Die deutsche Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert: Graphemik, Phonologie und Morphologie 9783110847369, 9783110122411


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German Pages 370 [372] Year 1989

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Table of contents :
1. Einleitung
1.1. Die methodischen Grundlagen
1.2. Abgrenzung des Forschungsmaterials
1.3. Übersicht der verwendeten Urkunden
2. Graphemik und phonetische Interpretation
2.1. Vollständiges Inventar der Graphe
2.2. Bestimmung der Grapheme
2.3. Phonetische Interpretation der Grapheme
3. Phonologie
3.1. Grundsätze der Darstellung
3.2. Phonemsysteme
3.3. Die Oppositionen jedes einzelnen Phonems
3.4. Die Phonemsysteme in ihrer historischen Einbettung
4. Zur Morphologie (Nominalflexion)
4.1. Die Deklination der Substantive
4.2. Die Deklination der Adjektive
4.3. Die Deklination der Partizipien
4.4. Die Steigerung der Adjektive
4.5. Adverbia
4.6. Zahlwörter
5. Textanhang
6. Literaturverzeichnis
Sach- und Namenregister
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Die deutsche Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert: Graphemik, Phonologie und Morphologie
 9783110847369, 9783110122411

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Andreas W. Ludwig Die deutsche Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert

W DE

G

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger

26

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

Andreas W. Ludwig

Die deutsche Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert Graphemik, Phonologie und Morphologie

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Wintersemester 1988/89 auf Antrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Sonderegger als Dissertation angenommen.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ludwig, Andreas W.: Die deutsche Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert: Graphemik, Phonologie und Morphologie / Andreas W. Ludwig. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 (Studia linguistica Germanica ; 26) Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-11-012241-3 NE: GT

© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. — Printed in Germany — Alle Rechte der Ubersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Druck: Werner Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Meiner lieben Freundin Barbara

Vorwort Mit der Untersuchung der Churer Urkundensprache folgt die vorgelegte Arbeit sprachwissenschaftlichen Spuren, die in der Schweiz seit Albert Bachmann bereits manchem die Wege wiesen. Mit Paul Meinherz und Rudolf Hotzenköcherle rückten dann das Bündnerland und die Zweisprachigkeit eines Teils seiner Bewohner ins emstzunehmende wissenschaftliche Blickfeld. Sowohl von romanistischer wie auch von germanistischer Seite gingen die Bestrebungen aus, mit Wörterbüchern, Grammatiken, Einzelbschreibungen und dem Schweizerdeutschen Sprachatlas die in grosser Bewegung befindliche bündnerische Sprachlandschaft zu erfassen. Seit Jahrhunderten ist das Weichen des Bündnerromanischen zu beobachten. Die romanistische Seite und eine Inventarisierung sowie Beschreibung rätoromanischer Reste in Mittelbünden durch das Phonogrammarchiv der Universität Zürich widmen sich vor allem den Fragen, welche gesellschaftlichen und historischen Faktoren den aitscheidenden Druck auf das Zurückweichen bewirken. An die Stelle der rätoromanischen Dialekte trat seit dem Mittelalter ein alemannischer Dialekt, dessen Rückführung auf die alemannische Besiedelung der Schweiz im frühesten Mittelalter (etwa 5. Jh.) das eigentliche sprachgeschichtliche Problem auf der germanistischen Seite darstellt. Eine Beantwortung der diesbezüglichen Fragen kann jedoch letztlich nur das Ausschöpfen der historischen Quellen liefern. Mit derBeschreibung der frühesten Churer Urkunden in deutscher Sprache hoffen wir, hier einen wesentlichen Baustein einzufügen. Nun darf ich die Gelegenheit ergreifen, in mancher Hinsicht zu danken: Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Sonderegger für seine weiterführende sprachgeschichtliche Kritik und für seine Betreuung dieser Arbeit bis zur freundlichen Aufnahme in die Reihe Studia Linguistica Germanica des Verlags Walter de Gruyter; sodann Prof. Dr. Theodor Ebneter für wertvolle Hinweis aus den Belangen der Romanistik sowie Dr. Clau Solkr für seine vertiefenden Kenntnisse in die heutigen und früheren Verhältnisse des Bündnerlandes. Mein Dank richtet sich auch an den Archivar des Bischöflichen Archivs in Chur, Dr. Bruno Hübscher, sowie an die Mitarbeiter des Staatsarchivs des Kantons Graubünden, vor allem Ursus Brunold, für die Möglichkeit, während Wochen ihre urkundlichen Bestände durchzuforsten. Dem Staatsarchiv ist ferner zu danken, dass es mich die Manuskripte von Frau Dr. Elisabeth Meyer-Marthaler zur Fortsetzung des Bündner Urkundenbuches einsehen liess. Zürich, im Mai 1989

