der Fall, auch die Lautung ist konstant. Obwohl also auch in Fällen wie - der Stamm konstant geschrieben wird, ergibt sich das auch aus den phonographischen Bezügen. Im Zusammenhang mit der Morphemkonstanz ist oft auf die Differenzierung von Homonymen als ihr „Gegenstück“ verwiesen worden (Nerius 42007). Morphemkonstanz bezeichnet die eindeutige Zuordnung einer Graphemfolge zu einem Morphem (eine Funktion, also eine Form, nicht zwei: //*), Homographievermeidung hingegen bezeichnet die eindeutige Zuordnung eines Morphems zu einer Graphemfolge (eine Form, also eine Funktion, nicht zwei: ‚Musikstück‘/*, ‚Teil des Auges‘). Günther (1988: 88) äußert allerdings grundsätzliche Kritik am postulierten Zusammenhang zwischen Morphemkonstanz und Homographievermeidung und spricht letzterer den Status als systematisches Prinzip ab. So werden viele Ho-

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monyme nicht graphematisch differenziert, vgl. z.B. ‚Klang‘/ ‚Sediment‘. Auch im Englischen wird häufig auf die diskriminierende Funktion von Schreibungen hingewiesen (z.B. Venezky 1999: 9f.). Während es eine Vielzahl von homophonen Lexemen zu geben scheint, die grafisch differenziert werden (z.B. / etc.), ist der umgekehrte Fall sehr viel seltener (Carney 1994: 399): Homographen werden kaum phonologisch differenziert, Fälle wie - /tɪə/ (‚Träne‘) vs. - /tɛə/ (‚reißen‘) sind isolierte Ausnahmen. Homographievermeidung könnte im Englischen systematischer ausgenutzt werden als im Deutschen, so ist zu vermuten; zumindest deutet die umfangreiche Liste in Carney (1994: 401ff.) darauf hin. Aus der einschlägigen Forschungsliteratur ergeben sich damit folgende Hinweise, die bei der folgenden Modellierung berücksichtigt werden sollen: – Morphemkonstanz sollte in Stamm- und Affixkonstanz untergliedert werden. – Morphemkonstanz sollte hinsichtlich phonographischer Alternativen bewertet werden. – Es besteht ein Zusammenhang zwischen Morphemkonstanz und Homographievermeidung.

3 Morphemkonstanz revisited Den folgenden Ausführungen liegt eine modulare Konzeption der Grammatik zugrunde (vgl. z.B. Jackendoff 1997). Die einzelnen Module (hier: Phonologie, Graphematik und Morphologie) sind autonom, interagieren aber über Schnittstellen miteinander. Die Schnittstelle zwischen Phonologie und Graphematik ist recht gut erforscht und z.T. bereits formalisiert – zumindest was die Beziehungen zwischen Segmenten betrifft, also Grapheme auf der einen und Phoneme auf anderen Seite. Dazu werden meist Graphem-Phonem-Korrespondenzen verwendet, die (in Anlehnung an die phonologische Formalisierung in Chomsky/Halle 1968) häufig als kontextfreie Ersetzungsregeln konzeptualisiert sind, z.B. /d/ → oder → /f/. Dahinter steckt häufig eine prozedurale Auffassung von der Schrift als Schreiben (Phoneme werden durch Grapheme ersetzt) bzw. Lesen (Grapheme werden durch Phoneme ersetzt). Da diese Ersetzungsregeln allerdings logisch die Form von Implikationen haben, ist auch eine nichtderivationelle, korrespondenztheoretische Interpretation möglich („Jedes Auftreten des Phonems /d/ impliziert das Auftreten des Graphems “).

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Auch wenn phonographische Korrespondenzen bislang nur auf der Segmentebene angesetzt werden, scheint es sinnvoll, den Begriff auf die subsegmentale und suprasegmentale Ebene auszuweiten – phonographische Korrespondenzen bezeichnen dann regelmäßige Korrespondenzen zwischen Phonologie und Graphematik auf allen Ebenen. Im Detail lässt sich über subsegmentale, segmentale und suprasegmentale phonographische Korrespondenzen sprechen2. Das erfordert eine gewisse Abstraktion, ist aber m.E. durch die größere Kohärenz der Begrifflichkeiten gerechtfertigt. Vor allem aber lässt sich so die Morphologie auch begrifflich einbinden. Es spricht nichts dagegen, analog zu den so definierten phonographischen Korrespondenzen von morphographischen Korrespondenzen zu sprechen – und damit die regelmäßigen Bezüge zwischen morphologischen und graphematischen Strukturen zu benennen. Auch die morphographischen Korrespondenzen lassen sich als Implikationen formulieren, z.B. {Griff} → oder →{Dorf}. Auf diese Weise lassen sich die Korrespondenzbeziehungen formalisieren. Das erste Beispiel ist zu lesen als „Das Auftreten des Morphems {Griff} impliziert die graphematische Struktur “; das zweite Beispiel ist umgekehrt zu interpretieren als „Das Auftreten des graphematischen Wortes impliziert das Morphem {Dorf}“. Ist eine Beziehung in beide ‚Richtungen‘ eindeutig, liegt eine Äquivalenz vor, eine nicht nur eindeutige, sondern eineindeutige Korrespondenz. Um die beiden „Richtungen“ der Implikation eindeutig zu bezeichnen, bieten sich Begriffe aus der Kryptographie an. Die von der Morphologie ausgehende Implikation wird als Kodieren bezeichnet (eine Funktion impliziert eine Form); die von der Graphematik ausgehende Implikation wird als Dekodieren bezeichnet (eine Form impliziert eine Funktion). Die Wahl der Ausdrücke hat schlicht mnemotechnische Gründe; es soll keine Ableitungsbeziehung zwischen den Modulen suggeriert werden. Analog zu morphographischen Korrespondenzen lassen sich auch regelmäßige Bezüge zwischen Morphologie und Phonologie denken, im Folgenden morphophonologische Korrespondenzen. Damit soll nicht suggeriert werden, dass mit dem implikationalen Format der Morphem-Phonem-Korrespondenzen jede Interaktion zwischen Morphologie und Phonologie beschrieben werden kann. Für den Anfang scheint das Format aber auszureichen. Die Interaktion

|| 2 Suprasegmentale Korrespondenzen lassen sich noch einmal unterscheiden in suprasegmental-silbische Korrespondenzen (vgl. Fuhrhop/Buchmann 2009), suprasegmental-prosodische (vgl. Evertz/Primus 2013) und suprasegmental-wortbasierte (vgl. Fuhrhop 2008).

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 15

zwischen den Modulen Graphematik, Phonologie und Morphologie kann wie folgt symbolisiert werden (s. Abb. 1). Aus der oben bereits angesprochenen Differenzierung von Morphemkonstanz in Stamm- und Affixkonstanz ergibt sich zusammen mit der Implikationsrichtung eine vierfache Klassifizierung – gleichsam vier Dimensionen der Morphemkonstanz (in Abb. 1 die beiden Pfeile für die morphographischen Korrespondenzen, jeweils für Stämme und Affixe). Jede dieser vier Dimensionen soll im Folgenden anhand einiger Beispiele skizziert werden.

Abb. 1: Die Beziehungen zwischen Morphologie, Phonologie und Graphematik.

Stammkodierung ({Stamm} → ): Stammkodierung ist im Deutschen – wie oben erwähnt – ein wichtiges Prinzip. Stämme werden konstant verschriftet, und zwar unabhängig von der Umgebung, in der sie auftreten. Stammkodierung ist im Deutschen oft explizit (z.B. ); die Schreibung ist also morphologisch motiviert. Von diesem Prinzip gibt es nur wenige Ausnahmen, bspw. einige Fremdwörter, bei denen im Flexionsparadigma einzelne und verdoppelte Konsonanten variieren (z.B. , /*). Im Englischen hat Stammkodierung hingegen zahlreiche systematische Ausnahmen (z.B. ), vgl. auch die Alternationen in Berg (2013). Stammdekodierung ( → {Stamm}): Diese Korrespondenz ist im Englischen häufig eindeutig. Jedes Auftreten eines bestimmten graphematischen

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Stammes, unabhängig von seiner Umgebung, wird als dasselbe Morphem interpretiert. Interessanterweise ist die Korrespondenz oft explizit: wird bspw. immer als {break} interpretiert, aber über die Phonologie kann diese Zuordnung nicht motiviert werden, denn /breɪk/ korrespondiert sowohl mit {break} als auch mit {brake}, ist also nicht eindeutig. Die Schrift differenziert hier Einheiten, die in der Lautung homophon sind. In dieser Hinsicht ist Homographievermeidung das dekodierende Gegenstück zur Stammkonstanz. Im Deutschen, so ist zu vermuten, gibt es weniger Fälle expliziter Stammdekodierung als im Englischen. Im Prinzip ist die Stammdekodierung aber auch im Deutschen wohl eindeutig – sie ist nur meistens implizit, weil es im Deutschen weniger Homophone gibt als im Englischen. Affixkodierung ({Affix} → ): Affixkodierung ist im Englischen – zumindest für die Flexionssuffixe – häufig eindeutig. So wird {ed} immer als verschriftet. Diese Korrespondenz ist explizit, denn lautlich wird {ed} als /t, d, ɪd/ realisiert –die Schrift überbrückt phonologische Allomorphie. Im Deutschen gibt es durchaus Ausnahmen von der konstanten Affixkodierung: So wird bspw. das Suffix {st} nicht immer als realisiert, abhängig vom stammfinalen Element (). Affixdekodierung ( → {Affix}): Affixdekodierung ist im Englischen (bei Flexionssuffixen) relativ eindeutig – das konnte in Berg et al. (2014) gezeigt werden. Wortfinales bspw. wird – unter bestimmten wohldefinierten Annahmen und mit sehr wenigen Ausnahmen – immer als Suffix {ed} interpretiert. Das kann nicht über den Umweg der Phonologie gehen, da z.B. wortfinales /ɪd/ nicht immer als {ed} interpretiert wird (vgl. z.B. horrid, stupid, vivid, s. 4.2.3). Affixdekodierung ist im Englischen also eindeutig und explizit. Im Deutschen ist das anders: Hier ist die Beziehung nicht eindeutig. Eine Implikation wie bspw. → {t} kann nicht angenommen werden, weil es zu viele Ausnahmen gibt, bei denen wortfinales nicht als Morphem {t} interpretiert wird (z.B. alt, dicht, dreist, s. 4.3.3). Dieser Überblick ist notwendigerweise grob und nur als Ausgangspunkt zu verstehen3. Im Folgenden soll daher die Dimension der Affixdekodierung sys-

|| 3 So ist z.B. vorstellbar, dass sich unterschiedliche Klassen von Morphemen unterschiedlich verhalten. Lateinische Suffixe tendieren im Englischen zu graphematischer Alternation in der Schreibung (z.B. ; , vgl. Aronoff 1978). Lateinische Stämme hingegen tendieren im Englischen zur Konstanzschreibung (z.B. ).

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 17

tematisch für das Englische und Deutsche analysiert werden, um die Operationalisierbarkeit des Ansatzes zu demonstrieren.

4 Affixdekodierung im Englischen und Deutschen Für das Englische wird die Dimension der Affixdekodierung bereits größtenteils in Berg et al. (2014) analysiert (wenn auch ohne die explizite Bezeichnung). Die Ergebnisse sollen hier auf alle Flexionssuffixe im Englischen ausgeweitet werden; außerdem soll eine parallele Untersuchung für die deutschen Flexionssuffixe vorgenommen werden. Im Folgenden werden zunächst die methodologischen Grundlagen der Untersuchung vorgestellt (4.1), bevor die Ergebnisse zum Englischen (4.2) und zum Deutschen (4.3) präsentiert werden.

4.1 Methodologie Für jedes untersuchte Flexionssuffix werden die folgenden Fragen bearbeitet: 1. Wie häufig sind monomorphematische Wörter, deren Ende aussieht wie das Suffix (oder anders: Wie häufig sind mit dem Suffix homographische Wortenden)? Indem diese Frage beantwortet wird, kann bestimmt werden, wie eindeutig die Dekodierrichtung der betreffenden Morphem-GraphemKorrespondenz ist. Korrespondiert eine Graphemfolge immer mit einem bestimmten Suffix und gibt es keine (oder kaum) zufällig graphisch gleiche Wortenden, so ist die Dekodierrichtung für dieses Suffix eindeutig. Die Schreibung des Suffixes ist ein verlässlicher Indikator für das Suffix selbst. Für das englische Derivationssuffix -ous ist das der Fall – es gibt keine monomorphematischen Wörter, die ebenfalls auf enden (vgl. Berg & Aronoff 2017). Eine Einschränkung betrifft die potentielle Basis: Es gilt, dass die Graphemfolge, die nach Abzug des ‚Suffixes‘ übrigbleibt, eine graphematisch mögliche Basis darstellt. Wird bspw. das deutsche Flexionssuffix -er untersucht, so ist kein Gegenbeispiel, weil keine mögliche Basis ist – in ist die Wahrscheinlichkeit einer morphologischen Lesung von finalem viel geringer als bspw. in (vgl. auch Taft 1979). Die jeweils möglichen Basen unterscheiden sich im Englischen und Deutschen geringfügig und werden jeweils in den entsprechenden Abschnitten (4.2 und 4.3) diskutiert. 2. In vielen Fällen ergibt sich aus der Beantwortung der ersten Frage eine Liste von monomorphematischen Wörtern, deren Enden mit dem Suffix homo-

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graphisch sind. Um diese Ausnahmen von der eindeutigen Affixdekodierung besser beurteilen zu können, wird die Phonologie hinzugenommen und gefragt: Wie viele andere Wörter als die bereits betrachteten könnten phonographisch ebenfalls so geschrieben werden, dass sie mit dem Suffix homographisch sind? Als Basis dafür, was phonographisch möglich ist, dienen die Ausnahmen, die bei der Beantwortung von Frage 1 gesammelt wurden. Für das englische Flexionssuffix {-s} etwa gibt es im Korpus 59 Ausnahmen (s. 4.2.1), z.B. craps, measles und series. Diese Wörter sehen aus wie Plurale, sind es aber nicht. Um nun abzuschätzen, wie viele potentielle Ausnahmen es gibt, wird im Korpus nach Wörtern gesucht, die phonologisch so enden wie die Ausnahmen, aber anders geschrieben werden. In unserem Fall wären das also Wörter, die auf Konsonant + /s/ enden (wegen craps), auf Konsonant + /z/ (wegen measles) oder auf /iz/ (wegen series). Das Ergebnis ist dann eine Liste mit phonographisch möglichen Ausnahmen. Ist nun die Zahl der Ausnahmen von der eindeutigen Affixdekodierung klein im Verhältnis zu den theoretisch möglichen Ausnahmen, so sind die Ausnahmen tatsächlich Ausnahmen; die Schreibung des Suffixes wird für das Suffix ‚reserviert‘ und von Nicht-Suffix-Schreibungen freigehalten (bis auf die Ausnahmen). Ist die Zahl der Ausnahmen im Verhältnis zu potentiell möglichen Ausnahmen hingegen groß, so ist das nicht der Fall – die Affixdekodierung ist nicht eindeutig.4 Ein Sonderfall betrifft die Möglichkeit, dass es keine potentiell möglichen Ausnahmen gibt: Das englische Suffix {-ing} etwa kann phonographisch nur als verschriftet werden. Hier fehlt die Möglichkeit, die Ausnahmen angemessen einzuordnen. Dieses Problem wird im Fazit diskutiert. Eine mögliche Schwierigkeit betrifft die Definition monomorphematischer Wörter. Ein Wort wie Sommer ist in einem bestimmten Sinn monomorphematisch; in gewisser Hinsicht aber ist es komplex, denn das Wortende ist charakteristisch für ein bestimmtes Genus (Maskulinum) und eine bestimmte Flexionsklasse (starke Flexion). Es kann daher als Pseudosuffix bezeichnet werden (so z.B. Eisenberg 42013: 158). Da aber unklar ist, ob im Englischen (bei Abwesenheit

|| 4 Die Ergebnisse für ein Suffix können zunächst nur relativ zu den übrigen Suffixen interpretiert werden – ein Suffix ist dann eindeutiger oder weniger eindeutig in seiner Dekodierung. Für eine absolute Interpretation der Daten müsste ein Grenzwert zwischen kleinen und großen Verhältnissen angegeben werden, wie eine anonyme Gutachterin/ein anonymer Gutachter es vorschlägt. Diese Grenze kann aber nur willkürlich oder (was schlimmer wäre) bereits von den Ergebnissen gesteuert sein.

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von Genus und Flexionsklassen) eine vergleichbare Kategorie angenommen werden kann, spielt sie in der folgenden Analyse keine Rolle. Mögliche Konsequenzen einer Pseudosuffix-Analyse von Wörtern wie Sommer werden aber bei der Zusammenfassung der deutschen Daten in Abschnitt 4.3.13 diskutiert. Als Datengrundlage werden der englische und deutsche Teil von CELEX verwendet (Baayen et al. 1995). CELEX ist eine lexikalische Datenbank, die graphematische, phonologische, morphologische und syntaktische Eigenschaften von Wörtern zusammenführt und mit Frequenzangaben ergänzt. Sie beruht auf Wörterbüchern wie der Wortdatenbank Bonnlex (vgl. Lenders 2013: 992) für das Deutsche und dem Oxford Advanced Learner’s Dictionary für das Englische; die Referenzvarietät ist hier die britische Received Pronunciation. Da die Fragestellung auf homographische Wortenden in morphologisch einfachen Wörtern abzielt, wird nur ein Teil der Einträge untersucht. Im Deutschen betrifft das die in CELEX als monomorphematisch und morphologisch „irrelevant“ annotierten Lemmata („morphology status code“ = „M“ und „I“). Es bleiben 10.513 Einträge, die als Grundlage für die Untersuchung dienen. Im Englischen werden ebenfalls die als monomorphematisch annotierten Lemmata untersucht, dort ergänzt um die morphologisch unklaren und solche, die eine potentielle Wurzel enthalten („morphology status code“ = „M“, „O“ und „R“)5. Darüber hinaus werden nur Einträge ohne Leerzeichen und Bindestriche untersucht. Als Grundlage der Untersuchung bleiben so 12.839 Einträge. Vereinzelt sind in beiden Korpora noch wortbildungsmorphologisch komplexe Formen zu finden (bspw. dt. derselbe oder engl. outbuilding). Diese werden manuell aussortiert.

|| 5 Der Unterschied in der Auswahl der Kategorien hat zwei Gründe: 1. Die Kategorien „O“ (morphologisch unklar) und „R“ (enthält mögliche Wurzel) existieren im deutschen Teil von CELEX nicht. 2. Die als „irrelevant“ markierten Einträge (die im Deutschen, nicht aber im Englischen berücksichtigt werden) umfassen im Englischen ganz überwiegend wie im Handbuch angegeben Interjektionen, Eigennamen und Syntagmen (z.B. whodunit); diese sind für die vorliegende Fragestellung uninteressant. Im Deutschen enthält die Kategorie mehr als drei Mal so viele Wörter, und sehr viel mehr als die genannten Wortarten (vgl. z.B. die Einträge akkurat, Diadem, Semester). Das spricht gegen den Ausschluss dieser Kategorie im deutschen Teilkorpus.

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4.2 Affixdekodierung im Englischen Für das Englische wird folgendes Inventar von produktiven Flexionssuffixen angenommen (vgl. z.B. Blevins 2006)6: (1)

Die Suffixe {-s} und {-ed} wurden bereits im Rahmen von Berg et al. (2014) untersucht; die Ergebnisse werden im Folgenden (zum Teil leicht modifiziert) kurz vorgestellt. Im Anschluss werden die übrigen Suffixe einer analogen Untersuchung unterzogen. Wichtig für die Argumentation ist, wie oben bereits angedeutet, der Begriff des potentiellen Stamms. Eine wortfinale Graphemfolge kann nur als Suffix interpretiert werden, wenn der Teil bis zu dieser Graphemfolge graphematisch ein potentieller Stamm ist. In Berg et al. (2014: 289) wird das am Beispiel von {-s} demonstriert: In Fällen wie ist die Gefahr einer morphologischen Interpretation des finalen nicht groß, weil nicht aussieht wie ein ‚guter‘ englischer (Verb- oder Substantiv-)Stamm; englische Stämme enden nicht auf . In Fällen wie (‚Linse‘) hingegen liegt eine morphologische Interpretation nahe, da ein potentieller Stamm ist (vgl. , , ). Der Großteil der freien Stämme im Englischen endet auf Konsonanten, auf oder auf (>93% in CELEX)7. Stammfinales alterniert allerdings vor vielen Flexionssuffixen (und zum Teil vor Derivationssuffixen, vgl. Berg 2013). Drei Fälle müssen unterschieden werden. 1. Statt tritt auf, wenn {-s} folgt (vgl. – ). Dadurch erhält der Stamm () eine unmarkierte Form – er endet wie viele Stämme im Englischen auf . 2. Statt tritt auf, wenn ein Flexionssuffix folgt, das mit beginnt (vgl. – ). Vor {-ed}, {-er} und {-est} ist also auch stammfinales möglich. 3. Vor {-’s} und {-ing} bleibt konstant (vgl. – , – ). Diese Strukturen werden im Folgenden zugrunde gelegt, wenn es um die Analyse morphologisch einfacher Wörter geht: Potentielle Stämme enden im

|| 6 Der Possessivmarker -’s wird bei Blevins (2006) und in weiten Teilen der Literatur nicht als Flexionssuffix angenommen, sondern als Klitikon (so z.B. Bauer 1988) oder als phrasales Affix (so z.B. Zwicky 1987). Der Grund ist, dass -’s auf Phrasen und nicht auf Wörtern operiert, vgl. [the director of personell]’s office). Wenn ’s hier trotzdem untersucht wird, so geschieht das, weil die Frage der Dekodierung des Markers von Interesse ist, und zwar unabhängig von seinem Status als Klitikon oder phrasales Affix. 7 In Berg et al. (2014) wird fälschlicherweise ein Wert von >99% berichtet.

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Englischen mit graphematischem Konsonant oder ; vor {-ed}, {-er} und {-est} ist auch stammfinales möglich; vor {-’s} und {-ing} ist auch stammfinales möglich.

4.2.1 Finales kodiert den Plural bei Substantiven (z.B. ) oder die 3.Ps.Sg. bei Verben (z.B. ). Wie in Berg et al. (2014: 289ff.) gezeigt wird, gibt es im Korpus 59 monomorphematische Wörter, die als potentieller Stamm + Suffix {-s} interpretiert werden können, z.B. die folgenden: (2)

measles, mathematics, bonkers, hives, craps, series

Bei der Bewertung dieser 59 Wörter muss zweierlei beachtet werden. Zum einen wird in Berg et al. (2014: 290) darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mehrheit der Einträge um pluraliua tantum handelt, die semantisch kohärente Gruppen bilden (vgl. Bauer/Lieber/Plag 2013: 393f.), z.B. Krankheitsbezeichnungen wie rabies, measles, hives (und 11 weitere). Diese Wörter sind also in einem gewissen Sinne tatsächlich pluralisch – das zeigt sich z.B. daran, dass sie zum Teil mit pluralischen Verbformen kongruieren (vgl. Bauer/Lieber/Plag 2013: 124). Um die Zahl der 59 Ausnahmen besser einordnen zu können, wird weiter untersucht, ob es Wörter gibt (und wenn ja, wie viele), die phonologisch so enden wie die Ausnahmen (auf Konsonant + /s/, Konsonant + /z/, /iz/ oder /əz/), aber nicht mit einfachem finalem verschriftet werden. Von diesen Wörtern gibt es im Korpus 223. Die alternativen Verschriftungen sind finales (dense), finales (since), finales (bronze) oder (box). Insgesamt werden also nur ca. 20% der phonographisch möglichen monomorphematischen Wörter auch tatsächlich mit finalem verschriftet (Berg et al. 2014: 291). Offenbar reserviert das englische Schriftsystem finales in weiten Teilen tatsächlich für die Kodierung des Morphems.

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4.2.2 Finales kodiert den pränominalen Genitiv bei Substantiven (z.B. ).8 Die wortfinale Schreibung kommt im Korpus monomorphematischer Wörter nicht vor. Potentiell könnten alle Wörter, die im Zusammenhang mit -s als Ausnahmen und potentielle Ausnahmen diskutiert wurden, auch mit -’s verschriftet werden; das sind insgesamt 282 Wörter (59 Ausnahmen und 223 potentielle Ausnahmen). Das geschieht aber nicht. Offenbar wird jedes Auftreten von finalem auch morphologisch interpretiert; die Affixdekodierung ist in diesem Fall eindeutig.

4.2.3 Finales tritt an Verbstämme und kodiert das Präteritum und das Partizip Perfekt. Auch dieses Suffix wurde in Berg et al. (2014) untersucht. Im Korpus finden sich 30 Wörter, die als potentieller Stamm + Suffix {-ed} interpretiert werden können (Berg et al. 2014: 287). Es handelt sich um 20 graphematische Einsilber, die auf enden (Beispiele in 3)9, und 10 graphematische Mehrsilber (4): (3) (4)

breed, heed, feed biped, moped, quadruped, naked, hatred, sacred, wicked, hundred, kindred, worsted

Eine (falsche) Dekodierung als Stamm + Suffix {-ed} ist für die Beispiele in (3) und (4) durchaus naheliegend – sie sehen aus wie suffigierte Verben, vgl. z.B. hoped, baked, kicked. Nimmt man die Belege in (3) und (4) als Basis, so gibt es umgekehrt 112 Wörter, die phonographisch mit finalem verschriftet werden könnten, tatsächlich aber anders geschrieben werden. Insgesamt werden also nur ca. 20% aller phonographisch möglichen Wörter auch tatsächlich mit finalem geschrieben.10 Alternative Verschriftungen umfassen für finales

|| 8 Außerdem kodiert finales auch klitisiertes is (z.B. ); dieser Fall ist hier aber nicht einschlägig, weil es sich nicht um Flexion handelt. 9 Auch diese können – anders als in Berg et al. (2014) behauptet – ja als Stamm + Suffix {-ed} interpretiert werden, wenn der Stamm auf endet, vgl. die realen Formen freed, peed. 10 In Berg et al. (2014: 288) wird hingegen von 9% ausgegangen; die Differenz ergibt sich aus der Aufnahme der Wörter mit (s.o.). Diese Wörter enden phonologisch auf /id/, und von

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/ɪd/ (horrid), für finales /əd/ (bastard) und für finales /id/ (bead). 80% der Wörter werden also anders als mit finalem geschrieben; auf diese Weise wird die Eindeutigkeit der Affixdekodierung erhöht.

4.2.4 Finales tritt an Verbstämme und kodiert das Gerundium sowie die Verlaufsform. Die Graphemfolge kommt als homographisches Wortende in 18 monomorphematischen Wörtern vor, z.B. den folgenden: (5)

cunning, during, evening, herring, pudding, shilling

Außer diesen 18 Wörtern gibt es keine weiteren, die potentiell mit verschriftet werden könnten, aber graphematisch anders enden – alle Wörter, die phonologisch auf /ɪŋ/ ausgehen, werden auch mit verschriftet, das Schriftsystem reserviert dieses Wortende also nicht für das Suffix {-ing}.

4.2.5 Finales kodiert als Flexionssuffix den Komparativ bei Adjektiven. Es teilt seine (phonologische und graphematische) Form mit einer Reihe von Suffixen. Im Korpus finden sich 505 morphologisch einfache Wörter mit diesem graphematischen Wortende wie z.B. die folgenden: (6)

alter, blunder, gender, ladder, rapier, silver

Die Formen sind von Komparativen wie faster, fonder, sadder, sleepier nicht zu unterscheiden. Phonologisch enden sie (mit vereinzelten Ausnahmen) auf /ər/ (alter, barrier). Nimmt man diese phonologische Struktur als Kriterium, so finden sich 280 Einträge, die anders als mit verschriftet werden. Die häufigsten Muster sind (minor, rotor), (grammar, sugar), (future, structure), (desire, satire) und (harbour, vigour). Ein Teil der phonographisch möglichen Schreibungen wird also anders realisiert (vgl. *, *, *); insgesamt sind das aber nur 36% der pho-

|| diesen gibt es – neben den 20 oben erwähnten – noch 15 weitere, die nicht mit verschriftet werden (z.B. concede, plead).

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nographisch möglichen Wörter. Nun können aber zumindest einige der Wörter auf -or, -ar, -ure, und -our so interpretiert werden, dass sie eigenständige (unproduktive) Suffixe enthalten (so z.B. liquor, popular, pasture, honour). Es handelt sich damit also nicht um homophone Wortenden, die auf eine von mehreren möglichen Schreibungen ‚ausweichen‘, sondern um funktionale Schreibungen.

4.2.6 Finales kodiert den Superlativ. Im Korpus kommt die finale Graphemfolge bei 24 morphologisch einfachen Wörtern vor, z.B. bei den folgenden: (7)

attest, forest, honest, modest, suggest

Diese Formen ähneln strukturell Superlativformen (vgl. hottest, surest, finest). Phonologisch enden sie mit /ɛst/ (attest) oder /ɪst/ (tempest). Sucht man nach diesen phonologischen Wortenden, so finden sich 20 phonologische Mehrsilber, die nicht mit verschriftet werden. Das dominante Muster ist (assist, dentist, linguist, resist); ist dagegen marginal (amethyst, catalyst). Insgesamt werden also nur 45% der phonographisch möglichen Wörter anders als mit verschriftet. Zumindest ein Teil der -Wörter kann allerdings als morphologisch komplex analysiert werden (z.B. dentist, linguist). Hier ist die Form des Wortendes also – wie oben bei -or, -ar, -ure, und -our – funktional bedingt.

4.2.7 Zusammenfassung Zunächst werden die Ergebnisse zusammengetragen:

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 25

Suffix

-s

Anzahl Ausnahmen

Anzahl potentieller Ausnahmen

phonographische Alternativen

59

223

, ,

-’s

0

282

, , ,

-ed

30

112

, ,

-er

505

280

, , ,

-est

24

20

-ing

18

-

-

Tab. 1: Zusammenfassung der Ergebnisse. Für jedes der bearbeiteten Suffixe des Englischen: Die Anzahl der Ausnahmen (monomorphematische Stämme mit homographischem Wortende aus CELEX); die Anzahl potentieller Ausnahmen (Wörter, die phonographisch so verschriftet werden könnten); phonographische Alternativen.

Im Englischen werden {-s}, {-’s} und {-ed} relativ eindeutig dekodiert. Fast jedes Auftreten von finalem , und kann morphologisch interpretiert werden. Für die korrespondierenden phonologischen Formen gilt das nicht: Die phonologische Affixkodierung ist im Englischen bei diesen Flexionssuffixen weit weniger eindeutig. Bei {-ing} und {-est} ist die graphematische Dekodierung ebenfalls relativ eindeutig: Es gibt nur 18 bzw. 24 Ausnahmen. Hier ist allerdings auch die phonologische Dekodierung eindeutig. Substantielle Ausnahmen gibt es einzig bei {-er}: Hier ist die Affixdekodierung nicht eindeutig.

4.3 Affixdekodierung im Deutschen Das Inventar der Flexionsaffixe ist im Deutschen etwas umfangreicher als im Englischen; es wird hier wie folgt angesetzt: (8)

Diese Suffixe werden im Folgenden untersucht. Dabei ist – wie im Englischen – der Begriff des potentiellen Stamms wichtig. Wie im Englischen endet die große Mehrzahl der Stämme im Deutschen auf einen graphematischen Konsonanten oder auf , Verbstämme allerdings nur auf graphematische Konsonanten; stammfinale graphematische Diphthonge (wie in befreien oder tauen) sind demgegenüber randständig und werden im Folgenden ignoriert. Hinzu kommt im Deutschen die Groß- und Kleinschreibung: Eine Form wie wird allein aufgrund der initialen Majuskel wohl nicht als verbaler Infinitiv interpre-

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tiert werden. Damit soll nicht einem lexikalischen Konzept der Groß- und Kleinschreibung das Wort geredet werden; die Groß- und Kleinschreibung kann besser syntaktisch motiviert werden (vgl. z.B. Eisenberg 1981). Wenn hier dennoch die Wortart herangezogen wird, so nur in Ermangelung syntaktischer Kontexte. Es ist sinnvoll, Substantive und Nicht-Substantive getrennt zu betrachten. Damit ergeben sich für deutsche Stämme folgende Charakteristika: – Substantive beginnen mit einer Majuskel und enden mit einem graphematischen Konsonanten oder . – Verbstämme enden mit einem graphematischen Konsonanten. – Alle anderen Stämme enden mit einem graphematischen Konsonanten oder .

4.3.1 Finales markiert zum einen den Plural bei Substantiven (z.B. ). Zum anderen markiert es mehrere Kategorien im verbalen Paradigma (wie z.B. den Infinitiv); ähnliches gilt für das adjektivische Paradigma und die pronominale Flexion – auch hier ist polyfunktional. Wir suchen also zunächst monomorphematische Substantive mit finalem und dann monomorphematische Adjektive, Adverbien und Präpositionen mit finalem . Damit sind auch Fälle abgedeckt, in denen der Stamm mit endet wie . Die interne Gliederung der Wörter ist ja für die Frage, ob es zu einem gegebenen Suffix homographische Wortenden gibt, unerheblich: Ob Rose+n oder Frau+en – in beiden Fällen führen morphologisch einfache Wörter wie Becken, Faden, Haufen zu uneindeutiger Affixdekodierung. Dasselbe gilt für Adjektive (müde+n vs. wach+en). Zu den Substantiven: Nach Ausschluss der morphologisch komplexen Substantive im weiteren Sinne (z.B. Allerheiligen, Allerseelen, Angedenken) bleiben noch 148 Substantive mit stammfinalem . Die Liste in (9) präsentiert einige Beispiele: (9)

Becken, Faden, Haufen, Knoten, Lumpen, Pfosten, Schatten, Spaten, Tropfen

Graphematisch unterscheidet diese Substantive nichts von solchen, in denen finales morphologisch interpretiert werden muss wie z.B. , . Das Auftreten von finalem impliziert also nicht eindeutig die Präsenz des Suffixes, die Affixdekodierung ist nicht eindeutig. Umgekehrt gibt

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es nur sechs Fälle, in denen finales /ən/ anders verschriftet wird als mit ; anders als im Englischen gibt es keine Tendenz, für die morphologische Lesart zu reservieren. Die sechs Ausnahmen sind isoliert; es handelt sich um Anglizismen (Bacon, Badminton, Fashion, Gentleman, Skeleton, Slogan). Bei den Nicht-Substantiven ergibt sich ein ähnliches Bild. Hier gibt es 34 Wörter mit stammfinalem , z.B. die folgenden: (10)

gegen, hinten, innen, offen, selten, sieben, unten, wegen

Bei diesen 34 Wörtern könnte es sich rein graphematisch auch um Verb- oder Adjektivformen handeln, vgl. z.B. , ; , . Die geringere Anzahl im Gegensatz zu den 148 Substantiven mit stammfinalem lässt sich mit einem Verweis auf den geringeren Anteil der Adjektive, Präpositionen und Zahlwörter am Gesamtwortschatz erklären. Insgesamt ist auch hier die Affixdekodierung nicht eindeutig. Umgekehrt werden alle NichtSubstantive, die phonologisch auf /ən/ auslauten, auch mit verschriftet.

4.3.2 Finales markiert den Dativ bei pluralischen Substantiven (z.B. , ) sowie eine Reihe von verbalen Kategorien (z.B. , ). Auch bei diesem Suffix muss also zwischen der nominalen Verwendung auf der einen Seite und der verbalen auf der anderen Seite unterschieden werden. In der Substantivflexion kommt einfaches nur nach oder vor (z.B. , ) sowie nach (z.B. , ). Das Auftreten nach wurde im letzten Absatz bereits untersucht. Es wird also nach Substantiven gesucht, deren Stamm auf oder endet. Nach Abzug der morphologisch komplexen finden sich im Korpus fünf Belege: (11)

Konzern, Ostern, Western, Zypern, Röteln

Diese Stämme sind graphematisch nicht von flektierten Substantiven zu unterscheiden, vgl. z.B. , . Außer diesen fünf Wörtern gibt es keine weiteren, die phonologisch gleich auslauten, aber anders verschriftet werden. Bei den Nicht-Substantiven ist einfaches im adjektivischen Paradigma zu finden, hier allerdings nur nach (z.B. , ) – für diesen Fall gelten die oben zu den Substantiven gemachten Anmerkungen. Im verba-

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len Paradigma tritt als Infinitivsuffix nach stammfinalem oder auf (vgl. , ). Hier gibt es sieben Stämme, die auf diese Weise enden: (12)

albern, ehern, extern, gestern, intern, nüchtern, schüchtern

Auch hier werden alle Wörter, die phonologisch auf /ɐn/ enden, mit finalem verschriftet.

4.3.3 Finales markiert nur Kategorien im verbalen Paradigma (z.B. ); Substantive werden daher von der folgenden Betrachtung ausgeschlossen. Es finden sich im Korpus 68 Wörter, die auf enden und ohne dieses letzte Segment als potentielle Verbstämme infrage kommen, z.B. die folgenden: (13)

alt, dicht, dreist, hart, nackt, prompt, wert

Es könnte sich bei jedem der Wörter um eine Verbform in der 3.Ps. Sg. Präs. Ind. Akt. handeln – ich ale, sie alt; ich diche, er dicht; ich dreise, es dreist. Formal unterscheiden sich die 68 Wörter nicht von Verbformen. Es gibt allerdings neben diesen 68 Wörtern 19 weitere, die potentiell mit finalem geschrieben werden könnten, wie z.B. die folgenden: (14) (15)

bald, fremd, mild, rund, tausend und

Hier ergibt sich die graphematische Form allerdings unabhängig aus Gründen der Stammkonstanz (vgl. , etc., *, * etc.). Einzig kann so nicht motiviert werden und bleibt die einzige Ausnahme; gleichzeitig ist es eines der häufigsten Wörter im Deutschen. Festzuhalten ist: Mit dieser einen Ausnahme werden alle Wörter, die mit finalem verschriftet werden könnten, auch tatsächlich so verschriftet.

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 29

4.3.4 Finales markiert die 2.Ps.Sg. im verbalen Paradigma (z.B. ). Im Korpus finden sich sechs Nicht-Substantive, die als potentielle Verben auf interpretiert werden können: (16)

einst, erst, längst, nebst, selbst, sonst

Diese sechs Wörter sind eine Teilmenge der Wörter auf . Phonologisch gibt es darüber hinaus keine Wörter, die potentielle Verbstämme sind und auf /st/ auslauten; es werden also alle möglichen Wörter auch mit finalem verschriftet. Das ist auf den ersten Blick überraschend, da hier mit eine alternative Verschriftung vorzuliegen scheint (z.B. , ); Schreibungen wie z.B. * oder * würden dazu führen, dass ausschließlich Suffixe kodiert, ähnlich wie es im Englischen geschieht. Offenbar ist im Deutschen aber funktionalisiert für bestimmte morphologische Schreibungen und tritt – trotz phonographischer Plausibilität – nicht stammintern auf.

4.3.5 Finales markiert den Dativ bei Artikelwörtern und Adjektiven im Maskulinum und Neutrum. Substantive werden von der folgenden Betrachtung daher ausgeschlossen. Es gibt im Korpus keine Einträge, die potentielle Adjektive (oder Artikelwörter) sind und auf enden (Wörter wie und sind hier nicht einschlägig, weil bzw. keine potentiellen Stämme sind). Es gibt im Korpus allerdings auch keine weiteren Einträge, die potentiell mit verschriftet werden könnten.

4.3.6 ist nur im substantivischen Paradigma vorhanden und kodiert dort a) den Genitiv im Singular (z.B. , ) sowie b) den Plural bei Substantive mit Vollvokal in der Ultima oder bei bestimmten Fremdwörtern (vgl. Eisenberg 4 2013: 158f.). Die tw. allomorphe Form wird an dieser Stelle ausgespart und erst im nächsten Abschnitt behandelt. Im Korpus finden sich 57 morphologisch einfache Wörter, die als Substantiv + Suffix {-s} interpretiert werden können (vgl. z.B. die folgende Auswahl):

30 | Kristian Berg

(17)

Agens, Buchs, Fels, Gans, Gips, Krebs, Schnaps, Vers

Hier existieren allerdings 25 weitere Wörter, die potentiell mit finalem geschrieben werden könnten. Mit einer Ausnahme (dem Fremdwort Nurse) handelt es sich um Wörter mit finalem /ks/, das als verschriftet wird: (18)

Box, Jux, Klimax, Kodex, Phönix, Syntax

Hier ist eine Verschriftung mit , oder durchaus vorstellbar (vgl. *). Das fungiert hier als Fremdwortmarker (Eisenberg 2011: 329); es zeichnet bestimmte Wörter als Fremdwörter aus und ist damit funktional. Die -Wörter belegen also nicht, dass finales generell für die morphologische Lesart ‚reserviert‘ ist; in diesem Fall sollte man erwarten, dass auch /ns/, /ls/, /ps/ und andere zumindest zum Teil auf andere Schreibungen ausweichen. Das ist aber nicht der Fall. Es wird lediglich /ks/ im Fremdwortbereich mit verschriftet.

4.3.7 tritt in der pronominalen und adjektivischen Flexion auf (z.B. ) sowie als Allomorph des Genitiv-Singular-Flexivs (z.B. ). NichtSubstantive auf kommen im Korpus nicht vor. Bei den Substantiven gibt es im Korpus 11 Einträge, die sich als potentieller Stamm + Suffix {es} analysieren lassen: (19)

Anopheles, Antares, Antistes, Aristoteles, Diabetes, Hades, Herpes, Kirmes, Limes, Tagetes, Ulysses

Auffällig ist, dass es sich bei der Mehrzahl der Wörter um Fremdwörter oder Namen handelt, meist aus dem Griechischen. Strukturell ist das irrelevant; eine Form wie unterscheidet sich nicht grundsätzlich von einer Genitivform wie . Neben den Wörtern in (19) gibt es noch 66 weitere, die potentiell mit finalem verschriftet werden könnten, aber anders geschrieben werden. Dazu gehören zunächst die 11 Wörter mit finalem [ɛs] in (20); die Wörter in (19) sind in CELEX so transkribiert ( z.B. als [ˈkɪr-mɛs]). Es scheint aber sinnvoll, die Suche auszuweiten auf Einträge, die auf [ɪs] enden, da sich die Vokalqualität in unbetonten Silben nur schwer unterscheiden lässt (vgl.

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 31

z.B. die unbetonten Vokale in und ). Das führt zu 55 weiteren potentiellen Ausnahmen wie denen in (21). (20) (21)

Abszess, Akzess, Express, Exzess, Ingress, Kongress, Progress, Prozess, Regress, Rezess11 Basis, Dosis, Kürbis, Praxis, Service, Skepsis

86% aller Wörter, die auf enden könnten, werden also anders verschriftet, meist mit . Die abweichende Verschriftung der Wörter in (20) hat allerdings andere Ursachen. Zum einen kommt als grundlegendere Regularität wieder die Stammkonstanz ins Spiel; die Wörter in (20) haben jeweils Explizitformen, in denen das stammfinale Phonem in Silbengelenkstellung auftritt und entsprechend mit Doppelkonsonant verschriftet wird. Zum anderen wird deutlich, dass das Auftreten der Doppelkonsonanten mit der Fußstruktur korreliert: Nur bei Ultimabetonung findet sich die Schreibung (vgl. 20), nicht bei Pänultimaoder Antepänultimabetonung (vgl. 19).

4.3.8 Finales markiert bei Substantiven vor allem den Plural von Maskulina und Neutra (z.B. , ); im verbalen Paradigma markiert es die 1.Ps.Sg. sowie die 3.Ps.Sg. im Konjunktiv (z.B. ). Im adjektivischen Paradigma werden eine Reihe von Kategorien mit markiert, z.B. der Singular Nominativ der schwachen Flexion (z.B. ). Substantivische und nichtsubstantivische Verwendung werden getrennt behandelt. Zunächst zu den Substantiven. Im Korpus gibt es 1462 Substantive mit finalem , die auch als Stamm + Suffix {-e} analysiert werden könnten, wie z.B. die folgenden: (22) (23)

Kerze, Name, Seite, Stunde, Woche, Interesse Ehre, Lage Mühe

Zu vereinzelten Wörtern existieren verwandte Verbformen (vgl. 23). Diese Wörter können (zumindest synchron) mit etwas Wohlwollen als Ableitungen des Verbstamms mit dem Derivationssuffix {-e} analysiert werden (vgl. Flei-

|| 11 In CELEX liegen diese Wörter in der bis 1996 gültigen Rechtschreibung mit finalem vor.

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scher/Barz 42012: 195ff.). Sie wären damit keine Gegenbeispiele zur eindeutigen Affixdekodierung. Der Großteil der Wörter (z.B. die in 22 oben) sind morphologisch einfach; bei ihnen könnte es sich rein formal auch um pluralische Substantive handeln (vgl. z.B. die Pluralformen , , , ). Darüber hinaus gibt es keine weiteren Substantive, die potentiell mit finalem verschriftet werden könnten, aber anders enden. Für Nicht-Substantive finden sich 52 einschlägige monomorphematische Wörter, die als Stamm + Suffix {-e} interpretiert werden können, wie z.B. die folgenden: (24)

beide, gerne, heute, müde, ohne, schade, trübe, weise

Diese Formen ähneln strukturell solchen, in denen das finale als Suffix fungiert (z.B. , etc.). Auch hier gibt es keine weiteren Wörter, die potentiell mit finalem verschriftet werden könnten, aber anders enden.

4.3.9 Finales markiert zum einen den Plural bestimmter Substantive (z.B. ); zum anderen markiert es mehrere Kategorien in der pronominalen und adjektivischen Flexion (wie z.B. in ). Beide Fälle werden getrennt behandelt. Bei den Substantiven markiert den Plural bei den starken Neutra. Der Plural wird hier allerdings zusätzlich durch Umlaut markiert (wenn der Stammvokal umlautfähig ist, vgl. Eisenberg 42013:153). Daher beschränkt sich die Suche nach monomorphematischen Substantiven auf auf solche, die entweder über einen Umlaut verfügen oder deren Stammvokal nicht umlautfähig ist. Legt man diese Bedingungen an, so finden sich in CELEX 165 Wörter mit finalem , die auch als Stamm + Suffix {-er} interpretiert werden könnten, wie z.B. die folgenden: (25)

Fächer, Fenster, Finger, Leber, Leiter, Meister, Zimmer

Diese Substantive können rein formal auch pluralisch interpretiert werden, und im Fall von Fächer, Finger, Meister, Zimmer gibt es eine homonyme Pluralform. Die Frage, ob es weitere monomorphematische Wörter gibt, die potentiell mit verschriftet werden können, ist nicht klar zu beantworten. Möglicherweise sind Wörter wie Gorilla, Kamera, Villa und Zebra hier einschlägig. Sie werden

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 33

üblicherweise mit finalem [a] transkribiert; es ist aber unklar, ob sich der Vollvokal vom reduzierten [ɐ] an dieser Position tatsächlich unterscheidet – besonders, wenn man Kontexte berücksichtigt, in denen die Zielwörter nicht vorgelesen werden. Dass bei Vorleseaussprache ein Unterschied gemacht werden kann, sagt ja erstmal nichts darüber aus, ob er in freier Rede auch gemacht wird. Hier scheint es eine echte Forschungslücke zu geben. Nimmt man Wörter, die in CELEX auf [a] enden (und die ebenfalls entweder über einen Umlaut oder einen nicht umlautfähigen Stammvokal verfügen), hinzu, so gibt es 107 Wörter, die potentiell mit verschriftet werden könnten, aber anders geschrieben werden; neben den oben zitierten sind das z.B. Firma, Liga, Paprika und Thema. In 39% der Fälle wird finales also vermieden – wenn man die Prämisse akzeptiert, dass [a] und [ɐ] in unbetonten finalen Silben zusammenfallen. Für die Nicht-Substantive gilt die Umlaut-Beschränkung nicht. Hier finden sich im Korpus 46 Wörter, die auch als Adjektivstamm + Suffix {-er} interpretiert werden können, wie z.B. die folgenden: (26)

bieder, heiser, immer, mager, schwanger, sicher, unter

Auch hier gibt es außer diesen 46 Wörtern nur solche, die auf [a] enden; deren Status ist unklar. Nimmt man sie hinzu, so gibt es zehn Wörter, die potentiell mit verschriftet werden könnten, aber anders geschrieben werden (z.B. extra, kontra, etwa, lila, prima). In 18% der Fälle wird finales also vermieden.

4.3.10 Das Zirkumfix kodiert das Partizip Präteritum bei schwachen Verben. Im Korpus finden sich drei Wörter, die potentiell als solches Partizip interpretiert werden können: (27)

gesamt, gescheit, gesinnt

Diese drei Wörter sind eine Teilmenge der Wörter auf . Darüber hinaus gibt es im Korpus zwei weitere Wörter, die potentiell mit verschriftet werden könnten, aber andere Schreibungen aufweisen: (28)

geschwind, gesund

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Hier ist aber – wie oben bei – eine Schreibung wie * aus Gründen der Stammkonstanz ausgeschlossen. Obwohl an dieser Stelle also differenziert wird (von fünf möglichen monomorphematischen Wörtern werden nur drei so verschriftet wie das Flexionssuffix), ist diese Differenzierung auf eine allgemeinere Regularität zurückführbar.

4.3.11 Das Zirkumfix kodiert das Partizip Präteritum bei starken Verben. Da das Zirkumfix nur auf einsilbigen Stämmen operiert, scheiden alle Wörter aus, die nicht insgesamt dreisilbig sind: und sehen nicht aus wie Partizipien. Im Korpus kommen 21 Wörter vor, die als Verbindungen eines Verbstamms und des Zirkumfixes interpretiert werden können, z.B. die folgenden: (29) (30)

gebären, gelingen, gesellen, gewöhnen geboren, gediegen, gedunsen, gelegen

Teilweise handelt es sich bei den Einträgen um Verben (29), teilweise um Adjektive (30) – in jedem Fall sehen sie synchron aus wie Partizipien. Neben diesen 21 Wörtern gibt es im Korpus keine weiteren, die mit verschriftet werden könnten.

4.3.12 () Finales kodiert das Partizip Präsens. Es handelt sich hier in gewisser Weise um einen Zweifelsfall: Es ist nicht klar, ob es sich bei {end} um ein Flexions- oder ein Derivationssuffix handelt (vgl. Fuhrhop/Teuber 2001). Wenn das Suffix im Folgenden dennoch untersucht wird, so geschieht das aus Gründen der Vollständigkeit ({end} wird schließlich teilweise zum verbalen Paradigma gerechnet, vgl. z.B. Engel 2009) und ohne dass damit eine Aussage zum Status gemacht werden soll. Insgesamt finden sich im Korpus sechs Wörter, die als Verbstamm + Suffix {end} interpretiert werden könnten: (31)

behend, elend, irgend, nirgend, tausend, während

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 35

ist hier ein Sonderfall – die Schreibung mit könnte mit dem Verweis auf das Verb motiviert werden. Das ist bei den anderen fünf Wörtern nicht möglich. Über diese Wörter hinaus gibt es 22 weitere Wörter im Korpus, die potentiell mit verschriftet werden könnten, die aber graphematisch auf enden (Typ , , ). Hier ist aber eine Schreibung mit (*) aus Gründen der Stammkonstanz ausgeschlossen; die Explizitform dieser Wörter verfügt über einen stimmlosen stammfinalen Plosiv (vgl. dezente, präsente).

4.3.13 Zusammenfassung Zunächst werden auch hier die Ergebnisse zusammengetragen:

Suffix

-en (+SBST)

Anzahl Ausnahmen

Anzahl potentieller Ausnahmen

phonographische Alternativen

148

-

-

-en (-SBST)

34

-

-

-n (+SBST)

5

-

-

-n (-SBST)

7

-

-

-t

68

(19)*

-st

8

-

-em

-

-

-

-end

6

(22)*

-

-s

57

(25)**

-es (+SBST)

11

55 (+11)*

,

-es (-SBST)

-

-

-e (+SBST)

1462

-

-

-e (-SBST)

52

-

-

-er (+SBST)

165

(107)***

-er (-SBST)

46

(10)***

ge-X-t

3

(2)*

ge-X-en

21

-

-

-end

6

(22)*

-

Tab. 2: Zusammenfassung der Ergebnisse. Für jedes der bearbeiteten Suffixe des Deutschen: Die Anzahl der Ausnahmen (monomorphematische Stämme mit homographischem Wortende

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aus CELEX); die Anzahl potentieller Ausnahmen (Wörter, die phonographisch so verschriftet werden könnten); phonographische Alternativen. *alles Instanzen von Morphemkonstanz **alles Fremdwörter mit finalem ***phonologischer Status der potentiellen Ausnahmen unklar ([a] vs. [ɐ])

Im Deutschen gibt es z.T. zahlreiche Ausnahmen von der eindeutigen Affixdekodierung. Das betrifft besonders die Suffixe {-e}, {-er}, {-en}, {-t} und {-s}. Vor allem gibt es hier kaum homophone Wortenden, die anders als das Suffix verschriftet werden, und mit der Ausnahme von (und eventuell ) lassen sich alle tatsächlich auftretenden Fälle als Instanzen anderer Prinzipien (z.B. der Stammkonstanz) fassen. Anders als im Englischen werden im Deutschen also Suffixe nicht eindeutig ausgezeichnet und von homophonen Wortenden abgegrenzt. Für die Suffixe mit den meisten Ausnahmen, {-e}, {-er} und {-en} gilt allerdings: Werden die homographischen Wortenden in morphologisch einfachen Wörtern wie , oder als Pseudosuffixe (bzw. als ‚morphologischer Rest‘) interpretiert (s.o.) – also als Wortausgänge, die charakteristisch für ein bestimmtes morphologisches Verhalten sind, aber funktional nicht transparent sind –, so ändert sich die Situation. Der Kontrast besteht dann nicht zwischen der Verwendung von // als Suffix und derjenigen als Wortende, sondern zwischen der Verwendung als Suffix und derjenigen als Pseudosuffix. Nun werden aber auch an anderen Stellen und auch im Englischen potentielle Homographien zwischen funktional unterschiedlichen Suffixen nicht immer aufgelöst – man denke nur an die Vielzahl von Funktionen, die finales im Deutschen in der nominalen, verbalen, adjektivischen und pronominalen Flexion erfüllt, oder an die Polyfunktionalität von im Englischen. Bei einer Interpretation von // als Pseudosuffixe ist es daher nicht überraschend, dass die ‚tatsächlichen‘ Suffixe nicht eindeutig dekodiert werden (vgl. auch Schmidt i.V. für eine ähnliche Analyse). Diese Erklärung hat jedoch mehrere Schwachpunkte. Nehmen wir substantivisches als Beispiel. Als Pseudosuffix tritt es auf in Wörtern wie Hammer, Eimer, Teller (vgl. Eisenberg 2014: 203); das Wortende ist charakteristisch für starke Maskulina. Allerdings handelt es sich nur bei 118 der insgesamt 165 Substantive in Tab. 2 um starke Maskulina (71%). Für 47 Wörter (z.B. Wasser, Fenster, Leiter) greift die Pseudosuffix-Erklärung also zu kurz. Überhaupt verfängt sie nur bei Substantiven: Bei Adjektiven, Pronomina, Artikelwörtern usw. gibt es keine Subklassifizierungen wie Genus und Flexionsklasse, die ein Wortende signalisieren könnte. Insgesamt verhalten sich die Suffixe in Tab. 2 aber sehr homogen. Daher erscheint es nicht sinnvoll, einen Teil der Suffixe auszugliedern und ihr Verhalten morphologisch zu begründen, wenn eine andere Gene-

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ralisierung viel näher liegt: Flexionssuffixe werden im Deutschen nicht systematisch von homophonen Wortenden abgegrenzt.

5 Fazit und Ausblick In der Affixdekodierung unterscheiden sich die beiden Schriftsysteme deutlich. Im Englischen werden die meisten Suffixe zumindest teilweise von potentiell homographischen Wortenden unterschieden. Das ist besonders für die tokenstärksten Suffixe {-s}, {-ed} und {-’s} der Fall. Für das ebenfalls tokenstarke {-ing} gibt es keine phonographische Alternative; die Zahl von 18 Ausnahmen ist aber überschaubar. Nur wenig differenziert werden – trotz phonographischer Alternativen – die Komparativ- und Superlativsuffixe {-er} und {-est}. Die Affixdekodierung ist also in der englischen Flexionsmorphologie relativ eindeutig. Bei den tokenstarken Suffixen {-s}, {-ed} und {-‘s} lässt sich mit einigem Recht von einem Strukturprinzip sprechen: Hier werden bestimmte finale Graphemfolgen für Suffixe ‚reserviert‘. Im Deutschen hingegen wird nur ein Suffix graphematisch differenziert, {es}. Die wenigen übrigen Fälle, die auf den ersten Blick so aussehen (z.B. für {-end}) sind Instanzen allgemeinerer Prinzipien wie Stammkonstanz oder spezieller Phonem-Graphem-Korrespondenzen im Fremdwortbereich (/ks/ ). Besonders viele Ausnahmen gibt es für die tokenstarken Suffixe {-e}, {-er}, {-en} (jeweils als Substantivsuffix) und {-t}; hier ist auf der Wortebene mit morphologischer Interpretation von graphematischen Wortenden zu rechnen. Allerdings scheiden – aufgrund des vergleichsweise reichen Flexionssystems des Deutschen – die meisten dieser Interpretationen im syntaktischen Kontext schon strukturell aus (abgesehen davon, dass der lexikalische Zugriff bei potentiellen Stämmen scheitern muss). Insgesamt ist die Affixdekodierung im Deutschen weit weniger eindeutig als im Englischen. Im Deutschen fällt nun auf, dass es einerseits kaum potentielle Ausnahmen gibt, andererseits aber auch größtenteils phonographische Alternativen fehlen (vgl. Tab. 2). Lassen sich die beiden Schriftsysteme so überhaupt sinnvoll vergleichen? Würde das Deutsche Affixe eindeutiger dekodieren, wenn die Phonographie es zuließe, wenn also Alternativen systematischer bereitstünden? Eine solche Frage geht von der Annahme aus, dass Phonem-GraphemKorrespondenzen ontologisch primär sind und unabhängig von den konkreten Schreibungen und Lautungen existieren. Das Gegenteil ist der Fall: Primär sind graphematische Wörter, denen eine Lautkette entspricht. Aus der Menge aller Korrespondenzen auf Wortebene lassen sich Korrespondenzen auf der Seg-

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mentebene gewinnen. Diese haben abgeleiteten Status. Die Tatsache, dass das Deutsche bspw. über keine alternative Schreibung für {-en} verfügt (vgl. z.B. *, *, *, ist daher keine Begründung für die uneindeutige Dekodierung dieses Affixes. Es ist lediglich eine Paraphrase dieser Beobachtung auf der Segmentebene. Genauso könnte umgekehrt argumentiert werden: Hätte das Deutsche wie das Englische eine systematische Möglichkeit, hier zwischen der Schreibung von Suffixen und Stammendungen zu unterscheiden, wären auch die Phonem-Graphem-Korrespondenzen an dieser Stelle flexibler. Für die Bewertung der Ausnahmen bedeutet das: Ob eine alternative Verschriftung phonographisch möglich ist oder nicht, ist irrelevant. Im Deutschen ist Stammkodierung eindeutig, im Englischen Affixdekodierung – für die Flexionssuffixe wurde das in diesem Aufsatz gezeigt, für vier Derivationssuffixe in Berg & Aronoff (2017). Noch offen ist, wie die beiden Schriftsysteme mit den beiden übrigen Ebenen umgehen, Stammdekodierung (Homographievermeidung auf Stammebene) und Affixkodierung (Affixkonstanz). Während Homographievermeidung im Deutschen kein Strukturprinzip zu sein scheint, ist das im Englischen eventuell anders – hier scheinen relative viele Homophone graphematisch differenziert zu werden (vgl. z.B. die Liste in Carney 1994: 401ff.). Interessant ist darüber hinaus, wie eine Untersuchung der Affixdekodierung aussähe, die statt der Types die Tokenzahlen erhebt.12 Was oben bereits impressionistisch anklang, ist lesepsychologisch relevant: Wie häufig treten bspw. monomorphematische Wörter mit finalem auf im Gegensatz zu Wörtern, in denen es ein Flexionssuffix ist? Anders gefragt, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für den Leser, mit nicht-morphologischem konfrontiert zu werden? Eine weitere offene Frage ist die nach dem Form-Funktionsverhältnis. Insgesamt sind die deutschen Flexionssuffixe fast alle polyfunktional ({-n} kennzeichnet bspw. den Plural vieler Feminina und den Dativ Plural vieler Maskulina und Neutra). Von den zehn untersuchten deutschen Suffixen sind nur zwei funktional eindeutig, zumindest in finaler Position, {-end} und {-st}. Im Englischen sind ebenfalls nur zwei Suffixe funktional eindeutig, {-’s} und {-est}. Unter Umständen geht es also auch im Englischen nicht um eine eindeutige Zuordnung von Formen zu Funktionen, sondern zu einer abstrakteren Ebene, auf der z.B. das nominale Pluralsuffix {-s} mit dem Verbsuffix der 3.Ps. {-s} zusam-

|| 12 Die Struktur von CELEX erlaubt es nicht, die Ergebnisse für Lemmata und Wortformen gleichzeitig zu erheben – für beide gibt es jeweils eigene Korpora. In Schmidt (i.V.) findet sich eine Untersuchung der Tokenfrequenz auf Basis von CELEX.