Andreas W. Ludwig

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1

1.1. Die methodischen Grundlagen

1

1.2. Abgrenzung des Forschungsmaterials

3

1.2.1. Der historische Hintergund

3

1.2.2. Das Korpus der Urkunden

5

1.2.3. Lokalisierung der spätmittelhochdeutschen Churer Urkunden

6

1.3. Übersicht der verwendeten Urkunden

8

2. Graphemik und phonetische Interpretation

13

2.1. Vollständiges Inventar der Graphe

13

— Kriterien der Buchstabenähnlichkeit 2.2. Bestimmung der Grapheme

15 24

2.2.1. Bestimmung der Vokal- und Konsonantengraphe 2.2.2. Vokalische Grapheme — Vokalgrapheminventar

26 29 39

2.2.3. Konsonantengrapheme

40

— Konsonantengrapheminventar 2.2.4. Zusammenfassung der graphematischen Untersuchungsschritte

47 47

2.3. Phonetische Interpretation der Grapheme 2.3.1. Das Verhältnis von Laut und Schrift historischer Sprachstufen 2.3.2. Phonetische Interpretation der Konsonantengrapheme 2.3.3. Phonetische Interpretation der Vokalgrapheme 2.3.4. Verzeichnis der urkundensprachlichen Abkürzungen

50 50 57 152 180

χ

Inhaltsverzeichnis 3. Phonologie

182

3.1. Grundsätze der Darstellung

182

3.2. Phonemsysteme

186

3.2.1. Vokale

186

3.2.2. Gesamtsystem der Konsonanten

187

3.2.3. Zur Verwendung der phonetischen Schriftzeichen

188

3.3. Die Oppositionen jedes einzelnen Phonems

189

3.3.1. Kurzvokale 3.3.2. Langvokale 3.3.3. Diphthonge

189 192 194

3.3.4. Konsonantenphoneme

195

3.3.4.1. Bilabiale 3.3.4.1.1. Okklusive

195 195

3.3.4.1.2. Frikative 3.3.4.1.3. Affrikate 3.3.4.1.4. Nasale 3.3.4.2. Dentale

196 197 197 197

3.3.4.2.1. Okklusive

197

3.3.4.2.2. Affrikate

198

3.3.4.2.3. Nasal 3.3.4.3. Alveolare 3.3.4.3.1. Frikative

199 199 199

3.3.4.4. Palatale 3.3.4.4.1. Frikativ

201 201

3.3.4.4.2. Gerollt 3.3.4.5. Velare 3.3.4.5.1. Okklusive

201 202 202

3.3.4.5.2. Frikative 3.3.4.5.3. Nasal 3.3.4.6. Pharyngale 3.3.4.6.1. Frikativ

203 203 203 203

Inhaltsverzeichnis 3.4. Die Phonemsysteme in ihrer historischen Einbettung

XI 204

3.4.1. Das Kurzvokalsystem 3.4.2. Das Langvokalsystem 3.4.3. Das Phonemsystem der Diphthonge

204 206 208

3.4.4. Das Gesamtsystem der Konsonanten

210

4. Zur Morphologie (Nominalflexion)

213

4.1. Die Deklination der Substantive 215 4.1.1. Erste Kategorie: erstes Deklinationsparadigma (ohne Umlaut, ohne Morphem)

220

4.1.2. Zweite Kategorie: zweites Deklinationsparadigma (mit Umlaut, ohne Morphem) 222 4.1.3. Dritte Kategorie (ohne Umlaut, mit Morphem) 225 4.1.4. Vierte Kategorie (mit Umlaut, mit Morphem)