Sichtbare Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen | 39

mengefasst ist. Diese rein morphologische Information wird im Englischen konsistenter gekennzeichnet als die morphosyntaktischen Kategorien selbst. Im Deutschen hingegen wird mit der prominenten Stammkonstanz vor allem lexikalische Information visualisiert. Es ist eine interessante Frage, wie sich die übrigen Dimensionen der Morphemkonstanz in dieser Hinsicht verhalten.

40 | Kristian Berg

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Nanna Fuhrhop

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen Abstract: In this paper, the inflection of German and English strong and irregular verbs will be investigated in terms of graphemic ‘visibility’. As a first step, the constant spelling of morphemes will be described, both for stems and affixes. But morphological spelling extends beyond these traditional categories: they can also be found in repeated patterns – they will be called ‘graphematic inflectional patterns’ in this paper. One result is that the German writing system shows more stem constancy, English more affix constancy and graphemic inflectional patterns – so German shows lexical information, English shows grammatical information. A second result is that graphematically, more morphology than expected is shown. In English this holds for irregular verbs (by the graphematic inflectional pattern). In German two thirds of the verbal forms without suffixes (first and third person singular, preterite, indicative) show a reference to bisyllabic forms, normally via the final letter (e.g. floh, gab, schwamm). Thus German shows that there is some morphological information – but it is shown unspecifically; it is not clear what kind of morphological information in particular. From this investigation a typological parameter can be formulated: How is verbal inflection coded graphematically in a given language? Which principle is strong or the strongest? Perhaps there are different kinds of weak and strong verbal inflection, but they can be formulated for each language.1 Keywords: morphological spelling, verbal inflection, strong and irregular verbs in German and English, graphematic inflectional patterns

|| 1 Für zahlreiche, hilfreiche Kommentare danke ich dem Graphematischen Lesekreis in Oldenburg; einem/r anonyme/n Gutachter/in sowie meinen beiden Mitherausgebern. || Nanna Fuhrhop: Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät III – Sprach- und Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik, 26111 Oldenburg, Tel. 0441 798 2348, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-003

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0 Einleitung In diesem Aufsatz wird die Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen auf ihre graphematische Sichtbarkeit untersucht. Dabei geht es erstens darum zu sehen, ob und wie sich hier die klassische Morphemkonstanz – und zwar sowohl die Stammkonstanz als auch die Affixkonstanz – zeigt. Morphologische Schreibungen erschöpfen sich keineswegs in der Morphemkonstanz und so wird es zweitens darum gehen, ob sich in diesem Bereich möglicherweise eine andere Art der morphologischen Schreibung findet, nämlich wiederkehrende Muster, die hier als ‚graphematische Flexionsmuster‘ bezeichnet werden. Grundlage für die Untersuchungen ist jeweils eine Liste mit den starken und unregelmäßigen Verben, die aus Wörterbüchern und Grammatiken zusammengestellt ist. Es wird dabei durchaus Vollständigkeit angestrebt. Dieser Beitrag ist auch als komplementärer Beitrag zu Berg (in diesem Band) zu lesen: Während Berg sämtliche regelmäßige Flexion mit Hilfe von Suffixen im Deutschen und Englischen untersucht, betrachte ich die gesamte übrige Verbflexion (stark und unregelmäßig), die zum Teil auch ganz ohne Suffixe geschieht. Wenn man sich kurz die gesamte Flexion im Deutschen und Englischen vergegenwärtigt, fehlt dann nur die Flexion mit Umlaut (Vater, Väter), die ja gut markiert ist, und die so genannte Nullflexion (Lehrer – Lehrer, fish – fish sowie die Einzelfälle wie child – children, mouse – mice usw.). Analog zu Berg nehme ich hier grundsätzlich zwei Richtungen an – die Kodierrichtung und die Dekodierrichtung bzw. die Schreibrichtung und die Leserichtung. Bei der Dekodierrichtung geht es ganz explizit um die Frage, welche morphologische Information eine bestimmte Form zeigt: So erkennt man an einer Endung -st potentiell 2. Person Singular; eine Schreibung floh zeigt eine mögliche Zweisilbigkeit (wegen des ‚silbeninitialen‘ ) und damit wird deutlich, dass floh eine Wortform einer flektierbaren Wortklasse ist/sein kann (s. auch 2.6). Methodisch wird es allerdings so sein, dass zunächst die tatsächlich vorkommenden Schreibungen untersucht werden. Diese Schreibungen werden als Produkte von Kodierprozessen gesehen – ausgehend von lautlichen Formen mit morphologischen Informationen, die aber phonographisch beschränkt sind (eine Form mit der lautlichen Struktur [tsok] kann nicht * geschrieben werden). Der Gedanke ist, dass die Produkte von Kodierprozessen gut sichtbar sind – es sind die vorhandenen Schreibungen. Produkte von Dekodierprozessen

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gibt es nicht.2 In den Fällen, in denen Flexionsendungen komplett fehlen, werden aber Thesen über die Dekodierrichtung aufgestellt: Gibt die jeweilige Schreibung Hinweise, obwohl klare Flexionssuffixe fehlen?3

1 Morphologische Schreibprinzipien Als morphologische Schreibprinzipien nehme ich hier die (übliche) Stammkonstanz an, die bisher seltener benannte Affixkonstanz und das neue Prinzip der ‚graphematischen Flexionsmuster‘. Die Affixkonstanz beinhaltet zum Beispiel, dass das Derivationssuffix für die Nomina agentis in Lehrer stets geschrieben wird und nicht wechselnd oder (*Lehra) (Berg in diesem Band, Fuhrhop/Peters 2013: 244f.). Das Prinzip der graphematischen Flexionsmuster zeigt sich bei den irregulären Verben im Englischen: Die ‚Präteritum‘-Formen (zu ‚Präteritum‘ von Modalverben, s. 3.1) der Modalverben could, should, would werden im Reim gleich geschrieben4, obwohl sich die Präsensformen deutlich unterscheiden (can, shall, will) (Berg u.a. 2014). Die Unterschiede zwischen den Präsens- und Präteritumformen sind groß – man kann das auf die Frage „Wie sieht eine gute Flexionsform (zum Beispiel Präteritumform) in einer Sprache (zum Beispiel dem Englischen) aus?“ zuspitzen.5 Zwar sind die Überlegungen erste Ideen zu graphematischen Flexionsmustern, doch deutet sich bereits an, dass dieses Prinzip auch in anderen Sprachen zu finden ist.

|| 2 In Bredel/Noack/Plag (2013) wird aber nachgewiesen, dass die morphologischen Schreibungen von starken Leser/innen – also bei der Dekodierung – genutzt werden. 3 In der englischen Verbflexion kommen fast keine Flexionsendungen vor. Es geht hier aber nicht um Verben an sich, sondern faktisch um Flexionskategorien, die mal (durch ein Suffix) angezeigt werden und mal nicht (wie Präteritum durch in der regelmäßigen Flexion, in der unregelmäßigen häufig endungslos) – ansonsten bestünde die Frage nicht darin, wie Flexion angezeigt wird, sondern wie Verben geschrieben werden, und das ist eine andere Frage. Daher geht es wesentlich darum, wie unregelmäßige Verben im Englischen im Präteritum (und Partizip Perfekt) geschrieben werden. Im Deutschen sind die endungslosen Formen stark eingeschränkt: Es sind die Präteritumformen der starken Verben in der 1. und 3. Person Singular, Indikativ und die entsprechenden Präteritopräsentia im Präsens. Alle anderen finiten Verbformen tragen Endungen – nämlich Person- und Numerusendungen. 4 Sie sind auch phonologisch ähnlich, aber die vorliegenden graphematischen Formen mit erschließen sich nicht ohne Weiteres aus einer phonologischen Form [ʊd]. 5 Passend zu der Frage ‚Wie muss ein ‚guter‘ deutscher Plural klingen?‘ (Domahs u.a. in diesem Band).

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Die Stammkonstanz gilt bereits seit langem als ein wichtiges morphologisches Schreibprinzip: Morphologisch verwandte Formen werden so ähnlich wie möglich geschrieben; die Möglichkeiten werden mitunter von den phonographischen Prinzipien eingeschränkt. Da die Wortschreibung bisher eher in Kodierrichtung beschrieben wurde, wird das Wirken der Stammkonstanz tendenziell bewusst an Formen wahrgenommen, in denen die Schreibung mehr Morphologie zeigt als die Lautung, eben solche Fälle wie die /Schreibung in läuft oder die -Schreibung in hob. Aber auch in den Fällen, in denen die Schreibung direkter auf die Lautung zu beziehen ist, ist das Prinzip der Stammkonstanz wirksam wie in Tisch, Tisches, Tische, Tischen. Die Verwandtschaft der Formen ist ebenso sichtbar wie die von Hund und Hunde. Dass die Stammkonstanzschreibung ihre Grenzen hat, ist zu erkennen an Schreibungen wie der schon erwähnten Form zog: Es ist nicht möglich, die Präteritumform von ziehen *ziehte zu schreiben – es passt nicht zu /tsok/; eine Form *ziehte würde wegen der im Deutschen üblichen phonographischen Korrespondenzen zu einer falschen Annahme über die lautliche Form führen. Im Englischen hat die Stammkonstanz keine so starke Stellung wie im Deutschen. So finden sich Wechsel wie swimmer – swim (s. auch Fuhrhop/Barghorn 2012, Berg in diesem Band) neben Formen wie killing – kill. Auch zeigt sich innerhalb eines Flexionsparadigmas ein Wechsel zwischen und wie in engl. to pay vs. he paid. Diese Wechsel sind zwar systematisch, aber sie widersprechen dem Prinzip der Stammkonstanzschreibung. Neben der Stammkonstanz ist es sinnvoll, eine Affixkonstanz anzunehmen. So wird Englischen die Präteritumendung bei regelmäßigen Verben immer geschrieben, unabhängig davon, wie sie gesprochen wird.6 Sie wird in repeated silbisch gesprochen, in begged unsilbisch und in stopped unsilbisch und stimmlos. Allerdings wird sie in allen drei Fällen silbisch und mit geschrieben (mit einem kompakten Buchstaben, faktisch einem Vokalbuchstaben, s. Fuhrhop/Buchmann 2011). Hier herrscht also ein Prinzip der Affixkonstanz: Das gleiche Affix wird stets gleich geschrieben. Der Endung ist aber noch mehr zu entnehmen (Berg in diesem Band): Als zweite Schreibsilbe im graphematischen Wort kodiert im Englischen mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine Präteritum- oder Perfektendung eines regelmäßigen Verbs, denn es gibt

|| 6 Hier findet sich ein kleiner Zwischenbereich, s. auch 3.5. Bei paid könnte man von phonologisch regelmäßig und graphematisch unregelmäßig sprechen. Bei den meisten Übergängen handelt es sich aber von solchen von zu wie dream – dreamt/dreamed, learn – learnt/learned, wo auch ein Unterschied in der Lautung zu vermuten ist.

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äußerst wenig andere Wörter und Wortformen mit dieser Endung wie beispielsweise hundred. Einige Schreibungen im Englischen sind besser über graphematische Flexionsmuster zu erfassen. Bei Verbformen wie speak – spoke wären andere Schreibungen denkbar, die mehr Stammkonstanz zeigen: Phonographisch möglich sind entweder speak – *spoak oder *speke – spoke. Doch ist speak – spoke kein Einzelfall. Auch steal – stole verhalten sich graphematisch (und phonologisch) analog, break – broke 7 graphematisch analog, phonologisch (und entsprechend auch phonographisch) anders. Möglicherweise gibt es aber gute Gründe dafür, warum das Englische hier auf Stammkonstanzschreibung verzichtet, warum also eine Form spoke eine bessere Präteritumform zu sein scheint als eine Form *spoak. (Für die Menge der unregelmäßigen Verben ist auch speak die bessere Präsensform als *speke. Bei den Präsensformen wäre aber zu fragen, ob Aussagen über unregelmäßige Verben ausreichen oder ob es nicht eher Aussagen über Präsensformen aller Verben – auch der regelmäßigen – sein sollten. Mit ‚guten‘ Präsensformen beschäftigt sich dieser Aufsatz nicht.) Das Prinzip der graphematischen Flexionsmuster könnte auch auf das Deutsche übertragen werden. So kann nimmt nicht sonderlich gut über Stammkonstanz begründet werden, allerdings sieht eine Form nimmt zweifellos eher nach einer ‚guten’ Flexionsform aus als *nimt, eben weil sie zum Beispiel durch den Doppelkonsonanten die morphologische Grenze vor -t zeigt (s. auch Schmidt 2012: 48ff.). Für phonologische Verbmuster ist das schon länger in der Diskussion, s. Beedham (2005), Bybee (2010: 60f.)8 (s. Abschnitt 3.8). Bestimmte Schreibungen sind im Deutschen ausschließlich über die Stammkonstanz zu begründen, so zum Beispiel die Silbengelenkschreibung (im Allgemeinen Doppelkonsonanten) und das silbeninitiale im Einsilber. Beide Schreibungen sind phonographisch aus dem Zweisilber zu begründen: Doppelkonsonantschreibung korrespondiert mit phonologischen Silbengelenken ; das so genannte silbeninitiale trennt zwei Silbenkerne wie in 9. Im Einsilber wirkt das morphologische Prinzip explizit, wie oben bereits angedeutet. Allerdings gibt es auch ein implizites Wirken der Morphemkonstanz wie bei Tisch – Tische. Hier ist ohne Zweifel die morphologische Ver-

|| 7 Es sind andere Formen historisch belegt, so zum Beispiel speke, speake für speak; stele für steal, ebenso breake, breke für break. s. http://www.oed.com/ [Zugriff am 6.3.2017]. 8 Für den konkreten Hinweis auf Bybee danke ich einer anonymen Gutachterin/einem anonymen Gutachter. 9 Die Formen mit –n werden häufig lautlich nicht zweisilbig realisiert; daher sind hier Formen mit Schwa bzw. geschrieben mit –e gewählt.

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wandtschaft zu sehen, die Schreibung ergibt sich dabei aber bereits phonographisch; es wird quasi nicht extra eine morphologische Information kodiert, denn diese ist in der phonographischen Schreibung inklusive. Wählen wir zwei Beispiele aus der Verbflexion: In Formen wie schwimmen – schwammen ergeben sich die Schreibungen aus phonographischen Prinzipien. Explizite Morphemkonstanz ist zwischen beiden nicht zu erkennen, implizite hingegen schon, denn die Formen sind sich so ähnlich wie möglich. Phonographisch ist der Wechsel – nicht zu umgehen. Den Einsilber schwamm zu schreiben, ist für das hingegen explizite Morphem- (hier Stamm-) Konstanz. Für die explizite Affixkonstanz liefert wie gesagt das Englische mit -ed ein deutliches Beispiel. Für die graphematischen Flexionsmuster wird die implizite Wirkung noch zu zeigen sein. Bei der Fragestellung hat sich logisch ergeben, dass der Versuch unternommen werden sollte, die graphematischen Phänomene der Flexionsmorphologie vollständig zu erfassen, wie es Berg (in diesem Band) bezüglich der Suffixe tut. Im Deutschen ist hier bereits vieles bekannt (s. zum Beispiel Eisenberg 2013 mit dem 8. Kapitel). Im Englischen werden weniger Kategorien mit Flexionssuffixen markiert – so wird nur eine einzige Form im Verbparadigma bezüglich Person und Numerus markiert. Insofern ist die Anzahl von flektierten Formen geringer. Etwas aufwändiger ist für beide Sprachen – das liegt in der Natur der Sache – die Untersuchung der starken und unregelmäßigen Verben. Es kann nicht darum gehen, alles zu erfassen. Nichtsdestotrotz lassen sich einige – auch überraschende – Regelmäßigkeiten aufdecken. Auch hier gilt offenbar wie für das übrige Flexionssystem: Die deutsche Wortschreibung ist deutlich lexikalisch (Stammkonstanz) geprägt, die englische hingegen grammatisch (Affixkonstanz und graphematische Flexionsmuster).

2 Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen Im Folgenden wird die Flexion der starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen untersucht (s. auch Fuhrhop 2015). Es geht dabei um finite Verbformen, also weder um infinite noch um semifinite (Imperativ). Finite Verbformen haben in den meisten Fällen Personalendungen, in 2.6 und 2.7 werden die beiden Gruppen von Verbformen ohne Personalendungen behandelt (gab und

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will). Die Personalendungen hat Berg (in diesem Band) ausführlich betrachtet. Hier geht es also zunächst um Änderungen innerhalb des Stammes10, eben um das Spezifikum der starken Verben. Dementsprechend geht es im Folgenden wesentlich darum, Unterschiede innerhalb des Stammes in Verbparadigmen zu vergleichen – sowohl Präsens- und Präteritumstämme als auch die Vokalhebung in der 2. und 3. Person Singular (Wechselflexion) und die Präsensformen der Präteritopräsentia wie er will, er weiß. Die Gliederung ergibt sich aber zunächst aus den Phänomenen, die typischerweise explizit Morphemkonstanz und damit morphologische Strukturen anzeigen, nämlich die morphologische Übertragungen der Silbengelenkschreibung, der postvokalischen Schreibung, der -Schreibung, der -Schreibung. Weiter geht es mit Affixkonstanzschreibung im Deutschen und mit Besonderheit von suffixlosen Verbformen.

2.1 Silbengelenkschreibung Die Silbengelenkschreibung/die Schärfungsschreibung ist komplett regulär; sie ist phonographisch für den Zweisilber (schaffen) und morphologisch für den Einsilber (schafft) herzuleiten. Vergleicht man jeweils zwei Stämme miteinander, gibt es logisch drei Konstellationen, nämlich das Gleichbleiben und die Veränderungen in beide Richtungen.

1.

die Silbengelenkschreibung besteht gleichermaßen im Präsens und Präteritum (10 Fälle mit Doppelkonsonantschreibung (a) und 6 mit (b)): a. gewinnen – gewann, glimmen – glomm, klimmen – klomm, quellen – quoll, rinnen – rann, schallen – scholl, schwellen – schwoll, schwimmen – schwamm, sinnen – sann, spinnen – spann b. singen – sang, dringen – drang, ringen – rang, klingen – klang, hängen – hing, springen – sprang

2.

die Silbengelenkschreibung steht nur im Präsens (10 Fälle): bitten – bat, erschrecken – erschrak, essen – aß, fallen – fiel, fressen – fraß, kommen – kam, lassen – ließ, messen – maß, sitzen – saß, treffen – traf

|| 10 Hier sind wesentlich die ‚Kerne‘ gemeint, also der ‚Stammvokal‘. Da es graphematisch aber auch um Fragen nach , den Doppelkonsonanten usw. geht, ist das hier etwas unspezifischer ausgedrückt.

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3.

die Silbengelenkschreibung steht nur im Präteritum (21 Fälle): beißen – biss, genießen – genoss, gießen – goss, gleiten – glitt, greifen – griff, haben – hatte, leiden – litt, pfeifen – pfiff, reißen – riss, reiten – ritt, saufen – soff, schießen – schoss, schleifen – schliff, schließen – schloss, schmeißen – schmiss, schneiden – schnitt, schreiten – schritt, sprießen – spross, streiten – stritt, verdrießen – verdross, verschleißen – verschliss

Fall 2 und 3 zusammengerechnet, ergeben sich 31 Verben mit einem Wechsel bzgl. der Doppelkonsonant- und Einfachkonsonantschreibung zwischen Präsens- und Präteritumformen, bei 10 bleibt die Doppelkonsonantschreibung erhalten. Hier wurden bisher die Fälle gezählt, in denen die Doppelkonsonantschreibung tatsächlich in der entsprechenden Position steht, also intersyllabisch. Es gibt im Deutschen aber die besonderen Fälle, in denen es einen Vokalwechsel gibt und dennoch -te im Präteritum. Interessant für die Doppelkonsonantschreibung sind hier brannte, kannte, konnte, nannte, rannte, wusste (s. auch Noack 2011: 333), bei denen im Grunde die direkte zweisilbige Form fehlt (*kannen, *konnen usw.). Bei all diesen finden sich im Paradigma allerdings Formen mit Silbengelenk, wenn auch mit einem anderen Vokal (brannte – brennen, konnte – können). Die Doppelkonsonantschreibung vor -te zeigt also, dass hier eine morphologische Grenze vorliegt. Ein Stammwechsel innerhalb des Verbparadigmas liegt noch in zwei weiteren Fällen vor, und zwar erstens bei der Vokalhebung in der 2./3. Person Singular und zweitens bei den PräsensSingular-Formen bei den Präteritopräsentia. Bei der Vokalhebung sind insbesondere für das Silbengelenk nehmen – nimmt, treten – tritt und möglicherweise geben – gibt zu nennen, dazu noch in 2.611. Innerhalb des Singularparadigmas wird hier nicht nur ein anderer Vokalbuchstabe geschrieben, sondern auch die Schärfungsschreibung ändert sich. Besonders prägnant ist das hier, weil die entsprechenden Zweisilber fehlen – weder findet sich ein Zweisilber *nimmen noch einer mit der Form *tritten. Hier zeigt sich bereits ein erster Hinweis auf die graphematischen Flexionsmuster: Die Doppelkonsonanz bei Verben ist wie gesagt hinsichtlich Silbengelenk absolut systematisch; das Muster ist hier so stark, dass es übertragen wird, und ge-

|| 11 Die 2. und 3. Person Sg Ind Präs von geben ist lautlich sehr variabel – es findet sich nicht nur [ɡɪpt], sondern auch [ɡipt]. Insofern ist die Kombination aus Nicht--Schreibung und Nicht-Silbengelenkschreibung geradezu optimal, um den verschiedenen lautlichen Realisierungen gerecht zu werden.

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rade bei nimmt/nimmst und trittst werden graphematisch die Morphemgrenzen sehr schön gezeigt. Bei den Präteritopräsentia finden sich will, muss, kann mit entsprechender Struktur – die zweisilbigen Formen mit diesen Vokalen fehlen (*willen, *mussen, *kannen), aber das Paradigma enthält andere Formen mit der entsprechenden zweisilbigen Struktur (wollen, müssen, können).

2.2 -Schreibung Für die -Schreibung kann allgemein gesagt werden, dass sie entweder im Präsens vorkommt und dann im Präteritum übernommen wird oder eben nicht, sie wird also in keinem Fall im Präteritum eingeführt. Ein besonders deutliches Beispiel sind hier die Formen von nehmen und kommen: nahm und kam. Bei nehmen ist das Dehnungs- in den Präsensformen vorhanden, bei kommen nicht. Da das Dehnungs- systematisch nicht im Präteritum eingeführt wird, ist die unterschiedliche Schreibung von nahm und kam (nicht *kahm) systematisch zu erfassen. Analog verhält sich das silbeninitiale – es steht in fünf Fällen im Präteritum (floh, gedieh, lieh, sah, (ver-)zieh), all diese Verben haben es auch im Präsens (flie-hen, gedei-hen, lei-hen, se-hen, verzei-hen); zusätzlich kommt es im Präsens noch bei gehen, stehen, ziehen vor, alles Formen, in denen es im Präteritum auch nicht mehr silbeninitial bzw. stammfinal wäre: ging – gingen, stand – standen, zog – zogen. Andererseits wäre denkbar, es bei schreien – schrie, speien – spie einzuführen; es steht sonst auch nach und würde hier die Morphemgrenze gut kennzeichnen (?schrieen – schrien – *schriehen, ?spieen – spien – *spiehen). In beiden -Regularitäten gilt, dass die Möglichkeiten im Präsens entschieden werden und damit eine bessere silbische Kennzeichnung im Präteritum in einigen Fällen verhindert wird. Die Morphemkonstanz ist hier also stark; sie wirkt nur in eine Richtung.

2.3 Die -Schreibung Systematisch nicht eingehalten wird die Stammkonstanzschreibung in den Ablautreihen e – a; aus einer -Präteritumschreibung folgt keine -Präsensschreibung wie sterben – starben – *stärben, werfen – warfen – *wärfen (so auch Eisenberg 1996: 624). Verben mit der Ablautreihe e – a sind:

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(1) a. e – a – o: bersten, gelten, helfen, sterben, verderben, werben, werfen b. e – a – o: brechen, erschrecken, sprechen, stechen, treffen c. e – a – e: essen, fressen, messen, vergessen d. e – a – o: befehlen, empfehlen, stehlen, entsprechend: gebären e. e – a – o: nehmen f. e – a – e: geschehen, geben, genesen, lesen, sehen, treten g. e – a – a denken, senden, wenden – brennen, kennen, nennen, rennen h. e – a – a stehen i. e – a – e genesen

Dass und nicht geschrieben wird, erscheint konsequent bei folgenden Hinweisen: Eine -Form ist typischerweise eine morphologisch komplexe, eben zum Beispiel eine Konjunktivform (gäbe, nähme) oder bedingt durch die Vokalhebung in der 2./3. Ps. Sg (fährst). Es geht also nicht nur um Morphemkonstanz, sondern auch um das Anzeigen von morphologischer Komplexität. Das scheint insbesondere für das zu gelten. Andere typische Morphologieanzeiger kodieren nicht per se morphologische Komplexität. Die Begründung, warum im Präsens nicht vom Präteritum her bedingt wird, wäre dann folgende: Das Präsens ist weniger komplex als das Präteritum; eine solche Markierung wäre also kontraikonisch und wird daher nicht gewählt (s. Primus 2010 zur Komplexität des Buchstabens ä und Eisenberg 2009: 80 zu den ikonischen Schreibungen bei starken Verben). Die einzige Ausnahme für scheint hier gebären – gebar zu sein (statt *geberen).12 Geilfuß-Wolfgang (2007: 152) nimmt an, dass Präsens-Indikativ-Formen möglichst nicht wie Konjunktivformen aussehen sollen; ohne sind sie bessere Präsens-Indikativ-Formen. Die -Schreibung spielt außerdem eine wichtige Rolle bei der Vokalhebung in der 2. und 3. Person Singular: Bei 19 Verben (z. B. trägt, läuft) ist die -Schreibung eindeutig, bei backen gibt es zwei Formen (sie backt, sie bäckt). Die Verwandtschaft zu ist im Geschriebenen sehr deutlich, deutlicher als bei der anderen Vokalhebung, nämlich - .

|| 12 Dass morphologische Komplexität anzeigt, gilt nicht nur innerhalb des Verbparadigmas, sondern sehr häufig auch sonst (Ausnahmen sind Bär, Käse, spät) wie in alt – älter, Verstand – verständlich, Vater – Väter, sauer – Säure).

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Deutlich gewählt wird aber Stammkonstanzschreibung bei der Bildung von Konjunktivformen: gäbe, nähme sind gute Konjunktivformen, die Konjunktivformen hälfen, wärfen werden vermutlich eher aus phonologischen Gründen vermieden als aus graphematischen – hier sind sie ja ausreichend distinkt und eindeutig.

2.4 Die -Schreibung Die -Schreibung ist eine besondere Schreibung im Deutschen und ß derjenige Einzelbuchstabe, der von der Rechtschreibreform von 1996 am meisten betroffen war. Er ist jetzt beschränkt auf die Stelle, an der es einen phonematischen Unterschied zwischen /s/ und /z/ gibt, nämlich intersyllabisch nach langem gespanntem Vokal bzw. Diphthong (Eisenbergs Basisposition 2, 2013, S. 86). Genau an dieser Stelle wird im heutigen Deutsch geschrieben (reisen vs. reißen); die Schreibung wird dann morphologisch auf den Einsilber übertragen: reist – reißt. (2) a. im Infinitiv (16):

befleißen, beißen, fließen, genießen, gießen, heißen, reißen, scheißen, schießen, schließen, schmeißen, spleißen, sprießen, stoßen, verdrießen, verschleißen

b. 1./3. Ps. Sg. Ind. Präs. (1):

weiß

c. im Präterium (8):

aß, fraß, hieß, ließ, maß, saß, stieß, vergaß

Vor der Rechtschreibreform gab es eine zusätzliche Position, nämlich die, wenn in eine Position rutscht, in der es kein Silbengelenk ist; war also die morphologische Schreibung zu wie in essen – ißt statt heute isst. Bei den starken Verben findet sich dieser Zusammenhang noch indirekt, wenn man das Gesamtparadigma im Blick hat. Der Zusammenhang ist nur indirekt, weil sich die Schreibungen primär phonographisch ergeben: So liegt bei essen ein Silbengelenk vor, bei aßen ist es genau jene Basisposition 2 – dies geht einher mit dem Wechsel von einem ungespannten, kurzen Vokal im Infinitiv und einem langen, gespannten in den Präteritumformen. Bei schließen (Infinitiv) und schlossen (Präteritum) handelt es sich um eine umgekehrte Verteilung bzgl. des Tempus. In der Gesamtbetrachtung der Verben mit und finden sich nur zwei Verben, die sowohl im Präsens als auch im Präteritum zeigen (müssen, wissen – wir müssen – wir mussten, wir wissen – wir wussten) – beides sind Präteritopräsentia (s. 2.7). Und auch findet sich in beiden Tempora lediglich bei zwei Verben (heißen, stoßen). Der Wechsel von und ist in den Verbpa-

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radigmen also durchaus präsent, wobei die Richtung zu von Präsens zu Präteritum doppelt so häufig ist wie umgekehrt.

2.5 Affixkonstanz bei den nicht-silbischen Flexionsendungen Bei den starken Verben beschränken sich die Affixe im Allgemeinen auf PersonNumerus-Suffixe. Im Folgenden geht es um die konsonantischen PersonNumerus-Affixe, also diejenigen, die kein enthalten und damit graphematisch nicht-silbisch sind, also und . Interessant sind dann insbesondere die Fälle, in denen der Stamm bereits mit oder endet bzw. mit solchen, die phonologisch so oder ähnlich interpretiert werden können, also koronale Plosive/Frikative: , , und möglicherweise auch . Während ein bei schwachen Verben graphematisch (und phonologisch) silbisch an das Stamm- angehängt wird (arbeiten – arbeit-et), geschieht das bei den starken Verben häufig nicht, wenn Vokalhebung13 stattfindet (halten – hält – *hält(e)t). Die Vokalhebung ist hier Kennzeichen genug. Systematisch heißt das für t in der 3. Person Sg: Infinitiv auf -ten

3. Ps. Sg. Ind. Präs mit Vokalhebung

Alternativen

bersten

birst

braten

brät

fechten

ficht

fechtet

flechten

flicht

flechtet

gelten

gilt

2. Ps. Pl. Ind. Präs.

berstet bratet fechtet flechtet geltet

halten

hält

raten

rät

haltet

schelten

schilt

scheltet

treten

tritt

tretet

ratet

ratet

Tab. 1: Verben auf -t mit Vokalhebung

|| 13 Die a-Umlautung ist gleichzeitig eine Frontierung und Hebung; man kann also auch fahren – fährt als ‚Hebung‘ bezeichnen. Auch [au] zu [ɔi] kann als Hebung und Frontierung interpretiert werden, der erste Bestandteil wird gehoben, der zweite frontiert. Es geht hier nur darum, warum diese beiden Prozesse auch unter ‚Vokalhebung‘ gefasst werden kann.

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bieten

3. Ps. Sg. Ind. Präs ohne Vokalhebung

2. Ps. Pl. Ind. Präs.

bietet

bietet

bitten

bittet

bittet

gleiten

gleitet

gleitet

reiten

reitet

reitet

schreiten

schreitet

schreitet

Tab. 2: Verben auf -t ohne Vokalhebung

Das unterbleibt als Flexionsendung, wenn das Verb Vokalhebung verlangt (Tab. 1). Bei allen anderen entstehen phonologisch und graphematisch zweisilbige Formen (Tab. 2). Von den 15 Verbinfinitiven auf -den bilden 13 ihre 3-Ps-Sg-Ind-Präs-Form mit et (bindet, empfindet usw.), nur zwei bleiben einsilbig, ebenfalls mit Vokalwechsel: lädt, wird. Während bei lädt die t-Endung angefügt wird, fehlt sie bei wird. In der 2. Person Singular gibt es noch mehr Ausreißer, da es offenbar diejenigen Verben betrifft, deren Stamm mit , oder , endet:

(3)

s: bläs-t, iss-t, friss-t, genes-t, läss-t, lies-t, miss-t, muss-t, preis-t, speis-t, vergiss-t, wächs-t, weis-t, weiß-t. Die Formen fallen mit der 3. Person zusammen, außer weißt (er weiß, du weißt). z: salz-t, schmilz-t, sitz-t (?salzst, ?schmilzst, ?sitzst) ß: befleiß-t, beiß-t, fließ-t, genieß-t, gieß-t, heiß-t, reiß-t, scheiß-t, schieß-t, schließ-t, schmeiß-t, spleiß-t, sprieß-t, stöß-t, verdrieß-t, verschleiß-t

Bei am Stammende wird konstant geschrieben, hier ist Affixkonstanz für die 2. Person Singular also gegeben bzw. zumindest möglich: drisch-st, erlösch-st, wäsch-st. In der 2. Person Singular unterscheiden sich dann die starken Verben in ihrer Markierung nicht von den schwachen; in der 3. Person Singular hingegen schon – nur bei den starken Verben (und natürlich bei den Präteritopräsentia, s. 2.7) besteht hier überhaupt die Möglichkeit, das nicht zu schreiben (rät vs. arbeitet). Bei der 2. Person Singular hingegen wird immer geschrieben, aber mitunter das nicht – das allerdings bei starken und

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schwachen gleichermaßen. Das heißt, die Form ist als flektierte zu erkennen, mitunter aber nicht eindeutig der 2. Person Singular zuzuordnen.

2.6 Affixlose Formen: Starke Verben im Präteritum Fakt ist, dass die meisten flektierten Verbformen im Deutschen mit einem Suffix enden. In diesem Abschnitt werden speziell die Formen behandelt, die systematisch nicht mit einem Suffix gekennzeichnet werden. Dass in der 1. Person Singular Indikativ Präsens die Endung weggelassen werden kann, wäre eine andere Untersuchung (ich reise mit meiner Familie – ich reis‘ mit meiner Familie – ich reis mit meiner Familie). 14 Es ist aber möglich, diese Verbformen in der geschriebenen Form zu kennzeichnen, sei es durch oder durch ein Apostroph. Das Weglassen betrifft im übrigen gleichermaßen die starken und die schwachen Verben. In 2.5 ist bereits festgehalten worden, dass die 3. Person Singular im Präsens bei Vokalhebung nicht zusätzlich markiert wird, wenn der Stamm auf endet. In allen anderen Fällen werden diese Formen markiert (er fähr-t, sie iss-t, sie gib-t). Die Formen, die systematisch keine Flexionsendung haben, sind die Präteritumformen von starken Verben in der 1. und 3. Person Singular Indikativ (ich gab, sie lief) und die Präteritopräsentia im Präsens, ebenfalls in der 1. und 3. Person Singular Indikativ (ich will, sie will). Betrachten wir systematisch zunächst die Präteritum-Indikativ-Formen in der 1. und 3. Person Singular, die Präteritopräsentia dann in 2.7. Formen wie lief, las, bot, fror könnten einfache, unflektierte Wörter sein. Auf der anderen Seite finden sich kniff, aß, floh, gab, die in ihrer Schreibung am Ende alle auf einen Zweisilber und damit zumindest auf eine flektierbare Wortart hinweisen, und zwar wegen ihres letzten Buchstabens.15

|| 14 Eine Untersuchung zu Imperativformen wäre hier sehr interessant, denn es könnte sich zeigen, dass sie häufig entweder mit einem Apostroph gekennzeichnet werden oder durch ein Ausrufezeichen kontexualisiert werden. Aus dieser Untersuchung wurden sie als ‚semifinite‘ ausgeschlossen. 15 Hier muss natürlich eingeschränkt werden, dass das Deutsche nicht-flektierbare Funktionswörter mit einer solchen Schreibung hat, wie dass, wenn, wann, denn, ab, und, ob. Von den einfachen dürfte dies mehr oder weniger die vollständige Liste sein; daneben finden sich übertragene wie anhand, deshalb (unterhalb, oberhalb, …), entsprechend, betreffend usw. Diese sind ja mehr sekundär Mitglieder von unflektierbaren Wortarten. Die primären mit einer solchen

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stimmhafter Obstruent

bewog, bog, band, blieb, empfand, fand, flog, frug, gab, grub, hieb, hob/hub, lud, lag, log, mied, pflog, rieb, sog, schied, schob, schand, schlug, schrieb, schwieg, schwand, stand, stieg, starb, stob, trug, trieb, trog, verdarb, wog (wägen & wiegen), wob, wand (wenden und winden), warb, zog

42

Doppelkonsonant

befliss, begann, biss, floss, genoss, gewann, goss, glitt, glomm, griff, klomm, kniff, litt, pfiff, quoll, riss, ritt, ronn, soff, scholl, schiss, schoss, schliff, schloss, schmiss, schnitt, schritt, schwoll, schwamm, sott, sann, sponn, spliss, spross, stritt, troff, verdross, verschliss

38

dung, drang, empfing, fing, ging, gelang, hing, klang, misslang, rang, schlang, schwang, sang, sprang, wrang, zwang

16

floh, gedieh, geschah, lieh, sah, zieh (verzieh)

aß, fraß, hieß, ließ, maß, saß, stieß, vergaß

backte, brachte, brannte, dachte, deuchte, durfte, hatte, haute, kannte, konnte, mahlte, mochte, musste, nannte, rannte, salzte, sandte, spaltete, (wurde), winkte, wusste

21

sonst

buk, barst, bat, befahl, blies, briet, brach, drosch, genas, empfahl, erblich, erkor, erlosch, erschrak, fuhr, fiel, focht, flocht, fror, gor, gebar, galt, glich, hielt, half, kam, kroch, kor, lief, las, molk, nahm, pries, riet, roch, rief, schuf, schien, scholt, schor, schlief, schlich, schmolz, schrie, schwor, war, sank, spie, spies, sprach, stach, stak, stahl, stank, strich, traf, trat, trank, tat, verlor, wuchs, wusch, wich, wies, warf

65

6 8

Tab. 3: Präteritumsformen ohne Personalendung

Von den 196 starken und unregelmäßigen Verben weisen 94 eindeutig eine Endung auf, die auf einen Zweisilber hindeutet – die jeweilige Schreibung wird ausschließlich vom Zweisilber bedingt. Weitere 21 sind in diesen Formen nicht endungslos, sondern weisen die für schwache Verben typische Endung –te auf. Auch kann durchaus als Silbengelenkschreibung interpretiert werden. Von den 196 Verben haben also nur 65 keinen Hinweis auf Flexion und dabei wurden die Wörter ja ausschließlich von hinten betrachtet, also vom letzten

|| Schreibung sind absolut selten und auflistbar. In der Grundschuldidaktik würde man hier von ‚Lernwörtern‘ sprechen.

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oder den beiden letzten Buchstaben her. Das ist doch erstaunlich für die einzige Form in der gesamten Personalverbflexion (1. und 3. Person Singular, Präteritum, Indikativ der starken Verben), die immer16 endungslos ist.

2.7 Affixlose Formen: Präteritopräsentia Die Präteritopräsentia flektieren bekanntermaßen im Präsens wie andere im Präteritum, für die vorliegende Frage also endungslos in der 1. und 3. Person Singular im Präsens Indikativ. Im Deutschen gehören sieben Verben zu dieser Klasse – die Modalverben und wissen. Für die in 2.6 aufgeworfene Beobachtung, dass viele der endungslosen Formen in ihrer Schreibung einen Hinweis auf verwandte Zweisilber geben, verhalten sich die Präteritopräsentia noch deutlicher:

stimmhafter Obstruent

mag

1

Doppelkonsonant

kann, will, soll, muss

4

weiß

1

möchte

1

sonst

darf

1

Tab. 4: Präsensformen ohne Personalendungen

Sechs der sieben Präteritopräsentia weisen also in ihrer endungslosen Form (möchte ist nicht endungslos) auf eine zweisilbige Form hin. Die Verbform weiß ist nicht ohne Weiteres in ihrer Schreibung zu begründen. Auch die -Schreibung ergibt sich aus dem Zweisilber (s. 2.4). Zu weiß als Verb findet sich kein Zweisilber, weil dies eine spezielle Form des Singular Indikativ Präsens ist; der Konjunktiv ist wisse. Wissen flektiert wie ein Präteritopräsentium, es bildet also auch im Singular endungslose Formen. Versuchen

|| 16 Es ist natürlich möglich, die 1. Person Sg Ind Präs auch endungslos zu schreiben – ich geh, ich find, ich hol. Aber auch hier findet sich die Möglichkeit, entweder eben doch ein zu schreiben (ich hole) oder ein Apostroph (ich hol‘). Wie häufig die einzelnen Möglichkeiten vorkommen, dürfte stark von der Textsorte abhängen, vermutlich in dem, was als ‚geschriebene Standardsprache‘ bezeichnet wird, wird es wohl markiert. Das ist aber eine andere Untersuchung als die vorliegende – hier werden die Möglichkeiten ausgelotet, die das Schriftsystem bietet.

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 59

wir, es systematisch herzuleiten: Das Besondere ist hier ja, dass die Verben für den Singular Indikativ Präsens einen Stamm haben, der nicht einfach der Infintivstamm (also der Infinitiv ohne Endung) ist, sondern mit einem Vokalwechsel einhergeht. Bei sechs der acht Präteritopräsentia finden sich solche speziellen Stämme für den Indikativ Präsens im Singular: dürfen – darf, können – kann, mögen – mag, müssen – muss, wissen – weiß, wollen – will17 und nur bei möchten und sollen findet sich keine spezielle Form. Die genannten sechs Präteritopräsentia sind hier also ein besonderer Fall – potentiell fehlen die zweisilbigen Formen mit den entsprechenden Vokalen. Aber nur bei weiß fehlt auch die Art der Konsonantenschreibung in den zweisilbigen Formen, die Doppelkonsonanten in kann, will finden sich in anderen Formen. Bei weiß ergibt sich systematisch eine Lücke; morphologisch wäre weiss zu erwarten, denn findet sich im Paradigma. Warum also ? Fakt ist, dass es nach Diphthong keine Silbengelenkschreibung geben kann – das Silbengelenk ist als Position nach ungespanntem Monophthong definiert und die Schreibung ist genau so geregelt. Also handelt es sich hier um eine Pattsituation: Mit Morphemkonstanz wäre weiss zu erwarten, phonographisch aber weis. 18 Die Schreibung Diphthong und Doppelkonsonant deutet durchweg auf morphologische Grenzen hin: ausschlagen, einnehmen, breittreten, weissagen, ausschließlich usw. Dies spricht für die -Schreibung bei weiß, aber wie hier nachgewiesen wurde, ist es ein absoluter Einzelfall. Nichtsdestotrotz zeigt die Schreibung alles, was sie zeigen kann: Den Hinweis auf den Zweisilber sowie die Nicht-Anwesenheit einer Morphemgrenze.

2.8 Sichtbare Morphologie im Deutschen Bei den endungslosen Formen zeigt sich, dass doch überraschend viele in ihrer Schreibung Hinweise auf die potentielle Zweisilbigkeit geben. Es handelt sich um ‚sichtbare Morphologie‘, da man alleine durch das Betrachten des Wortformenendes schon den Hinweis bekommt, dass es Kandidaten flektierbarer Wortarten sind. Sie werden häufig kleingeschrieben, weil sie im Allgemeinen nicht Kerne von Nominalgruppen sind, und natürlich, wenn sie nicht am Satzanfang stehen. Der Leser kann also schon der Form nach davon ausgehen, dass

|| 17 Die Doppelkonsonantschreibung bei den Einsilbern setzt sich auch historisch relativ spät durch, erst Ende des 17. Jahrhunderts scheint will die deutlich häufigere Form zu sein (Ruge 2004: 198). 18 Für den wichtigen Hinweis danke ich Lena Schlosshauer in meiner Vorlesung.

60 | Nanna Fuhrhop

er es nicht mit Substantiven zu tun hat, die ja bevorzugt im Kern von Nominalgruppen auftreten. Als flektierbare Wortarten bleiben dann Adjektive und Verben. Von den Adjektiven können sie nur Grundformen sein – also als Adverbial oder Prädikativ – und von den Verben können sie ausschließlich die genannten Formen sein – also 1. oder 3. Person Singular Indikativ und dann entweder ein Präteritopräsens oder eine Präteritumform. All dies ist aufgrund des letzten Buchstabens (und der Kleinschreibung) zu rekonstruieren. Das ist sichtbare Morphologie. Von den endungslosen Verbformen haben weit über die Hälfte einen letzten Buchstaben, der das zeigt; bei den Präteritopräsentia sogar alle mit einer Ausnahme. Auch die Verben, deren Stamm auf -t endet und die eine Vokalhebung aufweisen, sind endungslos (brät, rät, ficht); diese sind aber ausschließlich in der 3. Person Singular Indikativ Präsens endungslos – die 2. Person Singular wird gut markiert: brätst. Hier finden sich drei Verbformen mit und (höchstens) sechs mit , von denen eine die Form tritt ist, die zumindest durch die Form einen Hinweis auf Zweisilbigkeit gibt. Ansonsten sind ficht und flicht wohl tendenziell Verdrängungsprozessen ausgesetzt (fechtet, flechtet). Aber so oder so – es bleiben einige, die nicht direkt als morphologisch komplex zu erkennen sind. Auch einige der scheinbar unregelmäßigen Formen zeigen morphologische Verwandtschaften – so eben nimmt, tritt, will, nannte, weiß neben den ableitbaren gab, sah, ließ. Es sind deutlich verbale Muster erkennbar, die entweder auf potentielle Zweisilbigkeit hinweisen oder auf eine Morphemgrenze wie in nannte und ebenso wie in der ableitbaren Form wie spannte. Insgesamt zeigen sich hier verbale Muster; bei den nicht-ableitbaren ist dies eine gute Begründung für die Schreibung (explizit), bei den ableitbaren ergeben sich die Muster sozusagen von allein (implizit), sind aber deswegen nicht weniger wirksam.

3 Flexion der unregelmäßigen Verben im Englischen Im Folgenden werden einige Phänomene anhand der unregelmäßigen Verben19 im Englischen untersucht. In Berg (in diesem Band) und Berg u.a. (2014) ist

|| 19 Bauer/Rochelle/Lieber (2013: 66) unterscheiden lediglich regelmäßige und unregelmäßige Verben, die regelmäßigen bilden ihre Präteritumsform mit –ed (graphematisch). Die Definition passt hier sehr gut, weil lediglich Präteritumsformen thematisiert werden. Im Folgenden spreche ich also ausschließlich von unregelmäßigen Verben.

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 61

bereits das Suffix -ed beschrieben, das die regelmäßigen Verben den unregelmäßigen als deutliche Kennzeichnung voraushaben. Hier geht es daher ausschließlich um unregelmäßige Verben im Präteritum (und im Partizip Perfekt) – also alle Verben außer den regulären und den ‚primären‘ Verben (be, have, do)20 –, und zwar im Vergleich zu den entsprechenden Präsensformen. Es geht dabei um Schreibungen, die phonographisch und/oder morphologisch überraschend sind. Zunächst werden ‚leere‘ (so der Begriff von Carney 1994, auch der Begriff ‚stumme‘ ist üblich) Grapheme, die in der Verbflexion auftreten, untersucht – bei den Verben kommen hier und vor. Anschließend wird als ein Beispiel eines Silbenkerns mit auffälligen Reihen (-ound, -ould, ought) untersucht. Es folgt die Silbengelenkschreibung und der --Wechsel. Besonders auffällig sind Schreibungen mit am Ende, die eine graphematische Zweisilbigkeit produzieren, die keine phonologische Entsprechung hat. Dies wird dann noch einmal in einem eigenen Abschnitt thematisiert – quasi Verbflexion in Zusammenhang mit der Anzahl der graphematischen Silben. Diese Zusammenschau mag auf der einen Seite willkürlich erscheinen – das hat damit zu tun, dass dies auch eine Suche nach den relevanten Mustern darstellt. Andererseits sind es auch ganz typische Merkmale des englischen Schriftsystems.

3.1 Das ‚leere‘ Auffällig ist im Englischen das Vorkommen von einem ‚leeren‘ in Wörtern wie , usw. Dieses kommt bei unregelmäßigen Verben an genau drei Stellen vor: nämlich bei could, should und would; es sind alles ‚Präteritumformen‘ von Modalverben. Ansonsten ist bei unregelmäßigen Verben phonographisch bedingt. Die Möglichkeit des leeren wird hier ausgenutzt – es ergibt sich einerseits eine partielle Morphemkonstanz zwischen und und und . Andererseits bildet dieses einen Teil des Musters für die Schreibung von Präteritumformen von Modalverben und damit ist auch das ansonsten undurchsichtige Paar - erfasst.21 Dass sich gerade für die Modalverben ein graphematisches Muster herausbildet, erscheint nur auf den ersten Blick überraschend, denn gerade die Präteritumformen sind || 20 Für die Präzisierung danke ich Ingo Plag. 21 Diese Reihe wurde von Cummings bereits als Beispiel für die Selbstorganisation von Schriftsystem genannt ("Another example of self-organization involves the modal auxiliaries could, would, and should, a group of words whose spellings have become more similar over the centuries, thus foregrounding their functional parallelism”). Für could nennt er die Formen cūth (AE), couthe, coude (ME). (Cummings 1988: 7)

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nicht einfach ‚Präteritum‘ im Sinne von Vergangenheit, sondern werden ja gerade für die ‚Modalität‘ von Ereignissen genutzt. Betrachtet man es nun von der anderen Seite, also von der Gesamtmenge der Modalverben, fehlt lediglich might (may). Von must wird angenommen, dass es keine Präteritumform gibt bzw. diese ersetzt wird durch had to (Quirk u.a. 1994: 232). Die Form might wird unten noch einmal aufgegriffen. Bei CELEX wird lediglich mould (‚Schimmel‘) aufgeführt, das ebenfalls auf ould endet, aber kein Modalverb ist (und wo das nicht leer ist) und auch anders ausgesprochen wird. Damit scheint es ein Muster für Präteritumformen von Modalverben zu geben, nämlich . Für dieses Muster gibt es zwar nur drei Beispiele, aber die Modalverben sind fast vollständig mit diesem assoziiert. Für might wäre es auch im Englischen phonographisch nicht möglich, mould anzunehmen. Dreht man die Richtung um (wie in Berg u.a. 2014 und in Berg in diesem Band) und überprüft, wie [-əʊld] bzw. [-ʊd] sonst geschrieben werden, findet man für [-ʊd] insbesondere good, -hood und wood (would vs. wood), für [-əʊld] bold, cold, fold, gold, old, scold und eben mould und für die Verben told, sold. Es sieht also schon aus wie ein ‚grammatisches Muster‘ für die ‚Präteritumformen‘ der Modalverben.

3.2 Das ‚leere‘ ist ein Graphem, das im Englischen ohne phonologische Entsprechung auftreten kann, und zwar postvokalisch und nicht wortinitial (also nicht ghost, sondern though). In 0,7 % der Fälle (Types, 1,9% Tokens, es sind also relativ häufige Wörter, Carney 1994: 154) korrespondiert es mit /f/ wie in laugh, enough. In den übrigen Fällen hat es keine phonologische Korrespondenz. Relativ regelmäßig tritt nach auf wie in high, light, night, fight; ansonsten steht es ausschließlich nach Schreibdiphthongen. In CELEX finden sich folgende Umgebungen:

(4)

in 207 Fällen:

light, night

in 64 Fällen: though, dough (doughnut) in 33 Fällen:

daughter, naughty

in 44 Fällen:

eight, height, weight

in 7 Fällen:

straight

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 63

Ich gehe hier nicht weiter ins Detail der -Schreibungen, sondern betrachte sie ausschließlich bei den unregelmäßigen Verben: Im Präsens kommt nur bei zwei Verben vor, und zwar nach ; bei fight wird das ins Präteritum übernommen, bei light in der unregelmäßigen Flexion nicht, in der (alternativen) regelmäßigen selbstredend schon.

(5)

Präs

Prät

fight

fought

light

lit - ligthed

Im Präteritum kommt außerdem in folgenden Fällen vor: besought, brought, bought, caught, might, sought, taught, thought22 In besought, brought, bought, sought, taught, thought findet sich die Endung , in caught, taught findet sich . Nach den in Berg/Fuhrhop (2011) herausgearbeiteten Korrespondenzen im morphologisch einfachen Einsilber ist dies recht überraschend: Es wäre eine Schreibung mit zu erwarten, also *braut, *baut, *thaut usw. Die Schreibung mit kommt bei den unregelmäßigen Verben aber ausschließlich bei caught, taught vor, auch hier mit und nicht *caut, *taut. Das an und für sich erklärt sich weder über Korrespondenzen noch über Morphemkonstanz. Auch die eher unübliche Korrespondenz von erschließt sich nicht. Allerdings finden sich hier acht Präteritumformen mit einer vergleichbaren Schreibung. Die These ist: Die Graphemkette ist ein gutes Muster für Präteritumformen, die auch unabhängig von häufigeren phonographischen Schreibungen gewählt wird. ist eine mögliche Variante, die gewählt wird, wenn bereits im Präsens vorhanden ist; es findet sich hier eine morphologische Verknüpfung. Weiterführend sollte insgesamt bei unregelmäßigen Verben betrachtet werden und nicht nur in Verbin-

|| 22 Eine Idee ist sicherlich, hier bei einigen Fällen eine ‚relative‘ Morphemkonstanz zu suchen: Bei beseech, catch, teach finden sich im Präsens -Schreibungen mit einer lautlichen Entsprechung. Im Präteritum gibt es lautlich keinen Konsonanten zwischen dem Silbenkern und dem auslautenden t, eine ‚relative‘ Morphemkonstanz wäre hier zu entdecken: ist ähnlicher als gar keine Entsprechung; phonographisch ist nichts möglich, was ähnlicher wäre. Die Liste der starken Verben mit ist übrigens vollständig: Es sind alle Verben, die im Präsens ein postvokalisches enthalten; phonologisch taucht die Entsprechung im Präteritum nicht auf. Aber: auch hiermit sind nur drei Fälle erfasst, möglicherweise als vierter noch seek – sought von den genannten acht Fällen.

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dung mit bzw. mit . Bezogen auf das Gesamtsystem läge die Verschriftung mit bei der vorliegenden Lautung eigentlich näher. In CELEX finden sich folgende 10 Wörter mit -ought: thought, wrought (altes Partizip von work23), nought (Schreibvariante von naught), ought (nur Präteritumform), drought (und noch 5 Komposita mit diesen). Damit scheint drought ‚Dürre’ das einzige zu sein, das hier herausfällt, als Nicht-Präteritumform – und nought in dieser Schreibvariante. Bisher sind die beiden auftretenden Fälle von leeren Konsonanten bei unregelmäßigen Verben behandelt worden und in beiden Fällen ist der entsprechende Silbenkern . Es mag Zufall sein, dass es jeweils ist. Da sich diese Schreibung aber nicht zwingend phonographisch ergibt, betrachten wir im Folgenden insgesamt näher. Möglicherweise steckt in dieser Schreibung an sich ein Muster für unregelmäßige Verben.

3.3 bei unregelmäßigen Verben tritt nicht im Präsens von unregelmäßigen Verben auf, sondern ausschließlich im Präteritum, und zwar bei den folgenden Verben: besought, bound, brought, bought, could, fought, found, ground, should, sought, thought, would, wound Geordnet ergeben sich drei Muster; jedes der -Verben findet sich in einem der Muster wieder:

(6) a. :

bound, found, ground, wound

b. :

could, should, would

c. :

besought, brought, bought, fought, sought, thought

In a. korrespondiert mit /au/, eine durchaus übliche Korrespondenz. Hier handelt es sich auch bezogen auf die Präsensform um völlig geordnete Ablautmuster: to bind, to find, to grind, to wind. In b. hingegen handelt es sich um die bereits genannten Modalverben. Hier findet sich eine eher unübliche phonographische Korrespondenz. c. listet die Verben mit auf.

|| 23 http://www.etymonline.com/index.php?searchmode=none&search=wrought [Zugriff am 6.3.2017].

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 65

Es gibt drei Muster für die Schreibung mit bei unregelmäßigen Verben, wobei nur eines auch phonographisch naheliegend ist (bound, found usw.). Die These, die sich an dieser Stelle bereits deutlich ergibt, lautet: Im Präteritum der unregelmäßigen Verben des Englischen bilden sich bestimmte Schreibmuster heraus. Die Schreibung erfolgt eher nach diesen Mustern als nach dem Prinzip der Stammkonstanz.

3.4 Silbengelenkschreibungen Im Englischen findet sich eine phonographische (silbische) Silbengelenkschreibung; morphologisch übertragen wird sie nur in einigen Fällen – sie werden unten genannt. Das heißt, dass die Silbengelenkschreibung im Zweisilber auftritt, aber nicht unbedingt im Einsilber (begging – beg). Dabei ist interessant, dass es um graphematische Silben geht, die Form begged ist nur graphematisch zweisilbig (dazu auch 3.7). Einige Buchstaben verhalten sich jedoch analog zum Deutschen: Die Silbengelenkschreibungen , , erscheinen auch im Einsilber (kill, doff, kiss, zu , s. Berg u.a. 2014). Auch im Englischen finden sich einige Verbindungen, die typischerweise in Silbengelenkpositionen auftreten und so als Silbengelenkschreibungen interpretiert werden können – das sind , und möglicherweise analog zum Deutschen . Die Schreibungen und sind mit denen im Deutschen vergleichbar, verhält sich im Englischen ähnlich wie im Deutschen – in Nicht-Silbengelenkposition wird geschrieben (to reach, church usw.), in potentieller Silbengelenkposition (catches, matches, pitcher). In der vollständigen Liste der unregelmäßigen Verben finden sich relativ wenig Doppelkonsonanten – die meisten dieser Verben bilden keine zweisilbigen Formen heraus. Von den Doppelkonsonanten, die auch im Einsilber vorkommen, tritt nur auf (also weder noch ): befall, dwell, fall, sell, smell, spell, spill, swell, tell. Einige von diesen bilden ihr Präteritum alternativ regelmäßig – hier findet sich dann auch smelled neben smelt. Die regelmäßigen Formen von smell, spell, spill, swell sind in google-n-gram-viewer spätestens seit 193524 häufiger als die unregelmäßigen. Interessant ist hier aber, dass die Form entweder smelt (unregelmäßige Endung, ein ) oder smelled (regelmäßige Endung, ) ist. Von den anderen Silbengelenkschreibungen kommen tch, ck

|| 24 Zugriff am 23.5.2016; smelled ist dabei das letzte, das die Flexionsklasse wechselt, ca. 1935, die anderen deutlich früher.

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marginal vor: Insgesamt im Präsens catch, stick, im Präteritum stuck, struck. Die Schreibung ist hingegen häufig, aber sie ist auch phonographisch zu erfassen wie in ring - rang, sing – sang, wring – wrung usw. (zu ng s. auch Beedham 2006) – in 11 der 12 Fälle tritt sowohl im Präsens als auch im Präteritum auf, lediglich in bring – brought findet sich ein diesbezüglicher Unterschied im Paradigma. Betrachten wir die Zweisilber. Im Präteritum sind das im Allgemeinen Varianten, die dann doch regelmäßig flektieren, insbesondere diejenigen mit . Daneben treten Doppelkonsonanten bei Partizipformen mit -en auf: bidden, chidden, fallen, forbidden, forgotten, (gotten25), hidden, ridden, smitten, swollen, trodden, written – neben also außerdem und . In der regelmäßigen Verbflexion ist die Doppelkonsonantschreibung mit der -Endung offenbar etabliert, in der unregelmäßigen ist sie eher marginal.

3.5 bei unregelmäßigen Verben Der innerparadigmatische Austausch zwischen und im Englischen, insbesondere in Diphthongen, ist bekannt. Die Verben, die im Präsens erhalten, sind die folgenden:

(7) a. buy, fly, lay, may, pay, say, slay – bought, flew, laid, might, paid, said, slew b. lie – lying, Präteritum lay (‚liegen‘)

Im Präteritum enthält keines aus der Liste a. , aus b. allerdings schon: lie – lay. Einige der zugehörigen Präteritumformen aus a. sind in gewisser Weise lediglich graphematisch unregelmäßig: lay – laid, pay – paid, Schreibungen wie *layed, *payed wären phonographisch denkbar; für say – said (*sayed) phonographisch eher nicht. In der – auch graphematisch regulären Flexion – finden sich entsprechende Formen stayed, prayed. Die Präteritumformen bought und might passen in andere Muster, flew und slew sind phonographisch naheliegend. Hier – wie auch sonst – ist ein Wortende; kommt als Wortende auch bei unregelmäßigen Verben nicht vor. Allerdings führt dies zu einer schlechteren Interpretierbarkeit von bei Formen wie usw. Betrachtet

|| 25 als seltene Variante zu got.

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 67

man den Gesamtwortschatz des Englischen, kommt in acht Fällen als Wortende von morphologisch einfachen Wörtern vor. Damit gibt für drei die Präteritumsform von Verben möglicherweise schon ein wahrnehmbares Muster ab.

3.6 Finales : eat – ate, speak – spoke, steal – stole Dem finalen wird folgender Effekt zugeschrieben: Die vorangehenden Vokale der entsprechenden Formen werden gelesen, als handle es sich um eine phonologisch offene Silbe, es fungiert als ‚graphematischer Silbenöffner’ wie in cubic wie cube vs. cub/cut. Interessant ist hier, dass im Englischen alternative Schreibweisen für die entsprechende Lautung bereitstünden (s. Venezky 1970: 102, Berg/Fuhrhop 2011: 452).

lax

tense -Schreibweise

alternative Schreibweise

mete

meat, meet

pop

pope

boat

mad

made

may/main

cut

cute

new/neuter

mid

mide

might, night

met

Tab. 5: Vergleich der offenen und geschlossenen Silben im Englischen

Bei und finden sich mögliche phonographische Alternativschreibungen jeweils mit als zweitem Bestandteil (s. auch Berg/Fuhrhop 2011: 458), also neben e_e auch und neben o_e auch . Für a_e findet sich der Schreibdiphthong mit der Wortendvariante und entsprechend für u_e der Schreibdiphthong mit der Wortendvariante . Bei der Alternativschreibung finden sich also jeweils Schreibdiphthongschreibungen. Lediglich für i_e fehlt eine solche Variante mit Schreibdiphthong. Hier findet sich systematisch die Schreibung ; sie kann als Alternative zur Verschriftung be-

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schrieben werden (Berg/Fuhrhop 2011: 449) – das ist vermutlich der Grund, warum sich diese Schreibung hält.26 Kommen wir nun aber zu dem Verhalten von in der zweiten Silbe bei unregelmäßigen Verben. Hier gibt es im Vergleich von Präsens und Präteritum drei Möglichkeiten: 1. es tritt sowohl im Präsens als auch im Präteritum auf 2. es tritt ausschließlich im Präsens auf 3. es tritt ausschließlich im Präteritum auf Im ersten Fall liegt Morphemkonstanz vor: to write – wrote, to drive – drove, to weave – wove27, so auch dive – dove/dived.28 Trotz Vokalwechsel wird die Schreibung relativ konstant gehalten. Im zweiten Fall tauchen häufig solche Fälle auf, in denen im Präteritum eine Schreibung mit V_e (Vokal – Konsonant – e) aus phonographischen Gründen gar nicht möglich ist, also Fälle wie bite – bit, chide – chid, hide – hid, lose – lost usw. – hier fehlt häufig auch der qualitative (graphematische) Vokalwechsel, wodurch kein Unterschied zwischen Präsens und Präteritum mehr sichtbar wäre. Interessant ist insbesondere der dritte Fall. Es handelt sich hierbei um eine vollständige Liste:

Präsens ohne

Präteritum mit

break

broke

speak

spoke

steal

stole

bear

bore

swear

swore

|| 26 Eine Frage, die noch von dem -Abschnitt übrig war, ist das Paar may – might, phonographisch wäre auch eine Schreibung *mite möglich. Sie wird hier nicht gewählt, da das , wenn es denn Kennzeichen von Präteritumformen ist, am Ende des Wortes steht; in den Fällen, in denen die Präteritumformen auf -te enden (ate, smote, wrote), gehört t zum Stamm (eat, smite, write). 27 Bei kommt eine graphotaktische Besonderheit hinzu: Wörter enden nicht mit diesem Buchstaben im Englischen, ein wird angehängt: to give (s. Venezky 1999: 384ff). In den genannten Fällen ergibt sich die Schreibung allerdings auch phonographisch. 28 he dove – he dived: In google ngram viewer (23.5.2016) war 2000 dove die häufigere Form, 2008 wieder dived, von 1970 bis 2000 ist die Vorkommenshäufigkeit von dove aber kontinuierlich gestiegen.

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 69

Präsens ohne

Präteritum mit

tear

tore

wear

wore

eat

ate

bid, forbid

bade, forbade

Tab. 6: Graphematisch einsilbige Präsensformen und graphematisch zweisilbige Präteritumformen

Im Präsens findet sich hier stets , außer bid – forbid, und im Präteritum immer o_e außer ate, bade/forbade. Relativ häufig ist also das Paar im Präsens und im Präteritum. Phonographisch gäbe es hier andere Möglichkeiten, die mehr Morphemkonstanz zeigen würden: korrespondiert entweder mit [iː]: eat, speak, steal usw. oder vor mit [ɛə]: bear, swear, wear und mit [ei] bei break. Die Korrespondenz von ist entweder [oː] oder [əoː], [əʊ]. Es wären folgenden Schreibungen denkbar:

- /i/

[ɛə] (vor )

[ei]

*ete – ate / eat – *ait

*bare – bore, bear – *boar

*brake – broke, break – *broak

*speke – spoke/ speak – *spoak

*sware – swore, swear – *swoar

*stele – stole / steal – *stoal

*ware – wore, wear – *woar

Tab. 7: Denkbare Alternativen für mehr Stammkonstanz

Sowohl für die Präsens- als auch die Präteritumformen könnte es phonographisch Schreibungen geben, die jeweils mehr Morphemkonstanz zeigen würden. Die Schreibungen und kommen aber offenbar grundsätzlich bei unregelmäßigen Verben nicht vor. Der Abschnitt hat sich mit graphematisch zweisilbigen und phonologisch einsilbigen Formen beschäftigt. Es folgt ein kurzer Exkurs zur Anzahl der Silben.

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3.7 Anzahl der Silben bei unregelmäßigen Verben Beedham (2005: 113) hält fest, dass alle starken (so Beedhams Begriff) derivationsmorphologisch einfachen Verben phonologisch einsilbig sind – mit der Ausnahme begin. Graphematisch hingegen sind viele der unregelmäßigen Verben nicht einsilbig (wie zum Beispiel take). Bisher ging es wesentlich um die Systematik der Präteritumformen. Graphematisch unterscheiden sich die Präteritumformen der unregelmäßigen Verben deutlich von denen der regelmäßigen: Regelmäßige Verben sind im Präteritum (und im Partizip Perfekt) immer (mindestens) zweisilbig, denn sie enden stets mit -ed, die Zweisilbigkeit in den bereits erwähnten (s. 3.4) Fällen wie begged wird durch den Doppelkonsonanten besonders verdeutlicht. Wenn eine /d/-Endung angefügt wird, dann in Zusammenhang mit einem Vokalwechsel nur und nicht (wie in tell – told, say – said, hear – heard). Die Endung wird dann angehängt (bzw. entsteht), wenn sich der Vokal nicht ändert, die Präteritumform damit faktisch wie eine regelmäßige aussieht: shave – shaved, shear – sheared; unregelmäßige Formen zeigen diese Paradigmen (zumindest als Alternative) bei den Partizipien shaved/shaven, sheared/shorn. Interessant bei den Formen smelt – smelled ist, dass sie entweder zweisilbig (mit -ed) und -ll- auftreten oder einsilbig und mit einem -l- und -t. Die Endungen –d und –t bilden bei unregelmäßigen Verben konsequent graphematisch einsilbige Formen, bei regelmäßigen Verben ebenso konsequent graphematisch zweisilbige. Damit rückt insbesondere am Wortende in den Fokus. Durch diese Endung entsteht ja typischerweise die graphematische Zweisilbigkeit. Oben wurde deutlich, dass in einigen Fällen vom Präsens zum Präteritum erhalten bleibt (to write – wrote), verschwindet (to hide – hid) oder hinzugefügt wird (break – broke). Besonders interessant scheint auch hier wieder der letzte Fall zu sein: Eine neue Silbe kommt hinzu. Auffallend ist, dass diese ihr Partizip mit n/en bilden, diejenigen mit r am Stammende unsilbisch (worn), alle anderen silbisch (eaten, broken, spoken, stolen). Die Zweisilbigkeit, die im Präteritum im Gegensatz zum Präsens besteht, sichert die Zweisilbigkeit des Partizips. Betrachten wir nun das Partizip auf -en an und für sich: Insgesamt kommt diese Endung nur 34 mal vor. Sie steht immer nur nach phonologisch einfachem Endrand; mit ihr ergibt sich sowohl phonologisch als auch graphematisch ein Mehrsilber (wie gesagt mit der Ausnahme r-n, in der systematisch einsilbige Formen entstehen). Häufig sind die anderen Formen im Paradigma graphematisch auch mehrsilbig: write – wrote – written. Im Präsens sind neben den eaFormen lediglich die Formen bid, get, fall nicht zweisilbig, im Präteritum ist es das Muster mit ook (took, sook).

Sichtbare Morphologie in der Flexion der starken und unregelmäßigen Verben | 71

Daraus ist Folgendes zu schließen: Im Präteritum findet sich bei unregelmäßigen Verben eindeutig eine Präferenz für graphematisch einsilbige Formen, unabhängig davon, wie die Formen sonst gebildet werden (nur mit Vokalwechsel, mit Suffix). In diesem Sinne ist das Muster speak – spoke (– spoken) überraschend. Diese Formen wurden in 3.6 als eigenes Muster interpretiert, unabhängig von der Anzahl seiner Silben. Bei der Silbenzahl zeigt sich nun, dass es mit der silbischen Partizip-Endung -en korreliert; die doch ungewöhnliche (phonologische) Mehrsilbigkeit des Partizips, die auch graphematisch gezeigt wird, wird graphematisch auch (und nicht unbedingt phonologisch) in der Präteritumform gezeigt.

3.8 Muster bei unregelmäßigen Verben im Englischen Oben wurde bereits angedeutet, dass die Schreibungen und nicht in der Schreibung von unregelmäßigen Verben vorkommen. Suchen wir weiter nach solchen Ausschlüssen, so können wir ganze Listen erstellen:

(8)

nur im Präteritum nur im Präteritum und hier nur bei , nur im Präsens bei unregelmäßigen Verben nicht nur im Präteritum, nur im Präsens : Präsens, nicht Präteritum : Präteritumform, als Präsens markiert (come, choose, lose)

Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Es geht darum, dass solche Aussagen potentiell morphologisch interpretiert werden können. Beedham (2005) hat die starken Verben im Englischen untersucht und die phonologischen Muster herausgearbeitet. Einige phonologische Muster gelten ausschließlich für starke Verben. Dabei geht er von den Infinitivformen im Präsens aus und findet Muster bei VC-Verbindungen. Ein deutliches Ergebnis ist zum Beispiel, dass von den Verben auf /ɪŋ/ elf unregelmäßig flektieren und vier regelmäßig: die regelmäßigen Verben sind allesamt desubstantivisch (ping, ring ‚umringen‘, nicht ‚klingeln‘ to ring, rang – ting, wing, Beedham 2005: 119). Die derivationsmorphologisch einfachen Verben flektieren damit allesamt stark.

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Diese Untersuchungen sind hier erwähnt, um zu zeigen, dass sich die vorliegenden Ergebnisse in ein Gesamtbild einfügen, es gewissermaßen noch stärker machen. Ich habe mich hier wesentlich mit den vermeintlich graphematischen unregelmäßigen Präteritumformen beschäftigt: Erstens mit solchen mit ‚leeren‘ Konsonanten und zweitens mit solchen, in denen sich die Kernschreibung weder (eindeutig) phonographisch noch aus der Präsensform (morphographisch?) ergibt. Und in diesen Fällen finden sich deutliche Muster: Muster für die Schreibung von Präteritumformen. Interpretiert werden soll die Frage, wie sich ‚Tiefe‘ in den Schriftsystemen herausgebildet hat. Mit ‚Tiefe‘ ist ja zum Beispiel gemeint, dass eine Schreibung nicht phonographisch (flach), sondern morphologisch zu interpretieren ist (s. auch Meisenburg 1996: 389). So gilt sowohl das französische Schriftsystem als tief als auch das englische – es sind aber ganz unterschiedliche Formen von ‚Tiefe‘.

4 Zusammenfassung: Sichtbare Morphologie bei starken und unregelmäßigen Verben im Deutschen und Englischen Im Deutschen ist offenbar die Stammkonstanz stärker, im Englischen bei den regelmäßigen Verben die Affixkonstanz. Schreibungen sind im Deutschen offenbar auch von Richtungen abhängig – die -Schreibung kommt vom Präsens, im Präteritum wird sie nicht eingeführt, aber die Präsensform kann enthalten, die nicht auf das Präteritum übertragen wird (ziehen – zog). Ebenso ist eine Richtung der Morphemkonstanz beim deutlich zu erkennen – nur vom Präsens auf das Präteritum und nicht umgekehrt (starb – sterben/*stärben). Bei der Verbflexion ist es aber so, dass das Deutsche meistens Morphologie über Suffixe zeigt. Finite Verbformen ohne explizite Personalendung im Deutschen sind: 1. Verben mit Vokalhebung in der 3. Person, wenn der Stamm auf -t endet (hält, rät, ficht) 2. Präteritumformen der starken und unregelmäßigen Verben in der 1. und 3. Person, Indikativ (fror, bat) 3. Präsensformen der Präteritopräsentia in der 1. und 3. Person (weiß, will). Bei genauerem Hinsehen weisen in den Fällen 2 und 3 aber deutlich mehr als die Hälfte der betroffenen Formen mit ihren Schreibungen auf ihre potentielle Zweisilbigkeit hin – hob, floh, riss, ließ. Für den ersten Fall (Vokalhebung) sind

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wiederum zwei Fälle zu unterscheiden: Die Vokalhebung (im Allgemeinen von zu ) oder die Umlautschreibung (von zu oder von zu ); die meisten Fälle der -Schreibung zeigen morphologische Komplexität. Es ist also auch in diesen Fällen mehr Morphologie zu sehen, als man zunächst vermutet. Auch einige vermeintlich nicht direkt ableitbare Schreibungen wie nimmt, kannte (wegen *nimmen, *kannen) usw. zeigen Morphologie; der Doppelkonsonant zeigt jeweils die morphologische Grenze. Das Englische hat bei den Verben relativ wenig bis gar keine Person- und Numerusflexion. Tempusflexion hingegen zeigt es bei den regelmäßigen Verben sehr deutlich. Bei den unregelmäßigen Verben ist sie zunächst gar nicht zu erkennen; bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass sich hier sehr wohl graphematische Muster herausgebildet haben. Im englischen Schriftsystem werden also auch bei den vermeintlich uneindeutigen unregelmäßigen Präteritumformen mehr Hinweise gegeben als zunächst vermutet. Insgesamt ist das deutsche Schriftsystem eher lexikalisch geprägt, das Englische grammatisch. Zum kurzen Vergleich ziehe ich hier noch das Französische heran: Hier ist die Affixkonstanz in besonderem Maße ausgeprägt – eine phonologische Endung /ɛ/ kann graphematisch verschiedenen Endungen entsprechen, so zum Beispiel: ais

Imperfekt 1./2.Ps Sg

ait

Imperfekt 3.Ps Sg

aient

Imperfekt 3.Ps Pl

ai

Passé simple, 1. Person Singular

Tab. 8: Graphematik und Morphologie verschiedener /ɛ/-Formen im Französischen

Die Verbformen sind in schriftlicher Form recht gut ausgeprägt und ziemlich eindeutig. Die Schreibung zeigt hier deutlich mehr als die Lautung und ermöglicht jeweils eine eindeutige Zuordnung zu Person und Numerus. In diesem Sinne könnte man sich die Art der morphologischen Schreibung als ein typologisches Kriterium denken, das genau das beschreibt: Die hier herausgearbeiteten Kriterien sind Stammkonstanz, Affixkonstanz, grammatische Muster. Insbesondere die grammatischen Muster werden vermutlich schwieriger zu finden sein – sie sind eher zu erwarten bei starken und unregelmäßigen Verben. Damit sind die morphologischen Schreibungen, die ja wesentlicher Bestandteil des Parameters ‚Tiefe‘ sind, besser zu differenzieren; es gibt dann verschiedene Arten von Tiefe.

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Melanie Bangel & Astrid Müller

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand Ergebnisse einer schriftstrukturbezogenen Intervention mit Blick auf mehrsprachige Lernerinnen und Lerner Abstract: This paper focuses on the morphological transparency of the German writing system and its relationship to learning processes in the areas of morphological awareness and decoding skills, especially with regard to multilingual learners. We present results of an intervention study in grade 5, which was focused on the analysis of morphological structures of complex written words. The results show that the present intervention, as compared to controls (who worked on complex words as suggested by current textbooks), fostered morphological awareness with respect to all three assessed sub-dimensions (i.e., forming word families, identifying root words, segmenting words into morphemes). After five months, only effects on the identification of root words showed again in the follow up. The findings also indicate a significant improvement in the achievement of the multilingual learners in the intervention group in segmenting words into morphemes. The results of the study suggest that future teaching concepts have to put more emphasis on morphological structures. Keywords: morphological awareness, graphemic structure, decoding, intervention study

1 Einleitung Die morphologische Transparenz ist eines der auffälligsten Merkmale des deutschen Schriftsystems und wird vor allem im Hinblick auf das stille Lesen als sehr leserfreundlich betrachtet, da sie dazu beiträgt, Wörtern beim Lesen schnell und sicher Bedeutung zuzuweisen. In der deutschdidaktischen Forschung wird die zentrale Funktion der konstituierenden Merkmale des Schriftsystems für das Lesen inzwischen zwar erkannt,

|| Melanie Bangel Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected] Astrid Müller Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-004

78 | Melanie Bangel & Astrid Müller

aber erst vereinzelt im Hinblick auf ihr tatsächliches Lernpotential untersucht. Einen empirischen Zugang zu diesem deutschdidaktischen Desiderat liefert ein inzwischen abgeschlossenes Forschungsprojekt1, auf das wir uns in diesem Beitrag beziehen. Zunächst werden dazu die für lesedidaktische Überlegungen relevanten morphologischen Merkmale des deutschen Schriftsystems vorgestellt. Auf dieser Grundlage zeigen wir mit Bezug auf nationale und internationale Forschungsergebnisse, welchen Einfluss die Fähigkeit, morphologische Strukturen von Wörtern wahrnehmen zu können, auf den Leseprozess, insbesondere das Dekodieren von Wörtern, haben kann. Anlage und einzelne Ergebnisse unserer Interventionsstudie, die versucht, diese Forschungsbefunde zu berücksichtigen, werden anschließend vorgestellt. Das grundlegende Ziel der Studie bestand darin zu untersuchen, ob Schülerinnen und Schüler in Jahrgang 5 durch entsprechende Lernangebote ihre Bewusstheit für morphologische Strukturen entwickeln und für das Dekodieren komplexer Wörter nutzen können. Im Zusammenhang mit diesem Beitrag interessiert uns bei der Auswertung der Studienbefunde insbesondere, ob die mehrsprachig aufwachsenden Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer von den Lernangeboten, die ihnen Einsicht in graphematisch-morphologische Wortstrukturen ermöglichen sollten, besonders profitieren konnten. Diese Fragestellung ergibt sich vor allem aus den in Abschnitt 3.3 dargestellten Befunden zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit. Antworten auf die Frage und erste didaktische Konsequenzen daraus werden im letzten Teil des Beitrags vorgestellt und diskutiert.

2 Leseunterstützung durch morphologische Transparenz Die morphologische Transparenz des deutschen Schriftsystems zeigt sich unter anderem darin, dass identische Morpheme nach Möglichkeit in allen Kontexten gleich bzw. ähnlich geschrieben werden. Dadurch wird die morphologische Analyse von Wortformen unterstützt, beim Lesen kann ihnen schnell und sicher

|| 1 DFG-Projekt „Potenzen der schriftstrukturellen Analyse von Wortbildungsmustern für die Entwicklung basaler Lesefähigkeiten“ (MU 2832/2-1, Laufzeit: 10/2011 bis 9/2014). Zu Zielen, theoretischem Hintergrund, Anlage und Ergebnissen der Studie vgl. u.a.: Bangel & Müller 2013, 2014; Bangel, Müller & Knigge 2015.

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Bedeutung zugewiesen werden. Morphologische Konstanz zeigt sich explizit2 im Deutschen u.a. in folgenden Phänomenen: (1) Konstanzschreibung bezieht sich u.a. auf die Schreibung der für die Bedeutungszuweisung wichtigen Stämme. Stammkonstanz zeigt sich v. a. darin, dass Informationen des für das Deutsche prototypischen Zweisilbers i. d. R. an flektierte und wortgebildete Formen vererbt werden. Diese Vererbung findet sich u. a. bei der Silbengelenkschreibung (du schwimmst, weil schwimmen) und beim silbeninitialen h (es zieht, weil ziehen) (vgl. Fuhrhop & Peters 2013: 240ff.). Andere Schriftsysteme haben andere Lösungen gefunden, z.B. das Niederländische, das stärker phonologisch orientiert ist (hij zwemt, aber: zwemmen; hij bestelt, aber: bestellen). (2) Stammkonstanzschreibung wird im Deutschen darüber hinaus durch die Nichtberücksichtigung der Auslautverhärtung im Geschriebenen (im Gegensatz zum Türkischen z.B.: kebabi – kebap; kulübe – kulüp) erreicht (Berg, weil Berge; unermüdlich, weil müde; Lob, weil loben). (3) Stammvokalisch abweichende Formen werden in der Schrift durch die Verwendung von Tremata über dem so fast unveränderten Stammvokalbuchstaben gekennzeichnet (Stamm ‒ Stämme, Traum ‒ Träume, Korb ‒ Körbe, Zug ‒ Züge). (4) Die morphologische Konstanz zeigt sich i. d. R. auch bei den Affixen, auch wenn die phonologische Struktur der Wortform andere Lösungen anbietet (winzig ‒ *winzich). Zwar ist die Affixkonstanz im Deutschen im Vergleich zur Stammkonstanz ein eher marginales Prinzip (vgl. Fuhrhop & Peters 2013: 245f.), die Konstanzschreibung von Prä- und Suffixen trägt jedoch ebenfalls zur Leseerleichterung bei. (5) Affix- und Stammkonstanz führen außerdem zur graphematischen Konservierung der Morphemgrenzen, so dass diese gut auffindbar sind: abbrechen, zerreißen, annehmen, verschiebbar, beispiellos, Schrifttum. Die hohe morphologische Transparenz ist für das Deutsche vermutlich vor allem deshalb konstitutiv, weil der aus ca. 10 000 einfachen Wortstämmen bestehende Kernwortschatz des Deutschen (vgl. Eisenberg 2013) durch Morphemkombinationen bzw. hochproduktive Wortbildungsprozesse nahezu unendlich erweiterbar ist, so dass sehr komplexe Wortformen entstehen können (Real-

|| 2 Explizit wirksam ist die Morphemkonstanz dann, wenn sie zusätzliche Hinweise liefert (die Schreibung rund enthält z.B. die Information, dass in der zweisilbigen Form runder am Anfangsrand der zweiten Silbe [d] gesprochen wird). Implizit wirkt sie, wenn die phonographische Schreibung bereits die Morphemkonstanz zeigt: bunt – bunter (vgl. Fuhrhop 2015: 151).

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schulabschlusszeugnis, Kennzeichnungspflicht). Wie der folgende knappe Textauszug aus einem Deutschlehrbuch für die 5. Klasse zeigt, haben es Schriftsprachlernende schon sehr früh mit solchen Wortformen zu tun: „Ob Zuckerrohr oder Stoffballen: Esel können mehr als 100 Kilogramm schleppen. Selbst über wackelige Brücken, die mancher Mensch nur im Notfall betreten würde, marschieren die LASTENTRÄGER, ohne zu murren.“ (wortstark 5 2009: 59)

Von den 28 Wörtern dieses Textes handelt es sich in acht Fällen um wortbildungsmorphologisch komplexe Formen. Es gibt empirische Evidenz dafür, dass die Fähigkeit zur Analyse komplexer Wörter die Bedeutungszuweisung im Leseprozess unterstützen kann (s. Punkt 3 in diesem Beitrag). Diese Analyse ist i. d. R. keine absichtsvolle und bewusste Auseinandersetzung mit der Schriftstruktur, sondern erfolgt eher intuitiv und implizit unter Nutzung der schriftstrukturellen Informationen, die jedoch weder begrifflich gefasst noch bewusst wahrgenommen werden müssen. Das Dekodieren dieser Wortformen stellt unterschiedliche sprachlich-kognitive Anforderungen an Leserinnen und Leser: Einzelne Formen zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Stämme kombiniert werden (Zuckerrohr, Stoffballen, Kilogramm, Notfall, Lastenträger) oder dass zu einem Stamm Affixe treten (wackelige, betreten, marschieren). Für das erfolgreiche Dekodieren müssen idealerweise die Grenzen zwischen bedeutungshaltigen Stämmen und/oder grammatischen bzw. lexikalischen Affixen, die entweder für die Zuschreibung zu einer Wortart relevant sind (wackelige, marschieren) oder der Bedeutungsdifferenzierung dienen (betreten), ermittelt werden und die Beziehung der Bestandteile sowie ihre Bedeutung erschlossen werden. So muss in Wortformen, die aus mehr als einer Stammform bestehen, bei der zumeist implizit erfolgenden morphologischen Analyse die Beziehung zwischen Grundund Bestimmungswort erfasst werden (Zuckerrohr, Stoffballen, Kilogramm, Notfall, Lastenträger). In Komposita wie Zuckerrohr und Lastenträger wird sichtbar, dass die graphematische Analyse zudem verlangt, (potentielle) Morphemgrenzen sicher zu erkennen: Lasten#träg#er oder Last#en#träg#er (bzw. Lasten#träger) und nicht *Last#ent#räg#er (bzw. *Lastent#räger). Beim Dekodieren solch potentiell ambiger, aber auch echter ambiger Konstruktionen, ist davon auszugehen, dass ein prälexikalischer Parser ein komplexes Wort automatisch in seine möglichen Morpheme und Morphemkombinationen zerlegt (vgl. Libben 1994). Die wahrscheinlichste Wortbedeutung wird so aus der Interaktion zwischen der Erfassung relevanter visueller Merkmale und den darauf bezogenen sprach- und schriftstrukturellen Wissensbeständen (syntaktisch, semantisch, lexikalisch

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und graphematisch) ermittelt (vgl. Rumelhart 1994: 877ff.). Dieser komplexe Analyseprozess wird durch den Sprach- bzw. Schriftkontext der Textgrundlage unterstützt. Im Deutschen gehört dazu, wie gezeigt wurde, vor allem die Konstanzschreibung von Stammmorphemen und Affixen. Im Beispieltext kommen außerdem viele für den Kernbereich der Wortschreibung prototypische Formen (trochäische Zweisilber) vor (können, schleppen, Brücken, murren), so dass bedeutungsrelevante Informationen prosodischer (Akzent), morphologischer (Stämme, Affixe, grammatische Endungen) und syntaktischer (Funktion im Satz) Art direkt aus dieser Form erschlossen werden können. In anderen Fällen müssen diese Informationen in der komplexen Form „gesucht“ werden (#rohr, Stoff#, #fall). Auch wenn eine bewusste morphologische Analyse keine zwingende Voraussetzung für erfolgreiches Dekodieren ist, so kann davon ausgegangen werden, dass die Einsicht in die morphologische Struktur von Wörtern den Worterkennungsprozess (als Teil des Leseverstehensprozesses) unterstützt, wie Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungskontexten nahelegen.

3 Morphologische Bewusstheit und Lesefähigkeit Morphemorientierte Ansätze zur Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten (insbesondere der Lesefähigkeit) sind bislang im deutschsprachigen Raum erstaunlich selten Gegenstand fachdidaktischer Forschung. Dabei bietet sich, wie dargestellt, eine Orientierung an graphematisch-morphologischen Strukturen des Deutschen im Leseprozess geradezu an. Insbesondere die Dekodierfähigkeit, neben der Fähigkeit zur Satzidentifikation sowie der lokalen Kohärenzbildung Teil der basalen Lesefähigkeit (vgl. Rosebrock & Nix 2012), sollte durch derartige Einsichten unterstützt werden. Die Dekodierfähigkeit ist u.a. von der Qualität der im mentalen Lexikon des Lesers verankerten „Wortrepräsentation“ (phonologisch, grammatisch, lexikalisch, graphematisch) abhängig (vgl. Perfetti 2007). Das Wissen über den Aufbau von Wörtern sollte Leserinnen und Lesern deshalb sowohl bei der Wortanalyse als auch bei der Bedeutungserfassung helfen, so dass das Leseverstehen wirkungsvoll unterstützt werden kann, denn die Qualität der Dekodierfähigkeit wird immer wieder als wichtige Komponente des Leseverstehens hervorgehoben (vgl. u.a. Artelt et al. 2001; Ennemoser et al. 2012). Diese Erkenntnisse werden für die Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen im Deutschunterricht bislang kaum berücksichtigt. Die seltenen Studien, die sich mit den Vorteilen beschäftigen, die Einsicht in die Struktur komplexer

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Wörter für den Schriftspracherwerb und seine Entwicklung im Deutschen haben kann, beziehen sich vorwiegend auf den Orthographieerwerb (vgl. Kargl et al. 2008; Walter et al. 2007). Erst allmählich rückt die Betrachtung graphematischmorphologischer Strukturen als Unterstützung im Leseprozess in den Fokus deutschdidaktischer Forschung, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

3.1 Morphologische Orientierung beim Lesen: nationale Studien Eine der wenigen lesebezogenen Studien (Bredel, Noack & Plag 2013) beschäftigt sich mit der Frage, wie gute und weniger gute Leserinnen und Leser mit der Stammkonstanzschreibung umgehen. Bei der statistischen Auswertung der an jungen Erwachsenen (Berufsschülern mit Hauptschulabschluss und Studierenden) erhobenen Daten zeigte sich, dass starke Leserinnen und Leser (im Gegensatz zu schwächeren) sensibel für morphologisch motivierte Schreibungen sind. Erhoben wurden dafür die Reaktionszeit und die Auswertungssicherheit bei der Lösung von drei unterschiedlichen Stimuli: Einzelsätze, die hinsichtlich der Stammschreibungen keine Abweichungen aufweisen, aber grammatisch oder semantisch nicht korrekt sein mussten (*Wir zerstören dem Eimer; *Ich regne.); grammatisch korrekte Einzelsätze mit z.T. abweichenden Stammschreibungen (*FRÜHER KANTE ICH VIELE LEUTE); Satzpaare mit morphologisch abweichenden und korrekten Stammschreibungen wie: *Es schelte an der Tür – Es schellte an der Tür. Ein im Kontext dieses Beitrags zentraler Befund der Untersuchung ist der, dass die starken Leserinnen und Leser bei der Beurteilung der Sätze mit abweichender Stammschreibung langsamer waren als bei der Beurteilung der Sätze mit korrekter Stammschreibung. Bei den schwachen Leserinnen und Lesern ließ sich dagegen kein Unterschied in der Bearbeitungszeit nachweisen. Dieser Befund kann dahingehend interpretiert werden, dass schwache Leserinnen und Leser graphematisch kodierte morphologische Informationen beim Lesen deutlich weniger nutzen als starke Leserinnen und Leser und sich deshalb von abweichenden Stammschreibungen weniger irritieren lassen. Die Beurteilungssicherheit nimmt bei ihnen vor allem dann ab, wenn die graphematische Struktur nach einer morphologischen und nicht (nur) nach einer phonographischsilbischen Auswertung verlangt (vgl. Bredel, Noack & Plag 2013: 211ff.). Erste Ergebnisse einer vorwiegend qualitativ ausgerichteten Studie im Rahmen eines Dissertationsprojekts deuten in eine ähnliche Richtung (vgl. Bangel 2015). Das Projekt geht der Frage nach, inwiefern stärkere und schwächere Leserinnen und Leser zu Beginn der Sekundarstufe I die in der Schrift kodierten Zusammenhänge zwischen Struktur und Bedeutung für die Bedeu-

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tungszuweisung beim Lesen nutzen. Die in zwei Erhebungssettings (1. Wörter in Texten, 2. isoliert präsentierte Wörter) zur Bedeutung von komplexen Wörtern befragten Schülerinnen und Schüler (Jahrgang 5) beziehen sich, zunächst einmal unabhängig von ihren Leseleistungen, in ihren Worterklärungen sehr häufig auf die Wortbildungsstruktur, genauer gesagt, auf das Stammmorphem bzw. das entsprechende Simplex (z.B. müd – müde). Unterschiede zwischen den beiden Gruppen offenbaren sich dann, wenn man die Zugriffe dahingehend vergleicht, ob die Schülerinnen und Schüler bei der Worterklärung bzw. auf Nachfrage explizit auf den Wortstamm als formalen Bestandteil des Wortes verweisen oder ob dieser Zusammenhang eher implizit hergestellt wird und auch auf Nachfrage keine explizite Bezugnahme auf die Wortbildungsstruktur evoziert werden kann.3 Die beiden folgenden Beispiele sollen den Unterschied zwischen implizitem und explizitem Nutzen von in der Wortbildungsstruktur kodierten morphologischen Informationen verdeutlichen:

(1)

explizite Nutzung von morphologisch kodierten Informationen S07: (--) Unermüdlich. I:

Hmhm, (---) was bedeutet das?

S07

(4 sec) Vielleicht müd von müde, (-) dass man nie müde ist oder so?

I:

Ja, genau. Warum glaubst du das?

S07: (--) Weil müd von müde kommt und dann vielleicht so (---) un, (-) also nicht, dass man nicht müde ist.

(2)

implizite Nutzung von morphologisch kodierten Informationen S21: Ertönen.

|| 3 Die Termini ‚explizit‘ und ‚implizit‘ beziehen sich hier auf den in der Äußerung hergestellten formalen Bezug zur Wortbildungsstruktur. Die grundlegende Annahme für diese Unterscheidung besteht in Folgendem: Wenn ein Schüler/eine Schülerin Bestandteile des Zielwortes für seine/ihre Worterklärung nutzt, muss dieser Erklärung eine formale Analyse der Wortbildungsstruktur vorausgegangen sein. Als implizit oder explizit kodierte Äußerungen unterscheiden sich vor allem darin, ob dieser formale Bezug vom Schüler/von der Schülerin nicht nur inhaltlich für die Worterklärung genutzt, sondern darüber hinaus auch expliziert wird. Eine inhaltliche Nähe zu dem in der Sprachdidaktik mit diesem Begriffspaar vornehmlich in Verbindung gebrachten Konstrukt des Sprachwissens ist insofern gegeben, als davon auszugehen ist, dass dem expliziten Verweis auf formale Aspekte der Wortbildungsstruktur ein metasprachliches Wissen zugrunde liegt (zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar ‚explizites/implizites Wissen‘: vgl. u.a. Gornik 2014: 49ff., Raupach 2002).

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I:

Hmhm, was bedeutet das?

S21: Jetzt zum Beispiel, wenn ich jetzt/ also vielleicht, wenn ich jetzt im Musikunterricht bin und ähm ein Instrument spiele und meine Lehrerin sagt „kannst du mir den Ton noch mal ertönen?“ I:

Hmhm, ja, hmhm. (--) Kanntest du das Wort vorher?

S21: Kannte ich nicht. I:

Nee, wie bist du jetzt darauf gekommen, dass es das bedeuten könnte?

S21: (4 sec) Hab ich mir auch vorgestellt. Ich sch/ stell mir einfach die ganzen Wörter einfach so einfach überall/ i/ ich rate.

Die Ergebnisse der Fallanalysen, bezogen auf die in Texten eingebundenen Wörter, zeigen, dass sich die stärkeren Leserinnen und Leser in 60% der Worterklärungen ausschließlich und explizit auf den Zusammenhang zwischen der Wortbildungsstruktur und der Wortbedeutung beziehen, ohne weitere potentielle Informationsquellen (wie den Kotext) zu nutzen. Bei den schwächeren Leserinnen und Lesern ist der Anteil der alleinigen und expliziten Nutzung der Wortbildungsstruktur als Informationsquelle mit 43% der kodierten Worterklärungen deutlich geringer (vgl. Bangel 2015: 135).

3.2 Morphologische Strukturen beim Lesen: internationale Studien Im angloamerikanischen Raum haben Forschungen zur Bedeutung der morphologischen Bewusstheit für die Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen (literacy development) eine lange Tradition (vgl. Chomsky 1970; Templeton & Scarborough-Franks 1985; Adams 1990; Carlisle 2000; Carlisle 2010). Das Konstrukt „morphologische Bewusstheit” wird hier gemeinhin als „conscious awareness of the morphemic structure of words and the ability to manipulate that structure” (Carlisle 1995: 194) verstanden und wird in enger Beziehung zu den weiteren (und häufig synonym gebrauchten) Begriffen language awareness, linguistic awareness, metalinguistic awareness bzw. linguistic consciousness betrachtet. Als Orientierungsgrundlage für diese Begriffe, die im Deutschen mit Termini wie Sprachaufmerksamkeit, Sprachbewusstheit, Sprachbewusstsein übersetzt werden (vgl. Gornik 2014: 46), soll die sehr knappe Definition der „Association for Language Awareness“ stehen, die den häufig gebrauchten Terminus language awareness als explizites Wissen über Sprache und bewusste

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Wahrnehmung und Sensibilität beim Sprachlernen, -lehren und -gebrauch fasst: „Language Awareness can be defined as explicit knowledge about language, and conscious perception and sensitivity in language learning, language teaching and language use“ (http://www.lexically.net/ala/la_ defined.htm). Studien zum Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur morphologischen Analyse von Wörtern und der Entwicklung der Dekodierfähigkeit als Element der basalen Lesefähigkeit konnten nicht nur zeigen, dass diese Kompetenzbereiche eng korrelieren (vgl. Carlisle 2000; Singson et al. 2000), sondern auch, dass die Vorkommenshäufigkeit des Wortstammes einen größeren Einfluss auf die Dekodiergenauigkeit und -geschwindigkeit ausübt als die Vorkommenshäufigkeit des gesamten Wortes (vgl. Carlisle & Katz 2006; Reichle & Perfetti 2003; Taft 2003). Diese Befunde legen eine Dekomposition komplexer Wörter im Worterkennungsprozess nahe. Es gibt jedoch ebenso empirische Belege, die für eine ganzheitliche Wortrepräsentation sprechen (vgl. Butterworth 1983). Inzwischen haben sich Modelle etabliert, die beide Vorstellungen verbinden (vgl. Frauenfelder & Schreuder 1992). Danach sind im mentalen Lexikon sowohl Stämme und Affixe als auch ganze Wörter gespeichert, wobei beim lexikalischen Zugriff beide Wege möglich sind und die schnellere Route „gewinnt“ (vgl. Günther 2004: 1772). Darüber hinaus legen Ergebnisse aus internationalen Interventionsstudien nahe, dass ein Unterricht, der auf das Erkennen und Nutzen morphologischer Strukturen ausgerichtet ist, sich i. d. R. positiv auf die Dekodierfähigkeit und das Erschließen von unbekannten Wörtern auswirkt (vgl. Carlisle 2010; Goodwin & Ahn 2010)4.

3.3 Morphologische Bewusstheit und Sprachhintergrund von Leserinnen und Lesern Von der Analyse der morphologischen Wortstruktur beim Dekodieren scheinen zum einen vor allem gute und erfahrene Leserinnen und Leser zu profitieren: Sie zeichnen sich durch einen raschen, kontextunabhängigen Zugriff auf Wortbedeutungen aus. Zum anderen gibt es Hinweise darauf, dass sich mehrsprachige Leserinnen und Leser in Sprachverwendungssituationen im Vergleich zu anderen Bereichen des Wortwissens stärker auf formalstrukturelle Aspekte des jeweiligen (Schrift-)sprachsystems beziehen können. So konnten Kieffer und

|| 4 Ein ausführlicher Überblick über den Forschungsstand zum Zusammenhang von morphologischer Bewusstheit und Lesefähigkeit ist in Bangel & Müller 2013 zu finden.

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Lesaux (2010) in einer Studie mit 413 Sechstklässlerinnen und -klässlern, die Englisch als Zweitsprache lernen, und 170 monolingual aufwachsenden Sechstklässlerinnen und -klässlern (L1: Englisch) nachweisen, dass der Leistungsvorsprung der L1- gegenüber den L2-Lernerinnen und -Lernern im Bereich der morphologischen Bewusstheit geringer ausfällt als im Bereich des spezifischen Wortwissens (Synonymie, Polysemie, semantische Assoziationen). Ersteres wird in diesem Kontext als „generelles Wortwissen“ deklariert, das sich auf metalinguistisches Wissen bezieht und somit wortübergreifend anwendbar ist (vgl. Kieffer & Lesaux 2010: 348ff.). Dass sich morphologisches Wissen darüber hinaus auch sprachübergreifend als äußerst fruchtbar erweisen kann, konnte u.a. in einer Studie von Ramirez et al. (2009) belegt werden. Anhand einer Stichprobe von insgesamt 97 spanischsprechenden Englischlernerinnen und -lernern (Klasse 4 und 7) konnte nachgewiesen werden, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten im Bereich der morphologischen Bewusstheit vom Spanischen auf das Englische übertragen. Die Ergebnisse lassen darüber hinaus den Schluss zu, dass die in der Erstsprache ausgebildete morphologische Bewusstheit Auswirkungen auf die Dekodierfähigkeit in der Zweitsprache hat (vgl. Ramirez et al. 2009: 337ff.). In diesen und anderen Untersuchungen wird jedoch oftmals nicht berücksichtigt, ob und wie sich die untersuchten mehrsprachigen Probandinnen und Probanden im Hinblick auf die Art des Zustandekommens von Mehrsprachigkeit unterscheiden, denn für die Entwicklung (schrift-)sprachlicher und metasprachlicher Fähigkeiten scheint dies von großer Bedeutung zu sein. So kann anhand der Stichprobenbeschreibungen zwar in der Regel davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Probandinnen und Probanden um Kinder handelt, die über eine „lebensweltliche Mehrsprachigkeit“ (Gogolin 2004) verfügen, sie also, durch das natürliche Umfeld bedingt, mit mehreren Sprachen aufwachsen. Über den Grad der Elaboriertheit der Mehrsprachigkeit liegen allerdings oftmals keine Informationen vor. Als ein zentrales Merkmal einer elaborierten Mehrsprachigkeit kann u.a. die Alphabetisierung in mehr als einer Sprache betrachtet werden (vgl. Fürstenau 2004: 38). Die Differenzierung hinsichtlich des Elaboriertheitsgrades von Mehrsprachigkeit wird in bildungswissenschaftlichen und deutschdidaktischen Kontexten gemeinhin nicht in dieser Form vorgenommen. Es hat sich allerdings im Zusammenhang mit den Large-Scale-Untersuchungen der letzten Jahre durchgesetzt, neben dem Sprachhintergrund die Bildungsnähe der Familie zu erfassen. Für letztere hat sich in verschiedenen Studien die Anzahl der in der Familie befindlichen Bücher als guter Indikator erwiesen (vgl. Bos, Schwippert & Stubbe 2007: 228). Fasst man die Ergebnisse von Korrelationsanalysen zwischen

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Lernleistung, Sprachhintergrund und Bildungsbeteiligung der Familie unter Berücksichtigung theoretischer Annahmen grob zusammen, so ergibt sich mit Blick auf die Chancen auf einen gelingenden Schriftspracherwerb das folgende Bild, das die Aussagen zum Zusammenhang zwischen dem Elaboriertheitsgrad von Mehrsprachigkeit und language awareness zu untermauern vermag:

Deutsch als Muttersprache

Deutsch als Zweitsprache

bildungsnah

+

++

bildungsfern



‒‒

Tab. 1: Chancen auf gelingenden Schriftspracherwerb (vgl. Bredel, Fuhrhop & Noack 2011: 176)

Für didaktische Überlegungen zur Nutzung der morphologischen Transparenz im Deutschen beim Dekodieren kann diese Tabelle folgendermaßen interpretiert werden: Mehrsprachige Lernerinnen und Lerner aus einem eher (schrift-) sprachanregenden familiären Umfeld verfügen über die besten Voraussetzungen, um von einer didaktisch gestützten Orientierung an morphologischen Strukturen in besonderem Maße zu profitieren, wohingegen die familiär bedingte Bildungsferne von mehrsprachig aufwachsenden Kindern im schulischen Schriftspracherwerbsprozess noch weniger ausgeglichen werden kann als bei ihren unter vergleichbaren Bedingungen, aber einsprachig aufwachsenden Mitschülern. Diese Lernenden, die auf weniger anregungsreiche außerschulische Lernumgebungen zurückgreifen können, sollten von einer unterrichtlichen Fokussierung auf Schriftstrukturen, zumindest im Hinblick auf die Entwicklung von Einsicht in Schriftstrukturen, ebenso Vorteile ziehen können. Diese Überlegungen waren Ausgangspunkt für das hier vorzustellende schriftsprachdidaktische Forschungsprojekt, dessen Ziel, Anlage und Ergebnisse, insbesondere im Hinblick auf mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, im Folgenden umrissen werden soll.

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4 Zur Entwicklung der morphologischen Bewusstheit und der Dekodierfähigkeit: Eine unterrichtliche Intervention 4.1 Ziel, Fragestellung und Anlage der Intervention Die Ergebnisse der internationalen Untersuchungen zum Zusammenhang von morphologischen Analysefähigkeiten und dem Dekodieren sowie die nationalen Desiderata in diesem Bereich waren Anlass für die Durchführung einer Interventionsstudie mit vorwiegend leseschwachen Schülerinnen und Schülern aus fünften Klassen, die im Folgenden zunächst vorgestellt werden soll, um dann auf der Grundlage einzelner relevanter Ergebnisse sprachdidaktische Konsequenzen für die Beachtung der morphologischen Bewusstheit im schriftsprachlichen Lernprozess abzuleiten. Forschungsleitend war die Frage, ob Sprachunterricht, der die schriftstrukturelle Analyse komplexer Wörter durch Aufgaben und Materialien ermöglicht, die Entwicklung morphologischer Bewusstheit und basaler Lesefähigkeiten besser unterstützt als ein auf den üblichen (schulbuchorientierten) Materialien und Aufgaben basierender Unterricht, in dem die schriftstrukturellen Regularitäten des Deutschen weniger betont werden. Das Ziel der Intervention bestand demnach in der Verbesserung der morphologischen Bewusstheit und der Dekodierfähigkeit durch die in den Lese- und Rechtschreibunterricht integrierte Arbeit an der Wortbildung. Dazu wurde eine Unterrichtskonzeption mit entsprechendem Material entwickelt, die auf das Lernpotential der eingangs dargestellten phonographischsilbischen und insbesondere morphologischen Regularitäten des deutschen Schriftsystems ausgerichtet ist. Diese Einsicht sollte beim Lesen von Texten im Unterricht angewendet werden. Die Konzeption der Intervention und das Material sind so angelegt, dass sie im regulären Deutschunterricht umgesetzt werden können, so dass mit Blick auf die ökologische Validität eine an den Gegebenheiten der Schulpraxis orientierte und damit nicht standardisierte Intervention angeboten wurde. Folgende Hypothesen sollten überprüft werden: Fünfte Klassen, die über einen Zeitraum von ca. 14 Wochen nach einem an der phonographischsilbischen und wortbildungsmorphologischen Wortstruktur orientierten Konzept mit entsprechenden Aufgaben und Materialien unterrichtet werden,

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1.

2.

erzielen nach der Intervention in dem eingesetzten Test zur Erfassung der morphologischen Bewusstheit (Wortfamilien bilden, Wortstämme identifizieren, Wortbausteine segmentieren) signifikant höhere Leistungszuwächse als Klassen aus der Kontrollgruppe, die an Wortbildungsphänomenen ohne besondere Berücksichtigung der Schriftstruktur gearbeitet haben. erreichen beim Test zur Erfassung der Dekodierfähigkeit bessere Ergebnisse als die Klassen aus der Kontrollgruppe.

Die Intervention wurde im Schuljahr 2012/2013 in 13 Klassen des Jahrgangs 5 aus Hamburger Stadtteilschulen mit einer nach dem Sozialindex (KESS-Index) „eher stark“ bis „tendenziell belasteten sozialen Lage der Schülerschaft“ durchgeführt (vgl. Bos et al. 2010). Als Kontrollgruppe dienten elf Klassen mit vergleichbaren sozioökonomischen Voraussetzungen. Die Deutschlehrkräfte der Interventionsklassen führten den Unterricht auf der Grundlage von Fortbildungen und Materialien, die u.a. Aufgaben zu phonographisch-silbischen und wortbildungsmorphologischen Regularitäten des deutschen Schriftsystems enthielten (vgl. Müller 2010; vgl. Abschnitt 4.2), in durchschnittlich 90 Minuten pro Woche selbst durch. Da die Bedingungen in den einzelnen Klassen sehr heterogen waren, bestand die Aufgabe der Lehrkräfte darin, die Interventionsinhalte an die Gegebenheiten in ihrer Klasse anzupassen. Die Lehrkräfte der Kontrollklassen wurden über das Thema (Wortschreibung, Wortbildung, Lesefähigkeit) und die zeitliche Struktur der Intervention ebenfalls informiert, so dass sie sich hinsichtlich der eigenen Unterrichtsschwerpunkte daran orientieren konnten. Die inhaltlichen Schwerpunkte des Unterrichts in den Kontrollklassen während des Interventionszeitraums wurden durch den Einsatz von Lehrerfragebögen kontrolliert. Alle elf beteiligten Lehrkräfte der Kontrollklassen gaben an, dass mit dem Schulbuch und zusätzlichen Materialien zur Wortbildung (Wortstämme, Komposita, Derivationen, Wortfamilien) ca. eine Stunde pro Woche gearbeitet wurde. Darüber hinaus wurde mindestens eine Stunde in der Woche für das Lesenlernen genutzt. Die Arbeit in den Interventionsklassen wurde von geschulten studentischen Hilfskräften begleitet, die mit Hilfe von Beobachtungsbögen die Treatmentintegrität überprüften. Vor der Intervention wurden in einem Fragebogen für die Untersuchung relevante Hintergrunddaten (Alter, Geschlecht, Sprachstatus, Bildungshintergrund, gemessen an der Anzahl der im Haushalt befindlichen Bücher) von den Schülerinnen und Schülern beider Gruppen festgehalten. Leistungsdaten wurden zu drei Zeitpunkten erhoben (als Vor-, Nach- und verzögerter Nachtest). So wurde die Dekodierfähigkeit mit einem leicht modifizierten

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standardisierten Test gemessen (Modifikation zum Wortverständnistest ELFE 1‒6). In diesem Test muss zu einem Bild das richtige Wort aus einem Angebot von vier Distraktoren unterstrichen werden (z.B. Zielwort: Briefmarke; weitere Distraktoren: Brieftasche, Briefträger, Briefpapier). Die Bearbeitungszeit beträgt zwei Minuten. Da der Fokus der Studie auf der Verarbeitung von komplexen Wörtern liegt, wurde der Test so verändert, dass die 26 Items mit komplexen Wortformen übernommen wurden und das Instrument um 37 eigene Items mit komplexen Wörtern ergänzt wurde. Zur Erfassung der morphologischen Bewusstheit liegt noch kein standardisiertes Instrument vor, so dass ein Test entwickelt werden musste, der aus drei Aufgabenkomplexen besteht: Aufgabe 1: Wortfamilien bilden: Es sollten jeweils fünf Wörter einer Wortfamilie zu drei vorgegebenen Wörtern aufgeschrieben werden (z.B.: Freund: Freundschaft, Freundin, anfreunden, freundlich, unfreundlich), Aufgabe 2: Wortstämme in komplexen Wörtern identifizieren: Wortstämme in zehn vorgegebenen Wörtern unterstreichen (z.B. Mannschaft, mutig), Aufgabe 3: Komplexe Wörter in ihre morphologischen Bestandteile segmentieren: Wortbausteine in zehn vorgegebenen Wörtern durch einen Strich abtrennen (z.B. Les/er, un/er/reich/bar). Das Wortmaterial wurde so ausgewählt, dass 11 von insgesamt 20 Morphemgrenzen nicht mit den Silbengrenzen übereinstimmen (z.B. schuld/ig). Die Bearbeitungszeit ist nicht vorgegeben, sondern sollte ausreichend sein. Sie beträgt im Durchschnitt 20-25 Minuten. Zu dem Test gibt es zwei Versionen mit unterschiedlichem, im Schwierigkeitsgrad ähnlichem Wortmaterial, die abwechselnd eingesetzt wurden. Die Subskalen (Wortfamilien, Wortstämme, Wortbausteine) weisen folgende Korrelationen auf: Wortfamilien und Wortstämme: r = .22 (p < .001), Wortfamilien und Wortbausteine: r = .14 (p = .02), Wortstämme und Wortbausteine: r = .29 (p < .001). Diese recht schwachen Korrelationen sowie die nicht in allen Bereichen zufriedenstellenden internen Konsistenzen (vgl. Bangel, Müller & Knigge 2015) ergeben sich daraus, dass sich die Anforderungen beim Lösen der Teilaufgaben unterscheiden: Für die Bildung von Wortfamilien wird kein explizites schriftstrukturelles Wissen, sondern vor allem semantisch-lexikalisches Wissen benötigt. Die Identifikation von Wortbausteinen setzt schriftsprachanalytische Fähigkeiten voraus, die die Unterscheidung von silbischen und morphologischen Wortstrukturen einschließen – und somit den Einsatz von formalsprachlichen Operationen (wie Segmentieren von komplexen Wörtern in Stämme und Affixe sowie Abstrahieren von der gesprochenen Wortform) verlangt. Für die Identifikation von Wortstämmen muss ebenfalls eine

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Schriftstrukturanalyse erfolgen, hier mit Blick auf das semantische Zentrum des Wortes. Um diese unterschiedlichen Fähigkeitsdimensionen des Konstrukts ‚morphologische Bewusstheit‘ angemessen berücksichtigen zu können, wurde in den Varianzanalysen zur Überprüfung der Wirksamkeit der Intervention mit den Subskalen gerechnet. Da fünf der Interventionsklassen aufgrund unzureichender Erfüllung der Treatmentintegrität aus der Analyse herausgenommen werden mussten (vgl. Bangel & Müller 2014, Bangel, Müller & Knigge 2015), umfasst der Datensatz, der den hier dargestellten Analysen zugrundeliegt, Testwerte von 239 Schülerinnen und Schülern (109 Jungen und 130 Mädchen).5 Aus den acht Interventionsklassen kann auf Daten von 110 Schülerinnen und Schülern (49 Jungen und 61 Mädchen) und auf 129 vollständige Datensätze (60 Jungen und 69 Mädchen) aus den elf Kontrollklassen zurückgegriffen werden. Das Durchschnittsalter der Mädchen und Jungen liegt bei 10,3 Jahren. Ungefähr ein Drittel der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe gab an, dass in ihren Familien ausschließlich eine andere Sprache oder neben Deutsch noch eine andere Sprache gesprochen wird, in der Kontrollgruppe traf dies auf knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler zu.6 Damit unterscheiden sich die beiden Gruppen signifikant in der Variable ‚Sprachstatus‘ (χ² (239) = 9.15, p = .002). Darüber hinaus liegen auch für die Variable ‚Anzahl der Bücher zu Hause‘ signifikante Gruppenunterschiede vor (χ² (239) = 6.96, p = .008). Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe gab an, weniger als 100 Bücher zu Hause zu besitzen, in der Kontrollgruppe galt dies für ca. zwei Drittel der Lernenden. Diese Gruppenunterschiede im Sprachstatus sowie im Bildungshintergrund wurden im Rahmen einer Kovarianzanalyse bei der Wirksamkeitsprüfung der

|| 5 Da in den hier dargestellten Analysen erstmalig die Variable „Anzahl der Bücher zu Hause“ in die statistische Auswertung einbezogen wurde, weicht die Anzahl der einbezogenen Schülerinnen und Schüler leicht von der in bereits publizierten Ergebnisdarstellungen ab (vgl. Bangel, Müller & Knigge 2015). Das ist darauf zurückzuführen, dass uns von insgesamt 18 Schülerinnen und Schülern keine Angaben zu dieser Variablen vorliegen. Die Gesamtergebnisse bleiben allerdings auch nach dieser leichten Veränderung des Datensatzes unverändert. 6 Zur Erhebung des Sprachstatus‘ sollten die Schülerinnen und Schüler angeben, welche Sprache sie am häufigsten mit einzelnen Familienmitgliedern sprechen. Der größte Teil der mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schüler gab an, zu Hause mit mindestens einem Familienmitglied überwiegend Deutsch zu sprechen. In der Interventionsgruppe liegt der Anteil der mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schüler, die ausschließlich eine andere Sprache als Deutsch in der Familie sprechen, bei 29,4%. In der Kontrollgruppe ist dieser Anteil mit 11,47% geringer. In den Analysen wird lediglich zwischen zwei Gruppen unterschieden: Familiensprache: ausschließlich Deutsch; Familiensprache: andere Sprache (+ Deutsch).