232

4.1.5. Vergleich der Flexionsmorphe aller 14 Deklinationsparadigmen

236

4.2. Die Deklination der Adjektive

241

4.2.1. Starke Deklination, attributiv vorangestellt

242

4.2.2. Schwache Deklination, attributiv vorangestellt (Vollformen)

244

4.3. Die Deklination der Partizipien

245

4.4. Die Steigerung da - Adjektive

246

4.5. Adverbia

246

4.6. Zahlwörter

248

4.6.1. Die Deklination der Kardinalia 4.6.2. Ordinalia 4.6.3. Bruchzahlen

246 251 252

5. Textanhang

253

6. Literaturverzeichnis

338

Sach- und Namenregister

355

1. Einleitung

1.1. Die methodischen Grundlagen Wer bestehenden Ergebnissen einer Wissenschaft die Resultate eigener Forschung gegenüberstellt, muss, wenn sich sein Zugang von demjenigen unterscheidet, welcher das Bestehende zu Tage förderte, den eigenen begründen oder mindestens seine Schrittfolge erklären. Bekanntlich formt in der Sprachwissenschaft die Methode das Objekt, wie auch umgekehrt gewisse Objekte nach bestimmten Methoden verlangen. Liefern unterschiedliche Methoden dieselben Ergebnisse, spricht dies für die Richtigkeit beider, der Methoden und der Ergebnisse. Im tungekehrten Fall drängt sich die Diskussion der verwendeten Methoden auf. Fortschritt tritt ein, wenn die eine Methode im eigentlichen Wortsinne erschüttert wurde, so dass sich ihr Weg als unzweckmässig erweist. Die Wissenschaftlichkeit eines 'Faches' menschlicher Denktradition zeigt sich weder in der Unerschütterlichkeit der etablierten Methoden und Ergebnisse noch im quantitativen Zuwachs des zu objektivierenden Materials. Sie zeigt sich in der Reflexion der die Objekte bestimmenden Methoden und darin erst in einer die 'Richtigkeit' der Objekte reflektierenden Bestimmung, wenn wir einmal vorsichtigerweise vom Pathos der Wörter "Wahrheit' und 'Wirklichkeit' absehen wollen. Der Sinn dieser Bestimmung liegt in der argumentativen Verfügung der gewon-nenen Erkenntnisse. Erst als solche erfüllt sich die Anschaulichkeit der Verfügung in der Theorie, welche deshalb systematisch und logischen Denkweisen entsprechend formuliert wird. Systematisch bedeutet für uns: die Elemente der Theorie stehen in sich gegenseitig bestimmenden Beziehungen zueinander. Als Elemente kommen sowohl die bewusstseinsunabhängigen 'Realien' in Frage, wie auch die aus ihnen gebildeten Kategorien, abstrakten Grössen oder die Regeln ihrer Beziehbarkeit, wobei die Forderung der argumentativen Verfügung die Elemente der höchsten Abstraktionsstufe und deren Regeln der Beziehbarkeit als die eigentlichsten Bestandteile der Theorie erweisen. Hierin erschöpft sich allerdings die Wissenschaftlichkeit. Indem sie jedoch

2

Einleitung

nur den formalen Aspekt umfasst, öffnet sie den richtigen Weg für die intuitive Erfassung, oder besser: sie fördert die Überzeugungskraft intuitiv«· Erhellung. Der Leser möge nun solche Erörterungen nicht als vorweg genommene Entscheidung in der Frage betrachten, ob die intuitive Erfassung nachträglicher Formalisierung bedarf, oder ob der Intuition eine formale Zerlegung vorangeht; wahrscheinlich wechseln sich beide Vorgänge je nach Bedarf ab. Der obige Exkurs sollte lediglich auf Forderungen hinweisen, welche - soweit also die Kompilation methodologischer Ganeinplätze - die vorgelegte Arbeit erfüllen möchte. Die Systematik des Vorgehens spiegelt sich in der Verfassimg des Forschungsgegenstandes. 'System', 'Beziehung' und 'Element' bilden deshalb den Rahmen, in welchem der forschende Verstand seine Ordnungskriterien formuliert. 'Funktion' und 'Struktur' sind die daraus abgeleiteten Werkzeuge, mit denen die Elemente einer gliederungslosen Menge X isoliert, zu Klassen zusammengefasst und schliesslich in der maximalen Ausdehnung ihrer Beziehungsmöglichkeiten dargestellt werden. Die Befolgung dieser Abstraktionsstufen sichert letztlich die Vergleichbarkeit der erforschten Ergebnisse und damit überhaupt den Sinn dieser Arbeit. Als Ausgangspunkt für die Beschreibung der deutschen Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert kann deshalb noch nicht der Vergleich mit bereits erforschten Sprachstufen des Deutschen stehen, weil zu Beginn der Arbeit nicht voraus gesetzt werden darf, was am Ende als Ergebnis erst vorliegt (vgl. Brandstetter 1892:§19; Brandstetter 1890: §68). Die erwähnten Ansprüche versetzen uns damit in die Lage, als völlig Unbelastete von aussen an den ungeordneten Haufen sprachlichen Materials heranzutreten und es von aussen nach innen fortschreitend erst bei seinen formalen Aspekten zu ergreifen; damit tragen wir gleichzeitig dem formalen Aspekt der Sprache überhaupt Rechnung. Im fortschreitenden Begreifen dessen, was vorliegt, suchen wir zuerst diejenigen kleinsten Elemente, welche im Aufbau der systematischen Gliederung die Bausteine für jedes Element des nächsten, übergeordneten Systems liefern. Unser praktisches Vorgehen umfasst daher die folgenden Schritte: - Abgrenzung des Forschungsmaterials (-> Kap. 1.2.) -Inventar der vorgefundenen Buchstabenvarianten (-> Kap. 2.1.) - Aussonderung der Grapheme Kap. 2.2.) - phonetische Interpretation und Überführung der graphemischen Ergebnisse in phonologische (-> Kap. 2.3.) - Darstellung der phonologischen Systeme (-> Kap. 3.) - Darstellung der Morphologie in der phonologischen Abstraktion Kap. 4.)