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Intervention berücksichtigt (zur Anlage der Intervention und zur Durchführung der Erhebungen vgl. ausführlicher: Bangel, Müller & Knigge 2015).

4.2 Inhalte des Unterrichts während der Intervention Im Mittelpunkt des Unterrichts stand ein für die Intervention entwickeltes Schülerarbeitsheft (in Anlehnung an Müller 2010), das Lernaufgaben zur Erfassung der phonographisch-silbischen und morphologischen Regularitäten im Kernbereich der Wortschreibung (Teil A) und Aufgaben zur Analyse, Synthese und Erklärung von komplexen Wörtern (Teil B) anbietet. Die Aufgaben sind so konzipiert, dass sie i. d. R. zum Reflektieren über (schrift-)sprachliche Strukturen anregen, da sie häufig verlangen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Lösungsansätze begründen (vgl. Aufgabe 11 (Teil A) im Anhang). Gerade in diesen Aufgabenteilen geht es weniger um richtige und falsche Lösungen, sondern darum, dass die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihres Schriftstrukturwissens zu plausiblen Begründungen kommen. Darüber hinaus sind im Heft altersgemäße literarische Texte und Sachtexte abgedruckt, die zahlreiche komplexe Wörter, an denen bei der unterrichtlichen Beschäftigung mit den Texten gearbeitet werden sollte, enthalten (Teil C). Die Begründung für dieses Vorgehen liefern die eingangs vorgestellten Auffälligkeiten des deutschen Schriftsystems, die entscheidend zu seiner Leserfreundlichkeit beitragen: Auch wenn im Mittelpunkt der Intervention die Arbeit an der Wortbildungsstruktur geschriebener Wörter und damit die Entwicklung der Fähigkeit zur schnellen Erfassung morphologisch komplexer Wörter stehen sollte, bilden im ersten Teil des Arbeitsheftes prototypische native Wörter, also trochäische Zweisilber des Kernbereichs, die Analysegrundlage. Der auf dieser Grundlage mögliche Einblick in die basalen Schriftstrukturen nativer Wörter im phonographisch-silbischen Bereich ist eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Morphemkonstanz, da phonographisch-silbische Regularitäten wegen der Reichweite des morphologischen Prinzips im deutschen Schriftsystem i. d. R. sowohl an wortgebildete als auch an flektierte Wörter vererbt werden. Phonographisch-silbische Regularitäten beschreiben die grundlegenden Zusammenhänge zwischen segmentalen Struktureinheiten im Gesprochenen und im Geschriebenen, so dass Lerner den Zusammenhang zwischen beiden sprachlichen Repräsentationsformen vertiefen und beim Lesen und Schreiben nutzen können. Morphologische Regularitäten bilden wegen ihrer Unabhängigkeit von der lautlichen Seite der Sprache eine sehr abstrakte Lerngröße. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, dass die morphologische Konstanz vor allem das stille Lesen unterstützt und dass phonographisch-silbische Regu-

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laritäten morphologisch konserviert werden. Erst so können ihnen die leserbezogenen Vorzüge des deutschen Schriftsystems deutlich werden (Aufgabenbeispiel aus Teil A: vgl. Anhang). Darüber hinaus ist ein Verständnis für die morphologische Transparenz grundlegend, um die spezifischen Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen im Dekodierprozess nutzen zu können. Diese stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils des Schülerarbeitsheftes. Dieser inhaltliche Schwerpunkt sollte den zeitlich größten Raum in der Intervention einnehmen. Das Schülerarbeitsheft enthält dementsprechend Aufgaben zu wichtigen Wortbildungsarten (Komposition und Derivation) im Deutschen. In Bezug auf das (schrift-)sprachliche Lernen ist für die Komposition als der prototypischen und produktivsten Wortbildungsmöglichkeit für Substantive z.B. relevant, wie Stämme zu Substantiven komponiert werden können, welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen und welche Auswirkung auf die Bedeutungsdifferenzierung des Grundwortes das Hinzutreten eines Bestimmungswortes hat (Heft – Arbeitsheft – Schülerarbeitsheft). Das Wissen über Wortstämme und die unterschiedlichen semantischen Beziehungen, die zwischen den Stammformen eines zusammengesetzten Wortes bestehen können, sollte in der Intervention die Grundlage dafür sein, um Sprachstrukturwissen zu entwickeln und für die Ausführung basaler Lesefähigkeiten (Segmentierung und Bedeutungszuweisung) zu nutzen. Darüber hinaus bilden das Erkennen der Bedeutungsnuancierung, die i. d. R. durch Präfigierung (insbesondere bei Verben: schreiben – beschreiben – verschreiben – abschreiben) erfolgen kann, und das Erkennen eines Wortartwechsels durch Suffigierung (leiten – Leitung) wichtige Lernziele in der Arbeit mit den Aufgaben aus diesem Teil des Heftes. Gerade bei hochkomplexen Wortformen, die sowohl komponierte als auch derivierte Bestandteile enthalten (Gleichgültigkeit, Anstrengungsbereitschaft), ist es für das Verstehen von Texten grundlegend, dass Lernende Sprachstrukturwissen zu nutzen lernen, um sich die Bedeutung von komplexen Wortformen zu erschließen. Insbesondere Leserinnen und Leser mit einer geringen Wortschatzbasis müssen entsprechende Analysefähigkeiten entwickeln, um Struktur und Bedeutung von Wörtern erschließen zu können und sich auf der Grundlage von Analogiebildungen und von schlussfolgernden Prozessen immer neue Wörter lesend aneignen zu können (Aufgabenbeispiele aus Teil B: vgl. Anhang). Im dritten Teil des Arbeitsheftes wurden den Lernenden deshalb solche literarischen Texte und Sachtexte zur Verfügung gestellt, die viele komplexe Wörter enthalten. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung sollten diese Wörter für die Arbeit an Wortstrukturen genutzt werden, indem z.B. gemeinsam mit der

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Klasse oder in Kleingruppen besonders schwierige oder lange Wörter gesammelt und wortbildungsstrukturell untersucht wurden, um so die Bedeutung dieser Wörter zu erfassen.

4.3 Ergebnisse der Intervention Um die Wirksamkeit der Intervention auf die vier abhängigen Variablen (Wortfamilien, Wortstämme, Wortbausteine und Dekodierfähigkeit) zum zweiten und dritten Testzeitpunkt zu prüfen, wurde eine multivariate Kovarianzanalyse (MANCOVA) gerechnet. Das Treatment wurde als between-subject-Faktor modelliert und die Vortestwerte auf den abhängigen Variablen mit signifikanten Unterschieden zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe wurden als Kovariaten berücksichtigt. Darüber hinaus wurden die gesprochene(n) Sprache(n) zu Hause (Sprachstatus) sowie die Anzahl der Bücher zu Hause (Bildungshintergrund) als Kovariaten statistisch kontrolliert. So konnte gewährleistet werden, dass Unterschiede zwischen den Gruppen vor der Intervention für die gefundenen Effekte des Treatments keine Rolle spielen. In Tab. 2 sind die Mittelwerte, Standardabweichungen und Effektstärken (Vortest (t1) → Nachtest (t2); Nachtest (t2) → verzögerter Nachtest (t3); Vortest (t1) → verzögerter Nachtest (t3)) der Interventions- und Kontrollgruppe zu den drei Testzeitpunkten zu den Kriteriumsvariablen Wortfamilien, Wortstämme, Wortbausteine und Dekodierfähigkeit dargestellt. Die angegebenen Effektstärken (d) beziehen sich hier nur auf die Lernzuwächse innerhalb der Gruppe (Interventions- bzw. Kontrollgruppe) und nicht auf den Interventionseffekt.

Interventionsgruppe (n = 110) MW (SD)

Dekodierfähigkeit

t1

25.93 (5.82)

t2

29.79 (7.87)

t3

Wortfamilien

t1

d t1 → t2

d t1 → t3

MW (SD) 24.79 (6.39)

0.55***

27.33 (7.47)

0.66***

35.15 (8.24) 8.02 (3.20)

d t2 → t3

Kontrollgruppe (n = 129) d t1 → t2

0.28**

7.80 (3.25)

d t1 → t3

0.36*** 0.63***

32.24 1.29*** (8.09) 0.29*

d t2 → t3

1.02*** 0.00

0.33**

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 95

Interventionsgruppe (n = 110) MW (SD) (max. 15 Punkte)

t2 t3

t1 Wortstämme t2 (max. 10 Punkte) t3

Wortbausteine (max. 25 Punkte)

d t1 → t2

9.00 (3.49)

d t2 → t3 0.00

d t1 → t3

Kontrollgruppe (n = 129) MW (SD) 7.80 (2.62)

8.97 (3.46)

8.78 (2.67)

5.95 (2.36)

6.34 (2.39)

7.98 (1.86)

0.95*** -0.02

6.49 (2.37)

7.93 (1.87)

7.09 0.93*** (2.17)

t1

8.16 (4.01)

9.74 (4.19)

t2

9.89 (4.43)

t3

10.47 (4.92)

0.40** 0.12

d t1 → t2

8.98 (4.11) 10.16 0.51*** (4.49)

d t2 → t3

d t1 → t3

0.37**

0.06 0.26* 0.32**

-0.18 0.27** 0.09

Anmerkung: Konventionen nach Cohen: d = 0.2 (kleiner Effekt), d = 0.5 (mittlerer Effekt), d = 0.8 (großer Effekt) (vgl. Bortz & Döring 2006, S. 606), *p < .05, **p < .01, ***p < .001 Tab. 2: Mittelwerte (MW), Standardabweichungen (SD) und Effektstärken (d) der Vor-, Nachund verzögerten Nachtestmessung

Tab. 2 zeigt, dass sich die Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe während des Interventionszeitraums (t1 → t2) sowohl in der Dekodierfähigkeit als auch in allen drei Bereichen der morphologischen Bewusstheit signifikant verbessert haben. Der größte Lernfortschritt wurde im Identifizieren von Wortstämmen erreicht. Diese Fortschritte konnten bis zum dritten Messzeitpunkt erhalten bleiben bzw. in den Bereichen Dekodierfähigkeit und Wortbausteine segmentieren noch weiter ausgebaut werden. Für die Kontrollgruppe zeigt sich ein ähnliches Bild bezüglich der Dekodierfähigkeit. Für die morphologische Bewusstheit lassen sich für diese Gruppe im Interventionszeitraum keine Lernfortschritte feststellen. Vom ersten zum dritten Messzeitpunkt sind für die Kontrollgruppe kleine Effekte in den Variablen Wortfamilien bilden und Wortstämme identifizieren nachweisbar.

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Unter Berücksichtigung der Kovariaten zeigen sich im Gruppenvergleich zum zweiten Testzeitpunkt signifikante Interventionseffekte für alle drei Subskalen der morphologischen Bewusstheit: Wortfamilien (F(1, 233) = 4.26, p = .04, η² 7 = .18), Wortstämme (F(1, 233) = 24.54, p < .001, η² = .09) und Wortbausteine (F(1, 233) = 4.28, p = .04, η² = .02). Zum dritten Testzeitpunkt ist nur noch der Effekt für die Variable Wortstämme signifikant (F(1, 233) = 11.46, p = .001, η² = .05). Für die Dekodierfähigkeit ergibt sich sowohl zum zweiten als auch zum dritten Testzeitpunkt kein signifikanter Effekt der Intervention. Diese Ergebnisse wurden bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert (vgl. Bangel, Müller & Knigge 2015). Schwerpunkt in diesem Beitrag bilden vertiefende Analysen mit Blick auf den Sprachstatus der Schülerinnen und Schüler (gemessen an der/den gesprochenen Sprache/n zu Hause). Vor dem Hintergrund der empirisch gestützten Annahme, dass mehrsprachig aufwachsende Lernerinnen und Lerner, vor allem im Vergleich zu ihren oftmals weniger gut ausgebildeten spezifischen Wortschatzkenntnissen, sich durch eine besondere Sensibilität in Bezug auf formal-sprachliche Aspekte auszeichnen, liegt die Hypothese nahe, dass diese Schülerinnen und Schüler von einem an der Schriftstruktur ausgerichteten Lernangebot zur Entwicklung der morphologischen Bewusstheit (bzw. der Sprachbewusstheit i. e. S.) in besonderem Maße profitieren. Ob bzw. inwiefern das Kriterium Sprachstatus Auswirkungen auf die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler unserer Stichprobe in den Bereichen morphologische Bewusstheit und Dekodierfähigkeit hat, sollen die folgenden Analysen zeigen. Tab. 3 enthält die Testergebnisse der Schülerinnen und Schüler, getrennt nach Sprachstatus („Familiensprache: ausschließlich Deutsch“/„Familiensprache: andere Sprache (+ Deutsch)“):

|| 7 Konventionen nach Cohen: η² = .01 (kleiner Effekt), η² = .06 (mittlerer Effekt), η² = .14 (großer Effekt).

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Interventionsgruppe Deutsch

andere Sprache (+ Deutsch) (n = 31) MW SD

Deutsch (n = 79) MW SD

andere Sprache (+ Deutsch) (n = 31) MW SD

t1 26.62 (5.88)

24.16 (5.33)

26.74 (6.17)

22.62 (5.97)

t2 30.62 (7.84)

27.68 (7.65)

29.69 (7.07)

24.69 (7.05)

t3 35.80 (8.04)

33.52 (8.63)

34.50 (8.53)

29.72 (6.80)

t1 8.08 (3.33)

7.87 (2.89)

7.44 (3.39)

8.20 (3.07)

t2 9.35 (3.67)

8.10 (2.86)

8.29 (2.62)

7.25 (2.52)

t3 9.08 (3.31)

8.71 (3.85)

9.32 (2.60)

8.16 (2.63)

t1 6.19 (2.24)

5.35 (2.58)

6.34 (2.51)

6.34 (2.26)

t2 8.03 (1.82)

7.87 (1.99)

6.44 (2.72)

6.54 (1.93)

t3 7.91 (1.79)

7.97 (2.08)

7.22 (2.02)

6.93 (2.34)

t1 8.67 (3.96)

6.87 (3.91)

9.91 (4.02)

9.56 (4.40)

t2 9.97 (4.69)

9.68 (3.77)

8.76 (4.33)

9.21 (3.87)

t3 10.20 (5.02)

11.16 (4.64)

10.87 (4.23)

9.36 (4.67)

(n = 79) MW SD Dekodierfähigkeit

Wortfamilien (max. 15 Punkte)

Wortstämme (max. 10 Punkte)

Wortbausteine (max. 25 Punkte)

Kontrollgruppe

Tab. 3: Testergebnisse, getrennt nach „Sprachstatus“

In der Gesamtstichprobe unterscheiden sich die Lernausgangslagen dieser beiden Subgruppen signifikant in der Variable Dekodierfähigkeit zugunsten der

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Schülerinnen und Schüler, die angegeben haben, zu Hause ausschließlich Deutsch zu sprechen (t(237) = 4.48, p < .001, d = 0.59). Diese Gruppenunterschiede in Abhängigkeit vom Sprachstatus sind auch bei separater Betrachtung der Interventions- und Kontrollgruppe zu beobachten (IG: t(108) = 2.02, p = .04, d = 0.43; KG: t(127) = 3.83, p < .001, d = 0.68). Die Kovarianzanalyse, bezogen auf die Gesamtgruppe, zeigt einen signifikanten Unterschied in der Lernentwicklung der beiden Subgruppen in der Variable Wortfamilien zum zweiten Testzeitpunkt, ebenfalls zugunsten der Schülerinnen und Schüler mit ausschließlich Deutsch als Familiensprache (F(1, 231) = 5.13, p = .02, η² = .02). Beim Vergleich der Lernentwicklungen der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe unter Berücksichtigung des Sprachstatus‘ zeigt sich ein signifikanter Gruppenunterschied in der Variable Segmentieren von Wortbausteinen zum dritten Messzeitpunkt zugunsten der Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Sprache (+ Deutsch) als Familiensprache (F(1, 104) = 5.32, p = .02, η² = .05). In der Kontrollgruppe ergibt sich ein umgekehrtes Bild: Die Schülerinnen und Schüler mit ausschließlich Deutsch als Familiensprache entwickeln sich vom ersten zum dritten Messzeitpunkt gegenüber der anderen Gruppe (andere Sprache (+ Deutsch)) signifikant besser in der Variable Wortbausteine (F(1, 123) = 4.07, p = .04, η² = .03). Die Überlegenheit dieser Subgruppe innerhalb der Kontrollgruppe zeigt sich auch in der Variable Wortfamilien zum zweiten und dritten Messzeitpunkt (t2: F(1, 123) = 4.65, p = .03, η² = .04; t3: F(1, 123) = 5.13, p = .02, η² = .04). Auch in der Dekodierfähigkeit entwickeln sich die Schülerinnen und Schüler der Kontrollgruppe mit ausschließlich Deutsch als Familiensprache von t1 zu t2 sichtbar besser als die mehrsprachig aufwachsenden Lerner. Der Unterschied liegt mit 5% Irrtumswahrscheinlichkeit allerdings knapp über dem Signifikanzniveau (F(1, 123) = 3.9, p = .05, η² = .03). Betrachtet man darüber hinaus die Wechselwirkung zwischen den Intersubjektfaktoren Sprachstatus und Treatment, zeigt sich auch hier ein signifikanter Unterschied in der Variable Wortbausteine zum dritten Messzeitpunkt (F(1, 231) = 8.77, p = .003, η² = .04). Die Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe mit einer anderen Familiensprache (+ Deutsch) machen deutlich größere Lernfortschritte im Segmentieren von Wortbausteinen als die entsprechende Subgruppe in den Kontrollklassen. Wenn wir zusätzlich zum Sprachstatus die Bildungsnähe der Herkunftsfamilie für eine Gruppenbildung heranziehen, dann setzt sich unter Bezug auf das Modell von Bredel et al. 2011: 176 (vgl. Tab. 1) unsere Untersuchungsgruppe wie folgt zusammen:

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 99

Familiensprache: ausschließlich Deutsch

Familiensprache: andere Sprache (+ Deutsch)

mehr als 100 Bücher (eher bildungsnah)

A 83 (IG: 48, KG: 35)

C 19 (IG: 9, KG: 10)

weniger als 100 Bücher (eher bildungsfern)

B 65 (IG: 31, KG: 33)

D 72 (IG: 22, KG: 51)

Tab. 4: Verteilung der Schülerinnen und Schüler nach den Kriterien Sprachstatus und Bildungshintergrund (IG = Interventionsgruppe, KG = Kontrollgruppe)

Folgt man dieser „vergröberten Perspektive“ (ebenda) im Hinblick auf die Chancen für einen gelingenden Schriftspracherwerb, gehören ca. 45% der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe zur Gruppe mit (bezogen auf diese beiden Kriterien) recht guten Bildungsvoraussetzungen (mehr als 100 Bücher + Familiensprache: ausschließlich Deutsch). Von den Schülerinnen und Schülern der Kontrollgruppe gehört nur ca. ein Drittel zu dieser Gruppe. Die Lernenden mit den vermeintlich besten Bildungsvoraussetzungen (mehr als 100 Bücher + andere Sprache (+ Deutsch)) stellen in beiden Gruppen mit Abstand die kleinste Gruppe dar. Über 50% der Schülerinnen und Schüler der Kontrollgruppe lassen sich dagegen der Gruppe mit den vermeintlich schlechtesten Bildungsvoraussetzungen (weniger als 100 Bücher + andere Sprache (+ Deutsch) zuordnen. In der Interventionsgruppe trifft dies nur auf ca. 20% der Schülerinnen und Schüler zu. Tab. 5 zeigt die Ergebnisse der Interventions- und Kontrollgruppe, jeweils getrennt nach Subgruppen, im Hinblick auf die Kombination der Hintergrundvariablen Sprachstatus und Bildungshintergrund (Anzahl der Bücher).

Interventionsgruppe (n = 110)

Dekodierfähigkeit

Kontrollgruppe (n = 129)

AIG (n=48) MW SD

BIG (n=31) MW SD

CIG (n=9) MW SD

DIG (n=22) MW SD

AKG (n=35) MW SD

BKG (n=33) MW SD

CKG (n=10) MW SD

DKG (n=51) MW SD

t1

26.77 (6.51)

26.39 (4.85)

26.78 (4.05)

23.09 (5.50)

28.14 (6.80)

25.24 (5.12)

25.00 (6.84)

22.16 (5.74)

t2

30.71 (8.45)

30.48 (6.93)

30.33 (8.81)

26.59 (7.05)

31.23 (7.70)

28.06 (6.04)

27.50 (5.72)

24.14 (7.20)

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Interventionsgruppe (n = 110)

Kontrollgruppe (n = 129)

AIG (n=48) MW SD

BIG (n=31) MW SD

CIG (n=9) MW SD

DIG (n=22) MW SD

AKG (n=35) MW SD

BKG (n=33) MW SD

CKG (n=10) MW SD

DKG (n=51) MW SD

t3

36.19 (8.67)

35.19 (7.06)

37.22 (8.07)

32.00 (8.56)

36.49 (9.48)

32.48 (6.98)

31.50 (6.50)

29.37 (6.86)

t1

8.10 (3.72)

8.03 (2.67)

8.78 (3.07)

7.50 (2.80)

8.63 (3.43)

6.18 (2.89)

9.30 (2.62)

7.98 (3.12)

t2

9.63 (4.10)

8.94 (2.88)

9.11 (2.80)

7.68 (2.85)

8.86 (2.59)

7.70 (2.56)

7.60 (3.37)

7.18 (2.35)

t3

8.83 (3.28)

9.45 (3.38)

10.22 (2.99)

8.09 (4.05)

9.80 (2.72)

8.82 (2.41)

8.10 (3.31)

8.18 (2.52)

Wortstämme t1 (max. 10 Punkte) t2

6.04 (2.16)

6.42 (2.37)

6.67 (2.06)

4.82 (2.63)

6.23 (2.89)

6.45 (2.07)

7.10 (1.10)

6.20 (2.40)

7.90 (1.77)

8.23 (1.91)

8.22 (2.16)

7.73 (1.95)

6.83 (2.59)

6.03 (2.84)

6.90 (1.96)

6.47 (1.94)

t3

7.63 (1.85)

8.35 (1.64)

8.78 (1.20)

7.64 (2.30)

7.46 (2.13)

6.97 (1.89)

7.60 (2.54)

6.80 (2.30)

t1

7.58 (3.72)

10.35 (3.79)

9.89 (3.98)

5.64 (3.21)

10.11 (3.82)

9.70 (4.28)

9.10 (4.97)

9.65 (4.33)

t2

9.42 (4.66)

10.84 (4.68)

10.44 (3.64)

9.36 (3.86)

8.66 (4.53)

8.88 (4.17)

8.00 (2.74)

9.45 (4.04)

t3

9.60 (5.17)

11.13 (4.71)

13.78 (4.08)

10.09 (4.51)

11.91 (4.00)

9.76 (4.24)

9.00 (4.19)

9.43 (4.79)

Wortfamilien (max. 15 Punkte)

Wortbausteine (max. 25 Punkte)

Anm.: Gruppe A = Deutsch + mehr als 100 Bücher, Gruppe B = Deutsch + weniger als 100 Bücher, Gruppe C = andere Sprache (+ Deutsch) + mehr als 100 Bücher, Gruppe D = andere Sprache (+Deutsch) + weniger als 100 Bücher Tab. 5: Testergebnisse, getrennt nach „Bildungshintergrund“ + „Sprachstatus“

Mit Blick auf die Gesamtstichprobe unterscheiden sich die Subgruppen (s. Tab. 4) auch nach Berücksichtigung einer Bonferroni-Korrektur signifikant in den Lernausgangslagen in der Dekodierfähigkeit (F(3, 235) = 9.42, p < .001). Die Schülerinnen und Schüler der Gruppen Ages und Bges weisen signifikant bessere Leistungen in der Dekodierfähigkeit zu t1 (Ages: MW = 27.35, SD = 6.63; Bges: MW = 25.80, SD = 4.98) auf als die Schülerinnen und Schüler der Gruppe Dges (MW = 22.44, SD = 5.64; Ages – Dges: p < .001, d = 0.80; Bges – Dges: p = .006, d = 0.63). Beim

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 101

Vergleich der Lernausgangslagen, getrennt nach Interventions- und Kontrollgruppe, zeigt sich ein anderes Bild: Die Subgruppen der Interventionsgruppe unterscheiden sich signifikant in der Variable Wortbausteine zu t1 (F(3, 106) = 8.23, p < .001). Gruppe BIG weist hier höhere Leistungen auf als die Gruppen AIG (p = .008, d = 0.73) und DIG (p < .001, d = 1.3). In der Kontrollgruppe sind signifikante Unterschiede zwischen den Subgruppen in den Bereichen Dekodierfähigkeit (F(3, 125) = 7.01, p < .001) und Wortfamilien bilden (F(3, 125) = 4.59, p = .004) feststellbar. Gruppe AKG weist in der Dekodierfähigkeit signifikant höhere Werte auf als Gruppe DKG (p < .001, d = 0.97). In der Variable Wortfamilien bilden haben die Gruppen AKG und CKG signifikant höhere Werte als die Gruppe BKG (AKG – BKG: p = .01, d = 0.77; CKG – BKG: p = .04, d = 1.15). Um die Interventionseffekte in Abhängigkeit vom Zusammenspiel zwischen Bildungshintergrund und Sprachstatus zu überprüfen, wurde eine multivariate Kovarianzanalyse (MANCOVA) gerechnet. Das Treatment und die Kombinationsvariable Anzahl der Bücher + Sprachstatus wurden als between-subjectFaktoren modelliert und die Vortestwerte aller abhängigen Variablen wurden als Kovariaten berücksichtigt. Mit Blick auf die Lernentwicklung (t1 → t2, t1 → t3) der Gesamtgruppe, bezogen auf alle abhängigen Variablen, lässt sich kein signifikanter Unterschied zwischen den vier Subgruppen feststellen. Auch bei separater Betrachtung der Lernentwicklungen der Interventionsgruppe und der Kontrollgruppe zeigen sich für keine der abhängigen Variablen signifikante Unterschiede in den Subgruppen. Betrachtet man die Wechselwirkung zwischen den Intersubjektfaktoren Bildungshintergrund + Sprachstatus und Treatment, offenbart sich ein signifikanter Unterschied in der Variable Wortbausteine zum dritten Messzeitpunkt (F(3, 227) = 4.17, p = .007, η² = .05). Die Schülerinnen und Schüler der Gruppe CIG weisen hier signifikant höhere Lernentwicklungen auf als die Schülerinnen und Schüler der Gruppe CKG (F(1, 13) = 8.74, p = .011, η² = .4). Es zeigt sich, dass die Gruppe mit den vermeintlich besten Bildungsvoraussetzungen mit Abstand am meisten im Bereich Wortbausteine von der Intervention profitiert. Aber auch die Gruppe DIG entwickelt sich, vor allem im Vergleich zu DKG, in dieser Variable sichtbar (vgl. Tab. 5). Dass die deskriptiv beobachtbaren Unterschiede hier keine statistische Signifikanz aufweisen, ist vermutlich auf die großen Unterschiede in den Vortestwerten zwischen DIG und DKG zurückzuführen.

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5 Fazit und Ausblick Die hier berichtete Studie sollte erste Aufschlüsse darüber erbringen, ob eine Orientierung an der graphematisch-morphologischen Struktur der Wortschreibung im Deutschen eine bessere Unterstützung für Schülerinnen und Schüler darstellt als „herkömmlicher“ Unterricht, morphologische Bewusstheit zu entwickeln und diese für das Dekodieren von komplexen Wörtern zu nutzen. Dass dieser Zusammenhang gerade für das morphologisch transparente Schriftsystem des Deutschen evident zu sein scheint, lässt sich mit Blick auf die Ergebnisse aus experimentellen Studien und Interventionsstudien zum Lesen in anderen (Schrift-)Sprachen schließen. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass eine strukturierte, schriftorientierte Förderung über einen relativ kurzen Zeitraum zu einer Verbesserung der morphologischen Bewusstheit beitragen kann. Dies lässt sich an dem signifikant höheren Lernzuwachs der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe in allen drei Subvariablen dieses Konstrukts im Nachtest (t2) belegen. Damit lässt sich unsere erste Hypothese (vgl. Kap. 4.1) bestätigen. Ein wichtiges Ergebnis im Zusammenhang mit der Gesamtvariable morphologische Bewusstheit ist zudem der am stärksten ausgeprägte Interventionseffekt in der Subskala Wortstämme. Für die Gesamtbedeutung des Wortes ist der Wortstamm der wichtigste Wortbaustein und somit für den Worterkennungsprozess beim Lesen und das Erschließen von unbekannten Wörtern zentral. Das Identifizieren des Wortstammes schließt gleichzeitig ein, dass man beim Lesen die Gesamtstruktur des zu erschließenden Wortes – zumindest in Ansätzen – überschaut, so dass diese Subvariable, zusammen mit der Subvariable Segmentieren von Wortbausteinen, am ehesten schriftstrukturbezogene Zugänge erfordert. Dass bezogen auf die Variable Wortbausteine ein geringerer Interventionseffekt nachweisbar ist, mag damit zu erklären sein, dass die dabei zu erbringende Segmentierungsleistung zum einen noch höhere sprachlichkognitive Anforderungen stellt und zum anderen durch phonographischsilbische Zugänge, wie sie ebenfalls Teil der Intervention waren, überlagert worden sind. Für die Subvariable Wortfamilien zeigt sich hingegen nur zum zweiten Testzeitpunkt ein signifikanter Gruppenunterschied. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich der herkömmliche Unterricht auf das Bilden von Wortfamilien konzentriert, wenn es um die Beschäftigung mit Wortbildungsphänomenen geht. Außerdem ist hierfür kein expliziter Schriftbezug erforderlich, so dass das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen dem Interventionskonzept und

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dem Unterricht in den Kontrollklassen, die Einsicht in die Schriftstruktur, für diese Variable eine eher untergeordnete Rolle spielt. In Hypothese 2 sind wir davon ausgegangen, dass sich durch das gewählte Unterrichtskonzept in den Interventionsklassen, also die Orientierung an phonographisch-silbischen und wortbildungsmorphologischen Regularitäten, gleichzeitig die Dekodierfähigkeit signifikant besser als in den Kontrollklassen entwickelt. Diese Hypothese lässt sich auf der Basis unserer Ergebnisse nicht bestätigen. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser erst nach einer längeren Intervention, die deutlicher den Zusammenhang zwischen morphologischer Struktur und Leserfreundlichkeit herstellt, zeigen kann. Die intensive Arbeit an Wortstrukturen könnte die Lernprogression im Lesen sogar zunächst noch verlangsamen, da die Entwicklung morphologischer Bewusstheit kognitive Ressourcen bindet, die erst bei zunehmender Automatisierung frei werden. Hinzu kommt, dass die Gruppenunterschiede in einzelnen Vortestwerten und Hintergrundvariablen die Vergleichbarkeit der Lernentwicklungen zwischen den Gruppen erschweren. So lässt sich bei deskriptiver Betrachtung der Daten ein Unterschied in den Lernentwicklungen bezüglich der Dekodierfähigkeit zugunsten der Interventionsgruppe vermuten (vgl. Tab. 2), dieser wird allerdings bei Berücksichtigung der Kovariaten aufgehoben. Betrachtet man, wie in diesem Beitrag geschehen, die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler im Bereich der morphologischen Bewusstheit in Abhängigkeit von ihrem Sprachstatus, so fällt vor allem der signifikante Unterschied in der Variable Segmentieren von Wortbausteinen zum dritten Messzeitpunkt zugunsten der mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe auf. Dieses positive Ergebnis beruht, wie hier gezeigt wurde, vorrangig auf der positiven Lernentwicklung der mehrsprachigen, bildungsnah aufwachsenden Schülerinnen und Schüler. Wenn man berücksichtigt, dass das Segmentieren von Wortbausteinen die abstrakteste und sprachlichkognitiv anspruchsvollste Aufgabe in den von uns eingesetzten Subtests zur morphologischen Bewusstheit darstellt, da es schriftsprachanalytische Fähigkeiten und die Fähigkeit zur Unterscheidung von silbischen und morphologischen Wortstrukturen einschließt, so finden sich zwischen unseren und Ergebnissen aus anderen Forschungszusammenhängen deutliche Parallelen: Mehrsprachig Aufwachsende, insbesondere solche, die unter den Bedingungen einer elaborierten Mehrsprachigkeit aufwachsen (vgl. Fürstenau 2004), sind gemeinhin diejenigen, die über eine hohe Sprachbewusstheit verfügen, die sich vor allem in der bewussten Kontrolle sprachverarbeitender Prozesse (vgl. Bialystok 1988) und somit in einer stärkeren Orientierung an der Formseite von Sprache auszeichnen. Gerade Lernangebote, die schriftsprachliche Orientierun-

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gen bieten, kommen diesen Lernerinnen und Lernern ganz besonders zugute. Aber auch die schriftferner aufwachsenden mehrsprachigen Lernenden konnten die Vorteile einer Schriftstrukturanalyse für den Ausbau ihrer morphologischen Bewusstheit nutzen. Gerade für diese Gruppe ist wegen ihrer fehlenden schriftbezogenen Vorerfahrungen davon auszugehen, dass eine früher einsetzende unterrichtliche Orientierung an Schriftstrukturen, fast schon in der Phase der Alphabetisierung, den Aufbau entsprechender Konzepte unterstützen würde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Hinblick auf die Variablen zur morphologischen Bewusstheit für die einsprachig aufwachsenden Kinder in der Interventions- und Kontrollgruppe ähnliche Fortschritte zu verzeichnen sind, wohingegen die mehrsprachig aufwachsenden Kinder der Kontrollgruppe (im Vergleich zur Interventionsgruppe) so gut wie keine Lernfortschritte zeigen. Die einsprachig aufwachsenden Kinder sind scheinbar in der Lage, erfolgreich Strukturen auch in weniger strukturorientierten Lernangeboten zu finden und für den Aufbau der für die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten wichtigen morphologischen Bewusstheit zu nutzen. Sie können wahrscheinlich ihren relativ gut ausgebauten Wortschatz entsprechend nutzen. Zweisprachig aufwachsende Schülerinnen und Schüler scheinen jedoch Lernangebote zu benötigen, die ihnen helfen, die eingangs dargestellten Vorteile eines morphologisch transparenten und leserfreundlichen Schriftsystems für den Ausbau entsprechender Fähigkeiten zu nutzen. Insgesamt müssen wir feststellen, dass es einen großen Bedarf an sprachdidaktischer Forschung zur Bedeutung morphologischer Bewusstheit für die Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen gibt, den wir mit dieser Studie nur in Ansätzen abdecken konnten. Die sich allein aus unserer Studie ergebenden weiterführenden Fragestellungen beziehen sich sowohl auf Grundlagen- als auch auf anwendungsbezogene Forschungen. Sie sollen hier im Hinblick auf unterrichtsbezogene Forschungen abschließend angedeutet werden: Welche Auswirkungen auf die Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen kann die Beschäftigung mit Struktureigenschaften des deutschen Schriftsystems schon im Schriftspracherwerb haben? Wie müssten entsprechende Lernangebote aussehen, damit sie Kindern ganz am Anfang ihrer Alphabetisierung derartige Zugänge ermöglichen? Wie kann das Potential, über das mehrsprachige Lerngruppen im Hinblick auf bewusstes Operieren mit Schriftstrukturen verfügen, für das Lernen aller, insbesondere der Schülerinnen und Schüler, die über wenig literale Erfahrungen verfügen, genutzt werden? Welche Konsequenzen ergeben sich für die fachliche und fachdidaktische Qualifikation von Lehrkräften und für curriculare Empfehlungen (z.B. zu den Lerngegenständen Wortschrei-

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 105

bung und Wortbildung) und für entsprechende Lernmaterialien? Was sich als eine erste, wahrscheinlich relativ leicht einzulösende Konsequenz aus unseren Daten ergibt, ist eine besondere Aufmerksamkeit in der sprachwissenschaftlichen Ausbildung von Lehramtsstudierenden für die transparenten morphologischen Strukturen des deutschen Schriftsystems.

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Anhang: Aufgabenbeispiele Aufgabe 10 (Teil A): Zusammengesetzte Wörter untersuchen a. Die Wörter im Kasten sind zusammengesetzt. Schreibt neben die Wörter die beiden zweisilbigen Wörter, aus denen sie bestehen.

die Schultür:

die Schule die Türen

das Schreibheft: ____________________________________________________ ____________________________________________________ Die Vollglatze: ____________________________________________________ ____________________________________________________ die Backstube: ____________________________________________________ ____________________________________________________

b. Untersucht die zweisilbigen Wörter im Kasten mit Hilfe der Silbenprobe 1. Schreibt eure Ergebnisse neben das Wort wie im Beispiel: die Schultür die Schule

offene Silbe bei „Schule“, also nur ein l bei „Schul“

die Türen

offene Silbe bei „Türen“, also nur ein r bei „Tür“

110 | Melanie Bangel & Astrid Müller

Aufgabe 11 (Teil A): Die Silbenstruktur finden a. Verlängert die Wörter im Kasten. Streicht dann das Wort, welches nicht in die Reihe passt. b. Begründet eure Entscheidung mündlich.

Einer raus: dreht – geht – fällt – weht – flieht zielt – wiegt – biegt – siegt – sitzt alt – kalt – welk – früh – warm der Gruß – der Fleiß – heiß – der Greis – der Fuß

c.

Denkt euch selbst solche Reihen aus.

Aufgabe 23 (Teil B): Wörter mit verschiedenen Wortbausteinen erklären a. Unterstreicht die Präfixe, Suffixe und Wortstämme in den Wörtern im Kasten in unterschiedlichen Farben. unverträglich, der Anhalter, unauffindbar, die Entlastung, die Einzäunung, misslaunig, unendlich, unsinnig, launisch

b. Erklärt euch gegenseitig die Bedeutung der Wörter aus dem Kasten. Verwendet in euren Erklärungen mindestens einen der Wortbausteine. Zum Beispiel: unbeschreiblich:

Etwas ist unbeschreiblich, wenn man es nicht beschreiben kann.

Lesbare Morphologie als Lerngegenstand | 111

Aufgabe 25 (Teil B): Präfixe, Suffixe, Stämme – wie verhalten sie sich zu Silben? a

Zerlegt die Wörter aus dem Kasten in ihre Wortbausteine (Präfixe, Stämme, Suffixe) wie in dem Beispiel.

Beispiel: d i e B e |s c h r e i b |u n g übermütig, die Umrandung, die Lesbarkeit, wissbegierig b

Sprecht die Wörter halblaut und schreibt sie nun mit Trennungsstrichen zwischen den Silben auf:

die Be-schrei-bung c

Vergleicht die Trennung der Wortbausteine und Silben aus Aufgabe a und b miteinander. Wo habt ihr jeweils Trennzeichen gesetzt?

Jessica Nowak & Damaris Nübling

Schwierige Lexeme und ihre Flexive im Konflikt: Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien Abstract: In this article, the notion of marked lexemes is applied to nouns that deviate maximally from the native phonological word structures of German (e.g. loanwords, abbreviations, foreign names) as well as for secondary nouns that cross the boundaries between lexical categories, i.e. conversions (das Gegenüber ‘the counterpart’, das Wenn und Aber ‘the ifs and buts’). Strikingly, marked lexemes have generalized only one genitive and plural morpheme respectively: -s. This contrasts with the abundant plural allomorphy of German. It is shown that out of all suffixes, -s is the one that modifies the word structure the least, thus providing a high recognition value. In the extreme case, the sending is omitted, as zero inflection preserves the word shape best. Thus, (older) s-inflection often alternates with (younger) zero inflection. This change reflects the relevance hierarchy of nominal categories according to Bybee (1985), in that the genitive-s (case) is omitted earlier than the plural-s (number). These audible strategies of word shape preservation go along with visual ones, especially the apostrophe, which marks the boundary between lexeme and grammatical ending visually by separating the s-suffix from the base. This process again reflects the relevance hierarchy (a genitive -s is more frequently preceded by an apostrophe than a plural -s). In cases where the lexeme itself already ends in [s], the apostrophe even substitutes the inflectional ending -s (Marlies' Hund ‘Marlies' dog’). Here, the apostrophe even gains visual morpheme status as it lacks a phonological counterpart. This article surveys the interaction between audible and visual word shape preservation strategies.

Keywords: word shape preservation; zero inflection; apostrophe; genitive -s; plural -s

|| Jessica Nowak: Deutsches Institut, Historische Sprachwissenschaft des Deutschen, JGU Mainz, D-55099, +49/(0)6131/27009, [email protected] Damaris Nübling: Deutsches Institut, Historische Sprachwissenschaft des Deutschen, JGU Mainz, D-55099, +49/(0)6131/22611, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-005

114 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

1 Einleitung Am 31.05.1985 rügte Manfred Sack in einem ZEIT-Artikel1 „die grammatische Amputation“ an Substantiven, d.h. die Unterlassung der Genitivflexion in Nominalphrasen: „die Zahlen des Mittwochslotto“, „der Anstieg des Dollar“, „der Beginn des Heiligen Abend“, „die Wirtschaft des südlichen Afrika“. Vor lauter „Scheu vor dem Genitiv-Zischen“ trete bestenfalls ein Apostroph an die Stelle des Genitiv-s. „Manchmal“ – so der Autor – „sei es ein absurder Respekt vor dem Original“, der zur Deflexion führe. Diesen letzten Gedanken greifen wir in diesem Beitrag auf und zeigen, dass der „Respekt vor dem Original“ nicht abwegig ist. Vielmehr bewirkt die genitivische Deflexion die maximale Konstanthaltung des Wortkörpers, die als hörbare Wortschonungsstrategie für bestimmte Lexeme hochfunktional ist. Hierdurch sind sie besser wiedererkennbar. Ein Blick auf die oben genannten flexionslosen Genitive erhärtet diese Annahme: Auffälligerweise sind hiervon semiotischpragmatisch und/oder wortphonologisch markierte, d.h. schwer zu verarbeitende, kurz: schwierige Wörter (Substantive) betroffen (zu psycholinguistischer Evidenz hierzu s. Abschnitt 2): Eigennamen (Afrika) oder eigennamenähnliche Wörter (Heiliger Abend, Dollar), oft kombiniert mit nicht-nativen Wortstrukturen (Afrika, Dollar). Dabei steht der Wegfall des starken Genitivs (und, seltener, des homophonen s-Plurals) am Ende einer mehrstufigen Entwicklung im Dienst der Wortkörperschonung bzw. morphologischen Schemakonstanz2 (Nübling 2005, Zimmer demn). Diachron hatten diese Wörter zuvor sowohl im Genitiv als auch im Plural ihre flexivische Allomorphie zu -s uniformiert, wobei -s von allen Allomorphen die Wortstruktur am wenigsten affiziert. Flankiert werden diese hörbaren Schonungsstrategien durch sichtbare, allen voran den Apostroph.

|| 1 Sack, Manfred (1985): „NUN DIE ZAHLEN DES MITTWOCHSLOTTO“ UND ANDERE VERSTÜMMLUNGEN DER SPRACHE http://www.zeit.de/1985/23/trotzdessen-trotz-dem (09.04.2015). 2 Das Konzept der Wortkörperschonung und der damit verbundene Gedanke des funktionalen Verarbeitungsvorteils (Wiedererkennbarkeit, leichterer/schnellerer lexikalischer Zugriff) bei morphologischer Schemakonstanz findet sich in verschiedenen theoretischen Ansätzen wieder, z.B. unter dem Etikett base-identity (z.B. Kenstowicz 1996) bzw. base transparency (z.B. Czaplicki 2016), Paradigm Unifomity (z.B. Stump 2001), als natürlichkeitstheoretisches morphotactic transparency-Prinzip (Dressler 2003), als phonological transparency-Konzept im Rahmen eines Morphological Race-Modells (s. Frauenfelder/Schreuder 1992), v.a. im OT-Bereich als faithfulness-CONSTRAINT (versus markedness; s. Prince/Smolensky 1993, McCarthy/Prince 1993). Zur Begriffsdefinition und -abgrenzung von Wortschonung/Schemakonstanz s. auch Ackermann/Zimmer (in diesem Bd.) und ausführlich Zimmer (demn.).

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 115

Dieser exponiert die lexikalisch-grammatische Grenze visuell, indem er das s-Flexiv vom Wortkörper räumlich und materiell abtrennt (oft erscheint das Flexiv sogar in Kleindruck). Hier lässt sich auch eine Relevanzsteuerung erkennen (KASUS vor NUMERUS). Im radikalsten Fall ersetzt der Apostroph sogar die sEndung, nämlich dann, wenn der Wortkörper bereits auf [s] auslautet (Marlies' Hund), d.h., ein Syngraphem erlangt visuellen Morphemstatus ohne phonologisches Korrelat. Im Folgenden definieren wir zunächst die Kategorie schwierige Lexeme (Abschnitt 2), um dann die hör- und sichtbaren Wortschonungen vorzustellen und sie mit diachronem Material sowie synchronen Korpusdaten zu untermauern (Abschnitt 3). Abschließend wird das Zusammenwirken dieser beiden Strategien aufgezeigt (Abschnitt 4). Sowohl die korpusbasierten Erhebungen zu den Deflexionserscheinungen als auch die Verschränkung von Phonie und Graphie werden hier erstmals geleistet.3

2 Schwierige Lexeme Unter schwierigen Lexemen oder schwierigen Wörtern verstehen wir im Folgenden nur Substantive (inkl. Eigennamen, auch wenn keine Lexeme im engeren Sinn), die sich kreuzklassifikatorisch über zwei Parameter bestimmen lassen: 1. die wortphonologische Struktur und 2. den semiotisch-pragmatischen Status. 1. Die optimale Wortstruktur des Deutschen erfüllen Einsilber wie Wort bzw. Trochäen mit Reduktionssilbe wie Kúnde (s. Nübling & Szczepaniak 2011: 67). Letztere stuft Eisenberg (1991: 47) sogar als „das Substantivmuster“ ein. Dieses wortstrukturelle Ideal ist das Ergebnis eines typologischen Wandels des Deutschen, der in der zunehmenden Optimierung des phonologischen Wortes zu Lasten einfach artikulierbarer Silbenstrukturen bestand und besteht (s. Szczepaniak 2006). Diese Normal- bzw. Idealstruktur dient als Bezugspunkt, um den Markiertheitsgrad „phonologisch auffällig[er]“ (Bornschein & Butt 1987: 140) Lexeme zu bestimmen (s. Abb. 1).

|| 3 Für wertvolle Hinweise danken wir den HerausgeberInnen und zwei anonymen GutachterInnen. Nach Redaktionsschluss erhielten wir die Vorabversion der korpusbasierten Studie von Konopka & Fuß (2016) zur Variation des Genitiv-s, deren Ergebnisse zum Wegfall des Gen.-s (Kap. 3) unsere Befunde aus Abschnitt 3.1.2 bestätigen.

116 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

Abb. 1: Strukturelle Abweichungen von der optimalen Wortstruktur des Deutschen

2.

Die geringsten Abweichungen enthalten Substantive mit initialer Reduktionssilbe (Verfáll) und solche mit un- oder nebenbetonter vollvokalischer, geschlossener Silbe (Typ Réchnung, Wánderùng, Érbschàft). Stärker markiert sind Substantive mit Vollvokal in offener Nebensilbe, wie sie insbesondere bei Onomatopoetika (Uhu, Wauwau), Kurzwörtern (Limo < Limonade), Akronymen (PKW [|pekave:]) und Eigennamen (Anna, Otto) vorkommen. So lautet Muthmann (22001) zufolge nur 3,5% des deutschen Wortschatzes auf /a, i, o, u/ aus.4 Solche Substantive sind also besonders markiert. Den Pol maximaler Markiertheit belegen Fremdwörter inkl. Fremdnamen, v. a. wenn sie sich durch Fremdphoneme vom nativen Wortschatz abheben wie engl. [Ɵ], [ð], [dʒ] und/oder phonotaktisch (Smartphone, Mronz) oder prosodisch, z.B. durch Finalakzent und Mehrfüßigkeit (Nation, Illegalität), divergieren. Ob dabei phonotaktische oder prosodische Abweichungen schwerer wiegen, wurde bislang nicht überprüft und braucht in diesem Rahmen auch nicht geklärt werden. Deshalb verzichtet Abb. 1 auf eine feinere Binnendifferenzierung bei Fremdwörtern und Fremdnamen. Betrachtet man die funktionale Seite, so sind Eigennamen semiotischpragmatisch hochmarkiert. Wegen ihrer Mono- und Direktreferenz auf ein Objekt – eine Inhaltsseite kommt ihnen nicht zu – erlangen sie einen referentiellen Sonderstatus: Sie identifizieren, ohne zu denotieren. Bei Fremdnamen treffen onymischer Sonderstatus und nicht-native Wortstruktur aufeinander, was sie zu besonders markierten Einheiten macht. Das Mittelfeld zwischen semiotisch-pragmatisch un- bis maximal markiert füllen Kurzwörter, Onomatopoetika, Interjektionen und Substantivierungen: Kurzwörter sind insofern markiert, als sie kreiert werden, um „einem vorhandenen Ausdruck (der Ausgangsform) eine neue Gestalt zu geben“ (RonnebergerSibold 2007: 285), die genau von den nativen Strukturen abweicht. Sie folgen dabei nicht nur dem Gebot der Kürze, sondern auch des Wohlklangs

|| 4 Da Muthmann (22001) nur Grapheme berücksichtigt hat, fehlen Angaben zu /e(:)/, das u.a. in Akronymen wie PKW oder WC erscheint.

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 117

(CV-Strukturen mit Vollvokalen) und der Optimierung der lautlichen Produktion (leichte Artikulierbarkeit). Vergleichbares gilt für Onomatopoetika (Uhu, Wauwau, Kuckuck), die in ihrer „speziellen Funktion als lautmalerische Zeichen“ (Wegener 2010: 95) Schallereignisse nachahmen und daher ihren Lautkörper möglichst stabil halten. Auch Interjektionen weichen multipel von den Normalstrukturen ab (hui, oho, phh, psst). Zitierwörter (z.B. Substantivierungen wie das Ach und Weh, das Gegenüber) wechseln dagegen die Wortklasse und erlangen dadurch semiotische Markiertheit. Letztere enthalten auch grammatische Besonderheiten: Als Grenzüberschreiter fehlen ihnen manche Substantivmerkmale. So sind einige nicht pluralfähig (heute  das Heute, *die Heute(s)). Bei adjektivischer bzw. partizipialer Basis tragen sie kein lexikalisches Genus (der/die Arbeitslose, Angestellte)5 und behalten die Adjektivflexion bei. Selbstverständlich lässt sich auch der Bereich der Onomatopoetika, Kurzwörter, Interjektionen etc. bezüglich ihrer funktionalen Markiertheit noch weiter ausdifferenzieren. Für unsere Zwecke genügt diese dreistufige Hierarchie (s. Abb. 2).

Abb. 2: Funktionale Markiertheit

Aus diesem zweifachen Sonderstatus ergibt sich der Bedarf an strukturbewahrenden Flexionsformen, die den Wortkörper maximal erschließ- und erkennbar halten. Dies hält den Verarbeitungsaufwand auf der Rezipientenseite gering. So müssen Fremdwörter erst einmal geläufig werden, um auf morphologische Schemakonstanz verzichten und native Pluralsuffixe wie -en annehmen zu können (s. Wegener 2004). Ähnliches gilt für Kurzwörter. Ihre besondere Lautstruktur verlangt zudem, ebenso wie bei Onomatopoetika und Interjektionen, nach Strukturkonstanz. Auch der Eigenname als „kontextentbundenes Etikett [und] starre[r] Designator“ (Nübling, Fahlbusch & Heuser ²2015: 69) sollte nicht (zu stark) modifiziert werden, da dies seine Identifizierungsfunktion gefährden könnte. Genau hier lassen sich die erwähnten Deflexions-

|| 5 Genaugenommen wird ihnen ein sog. referentielles Genus zugewiesen, das vom Sexus des Referenzobjekts gesteuert wird.

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erscheinungen im Genitiv Singular bzw. der Apostroph einordnen (s. Abschnitt 3). Erste empirische Evidenz für diesen theoretisch angenommenen Verarbeitungsvorteil liefern Ackermann/Zimmer (in diesem Band) mithilfe eines LeseExperiments. Sie konnten für schwierige Lexeme (es waren Fremd- und Kurzwörter sowie Eigennamen) nachweisen, dass sich die Lesezeit genitivischer Nominalgruppen signifikant verkürzt, wenn das Substantiv unflektiert ist. Vergleichbare Ergebnisse dürften auch für unflektierte Pluralformen gelten (s. Abschnitt 3.1.2.3). Das experimentelle Gegenstück – ein Hör-Experiment –, das die Verarbeitungsvorteile schwieriger Lexeme auf Hörerseite nachweist, steht noch aus. Die theoretische Annahme schwieriger Lexeme wird auch durch die Neuround Psycholinguistik gestützt. Hier wurde nachgewiesen, dass es hinsichtlich Erwerb, Verarbeitung und Produktion nicht nur wortartenspezifische Unterschiede gibt, sondern auch Unterschiede zwischen den Subkategorien einzelner Wortarten. So gelten z.B. Substantive im Vergleich zu Verben als erwerbs- und damit verarbeitungsfreundlicher (s. Kauschke 2007). Innerhalb der Substantive können Konkreta besser memoriert werden als Abstrakta; bei letzteren erfolgt der Zugriff auf die mentalen Repräsentationen auch langsamer (s. Tyler et al. 1995, Weiss & Rappelsberger 1996, Weiss 1997). Dies liegt an der stärkeren und damit besseren Vernetzung von Konkreta im Gehirn, bei deren mentaler Repräsentation nicht nur die sprachrelevanten, sondern auch sensorischen Hirnregionen wie visuelle und/oder akustische Reize beteiligt sind (z.B. bei Katze die bildliche Vorstellung dieses Tieres und das typische Miauen). Noch schwieriger zu erlernen und zu verarbeiten sind Eigennamen, da sie aufgrund ihrer reinen Referenzfunktion kein semantisches Korrelat enthalten; hier gilt es, eine reine Phonemkette zu memorieren (z.B. Damasio & Damasio 1994). Dazu passt, dass Eigennamen viel häufiger als Appellative vom sog. tip-of-the-tongue-Phänomen betroffen sind. Zudem konnte Müller (2010) für das Deutsche verlangsamte Reaktionszeiten bei der Erkennung von Eigennamen im Vergleich zu Appellativen nachweisen. Eigennamen sind daher besonders stark auf die Konstanthaltung ihres Wortkörpers angewiesen.

3 Wortschonungsstrategien Im Folgenden befassen wir uns mit den hör- und sichtbaren Wortschonungsstrategien bei der Flexion schwieriger Lexeme (Abschnitt 3.1 – 3.2). Erstere betreffen die Realisierung von KASUS und NUMERUS und erbringen einen Verarbeitungs-

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 119

vorteil auf der Hörerseite, während sich letztere auf der graphematischen Ebene abspielen und den Verarbeitungsvorteil auf der Leserseite generieren.

3.1 Hörbare Wortschonungsstrategien 3.1.1 Wortschonung durch uniformes s-Flexiv Während für native Substantive bis zu zehn verschiedene Flexionsklassen unterschieden werden, entfallen schwierige Lexeme auf eine einzige, die starke Klasse: Im Plural nehmen sie genusunabhängig die Endung -s an (die Autos, PKWs, Omas), was mit der sonst so vielfältigen und stark genusgesteuerten Pluralallomorphie des Deutschen kontrastiert. Dies zeigt stark vereinfacht Abb. 3, wobei die von den Genera ausgehenden durchgezogenen Linien auf die häufigsten, teilweise produktiven Suffixe hinweisen, die gestrichelten auf die selten(er)en, unproduktiven. Nicht-Feminina weisen im Genitiv das mit dem Pluralflexiv homophone -s auf, vgl. des Autos, des PKWs. Hier entfällt die sonst übliche, von Auslaut und Wortlänge abhängige es/s-Allomorphie, vgl. des Tages, aber des Feiertags (Szczepaniak 2010, Konopka/Fuß 2016). Schwierige Lexeme flektieren auch nie im Dativ und zeichnen sich im Gegensatz zu unmarkierten Substantiven sowohl syntagmatisch (Deflexion) als auch paradigmatisch (nur ein Allomorph) durch „Sparflexion“ (Nübling, Heuser & Fahlbusch ²2015: 66) aus.

Abb. 3: Wichtigste Pluralbildungsverfahren

Die Generalisierung des s-Flexivs bei schwierigen Wörtern ist kein Zufall: Als nicht-silbisches Flexionselement von geringer Sonorität verändert es die phonologische Gestalt der Grundform nur minimal und schont damit den Wortkörper.

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Lediglich die Silbenkoda wird komplexer, s. den Eigennamen Bachs in Abb. 4. Silbische Genitiv-Singular- und Plural-Suffixe affizieren stärker die phonologische Gestalt, wie die Skala zeigt (nach Wegener 2010: 93): Die Modifikationen reichen von Veränderungen der Fußstruktur durch eine zusätzliche Silbe (z.B. Knie  Kni.e im Pl., nicht jedoch im Gen.Sg.) über Resilbifizierungen (z.B. Boot  Boo.te) bis hin zu Stammmodifikationen des finalen Konsonanten (z.B. Hun[t]  Hun.[d]e) und/oder des Wurzelvokals durch Umlaut (z.B. Bu[x]  Bü.[ç]er). Diese (morpho-)phonologischen Prozesse können einzeln oder kombiniert auftreten.

Abb. 4: Stärkegrade der Wortkörperschonung durch Genitiv- und Pluralsuffixe

Unsilbisches -n würde sich zwar wegen seiner ebenfalls strukturbewahrenden Eigenschaften auch eignen, vgl. Ka.tze (Sg.) – Ka.tzen (Pl.) und Bo.te (Nom.Sg.) – Bo.ten (Pl.), doch unterliegt es im Gegensatz zu -s starken Inputbeschränkungen, da es nur auf Reduktionssilben (Schwa, ggf. + Sonorant) folgen kann. Nicht umsonst erfüllt ausgerechnet der s-Plural den Status eines sog. Notfallplurals (s. Wegener 2004). Die Flexion schwieriger Lexeme (s. Abb. 3) ist jedoch nicht ererbt oder gar entlehnt, sondern das Ergebnis diachroner Ausgleichs- und Uniformierungsprozesse. Am deutlichsten zeigt sich dieser (De-)Flexionswandel bei den Eigennamen, die noch im Alt- und Mittelhochdeutschen voll in das nominale Flexionsklassensystem integriert waren. Sie hatten nicht nur paradigmatisch an der vollen Allomorphie teil, sondern auch syntagmatisch an (auch umlautbewirkenden) Flexiven (s. Nübling 2012). Die gesamte Kasusflexion war im 19. Jh. bis auf den Genitiv Singular abgebaut. Das kurze -s der starken Maskulina verdrängte nicht nur langes -es, sondern auch schwaches -(e)n, und es griff sogar auf die femininen Eigennamen über: Annas Katze / die Katze Annas. Hierdurch wird höhere Schemakonstanz erzielt: So bleiben u.a. Silbengrenzen konstant, wie bei Hart.mut – Hart.muts < Hart.mu.tes, und Stamm- geht zur Grundform-

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flexion über, vgl. Otto – Ottos < Ott-en, Maria – Marias < Mari-en. Dieses uniforme -s greift später auf die Onomatopoetika und Substantivierungen über. Zu Beginn des 19. Jhs. findet sich noch sowohl das silbische Genitiv-es als auch das Dativ-e: des Uhues, des Kuckuckes, des Vergissmeinnichtes, des Lebehoches – dem Uhue (neben Uhu), dem Kuckucke (s. Braun & von Pallhausen 1793: 267; Einhorn, Boekler & Engelken 1857: 77; Grieser 1824: 188; Regel 1858: 282). Heute gilt hier entweder -s oder -Ø. Auch die Generalisierung des s-Plurals steht im Dienst der Strukturbewahrung. Viele Pluralallomorphe gehen mit Umlaut einher und verändern damit den Wortkörper (s. Abb. 3). Die wortschonende Leistung von -s lässt sich am besten mit einer Gegenüberstellung onymischer s-Plurale und ihren appellativischen Pendants illustrieren, s. Abb. 5: Durch das -s ähneln Plurale wie Freitags, Manns und Bachs ihren entsprechenden Singularformen maximal, da strukturverändernde Prozesse wie Resilbifizierung (Frei.tags vs. Frei.ta.ge) und Stammveränderungen (Manns vs. Männer) unterbleiben. Der größte strukturbewahrende Effekt erfolgt bei Bachs. Der appellativische Plural Bäche erfährt die meisten Veränderungen (Resilbifizierung, Stammvokal- und -auslautveränderung) und ähnelt seinem Singular nur minimal.

Abb. 5: Wortkörperschonende onymische Plurale im Vergleich zu appellativischen Pluralen6

Bei der diachronen Uniformierung der Pluralflexive zu -s spielen die Eigennamen eine Vorreiterrolle, obgleich sie aufgrund ihrer Monoreferenz seltener pluralisiert werden als Appellative.7 Dabei geht der deutsche s-Plural auf die Re-

|| 6 Bei Männer liegt ein ambisilbischer Konsonant [ṇ] vor, d.h., die Silbengrenze verläuft durch das n. An der Resilbifizierung ändert sich jedoch nichts. 7 Auch funktional unterscheidet sich der onymische vom appellativischen Plural. So liegt im Fall vom die beiden Frankfurts bloße Eigennamen-Homonymie vor (d.h. zwei verschiedene

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analyse des Genitiv-Singular-Flexivs -s bei Familiennamen zurück (s. Nübling & Schmuck 2010). Hiervon ausgehend hat sich das Plural-s nach und nach auf alle Namenklassen ausgebreitet (die beiden Deutschlands), wo es konkurrierende Pluralsuffixe sowie den Umlaut verdrängt hat. Letzte Relikte wie die Hänse und die Kläuse zeugen noch von diesen früheren Verfahren, die für Namen längst unproduktiv geworden sind (Nübling 2012). Von den Eigennamen ausgehend ist das Plural-s schließlich auf die Onomatopoetika, Kurzwörter und Substantivierungen übergegangen. Aus noch im 19. Jh. bezeugten Pluralen wie (die) Uhue(n), Kuckucke, Vergissmeinnichte sind (die) Uhus (ohne Hiat), Kuckucks, Vergissmeinnichts geworden (s. z.B. Frantz 1853: 92; Brehm & Schilling 1882: 99). Diese Entwicklung lässt sich mit dem hier ebenfalls gegebenen Schonungsbedarf erklären. Die ungefähre Chronologie der Expansion des Plural-s befindet sich in (1) (nach Nübling & Schmuck 2010: 157). (1)

Familiennamen > Rufnamen

> alle Namen > Kurzwörter, Onomatopoetika, Substantivierungen

Bei der Integration von Fremdwörtern ins Deutsche fungiert der s-Plural oft nur als Übergangslösung (Wegener 2004, Zimmer demn.): Anfangs sind alle Fremdwörter auf strukturbewahrende Plurale angewiesen, weshalb die Integration zunächst nur darin besteht, stammflektierende Fremdplurale durch -s zu ersetzen, vgl. Pizza – Pizze > dt. Pizzas, Konto – Konti > Kontos, frz. généraux > dt. Generals etc. Gewinnen die Fremdwörter an Geläufigkeit (Frequenz), scheinen sie als semiotisch-pragmatisch unmarkierte Substantive nicht mehr auf Gestaltschonung angewiesen zu sein. Folglich werden sie an das native Flexionssystem assimiliert und leisten sich strukturaffizierende Allomorphe wie -e (z.T. mit Umlaut) oder -en: Generals > Generale > Generäle, Pizzas > Pizzen, Kontos > Konten. Dass der s-Plural für schwierige Lexeme zuständig ist, zeigt sich auch an seiner Type- und Tokenfrequenz: Im Schnitt entfallen ca. 11% aller Types auf den s-Plural, aber nur 2% der Tokens (nach Pavlov 1995: 45-48). Im Ergebnis mündet die s-Generalisierung in eine Vorstufe der Deflexion: Zunächst werden paradigmatisch die Allomorphe reduziert, bis nur noch -s

|| Objekte teilen sich einen gemeinsamen Namen, ohne deswegen mehr Merkmale miteinander zu teilen als zwei andere beliebige Städte). Bei Appellativen wie die Städte werden durch die Pluralisierung dagegen Objekte, die sich bestimmte typische Merkmale teilen, zusammengefasst (s. Nübling, Fahlbusch & Heuser ²2015: 73).

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übrigbleibt. Solche sog. überstabilen Marker können nach Dammel & Nübling (2006) als Vorboten von Deflexion gelten. Das erweist sich darin, dass erst auf diesen paradigmatischen Abbau die syntagmatische Deflexion folgt, wobei zuerst auf introflektierende Verfahren (Umlaut) verzichtet wird. Nach der sPhase entledigen sich schwierige Lexeme schließlich ganz ihres Suffixes. Dies bietet die radikalste Wortschonung: Gar keine Flexion schützt das Wort am besten.

3.1.2 Maximale Wortschonung durch Deflexion Im Gegensatz zum eingangs zitierten ZEIT-Artikel stigmatisieren Gegenwartsgrammatiken und Werke zu sprachlichen Zweifelsfällen die genitivische Deflexion bei starken Substantiven nicht (Duden-Grammatik 2016: §307). Die Deflexion im Genitiv (und Dativ) wird meist mit einer Tendenz zur Monoflexion begründet, bei der ein grammatisches Merkmal in der NP – hier Kasus – am Substantiv unterlassen wird, sofern bereits anderweitig (am Artikelwort) eindeutig gekennzeichnet (s. Duden-Grammatik 2016: §1517), s. (2). (2) a. diesemDAT.SG b. desGEN.SG

Haus-eDAT.SG > diesemDAT.SG Barock-sGEN.SG > desGEN.SG

Haus Barock

Während das Dativ-e bei den starken Substantiven geschwunden ist, betrifft der Schwund des Genitiv-Flexivs nur markierte Substantive, d.h. normalerweise greift hier nach wie vor die Wortgruppenflexion (z.B. ebd.: §§307-319).8 Somit ist von einem Zusammenwirken der Monoflexion mit der Deflexion schwieriger Lexeme auszugehen. Innerhalb der schwierigen Lexeme ist die Deflexion unterschiedlich weit fortgeschritten. Abb. 6 gibt eine vereinfachte Übersicht über die synchronen Verhältnisse im Genitiv in Anlehnung an die Duden-Grammatik (2016: §§307316), Duden-Zweifelsfälle (2011: 1000-1007).9

|| 8 Letzteres deckt sich auch mit der Beobachtung von Appel (1941), wonach das Genitiv-s vor allem bei Fremdwörtern, Eigennamen und Substantivierungen fehle. Zimmer (demn.) fügt dem noch die Kurzwörter hinzu. 9 Zu korpusbasierten Daten s. auch Konopka & Fuß (2016), Abb. 46.

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Abb. 6: Deflexionstendenzen im Genitiv Singular starker Substantive

Die genitivische Deflexion gilt am stärksten für Eigennamen, gefolgt von Monats-, Wochentags- und Produktbezeichnungen sowie schließlich den Substantivierungen, Onomatopoetika und Kurzwörtern. Damit erweist sich der Eigennamenstatus als Hauptsteuerungsfaktor für die Flexionslosigkeit; dies wird durch die nachfolgenden Korpusrecherchen mit COSMAS II (September 2013) zu vier ausgewählten Beispielen bestätigt: Flussnamen, Monatsbezeichnungen, Substantivierungen und Buchstabierwörter (3.1.2.1 – 3.1.2.3). Zusätzlich spielen auch nicht-native Wortstrukturen hinein. Hinzu kommt die Tokenfrequenz, die als operationalisier- und messbares Kriterium für den Geläufigkeitsgrad schwieriger Lexeme stehen kann.10 Dabei gilt zu berücksichtigen, dass mit COSMAS II ein distanzsprachliches Korpus medialer Schriftlichkeit vorliegt und die Flexionsverhältnisse im Geschriebenen nicht exakt die Verhältnisse des Gesprochenen widerspiegeln müssen. Dass Deflexion hauptsächlich den Kasus-, aber kaum den Numerusausdruck betrifft, liegt daran, dass nach Bybee (1994) Numerus für das Substantiv relevanter ist als Kasus. Numerus als dem Substantiv inhärente Kategorie (s. Booij 1996) affiziert das Konzept – die Substantivsemantik – stark im Gegensatz zu Kasus als kontextueller Kategorie (Dammel & Gillmann 2014). Die Relevanz schlägt sich auch in der Chronologie des Abbaus von

|| 10 Genauere Zahlen, basierend auf einer großen korpusbasierten Studie (DECOW2012), sind Zimmer (demn.) zu entnehmen, der u.a. nachweist, dass der Gen.Sg. nativer Appellative nur zu 1% ohne Genitivflexiv (immer auf Nichtfeminina bezogen) gebildet wird, der von appellativen Fremdwörtern zu 15%, der von Eigennamen zu 61%, und der von Kurzwörtern gar zu 90%. Fast 100% s-Losigkeit werden bei der Kombination Eigenname & Kurzwort erreicht (HSV). Zu weiteren Faktoren (Phonologie, Frequenz, familiarity etc.) und deren Gewichtung bzw. Effektstärke s. ebd.

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 125

Flexionskategorien nieder: Die Deflexion erfasst zuerst Kasus. Die relevantere Numeruskategorie haftet dagegen am oder im Lexem (Katze+n, Händ+e), wohingegen Kasus auf Substantivbegleiter ausgelagert wurde (die Katze vs. der Katze). 3.1.2.1 Eigennamen: Deflexion bei Flussnamen Bei den Namen setzt sich die genitivische Deflexion zuerst bei den maskulinen Personennamen durch, wo sie ab ca. 1850 gilt (s. Nübling 2012: 235). Diesen Stand erreichen Toponyme etwa fünfzig Jahre später. Heute stehen sie vorwiegend ohne -s. Die übrigen Eigennamenklassen schließen sich dieser Tendenz an. In Bezug auf die Flussnamen konstatiert die Duden-Grammatik (2016: §309) folgende flexionsunterdrückende Eigenschaften: „Fremdsprachlichkeit“, d.h. nicht-native Strukturen (z.B. Jangtsekiang) und Mehrsilbigkeit mit unbetontem s-Auslaut (z.B. Amazonas, Ganges). Letzteres führe in der Regel schon aus phonotaktischen Gründen zu endungslosen Genitivformen.11 Damit verhalten sich auf [s] auslautende Flussnamen ebenso wie Personennamen auf [s], Typ des Hans, des Heinz. Umgekehrt wirkt sich hohe Tokenfrequenz (z.B. Rhein) flexionsfördernd aus, bei Namenkomposita auch die morphologische Transparenz des Letztglieds. Entspricht dieses einem Appellativ (z.B. der Schwarzbach), ist auch silbisches -es möglich, vgl. des Schwarzbachs (65 Treffer) bzw. Schwarzbaches (110 Treffer) gegenüber des Schwarzbach (6 Treffer; COSMAS II, 31.03.2015). Diese Verhältnisse (die auch für Vogtland, Feldberg, Schwarzwald etc. gelten) sprechen für den Status als Gattungseigenname.12 Die COSMAS II-Recherche zu den Flussnamen Rhein, Neckar, Nil, Tiber, Mississippi, Orinoko (bzw. Orinoco) und Yangtse bestätigt die Aussagen der Grammatiken und Zweifelsfall-Werke, s. Tab. 1 (nach Nübling 2012: 242, ergänzt durch die absoluten Tokenfrequenzen).

|| 11 Diese Genitiv-Regel gilt auch für schwach integrierte Fremdwörter gleicher Struktur, vgl. des Stimulus, des Simplex, des Agens. Sind solche Fremdwörter hingegen gut integriert, kann auf die gestaltschonende Flexionslosigkeit verzichtet und zu silbischem -es gegriffen werden, vgl. des Omnibusses, des Atlas/des Atlasses (s. Duden-Grammatik 2016: §302). 12 Deutschland ist hingegen „vollproprialisiert“ (Nübling, Heuser & Fahlbusch ²2015: 70, Fußnote 44), weswegen es trotz enthaltenem De-Appellativ -land nie silbisches -es annimmt, vgl. des heutigen Deutschland(s).

126 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

Name im Genitiv

abs. Frequenz13

Null-Endung

s-Endung

des Rhein-

0,5% (64)

99,5% (11.393)

238.019

des Neckar-

4,5% (44)

95,5% (935)

031.653

des Nil-

17% (94)

83% (457)

011.957

des Tiber

61,5% (48)

38,5% (30)

002.446

des Mississippi-

94% (365)

6% (22)

020.354

des Orino(k|c)o-

97% (62)

3% (2)

001.140

des Yangtse-

100% (59)

---

000.445

Tab. 1: Genitiv bei Flussnamen mit Artikel

Ein hoher Geläufigkeitsgrad (d.h. mind. 10.000 Tokens) korreliert mit fast durchgängiger Genitivflexion: des Rheins (99,5%), des Neckars (95,5%), des Nils (83%). Hinzu kommt, dass diese drei Namen dem wortphonologischen Ideal nahekommen. Dies spielt auch bei der Genitivflexion von Tiber eine Rolle: Zwar kippt aufgrund des geringen Geläufigkeitsgrads (nur ca. 2.500 Tokens) das Verhältnis zugunsten der unflektierten Form des Tiber; dennoch sind hier s-haltige Formen mit fast 40% um ein Mehrfaches häufiger als beim deutlich geläufigeren Fluss Mississippi (über 20.000 Tokens) mit nur 6% s-Genitiven. Die flexionsunterdrückenden Faktoren Fremdsprachlichkeit und geringe Frequenz sind bei Orino(k|c)o und Yangtse am ausgeprägtesten (zum Einbezug von mehr Faktoren und deren exaktem Einfluss auf die (Null-) Flexion von Namen, Fremdund Kurzwörtern s. Zimmer demn.). 3.1.2.2 Eigennamenähnliche Appellative: Monatsbezeichnungen Duden-Zweifelsfälle (2011: 263) fasst unter „eigennamenähnliche Appellative“ Einheiten wie Tier-, Pflanzen- und Krankheitsnamen sowie Tages- und Monatsbezeichnungen. Auch Termini werden hierzu gerechnet. Diese Zwischenstellung spiegelt sich in den Flexionsschwankungen. Der Duden-Grammatik (2016: §311) zufolge unterdrücken Produktbezeichnungen (Warennamen) am häufigsten die Genitivflexion, vgl. des Aspirin(s), des Opel(s). Diese Feststellung überrascht wenig, „da Produkte echte Namen [tragen], die sogar oftmals erfunden und ihnen per Referenzfixierungsakt zugewiesen wurden“ (Nübling, Fahlbusch

|| 13 Abgefragt wurde jeweils die Grundform der Flussnamen in COSMAS II (W-Archiv), d.h. Rhein, Neckar etc. (02.03.2015).

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 127

& Heuser ²2015: 48) und sich strukturell in mehrerlei Hinsicht vom Normalwortschatz abheben, z.B. durch nebentonige Vollvokale, fremdsprachige Lautgestalten, nicht-initiale Akzente etc. Wahrig-Zweifelsfälle (2009: §325.1) stellt für Monatsnamen überwiegende Flexionslosigkeit fest, während das Genitiv-s bei Wochentagen noch häufiger anzutreffen sei. Dies ist u.E. wenig überraschend, da bis auf Mittwoch alle Wochentagsbezeichnungen das Appellativ -tag enthalten. Bei den uns interessierenden Monatsbezeichnungen konstatiert Duden-Zweifelsfälle (2011: 651b) einen unterschiedlichen Deflexionsstatus: Auch der Genitiv ist im heutigen Sprachgebrauch häufig ohne Endung: des Januar[s], des Juni[s]; des 6. Juni[s], des 12. Januar[s]. Die Monatsnamen auf -er bewahren häufiger die Genitivendung: des Septembers, des Oktobers. März bildet den Genitiv meist endungslos: des März, zuweilen aber auch auf -es: des Märzes. Die schwache Genitivform des Märzen ist veraltet. Mai und August haben auch die Genitivendung -[e]s (die schwache Genitivform des Maien ist veraltet).

Dies haben wir korpuslinguistisch überprüft. Es zeigt sich, dass die Fremdheit der Monatsbezeichnungen (also ihre Formseite) für diese Verhältnisse verantwortlich ist. Abb. 7 veranschaulicht das Verhältnis s-haltiger (dunkelgrau) und s-loser (hellgrau) Genitive mit vorangestelltem Artikel (COSMAS II, 25.08.2013).

128 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

November

73% (355)

27% (133)

Dezember

72% (241)

28% (96)

September

69% (290)

31% (130)

Oktober

67% (316)

33% (156)

Januar

65% (264)

35% (141)

Februar

59% (249)

41% (173)

April

51% (169)

49% (163)

August

22% (120)

78% (435)

Juni

20% (52)

80% (211)

Juli

15% (45)

85% (251)

Mai

5% (19)

95% (360)

März

4% (20)

96% (495)

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Abb. 7: s- versus Deflexion im Genitiv Singular von Monatsnamen

Abb. 7 zeigt, dass die Monatsnamen mit vokalisiertem [ɐ], die mit trochäischem Betonungsmuster enden (Typ Novémber), zu mindestens zwei Dritteln mit -s (zwischen 67% und 73%) flektieren. Sie entsprechen formal nhd. Maskulina auf -er mit -s im Gen.Sg., z.B. (des) Lehrer+s. Je größer der Abstand zum wortphonologischen Ideal, desto eher wird die Genitivflexion unterdrückt. Dies gilt insbesondere bei abweichendem Betonungsmuster, z.B. des Apríl 49%, v.a. in Kombination mit Konsonantenclustern wie in des Augúst mit 79%. Ähnlich hohe Werte erzielen die Monatsnamen mit unbetontem Vollvokal (des Juni, des Juli). Fast gänzlich unterlassen wird die Genitivflexion bei Mai14 (95%) und März (96%), bei letzterem wegen des [s]-Auslauts. Die bereits von Duden-Zweifelsfälle (s.o.) als veraltet eingestuften schwachen Genitive Märzen und Maien finden sich im Korpus nur sieben bzw. 15-mal, ausschließlich in phraseologischen Kontexten (Bis in des Maien Mitte hat der Winter noch eine Hütte; s. auch Konopka & Fuß 2016, Tab. 30 - 32).

|| 14 Ausgeschlossen werden kann die Homophonie zu Mais, da Homophonie durch den Kontext disambiguiert wird, vgl. auch die hochfrequenten verbalen Homophone [ist] = .

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 129

Für den nur eigennamenähnlichen Status von Monatsbezeichnungen spricht auch die Pluralendung. Hier gilt nicht das namenübliche -s, sondern die Pluralallomorphie der starken Maskulina: Nullplural bei -er-Auslaut, z.B. die November (vgl. die Lehrer), e-Plural bei -ar-Auslaut, z.B. die Januare (vgl. die Jaguare), ebenso bei März (vgl. die Scherze), April (vgl. die Grille zu Grill), Mai (vgl. die Haie) und August (vgl. die Verluste). Juni und Juli nehmen -s (analog zu die Opis etc.) (Duden-Zweifelsfälle 2011: 651b). Die uniformen Genitive im Gegensatz zum Plural reflektieren die kategoriellen Relevanzgrade: Uniformität bei KASUS, Allomorphie bei NUMERUS (Dammel & Nübling 2006: 100f.). Hierzu passt, dass die Pluralbildung der Monatsbezeichnungen keine Schwankungen bzw. Deflexion zeigt.15 3.1.2.3 Substantivierungen und Akronyme Bei Appellativen ist die Unterlassung des Genitiv-s im Standard nicht anerkannt, Formen wie des *Betrieb, des *Konzert etc. sind nicht korrekt, sie kommen auch kaum vor (s. Zimmer demn.). Eine Ausnahme bilden Konversionen, v.a. Gelegenheits- und Zitatsubstantivierungen sowie zitierte Einzelbuchstaben, außerdem Initialkurzwörter und Schreibabkürzungen, vgl. des Wenn(s), des Gestern(s), des Hier und Jetzt(s), meines Gegenüber(s), des langen V(s), des Jh(s). Die Duden-Grammatik (2016: §315) und Duden-Zweifelsfälle (2011: 1000-1007) sind sich darin einig, dass die Genitivendung bei Akronymen meist weggelassen wird. Die graphematische Wiedergabe der Kasusanzeige erübrigt sich gemäß Duden-Zweifelsfälle (2011: 28f.) v.a. dann, wenn der Genitiv bereits am Artikel realisiert oder durch den Satzkontext deutlich wird. Während Wahrig-Zweifelsfälle (2009: §326.2) diesen Stand auch für die Substantivierungen annimmt, relativieren dies die beiden anderen Werke: Hier werde das -s nur teilweise weggelassen. Eine stichprobenartige Recherche von Fuß (2014) zur Variation der starken Genitivendung bei Konversionen aus nichtflektierbaren Wortarten erbrachte, dass die Endungslosigkeit zwar insgesamt überwiegt (graue Zellen), sich aber nicht gleichmäßig über die Substantivierun-

|| 15 Dies liegt auch an der Seltenheit solcher Plurale. Eine Stichprobe bei COSMAS II (W-Archiv, 04.04.2015) für den Dativ Plural mit Definitartikel ergab nur Treffer für den Septembern (3x), den Oktobern und den Dezembern (je 1x). Alternative Pluralisierungen, z.B. mit -s bzw. Null (den Septembers, den Januars, den Juni etc.) ergaben ebenfalls keine Treffer.

130 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

gen verteilt, s. Tab. 2, die den Daten von Fuß (2014)16 unsere Ergebnisse mit COSMAS II (W-Archiv, 05.04.2015) gegenüberstellt:

Fuß (2014)

Cosmas-II-Recherche

Lemma

Null

-s

ges.

Null

-s

Ges.

Nichts

100% (374)

---

374

100% (1.048)

---

1.048

Heute

100% (51)

---

51

100% (219)

Gestern

100% (17)

---

17

100% (192)

Jetzt

100% (11)

---

11

100% (327)

(1)

Zuviel

70% (14)

30% (6)

20

67% (55)

33% (27)

82

Zuwenig

63% (5)

37% (3)

8

61% (11)

39% (7)

18

Selbst

60% (322)

40% (218)

340

99% (1.338)

1% (10)

1.348

Ja

44% (4)

56% (5)

9

97% (489)

3% (14)

503

Nein

21% (55)

79% (204)

259

29% (398)

71% (988)

1.386

Gegenüber

0

100% (592)

593

10% (196)

90% (1.821)

2.017

220 (1) ---

192 328

Tab. 2: Genitivische Deflexion bei Konversionen aus nicht-flektierbaren Wortarten17 (Prozente gerundet)

|| 16 Diese wurde mithilfe der Genitivdatenbank des IDS durchgeführt (http://hypermedia.idsmannheim.de/call/public/korpus.genitivdb, 09.04.2015). Die von COSMAS II (W-Archiv) abweichenden Ergebnisse erklärt Fuß (2014) damit, dass möglicherweise „in der Genitivdatenbank nur Formen enthalten sind, die vom Xerox Tagger als Nomen eingestuft werden.“ Zu ähnlichen Ergebnissen s. auch Konopka & Fuß (2016), Tab. 23. 17 Die unterschiedlichen Zahlen liegen darin begründet, dass bei der IDS-Recherche die Genitive nicht mittels COSMAS-Recherche, sondern mittels Extraktion aus der Genitivdatenbank ermittelt wurden (s. Fußnote 3 in Fuß 2014).

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 131

Nichts, Heute, Gestern, Jetzt treten nur ohne Flexion auf,18 bei Zuviel und Zuwenig oszilliert sie zwischen 60% und 70%, und bei Nein kippt das Verhältnis zugunsten des s-Genitivs um. Gegenüber nimmt fast immer den s-Genitiv. Dies überrascht insofern nicht, als Gegenüber – ähnlich den Monatsbezeichnungen und Flussnamen auf -er – dem wortphonologischen Ideal nahekommt.19 Außerdem dürfte auch seine hohe Frequenz (ca. 600 bzw. 2.000 Tokens) den Wortschonungsbedarf senken. Ein stammauslautender Sibilant (meist [s]) bzw. ein komplexer Endrand begünstigen erwartungsgemäß die Deflexion (vgl. Nichts, Jetzt, Selbst). Unklar bleibt jedoch, worauf die beträchtliche Divergenz zwischen unseren Ergebnissen und denen von Fuß (2014) zum Genitiv von Selbst beruht: 99% vs. 60% Deflexion (s. Tab. 2). Bei einsilbigem Ja erklärt der vollvokalische Auslaut den Bedarf an Wortschonung; bei ebenfalls einsilbigem Nein hingegen hält sich die Nullflexion mit „nur“ 29% in Grenzen, da es dem wortphonologischen Ideal des Deutschen entspricht (vgl. Bein). Deflexionserscheinungen im Plural zu überprüfen, erübrigt sich in den meisten Fällen, da Konversionen entweder keine Plurale bilden (Heute, Gestern, Jetzt, Zuviel, Zuwenig, Selbst)20 oder den Plural nicht materialisieren (die Gegenüber) (Duden-Grammatik 2016: §1104). Die -s/-ø-Variation tritt nur bei Ja und Nein auf und korreliert mit der -s/-ø-Verteilung im Genitiv Singular, s. Tab. 2.21 Bei den Akronymen (oder Buchstabierwörtern) konstatieren sowohl die Zweifelsfälle-Werke als auch die Duden-Grammatik (2016: §309) häufige Endungslosigkeit im Genitiv und – in geringerem Maße – im Plural, ohne jedoch belastbare Zahlen zu liefern. Deshalb haben wir eine Untersuchung zu den Akronymen PC, IC und WC durchgeführt (s. Tab. 3).

|| 18 Bei Nichts dürfte v.a. der s-Auslaut die Deflexion begünstigen. 19 Möglicherweise wirkt sich die Belebtheit von Gegenüber positiv auf die Genitivflexion aus. 20 Nichts besitzt nur dann eine Pluralform (Nichtse), wenn es sich pejorativ auf eine Person bezieht, die niemand respektiert. Hier scheint, ähnlich wie bei Gegenüber, das Merkmal [+menschlich] für die Flexion verantwortlich zu sein. 21 Die Suchabfrage in COSMAS II erfolgte über das Syntagma „viele+ Ja+“ bzw. „viele+ Nein+“ (mit + für einen potentiellen Buchstaben stehend). Von den nur 185 Treffern waren nur 52 relevant.

132 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

Genitiv Singular

Plural

Lemma



-s

Lemma



WC

49% (99)

51% (101) davon 6x mit 's

20% (72)

80% (287) davon 16x mit 's

PC

50% (1.323)

50% (1.324) davon 50x mit 's

33% (195)

77% (398) davon 11x mit 's

IC

97% (152)

3% (5) davon 1x mit 's

57% (62)

43% (46) davon 4x mit 's

Durchschn.

65%

35%

37%

63%

Tab. 3: Genitivische Nullflexion bei den Akronymen WC, PC, IC

Tab. 3 bestätigt die Beobachtung der Duden-Grammatik, dass Flexionslosigkeit den Genitiv stärker betrifft als den Plural: Im Schnitt tritt die Nullflexion im Genitiv zu 65% auf, im Plural sind die Verhältnisse genau spiegelverkehrt. Durch Apostroph visuell abgegrenzte s-Flexive sind gering, vermutlich deshalb, weil die Akronymmajuskeln sich genügend von den Flexionsminuskeln abheben (). Indem typographische Mittel wortstrukturierend eingesetzt werden, ersetzen sie Apostrophe als morphologische Grenzsignale (s. Ewald 1997, Stein 1999).22 Bei den drei Akronymen überwiegt die Nullflexion sowohl im Genitiv Singular als auch im Plural bei IC mit 97% (Gen.) bzw. 57% (Pl.) gegenüber WC und PC mit rund 50% bzw. 20% bzw. 33% im Plural. Die häufige Endungslosigkeit des Akronyms IC rührt v.a. daher, dass es oft als erster Bestandteil eines Zugnamens (des IC Magdeburg) oder einer Zugnummer (des IC 2311) vorkommt.23 Ob Endungslosigkeit bei Akronymen eher ein Phänomen der Schreibung ist, wie dies die Duden-Grammatik (2016: §290) nahelegt, müsste anhand gesprochener Daten geprüft werden. Für eine solche Annahme spricht, dass graphematisch „unauffälliges“ Filet, das den drei Akronymen phonologisch ähnlich ist, sowohl im Genitiv Singular als auch im Plural immer das s-

|| 22 Zur Hervorhebung ganzer Konstituenten mittels Majuskelschreibung bei Kontaminationen, z.B. , s. Scherer (2013a). 23 Möglicherweise liegt dies daran, dass prototypische Kurzwörter aus drei Buchstaben bestehen (Fuhrhop 2008, Buchmann 2015).

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 133

Flexiv annimmt (COSMAS II).24 Fest steht, dass die Strukturschonung dort ihre Grenzen hat, wo grammatische Informationen gefährdet sind: So nehmen Feminina immer das Plural-s an, da der Definitartikel die Numerusinformation nicht auszudrücken vermag, vgl. die AG – die AGs.

3.2 Sichtbare Wortschonungsstrategien Während es auf der phonologischen Seite darum ging, welche Flexive zum Einsatz kommen bzw. ob gar keine, kommen auf der graphematischen Seite mehr und andere Strategien ins Spiel. In erster Linie wird es im Folgenden um den Apostroph gehen, ein sog. Syngraphem. Syngrapheme sind nach Gallmann (1989) „Grapheme mit der Funktion von Grenzsignalen“ (94). Solchen Einheiten kommt kein Lautwert zu. Interpunktionszeichen wie Punkt, Komma etc. sind Syngrapheme im weiteren Sinn, die Phrasen, Sätze und Texteinheiten voneinander abgrenzen; sie operieren nicht am Wort selbst und werden im Folgenden ausgeschlossen (Bredel 2008). Syngrapheme im engeren Sinn sind Bindestrich und Apostroph; sie beziehen sich auf morphologisch komplexe Wortformen (s. Gallmann 1989: 83, doch ohne die Unterscheidung „im engeren/weiteren Sinn“). Bindestrich und Apostroph sind ihrerseits polyfunktional, nicht jede ihrer Funktionen dient der Grenzmarkierung. Bredel (2008), Fuhrhop (2008) und Buchmann (2015) klassifizieren Apostroph, Bindestrich (Divis) und Abkürzungspunkt als sog. Wortzeichen zur Strukturierung graphematischer Wörter (im Gegensatz zu Satzzeichen).

3.2.1 Bindestrich und Apostroph Der Bindestrich (Divis) dient innerhalb komplexer Wortformen als Grenzmarkierung. Zunächst dekomponiert er in der Regel nicht-lexikalisierte Komposita (der Dekompositionseffekt wird durch die Großschreibung der zweiten Konstituente erhöht); der Bindestrich verhindert die Lesart als zwei syntaktische Wörter und bindet sie insofern zusammen (Buchmann 2015). Oft befindet er sich nach oder vor den oben genannten schwierigen Lexemen, z.B. Kurzwörter wie

|| 24 Hier müsste auch überprüft werden, ob und inwieweit die Groß- und Kleinschreibung von Akronymen das Flexionsverhalten beeinflusst: So könnten Minuskeln im Akronym () flexionshemmend wirken, da nicht genügend vom s-Flexiv abgehoben, vgl. vs. .

134 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

und Fremdwörter wie , da Software anderen Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln folgt als Spezialist. Gelegentlich steht er (nach markierten Wörtern) auch vor Derivationssuffixen: (Gallmann 1989). Genau hier, d.h. vor Suffixen, hat nämlich der Apostroph seine eigentliche Domäne: Er steht am häufigsten zwischen markierten Lexemen (Eigennamen, Kurz-, Fremdwörtern) und gebundenen Morphemen. Dagegen steht der Bindestrich – hier besonders deutlich schemabewahrend – oft bei Nominalisierungen (, ) und in Komposita mit Eigennamen (, , , ). Gegenwärtig setzt sich der Usus durch, bei Namen im Erstglied bloße Spatien zu setzen (durchaus in Kombination mit dem Bindestrich): . Mit beiden Verfahren werden die Wortkörper geschont. Durch Spatiensetzung wird der Personenname maximal invariant gehalten. Beim Apostroph treten diese schemabewahrenden Funktionen noch deutlicher zutage. Er grenzt heute primär schutzbedürftige Wortkörper von Suffixen ab, sowohl von Derivationssuffixen () als auch von Flexionssuffixen, wobei das Genitiv-s dominiert: . Insbesondere nach Eigennamen hat der Apostroph viel Widerspruch erfahren. Allerdings wird er, da er hier schon seit Jahrhunderten häufig gesetzt wird, seit der Orthographiereform toleriert, d.h. er ist nicht mehr untersagt. Die sog. Toleranzregel (§97 des Regelwerks) lautet: Von dem Apostroph als Auslassungszeichen zu unterscheiden ist der gelegentliche Gebrauch dieses Zeichens zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens vor der Genitivendung -s oder vor dem Adjektivsuffix -sch: Carlo’s Taverne, Einstein’sche Relativitätstheorie.

Damit werden in Fällen wie oder auch phonologische Homonyme graphematisch disambiguiert. Dies ist nicht die Haupt-, aber doch eine wichtige Nebenfunktion der Apostrophsetzung nach Eigennamen.

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 135

3.2.2 Funktionswandel des Apostrophs vom Elisionszeichen zum morphographischen Grenzsignal bzw. zum graphischen Morphem Die Geschichte des Apostrophs behandeln Klein (2002), Ewald (2006), Nerius (2007), Bankhardt (2010) und Nübling (2014). Deshalb sei hier seine diachrone Entwicklung von einem phonographischen zu einem morphographischen Syngraphem nur knapp skizziert. Diese Entwicklung reflektiert die allgemeine Zunahme an Tiefe des Schriftsystems (im Sinne von Eisenberg 1989, Meisenburg 1998) von einem primär phonographisch basierten Alphabetschriftsystem hin zu einem (auch) grammatischen System, das neben der reinen Lautabbildung zunehmend weitere Informationen morphologischer (z.B. Stammschreibung), lexikalischer (z.B. Homonymendifferenzierung) und syntaktischer Art (Interpunktion, Satzanfangsgroßschreibung) liefert. Der Apostroph startete bei einem phonologischen Auslassungszeichen und emanzipierte sich zunehmend als reines Grenzsignal ohne Hinweis auf die Phonologie. Seinen Ursprung hat er im sog. r-Haken, einem Kürzelzeichen in mittelalterlichen Handschriften, die die Auslassung des Graphems oder der Folge markierte (). Systematisch hat sich ebenfalls bei Eigennamen das Derivationssuffix -isch zu -sch entwickelt (Bachische > Bach'sche Kantaten). Damit bildet auch diese Konstruktion einen Brückenkontext für die Reanalyse des Apostrophs von einem Elisions- zu einem Grenzzeichen.

136 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

Hiervon ausgehend dehnte sich der morphographische Apostroph rapide auf das (damals noch selten und v.a. nach Personennamen und einigen Fremdwörtern vorkommende) Plural-s aus (die Gore's, die Sopha's), außerdem auf sehr viele Familiennamen mit dem Derivationssuffix -sch, welches seinerseits der Wortschonung dient, indem es keine zusätzliche Silbe generiert und die Auslautneutralisierung schützt: ). Uns interessieren

Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien | 137

die 190 morphographischen Apostrophe, ihre genauen Funktionen und ihr linker Bestandteil. Es lassen sich vier Funktionsklassen unterscheiden: 1. Ein Drittel (34%) entfällt auf den Apostroph als Suffixersatz; der linke Teil besteht dabei zu 92% aus Eigen- bzw. Personennamen und zu nur 8% aus Appellativen. 2. 27% der morphographischen Apostrophe stehen vor einem Genitiv-s und zu 100% nach einem Eigennamen (fast ausschließlich Personennamen). 3. Weitere 27% grenzen das unsilbische Adjektivsuffix 'sch von einem Eigennamen ab. 4. Eine Restgruppe von 11% betrifft das erweiterte Nomen agentis-Suffix 'ler, das vornehmlich nach kapitalisierten Akronymen auftritt: CDU'ler, DRK'ler. Bei Akronymen handelt es sich insofern um besonders schwierige Lexeme, als es sich um Syllabogramme mit besonderen Aussprachekonventionen handelt: Jede Majuskel steht für eine Silbe. Der Apostroph markiert also die Grenze zwischen Syllabogrammen und Phonogrammen. Hinzu kommt, dass manche dieser Akronyme ihrerseits Eigennamen sind (CDU, DRK), was ihren Sonderstatus um eine weitere Stufe anhebt. In dieser 4. Gruppe befinden sich auch insgesamt sechs s-Plurale, die ebenfalls an Akronymen bzw. Kurzwörtern haften (die LP's). Überdeutlich erweist sich der wortschonende Charakter sämtlicher Apostrophe. Der faktische Befund ist weit von dem öffentlichen Eindruck entfernt, der Apostroph grassiere regel- und zügellos. Scherer (2010) und (2013b) stützt sich auf ein weit größeres Korpus (das DWDS des 20. Jhs., die Berliner Zeitung von 1994/95 sowie die Potsdamer Neuesten Nachrichten von 2003-2005). Im Gegensatz zu Bankhardt (2010), die sämtliche Apostrophe ermittelt hat, hat sich Scherer nur auf ). Damit erfasst sie also nur Fälle von Genitiv- und Plural-s.

138 | Jessica Nowak & Damaris Nübling

Abb. 8: Die beiden Funktionsbereiche des morphographischen Apostrophs nach Scherer (2010) (nach Nübling 2014, Abb.4)

Scherer erhielt fast 24.000 Treffer, 3.243 davon sind morphographische Apostrophe Abb. 8). Davon entfallen fast 89% auf den Genitiv – und diesem apostrophierten s-Flexiv geht zu 97% ein Eigenname voran, wobei hier wiederum die Personennamen mit 94% klar anführen: Der morphographische Apostroph heftet sich zuvörderst an nicht nur an Eigen-, sondern an Personennamen, denn Toponyme und andere Namentypen erfahren diese Auszeichnung ungleich seltener (s. Abb. 9). Damit bilden Personennamen das Zentrum für die Verwendung von Apostrophen. Enthalten diese Personennamen zusätzlich nicht-native Strukturen, so scheint dies seinerseits die Apostrophsetzung zu fördern, vgl. Mao's, Buddha's (dieser Zusammenhang müsste noch systematisch untersucht werden). Ebenso treibt die Kombination Eigenname + Abkürzung die Apostrophsetzung in die Höhe: Joseph K.'s Prozess.

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Abb. 9: Basen vor apostrophiertem Genitiv-s im Scherer-Korpus

Zurück zu Abb. 8: Die wenigen (60) verbleibenden Appellative bestehen fast ausschließlich aus Fremd- oder Kurzwörtern wie Bureau, Bialy, Genie, Raver, Majestät; EEG, LKW, Pkw, daneben besondere Abkürzungen (ohne Abkürzungspunkt) wie des Jh's oder Musiknoten wie des A's. Ohne Ausnahme handelt es sich um schwierige Wörter gemäß unserer Definition. Auch die Apostrophsetzung vor Plural-s, die mit nur insgesamt 11% zu Buche schlägt, betrifft zu immerhin 34% Eigennamen, primär Familiennamen (: Der grammatische Teil wird maximal vom Wortkörper abgerückt bzw. in seinen Schatten gestellt.

4 Fazit: Unterschiedliche Wege – gleiche Ziele Durch die funktionale Perspektive wurden scheinbar disparate Phänomene erstmals zusammengeführt, die bislang nicht miteinander assoziiert wurden: Zum einen wurde gezeigt, dass die s-Flexion der Vorläufer der Deflexion ist und beide prominent bei phonologisch oder/und semiotisch-pragmatisch markierten Wörtern auftreten – umso mehr, je mehr Markiertheit ins Spiel kommt. Unmarkierte Wörter setzen dagegen die Genitiv- und Pluralallomorphie fort, d.h. von einer allgemeinen Deflexionstendenz zu sprechen bedeutet, deren Distribution und deren Funktion zu verkennen. Mehr noch: Selbst der stark kritisierte Apostroph fügt sich chronologisch, distributionell und funktional erstaunlich präzise in diesen Komplex ein. Dabei ist er ambivalent: Einerseits trennt er Flexive vom Wortkörper ab, andererseits betont er auch deren Zusammengehörigkeit. Er schafft Distanz und markiert primär eine morphologische Grenze. Insgesamt unterstützt er die leserseitige Verarbeitung lexikalischer und grammatischer Informationen. Im Fall des suffixäquivalenten Apostrophs (Ines' Hund) hat er sogar graphischen Morphemstatus erlangt. Trotz seiner Stigmatisierung ist der Apostroph konsequent der allgemein festzustellenden Vertiefung der Schreibprinzipien gefolgt.

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Tanja Ackermann & Christian Zimmer

Morphologische Schemakonstanz – eine empirische Untersuchung zum funktionalen Vorteil nominalmorphologischer Wortschonung im Deutschen Abstract: In German, differences between the declension of words belonging to the peripheral nominal domain (mainly proper names, abbreviations, and loan words) and that of more prototypical nouns can be observed. This can be explained by the competition of two motivations, which are weighted differently depending on the nature of the noun in question: the overt expression of morphosyntactic properties vs. ‘morphological schema constancy’, which is more important for peripheral nouns. The notion ‘morphological schema constancy’ refers to word form stability through the avoidance of inflectional elements that strongly affect the shape of a word (e.g. Taxi-s vs. Tax-en ‘taxis’, or umlaut), or the avoidance of inflectional elements at all (d-es Barock-Ø vs. d-es Barock-s ‘the-GEN.SG Baroque-GEN.SG’). In the present study, we report the results of a selfpaced reading task, in which we compared reading times of inflected (des Barock-s) vs. non-inflected nouns (des Barock-Ø) within a genitive phrase. Since the non-inflected variants evoke significantly shorter processing times, our findings indicate that ‘morphological schema constancy’ leads to a facilitation of word recognition of peripheral nouns; thus they support the idea that ‘schema constancy’ is a functional principle that plays an important role in determining morphological variation. Keywords: morphological schema constancy, self-paced reading, nominal inflection, variation, genitive-s omission

|| Tanja Ackermann: Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, +49-3083851578, [email protected] Christian Zimmer: Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, +49-3083861778, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-006

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1 Einleitung Sowohl synchron als auch diachron sorgt der periphere substantivische Bereich, zu dem hauptsächlich Eigennamen, Fremdwörter, Kurzwörter, Onomatopoetika und (metalinguistische) Substantivierungen gezählt werden, im Deutschen für Variation innerhalb der Nominalflexion.1 Funktional ausgerichtete Erklärungsansätze beziehen sich bei der Beschreibung der entsprechenden Phänomene häufig auf ein Prinzip, das als morphologische Schemakonstanz bezeichnet werden kann. Gemeint ist hiermit die Konstanthaltung eines Wortkörpers durch die Vermeidung besonders wortkörperaffizierender Elemente zugunsten strukturbewahrender Flexive (z.B. mehrere Taxi-s statt mehrere Taxen)2 oder – im radikalsten Fall – der Auslassungs des Flexivs (z.B. die Gefahren des Internet-Ø statt die Gefahren des Internet-s). In der Schemakonstanz wird ein Verarbeitungsvorteil für HörerInnen bzw. LeserInnen gesehen, der in der besseren Wiedererkennbarkeit eines Wortes liegt. Dieser funktionale Vorteil wurde bislang noch nicht empirisch nachgewiesen. Die vorliegende Studie liefert anhand von Ergebnissen aus einem Self-Paced-Reading-Experiment (SPR) empirische Evidenz für einen psycholinguistisch messbaren Verarbeitungsvorteil schemakonstanter Wortformen auf Seiten der LeserInnen. Im Folgenden definieren wir zunächst das Prinzip der morphologischen Schemakonstanz und grenzen den Begriff von in der Literatur existierenden Verwendungsweisen ab. In diesem Zuge zeigen wir auch die Relevanz der Schemakonstanz als funktionaler Erklärungsansatz für Variation und Wandel in der Nominalflexion des Deutschen auf, indem wir Studien zu verschiedenen Phänomenen des peripheren Substantivbereichs vor dem Hintergrund der Wortschonung diskutieren. Dabei erläutern wir, warum sich die aktuell beobachtbare Monoflexion in genitivischen Nominalgruppen mit peripheren Substantiven (z.B. die Leistung des PC, die Verkaufszahlen des iPhone) besonders gut als Untersuchungsobjekt für eine psycholinguistische Verarbeitungszeitstudie eignet. Daraufhin legen wir detailliert das SPR-Experiment und die durchgeführten Prätests dar und analysieren die Ergebnisse. Abschließend diskutieren wir die Reichweite und Übertragbarkeit des von uns gemessenen Verarbeitungsvorteils.

|| 1 Zum Begriff Peripherie siehe z.B. Köpcke 1993: 91–95. 2 Zur Integration von Fremdwörtern siehe Abschnitt 2.2.

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2 Die Relevanz der Schemakonstanz 2.1 Definitorische Abgrenzung Der Terminus Schemakonstanz stammt ursprünglich aus der Graphematik. Hier wird mit diesem Begriff – auch „morphologisches Prinzip“ oder „Prinzip der Morphemkonstanz“ (Grammatik-Duden 82009: 78–79) genannt – das Bestreben bezeichnet, „die Elemente eines Paradigmas [...] möglichst wenig zu variieren, das heißt im ganzen Paradigma möglichst konstant zu halten“ (Gallmann 1990: 516). Dieses Prinzip, das zum Teil Abweichungen von den Graphem-PhonemKorrespondenz-Regeln erzwingt, sorgt beispielsweise für eine einheitliche Schreibung im Paradigma von , in dem z.B. der Nominativ Singular aufgrund der Auslautverhärtung auf enden müsste, wenn das Prinzip der Phonemkonstanz gelten würde.3 Im Prinzip der Schemakonstanz werden allgemein Vorteile für LeserInnen und SchreiberInnen gesehen, da auf diese Weise eine Identifizierung der Morpheme befördert werde (vgl. Nerius 32000: 146–147). Auch in der Phonologie spielt die Konstanthaltung der Wortformen eines Paradigmas eine Rolle (vgl. z.B. Ramers 1999: 130). So sorgten im Frühneuhochdeutschen morphologisch motivierte analogische Ausgleichsprozesse für phonologischen Wandel. Z.B. kann die nicht silbenstrukturell motivierte Dehnung von Vokalen in geschlossener Tonsilbe mit dem Prinzip der Schemakonstanz erklärt werden: Nachdem Vokale in Pluralformen mit offener Tonsilbe aus silbenstrukturellen Gründen gedehnt wurden (z.B. [ta.gə] > [taː.gə]), erfolgte analogisch die (silbenstrukturell nicht motivierte) Dehnung der Kurzvokale in einsilbigen Singularformen mit geschlossener Tonsilbe (z.B. [tak] > [taːk]), wodurch einheitliche Paradigmen wiederhergestellt wurden (vgl. Szczepaniak 2007: 234–235). Im Bereich der Flexionsmorphologie ist mit dem Begriff Schemakonstanz die generelle Schonung bzw. Konstanthaltung des Wortkörpers durch die Vermeidung von wortkörperaffizierenden Elementen wie Umlauten oder Flexionsendungen gemeint.4 Diese, auch häufig explizit als onymisch ausgewiesene,

|| 3 Da die graphematische Schemakonstanz hier nicht im Mittelpunkt steht, gehen wir an dieser Stelle nicht ausführlicher darauf ein. Siehe hierzu z.B. Nerius (32000: 146–160); Ruge (2004); Nübling (2014). 4 Der Terminus Schema wird auch mit anderen spezifischen Bedeutungen verwendet, die nicht mit der hier gemeinten übereinstimmen (vgl. z.B. Köpcke 1993). Terminologisch richten wir uns nach der Verwendungsweise des Begriffs Schemakonstanz, die an die Bedeutung im

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Schemakonstanz spielt eine wichtige Rolle bei der Deflexion von Eigennamen (vgl. Nübling 2005, 2012; Nübling & Schmuck 2010; Ackermann 2016).5 Während Appellative, die – zumindest defaultmäßig – einen Determinierer benötigen, um auf eine Entität zu referieren, eine Inhaltsseite besitzen, leisten Eigennamen etikettengleich Direktreferenz auf ein Denotat, weshalb die Ausdrucksseite und deren Stabilität bei Eigennamen eine wichtigere Rolle spielt. Abb. 1, die auf dem semiotischen Dreieck von Ogden & Richards (1923) basiert, veranschaulicht die zentralen Unterschiede zwischen Namen und Appellativen bezüglich der Referenzleistung. Der durchgezogene Pfeil bei den Eigennamen zeigt an, dass sich ein materieller Ausdruck (phonisch oder graphisch) ohne Inhaltsseite direkt auf ein Objekt bezieht. Selbst wenn bei transparenten Namen (z.B. Fleischer oder Falkenberg) die alte Semantik noch mitschwingen mag (gestrichelte Linie), so leistet diese in keinem Fall (mehr) Bezug zum Namenträger (durchgestrichene Linie). Appellative hingegen haben eine lexikalische Bedeutung (Intension), über die der Bezug zum Denotat (Extension) hergestellt wird; eine Direktreferenz vom Ausdruck zum Objekt ist hier ausgeschlossen (vgl. Nübling 2000: 276– 277 und Nübling et al. 22015: 31–37).

Abb. 1: Semiotische Bezeichnungsmodelle für Namen und Appellative (nach Nübling 2000: 277)

Dieser semiotisch-pragmatische Unterschied zwischen Appellativen und Eigennamen führt unter anderem dazu, dass letztere im Allgemeinen eine geringere (subjektive) Frequenz aufweisen, SprachbenutzerInnen weniger mit ihnen ver|| graphematischen Kontext anknüpft (vgl. z.B. Nübling 2005; Nübling & Schmuck 2010 oder Gallmann i. E.). 5 Laut Mayerthaler (1981:152) wäre es im Sinne der Natürlichkeitstheorie (vgl. hierzu auch Wurzel 1994, 22001 und Dressler 1987) konstruktionell ikonisch, wenn die semantische Eigenschaft (rigider Designator) formal durch weniger oder gar keine Flexion abgebildet wird: „Auf der Grundlage von MMT [Morphologische Markiertheistheorie] erstaunte es nicht, wenn Eigennamen ein mehr oder minder defektives Flexionsparadigma aufweisen.“

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traut sind, sie tendenziell später erworben werden und häufig eine geringere Nachbarschaftsdichte haben (vgl. hierzu ausführlich Zimmer 2016: 119–153). Von diesen Eigenschaften wird allgemein angenommen, dass sie die Worterkennung erschweren. Diese Faktoren werden in der psycholinguistischen Literatur unter den Schlagwörtern familiarity, (subjective) frequency, age of acquisition und neighborhood density behandelt (für einen Überblick zu den einzelnen Faktoren vgl. Gernsbacher 1984; Balota, Pilotti & Cortese 2001; Juhasz 2005 und Andrews 1997). Gleichzeitig kann man nachweisen, dass gerade diese Substantive zur formseitigen Invarianz neigen (s. Abschnitt 2 sowie die dort angegebene Literatur), sodass es naheliegt, von einem entsprechenden funktionalen Zusammenhang auszugehen: Die hier aufwendige Worterkennung soll durch Wortkörperaffizierung nicht weiter erschwert werden. Die psycholinguistische Überprüfung der zugrundeliegenden Prämisse, dass diese Substantive ohne flexivische Markierung schneller verarbeitet werden, steht bislang aus und soll in Abschnitt 3 erfolgen.6 Darüber hinaus sollte die Struktur eines Eigennamens konstant gehalten werden, damit der Stamm erkannt und von Flexiven unterschieden werden kann. Z.B. ist beim pluralisierten Familiennamen Geißens unklar, ob es sich um den Stamm Geiß oder Geißen handelt. Gerade auch bei Familiennamen, die historisch aus Rufnamen entstanden sind sowie bei sogenannten sekundären Patronymen7 koexistieren Varianten, die (alte) Flexionsendungen konserviert haben (z.B. Hinrichs, Otten, Beckers) mit endungslosen Varianten (z.B. Hinrich, Ott/Otte/Otto, Becker). Hier muss der Name gekannt werden, um entscheiden zu können, ob die einem Flexiv gleichende Endung zum Stamm gehört oder nicht. Bei Appellativen ergibt sich diese Frage in der Regel nicht. Dass die Struktur konstant gehalten wird, gilt besonders auch für Eigennamen mit Fremdheitsmerkmalen, die im Deutschen zahlreich anzutreffen sind (siehe z.B. Eisenberg 22012: 94–99 zu Warennamen und Eisenberg 22012: 174–177 zu Familiennamen). Generell zeigen Eigennamen die Tendenz, sich durch phonologische oder orthographische Merkmale von Appellativen abzugrenzen (vgl. Nübling 2005). Besonders Eigennamen, die phonologisch stark abweichen (z.B. durch eine größere Anzahl an Vollvokalen) neigen zu formseitiger Invarianz (vgl. z.B. Zimmer 129–137).

|| 6 Neurolinguistische Studien liefern bereits Evidenz für die Unterschiedlichkeit von Eigennamen und Appellativen bezüglich Verarbeitung und Produktion (vgl. Müller 2010). 7 Das sind nach Kunze (42003: 63) Familiennamen, die aus einer Kennzeichnung des Vaters entstanden sind, wie z.B. bei dem Namen Beckers (< der Sohn des Bäckers).

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Auch bei anderen peripheren Substantivklassen wie Fremdwörtern, Kurzwörtern, Onomatopoetika oder (metalinguistischen) Substantivierungen ist Schemakonstanz relevant; zwar nicht aus semiotisch-pragmatischen Gründen, sondern wegen der auch hier gegebenen Notwendigkeit, den Wortkörper aufgrund seiner besonderen Struktur und/oder relativen Unbekanntheit zur besseren Wiedererkennbarkeit stabil zu halten. Dabei ergeben sich je nach Kategorie unterschiedliche Gründe für den Schonungsbedarf, dem durch die Konstanthaltung des Wortkörpers Rechnung getragen wird: Fremdwörter sind kurz nach ihrer Entlehnung meist unbekannt bzw. wenig frequent. Wenn die flektierten Formen eines neu entlehnten Lexems strukturell stark voneinander abweichen würden, ginge damit eine größere Kompetenzbelastung einher, was die Verbreitung des Fremdworts erschweren könnte.8 Erst mit einem Frequenzzuwachs gehen Fremdwörter zu nativen Flexionsmustern über (vgl. hierzu Wegener 2002, 2004, 2010 und Zimmer 2016: 82–119). Kurzwörter sind zu Beginn ihrer Karriere häufig ebenso neu und unbekannt wie Fremdwörter. Das ist hinsichtlich ihrer Verarbeitung das entscheidende Merkmal.9 Hinzu kommt, dass manche Kurzwörter (besonders buchstabierte Buchstabenkurzwörter wie LKW) als markiert (im Sinne von ‚ungewöhnlich‘) und als nicht vollwertige Substantive wahrgenommen werden. Auch deshalb weichen sie flexionsmorphologisch von solchen Wörtern ab, die als „normale, vollwertige Wörter“ (also als nichtperiphere Substantive) wahrgenommen werden (vgl. hierzu auch RonnebergerSibold 2007: 279). Weitere schonungsbedürftige Substantivklassen wie z.B. Onomatopoetika, (metalinguistische) Substantivierungen oder Neologismen, die hier nicht weiter thematisiert werden, werden bei Wegener (2002) diskutiert. Den Begriff Schemakonstanz verwenden wir im Folgenden mit der eben erläuterten, auf die Morphologie bezogenen Bedeutung ‚Wortkörperschonung‘. Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, inwiefern dieses Prinzip als Erklärungsansatz für flexionsmorphologischen Wandel sowohl im onymischen Bereich als auch insgesamt zur Erklärung von Wandel und Variation in der Peripherie der Substantivklasse genutzt wird.

|| 8 Zur Verarbeitung unterschiedlicher Pluralformen im Deutschen siehe Sonnenstuhl-Henning (2003). 9 Auch hier spielen die sich erschwerend auf die Worterkennung auswirkenden Merkmalausprägungen der bereits erwähnten psycholinguistisch relevanten Variablen eine entscheidende Rolle (z.B. orthographic neighborhood, familiarity und age of acquisition sowie FrequenzEffekte).