Abgrenzung des Forschungsmaterials

3

1.2. Abgrenzung des Forschungsmaterials 12.1. Der historische Hintergrund

Im BOndnerland bietet sich dem Sprachwissenschafter die reizvolle Situation eines lebendigen Sprachwechsels. Eine ursprünglich Rätoromanisch sprechende Bevölkerung spricht heute mehrheitlich Deutsch. Aber welches Deutsch? woher kam es und durch welche Gegebenheiten gelangte es überhaupt in diese Bergtäler? Die gröberen historischen Umstände sind bekannt: nach dem Teilungsvertrag von Verdun 843 änderten sich die staatlichen Verhältnisse, Rätien wurde ostfränkisch. Das Bistum Chur wurde vom Erzbistum Mailand abgetrennt und dem Erzbistum Mainz zugewiesen. Bereits Karl der Grosse löste um 80S die bis dahin ungebrochene Hausmacht der Bischöfe aus der Familie der Victoriden, welche als einheimische Herrscher unberührt von den Völkerwanderungswirren das spätantike Erbe in Rätien zu bewahren vermochten, indem er einen ihm genehmen Constantius zum Bischof in Chur ernannte. Sodann trennte Karl vorübergehend die geistliche und weltliche Macht im Bistum und übertrug letztere einem fränkischen oder alemannischen Grafen Hunfried (vgl. auch Pult 1928:24). Der Teilungsvertrag von 843 besiegelte allerdings die unabdingbare deutschsprachige Herkunft der Churer Bischöfe. Nach den Beschlüssen einer Provinzialsynode, die 847 in Mainz abgehalten wurde, darf allerdings vermutet werden, dass die Kirche das Wort Gottes in der jeweiligen Volkssprache zu predigen bestrebt war (Mayer 1907:1191). Unter dem zerrütteten Merowingerreich hatte sich in Rätien ein einheimischer, von den victoridischen Bischöfen abhängiger niederer Dienstadel etabliert, welchen nach der fränkischen Neuregelung Mitte des 9. Jahrhunderts alemannische Lehensträger im Rahmen der neuen Gauverfassung überlagerten (Stricker 1978:13f.; Clavadetscher 1954). Daraus ergab sich in der Folge, dass die gesamte Bistumsverwaltung durch Alemannisch sprechende Dienstleute ausgeübt wurde, dass sich femer auch einheimischer Adel der deutschen Sprache zu bedienen begann. Vermutlich wohnten zu jener Zeit bereits auch Deutsch sprechende Bürger in Chur, denn das Sankt Galler Rheintal war im 10. Jh. bis Sargans schon deutschsprachig durchsetzt (Meinherz 1920:212ff. §§145, 146), ab Ende des 13. Jahrhunderts grösstenteils deutschsprachig (Stricker 1976: 179ff.). Die städtische Bevölkerung Churs setzte sich Mitte des 14. Jh. je zur

1 Nach freundlichem Hinweis des bischöflichen Archivars Dr.B.Hübscher, nach: Mayer, Johann Georg (1907). Geschichte des Bistums Chur, Bd. I. Stans. Vgl. dagegen auch Clavadetscher 1956; 1968; 1972.