Morphologische Schemakonstanz | 151

2.2 Schemakonstanz in bisherigen Erklärungsansätzen für Wandel und Variation in der Nominalflexion Die Ausdrucksseite von Substantiven, die zu den oben erwähnten peripheren Klassen zählen und besonderer Wortschonung bedürfen, sollte durch Kasusund Numerusflexion möglichst wenig affiziert werden. Mit dem s-Plural und der Tendenz zur Monoflexion in genitivischen Nominalgruppen im Deutschen sollen zwei Phänomenbereiche kurz umrissen werden, bei denen dieser Erklärungsansatz relevant ist. Numerus Der s-Plural ist im Deutschen – wenn auch produktiv – als randständiger Plural aufzufassen,10 der vor allem bei peripheren Substantivklassen auftritt (vgl. Nübling & Schmuck 2010: 147). Als funktionale Begründung für seine Distribution auf diese Klassen wird vorrangig die gestaltschonende Qualität des s-Flexivs genannt, weshalb dieser Marker auch als Transparenzplural bezeichnet werden kann (vgl. Wegener 2002, 2004, 2010; Nübling & Schmuck 2010).11 Die strukturbewahrende Qualität des unsilbischen -s liegt dabei in den folgenden Eigenschaften: Eine potenzielle Resilbifizierung wird unterbunden (Appellativ: Koch, Kö.che vs. Familienname: Koch, Kochs). Der Endkonsonant bleibt unverändert und unterliegt keinen phonologischen Prozessen: Die Auslautverhärtung wird nicht aufgehoben (Appellativ Hund: [hʊnt], [hʊndə] vs. Familienname Hundt: ([hʊnt], ([hʊnts]) und eine mögliche Palatalisierung bleibt aus (Appellativ Koch: [kɔχ], [kœ.çə] vs. Familienname Koch: [kɔχ], [kɔχs]). Daneben geht der s-Plural nie mit Umlaut einher (Appellativ: Koch, Köche vs. Familienname: Koch, Kochs). Lediglich der rechte Silbenrand wird komplexer. Durch den Ø-Plural ist eine noch größere Wortschonung möglich, was jedoch im Sinne der Natürlichkeitstheorie nicht ikonisch ist, da insbesondere bei Feminina, die im Plural zum Teil mit dem Singular homonyme Artikel haben, ein Mehr an Bedeutung nicht mit einem Mehr an Form einhergeht, was bei der für Substantive relevanten Kategorie Numerus nicht funktional ist (vgl. Wegener 2010: 93). Die Pluralisierung mit -s garantiert also die größte Wiedererkennbarkeit, ohne gegen den konstruktionellen Ikonismus zu verstoßen.

|| 10 Neben dieser Auffassung existiert auch die Meinung, dass der s-Plural im Deutschen als unmarkierter Pluralmarker gesehen werden sollte (vgl. z.B. Wiese 1996: 138; Clahsen 1999). 11 Daneben gibt es auch phonologische Kriterien, aufgrund derer einige Substantive (z.B. buchstabierte Buchstabenkurzwörter oder auf unbetonten Vollvokal auslautende Nomina) den s-Plural nehmen (vgl. Wegener 2010: 90–92).

152 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

Bei Eigennamen hat sich der s-Plural erst im Laufe der Zeit über die Flexionsklassen hinweg zum deutlich dominierenden Pluralmarker entwickelt (zu Personennamen vgl. z.B. Ackermann 2016: 177–182); noch in frühneuhochdeutscher Zeit wiesen Eigennamen fast die gleichen Allomorphe – bei den Maskulina sogar solche mit stammveränderndem Umlaut – auf wie die Appellative (vgl. Nübling 2012: 239–240; Paul 1917: 159). Die Ursache für diesen flexionsmorphologischen Wandel, der heute (in seltenen Fällen) sogar so weit geht, dass das -s am Eigennamenkörper schwindet, wenn der Plural an einem Begleitwort ausgedrückt wird (z.B. einer von 5.000 BigMac), wird dabei in der onymischen Schemakonstanz gesehen (vgl. Nübling 2012 und Ackermann 2016). Auch bei den schonungsbedürftigen Kurzwörtern, von denen die meisten den Plural auf -s bilden, scheint laut Ronneberger-Sibold (2007: 282) die einzig gangbare Vermeidung des s-Plurals „darin zu bestehen, ihn einfach ganz wegzulassen: der LKW – die LKW“. Das dahinterstehende Motiv, das dem sonst im substantivischen Bereich vorherrschenden und außerordentlich mächtigen Prinzip der Numerusprofilierung entgegenwirkt, ist auch hier in dem Streben nach Wortkörperschonung zu sehen. Im Bereich der Fremdwörter lässt sich ein flexionsmorphologischer Wandel beobachten, der mit dem Prinzip der morphologischen Schemakonstanz erklärt werden kann, der aber diametral zur Entwicklung bei den Eigennamen verläuft: Unbekannte Fremdwörter pluralisieren nach ihrer Entlehnung zunächst mit -s, da die strukturbewahrende Form das Wiedererkennen erleichtert und so zum Bekanntwerden beiträgt. Erst mit einem Frequenzzuwachs werden native Pluralsuffixe möglich, die den Wortkörper wesentlich stärker affizieren, aber den Wohlgeformtheitsbedingungen des Deutschen insgesamt besser entsprechen, wie z.B. bei Generals > Generäle (vgl. z.B. Köpcke 1993: 152–156; Wegener 2004; Eisenberg 22012: 209–236; Zimmer 2016: 102–117). Kasus Paradigmatisch wurde (wie oben erwähnt) die Numerusflexion bei Eigennamen bereits abgebaut, indem die Anzahl der Allomorphe reduziert wurde. Gegenwärtig lassen sich Tendenzen zum syntagmatischen Abbau erkennen. Was die Kasusflexion betrifft, so weisen Eigennamen nur noch in adnominalen Possessivkonstruktionen ohne Determinierer durchgängig und genusübergreifend den überstabilen und strukturbewahrenden Marker12 -s auf: Alberts Wein bzw. der

|| 12 Mit dem von Wurzel (1987) geprägten Terminus ‚überstabiler Marker’ sind hier im Sinne von Dammel & Nübling (2006) klassenübergreifende Marker gemeint, die in Bezug auf flektie-

Morphologische Schemakonstanz | 153

Wein Alberts.13 Vor dem Hintergrund, dass die onymische Kasusflexion im Althochdeutschen noch weitestgehend der appellativischen entsprach und „[k]eine andere Einheit [...] in der jüngsten Sprachgeschichte von solch tiefgreifenden Umstrukturierungen affiziert worden [ist] wie der Eigenname“ (Nübling 2012: 244; vgl. auch schon Steche 1927: 140), bedarf es einer gesonderten Erklärung für die radikale syntagmatische Deflexion innerhalb dieser nominalen Subklasse. Nübling (2012: 244) sieht in der Monoreferenz von Eigennamen den funktional begründeten Anlass für diesen Prozess: Namen müssen als rigide Designatoren maximal geschont werden. Für diese These lassen sich auch graphematische Argumente anbringen: Neben der Generalisierung der s-Flexive und deren später voranschreitendem Abbau dient laut Nübling (2014: 99) auch die am häufigsten bei Eigennamen auftretende Apostrophsetzung vor -s (z.B. Guido’s Blumenladen) „ein und derselben Funktion: Der Schonung und Konstanthaltung markierter Wortkörper“ (vgl. auch Scherer 2010, 2013). Während sich in genitivischen Nominalgruppen mit männlichen Personennamen seit dem 18. Jh. die Tendenz zur Monoflexion – der einfachen Kasusmarkierung innerhalb der Nominalgruppe – einstellt14 und heute der Normalfall ist (z.B. das Verschwinden des kleinen Michael), ist die Flexion von anderen Eigennamentypen als gegenwärtiger Zweifelsfall zu betrachten (z.B. die Literatur des Barock(s), am Fuße des Himalaya(s), vgl. Zweifelsfall-Duden 72011: 338, 140, 1006-1007). Die Gegebenheit, dass „die Bekanntheit eines Namens bzw. generell native Strukturen eher das Genitiv-s erlauben als seltene, fremde Namen“ spricht laut Nübling (2012: 237) deutlich dafür, „dass die Deflexion im Dienst der Schonung des Wortkörpers und dessen besserer Wiedererkennbarkeit steht“. Doch nicht nur bei Eigennamen schwankt das -s in genitivischen Nominalphrasen mit Determinierer, auch maskuline und neutrale Fremdwörter (des Ramadan) und Kurzwörter (des PKW) werden häufig ohne s-Flexiv gebildet (vgl. Scott 2014: 253–259; Zimmer i. E.). Hier, wie schon beim s-Plural, zeigt sich deutlich, dass der periphere substantivische Bereich betroffen ist; native Appellative zeigen gegenwärtig keine Tendenz zum s-Abbau (*des Stuhl). Auch hier kann der maßgebliche Grund für die angestrebte Wortkörperschonung in der Sche|| rende Sprachen – ganz im Kontrast zur Allomorphie – als Symptom für die Schwäche der betroffenen Kategorie angesehen werden können. 13 Die Frage, ob es sich bei adnominalen Possessivkonstruktionen mit Eigennamen noch um Genitive handelt, soll hier nicht diskutiert werden. Fuß (2011), Scott (2014) und Ackermann (i. E.) liefern jedenfalls Argumente dafür, den s-Marker als reanalysiertes possessives Element zu analysieren. 14 Man denke an den s-Wegfall in der 2. Auflage von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ von 1787 gegenüber der Erstauflage „Die Leiden des jungen Werthers“ von 1774.

154 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

makonstanz gesehen werden. Diese wird hier – im Gegensatz zum substantivischen Kernbereich – stärker gewichtet als die syntaktisch geforderte Kongruenz. Der Kasusausdruck wird dabei nicht beeinträchtigt, da er eindeutig durch den Artikel geleistet wird. Andere Faktoren, wie phonologische (z.B. Auslaut auf -en) oder syntaktische Merkmale (z.B. Umfang der Nominalgruppe), die in der Literatur diskutiert werden (vgl. Appel 1941; Shapiro 1941; Leirbukt 1983; Rowley 1988; Wiedenmann 2004 und Scott 2014), sind von stark untergeordneter Bedeutung. Für eine ausführliche und datenbasierte Untersuchung der Variation siehe Zimmer 2016). Dass z.B. phonologische Gegebenheiten die Tendenz zur Monoflexion nicht hinreichend erklären können, veranschaulicht der korpusbasierte Vergleich zwischen dem Toponym Tiber ([ti:bɐ]) und dem Appellativ Fieber ([fi:bɐ]), die bis auf den Anlaut phonologisch identisch sind (vgl. Tab. 1; zur Beschreibung des Korpus s. Abschnitt 3.1). Der Eigenname wird wesentlich häufiger ohne Flexiv verwendet als das Appellativ.

-s vs. -Ø

Anteil s-lose Formen

Tiber

202 | 211

51,1%

Fieber

558 | 10

1,7%

Tab. 1: Die Flexion von Tiber vs. Fieber in genitivischen Nominalgruppen im Webkorpus DECOW-2012

2.3 Wo lässt sich Schemakonstanz empirisch untersuchen? Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, wird das Streben nach Schemakonstanz häufig als funktionaler Erklärungsansatz genutzt, um Variation und Wandel innerhalb der Flexionsmorphologie des peripheren Substantivbereichs zu begründen. Die Konstanthaltung des Wortkörpers durch strukturbewahrende Suffixe oder – im radikalsten Fall – syntagmatische Deflexion stelle dabei einen funktionalen Vorteil für HörerInnen bzw. LeserInnen dar, indem eine sofortige Wiedererkennbarkeit gefördert werde (vgl. Nübling 2005: 50–51). Empirische Evidenz für diesen theoretisch angenommenen Verarbeitungsvorteil durch morphologische Schemakonstanz gibt es unseres Wissens allerdings noch nicht. Im Folgenden soll daher anhand eines SPR-Experiments psycholinguistisch untersucht werden, ob sich ein Verarbeitungsvorteil zugunsten schema-

Morphologische Schemakonstanz | 155

konstanter Formen messen lässt. Die Hypothese lautet dabei, dass im peripheren Substantivbereich die Verarbeitungsdauer von strukturbewahrenderen Flexionsvarianten kürzer ausfällt als die von strukturaffizierenderen Formen. Dies würde theoretische Argumentationen, auch für bereits abgeschlossenen Sprachwandel, stützen. Als Untersuchungsobjekt sollen dabei die im letzten Abschnitt thematisierten genitivischen Nominalgruppen mit neutralen und maskulinen Substantiven dienen, die bezüglich der Markierung mit -s schwanken. Anhand dieses Bereichs lässt sich die Relevanz der Schemakonstanz aus verschiedenen Gründen besonders gut experimentell untersuchen: Wir haben es hier mit einem echten gegenwärtigen Zweifelsfall zu tun, bei dem eine mehr und eine weniger strukturbewahrende Variante existieren, die beide im Gegenwartsdeutschen bei bestimmten Substantiven als grammatisch gelten (vgl. Grammatik-Duden 8 2009: 200–206). Noch wichtiger als die normative Beurteilung der Grammatikalität beider Varianten sind die in diesem Bereich gleich gut ausfallenden Akzeptabilitätsurteile von deutschen MuttersprachlerInnen (siehe Abschnitt 3.1). Es ist für unsere Untersuchung unabdingbar, dass beide Varianten gleich akzeptabel sind, da andernfalls Markiertheitseffekte einen erheblichen Einfluss auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit haben und als Ursache für eine längere Lesezeit nicht ausgeschlossen werden können (vgl. z.B. Marinis 2010: 145). Während sich bezüglich der Schwankung zwischen Mono- und Polyflexion in genitivischen Nominalgruppen eine ganze Reihe an Substantiven finden lässt, bei denen beide Varianten akzeptabel sind, wird bei den anderen oben vorgestellten Phänomenen in der Regel eine Variante bevorzugt (vgl. Abschnitt 3.1). Weiterhin lassen sich in genitivischen Nominalgruppen mit Eigennamen, Fremdwörtern und Kurzwörtern unterschiedliche Substantivklassen mit jeweils genügend Vertretern untersuchen und vergleichen. In unserem Experiment werden also zwei Varianten verglichen, die sich in einem einzigen, nichtsilbischen Segment unterscheiden; das zusätzliche Morphem bzw. der Kongruenzmarker -s sorgt für Unterschiede bzgl. der morphologischen Komplexität der zu vergleichenden Wortformen. Ob sich dieser Unterschied signifikant auf die Verarbeitungszeit auswirkt, soll im Folgenden überprüft werden. Wir knüpfen dabei an Studien an, die gezeigt haben, dass isoliert präsentierte Wörter schneller erkannt werden, wenn sie nicht morphologisch komplex sind (vgl. z.B. Günther 1983; Baayen et al. 1997; Dominguez et al. 1999 oder New

156 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

et al. 2004).15 Im Gegensatz zu diesen Studien, die üblicherweise Singular- und Pluralform eines einzelnen Substantivs vergleichen, muss bei der hier untersuchten Variation berücksichtigt werden, dass es sich um ein Kongruenzphänomen handelt: Der dem Substantiv vorausgehende Artikel spielt eine wichtige Rolle. Nur wenn ein Artikel realisiert wird, kann das -s ausgelassen werden, was anhand von Korpus-Daten belegbar ist (*die Bedeutung ehrenamtlichen Engagement, vgl. Zimmer 2016: 37–42). Sowohl der indefinite als auch der definite Artikel markiert den Kasus eindeutig. Das -s hat deshalb keinen eigenen semantischen Mehrwert und ist redundant. Dass Kongruenz morphologische Verarbeitungsprozesse beeinflusst, zeigen z.B. Gurjanov et al. (1985). Während Studien, die Kongruenz thematisieren, üblicherweise aber Vergleiche zwischen Konstruktionen, die Kongruenz-Regeln verletzen bzw. nicht verletzen, anstellen (also grammatische mit nicht grammatischen Konstruktionen gegenüberstellen, vgl. Molinaro et al. 2011:914), erlaubt die Genitivvariation den Vergleich von jeweils grammatischen, kongruierenden und nicht kongruierenden Varianten innerhalb eines ansonsten identischen Satzes. Es ist durchaus denkbar, dass der Kongruenzmarker -s „als Dekodierhilfe für den Hörer bzw. Leser [, der] die Grenzen der Konstituenten klar markiert“ (Ronneberger-Sibold 2010: 98), den syntaktischen Dekodierungsprozess erleichtert und somit für geringere Lesezeiten sorgt.16 Darüber hinaus ist das Besondere an der hier untersuchten Schwankung, dass nicht verschiedene Kategorien miteinander verglichen werden (z.B. typischerweise Singular vs. Plural), sondern semantisch äquivalente Varianten, die sich ausschließlich auf der Formseite unterscheiden. Dass sich Unterschiede

|| 15 Baayen et al. 1997 und New et al. 2004 zeigen, dass für die Erklärung der von ihnen beobachteten Reaktionszeiten sowohl Wortformfrequenz- als auch Lemmafrequenzeffekte relevant sind, was als Evidenz für das parallel dual-route model gewertet wird (vgl. im Gegensatz dazu z.B. Clahsen 1999 oder Sereno & Jongmann 1997). Da bei allen 15 hier behandelten Lexemen (vgl. Abschnitt 3.1) über alle Kasus hinweg die Variante ohne -s frequenter ist, wird im Folgenden der mögliche Einfluss relativer Wortformfrequenzen eines Lexems nicht weiter verfolgt. Relevant mit Blick auf die hier diskutierten Konstruktionen ist die Annahme, dass die Segmentierung einer komplexen Wortform (wenn die decomposition route greift) zu längeren Verarbeitungszeiten führt (vgl. z.B. New et al. 2004: 570). Empirische Befunde, die einen gegenteiligen Effekt beschreiben, sind eher selten (vgl. am Beispiel der Wortbildungsmorphologie z.B. Hudson & Buijs 1995). 16 Eine grundsätzliche Überprüfung eines möglichen Verarbeitungsvorteils von kongruierenden Formen im Deutschen ist mit der hier vorliegenden Studie natürlich nicht zu leisten, zumal in der Literatur zwar auch ein Vorteil für adjazente kongruierende Wortformen angenommen wird, dieser bei größerer Distanz zwischen den kongruierenden Elementen aber größer sein sollte.

Morphologische Schemakonstanz | 157

zwischen Kategorien auf Lesezeiten auswirken und z.B. Komplexitätsunterschiede überlagern können, zeigen u.a. Katz et al. (1995) und Kostić (1995) anhand der serbischen Nominalflexion. Unabhängig von Frequenz-Effekten und der jeweiligen morphologischen Komplexität wird z.B. der (bei Feminina auch mit Suffix markierte) Nominativ im Serbischen schneller verarbeitet als oblique Kasus-Formen. Auch Baayen et al. (1996) thematisieren ausführlich, dass Unterschiede zwischen Kategorien unabhängig von Komplexitäts- und Frequenzeffekten erhebliche Einflüsse auf die Verarbeitungszeit einer Wortform haben, wobei sie unter anderem Unterschiede zwischen contextual inflection (z.B. Kongruenz) und inherent inflection (z.B. Numerus) betonen (vgl. auch Booij 1993). Bei der hier untersuchten Genitivvariation ist der Unterschied auf der Formseite (+/- ein Segment/Morphem) abgekoppelt von semantischen Merkmalen, weshalb Lesezeiten nicht durch entsprechende Effekte überlagert werden können. Außerdem gibt der jeweils vorausgehende Artikel eindeutig Aufschluss über den Kasus der Nominalgruppe.17 Im Folgenden wird zunächst der Experimentaufbau dargestellt, bevor auf die Ergebnisse und deren Diskussion Bezug genommen wird.

3 Experiment 3.1 Prätest Um Erkenntnisse über den Einfluss von Flexion auf die Verarbeitungszeit peripherer Substantive sauber erheben zu können, müssen diejenigen Faktoren kontrolliert werden, die erwiesenermaßen ebenfalls einen Einfluss auf Verarbeitungszeiten haben (können). Dazu zählt an erster Stelle die bereits erwähnte Tatsache, dass Konstruktionen, die als nicht oder marginal grammatisch bewer-

|| 17 Um diesen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, haben wir uns dazu entschieden, die Formen im Satzkontext und nicht isoliert zu präsentieren (vgl. Abschnitt 3.2). Das kann theoretisch einen Einfluss auf die Ergebnisse haben, vgl. z.B. Günther (1983:161), der annimmt, dass morphologisch komplexe Wortformen zwar längere Verarbeitungszeiten evozieren, wenn sie isoliert präsentiert werden, der aber bezweifelt, dass „im Prozeß des flüssigen Lesens [...] Wortformen schlechter erkannt werden als die Grundformen.“ Die Annahme, dass auch im Satzkontext komplexe Wortformen langsamer verarbeitet werden, sei „leider nur schwer zu testen […], jedoch recht unplausibel“; s. auch Günther (1983:160-161) für weitere methodologische Überlegungen.

158 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

tet werden, deutlich längere Verarbeitungszeiten evozieren als zweifellos grammatische Konstruktionen. Um sicherzustellen, dass Unterschiede, die die Grammatikalität zweier zu vergleichender Konstruktionen betreffen, die Resultate nicht verzerren, wurden für das Experiment ausschließlich Substantive ausgewählt, die sowohl mit als auch ohne Genitiv-Suffix akzeptabel sind. Dazu wurden in einem ersten Schritt infrage kommende Substantive per KorpusRecherche im 9,1 Milliarden Wortformen umfassenden Web-Korpus DECOW2012 (Schäfer & Bildhauer 2012) zunächst auf ihre tatsächliche Verwendung in genitivischen Nominalgruppen hin untersucht. Berücksichtigt wurden genitivische Nominalgruppen, die aus einem definiten oder indefiniten Artikel und einem Substantiv bestehen. Neben der Bedingung, zwei gleich akzeptable Genitivformen aufzuweisen, wurden die 15 in die Untersuchung eingegangenen Substantive nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Es wurde zum einen darauf geachtet, dass Vertreter verschiedener peripherer Substantivklassen im Experiment getestet werden. Neben Kurzwörtern (z.B. PC) wurden Fremdwörter (z.B. Internet) und Eigennamen (z.B. Tiber) aufgenommen. Zum anderen wurden Lexeme mit unterschiedlicher Tokenfrequenz und Buchstabenanzahl gewählt, um ein möglichst repräsentatives Sample zusammenzustellen. Diese Merkmale wurden als Faktoren in das statistische Modell integriert (vgl. Abschnitt 4). Die auf der Basis der Korpus-Daten ausgewählten Substantive und ihre Verwendungsweise in Genitivkonstruktionen zeigt Tab. 2 (linke Seite).18

|| 18 An dieser Stelle geht es uns darum, geeignete Lexeme für die psycholinguistische Studie zu identifizieren. Faktoren, die eine Präferenz für oder gegen -s beeinflussen (wie Frequenz, Fremdheitsmerkmale der Substantive usw.), werden hier nicht diskutiert. Siehe hierzu die ausführlichen Darstellungen in Zimmer (i. E.) und Zimmer (2016).

Morphologische Schemakonstanz | 159

Akzeptabilitätswerte

DECOW-2012 Substantiv

Nominalgruppen im Genitiv

Anteil s-loser Formen

-s



p19

April

575

54,3%

4,06

3,18

> 0.05

Bafög

1781

77,4%

4,24

4,06

> 0.05

Barock

6384

80,6%

4,35

4,24

> 0.05

Himalay|ja

20

3193

76,9%

4,35

4,53

> 0.05

Internet

81895

32,2%

4,44

3,06

< 0.001***

iPhone

12314

53,2%

4,76

4,0

> 0.05

Iran

7503

70%

4,13

4,69

> 0.05

Jupiter

1866

63,9%

4,25

3,69

> 0.05

LKW

2487

71%

4,44

3,50

> 0.05

21

Orinok|co

294

87,4%

4,53

4,71

> 0.05

PC

12308

42%

4,41

3,23

> 0.05

Pharao

5129

56,6%

4,29

4,35

> 0.05

Ramadan

1761

71,4%

3,94

4,29

> 0.05

Tango

1567

50,8%

4,29

3,88

> 0.05

Tiber

413

51,1%

4,19

4,19

> 0.05

Tab. 2: Frequenz beider Genitiv-Varianten in DECOW-2012 und deren Akzeptabilität (inklusive p-Wert der Unterschiede)

In einem zweiten Schritt wurde die Eignung aller Substantive, die später in das Experiment integriert wurden, zusätzlich mit einem Akzeptabilitätstest überprüft: 48 ProbandInnen (41 weibliche, 7 männliche) wurden gebeten, die Akzeptabilität von jeweils 30 Sätzen (je 15 Distraktoren und 15 Testitems; within subject-Design22) auf einer Skala von 1 (ungewöhnlich) bis 5 (gewöhnlich) zu bewerten. An diesem Prätest nahmen an der Freien Universität Berlin studie-

|| 19 Ermittelt mit dem Wilcoxon-Test (vgl. Bortz & Schuster 72010: 133). Alle angegebenen statistischen Werte wurden mit SPSS berechnet. 20 Bei der Recherche in DECOW-2012 wurden beide orthographischen Varianten berücksichtigt, im Experiment nur die gebräuchlichere: . 21 Bei der Recherche in DECOW-2012 wurden beide orthographischen Varianten berücksichtigt, im Experiment nur die gebräuchlichere: . 22 Das bedeutet, dass jede Versuchsperson jeweils beide zu vergleichenden Varianten beurteilt hat.

160 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

rende deutsche MuttersprachlerInnen im Alter von 17 bis 29 Jahren (Durchschnittsalter: 21,6) teil. Die Ergebnisse in Tab. 2 (rechte Seite) zeigen zum einen, dass keine der relevanten Wortformen im Schnitt mit weniger als drei Punkten, also als eher ungewöhnlich, bewertet wurde. Zum anderen ist abzulesen, dass jeweils beide zu einem Substantiv gehörigen Varianten nicht signifikant unterschiedlich bewertet wurden, was hinsichtlich der Vergleichbarkeit der entsprechenden Verarbeitungszeiten von großer Bedeutung ist.23 Abb. 2 visualisiert die Bewertungen der jeweils zwei Varianten pro Item.

5 4 3 s

2 Ø

Internet

PC

LKW

April

iPhone

Jupiter

Iran

Tango

Ramadan

Bafög

Orinoko

Himalaya

Barock

Pharao

Tiber

1

Abb. 2: Die Akzeptabilitätsunterschiede zwischen der s-losen und der s-haltigen Variante der Testitems auf einer Skala von 1 (ungewöhnlich) bis 5 (gewöhnlich)

Somit sprechen sowohl die Ergebnisse der Korpus-Recherche als auch die des Akzeptabilitätstests dafür, dass mit Blick auf die gewählten Substantive Akzeptabilitätsunterschiede keinen verzerrenden Einfluss auf die Ergebnisse des SPRExperiments haben. Indem beide Methoden kombiniert wurden, konnten sowohl der Produktionsaspekt von Sprache als auch die Rezeptionsseite berücksichtigt werden.

|| 23 Lediglich bei Internet zeigen sich signifikante Unterschiede: des Internets wird signifikant besser bewertet als des Internet. Beide Wortformen wurden dennoch im Experiment berücksichtigt – Effekte, die auf die geringere Akzeptabilität dieser s-losen Variante zurückzuführen sind, können toleriert werden, da sie der angenommenen Tendenz zur kürzeren Verarbeitungszeit aller s-losen Formen entgegenwirken und somit die Aussagekraft bezüglich des funktionalen Vorteils der s-losen Variante nicht beeinträchtigen.

Morphologische Schemakonstanz | 161

Während die in das Experiment einbezogenen Substantive bezüglich ihres Gebrauchs im Genitiv tatsächlich schwanken (der Anteil s-haltiger Wortformen liegt insgesamt bei 56,3%), ist bei männlichen Rufnamen Monoflexion (die Familie des kleinen Manuel) wesentlich frequenter als Polyflexion (die Familie des kleinen Manuels).24 Auch bei der Schwankung zwischen s-Plural und nativem Pluralsuffix von Fremdwörtern zeigte sich, dass bis auf wenige Ausnahmen eine der beiden Varianten jeweils deutlich bevorzugt wird.25 Da in einem SPR-Experiment die zu vergleichenden Sätze identisch strukturiert sein müssen (vgl. Marinis 2010: 148) und das Testen verschiedener Phänomene mit der Notwendigkeit abweichender Strukturen der Testsätze einhergeht (zur Struktur der Testsätze vgl. Abschnitt 3.2), mussten wir uns auf einen Phänomenbereich beschränken, um eine ausreichende Anzahl an Items und deren Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Weil nur bei der Schwankung zwischen Mono- und Polyflexion in genitivischen Nominalgruppen (ohne Personennamen) Akzeptabilitätsunterschiede zwischen den zu vergleichenden Varianten ausgeschlossen werden konnten, haben wir uns dafür entschieden, diesen Phänomenbereich anhand des SPR-Experiments zu untersuchen.

3.2 Self-Paced-Reading Der funktionale Vorteil wortschonender Verfahren wird darin gesehen, dass Substantive im Plural und/oder in obliquen Kasus formal kaum oder gar nicht von ihren Grundformen abweichen, was SprachrezipientInnen die Worterkennung erleichtern solle. Diese Erleichterung lässt sich dergestalt operationalisieren, dass nicht oder wenig affizierte Wortformen mit weniger Aufwand und deshalb schneller verarbeitet werden als Wortformen, die durch Flexion einer stärkeren Veränderung unterliegen. Um Unterschiede bezüglich der Verarbeitungsgeschwindigkeit zwischen flektierten und unflektierten Wortformen zu messen, haben wir eine SPR-Studie mit moving window durchgeführt. Für eine SPR-Studie (und z.B. gegen einen klassischen lexical decision task, der häufig bei Studien zur morphologischen

|| 24 Eine Recherche im Teilkorpus DECOW2012-00 mit 60 männlichen Rufnamen (weibliche sind ohnehin immer unflektiert) zeigt, dass nur in 6,6% der insgesamt 395 Konstruktionen der Rufname mit dem s-Flexiv auftritt (vgl. Ackermann i. E.). Diese Unterschiede zeigten sich auch im Akzeptabilitätstest, wo zumindest in einem der beiden abgefragten Sätze die s-lose Variante signifikant besser bewertet wurde (p=0.024*). 25 Das schlug sich auch im Akzeptabilitätstest nieder: Sowohl bei Konto als auch bei Pizza wurde der native Plural signifikant besser bewertet (p1000 Tokens) und niederfrequente Lexeme (0.05).

168 | Tanja Ackermann & Christian Zimmer

Modellterm

Koeffizient

Standardfehler

t

Sig.

95% Konfidenzintervall Unterer Wert Oberer Wert

Konstanter Term 527,177

92,6950

5,687

,000

344,969

709,385

Buchstaben

14,0379

2,105

,036

1,961

57,149

29,555

Frequenz=1

124,751

65,1579

1,915

,056

-3,328

252,830

Frequenz=2

-43,634

53,3728

-,818

,414

-148,547

61,279

Frequenz=3

0

.

.

.

.

.

Flexion=1

55,913

21,6842

2,578

,010

13,289

98,537

Flexion=2

0

.

.

.

.

.

Position_im_ Test=1

195,622

50,5102

3,873

,000

96,336

294,908

Position_im_ Test=2

160,182

50,2333

3,189

,002

61,439

258,924

Position_im_ Test=3

89,541

49,8531

1,796

,073

-8,453

187,536

Position_im_ Test=4

128,991

50,1135

2,574

,010

30,485

227,498

Position_im_ Test=5

72,925

50,0320

1,458

,146

-25,421

171,272

Position_im_ Test=6

75,265

50,0573

1,504

,133

-23,131

173,661

Position_im_ Test=7

4,581

50,0012

,092

,927

-93,705

102,867

Position_im_ Test=8

10,412

50,8770

,205

,838

-89,595

110,419

Position_im_ Test=9

-48,758

50,8024

-,960

,338

-148,618

51,103

Position_im_ Test=10

0

.

.

.

.

.

Wahrscheinlichkeitsverteilung: Normal Tab. 4: Merkmalausprägungen der unabhängigen Variablen (feste Effekte)

Abb. 5 setzt die Lesezeiten, die auf der Grundlage aller berücksichtigten unabhängigen Variablen vorhergesagt wurden, mit den tatsächlich beobachteten Werten in Bezug.

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Abb. 5: Beobachtete und vorhergesagte Werte (Lesezeit in ms)

Als ‚zufälliger Effekt‘ wurde ‚Person‘ berücksichtigt, damit auch die individuelle Lesegeschwindigkeit der ProbandInnen die Aussagekraft der Ergebnisse nicht negativ beeinträchtigt. Ebenso wurde ‚Substantiv‘ als ‚zufälliger Effekt‘ eingebunden, da es sich bei den integrierten 15 Substantiven um eine Stichprobe handelt und verallgemeinernde Aussagen über die Grundgesamtheit der peripheren Substantive getroffen werden sollen. Übertragungs-Effekte (spill over) zwischen den relevanten Segmenten konnten nicht beobachtet werden: Da alle überprüften Faktoren keinen signifikanten Einfluss auf die Lesezeit der Abschnitte haben, die auf das kritische Segment folgen, ist nicht davon auszugehen, dass sich ein höherer Verarbeitungsaufwand (möglicherweise wegen zu schnellem Klicken) verzögert auf die Lesezeit der nachkritischen Segmente ausgewirkt hat. Auch ein möglicher Über-

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tragungs-Effekt der dem kritischen Segment vorausgehenden Abschnitte konnte nicht festgestellt werden (jeweils p>0.05). Suppressionseffekte, die auf Kollinearitätsprobleme zurückzuführen wären, sind nicht zu beobachten. Schließlich wurde auch kontrolliert, inwiefern die ProbandInnen bestimmte Formen als ungewöhnlich empfinden und ob sich das auf die Lesezeiten der kritischen Segmente auswirkt. Lediglich zwei TeilmehmerInnen thematisierten im Fragebogen, der im Anschluss an die SPR-Studie ausgefüllt wurde, die für uns relevanten Genitivformen. Diese Information wurde als weitere unabhängige Variable in das Modell integriert, hatte aber keinen signifikanten Einfluss auf die Lesezeiten. Ebenso erwies sich der in Tab. 2 dargestellte Anteil genitiv-sloser Formen der Substantive nicht als signifikanter Einfluss (jeweils p>0.05).

5 Diskussion Die Daten in Abschnitt 4 haben gezeigt, dass flexivlose, periphere Substantive in genitivischen Nominalgruppen signifikant schneller gelesen werden als ihre flexivhaltigen Äquivalente. Wir konnten zeigen, dass die längeren Verarbeitungszeiten der s-haltigen Substantive nicht (nur) mit der dort um ein Zeichen verlängerten Buchstabenkette zu erklären sind, sondern mit der Tatsache, dass diese Wörter flexivisch markiert sind. Empirische Vergleiche zwischen peripheren und nicht-peripheren Substantiven in Genitivkonstruktionen des untersuchten Typs mit Blick auf möglicherweise unterschiedliche Verarbeitungszeiten wären aufgrund von Störfaktoren nicht aussagekräftig (vgl. Abschnitt 3.2). Dass sich diese beiden Gruppen unterschiedlich verhalten, ist auf empirischer Basis also zunächst nicht zu erklären. Betrachtet man die Eigenschaften der peripheren Substantive, ist eine funktionale Erklärung der Unterscheidung zwischen Peripherie und Zentrum aber sehr naheliegend und plausibel: Ausschließlich Substantive, die aufgrund verschiedener Eigenschaften schwieriger zu erkennen und zu verarbeiten sind als prototypische deutsche Substantive, weisen einen hohen Anteil an s-Losigkeit im Genitiv Singular auf. Morphologische Schemakonstanz scheint hier von besonderer Bedeutung zu sein und stärker gewichtet zu werden als z.B. systemangemessene Kongruenz – eine Erschwerung der Worterkennung durch wortspezifische Eigenschaften und Flexion wird vermieden. Bei prototypischen Substantiven spielt morphologische Schemakonstanz hingegen eine untergeordnete Rolle. Hier liegt offenbar kein besonderer Schonungsbedarf vor und entsprechend wird z.B. systemangemessene Kongruenz stärker gewichtet als

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morphologische Schemakonstanz.34 Eine wichtige Prämisse für diese Erklärung ist, dass periphere Substantive tatsächlich schneller verarbeitet werden, wenn morphologische Schemakonstanz greift, im hier ausführlicher behandelten Fall also das Genitiv-s nicht realisiert wird und nicht etwa die Anwesenheit/Abwesenheit eines einzelnen Segments keinen Einfluss auf die Lesezeit hat oder -Ø sogar die Verarbeitung erschwert, da das -s als syntaktische Dekodierhilfe wegfällt (vgl. Abschnitt 2.3). Diese Prämisse wurde empirisch überprüft und bestätigt.

6 Fazit Anhand der Ergebnisse unseres SPR-Experiments konnten wir einen funktionalen Vorteil wortschonender Verfahren bei der Flexion peripherer Substantive im Deutschen nachweisen. Diese empirische Evidenz unterstützt Ansätze, die Variations- und Wandelphänomene in der Nominalmorphologie des Deutschen mit einem Verarbeitungsvorteil, der auf morphologische Schemakonstanz zurückgeht, erklären. Um diesen Faktor, der auch Sprachwandel determiniert, psycholinguistisch – also zwangsläufig synchron – sauber untersuchen zu können, mussten wir uns auf einen gegenwartssprachlichen Zweifelsfall konzentrieren. Obwohl sich die diskutierten Ergebnisse des SPR-Experiments lediglich auf die Schwankung zwischen Mono- und Polyflexion in genitivischen Nominalgruppen mit Fremdwörtern, Kurzwörtern und bestimmten Eigennamentypen beziehen, ist davon auszugehen, dass sich die hier gewonnene Erkenntnis auch auf andere Phänomene, die man psycholinguistisch nicht ohne Weiteres untersuchen kann (vgl. Abschnitt 2.3), übertragen lässt: Sowohl die Pluralmarkierung mit nativen Suffixen (und/oder stammaffizierenden Verfahren) als auch die synthetische Kasusmarkierung sorgt(e) für eine Affizierung des Wortkörpers, die bei peripheren Substantiven im Sprachgebrauch eher vermieden wird, da aufgrund semiotisch-pragmatischer Gegebenheiten und/oder aufgrund erschwerter Wiedererkennbarkeit (z.B. wegen mangelnder Bekanntheit) Schonungsbedarf gegeben ist. In diesem Kontext ist auch die untersuchte Genitivmarkierung zu sehen, sodass der von uns gemessene funktionale Vorteil wortschonender Verfahren auch als Faktor bei der (historischen und weiter || 34 Zum Verhältnis der hier konkurrierenden Motivationen (Schemakonstanz vs. systemangemessene Kongruenz) siehe ausführlich Zimmer (2016: 47–67). Für eine vergleichbare Konkurrenz-Situation bei der Pluralmarkierung im Deutschen (inklusive einer optimalitätstheoretischen Modellierung) vgl. Wegener (2004).

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voranschreitenden) Deflexion der Personennamen, der morphologischen Integration von Fremdwörtern und dem morphologischen Sonderverhalten weiterer peripherer Substantive gesehen werden kann. Allen diesen Phänomenen ist gemein, dass flexionsmorphologisches Verhalten durch das Prinzip der morphologischen Schemakonstanz gesteuert wird, das die Sichtbarkeit des Wortkörpers erhöht. Die Existenz dieses funktionalen, verarbeitungsbezogenen Vorteils wird üblicherweise sowohl für schriftsprachliche als auch für mündliche Kommunikation angenommen (vgl. Nübling 2005: 50). Während wir eine Prämisse für die Annahme eines Vorteils wortschonender Verfahren für schriftliche Sprache bestätigen konnten, bleibt der entsprechende Nachweis für mündliche Kommunikation künftiger Forschung vorbehalten. Ein Vergleich beider Kommunikationsformen (z.B. mithilfe eines Self-Paced-Listening-Experiments) erscheint lohnenswert, da die unterschiedlich ablaufende Worterkennung35 durchaus auch Unterschiede bezüglich des funktionalen Vorteils wortschonender Verfahren erwarten lässt.

|| 35 Vgl. z.B. Kemps & Wurm et al. (2005) und Kemps & Ernestus et al. (2005), die in Studien zur Verarbeitung gesprochener Sprache gezeigt haben, inwiefern auch prosodische Eigenschaften des Wortstamms bei der Erkennung von flektierten vs. unflektierten Substantiven relevant sind.

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Kristin Kopf

Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge Zur Herausbildung phonologischer und graphematischer Grenzmarkierungen in (früh)neuhochdeutschen N+NKomposita1 Abstract: The present paper explores the change in distribution and potential function as well as the interplay of two phenomena that occur at the internal boundaries of nominal compounds, namely linking elements and hyphenation. About 40% of present-day German compounds contain a linking element, most prominently -s- (e.g. Geburt-s-ort ‘birth place’). Numerous theories have been brought forward to explain its function, two of which are examined here: It will be shown that the linking-s tends to mark morphologically complex constituents while the assumption that it prefers marked phonological words cannot be corroborated. Linked compounds in present-day German use hyphenation, a strategy that is mostly employed with graphematically or phonologically marked constituents, at a much smaller rate than unlinked compounds. In Early New High German (ENHG, 1350–1650), when the linked type arose by reanalyzing prenominal genitive attributes as first constituents of compounds, the reverse held true: Linked compounds underwent a gradual graphematic integration from separate writing into directly connected words which was partly reversed by a century of hyphenation (1650–1750). While hyphenation also occurred with unlinked compounds, the linked compounds show a striking preference with hyphenation rates reaching a peak at around 90%. It will be argued that ENHG hyphenation had the same function it has today, namely structuring constituents that are perceived as marked: The change in spelling between ENHG and today re-

|| 1 Für wertvolle Anregungen danke ich einer/m anonymen Gutachter/in sowie den Herausgeber/innen. Teile der vorliegenden Untersuchung wurden 2010/11 vom Forschungsprojekt “Determinanten sprachlicher Variation” der Universität Mainz unterstützt. || Dr. Kristin Kopf, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutsches Institut, Jakob-Welder-Weg 18, 55128 Mainz, +49.61313927009, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-007

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flects the integration of a formerly syntactic and thereby marked pattern into word-formation. Keywords: German, Language Change, Morphology, Word Formation, Compounding, Linking Elements, Writing System, Hyphenation, Early New High German, New High German, Phonological Word, Corpus Linguistics, Markedness.

1 Einleitung In gesprochener wie in geschriebener Sprache nutzen wir auf der Wortebene spezifische Verfahren zur Grenzmarkierung. Dabei besteht ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Sicht- und Hörbarkeit: Während sich gesprochensprachliche Verfahren zu großen Teilen in der Schreibung niederschlagen, haben rein graphische Verfahren wie die Nutzung von Leerzeichen, Bindestrichen oder Binnenmajuskeln kein segmentales lautliches Korrelat. Zwei dieser Grenzmarkierungsverfahren werden im Folgenden herausgegriffen und in Bezug auf ihre Hauptdomäne, die N+N-Komposita, analysiert. Dabei handelt es sich auf Schriftebene um das wohl häufigste Markierungsverfahren, die Bindestrichschreibung. An derselben Stelle, in der Kompositionsfuge, tritt die Verfugung (Anstand+s+buch) auf, die häufig als phonologisches (aber auch als morphologisches) Verfahren klassifiziert wird. Die Ausbreitung beider Phänomene in (früh)neuhochdeutscher Zeit (1500–1900) weicht stark von der heutigen Schreibpraxis ab: Sie treten im Untersuchungszeitraum überdurchschnittlich oft kombiniert auf (Kriegs=Gefangene, Reichs=Stände, Confessions-Übung), während Experimente und Korpusuntersuchungen im Gegenwartsdeutschen zeigen, dass die Bindestrichschreibung bei Komposita mit Fugenelement wesentlich konsequenter unterbleibt als sonst. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diesem Unterschied zwischen Frühneuhochdeutsch (Fnhd.) und Gegenwartsdeutsch ein gemeinsames Funktionsprinzip des Bindestrichs zugrunde liegt: Er segmentiert morphologisch markierte Wörter. Gewandelt hat sich dagegen, welche Strukturen im Gesamtsystem markiert sind – heute in erster Linie phonologisch nicht-prototypische Wörter, im Fnhd. dagegen für die damalige Wortbildung untypische Konstituenten mit Fugenelement. Die sich verändernde Schreibpraxis dient als verlässlicher Indikator dafür, wie sehr dieses anfangs periphere, der Syntax entstammende Wortbildungsmuster in den Kernbereich der Komposition übergeht. Dieser Beitrag gliedert sich in drei Teile, die wiederum jeweils in einer Analyse der gegenwartssprachlichen Situation und einer diachronen Untersuchung

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bestehen. Vorbereitend wird auf der graphematischen Ebene der Bindestrich auf Frequenz und Funktion untersucht, ebenso auf der phonologischen die Fugenelemente. Schließlich steht die Interaktion zwischen beiden Ebenen und Phänomenen im Zentrum. Die historischen Untersuchungen basieren primär auf drei Korpora: Aus dem Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (1500–1710) wurden vier Zeitschnitte mit insgesamt 160.000 Tokens analysiert (vereinzelt wurde auch das ganze Korpus mit acht Zeitschnitten à 320.000 Tokens herangezogen), aus GerManC (1650–1800) wissenschaftliche Texte (SCIE), Predigten (SERM) und Zeitungstexte (NEWS) mit insgesamt 270.000 Tokens und aus dem Mannheimer Korpus historischer Zeitungen und Zeitschriften ein Ausschnitt mit 60.000 Tokens (1843, 1905). Hinzu kommen für das Gegenwartsdeutsche Daten der Wortwarte, des Deutschen Referenzkorpus’ (W-Archiv), der ZEIT und von COW.

2 Graphematische Grenzmarkierung: Der Bindestrich 2.1 Gegenwartssprachliche Situation: Trennung markierter Konstituenten Die wortinterne graphische Grenzmarkierung von morphologisch komplexen Wörtern erfolgt im Gegenwartsdeutschen, sieht man von der Getrenntschreibung komplexer Verben ab (Schlittschuh laufen, klein schneiden), nur selten. Besonders bei den N+N-Komposita sind jedoch neben dem Normalfall der Zusammenschreibung weitere Schreibvarianten in Gebrauch, so die Binnenmajuskel (BahnCard), das Leerzeichen (Hot Spot), der Apostroph (Fußball’news) oder der Bindestrich2 (Scherer 2012). Während das Leerzeichen Trennung markiert und die Zusammenschreibung Zusammengehörigkeit, vermag der Bindestrich zugleich zu trennen und so Wortgrenzen hervorzuheben, und zu verbinden und so zu zeigen, dass es sich um ein komplexes Wort handelt. Der Bindestrich er-

|| 2 Dasselbe Zeichen, der Divis , kann auch als Ergänzungsstrich (An- und Abreise) und als Trennstrich (Silbentrennung am Zeilenende) genutzt werden, in diesen Funktionen bleibt es hier unberücksichtigt.

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fährt unter den grenzmarkierenden Varianten die größte Akzeptanz und Verbreitung, auch in normierter Schriftsprache.3 Zunächst gilt es zu bestimmen, in welchen Fällen Bindestrichschreibung bei komplexen Wörtern des Gegenwartsdeutschen auftritt, welchen Prinzipien sie dabei folgt und wie frequent das Phänomen ist. Buchmann (2015:217-289) analysiert anhand von 1.350 zufällig ausgewählten Bindestrichschreibungen aus dem Mannheimer Morgen (1995–2008) die Schreibpraxis in Zeitungssprache, wobei die referierten Zahlen keine quantitative Gewichtung der postulierten Faktoren zulassen. Sie konstatiert, dass Bindestrichschreibungen durch das Schriftbild oder durch Eigenschaften des Wortkörpers bedingt sind. So können zum einen graphische Besonderheiten wie durchgängige Groß- oder Kleinschreibung und Binnenmajuskeln ausschlaggebend sein (ABM-Stelle, ph-Wert, eBay-Auktion),4 aber auch enthaltene Nicht-Buchstabenzeichen (35000-Marke, „Big Brother“-Kandidat, Geburtstags-Rock’n’Roll, P+R-Anlage, Tel.-Nummer, Messdiener/innen-Treffen); sie alle führen zu nicht-prototypischen graphematischen Wörtern, Bredel (2008:116) spricht von „heterogenen semiotischen Basen“. Zum anderen finden sich Bindestrichschreibungen häufig bei anderweitig markierten Strukturen (z.B. Buchmann 2015:236–246): Kurzwörter (Alu-Leiter) und Fremdwörter (Alumni-Tag, Stand-by) sind phonologisch auffällig, sie weichen z.B. durch Silbenzahl, Vollvokalzahl und Betonungsstruktur von der lautlichen Struktur prototypischer deutscher Wörter ab (s.u. S. 188). Komplexe Wörter, die Eigennamen beinhalten (Amerika-Reise) oder zur Gänze aus ihnen bestehen (Rheinland-Pfalz), bilden eine semantisch auffällige Sonderklasse (Nübling et al. 2012). Sofern sie nicht zusätzlich graphisch markiert sind, treten derartige Schreibungen als Alternative zur Zusammenschreibung auf. Aufgrund ihrer syntaktischen Struktur morphologisch atypisch sind Phrasenkomposita (das Kopf-an-Kopf-Rennen) und substantivierte Phrasen (das Was-wird-es-mal-Sein), hier ist eine Markierung zwingend (wobei sie bei den Phrasenkomposita auch anders erfolgen kann, z.B. die „Ich wusste von nichts!“Entschuldigung).

|| 3 Getrenntschreibung wird von der amtlichen Regelung nur bei bestimmten englischen Entlehnungen zugelassen oder gefordert (DR 2011:§37 E4), Binnenmajuskeln und Apostrophe finden in diesem Zusammenhang keine Erwähnung. 4 Insbesondere bei dieser Gruppe, die aus Abkürzungen, Akronymen und Eigennamen besteht, geht mit der graphematischen meist auch phonologische Markiertheit einher: Unbetonte Vollvokale und eine nicht-trochäische Betonungsstruktur sind atypisch für den deutschen Kernwortschatz (vgl. auch Buchmann 2015:223).

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Hinzu kommen komplexe Wörter, bei denen aufgrund des nicht verschrifteten Glottisverschlusslauts eine falsche Silbifizierung möglich ist (Druckerzeugnis) oder bei denen Häufungen eines Buchstabens an der Wortgrenze auftreten (DR 2011). Ebenfalls möglich sind Bindestriche bei mehrgliedrigen Komposita an der Haupttrennfuge, besonders wenn verschiedene Lesarten entstehen können (Ultraschall-Messgerät/*Ultra-Schallmessgerät, vgl. auch Geilfuß-Wolfgang 2013). In allen Fällen werden neben freien Morphemen vereinzelt auch Affixe abgetrennt (SPD-ler, re-integrieren).5 Die Bindestrichsetzung ist also besonders dann relevant, wenn Konstituentengrenzen durch strukturelle Markiertheit eines oder mehrerer Bestandteile Verdeutlichung benötigen (vgl. Tab. 1). In diesen Fällen wird der Wortkörper der einzelnen Konstituenten graphisch geschont, sie sind damit trotz ihrer markierten Struktur direkt als solche erkennbar (vgl. Fuhrhop 2008:202–205). In der schriftsprachlichen Praxis werden Bindestriche tatsächlich nur selten gebraucht. Eine Nachanalyse der Korpusdaten von Grube (1976:209) ergibt in lektorierter Schriftsprache mit 7,6% (n=5.332) einen geringen Bindestrichanteil bei N+N-Komposita6. In Borgwaldts (2013) schriftlichem Produktionsexperiment, bei dem Studierende bestehende Substantive zu neuen Komposita kombinieren sollten, liegt der Anteil sogar nur bei 5,8% (n=828).7

|| 5 Bei syntaktisch unverbundenen Wortreihen (Mutter-Kind-Kur) und (primär adjektivischen) Kopulativkomposita (blau-grün, aber auch Spieler-Trainer) wird zudem die semantische Relation zwischen beiden Bestandteilen verdeutlicht. Das ist auch möglich, wenn lexikalisierte Wortbildungsprodukte remotiviert werden sollen, z.B. Kinder-Garten ‚für Kinder gedachter Garten‘ vs. bestehendes Kindergarten ‚Betreuungseinrichtung für Vorschulkinder‘ (vgl. auch Bredel 2008:116). 6 Das Korpus besteht aus Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftlichen und belletristischen Werken im Zeitraum von 1966–1973 (Grube 1976:189 –190). 7 In einem zweiten Experiment wurden die Studierenden explizit auf die Möglichkeit zur Bindestrichschreibung hingewiesen, erwartbarerweise lag der Wert hier erheblich höher (21,6%, n=597).

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Morphologische Struktur wird verdeutlicht … a. … wegen struktureller Markiertheit mind. einer Konstituente

b. … aus anderen Gründen

– graphische Markiertheit einer Konstituente – Kurzwörter (AKW-Bau, SARS-Welle8, Alu(P+R-Anlage, Messdiener/innen-Treffen, 3Leiter) Tonner) – Phrasen (das In-den-Tag-Hineinträumen, – graphembedingter potenziell problematiKopf-an-Kopf-Rennen) und Phrasenteile scher Übergang9 (das Was-wird-es-mal-Sein) – objektsprachliche/zitierende Verwendung o bestimmte vokalische Anlaute (dass-Satz) (°Drucker-Zeugnis/Druck-Erzeugnis) – Eigennamen (Rheinland-Pfalz, °Goetheo Buchstabenhäufungen (°Tee-Ernte, Ausgabe, Möbel-Schmidt) °Bett-Tuch) – Fremdwörter (°Stand-by, °Alumni-Tag) – mehrgliedrige Komposita (°ArbeiterUnfallversicherungsgesetz)

Tab. 1: Der Bindestrich zur Verdeutlichung morphologischer Strukturen im Gegenwartsdeutschen nach DR (2011: §40–51) und Buchmann (2015:217–289), eigene Systematisierung. Bei mit ° gekennzeichneten Fällen handelt es sich lediglich um Alternativen zur Zusammenschreibung.

Der Frage danach, wie sich Gebrauch und Amtliche Regelung zueinander verhalten, geht z.B. Hillenbrandt (2010, nach Scherer 2013:165–166) nach. Er zeigt für Zeitungssprache, dass nur 66,2% der analysierten Bindestrichschreibungen durch obligatorische oder fakultative Regeln der Amtlichen Regelung abgedeckt werden, die verbleibenden 33,8% machen nicht-normgerechte Schreibungen aus (n=891). Hierzu gehören Komposita mit nur einer strukturell nicht-nativen Konstituente (Typ Alumni-Tag), mehrgliedrige Komposita, bei denen keine Unklarheit über die Konstituentenstruktur besteht (Typ Obstgarten-Besuch), und natürlich auch zweigliedrige Komposita, die keine markierte Konstituente auf-

|| 8 Das scheint in der Schreibpraxis nur solche Fälle durchgehend zu erfassen, bei denen innerhalb des Kurzworts Großbuchstaben genutzt werden, d.h. eine graphisch markierte Form vorliegt. Eine Auswertung des Zeit-Korpus (via DWDS, 9.11.2015) ergab beispielweise für das Akronym Aids 474 zusammengeschriebene Komposita (Aidserkrankung) gegenüber 3.726 Bindestrichschreibungen (Aids-Erkrankung); bei Majuskelschreibweise wurde hingegen in allen 96 Fällen der Bindestrich genutzt (AIDS-Erkrankung). Die Majuskelschreibweise dient natürlich auch als Hinweis darauf, dass überhaupt ein Akronym (und damit ein auffälliges Wort) vorliegt. 9 Diese beiden Phänomene werden in der amtlichen Regelung thematisiert, sind in Korpusdaten aber – wohl aufgrund des generell seltenen Vorkommens solcher Übergänge – kaum zu finden (vgl. Fuhrhop 2008:204, Buchmann 2015:265).

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weisen (Typ Hof-Hund). Während der erste Fall damit erklärt werden kann, dass markierte Strukturen graphisch transparent gemacht werden, handelt es sich bei den letzten beiden um eine generelle Markierung morphologischer Grenzen. Es erscheint nun von großem Interesse, die Gebrauchsfrequenz der einzelnen Fälle zu ermitteln, um beurteilen zu können, ob die Segmentierung unmarkierter morphologischer Strukturen eine nennenswerte Rolle spielt. 800

600

400 664 78

200

195

unmarkierte Struktur markierte Struktur

0 normgerecht

nicht-normgerecht

Abb. 1: Bindestrichschreibungen von N+N-Komposita mit den Anfangsbuchstaben A und B (COW, Subkorpus DECOW14AX01, n=937).

Zu diesem Zweck wurde eine eigene, vergleichende Überprüfung von N+NBindestrichschreibungen in Texten, die geringeren normativen Zwängen unterliegen, vorgenommen, dazu wurde das COW-Korpus (Internettexte) herangezogen. Analysiert wurden alle N+N-Komposita mit Bindestrich, die mit A oder B beginnen (vgl. Abb. 1). Ein Abgleich mit der Amtlichen Regelung ergibt normabweichende Schreibungen von 29%.10 Es zeigen sich also kaum Unterschiede zwischen der Zeitung, die stärker normativen Kontrollen unterliegt, und Internettexten, zu denen auch weniger normativ gesteuerte Texte gehören (aber natürlich ebenfalls Zeitungstexte, offizielle Internetauftritte etc.). Die COW-Belege ermöglichen eine differenzierte Betrachtung der nicht normgerechten Schreibungen. Es zeigt sich, dass dies in erster Linie Komposita sind, bei denen eines der Glieder Fremdstruktur hat (Acerola-Kirsche, Anime|| 10 Lässt man Komposita unberücksichtigt, die Eigennamen sind (Baden-Württemberg) oder enthalten (Bayer-Werke), auf die über die Hälfte der normgerechten Schreibungen entfallen (350 Belege), so erhöht sich der Anteil nicht-normgerechter Schreibungen auf 45,5%.

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Helden; 71,5% der nicht normgerechten Schreibungen). Sie werden von den Schreibenden, wie zuvor beschrieben, wie andere markierte Strukturen behandelt. Daneben sind auch Komposita aus nativen, phonologisch und graphisch unmarkierten Konstituenten enthalten (Abflug-Halle, Bus-Zuschuss; 28,5% der nicht normgerechten Schreibungen). Nimmt man nicht-normgerechte Fälle mit markierter Struktur und (immer markierte) normgerechnte Fälle zusammen, so wird aber deutlich, dass die überwältigende Mehrheit der Schreibungen, 91,5%, markierte Strukturen exponiert. Aufgrund ihres geringen Verwendungsanteils (Grube 1976, Borgwaldt 2013) und ihres klar eingegrenzten Anwendungsbereichs bei markierten Konstituenten (Buchmann 2015), sogar in kaum normierter Schriftsprache (eigene Untersuchung), erscheint es gerechtfertigt, Bindestrichschreibungen von N+NKomposita eine marginale Rolle in der Schreibpraxis des Gegenwartsdeutschen zuzuschreiben – insbesondere im Vergleich mit dem frühen Neuhochdeutschen. Über eine von Schreibenden oft subjektiv wahrgenommene Zunahme von Bindestrichschreibungen in den letzten Jahrzehnten können die vorliegenden Untersuchungen jedoch keinen Aufschluss geben.

2.2 Bindestrichschreibungen von 1500 bis 1900: Typisch für Komposita Im Gegensatz zu heute war die Bindestrichschreibung – in gebrochenen Schriften meist mit dem Gleichheitszeichen realisiert – zu Beginn des Neuhochdeutschen fest im Kernbereich verankert. Tab. 2 zeigt den Anteil von Bindestrichschreibungen in GerManC SCIE/SERM für Substantive und alle weiteren Wortarten, die mindestens einmal mit Bindestrich belegt sind. Die Bindestrichschreibungen beschränken sich zwischen 1650 und 1800 fast ausschließlich auf N+N-Komposita.

Anteil Bindestrichschreibung an der jew. Gruppe Substantive

ohne N+N-Komposita nur N+N-Komposita

andere Wortarten

n=

1,6%

(499)

30.951

37,5%

(1.498)

3.994

0,3%

(250)

54.415

Tab. 2: Anteil von Bindestrichschreibungen in GerManC SCIE/SERM 1650–1800, n=89.360.

Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge | 185

Unter den Wörtern, die einen Bindestrich enthalten, finden sich ausschließlich Komposita oder Derivate: Der Bindestrich dient der Kennzeichnung von internen Grenzen komplexer Wörter, nicht jedoch der Abtrennung von Flexiven oder gar der Trennung von Wurzeln.11 Dabei zeigen sich massive wortartbezogene Unterschiede: Substantive weisen, verglichen mit anderen Wortarten, in allen drei Zeitschnitten mit 86% bis 90% den weitaus größten Anteil an Bindestrichschreibungen auf. Die Gruppe der Substantive mit Bindestrichschreibungen besteht wiederum zu 75% aus N+N-Komposita, andere Erstbestandteile (Typ Vor-Gebürge) haben nur einen geringen Anteil.12 Die folgende Analyse nimmt die Gruppe der N+N-Komposita für den Zeitraum 1500 bis 1900 in den Blick. Für alle drei Korpora wurde ermittelt, welchen Anteil Bindestrichschreibungen haben (Abb. 2). Dabei kristallisiert sich der Zeitraum 1650–1750 als Hoch-Zeit des Bindestrichs heraus, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet er sich in 72% aller N+N-Komposita.

100% Mainzer Korpus

GerManC

Mannheim

80% 60% 40% 20% 0% 1500 1550 1600 1650 1700 1750 1800 1850 1900 Abb. 2: Anteil von Bindestrichschreibungen bei N+N-Komposita, n=7.960.

|| 11 Fälle von Koordinationsellipse (Schlang- und Riesen), bei der die im Untersuchungszeitraum mögliche Auslassung von Flexiven gelegentlich durch einen Ergänzungsstrich gekennzeichnet wurde, bleiben auch hier unberücksichtigt (vgl. dazu Kempf 2010). 12 Dies ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass N+N-Komposita frequenter sind als Komposita mit sonstigen Erstgliedern. Die nur in geringem Maße auftretende Bindestrichschreibung bei präfigierten Substantiven zeigt jedoch, dass die Schreibung nicht einfach die Gesamtfrequenz eines Wortbildungsmusters widerspiegelt.

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Dass Bindestriche Komposita aus drei oder mehr Substantiven strukturieren, wie es für das Gegenwartsdeutsche immer wieder vorgeschlagen wird (z.B. DR 2011), deutet sich hier, wenn auch bei niedrigen Belegzahlen, ebenfalls an: Von 123 drei- oder mehrgliedrigen Komposita weist der Großteil einen Bindestrich an der Hauptkonstituentengrenze auf (Salatsaamen-Oel, Hof-Schauspiel, vgl. Tab. 3). In den ersten beiden Zeiträumen, die ja die Hoch-Zeit der Bindestrichschreibung ausmachen, dominiert das Verfahren auch gegenüber der Nichtmarkierung. Im dritten Zeitraum lässt sich konstatieren, dass der Bindestrich, wenn er auftritt, fast immer die Hauptkonstituentengrenze anzeigt, auch wenn die Nichtmarkierung überhandgenommen hat. Kompositaschreibungen mit Bindestrich an einer Nebenkonstituentengrenze wären bei einer morphologischen Funktion nicht zu erwarten, und tatsächlich kommt diese Variante auch nur zweimal vor (Seiten-Instrumentmacher, zusätzlich mit Binnenmajuskel LandBothenStube).13 Der Bindestrich zeigt jedoch darüber hinaus zwischen 1650 und 1750 auch zweifelsfrei die morphologische Struktur zweigliedriger Komposita an – etwas, das er heute nur in besonderen Fällen tut.

Bindestrich steht …

1650–1700

1700–1750

1750–1800

… nur an Hauptkonstituentengrenze

26

19

12

… an beiden Grenzen

1

7

2

… an keiner Grenze

9

2

43

… nur an Nebenkonstituentengrenze

1

1

0

Tab. 3: Drei- und mehrgliedrige Komposita in GerManC (SERM, SCIE, NEWS), Komposita gesamt: 4.460.

3 Phonologische Grenzmarkierung: Die s-Fuge 3.1 Gegenwartssprachliche Situation Unter einem (substantivischen) Fugenelement werden im Folgenden mit Fuhrhop (2000:202) „alle Einheiten, durch die sich die Erstglieder in Komposita von

|| 13 Ein generelles Zusammenspiel mit Binnenmajuskeln zeigt sich nicht, es treten insgesamt nur zwei Fälle auf (VaterlandsVertheidigern, Land-BothenStube).

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den entsprechenden Nominativ-Singular-Formen unterscheiden“ verstanden, d.h. -s-, -es-, -er-, -e-, -n-, -en- und -(e)ns-.14 Im Gegenwartsdeutschen verfugen 38,7% der neugebildeten N+N-Komposita (vgl. Abb. 3). Dabei unterscheiden sich die Produktivität und Distribution des verfugten Kompositionstyps. Zu den Fugenelementen in heute produktiven Mustern, auf die sich die vorliegende Untersuchung konzentriert, werden im Allgemeinen nur -s- und -(e)n- gerechnet: In einem Korpus aus Neubildungen tritt die s-Fuge in ca. zwei Drittel der verfugten Komposita auf, die (e)n-Fuge in gut einem Drittel, alle übrigen Fugen sind vernachlässigbar (vgl. Abb. 3).15 In Bezug auf die Verteilung dieser beiden Fugenelemente gibt es einen deutlichen Unterschied: Während die (e)n-Fuge fast ausschließlich paradigmisch auftritt, d.h. formal mit einer Flexionsform des freien Lexems16 übereinstimmt (s. aber Klein 2015), findet sich die s-Fuge auch bei Erstgliedern, die nicht über gleichlautende Flexionsformen verfügen: Achtung-s-erfolg, Arbeit-s-amt, Flexion-s-paradigma. Dies ist in Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Fugenelemente in fnhd. Zeit aus Flexionssuffixen hervorgegangen sind, besonders bemerkenswert. Sonstige 2,7% (e)n 11,4% s 24,7%

keine Fuge 61,3%

Abb. 3: Gegenwartssprachliche Produktivität von Fugenelementen. Eigene Erhebung aller N+NKomposita der Wortwarte, September 2009–Oktober 2010 (n=2.415).

|| 14 Die „subtraktive Fuge“ (Kirche-turm) wird hier mit der Nullfuge zusammengefasst. 15 Als Neubildungen werden hier neue Kombinationen zweier Substantive gewertet, egal, ob diese zuvor schon Teil des deutschen Wortschatzes waren oder nicht. In Verbindung mit gänzlich neuen Erstgliedern, die ja i.d.R. aus dem Englischen entlehnt sind, treten Fugenelemente hingegen kaum auf (vgl. Kopf 2016). Korpusuntersuchungen zum bestehenden Wortschatz ergeben ähnliche Werte, z.B. einen Verfugungsanteil von 42% in Tageszeitungen (Kürschner 2003:105). 16 Hier wird der Dativ ausgenommen, dieser ist aufgrund des Entstehungsprozesses von verfugten Komposita irrelevant.

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Über die Funktion der Fugenelemente in der Gegenwartssprache besteht trotz zahlreicher Untersuchungen Unklarheit – häufig vorgeschlagen wird die morphologische Strukturierung komplexer Komposita (Krott et al. 2004, Berg 2006), ein neuerer Ansatz ist die Markierung des phonologischen Wortrands (Nübling/Szczepaniak 2008, 2009, 2010, 2011, 2013). Was die Markierung der m o r p h o l o g i s c h e n S t r u k t u r anbetrifft, zeigen Krott et al. (2004) eine gesteigerte s-Verfugung an der Hauptkonstituentengrenze dreigliedriger Komposita17, jedoch keine konstituentengrenzenbezogenen Unterschiede für die (e)n-Fuge. Für viergliedrige Komposita findet Berg (2006) keine klare Bevorzugung der s-Fuge. Problematisch an diesem Ansatz ist besonders die geringe Signalwirkung, die von der s-Fuge ausgeht: Da sie sich mit bestimmten Suffixen quasi ausnahmslos verbindet und zudem auch an weitere Erstglieder fest gebunden ist, erscheint es zweifelhaft, ob das zusätzlich gesteigerte Vorkommen an der Hauptkonstituentengrenze überhaupt eine Segmentierungshilfe leisten kann. Kürschner (2003:111–112) stellt für ein (sehr kleines) Korpus eine Tendenz zur s-Verfugung bei präfigierten Erstgliedern fest.18 Auf der p h o n o l o g i s c h e n E b e n e lässt sich seit mittelhochdeutscher Zeit eine typologische Drift des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache beobachten (Szczepaniak 2007). Dabei wird die Struktur des phonologischen Wortes zunehmend exponiert: Es entwickeln sich positionsbezogene phonotaktische Beschränkungen für bestimmte Laute und Lautkombinationen19 sowie eine prototypische prosodische Struktur in Bezug auf Silbenzahl und Akzentposition: Phonologische Wörter sind im Neuhochdeutschen typischerweise einfüßig, d.h. sie sind einsilbig (Haus) oder haben eine trochäische Betonungsstruktur mit einem Reduktionsvokal in der unbetonten Silbe (Kátze, Hímmel). Wörter, die davon abweichen (drei oder mehr Silben, mehrfüßig, kein Trochäus, Vollvokal in unbetonter Silbe), sind markiert (Nübling/Szczepaniak 2008:19–21). Darunter fallen insbesondere Wörter mit unbetontem Präfix (Ver-

|| 17 Von der Analyse ausgeschlossen wurden Kompositumsbestandteile, bei denen die sVerfugung bereits durch ein Derivationssuffix vorgegeben wird (-ung, -heit, -ion, …). 18 54 von 80 Belegen s-verfugt. Eine Neuberechnung ohne sowieso konsequent verfugende, suffigierte Erstglieder (Typ Verschuldung-s-rate) ergibt sogar nur 30 von 53. 19 So werden bestimmte Laute zu Markern für den Anfang eines phonologischen Wortes (z.B. der Glottisverschlusslaut, das Phonem /h/, aspirierte stl. Plosive), andere können nur im Wortinneren (z.B. ambisilbische Konsonanten) oder nicht im Wortan- (z.B. /s/) oder -auslaut auftreten. Hinzu kommt, dass – u.a. bedingt durch die mhd. Synkope und die fnhd. t-Epenthese – Konsonantencluster, oft mit extrasilbischen Elementen, an Worträndern entstehen (ge.lüc.ke > glück, sec > Sekt). (Vgl. z.B. Nübling/Szczepaniak 2008:13–16.)

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bráuch), Wörter mit haupt- oder nebenbetontem, vokalisch anlautendem Suffix und nebenbetonte Suffixe, die eigene phonologische Wörter darstellen. Wörter mit haupt- oder nebenbetontem, vokalisch anlautendem Suffix werden immer resilbifiziert (Fór.de.rùng, À.no.ny.mi.tä́t). So entstehen mehrsilbige und mehrfüßige Wörter, bei hauptbetonten Suffixen werden außerdem trochäische Strukturen verhindert. Diese Derivate stellen also markierte phonologische Wörter dar. Lautet ein nebenbetontes Suffix dagegen konsonantisch an, bildet es eigentlich ein eigenes, wohlgeformtes phonologisches Wort (Éi.gen.schàft, Be.són.der.heìt). Nübling/Szczepaniak (2008:20) argumentieren hier jedoch, dass die Beschränkung des Suffixes auf eine „schwache Position“, also das ausschließliche Vorkommen in nebenbetonten Silben, seinen Wortstatus verschlechtert. Morphologisch komplexe Wörter mit betontem Präfix20 (Án.rùf) bestehen hingegen aus zwei getrennten phonologischen Wörtern, die auch selbständig auftreten können, und sind damit, genau wie einfache Komposita (Rát.haùs) strukturell unauffällig (Nübling/Szczepaniak 2008:19). In diesen Zusammenhang fügt sich die s-Fuge ein: Sie erhöht die Kodakomplexität der wortfinalen Silbe (Nübling/Szczepaniak 2008:16–17) und kann durch ihre Stimmlosigkeit nicht als Wortanlaut missverstanden werden (Wegener 2003:450), kennzeichnet also den Endrand eines phonologischen Wortes. Besonders genutzt wird dieses Verfahren nach Nübling/Szczepaniak (2008) im gegenwartssprachlichen Wortschatz bei Erstgliedern von schlechter phonologischer Wortqualität, also bei solchen Wörtern, deren Struktur nicht dem phonologischen Normalfall entspricht. Der morphologische Status des Erstglieds ist dabei nur von untergeordneter Wichtigkeit. Nübling/Szczepaniak (2008, 2009) betrachten zur Untermauerung ihrer These beispielhaft drei verschiedene Gruppen: Für komplexe Wörter mit unbetonten Präfixen (be-, ent-, ge-, ver-, zer) finden sie in einer DeReKo-Recherche von Komposita mit 21 verschiedenen Erstgliedern einen s-Verfugungsanteil von 85%. Bei phonologisch wohlgeformten Erstgliedern mit betonten Präfixen (Anfahrt-) und Komposita (Raumfahrt-) beträgt die s-Verfugung hingegen nur 36% (Nübling/Szczepaniak 2008:19,21). Die durchgeführte Untersuchung kontrolliert jedoch nicht für Faktoren wie die mögliche Fugenaffinität bestimmter Stämme ungeachtet ihrer Präfigierung, den Wortbildungsstatus des Erstglieds (z.B. evtl. abweichendes Verhalten von Infi-

|| 20 Produkte von Konversionsprozessen (darunter auch Fälle von impliziter Derivation auf Basis des verbalen Präteritumsstamms) wie Anruf, Antrieb werden hier als präfigiert bezeichnet, selbst wenn es sich bei ihrer Ausgangsbasis um Partikelverben handelte (anrufen, antreiben).

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nitivkonversionen) und das Verhältnis zum Zweitglied (z.B. tendenziell weniger verfugende Rektionskomposita, Nübling/Szczepaniak 2011:57–58). (Zur Kritik an dieser Studie vgl. auch Klein 2015:7–8.) Ein Replikationsversuch findet keinen systematischen Unterschied zwischen beiden Gruppen (Kopf 2016): Es ergeben sich Verfugungsraten von 76,5% für betont und 78% für unbetont präfigierte Erstglieder. Die Gruppe der betonten präfigierten Erstglieder liegt damit weit über dem Wert von Nübling/Szczepaniak (2008:19) und die beiden Werte unterscheiden sich kaum. Für komplexe Wörter mit nebenbetonbarem Suffix von Typ 1 und 2 (1: -ung, 2: -ling, -heit/-(ig)keit, -schaft, -sal, -tum) stellen Nübling/Szczepaniak (2008:20– 21) im nativen Wortschatz fast durchgängige s-Verfugung fest. (Eine Ausnahme stellt das nebenbetonbare Suffix -in dar, das en-verfugt.) Der Befund für den Lehnwortbereich ist weniger eindeutig – Erstglieder auf -ion und -ität (Typ 1) verfugen stets, bei anderen betonten Suffixen und charakteristischen Wortausgängen (z.B. -um) ergeben sich kaum klare Tendenzen (vgl. Tabelle bei Nübling/Szczepaniak 2009:22) – hier steht eine methodisch gründliche Untersuchung noch aus, die gezeigten Google-Trefferzahlen können nur als erster Anhaltspunkt dienen. Es bleibt somit festzuhalten, dass eine morphologische Strukturierung dreioder mehrgliedriger Komposita unsicher ist und dass die These der Markierung schlechter phonologischer Wörter durch s-Verfugung sich möglicherweise nicht halten lässt. In diesem Zusammenhang erscheint es von besonderem Interesse, zu prüfen, ob und inwiefern die beiden Faktoren eine Rolle bei der Herausbildung und Ausbreitung des Kompositionsmusters mit Fugenelementen spielten.

3.2 Fugenelemente von 1500 bis 1900: Herausbildung und Funktion Deutsche Komposita mit Fugenelementen wurden primär aus zwei verschiedenen Quellen reanalysiert: Zum einen kann es sich um ehemalige stammbildende Elemente handeln (tag-a-lon > Tag-e-lohn), zum anderen um Flexive aus dem Genitiv Singular (des fürst-en hof > der Fürst-en-hof, des land-es sitten > die Landes-sitten) oder Plural (der ohr-en schmaus > der Ohr-en-schmaus) (vgl. z.B. Demske 1999, Wegener 2003:429), vereinzelt scheinen auch Nominativ und Akkusativ in Rektionskomposita denkbar (die Kind-er singen > das Kind-ersingen, aber ebenso möglich: der kinder lachen > das Kinderlachen). (Mehr zur den Entstehungsbedingungen und zur Ausbreitung des verfugten Kompositionstyps s. z.B. Kopf im Druck, Kopf 2016, Nübling/Szczepaniak 2013, Demske 1999, 2001.)

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In fnhd. Zeit werden einzelne Kompositionstypen mit Fugenelementen produktiv, es existiert nun ein eigenständiges Wortbildungsmuster. Am deutlichsten sichtbar ist dies an der s-Fuge, die jetzt auch unparadigmisch auftreten kann (s.o.; Andacht-s-blick, Vormundschaft-s-zweck, Religion-s-übung, aber keine parallelen s-Genitivformen). Welche Faktoren bei ihrer Herausbildung ausschlaggebend waren und ob eine Kontinuität bis in die Gegenwart gegeben ist, stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar (Kopf 2016). Die Korpora zeigen von 1650 bis 1900 zwar eine steigende, aber dennoch sehr geringe Zahl mehrgliedriger Komposita, sodass sich zur m o r p h o l o g i s c h e n S e g me n t i e r u n g s f u n k t i o n d er s-Fuge nur sehr eingeschränkte Aussagen treffen lassen. Die Hauptkonstituentengrenze scheint nicht primär durch Verfugung markiert zu werden, vgl. Tab. 4, der Regelfall ist die Nichtverfugung. Tritt die s-Fuge jedoch auf, so dominiert tatsächlich die Verwendung an der Hauptkonstituentengrenze in allen Zeitschnitten (31 Belege), die „nichtssagende“ Markierung beider (6 Belege) oder gar die gegenläufige Markierung nur der Nebenkonstituentengrenze (4 Fälle) treten nur selten auf. Es lässt sich also vorsichtig annehmen, dass die s-Fuge die morphologische Segmentierung mehrgliedriger Komposita unterstützt.21 Mehrgliedrige Komposita machen zwischen 1650 und 1900 lediglich zwischen 3 und 4% aller verwendeten Komposita aus. Eine Stichprobenauszählung mit Texten aus der ZEIT ergab für 2015 dagegen 13% dreigliedrige Komposita (n=368).22

s-Fuge steht …

1650 – 1700

1700 – 1750

1750 – 1800 7

1843

5

1905

… nur an Hauptkonstituentengrenze

9

4

16

… an beiden Grenzen

0

1

0

0

5

… an keiner Grenze

6

11

11

22

17

… nur an Nebenkonstituentengrenze

0

0

3

0

1

Tab. 4: GerManC NEWS und Mannheimer Korpus, n=118; Erstglieder, die eine s-Fuge erzwingen (1), wurden ausgeschlossen.

|| 21 Für die (e)n-Fuge an einer Hauptkonstituentengrenze liegen nur 15 Fälle vor. 22 Gewählt wurden 12 Artikel aus dem Onlineangebot vom 12.5.15 (jeweils der erste Artikel einer Rubrik, Interviews und Fotostrecken wurden übersprungen) mit insgesamt 7.305 Textwörtern. Alle Prozentangaben zu mehrgliedrigen Komposita beziehen sich auf Tokens.

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Die p h o n o l o g i s c h e n F a k t o r e n , die nach Nübling/Szczepaniak (2008) die gegenwartssprachliche Verfugung steuern, sind bei der Herausbildung der Fugenelemente im Fnhd. nicht nachweisbar. Zu erwarten stünde, spielte die Wortqualität eine Rolle, ein hoher Verfugungsanteil bei schlechten phonologischen Wörtern und ein geringerer bei guten. In den frühen Korpusdaten (1500– 1710) treten nur sehr geringe Mengen schlechter phonologischer Wörter auf (112), die keine klare Tendenz zeigen. Die weitaus umfangreicheren Daten für 1650–1900 zeigen ein durchgehend, und auch diachron nicht im Wandel begriffenes, uneinheitliches Bild (Abb. 4). Vergleichen lassen sich hier immer die untereinanderstehenden Balken der Teilabbildungen a. und b., sie wurden mit dem exakten Fisher-Test auf signifikante Unterschiede überprüft: Die s-Fuge zeigt sich bei Erstgliedern mit nicht-betonbarem Suffix (meist -er) oder charakteristischem Wortausgang (z.B. -um, -ur) und Simplex nicht sensitiv gegenüber der phonologischen Wortqualität, die Verhältnisse sind bei guten wie schlechten phonologischen Wörtern gleich (p>0,05). Bei betont präfigierten Erstgliedern (z.B. Vórrat-, Ánzug-) wäre zu erwarten, dass sie sich verhalten wie Erstglieder aus dreigliedrigen Komposita (z.B. Sándstein-, Schúlbuch-), da in beiden Fällen zwei phonologische Wörter vorliegen. Es ist jedoch keine Ähnlichkeit zwischen beiden Gruppen zu erkennen.23 „Schlechte“ Wörter mit unbetontem Präfix (Gesícht-, Verkáuf-) weisen dagegen nicht mehr Verfugung auf als die „guten“, betont präfigierten Erstglieder (p>0,05). „Gute“ und „schlechte“ mehrgliedrige Komposita lassen sich aufgrund der niedrigen Zahl schlechter Komposita kaum vergleichen, zeigen jedoch auch keinen signifikanten Unterschied (p>0,05). Lediglich bei den Simplizia ergeben sich signifikante Unterschiede (p1

Umlaut

kein Umlaut

Umlaut

Kein (Pseudo-)suffix

-e, -er, -(e)n, -s, Pseudosuffixe (-el, -e, -er, -(e)n, -s)

kein Trochäus

Trochäus

Suffix Betonungsmuster

Tab. 1: Mögliche Hinweisreize zur Numerusverarbeitung im Deutschen und ihre tendenzielle Wirkrichtung (adaptiert nach Köpcke, 1993).

Keiner dieser Hinweisreize für sich genommen ist jedoch ein eindeutiges Kennzeichen für die eine oder andere Numeruskategorie, es handelt sich also vielmehr um probabilistische perzeptuelle Cues. Es gibt beispielsweise einsilbige Pluralformen ohne Umlaut (die Blocks). Eine Ausnahme bildet der definite Artikel das, der in keinem Fall mit Plural assoziiert sein kann.1 Die Wirksamkeit der Hinweisreize kann aus einem Zusammenspiel verschiedener Kriterien erklärt werden: Salienz, Type-Frequenz, Validität und Ikonizität (s. Tab. 2), wobei die Gewichtung dieser Kriterien untereinander ungeklärt bleibt. Letztendlich entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Hinweisreize, die jeweils mit verschiedener Wirksamkeit in die eine oder andere Richtung weisen (Singular || 1 Dies trifft natürlich auch auf die indefiniten Artikel zu. In der vorliegenden Untersuchung fokussieren wir uns aber auf die etwas interessanteren definiten Artikel.

Wie muss ein „guter“ deutscher Plural klingen? | 211

oder Plural), ein Schema, das in graduell abgestufter Art und Weise mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Numeruskategorie anzeigt (s. Abb. 1). Demnach bestünde beispielsweise ein gutes Pluralschema in der Kombination aus dem Artikel „die“, einem mehrsilbigen Nomen, das auf -(e)n endet, einen Umlaut enthält und einen Trochäus bildet (z.B. die Hürden). Ein perfektes Singularschema wäre ein auf Plosiv endender Einsilber ohne Umlaut, der mit das gebildet wird (z.B. das Werk). Der probabilistische Charakter der Numerusschemata im Deutschen wird unter anderem durch die Tatsache illustriert, dass es viele Nominalphrasen gibt, deren Schemata weder eindeutig auf Singular noch eindeutig auf Plural weisen. Beispielsweise weisen sowohl die Sage als auch die Tage die identische Zusammensetzung von Hinweisreizen auf (definiter Artikel die, zweisilbiger Trochäus ohne Umlaut, mit möglicher Pluralendung -e). Es gibt sogar ausgesprochen schlechte Schemata, die eher in Richtung der falschen Numeruskategorie weisen. So liefert z.B. die NP die Blocks nur wenige Hinweise auf ihren Pluralstatus.

Wirksamkeit Kriterium

Bedeutung

gering

hoch

Salienz

bessere Erkennbarkeit einer Markierung, die segmentierbar und wortfinal ist

Umlaut

Suffixe

Frequenz

Anzahl lexikalischer Types, welche dieselbe Markierung nutzen

-er -s

-(e)n -e

Validität

Verhältnis der Nutzung zur Markierung von Plural im Gegensatz zur Markierung anderer Konzepte (z.B. Singular, Kasus …)

-e -er

-(e)n -s

Silbische Markierungen sind perzeptuell besser erkennbar als nichtsilbische Markierungen

-s -n

-e -er -en

Ikonizität

Tab. 2: Kriterien für die Wirksamkeit perzeptueller Hinweisreize als Signal für die Numerusinterpretation mit ausgewählten Beispielen (nach Köpcke, 1993).

Schemata können also als sprachliches Wissen über systematische probabilistische Zusammenhänge zwischen der phonologisch-prosodischen Gestalt2 einer Wortform und ihrer (auch grammatischen) Bedeutung aufgefasst werden. Dabei

|| 2 Analog gilt dies auch für die graphematische Gestalt.

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können einzelne Aspekte der Wortform in Hinblick auf Richtung und Stärke ihrer Wirkung beschrieben werden.

Abb. 1: Schematische Darstellung der Hinweisreize für Numerusschemata (adaptiert nach Köpcke 1988, 1993, 1994, 1998). Die Anordnung soll die jeweilige Wirkrichtung der Hinweisreize, gewichtet an ihrer Stärke, widerspiegeln. Da die genaue Stärke eines Hinweisreizes nicht bekannt ist, kann die Darstellung keinen Anspruch auf skalare Qualität erheben. Interpretierbar sind also lediglich die ordinalen Positionen zueinander, nicht jedoch die genauen Abstände. Besonders kritisch wird dieses Problem bei den Suffixen -e, -s und -er, da diese in ihrer Wirksamkeit als NumerusHinweisreiz durch widersprüchliche Kriterien gekennzeichnet sind (s. Tab. 1), und somit selbst die ordinalen Positionen nicht eindeutig festgelegt werden können. Deshalb sind diese Suffixe mit einem Fragezeichen markiert.

1.4 Annahmen zur rezeptiven Verarbeitung morphologisch komplexer Wörter Obwohl Schemata im Spracherwerb durch die Abstraktion über Erfahrungen mit konkreten Wortformen entstehen, nehmen wir an, dass sie bei kompetenten Sprachverwendern auch ohne Rückgriff auf wortspezifisches Wissen angewendet werden können. Hierin gleichen sie dem sprachlichen Regelwissen, wie es in Zwei-Wege-Modellen konzeptualisiert wird (s. Abb. 2). Sie unterscheiden sich aber von symbolischen Regeln durch ihre graduell-probabilistische Natur. Ein Beispiel dafür ist der ambige Status der Wortendung -e, die sowohl als (schlechter) Singularhinweisreiz als auch als (ebenfalls schlechter) Pluralhinweisreiz wirken kann. Auch wenn Abb. 2 dies nahezulegen scheint, gehen wir nicht zwingend von einer Zwei-Wege-Architektur der Verarbeitung morphologisch komplexer Wörter aus. Wir halten auch eine „Überlappung“ von Wort- und

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Regel- bzw. Schemawissen für plausibel, so dass diese drei Arten von Wissen eher graduell unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Verarbeitungsmechanismus darstellen. Wichtig für die vorliegende Studie ist jedoch die Annahme, dass Schemawissen eine zumindest relative Unabhängigkeit von lexikalischem Wissen hat.

Abb. 2: Modell auditiv-morphologischer Verarbeitung. Die auditiv-phonologische Verarbeitung morphologisch komplexer Wörter führt entweder über den Zugriff auf einen Eintrag im mentalen Lexikon (linker Verarbeitungspfad) und/oder über die Anwendung von Regel- bzw. Schemawissen (rechter Verarbeitungspfad) zur ihrer Interpretation (stimulusbasierte Verarbeitung von oben nach unten im Modell). Die stimulusbasierte Verarbeitung kann auch durch Prädiktionen über den sprachlichen Input beeinflusst werden (erwartungsbasierte Verarbeitung von unten nach oben im Modell). Eine entscheidende Annahme für die vorliegende Studie besteht in der (relativen) Autonomie der regel- bzw. schemabasierter Verarbeitung, für die nicht auf Einzelwortwissen zurückgegriffen werden muss (Mitte rechts), von wortspezifischen lexikalischen Repräsentationen (Mitte links).

1.5 Erworbene Störungen morphologischer Verarbeitung Erworbene Störungen der Flexionsmorphologie bei erwachsenen Patienten mit Hirnschädigungen wurden vor allem im Kontext der Diskussion um die Routenanzahl in der morphologischen Verarbeitung untersucht (Joanisse & Seidenberg, 1999; Miozzo, Fischer-Baum, & Postman, 2010; Penke & Krause, 2002; Ullman et al., 1997; Wilson et al., 2014). Zahlreiche Studien mit Patienten ver-

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schiedener neurologischer Störungsbilder haben Leistungsdissoziationen zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Flexion in beiden Ausprägungen berichtet (d.h. gestörte regelmäßige bei besser erhaltener unregelmäßiger Flexion und umgekehrt). Vertreter von Zwei-Wege-Modellen haben argumentiert, dass diese Leistungsdissoziationen systematisch mit dem Fokus der Hirnschädigung zusammenhängen, so dass „anteriore“ Läsionen im Broca-Areal und den Stammganglien (z.B. bei anterioren Aphasien und Morbus Parkinson) zu Beeinträchtigungen der regelmäßigen Flexion führen und „posteriore“ Läsionen insbesondere unter Einbeziehung des linken Temporallappens (z.B. posteriore Aphasien und Alzheimer Demenz) zu Defiziten in der wortbasierten unregelmäßigen Flexion (Ullman et al., 1997). Eine aktuelle Studie zu verschiedenen Lokalisationsschwerpunkten einer degenerativen Form von Aphasie, der so genannten Primär Progressiven Aphasie, scheint dieses Muster im Wesentlichen zu bestätigen (Wilson et al., 2014). Zwei Studien haben sich speziell mit der deutschen Numerusflexion bei erworbenen Sprachstörungen beschäftigt. Penke und Krause (2002) haben mit einer Pluralelizitierungsaufgabe untersucht, ob sich die Leistungen von Patienten mit Broca-Aphasie für den absolut regelmäßigen -n Plural bei Feminina (-nfem) von denen bei anderen, nicht valide durch Regeln vorhersagbaren -n Pluralen (-nnonfem) unterschieden. Sie fanden bei einigen Patienten Dissoziationen zwischen diesen beiden Flexionstypen, zumeist mit besser erhaltenen Leistungen für die regelmäßigen -nfem Plurale. Interessanterweise wurden dabei die Fehler für die unregelmäßige (-nnonfem) – nicht aber für die regelmäßige (-nfem) – Flexion von der Wortfrequenz beeinflusst, d.h. die seltenen unregelmäßig flektierten Wörter führten zu besonders vielen Fehlern. Die Autoren schließen, dass regelmäßige Flexion (auch wenn sie nicht als Default angesehen werden kann) über einen Regelmechanismus verarbeitet wird, während unregelmäßige Flexion von einem frequenzsensitiven lexikalischen Mechanismus verarbeitet wird. Allerdings ist die -nfem Flexion eben nur unter bestimmten Inputrestriktionen regelmäßig, nämlich nur für Feminina. Das Genus eines Nomen ist aber im Deutschen eine idiosynkratische Information, die üblicherweise im mentalen Lexikon verortet wird. Demnach muss auch in diesen Fällen erfolgreicher regelbasierter Verarbeitung zumindest partielles wortspezifisches lexikalisches Wissen vorhanden sein. Ein solcher Bezug auf lexikalisches Wissen ist bei den rein formorienterten Schemata nicht vorgesehen. Unlängst konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Aphasie als Gruppe weniger Schwierigkeiten mit der Verarbeitung von Numerusflexion als mit Genusflexion haben (gemessen an der Zuordnung des richtigen definiten Artikels), was damit erklärt wurde, dass Numerusflexion im Unterschied zur Genusflexion

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bei unbelebten Referenten einen semantisch-konzeptuellen Aspekt hat (Rath et al., 2015). Auf der anderen Seite gab es aber auch individuelle Patienten, die gerade mit der Numerusflexion besondere Probleme hatten (Rath et al., 2015).

2 Fragestellung und Hypothesen In der vorliegenden Studie wollen wir die Frage untersuchen, ob schemabasiertes Wissen bei der Numerusinterpretation eingesetzt werden kann, wenn lexikalisches Wissen nicht mehr verfügbar ist. Da die deutsche Numerusflexion unter solchen Umständen hochgradig intransparent ist, kann ein symbolischer Regelmechanismus hier offenbar nicht greifen. Dies gilt auch für den als Default diskutierten -s Plural: Er kommt nur selten vor und ist zudem zwar nach den von Köpcke formulierten Kriterien "hoch" valide (s. Tab. 2), die Validität ist aber keineswegs vollständig, da es auch auf –s endende Nomen im Singular gibt (z.B. Fuchs). Auch das vollständig valide -nfem Suffix kann nicht ohne Rückgriff auf zumindest partielles lexikalisches Wissen interpretiert werden, da die Genuskategorie im Deutschen wortspezifisch gespeichert sein muss. Aus diesen Gründen kann die Entscheidung, ob ein gesprochenes Wort sich auf einen oder mehrere Referenten bezieht – wenn man einmal von möglichen desambiguierenden Kontextinformationen absieht – nur durch den Zugriff auf das im mentalen Lexikon gespeicherte wortspezifische Wissen erfolgen. Dies mag eine zielführende Strategie für die Numerusverarbeitung von Sprechern sein, deren Lexikon durch jahrelange Verwendung ebensolche Informationen verlässlich abrufbar enthält. Bestimmte erworbene Sprachstörungen bewirken aber, dass das lexikalische Wissen nicht mehr vorhanden bzw. nicht mehr verfügbar ist (Domahs, Bartha, Lochy, Benke, & Delazer, 2006; Wilson et al., 2014). Woran erkennen aber Personen ohne ein funktionierendes mentales Lexikon, ob ein deutsches Nomen eine Singular- oder eine Pluralbedeutung hat? Wenn das schemabasierte Wissen als weitgehend unabhängig vom lexikalischen Wissen angenommen wird (s. Abb. 2), dann könnten solche Patienten allein auf der Basis der Oberflächenform versuchen, diese Entscheidung zu treffen. Dies sollte zu dem folgenden Leistungsmuster führen: a) Eine fehlerfreie Leistung ist unter diesen Umständen nicht möglich. Die meisten Numerusschemata im Deutschen sind mehr oder weniger ambig (z.B. die SageSg. vs. die TagePl.). Ambige Schemata führen, wenn nur auf ihrer Basis eine Numerusinterpretation erfolgen kann, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu Fehlern.

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b) Die Leistung sollte aber oberhalb der Ratewahrscheinlichkeit liegen, da es auch einige eindeutige Schemata gibt, auf deren Basis eine richtige Interpretation möglich ist (z.B. das WerkSg. vs. die HürdenPl.). c) Die Leistung für individuelle Nominalphrasen sollte von der Stärke ihres Schemas abhängen, wobei Stärke definiert werden kann als die Anzahl von Hinweisreizen, die in eine bestimmte Richtung (Singular oder Plural) deuten, gewichtet mit der Wirksamkeit dieser Reize. Nominalphrasen, bei denen besonders viele und/oder besonders wirksame Hinweisreize in Richtung Plural deuten, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als Plural interpretiert als NPs mit wenigen und/oder wenig wirksamen Hinweisreizen in diese Richtung. Dieser Einfluss sollte unabhängig von der tatsächlichen Numeruskategorie eines Nomen sein. Beispielsweise sollte die Türe mit hoher Wahrscheinlichkeit als Plural interpretiert werden, da alle Hinweisreize in diese Richtung deuten oder zumindest damit kompatibel sind (definiter Artikel die, zweisilbiger Trochäus, mögliche Pluralendung -e, Umlaut), auch wenn die NP eigentlich im Singular steht.

3 Methode 3.1 Patientin Die Patientin, HT, war eine zum Zeitpunkt der Untersuchung 56-jährige Hausfrau mit einem einfachen Schulabschluss (nach acht Jahren Regelschule). Sie war Rechtshänderin mit deutscher Muttersprache ohne Hinweise auf zuvor bestehende sprachliche Defizite. Die Untersuchung fand in der Neuropsychologischen Abteilung der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck statt, wohin die Patientin zur Abklärung des Störungsbildes und zur Verlaufsdiagnostik kam. Ihr Fall wurde bereits in früheren Studien veröffentlicht, die einen anderen inhaltlichen Fokus hatten (Domahs et al., 2006; Janßen & Domahs, 2008). Nach den Kriterien von Mesulam (2001, S. 426) wurde bei HT eine Primär Progressive Aphasie diagnostiziert, also eine dementielle Erkrankung, bei der hauptsächlich sprachliche Funktionen betroffen sind. Erste Wortfindungsschwierigkeiten bemerkte sie bereits etwa drei Jahre vor der Diagnose. Danach verschlechterte sich ihre Symptomatik, wobei die Defizite praktisch ausschließlich den sprachlichen Bereich betrafen (Wortfindung, Benennen, Sprachverständnis) und zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits so ausgeprägt waren, dass die Patientin aufgrund der Beeinträchtigungen ihres Alltagslebens eine Invaliditätsrente bezog. Neuroradiologische Untersuchungen zeigten eine

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asymmetrische bilaterale fokale Atrophie der Temporallappen, wobei laterale und inferior-temporale Areale besonders betroffen waren, sowie eine pathologische Verringerung der Durchblutung kortikaler und subkortikaler Anteile des linken Temporallappens. Die Patientin zeigte ein stark eingeschränktes Arbeitsgedächtnis für sprachliches Material (Ziffern, Buchstaben und Monate) und stark beeinträchtigte Leistungen im verbalen Lernen und Gedächtnis. Im Gegensatz dazu waren ihr visuelles Arbeitsgedächtnis (Block Tapping; Kessels, van Zandvoort, Postma, Kappelle, & de Haan, 2000), visuelle Wahrnehmung und Gedächtnis (Rey Osterreith Complex Figure; Osterrieth, 1944; Rey, 1941) und nonverbales Problemlösen (VESPAR; Langdon & Warrington, 1995) weitgehend erhalten. Sie zeigte keine Zeichen einer Akalkulie oder ideomotorischen Apraxie. Ferner gab es auch keine Hinweise auf Apathie, Enthemmung, Vergesslichkeit für rezente Ereignisse, Defizite im visuellen Objekterkennen oder sensomotorische Dysfunktionen. Im Aachener Aphasie Test (AAT; Huber, Poeck, Weniger, & Willmes, 1983) zeigte HT beeinträchtigte Leistungen im Nachsprechen (92/150 Punkte), Lesen (25/30), Schreiben (30/60) und Sprachverständnis (72/120) und sehr stark gestörte Benennleistungen (27/120). Die Spontansprache der Patientin war im Allgemeinen flüssig mit nur gelegentlichen phonematischen und syntaktischen Fehlern. Sie war allerdings inhaltsarm und bestand weitgehend aus sprachlichen Stereotypien. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass HTs nonverbale Leistungen weitgehend erhalten waren, ihre verbalen Leistungen hingegen als deutlich beeinträchtigt gelten müssen. Weiterführende Analysen ihres sprachlichen Profils konnten das Defizit auf der Ebene des lexikalischen Wissens (oder des Zugriffs auf dieses Wissen) eingrenzen. So hatte HT besondere Schwierigkeiten in allen Aufgaben, bei denen lexikalisches Wissen erforderlich ist wie Benennen, lexikalisches Entscheiden oder das Zuweisen des richtigen (Genus-markierten) definiten Artikels zu Nomen, während sprachliche Aufgaben, bei denen kein Zugriff auf lexikalisches Wissen nötig ist (z.B. Lesen und Schreiben von Pseudowörtern, nonverbale Aufgaben zur Überprüfung semantischen Wissens), kaum beeinträchtigt waren (Domahs et al., 2006). Besonders relevant im Kontext der vorliegenden Studie ist die qualitative Fehleranalyse: Welche Stimuli waren besonders „schwer“ für die Patientin und welche Art Fehler hat sie damit gemacht? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass sie keine Probleme bei der Verarbeitung von Pseudowörtern hatte, da Pseudowörter keinen lexikalischen Eintrag haben und somit nur über das sprachliche Regelwissen verarbeitet werden können, das ja als unabhängig vom

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lexikalischen Wissen konzeptualisiert werden kann (s. Abb. 2). Regelmäßige Wörter könnten sowohl über das mentale Lexikon als auch über das Regelwissen erfolgreich verarbeitet werden. Die letztere der beiden Möglichkeiten bewirkt, dass auch dieser Stimulustyp bei einer lexikalischen Störung nicht fehleranfällig ist. Lediglich ambige bzw. unregelmäßige Wörter können allein über das wortspezifische lexikalische Wissen sicher richtig realisiert werden. Als „Ausnahmen“ sind sie dem Regelwissen nicht zugänglich. Wenn im Kontext einer lexikalischen Störung trotzdem versucht wird, unregelmäßige Wörter regelbasiert zu realisieren, kommt es zu einem charakteristischen Fehlertyp, den Regularisierungsfehlern, es werden also Regeln auf sprachliche Stimuli angewendet, für die diese Regeln eigentlich nicht oder nur eingeschränkt gelten. Dieses Fehlermuster zeigte HT sowohl beim lauten Lesen („Oberflächendyslexie“) als auch beim Schreiben nach Diktat („Oberflächendysgrafie“) (Domahs et al., 2006): So produzierte sie beim Lesen 61% Fehler bei ambigen/unregelmäßigen Wörtern und nur 9% Fehler bei regelmäßigen (LeMo Untertest 16, De Bleser, Cholewa, Stadie, & Tabatabaie, 2004). Der dominante Fehlertyp waren Regularisierungen (z.B.  [ga'ra:gə] statt [ga'ra:ʒə]). Auch das Schreiben nach Diktat war von Regularisierungsfehlern charakterisiert (z.B. statt , statt ). Weitere Hinweise auf die Anwendung regelbasierten Wissens bei gestörtem wortspezifischen Wissen wurden im Bereich der wortprosodischen Verarbeitung gefunden (Janßen & Domahs, 2008): Während beim lauten Lesen mehrsilbiger Wörter die Lautsequenz fast immer richtig realisiert wurde, produzierte HT häufig falsche, aber zur segmentalen Struktur besser passende Wortbetonungen. Beim Nachsprechen wurde das umgekehrte Muster beobachtet: Hier blieb das prosodische Muster des Stimulus überwiegend erhalten, die Patientin produzierte aber segmental stark abweichende Reaktionen („phonematische Neologismen“). Auch diese segmentalen Abweichungen führten aber fast immer zu einer optimierten Relation zwischen segmentaler und prosodischer Struktur. Für beide Aufgaben konnte der dominierende Fehlertyp also als Optimierung bzw. Regularisierung interpretiert werden (Janßen & Domahs, 2008). Auch im Bereich der morphologischen Verarbeitung zeigte sich die Dissoziation zwischen gestörter lexikalischer und erhaltener regelbasierter Verarbeitung: Bei weitgehend lexikalisierten Flexionsparadigmen, die ein wortspezifisches Wissen erfordern, waren die Leistungen der Patientin deutlich beeinträchtigt. So produzierte sie nur in 67% der Fälle den richtigen definiten Artikel zu einem vorgegebenen Nomen (bei einer Ratewahrscheinlichkeit von 33 %), was für Schwierigkeiten im Bereich der Genuszuweisung spricht, und nur in

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10% der Fälle konnte sie den richtigen Plural zu einem vorgegebenen Singularnomen bilden (umgekehrt 71% richtig). Besonders deutlich wird die Dissoziation auch in Flexionsparadigmen, die regelmäßige und unregelmäßige Formen enthalten. So sollte die Patientin Verben aus der 1. Person Singular Präsens in die 1. Person Singular Präteritum transformieren. Dies gelang ihr bei 36% der niedrigfrequenten und 50% der hochfrequenten regelmäßigen Verben (Suffix te) richtig, aber bei keinem einzigen unregelmäßigen Verb (unabhängig von der Frequenz). Wenn HT Präteritumformen zeitlich interpretieren sollte, so konnte sie dies in 92% bzw. 100% der niedrig- bzw. hochfrequenten regelmäßigen Formen, aber nur in 24% bzw. 56% der niedrig- bzw. hochfrequenten unregelmäßigen Formen. Allgemein waren HTs Leistungen bei allen Aufgaben mit Wortstimuli (wie bei der Tempusflexion) deutlich von der Wortfrequenz beeinflusst, d.h. seltene Wörter waren stärker betroffen als häufige, was als weiterer Hinweis auf eine lexikalische Störung interpretiert werden kann (Penke & Krause, 2002). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das (morpho-)lexikalische Wissen der Patientin im Zuge einer Primär Progressiven Aphasie massiv gestört war. Ihr sprachliches Regelwissen (wie auch andere, nicht sprachlich-mediierte kognitive Funktionen) war jedoch weitgehend erhalten.

3.2 Kontrollgruppe Zur besseren Einordnung der Ergebnisse der Patientin wurde auch eine Gruppe von 20 neurologisch gesunden Probanden untersucht3. Diese Kontrollpersonen waren im Mittel 40 Jahre alt (Standardabweichung = 15,4), 12 von ihnen waren weiblich und 12 hatten als Bildungsabschluss mindestens Abitur.

3.3 Aufgabe Die Untersuchung fand in drei jeweils etwa einstündigen Sitzungen statt, mit je einer Woche Pause zwischen den Sitzungen. In einer Numerusentscheidungsaufgabe wurden HT Nominalphrasen (bestehend aus dem definiten Artikel und Nomen) vorgelesen und sie sollte entscheiden, ob es sich dabei um einen oder mehrere Referenten handelte. Dabei konnte sie die Antwort verbal geben

|| 3 Diese Untersuchung fand im Rahmen eines Bachelorarbeitsprojekts von Olga Wolf an der Universität Marburg statt.

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und/oder auf eine von zwei Antwortalternativen auf einem Blatt Papier zeigen (ein/eine/eins vs. mehrere). Mehrere kognitiv-sprachliche Strategien, die sich gegenseitig nicht ausschließen, können in dieser Aufgabe zu richtigen Antworten führen: 1) Der Zugriff auf den richtigen Eintrag im mentalen Lexikon aktiviert in der Folge direkt die richtige Wortbedeutung – einschließlich der Quantitätsbedeutung (z.B. Füchse: mehrere hundeähnliche Säugetiere, rötliches Fell, buschiger Schwanz, …). 2) Der Zugriff auf den Lexikoneintrag ermöglicht den Vergleich mit anderen Einträgen des Paradigmas und dadurch die relative Verortung in den Kategorien Singular und Plural (z.B. Füchse: im Kontrast zu Fuchs kann auf die Pluralbedeutung geschlossen werden). 3) Zugriff auf Regeln oder Subregularitäten, die Rückgriff auf lexikalisches Wissen erfordern (z.B. Füchse: da es sich um ein Maskulinum handelt [lexikalisches Wissen], ist eine auf -e auslautende Form wahrscheinlich Plural; s. Eisenberg, 2013). Da die bislang genannten drei Strategien jeweils Zugriff auf lexikalisches Wissen erfordern, sollten sie von HT nicht anwendbar sein. 4) Eine theoretisch denkbare Strategie könnte auch darin bestehen, (eine) symbolische Regel(n) anzuwenden, um Numerusentscheidungen treffen zu können. Eine solche Strategie wäre beispielsweise im Englischen recht erfolgreich („Interpretiere alle Nomen, die auf -s enden, als Plural!“). Aufgrund der oben beschriebenen weitgehenden Intransparenz der deutschen Numerusflexion (und – daraus folgend – ihrer starken Lexikalisierung) ist diese Strategie im Deutschen jedoch kaum zielführend (für die Verwendung von -s als Flexionsmarker im Englischen und Deutschen siehe auch den Beitrag von Berg in diesem Band). So bleibt bei einer Störung lexikalischen Wissens noch die Möglichkeit, 5) Kombinationen perzeptiver Hinweisreize zu interpretieren, wie sie im Schemaansatz beschrieben werden. Für das Beispiel die Füchse wären alle Hinweisreize mehr oder weniger ambig, so dass die Entscheidung nicht sicher „Plural“ lauten kann. (Zur Erinnerung: Ein Vergleich mit der Fuchs würde lexikalisches Wissen erfordern.) Tatsächlich gibt es auch Nominalphrasen mit der gleichen Oberflächenform (definiter Artikel die, zweisilbiger Trochäus, Umlaut, Endung -e), die im Singular stehen (z.B. die Büchse). Andere Schemata wären stark genug, um mit großer Wahrscheinlichkeit zur richtigen Antwort zu führen (z.B. Singular: das Werk, Plural: die Böden).

3.4 Stimuli und Operationalisierung der Numerusschemata Insgesamt wurden der Patientin 1132 Nominalphrasen (definiter Artikel + Nomen) auditiv vorgegeben. Bei der Auswahl der Stimuli wurde darauf geachtet, dass alle möglichen Schemata hinreichend oft vertreten sind, dass die beiden

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Antwortkategorien (Singular und Plural) etwa gleich häufig vorkamen, dass Pluralformen semantisch plausibel waren (Beispielsweise wurde auf die Sonnen verzichtet, da die Tatsache, dass es in der allgemeinen Lebenserfahrung nur eine Sonne gibt, die Antwort „Singular“ begünstigen könnte.), dass kein Konflikt zwischen grammatischem und semantischem Numerus besteht (Verzicht auf Stoff- bzw. Massenomen) und dass die Nomen von der Numerusflexion abgesehen morphologisch einfach waren (keine Komposita, keine Kasusflexion). Alle Nomen waren niedrig bis mittelfrequent (logarithmierte Wortformfrequenzen von maximal 2,85 auf Basis der CELEX-Datenbank, Baayen, Piepenbrock, & van Rijn, 1993). Einige Stimuli wurden im Nachhinein von der Analyse ausgeschlossen. Das betraf insbesondere Fälle, in denen die Antwort der Patientin nicht eindeutig war und NPs, die mehrfach präsentiert worden sind. In letzteren Fällen wurde jeweils die Antwort bei der ersten Testung gewertet. Insgesamt sind somit noch 944 Items in die Analyse eingegangen. Bei der Operationalisierung von Numerusschemata wurde für jedes Item die Frage beantwortet, ob ein vorliegender (oder fehlender) Hinweisreiz zur Interpretation einer NP als Singular bzw. Plural beitragen kann. Für jede NP wurde also kodiert, ob die in Tab.1 aufgeführten Hinweisreize vorliegen. Dabei sollten der definite Artikel die, die Mehrsilbigkeit des Nomen, ein trochäisches Betonungsmuster, ein Umlaut im Wortstamm und die Existenz einer möglichen Pluralendung potenziell zur Klassifikation als Plural beitragen. Im Gegensatz dazu würden die Artikel der oder das sowie ein einsilbiges Nomen ohne Umlaut und Pseudosuffix als Hinweise auf Singular interpretiert. Zusätzlich wurde kodiert, ob das vorliegende (Pseudo-)Suffix häufig als Pluralendung verwendet wird (Type-Frequenz) und ob es ikonisch (d.h. gut wahrnehmbar) und valide (d.h. möglichst selten für andere grammatische Funktionen verwendet) ist. Auf eine zusätzliche Kodierung der Salienz von (Pseudo-)Suffixen wurde verzichtet, da diese nach Köpcke (1993) einheitlich als hoch bewertet wurde (s. Tab. 1). Zur Berechnung der Stärke des Gesamtschemas wurde ein Summenwert aus all diesen Faktoren gebildet, der von 1 (minimal schwaches Schema) bis 8 (maximal starkes Schema) reichen konnte. Wenn also für eine Plural-NP der definite Artikel die (1 Punkt), ein mehrsilbiges Nomen (1 P) mit Trochäus (1 P), einem Umlaut (1 P) und einem (Pseudo-) Suffix (1 P) vorlagen, wobei letzteres funktional häufig Plural markiert (1 P), ikonisch (1 P) und valide (1 P) war, dann erhielte eine solche Nominalphrase als stärkst-mögliches Pluralschema den maximalen Punktwert von 8. Da bei einer lexikalischen Störung ein Frequenzeffekt erwartbar ist (bessere Leistungen für häufige als für seltene Wörter) und hochfrequente Wörter eher abweichende Schemata aufweisen als niedrigfrequente (Köpcke, 1993), wurde

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zudem noch die Wortformfrequenz jedes Nomen in die Analyse mit einbezogen (logarithmierte Werte auf Basis der CELEX-Datenbank, Baayen et al., 1993).

4 Ergebnisse Die Patientin gab 754/944 (79,9%) richtige Antworten. Die Antworten waren somit einerseits nicht fehlerfrei, aber bei einer aufgabenbedingten Ratewahrscheinlichkeit von 50% andererseits doch signifikant überzufällig richtig (Test auf Binomialverteilung bei einer Stichprobe, p < 0,001). Zur besseren Einordnung der Ergebnisse wurden die 140 niedrigfrequentesten Items aus der Gesamtmenge aller Nominalphrasen, die der Patientin präsentiert worden waren, zusammengestellt. Die Auswahl des unteren Frequenzbereichs erfolgte unter der Annahme, dass dies auch für sprachgesunde Personen die „schwierigsten“ Stimuli sein würden. Diese Items wurden im selben Aufgabensetting (Numerusentscheidung) den 20 Kontrollpersonen in einer neuen Randomisierung präsentiert. Im Mittel beantworteten diese Probanden 99,3% aller Items richtig. Der höchste individuelle Fehlerwert lag bei 4/140 (entspricht 2,9%). Die Fehlerrate der Patientin war signifikant höher als die der Kontrollgruppe, obwohl letztere nur eine Auswahl besonders schwieriger (weil relativ seltener) Stimuli bearbeiten musste (Einzelfallstatistik nach Crawford & Garthwaite, 2002; t = 189,3; p < 0,0001). In einer ersten Auswertung wurden mögliche Einflüsse des – partiell gestörten – lexikalischen Wissens und des – vermutlich erhaltenen – Schemawissens der Patientin auf die Richtigkeit ihrer Antworten analysiert. Dazu wurden in einer multiplen logistischen Regression (Verfahren: schrittweise rückwärts) für jedes Item die logarithmierte Wortfrequenz des Nomen, seine Schemastärke (1 bis 8 Punkte, s. Abschnitt Stimuli und Operationalisierung der Numerusschemata), sowie ein Interaktionsterm aus beiden Variablen als potenzielle Prädiktoren eingeführt. Die Richtigkeit der Antwort diente als abhängige Variable (1 = richtig, 0 = falsch). Da sich der Einfluss des Interaktionsterms als nicht signifikant erwies, wird hier das Modell ohne diesen Term berichtet. Die Gesamtgüte des erhaltenen Modells war gering bis zufriedenstellend (Nagelkerke's R² = 0,0954; korrekte Fallklassifikation: 80,3%). Die Richtigkeit der Antworten wurde sowohl

|| 4 Die Pseudo-R²-Statistik nach Nagelkerke misst approximativ den Anteil der Variation in der abhängigen Variablen, der durch das Modell erklärt wird (Schendera, 2008), im hier vorliegenden Fall kann das Modell also knapp 10% der Varianz erklären.

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durch die Schemastärke als auch durch die Wortfrequenz signifikant beeinflusst (s. Tab. 3 und Abb. 3), d.h. je häufiger ein Wort und je stärker sein Numerusschema desto wahrscheinlicher war eine richtige Antwort der Patientin.5 Modelle, die entweder allein die Schemastärke oder allein die Wortfrequenz als Prädiktor enthielten, konnten jeweils signifikante Teile der Varianz der abhängigen Variable aufklären, wobei das Modell nur mit der Schemastärke (χ²(1) = 50,6; p < 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,082) eine höhere Güte aufwies als das Modell nur mit der Wortfrequenz (χ²(1) = 10,6; p = 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,018).

Prädiktor

B

p

Wald

Schemastärke

0,24

< 0,001

47,3

Wortfrequenz (log)

0,42

0,004

8,2

Konstante

-0,44

0,113

2,5

Tab. 3: Einfluss von Wortfrequenz und Schemastärke auf die Antwortrichtigkeit (multiple logistische Regression). B: geschätzter, nicht standardisierter Regressionskoeffizient, p: Signifikanzwert der WaldStatistik, Wald: Testwert der Wald-Statistik (Quotient aus B und seinem quadrierten Standardfehler), Konstante: Basismodell ohne Prädiktoren.

|| 5 Beispiele für hochfrequente und schemastarke NPs, die richtig beantwortet wurden: Plural: die Küchen, die Börsen, die Gärten; Singular: der Berg, der Ring, das Pferd. Beispiele für niedrigfrequente NPs mit schwachem Numerusschema, die falsch beantwortet wurden: Plural: die Trams, die Bons, die Schals; Singular: die Rüsche, die Föhre, die Schärpe.

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Abb. 3: Zusammenhang von Schemastärke und Wahrscheinlichkeit einer richtigen Antwort im Regressionsmodell (s. Text). Da es sich um eine dichotome Entscheidungsaufgabe handelt („Singular oder Plural?“), liegt die Ratewahrscheinlichkeit bei 50%.

Anschließend sollte der Einfluss der einzelnen perzeptuellen Hinweisreize (s. Tab. 1) auf die Numerusklassifikation der Patientin mittels einer weiteren multiplen logistischen Regression untersucht werden. Dabei diente HTs Numerusentscheidung als abhängige Variable (Singular = 0, Plural = 1) und folgende, ebenfalls binär kodierte Variablen als mögliche Prädiktoren: Art des definiten Artikels, Silbenzahl / Betonungsmuster, Umlaut und Existenz eines (Pseudo-) Suffix. Alle untersuchten Hinweisreize zeigten einen numerischen Einfluss in die erwartete Richtung: der Artikel die, ein zweisilbiger Trochäus sowie das Vorhandensein eines (Pseudo-)Suffix und eines Umlautes erhöhten die Wahrscheinlichkeit von Pluralentscheidungen (s. Abb. 4).

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Abb. 4: Einfluss der verschiedenen Arten von Hinweisreizen auf die im Regressionsmodell vorhergesagte Wahrscheinlichkeit einer Pluralantwort.