4

Einleitung

Hälfte aus rein deutschsprachigen Bewohnern und aus Romanen zusammen, um 1430 sei nur noch ein Drittel romanischsprachig gewesen. (Bundi 1986:62). Eine zweite Quelle des Deutschen in Rätien boten die Walser, welche im 13. Jahrhundert vorwiegend in bestimmte, von den Romanen nur wenig oder gar nicht besiedelte Höhenlagen zuwanderten (Zinsli 1968:27-34; Bundi 1982:142ff.). Fraglich ist nun, wie die soweit gegebenen historischen Verhältnisse in den sprachlichen Verhältnissen ihr Spiegelbild fanden. Das Gewicht Churs als Drehscheibe der Germanisierung in Rätien legt es nahe, die ältesten Zeugnisse des Deutschen daselbst zu suchen, auch wenn wir sogar im lange Zeit rätoromanischen Schams oder Domleschg schriftliche Belege des Deutschen aus dem frühen 14. Jahrhundert kennen (Rietberg 1302, Schauenstein 1316, In Schams 1321, Tagstein 1322, Kloster Cazis 1362, u.a. (Jenny / Meyer-Marthaler 1975)), was natürlich auf die besagten Lebensumstände zurückzuführen ist. Der alemannische Dialekt schlug sich zuerst in amtlichen Schriftzeugnissen nieder, also in Urkunden2, später auch in Urbarien und Steuerrödeln. Literarisches dieser Region aus jener Zeit ist nicht bekannt. Eine bescheidene Ausnahme bildet allerdings die Einleitung zu einer Urkunde aus Ragaz von 1288 (BUB Nr. 1187), die vielleicht im Zusammenhang mit den Anfangs des 13. Jahrhunderts aufkommenden, jedoch etwas anders gearteten Reimvorreden gesehen werden darf, welche damals Rechtstexte gelegentlich einzuleiten beliebten (vgl. Ruth Schmidt-Wiegand in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte [HRG] 1971:823 - 829): Wise Liute gent den rat, swas diu weit geschaeftes hat, das sol man haissen schriben an, das man hernach gedenk daran. Swer das haisset und tuot, der ist hernach vor kriege behuot.

2

Zur Abhängigkeit von Urkundensprache und Urkundenparteien vgl. Stolzenberg 1961; Ingeborg Stolzenberg behandelt zwar nur Urkunden, die Freiburg i. Brsg. betreffen, ihre Ergebnisse Hessen sich jedoch ohne weiteres auf andere alemann. Schreibzentren übertragen. Von der Tatsache abgesehen, dass in Chur kein Graf, sondern ein Bischof waltete, ist ihren Aussagen auf Grund des Churer Materials beizupflichten: Hauptträger der dt. Sprache in Urkunden sind Laien. Adelige und vermögende Bürger beteiligten sich allerdings in unterschiedlichem Ausmass und abhägig davon, ob gelegentlich ein geistlicher Urkundenpartner auf einer lateinischen Ausfertigung bestand.