Da die Silbenzahl und das Betonungsmuster eng zusammenhängen (ein trochäisches Betonungsmuster ist nur möglich, wenn das Wort aus zwei Silben besteht), wurde nur entweder der eine oder der andere dieser beiden Hinweisreize in die Analyse einbezogen. Die resultierenden Modelle unterschieden sich nur marginal. Zunächst wurde ein Modell mit allen Hinweisreizen gerechnet. Davon ausgehend wurden schrittweise diejenigen Prädiktoren entfernt, die nicht signifikant zur Aufklärung von Varianz beitrugen. Dies führte zum Ausschluss der Variablen Umlaut und Existenz eines (Pseudo-)Suffix, während – neben einer ins Modell eingefügten, inhaltlich irrelevanten Konstante – die Hinweisreize Art des Artikels und Silbenzahl als signifikante Prädiktoren beibehalten wurden. Die Gesamtgüte des errechneten Modells kann als zufriedenstellend beschrieben werden (Nagelkerke's R² = 0,29; korrekte Fallklassifikation: 71,0%). Tab. 4 gibt einen Überblick über das finale Modell. Modelle, die entweder allein die Art des Artikels oder allein die Silbenzahl als Prädiktor enthielten, konnten jeweils signifikante Teile der Varianz der abhängigen Variable aufklären, wobei das Modell nur mit der Art des Artikels (χ²(1) = 186,7; p < 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,239) eine höhere Güte aufwies als das Modell nur mit der Silbenzahl (χ²(1) = 157,5; p = 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,205).

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Prädiktor

B

p

Wald

Artikel

-1,67

< 0,001

70,5

Silbenzahl

-1,56

< 0,001

43,6

Konstante

0,71

< 0,001

71,8

Tab. 4: Einfluss der einzelnen Hinweisreize auf die Numerusentscheidung (multiple logistische Regression). B: geschätzter, nicht standardisierter Regressionskoeffizient, p: Signifikanzwert der WaldStatistik, Wald: Testwert der Wald-Statistik (Quotient aus B und seinem quadrierten Standardfehler), Konstante: Basismodell ohne Prädiktoren. Die B-Werte für Artikel und Silbenzahl haben wegen der gewählten Kodierung (Artikel: der / das = 1, die = 0; Silbenzahl: einsilbig = 1, zweisilbig = 0) ein negatives Vorzeichen.

Schließlich sollte auch der Einfluss der Wirksamkeit der Hinweisreize von (Pseudo-) Suffixen (s. Tab. 2) auf die Numerusklassifikation der Patientin mit Hilfe einer multiplen logistischen Regression untersucht werden. Dabei diente HTs Numerusentscheidung als abhängige Variable (Singular = 0, Plural = 1) und folgende ebenfalls binär kodierte Variablen als mögliche Prädiktoren: Frequenz, Ikonizität und Validität. Da alle (Pseudo-)Suffixe wortfinal lokalisiert sind und somit als salient gelten, wurde das Kriterium der Salienz nicht mit einbezogen. Alle untersuchten Variablen zeigten einen numerischen Einfluss in die erwartete Richtung: eine hohe Frequenz, Ikonizität und Validität eines (Pseudo-)Suffix erhöhten die Wahrscheinlichkeit von Pluralentscheidungen (s. Abb. 5).

Abb. 5: Einfluss der Wirksamkeit der Hinweisreize auf die im Regressionsmodell vorhergesagte Wahrscheinlichkeit einer Pluralantwort.

Zunächst wurde ein Modell mit allen Hinweisreizen gerechnet. Davon ausgehend wurden schrittweise diejenigen Prädiktoren entfernt, die nicht signifikant zur Aufklärung von Varianz beitrugen. Dies führte zum Ausschluss der Variable

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Frequenz, während – neben einer ins Modell eingefügten, inhaltlich irrelevanten Konstante – die Variablen Ikonizität und Validität als signifikante Prädiktoren beibehalten wurden. Die Gesamtgüte des errechneten Modells kann als zufriedenstellend beschrieben werden (Nagelkerke's R² = 0,38; korrekte Fallklassifikation: 72,2%). Tab. 5 gibt einen Überblick über das finale Modell. Modelle, die entweder allein die Ikonizität oder allein die Validität als Prädiktor enthielten, konnten jeweils signifikante Teile der Varianz der abhängigen Variable aufklären, wobei das Modell nur mit der Validität (χ²(1) = 199,2; p < 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,254) eine höhere Güte aufwies als das Modell nur mit der Ikonizität (χ²(1) = 93,1; p < 0,001; Nagelkerke’s R² = 0,125).

Prädiktor

B

p

Wald

Suffix-Validität

-2,271

< 0,001

175,7

Suffix-Ikonizität

-1,758

< 0,001

97,2

Konstante

1,947

< 0,001

152,5

Tab. 5: Einfluss der Wirksamkeit der (Pseudo-)Suffixe als Hinweisreiz auf die Numerusentscheidung (multiple logistische Regression). B: geschätzter, nicht standardisierter Regressionskoeffizient, p: Signifikanzwert der WaldStatistik, Wald: Testwert der Wald-Statistik (Quotient aus B und seinem quadrierten Standardfehler), Konstante: Basismodell ohne Prädiktoren. Die B-Werte für Validität und Ikonizität haben wegen der gewählten Kodierung (Validität: gering = 1, hoch = 0; Ikonizität: nicht ikonisch = 1, ikonisch = 0) ein negatives Vorzeichen.

5 Diskussion Das Leistungsmuster der Patientin in der Numerusentscheidungsaufgabe ist konsistent mit der Annahme einer schemabasierten Antwortstrategie aufgrund einer Störung des wortspezifischen Wissens: Einerseits zeugen die – auch im Vergleich zur Kontrollgruppe – deutlich beeinträchtigten Leistungen und deren Beeinflussung durch die Wortfrequenz vom Vorliegen einer (partiellen) lexikalischen Störung. Andererseits sprechen die überzufällig richtigen Antworten und insbesondere der Einfluss der Numerusschemata für eine schemabasierte Antwortstrategie. Dabei hatte jeder der vorhergesagten Hinweisreize einen numerisch hypothesenkonformen Einfluss auf die Antworten der Patientin: definiter Artikel, Silbenzahl, Betonungsmuster, Umlaut und (Pseudo-)Suffix (s. Abb. 4). Die Art des

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definiten Artikels sowie die Silbenzahl bzw. das Betonungsmuster erwiesen sich darüber hinaus als statistisch signifikante Prädiktoren für HTs Pluralentscheidungen (s. Tab. 4). Auch die Tatsache, dass nicht ein einzelner Hinweisreiz für sich genommen alle Varianz erklären konnte, sie also vielmehr zusammenwirken, unterstützt die Grundidee eines schemabasierten Ansatzes. Für die (Pseudo-)Suffixe wirkten sich die von Köpcke (1993) vorgeschlagenen Kriterien für die Wirksamkeit perzeptueller Hinweisreize Frequenz, Ikonizität und Validität (s. Tab. 2) numerisch in die erwartete Richtung aus (s. Abb. 5). Ikonizität und Validität erwiesen sich als signifikante Prädiktoren auf die Pluralentscheidungen der Patientin (s. Tab. 5). Die vorliegenden Ergebnisse sprechen somit dafür, dass es auch bei weitgehend lexikalisierten morphologischen Paradigmen probabilistische perzeptuelle Hinweisreize geben kann, die bei der morphologischen Verarbeitung nutzbar sind.

5.1 Die Wirksamkeit von Suffixen als perzeptuelle Hinweisreize Ein Aspekt der Auswertung erscheint zunächst unerwartet: Die Existenz eines (Pseudo-) Suffix und dessen Type-Frequenz hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Antworten der Patientin. Bei näherer Betrachtung erscheint dieser Befund jedoch weniger verwunderlich. Das soll am Beispiel des -e illustriert werden: Diese Endung ist nicht nur ein mögliches Pluralsuffix des Deutschen, sie wird sogar sehr häufig als solches verwendet (Köpcke, 1993), insbesondere bei Maskulina (z.B. die Füchse) und Neutra (z.B. die Felle). Gleichzeitig ist sie aber auch das dominierende Pseudosuffix bei Feminina im Singular (z.B. die Büchse). Daraus ergibt sich eine nur sehr geringe Validität, weshalb dieses Suffix trotz seiner guten Ikonizität kaum informativ für eine Numerusentscheidung ist. In anderen Worten: Das -e ist zwar gut wahrnehmbar, aber für das Erkennen der Numeruskategorie nur wenig hilfreich. Es ist zwar ein mögliches Pluralsuffix, könnte aber mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Pseudosuffix sein und damit für Singular stehen. Nicht die reine Möglichkeit der Nutzung als Pluralmarkierung und nicht einmal die Häufigkeit in dieser Funktion machen einen guten Plural-Hinweisreiz aus, sondern (neben seiner Wahrnehmbarkeit) insbesondere die Verlässlichkeit der Information, die er liefert. Eine analoge Erklärung gilt auch für den statistisch nicht nachweisbaren Einfluss eines Umlautes als Pluralcue.

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5.2 Grenzen Die vorliegende Untersuchung hat sich auf den perzeptiven Aspekt morphologischer Verarbeitung fokussiert. In gewisser Weise kann das hier beschriebene Muster also als komplementär zu solchen Patienten aufgefasst werden, die zwar konzeptuell zwischen Singular und Plural unterscheiden können, aber in der Produktion die falschen Flexive auswählen (Krause & Penke, 2002; Miozzo et al., 2010). Obwohl Köpcke die Wirksamkeit von Schemata durchaus auch oder sogar vorwiegend für die produktive Seite der Sprachverarbeitung beschrieben hat (Köpcke, 1988, 1993, 1994, 1998), sehen wir die besonderen Stärken dieses Ansatzes eher in der perzeptiven Interpretation von morphologischen Markierungen. In der produktiven Bildung von Pluralnomen ist es ja wenig zielführend, einfach nur ein möglichst gutes Pluralschema zu produzieren. Das wäre dann vielleicht gut als Plural erkennbar, aber leider trotzdem falsch (z.B. die Tägen statt die Tage). Aufgaben mit Pseudowörtern, wie sie auch von Köpcke durchgeführt wurden (Köpcke, 1998), bilden hier eine Ausnahme, weil es bei Pseudowörtern keine richtigen oder falschen, sondern nur mögliche und unmögliche Pluralformen gibt, die mehr oder weniger gut als solche erkennbar sein können. Der rezeptiven schemabasierten Verarbeitung kann es hingegen „egal sein“, ob es eine Form tatsächlich gibt oder nicht, solange sie nur informativ genug für die Entscheidung zwischen Singular und Plural ist. Ein anderes in der vorliegenden Untersuchung offenkundig gewordenes Problem betrifft die Operationalisierung und Quantifizierung der perzeptuellen Hinweisreize. Erstens erscheint es denkbar, dass die von uns verwendete Liste möglicher Hinweisreize für Numerusschemata unvollständig ist, obwohl wir bereits das Betonungsmuster zu der von Köpcke (1993) vorgeschlagenen Liste hinzugefügt haben. Mögliche zusätzliche Erweiterungen der Liste bleiben vorstellbar. Genus, welches nach Eisenberg (2013) ein sehr wichtiges Merkmal für die Beschreibung der Distribution der Pluralallomorphe ist (siehe auch Penke & Krause, 2002), wurde andererseits in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt, weil es sich um eine lexikalische Information handelt, die der Patientin nur eingeschränkt zur Verfügung stand (s. die Fallbeschreibung unter Patientin). Bei Probanden ohne lexikalische Störung müsste dieser Hinweisreiz allerdings mit analysiert werden. Zweitens bleibt unklar, unter welchen Voraussetzungen man von einem „eigenständigen“ Hinweisreiz sprechen kann. Sind „Silbenzahl“ und „Betonungsmuster“ separate Hinweisreize oder kann man beide Aspekte auch unter einem gemeinsamen Faktor „prosodisches Muster“ kategorisieren, der mehrere Ausprägungen haben kann (z.B. einsilbig, zweisilbig jambisch, zweisilbig trochäisch, mehrsilbig jambisch, mehrsilbig trochäisch)? Muss man der Endung -e überhaupt den Status eines Pluralsuffix zusprechen

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oder wird das Schwa nur eingefügt, um den prosodischen Hinweisreiz zu generieren (Wiese, 2009)? Drittens ist auch eine weitere Binnendifferenzierung der Schemata denkbar. Es ist beispielsweise davon auszugehen, dass der definite Artikel das ein stärkerer Hinweisreiz für Singular ist als der, weil letzterer auch im Pluralparadigma vorkommt, wenn man die Kasusflexion einbezieht. Bilden bestimmte Umlaute validere Hinweisreize als andere? Hinweise in Richtung einer weiteren Ausdifferenzierung von Hinweisreizen hat bereits Köpcke (z.B. 1998) gegeben. So könnten stammfinale Konsonanten, wenn sie eine hohe phonologische Ähnlichkeit zu möglichen Pluralsuffixen aufweisen (z.B. /ʃ/ wegen seiner Ähnlichkeit mit /s/ oder /m/ wegen seiner Ähnlichkeit mit /n/), eher mit Plural assoziiert werden, als Laute ohne eine solche phonologische Ähnlichkeit (z.B. Plosive). In der vorliegenden Analyse wurden alle diese stammfinalen Laute gleich behandelt, da weder /ʃ/ noch /m/ noch Plosive mögliche Pluralsuffixe des Deutschen bilden. Eine weitere Ausdifferenzierung möglicher Hinweisreize wäre also wünschenswert für eine genauere Beschreibung, auch wenn sie die Handhabbarkeit in statistischen Analysen weiter verkomplizieren würde. Viertens lässt auch die bisherige Operationalisierung der Wirksamkeit von Hinweisreizen noch Wünsche in Richtung einer weiteren Ausdifferenzierung bzw. Gewichtung offen. Wir haben die Wirksamkeit, wie von Köpcke (1993) vorgeschlagen, binär klassifiziert (s. Tab. 2). Diese binäre Klassifikation der Wirksamkeit in „gering“ vs. „hoch“ ist jedoch in zweifacher Hinsicht unbefriedigend. Zum einen ignoriert sie quantitative Unterschiede innerhalb eines Wirksamkeitskriteriums, indem sie beispielsweise vorgibt, dass -er gleich selten als Pluralsuffix genutzt wird wie -s und -(e)n gleich häufig wie -e, was natürlich bestenfalls in grober Annäherung der Fall ist. Zum anderen ignoriert sie auch Unterschiede zwischen den Kriterien. Die Endung -(e)n wird sowohl als relativ häufig als auch als relativ valide klassifiziert (s. Tab. 2). Beides wirkt zwar in dieselbe Richtung und macht dieses Suffix zu einem starken Hinweisreiz, aber beides wirkt wahrscheinlich nicht gleich stark in diese Richtung. Eine hohe Validität könnte, wie wir oben am Beispiel des -e diskutiert haben, wichtiger sein als eine hohe Frequenz. Dieser Unterschied geht aber verloren, wenn man in beiden Fällen gleichermaßen einfach von einer „hohen“ Wirksamkeit spricht. Die hier beschriebenen Analysen beruhen auf Daten einer einzelnen Patientin. Weitere, identisch gelagerte Fälle zu untersuchen ist nicht ohne weiteres möglich. Ohne eine Replikation unserer Ergebnisse können wir jedoch, strenggenommen, nicht sicher sein, ob die hier vorliegenden Befunde verallgemeinert werden können. Wenn man jedoch der Universalitätsannahme der kognitiven Neuropsychologie folgt (Coltheart, 2001), nach der die menschlichen Sprach-

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verarbeitungssysteme in wesentlichen Aspekten vergleichbar sind, erscheint eine Generalisierbarkeit auf andere Personen zumindest plausibel.

5.3 Ausblick In der vorliegenden Studie wurde die Interpretation von Numerus bei einer Patientin mit Primär Progressiver Aphasie untersucht, deren Störungsfokus im mentalen Lexikon lag. Dieses störungsbedingte Leistungsprofil hat als eine Art „Experiment der Natur“ einen besonderen Zugang zur Untersuchung schemabasierter morphologischer Verarbeitung geschaffen. Die Ergebnisse konnten modellhaft die Vorhersagen des Schemaansatzes bestätigen. Es erscheint jedoch sinnvoll, darüber hinaus gehende Annahmen zur Wirksamkeit von morphologischen Schemata zu machen. Zum einen kann erwartet werden, dass auch Lerner des Deutschen (sowohl als L1 als auch als Fremdsprache) in vielen Situationen von schemabasierten Verarbeitungsstrategien Gebrauch machen, wenn ihr lexikalisches Wissen für eine sichere Numerusinterpretation (noch) nicht ausreicht. Schemabasiertes Wissen sollte es aber auch kompetenten Sprechern des Deutschen ermöglichen, bei unbekannten Wörtern oder auch Pseudowörtern auf deren Numeruskategorie zu schließen. Selbst bei existierenden Wörtern, bei denen erwachsene Sprecher praktisch keine Fehler machen, könnten Schemata die Verarbeitungszeiten messbar beeinflussen. Des Weiteren können ähnliche Einflüsse auch für andere teiltransparente, stark lexikalisierte morphologische Paradigmen erwartet werden. Ein Beispiel hierfür ist das deutsche Genussystem (Köpcke & Zubin, 1984). Auch hier kann der Sprachrezipient nicht auf eindeutige Regeln vertrauen, aber auch hier gibt es eine Reihe nutzbarer phonologischer Hinweisreize (neben semantischen und morphologischen). Eine semantische Interpretation von Genusmarkierungen gibt es – anders als bei der Numerusflexion – nicht für alle Items. Andererseits geht die semantische Relevanz von Genus auch im Deutschen über die Zuordnung des natürlichen Geschlechts bei Tieren und Menschen hinaus (Köpcke & Zubin, 1984; Zubin & Köpcke, 1984). Der schemabasierte Ansatz beschreibt morphologische Verarbeitung auf der Grundlage von Analysen über die Häufigkeit einzelner Hinweisreize und ihrer verschiedenen Funktionen in einer Sprache. Es ist aber konzeptionell ein kognitiver Ansatz, bei dem Sprachverwendung eine zentrale Rolle spielt. Da die Sprachverwendung aber individuell verschieden ist, erscheint es denkbar und wahrscheinlich, dass auch die Wirksamkeit der einzelnen Hinweisreize individuell verschieden ist. Die vorliegende Einzelfallstudie kann hierzu naturgemäß

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keine Aussagen machen. Es wäre jedoch aus unserer Sicht lohnenswert, in künftigen Untersuchungen nach solchen interindividuellen Unterschieden zu suchen, die weitere Hinweise auf die verwendungsabhängige Natur morphologischer Verarbeitung liefern könnten. Wir haben in der vorliegenden Studie die rezeptive Verarbeitung gesprochener morphologisch komplexer Wörter untersucht. Für die Zukunft erschiene es uns sehr interessant, die dabei erhaltenen Ergebnisse für „hörbare Morphologie“ mit „sichtbarer Morphologie“ zu vergleichen. Während wir prinzipiell davon ausgehen, auch in der geschriebenen Sprache Auswirkungen morphologischer Schemata zu finden, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Gewichtung der einzelnen Hinweisreize sich zwischen den verschiedenen Modalitäten unterscheidet. Beispielsweise wäre es denkbar, dass ein Umlaut in der Schriftsprache eine größere Salienz hat als in der Lautsprache und deshalb auch etwas stärker als Pluralcue wirken kann. Ein anderes Beispiel betrifft stumme Buchstaben am Ende von Fremdwortschreibungen. So sollten die geschriebenen Formen von Spike und Creme schlechtere Singularschemata bilden als die gesprochenen, da nur die geschriebenen – nicht aber die gesprochenen – Formen ein potenzielles Pluralsuffix anbieten. Nicht zuletzt eröffnen die unterschiedlichen Modalitäten auch unterschiedliche methodische Zugänge (z.B. Blickbewegungsstudien zur sichtbaren Morphologie). Wir sind den HerausgeberInnen dieses Sammelbandes dafür dankbar, dass sie eine anregende Umgebung für diese und viele weitere Überlegungen geschaffen haben.

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Christiane Ulbrich & Alexander Werth

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung Evidenz für das Phonologische Wort? Abstract: The paper reports the results of a reaction-time experiment, investigating the processing of clitics in German. Clitization in German can be seen as a process of grammaticalisation in progress in which two phonological words reduce to one phonological word. We constructed sentences with clitics involving fusion between preposition and definite article, s-agglutination and nasalagglutination and their respective full form. The three types of clitics differ regarding their semantic, morphological and phonological factors. In addition, frequency of preposition-definite article-co-occurrence influences the relative frequency of a particular clitic in comparison to its respective full form. Behavioural data and reaction times were obtained in a sentence-picture-matching task. The results show (1) that the processing of one phonological word in a clitic is not generally faster than the processing of the respective full realisation of the preposition and the definite article, and (2) that the morphological factor case and the relative frequency of occurrence in language use allow for a more reliable prediction of clitization in German as opposed to phonological factors. Schlüsselwörter: phonological word, clitization, language processing, reaction times

1 Einleitung Aus morphophonologischer Perspektive gilt der Gegensatz von klitisierten Formen („Verschmelzungsformen“) und betonten Vollformen als Paradebeispiel

|| Christiane Ulbrich: Universität Konstanz, Department of Linguistics, Universitätsstraße 10, 78464 Konstanz, [email protected] Alexander Werth: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Pilgrimstein 16, 35032 Marburg, [email protected]

DOI 10.1515/9783110528978-009

238 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

für die Relevanz des Phonologischen Wortes (ω).1 Zugleich zeigt sich hier vielleicht am offensichtlichsten der Non-Isomorphismus von Prosodie und Syntax, wie er seit den 1980er Jahren in der Forschung intensiv diskutiert wird (vgl. Selkirk 1984, Nespor & Vogel 1986).2 Im Hinblick auf den spezifischeren Fall der Enklise von Präposition und Definitartikel (im Folgenden als PräpositionArtikel-Enklise bezeichnet) lassen sich für das Deutsche Zuordnungen wie die in (1) vornehmen und theoretisch rechtfertigen.3 (1)

a.

in dem → | | ω ω

im | ω

b. auf das → aufs | | | ω ω ω

c. vor den → | | ω ω

vorn | ω

In (1) werden klitisierte Formen und korrespondierende Vollformen durch die Anzahl der zugrunde liegenden ω unterschieden, wobei Vollformen jeweils durch zwei und klitisierte Formen durch ein ω repräsentiert sind.4 Diese Zuord-

|| 1 Die vorliegende Studie wurde gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts „Fundierung linguistischer Basiskategorien“, Arbeitsbereich: „Phonologie des Wortes“. Wir danken Antonia Götz für tatkräftige Unterstützung bei der Datenerhebung und Datenaufbereitung sowie zwei anonymen GutachterInnen für inhaltliche und formale Anregungen. 2 Für das Deutsche besteht der Non-Isomorphismus z. B. darin, dass der Artikel phonologisch an die vorangehende Präposition assimiliert wird, während er syntaktisch stärker an das nachfolgende Nomen gebunden ist. 3 Vergleichbare Zuordnungen wie die in (1) finden sich beispielsweise in Lahiri et al. (1990), Booij (1995, 1996), Selkirk (1995), Peperkamp (1996, 1997) und Vigário (1999). Die Schematisierungen der genannten Autoren unterscheiden sich hingegen von denen bei Hayes (1989: 207– 211) und Nespor & Vogel (2007: 145–163), da diese mit der Klitischen Gruppe eine eigene Domäne auf der Prosodischen Hierarchie ansetzen, auf die sie Klitisierungsprozesse applizieren. Wie Prinz (1991: 73–79, 185) und Wiese (1996: 251–252) zeigen konnten, lässt sich allerdings zumindest für das Deutsche die Relevanz der Klitischen Gruppe nicht plausibel nachweisen. Autoren wie Zec & Inkelas (1991) fürs Serbokroatische, McCarthy (1993) fürs Englische, Kleinhenz (1997) für den Dialekt von Köln und Peperkamp (1996) fürs Neapolitanische setzen hingegen für das Phonologische Wort Rekursivität an, indem Stamm und Klitikum auf verschiedenen Hierarchieebenen innerhalb des Phonologischen Wortes verortet werden. 4 Wenn wir von „Vollformen“ sprechen, meinen wir hier wie im Folgenden ausschließlich betonte Artikelformen. Solche Realisierungen unterscheiden sich im Deutschen deutlich von Realisierungen von Präposition-Demonstrativartikel-Sequenzen, bei denen ein naher Fokus bzw. ein Kontrastakzent auf dem Demonstrativartikel realisiert werden müsste und der sich aus dem jeweiligen Kontext ergibt (vgl. zu nahem Fokus und Kontrastakzent z. B. Braun 2005).

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 239

nung basiert auf der Idee, dass phonologische und morphologische Unterschiede zwischen Vollformen und klitisierten Formen, die im Deutschen bei der Präposition-Artikel-Enklise zweifelsohne feststellbar sind (s. Kap. 2), am besten über eine prosodische Domäne gefasst und modelliert werden können, auf die sich phonologische und morphologische Regeln und Prozesse gleichermaßen applizieren lassen. Als solche Domäne der Phonologie-MorphologieSchnittstelle eignet sich das Phonologische Wort. Dies wurde bereits bei Nespor & Vogel (2007: 109) festgestellt: „The phonological word is the lowest constituent of the prosodic hierarchy which is constructed on the basis of mapping rules that make substantial use of nonphonological notions. In particular, the phonological word (ω) represents the interaction between the phonological and the morphological components of the grammar.“ Aus phonologischer Perspektive scheint uns die Modellierung dementsprechend unproblematisch zu sein, da hier per definitionem bei den klitisierten Formen gegenüber den Vollformen weniger oder zumindest reduzierte Lautsegmente vorhanden sind. Hinzu kommt, dass – anders als es bei den hier betrachteten Vollformen der Fall ist – Klitika im Deutschen niemals betonbar sind, wobei die Betonbarkeit von Funktionswörtern in der Literatur sehr häufig als Kriterium für das Vorliegen von ω angesehen wird (vgl. Hall 1999b: 11). Klitika unterwandern im Deutschen zudem systematisch den sog. bimoraic word constraint (Hall 1999a: 106), dem zufolge ein ω minimal aus zwei Moren bestehen muss. Morphologisch ist der Gegensatz von klitisierter Form und Vollform hingegen komplexer. So können sich bei der klitisierten Form die grammatischen, insbesondere die referenzsemantischen Eigenschaften der Artikelwörter ändern (s. Kap. 2). Doch bleibt mit Wiese (1988: 184) ebenso festzuhalten, dass im Deutschen bei der Enklise zumindest die finale Segmentposition als Träger morphologisch relevanter Informationen von der Tilgung obligatorisch ausgenommen ist und somit auch bei der klitisierten Form noch morphologische Transparenz (z. B. beim Kasus) gewährleistet ist.5 Nach der sog. end-based-mapping-rule von Selkirk (1986) können Einheiten, die kleiner sind als ein grammatisches Wort, dabei kein eigenständiges ω bilden, was Klitika als Kandidaten für ω grundsätzlich disqualifiziert. Die Definition von ω bei Vogel (2006: 533) spiegelt diesen Umstand wie folgt wieder: „The PW consists of a single morphological stem

|| Für reduzierte Artikelformen gelten möglicherweise andere Zuordnungen, die in diesem Beitrag nicht systematisch untersucht wurden. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Hall (1999a). 5 Anders verhält es sich bei der Proklise, wo in hochalemannischen Dialekten der Artikel mitunter komplett getilgt werden kann (vgl. dazu Nübling 1992: 200–224).

240 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

plus any relevant affixes.“ Hinzu kommt, dass sich bestimmte Kombinationen aus Präposition und Artikel in Abhängigkeit von den morphologischen Kategorien, die sie repräsentieren, klitisierungsfreudiger verhalten als andere (s. Kap. 2). In der Konsequenz ist die Präposition-Artikel-Enklise aus einer theoretischen und vor allem auch diachronen Perspektive heraus als morphophonologische Reduktion einer Wortform aufzufassen. Aus morphologischer Perspektive kann die Reduktion aber auch zu einer Umfunktionalisierung grammatischer (hier: referenzsemantischer) Eigenschaften und zu einer Verschiebung von morphologischen Wortgrenzen führen. So heißt es auch bei Schellinger (1988: 221): „Unter Klitisierung will ich jedweden Mechanismus verstehen, der mehrere syntaktische Wörter zu einem phonologischen Wort zusammenfügt und so als Mittlerkomponente zwischen Syntax und postlexikalischer Phonologie fungiert.“ Wir wollen den angesprochenen Reduktionsprozess mit Hilfe des ω modellieren und gehen davon aus, dass bei der Klise die Anzahl der zugrundeliegenden ω, wie in (2) repräsentiert, systematisch um eines reduziert wird.

(2)

ω+ω→ω

Die in (2) angenommene Reduktion gilt dabei sowohl für Enklisen, bei denen Präposition und Artikel fusionieren (z. B. in 1a), als auch für Enklisen, bei denen durch agglutinierende Verfahren ein reduziertes Artikelelement an die Präposition suffigiert wird, ohne dass sich die Form der Präposition selbst verändert (in 1b und 1c). Hierbei ist einschränkend zu beachten, dass nicht alle Kombinationen aus Präposition und Artikel im Deutschen der Enklise unterliegen bzw. die Enklise hinsichtlich ihrer Gebrauchsfrequenzen unterschiedlich weit vorangeschritten ist. Nübling (2005) schreibt in diesem Zusammenhang von der Präposition-Artikel-Enklise als „Grammatikalisierungsbaustelle“ und verdeutlicht dabei, dass das Voranschreiten der Klitisierung im Deutschen multifaktoriell gesteuert ist, indem sowohl phonologische als auch morphologische und semantische Faktoren darüber entscheiden, wie klitisierungsfreudig eine Kombination aus Präposition und Artikel im Deutschen ist (s. dazu Kap. 2). Aus der Perspektive der Sprachverarbeitung hingegen handelt es sich bei der Klitisierung nicht um das Produkt eines Online-Reduktions- oder Verschmelzungsprozesses. Wir gehen vielmehr davon aus, dass sowohl in der Sprachproduktion als auch in der Sprachperzeption jeweils zwei Varianten, nämlich die klitisierte Form und die korrespondierende Vollform zur Verfügung

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 241

stehen, und diese in Abhängigkeit von linguistischen und extralinguistischen Faktoren ausgewählt werden. Es stellt sich nun die Frage, ob sich die Relevanz des ω für die Unterscheidung von klitisierter Form und Vollform empirisch erhärten lässt. Die Sprachverarbeitungsperspektive bietet hierfür einen vielversprechenden Zugang, da in mehreren Studien gezeigt werden konnte, dass die Anzahl der zugrunde liegenden ω einen erheblichen Einfluss darauf hat, mit welchem Aufwand ein Wort produziert und verarbeitet werden kann. Studien, etwa von Grosjean & Gee (1987), Wheeldon & Lahiri (1997, 2002) sowie von Salverda et al. (2003) konnten zeigen, dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit mit der Anzahl zu verarbeitender morphophonologischer Einheiten korreliert. Auf die vorliegende Untersuchung bezogen bedeutet das, dass die Wortverarbeitung umso schneller erfolgt, je weniger ω der kritischen Wortform zugrunde liegen. Im Hinblick auf die Präposition-Artikel-Enklise lässt sich daraus und unter Maßgabe der in (2) formulierten Reduktionsregel die folgende Hypothese formulieren:

H1:

Klitisierte Formen werden schneller verarbeitet als korrespondierende Vollformen.

Wie oben bereits bemerkt wurde, lassen sich mit der Fusionierung und Agglutinierung unter formalen Aspekten zwei Typen der Präposition-Artikel-Enklise unterscheiden, die im Deutschen komplementär verteilt sind. Intuitiv betrachtet stellt die Fusionierung dabei den stärkeren Grad an Verschmelzung zwischen Stamm und Klitikon dar. Hierfür spricht auch, dass sie sowohl gegenüber den korrespondierenden Vollformen als auch gegenüber den agglutinierenden Formen häufiger gebraucht werden und zudem für fusionierende Formen die Tendenz besteht, spezielle Klitika zu bilden, d. h. solche Klitika, die semantisch nicht mehr gegen ihre Vollform austauschbar sind (vgl. Nübling 2005: 113–114; s. auch unten, Kap. 2). Interessanterweise lässt sich der Gegensatz zwischen Fusionierung und Agglutinierung in einem Schema wie in (1) nicht abbilden, die Anzahl der zugrunde liegenden ω ist vielmehr für beide Typen von Klitisierung identisch. Unter der Voraussetzung, dass das in (1) dargestellte Prinzip sprachkognitive Realität besitzt, lässt sich aus diesem Umstand die folgende Hypothese formulieren:

H2:

Fusionierende Verschmelzungsformen und agglutinierende Verschmelzungsformen werden gleich schnell verarbeitet.

242 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

Nach Wiese (1988: 180–182) lassen sich bei den agglutinierenden Verschmelzungsformen im Deutschen zudem Subtypen differenzieren, die sich im Wesentlichen durch phonologische und morphologische Eigenheiten, wie auch durch Unterschiede in den Vorkommenskontexten und Vorkommenshäufigkeiten auszeichnen. Eine solche Subdifferenzierung betrifft etwa die Unterscheidung von Verschmelzungen mit -s (ans, aufs, durchs etc.) und Verschmelzungen mit Nasal (vorm, vorn, außerm etc.), aber auch die Reduzierung des Artikels auf schwahaltige Elemente (z. B. in die → inə) und auf -r (z. B. zu der → zur). Wie (1b) und (1c) beispielhaft zeigen, lassen sich die verschiedenen Subtypen der agglutinierenden Verschmelzung allerdings ebenfalls nicht über Differenzen in der Anzahl der zugrunde liegenden ω repräsentieren, sodass die klitisierten Formen unabhängig von der Art der phonologischen Verschmelzungen über genau ein ω repräsentiert werden. Im Vergleich zu den Verarbeitungsdifferenzen zwischen klitisierten Formen und Vollformen (H1) lässt sich aus diesem Umstand abschließend eine weitere Hypothese formulieren:

H3:

Differenzen in den Verarbeitungszeiten zwischen verschiedenen Typen von Klitisierung sind geringer als Differenzen in den Verarbeitungszeiten zwischen klitisierten Formen und korrespondierenden Vollformen.

Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer Reaktionszeitstudie vorgestellt und diskutiert, in welcher die drei zuvor genannten Hypothesen getestet wurden. Die an der Klise beteiligten Steuerungsfaktoren (phonologische, morphologische und semantische) werden in Kap. 2 zunächst vorgestellt und anhand von Gebrauchsfrequenzen gewichtet. Kap. 3 dient dann im Anschluss zur Beschreibung des Untersuchungsdesigns und zur Präsentation der Ergebnisse. Diese werden abschließend in Kap. 4 diskutiert und hinsichtlich der Evidenz für das ω bewertet.

2 Steuerungsfaktoren der Enklise Nübling (2005: 106) zufolge handelt es sich bei der Präposition-Artikel-Enklise um „ein Paradebeispiel für Grammatikalisierung im Vollzug“, wobei „[s]ynchron das gesamte Spektrum zwischen Verschmelzungsblockade und Verschmelzungsobligatorik“ zu beobachten ist. Typisch für eine nicht abgeschlossene Grammatikalisierung lässt sich dabei kein singulärer linguistischer Faktor benennen, der den Grad der Verschmelzung von Präposition und Artikel

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 243

zu steuern scheint. Vielmehr ist es insbesondere die Kookkurrenzfrequenz, also die Frequenz, mit der eine bestimmte Präposition faktisch zusammen mit einer bestimmten Artikelform realisiert wird, die festlegt, wie verschmelzungsfreudig im Deutschen eine Kombination aus Präposition und Artikel ist (vgl. Nübling 2005: 117). Zudem ist mit einer breiten realisationsphonetischen Streuung (z. B. in Allegro- versus Lentosprechweise; vgl. Schaub 1979, Schellinger 1988, Szczepaniak 2011: 89–91) wie auch mit regionalspezifischen Besonderheiten der Präposition-Artikel-Enklise zu rechnen, die mitunter auch Eingang in standardnähere Register und in die Schriftsprache finden können. So heißt es zusammenfassend in der Duden-Grammatik: „Insgesamt ist die Grenze zwischen standardsprachlichen und umgangssprachlichen bis hin zu dialektalen Verschmelzungen fließend; hier handelt es sich um einen gegenwärtig stattfindenden Sprachwandel“ (Duden 2016: 630; vgl. dazu auch Schiering 2005). Dennoch lassen sich – etwa anhand von umfangreichen Korpusstudien – auch für die Standardsprache gewisse Tendenzen ermitteln, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Sie dienen im Anschluss dazu, mögliche Einflussfaktoren auf die Verarbeitung der Präposition-Artikel-Enklise im Experiment kontrolliert testen zu können.

2.1 Semantische Faktoren Wie (3) exemplarisch zeigt, ist der Gegensatz zwischen klitisierter Form und korrespondierender Vollform in bestimmten Kontexten bedeutungsunterscheidend.

(3) a. b. c.

Ich bin gerade in dem Kino, in dem wir letzte Woche zusammen waren. Ich bin gerade im Kino. Ich bin gerade beim/*bei dem Papst.

Es gilt, dass die Vollform hier ausschließlich gebraucht wird, wenn die Nominalphrase referentiell zu interpretieren ist, wie in (3a) also auf ein ganz bestimmtes Kino referiert wird, während umgekehrt durch den Gebrauch der klitisierten Form lediglich eine nicht-referentielle Lesart möglich ist, und so z. B. wie in (3b) auf die Handlung des Ins-Kino-Gehens verwiesen wird, oder wie in (3c) die Referenz bereits durch den unikalen Status des Referenten gewährleistet ist (vgl. dazu ausführlich Hartmann 1978, 1980; Haberland 1985; Nübling 2005: 108–115).

244 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

Ein entscheidendes Faktum ist nun, dass die skizzierten semantischen Beschränkungen nur für wenige, im Deutschen allerdings sehr häufig gebrauchte Verschmelzungen gelten, während die Mehrzahl an Verschmelzungen im Deutschen von dieser Regel nicht betroffen sind, klitisierte Form und Vollform also potentiell gegeneinander ausgetauscht werden können, vgl. (4), oder die klitisierte Form mitunter überhaupt nicht mehr gegen die Vollform ersetzt werden kann, vgl. (5).6 (4) a. b. (5) a. b.

Ich laufe gerne durchn Regen. Ich laufe gerne durch den Regen. Ich bin gerade am Essen. *Ich bin gerade an dem Essen.

2.2 Morphologische Faktoren Die Präposition-Artikel-Enklise kommt bei den dativregierenden Präpositionen aus dem Kernbereich der lokalen Präpositionen im Deutschen am häufigsten vor, während sich die genitivregierenden Präpositionen am wenigsten verschmelzungsfreudig zeigen (vgl. Duden 2016: 619). Der Einfluss von morphologischem Kasus auf die Enklise zeigt sich nach Prinz (1991: 108) z. B. bei der sKlise, die im Deutschen bei Akkusativ erlaubt ist (auf das → aufs), während sie bei Präpositionen mit Genitiv in der Zirkumposition ungrammatisch ist (um des → *ums; *ums Friedens willen). Auffällig ist, dass die Enklise im Deutschen in erster Linie das plosivische Artikelelement und den Vokal tilgt, während der Auslaut des Artikels als Flexionsmarker erhalten bleibt. Zudem lassen sich graduelle Tendenzen dahingehend feststellen, dass der Artikel im Plural weniger verschmelzungsfreudig ist als im Singular und bei femininen Nomen weniger verschmelzungsfreudig als bei maskulinen und neutralen. Klitisierungsfreudig zeigen sich nach Nübling (2005: 119) insbesondere die „alten, primären, kurzen und viele semantische Relationen ausdrückenden Präpositionen (wie in, an, zu, von, bei)“, während „komplexe, jüngere und besonders spezifische Präpositionen (wie anstatt, wegen, dank, angesichts)“ eher zur Verschmelzungsblockade neigen. Im Übrigen weisen insbesondere die substandardsprachlichen Verschmelzungen mitunter Ambiguitäten zwischen einer definiten und indefiniten

|| 6 Zwicky (1977) und Nübling (2005) tragen diesem Unterschied mit einer terminologischen Differenzierung in 'spezielle Klitika' (mit semantischer Unterscheidung) und 'einfache Klitika' (ohne semantische Unterscheidung) Rechnung.

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 245

Lesart auf, da neben dem Definitartikel auch die indefiniten Artikelformen klitisieren können, vgl. (6).

(6)

Jakob geht inʼe Bäckerei. (Lesarten: 'Jakob geht in die Bäckerei'/'Jakob geht in eine Bäckerei') (Beispiel aus: Wiese 1988: 182)

2.3 Phonologische Faktoren Verschmelzungen aus Präposition und Artikel sind im Deutschen maximal zweisilbig. Dies schließt silbische Enklisen der Typen *über’r und *zwischen’e aus, da zu deren Bildung der Artikel eine eigene Silbe erfordert (vgl. Wiese 1988: 181–182). Im Fall der agglutinierenden Verschmelzungen gibt es zudem deutliche Akzeptabilitätsunterschiede, die wesentlich auch auf Bedingungen der phonologischen Wohlgeformtheit zurückgeführt werden können. Eine solche Bedingung scheint im Deutschen etwa darin zu bestehen, dass die Adjazenz zweier identischer Lautsegmente am rechten Rand der Verschmelzung tendenziell vermieden wird.7 Formen wie in’n, an’n und vor’r sind somit vergleichsweise wenig akzeptabel bzw. es würde im Fall von Schwa-Epenthese bei inən und anən eine semantische Ambiguität zwischen der definiten und indefiniten Lesart vorliegen. Wesentlich wohlgeformter sind hingegen Verschmelzungen, aus denen Offsetcluster resultieren, die zum Wortrand hin eine abfallende Sonorität (im Sinne der Sonoritätshierarchie) aufweisen, wie z. B. außerm, fürn und bein (→ bei den, Dat. Pl.). Weniger akzeptabel erscheinen in diesem Zusammenhang dagegen Formen mit ansteigender Sonorität wie aufr oder inr (vgl. dazu Wiese 1988: 181).

3 Das Experiment Ziel des durchgeführten Experimentes war es, für das Deutsche erstmals zu testen, inwiefern klitisierte Formen und Vollformen bei der Präposition-ArtikelEnklise zu Differenzen in den Verarbeitungszeiten führen. Hierzu wurde ein Reaktionszeitexperiment durchgeführt. Reaktionszeitmessungen gehören zu den etablierten psycholinguistischen Methoden zur Untersuchung der Online-

|| 7 Diese Beschränkung entspricht dem Constraint OBLIGATORY CONTOUR in der Optimalitätstheorie (vgl. z. B. McCarthy 1986).

246 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

Verarbeitung sprachlicher Phänomene (vgl. z. B. Mayerl & Urban 2008). Bei den Versuchspersonen handelte es sich um 27 (19 weibliche und 8 männliche) rechtshändige Hessen mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren (Range: 18– 32). Der Zeitaufwand wurde mit 15 Euro entschädigt. Die Reaktionszeiten der Probanden wurden mit Hilfe einer Zuordnungsaufgabe erhoben, bei der den Probanden Bilder gezeigt und gleichzeitig Sätze auditiv dargeboten wurden. Erhoben wurden zwei Datentypen: a) Akkuratheit, d. h. die korrekte oder inkorrekte Zuordnung von Satz und Bild und b) die Reaktionszeit, also die Geschwindigkeit der Zuordnung.

3.1 Vorbereitung der Stimuli Die Kriterien für die Stimulusauswahl ergaben sich aus den in Kapitel 1 formulierten Hypothesen und den in Kapitel 2 dargelegten Einflussfaktoren auf die Präposition-Artikel-Enklise. Ausgewählt wurden die klitisierten Formen am, im, ans, aufs, vorn und vorm und ihre jeweils korrespondierende Vollform an dem, in dem, an das, auf das, vor den und vor dem. Insgesamt wurden 600 Items getestet, davon wurden 144 in Fillersätzen (72 Vollformen und 72 Verschmelzungsformen) und 456 in Testsätzen (228 Vollformen und 228 Verschmelzungsformen, 38 pro Bedingung) präsentiert (s. Tab. 1). Diese können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden, die im Folgenden kurz beschrieben werden. Für jeden phonologisch bedingten Verschmelzungstyp ('fusionierend', 'sagglutinierend', 'nasalagglutinierend') wurden jeweils 152 Items getestet. Hierbei wurden ausschließlich zur Klise tendierende maskuline und neutrale Präpositionalphrasen im Singular getestet, während die zur Verschmelzungsblockade neigenden Präpositionalphrasen im Plural und bei Feminina unberücksichtigt blieben (s. Kap. 2.2). Zudem wurde für die Auswahl der Stimuli eine Unterscheidung in dativ- und akkusativregierende Präpositionen einbezogen; insgesamt wurden hier jeweils 228 Items getestet. Ein letzter Faktor, der in der Analyse berücksichtig wurde, ist die Gebrauchsfrequenz von Vollform und Verschmelzungsform. Hierzu wurde eine Korpusanalyse im Umfang von 3.800 Transkripten aus dem Korpus „Datenbank für gesprochenes Deutsch“ (DGD 2) vorgenommen.8 Dabei wurde zwischen Präpositionen unterschieden, die im Deutschen häufiger in der klitisierten Form als in der Vollform vorkommen und

|| 8 Die Korpusdaten sind abrufbar über die Homepage des Instituts für Deutsche Sprache unter: www.ids-mannheim.de (letztes Zugriffsdatum: 02.06.2015). Sie korrespondieren im Wesentlichen mit den Frequenzen, wie sie in Nübling (2005) beschrieben sind.

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 247

solchen, in denen umgekehrt die Vollform häufiger verwendet wird als die klitisierte Form. Idiome wurden in den Testsätzen vermieden.9 Die nachfolgende Tab. 1 gibt die entsprechenden Gebrauchsfrequenzen im Korpus wie auch die Anzahl der im Experiment verwendeten Items wieder.

Stimuli

Itemanzahl

Gebrauchsfrequenz Stimuli

in dem

38

13644

im

Itemanzahl

Gebrauchsfrequenz

38

33837

an dem

38

903

am

38

13644

an das

38

483

ans

38

548

auf das

38

1065

aufs

38

799

vor den

38

418

vorn

38

303

vor dem

38

1043

vorm

38

231

Tab. 1: Gebrauchsfrequenzen nach DGD 2 und Itemanzahl der im Experiment verwendeten Stimuli

Die Verarbeitungszeiten wurden während einer Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe gemessen. Gleichzeitig wurde die Akkuratheit der Zuordnung erfasst. Die präsentierten Bilder wurden mit der Software Microsoft Paint hergestellt, um für alle Bilder einen vergleichbaren Präsentationsstil zu gewährleisten (s. Beispiele in Tab. 2). Die Sätze wurden von einer phonetisch ausgebildeten Sprecherin in der schalldichten Kabine im Phonetik-Labor der Universität Marburg direkt auf einen Macintosh Desktop-Computer eingesprochen und bei 44 kHz, im 16 bit Monoformat, digitalisiert. Bei allen Sätzen handelte es sich um grammatisch korrekte Sätze des Deutschen, die jeweils mit identischer Satzstruktur präsentiert wurden (s. Tab. 3). In der einen Hälfte der Sätze wurden die klitisierten Formen, in der anderen die korrespondierenden Vollformen getestet. Die Akkuratheit bei der Zuordnungsaufgabe ergab sich aus der korrekten oder inkorrekten Bildkombination und nicht aus der grammatischen Korrektheit der präsentierten Sätze.

|| 9 Eine solche Idiomatik besteht z. B. bei aufs Wetter pfeifen oder bei sich einen Klotz ans Bein binden.

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Testitem Korrekte Satz-Bild Kombinationen

Inkorrekte Satz-Bild Kombinationen

Anna sitzt am Tisch. / Anna sitzt an dem Tisch.

Anna sitzt am Tisch. / Anna sitzt an dem Tisch. Filleritem – Typ 1

Korrekte Satz-Bild Kombinationen

Inkorrekte Satz-Bild Kombinationen

Anna steht am Beet. / Anna steht an dem Beet.

Anna steht am Beet. / Anna steht an dem Beet. Filleritem – Typ 2

Korrekte Satz-Bild Kombinationen

Inkorrekte Satz-Bild Kombinationen

Anna steht im Bad. / Anna steht in dem Bad.

Anna steht im Bad. / Anna steht in dem Bad.

Tab. 2: Satz- und Bild-Beispiele für Test- und Filleritems

Subjekt

Verb

Vollform Verschmelzungsform

Tab. 3: Im Experiment präsentierte Satzkonstruktion

Präpositionalphrase

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 249

Um die auditiv dargebotenen Stimuli ebenfalls so vergleichbar wie möglich zu halten, wurden die Satzfragmente für die beiden Testbedingungen mittels Crosssplicing möglichst konstant gehalten. Dabei wurden variable Teile des Satzes, d. h. Vollformen bzw. klitisierte Formen und Präpositionalphrasen mit der über beide Bedingungen konstanten Subjekt-Verb-Gruppe verknüpft. Die Stimulussätze wurden von einer phonetisch geschulten Sprecherin als Sätze mit weitem Fokus eingesprochen. Dabei wurde ein neutraler Satzakzent auf dem finalen Objekt realisiert. Die Artikelwörter der Vollformen wurden jeweils betont eingesprochen, sodass sich keine Reduktionen bei den Vokalen einstellten. Dies zeigen die akustischen Messungen der durchschnittlichen Frequenzen des ersten und zweiten Formanten, die in Tab. 4 aufgeführt sind.

Stimuli

Ø F1 (Hz)

Ø F2 (Hz)

Referenzwert Ø F1/F2

an d[e:]n

398

2198

F1: 434 Hz / F2:2461 Hz

an d[e:]m

413

2294

an d[a]s

814

1673

auf d[a]s

811

1565

vor d[e:]n

432

2342

vor d[e:]n

422

2283

F1: 836 Hz / F2:1586 Hz

F1: 434 Hz / F2:2461 Hz

Tab. 4: Durchschnittliche Formantwerte für die Realisierung der Vokale im Artikel im Vergleich zu den Referenzwerten der Standardaussprache aus Sendlmeier & Seebode (o. J.)

Der Darbietung der Stimuli im Experiment ging eine akustische Analyse der Testitems voraus, um sicher zu stellen, dass sich die phonetischen Parameter zwischen den einzelnen Bedingungen nicht unterscheiden. Die vorab durchgeführte phonetische Analyse der Stimuli ergab keine signifikanten Differenzen hinsichtlich der Unterschiede in der Grundfrequenz zwischen den einzelnen Bedingungen. Die Intensität der Stimuli wurde auf 65 db normalisiert. Signifikante Dauerunterschiede ergaben sich zwischen den Realisierungen der Formen vorn und vorm gegenüber den anderen Verschmelzungsformen (also am, im, aufs und ans). Solche intrinsischen Dauerunterschiede können für die Reaktionszeitmessungen im Folgenden allerdings vernachlässigt werden, da die Entscheidung über die korrekte und inkorrekte Satz-Bild-Paarung erst mit der Realisierung der Präpositionalphrase erfolgen konnte und die Reaktionszeit dementsprechend erst nach der vollständigen Realisierung der klitisierten Form und der korrespondierenden Vollform gemessen wurde. Außerdem ergab die

250 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

statistische Analyse einen erwartbaren Dauerunterschied zwischen klitisierten Formen und Vollformen, der durch die Messbedingungen bei der Datenerhebung für die Interpretation der Ergebnisse allerdings ebenfalls keine Rolle spielt.

3.2 Experimenteller Ablauf Das Experiment wurde in der schalldichten Kabine des linguistischen Labors der Universität Marburg durchgeführt. Programmierung, Präsentation und Messung von Reaktionszeit und Akkuratheit erfolgte unter Anwendung von open sesame, einer Open Source Software zur Erstellung von Experimenten (http://osdoc.cogsci.nl/). Die Aufgabe der Probanden war es, per Tastendruck zu entscheiden, ob ein auf dem Bildschirm präsentiertes Bild semantisch zu einem über Lautsprecher auditiv eingespielten Satz passt oder nicht passt. Jeder Satz wurde zwei Mal gehört, einmal mit einer korrekten Zuordnung von Bild und Stimulus und einmal mit einer inkorrekten Zuordnung. Insgesamt wurden jedem Probanden 600 Satz-Bild-Paare in 20 Blöcken präsentiert. Jeder Block enthielt jeweils 30 Satz-Bild-Paare. Die Probanden hatten die Möglichkeit, nach jedem Block zu pausieren, wobei sie über die Dauer der Pause selbst bestimmen konnten. Jedes Satz-Bild-Paar wurde mit einem Fixationsstern initiiert. Dieser verblieb 300 ms auf dem Bildschirm. Im Anschluss wurde der Satz über Lautsprecher eingespielt und für die Dauer des Satzes (1.157 – 1.963 ms) gleichzeitig das Bild auf dem Bildschirm präsentiert. Nach der Präsentation des Satz-BildPaares hatten die Probanden noch 2.000 ms Zeit zu antworten. Zwischen jedem Satz-Bild-Paar blieb der Bildschirm 1.500 ms leer. Abb.1 illustriert den zeitlichen Ablauf einer solchen Satz-Bild-Präsentation.

Abb. 1: Zeitlicher Ablauf einer Satz-Bild-Präsentation

Bei 144 Satz-Bild-Paaren der insgesamt 600 präsentierten Sätze handelte es sich um Distraktoren (Filler). Testitems und Filler waren pseudorandomisiert, d. h. jeder Block enthielt 7 oder 8 Filler sowie 22 oder 23 Testitems. Um Artefakte von Müdigkeit zu minimieren und einem Händigkeits-Bias vorzubeugen, wurden

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 251

acht Versionen des Experiments dargeboten, vier Versionen mit unterschiedlicher Blockreihenfolge und weitere vier Versionen mit vertauschter Tastenbelegung für korrekte und inkorrekte Antworten. In den Testsätzen ergab sich ein inkorrektes Satz-Bild-Paar durch eine „falsche“ Präpositionalphrase, so dass eine Bewertung der Zuordnung erst nach der Präsentation der Vollform oder der klitisierten Form erfolgen konnte. Bei den Fillern passte entweder das Verb (Filleritem Typ 1) oder die Präposition (Filleritem Typ 2) nicht zum dargestellten Bild. Da die Entscheidung über die Korrektheit der Zuordnung an unterschiedlichen Stellen im Satz erfolgen konnte, war es den Probanden somit nicht möglich, eine Strategie zur Bewältigung der Aufgabe zu entwickeln.

3.3 Ergebnisse Die statistische Auswertung der Akkuratheit (Akkurath.) und der Reaktionszeiten (RZ) der Zuordnungsaufgabe erfolgte unter Anwendung des SoftwareProgramms R (R core team, 2013). Da Kasus und Gebrauchsfrequenz als Variablen in den angenommenen Verschmelzungstypen enthalten sind, wurden für Akkuratheit und Reaktionszeit jeweils zwei ANOVAS mit Messwiederholung gerechnet; einmal mit Klitisierung und Verschmelzungstyp als unabhängige Variablen und zum zweiten mit Kasus und Gebrauchsfrequenz als unabhängige Variablen. Da der „Mauchly‘s Test for Sphericity“ eine Verletzung der Spherizitätsanforderung ergab, wurde im Post-Hoc-Test eine „Greenhouse-GeisserKorrektur“ durchgeführt. Reaktionszeit und Akkuratheit erwiesen sich als unabhängig von der korrekten Satz-Bild-Zuordnung. Im Folgenden fassen wir daher die Akkuratheits- und Reaktionszeitmessungen für korrekte und inkorrekte Satz-Bild-Zuordnungen zusammen. Die Ergebnisse der Auswertungen sind in Tab. 5 zusammenfassend dargestellt.

Verschmelzungstyp

Form

Kasus

Gebrauchsfrequenz

Akkurath. (%)

RZ (ms)

1

kF (am, im)

Dat

kF > Vf

90,5

765

1

Vf (an dem, in dem)

Dat

89,5

779

2

kF (ans, aufs)

Akk

90,5

770

2

Vf (an das, auf das)

Akk

91

784

kF > / < Vf

252 | Christiane Ulbrich & Alexander Werth

Verschmelzungstyp

Form

Kasus

Gebrauchsfrequenz

Akkurath. (%)

RZ (ms)

3

kF (vorn, vorm)

Dat/Akk

kF < Vf

91

798

3

Vf (vor den, vor dem)

Dat/Akk

91

798

Tab. 5: Mittelwerte von Akkuratheit (Akkurath. in %) und Reaktionszeiten (RZ in ms) nach Verschmelzungstyp, Form, Kasus (Dativ=Dat, Akkusativ=Akk) und Gebrauchsfrequenz (klitisierte Form (kF) häufiger als Vollform (Vf) = kF > Vf, klitisierte Form (kF) weniger häufig als Vollform (Vf) = kF < Vf

Die statistische Auswertung für die Akkuratheit der Zuordnung von Satz und Bild ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Bedingungen. Alle Satz-Bild-Paare wurden unabhängig von der präsentierten Form mit mehr als 88 % als korrekt oder inkorrekt identifiziert. Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den Reaktionszeitmessungen vorgestellt. Da sich die Ergebnisse der Analyse des gesamten Datensatzes nicht von denen unterscheiden, die unter Ausschluss der inkorrekten Antworten ermittelt wurden, beziehen wir uns bei der Darstellung auf den gesamten Datensatz. H1, dass klitisierte Formen schneller verarbeitet werden als ihre korrespondierenden Vollformen, konnte in der statistischen Analyse grundsätzlich nicht bestätigt werden. Zwar zeigen die Ergebnisse die Tendenz, dass die Zuordnung der Vollformen (787,2 ms) etwa 10 ms länger dauert, als die der klitisierten Formen (777,7 ms), jedoch wird hier gemittelt über alle Items keine Signifikanz erreicht. Dieser Befund ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass sich die Verarbeitungszeiten von klitisierter Form und Vollform in Verschmelzungstyp 3 (vorn vs. vor den, vorm vs. vor dem) nicht voneinander unterscheiden. Hingegen werden die klitisierten Formen der Verschmelzungstypen 1 (am, im) und 2 (aufs, ans) schneller verarbeitet als ihre korrespondierenden Vollformen (siehe Abb. 2), allerdings ist dieser Effekt in der statistischen Auswertung ebenfalls nicht signifikant.

Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung | 253

860 840

Reaktionszeit (ms)

820 800 780 760 740 720 700 VT_1_Klit

VT_1_Voll

VT_2_Klit

VT2_Voll

VT3_Klit

VT3_Voll

Abb. 2: Gemittelte Reaktionszeiten (RZ) für die Verschmelzungstypen (VT) 1, 2 und 3 in ms

Die Vorhersage von H2, dass fusionierende Verschmelzungsformen schneller verarbeitet werden als agglutinierende, konnte ebenfalls nicht bestätigt werden. Vielmehr ergab die statistische Analyse hier einen signifikanten Unterschied zwischen dem Verschmelzungstyp 3 ('nasalagglutinierend') und den beiden anderen Typen ('fusionierend' und 's-agglutinierend') (F(2;52) = 8.417, p