Abgrenzung des Forschungsmaterials

5

1.2.2. Das Korpus der Urkunden Die Untersuchung umfasst aus dem Zeitraum von 1284, dem Auftauchen der ersten erhaltenen deutschsprachigen Urkunde in Chur (BUB 1135), bis um 1370 insgesamt 74 Urkunden. Aus der Zeit nach 1370 verfolgt noch eine Auswahl von 14 Urkunden den Übergang ins IS. Jahrhundert. Total zogen wir also 88 Urkunden bei (vgl. Kap. 1.3.). In dieser Summe sind insgesamt 17 Kopien enthalten, wovon 4 Kopien aus dem 14. Jahrhundert zur Bewertung der Sprachbelege ergänzend zu den Originalen herangezogen wurden, schliesslich stammt ja der Hauptteil des Korpus der Originalurkunden ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert (vgl. das Beispiel von D. Haacke 1962:221, Anm. 50, womit er den Wert von beinahe gleichzeitigen Abschriften hervorhebt). Die Bewertung der restlichen 13 Urkunden aus dem 15. Jahrhundert erforderte selbstverständlich eine angemessene Zurückhaltung, erlaubt aber immerhin den Ausblick in die Verhältnisse dieser Zeit. In der Auswahl der Urkunden nach 1370 sind keine Kopien mehr enthalten. Die Grenze von 1370 entstand willkürlich. Die Grenze im 15. Jahrhundert ergab sich durch die allmählich einsetzende unmotivierte Doppelschreibung von Konsonanten, welche weniger spezifisch sprachliche Eigenarten wiedergeben als den im Verlaufe des 15. Jahrhunderts allgemein zunehmenden Schwall von Formalismen und Aufplusterungen (vgl. beispielsweise Chur 1335, Abschrift 1453 in Mohr CD Π, 247: brieff, disenn, verjehenn, Kilchhoff, ujf, lesenn; Thusis 1481 inn 'in', unnd, hantt und Clavadetscher 1964:70). Einen äusseren Anlass der Materialbegrenzung böte allenfalls der Stadtbrand Churs von 1464. Es müsste aber noch erwiesen werden, dass dieser auf die sprachliche Entwicklung einen einschneidenden Einfluss ausübte, brannte die Stadt doch bereits im Pestjahr 1361 zur Hälfte ab, was sich in den Urkunden auch nicht in einer Sprachformänderung niederschlug. Neben einer einleitenden Liste aller ausgewerteten Urkunden im Kapitel 1.3. fügen wir im abschliessenden Anhang die Edition derjenigen bei, welche bislang noch unveröffentlicht sind und sofern sie nach 1310 geschrieben wurden. Die vor 1310 verfassten Stücke werden auch dann ediert, wenn sie bereits an anderem Ort veröffentlicht wurden, um den Anschluss an eben solche früheren Editionswerke, vor allem an Wilhelms Corpus altdeutscher Originalurkunden und an das Bündner Urkundenbuch, zu gewährleisten, welche beide nur bis 1300 reichen.

6

Einleitung

Das Staatsarchiv Graubünden in Chur, vor allem Dr. U.Brunold, stellten mir in verdankenswerter Weise die daselbst lagernden Manuskriptblätter für eine Fortsetzung des Bündner Urkundenbuches von Frau Dr. Meyer-Marthaler zur Verfügung; nach dem graphemischen und inhaltlichen Vergleich dieser Transkriptionen mit den Originalen im Staatsarchiv, im Bischöflichen Archiv in Chur und im Zentralarchiv des Fürsten Thum und Taxis in Regensburg entstanden schliesslich meine eigenen, um das fehlende ergänzten Transkriptionen der untersuchten Urkunden. Hingegen übernahm ich grösstenteils die Angaben Meyer-Marthalers aus den vorhandenen Regesten der Manuskripte.

123. Lokalisierung der spätmittelhochdeutschen Churer Urkunden

Die Sicherstellung der Herkunft Churer Urkunden bot eigentlich keine Schwierigkeiten. Obwohl in der Literatur zur deutschen Uikundensprache eher die gegenteilige Erfahrung belegt ist, dass die möglichst sichere Einordnung eines Schriftstückes im Raum häufig zur schwierigsten Aufgabe zählt (Boesch 1946: 31f.; Schulze 1967:11), lassen sich Churer Urkunden leicht bestimmen. Als Stützen dieser Bestimmung dienen innere und äussere Merkmale. Als solche sind zuerst der Urkundenaussteller, der oder die Adressaten, der oder die Vertrags- oder Handelspartner, allfällige Zeugen, die verhandelten Umstände, Besitztümer und Lokalitäten, der erwähnte Ort der Urkundenausstellung sowie das Datum zu nennen (vgl. auch Brandstetter 1892:§37). Vor allem wenn der Bischof und Adlige der Umgebung Churs, die manchmal in der Stadt ein Haus besassen, wie etwa die Herren von Schauenstein, in den Urkunden auftreten, wenn die Namen der verhandelten Güter und Burgen in die Stadt selbst oder in die Umgebung Churs weisen - wo sie meistens heute noch lebendig sind (vgl. Schorta 1942) - , so sind bereits durch solche inhaltlichen Merkmale sichere Anhaltspunkte der Herkunft gegeben, auch wenn man hinnimmt, dass ein in der Urkunde erwähnter Ausstellungsort nicht unbedingt der Schreibort gewesen sein musste. Wenn nun unter den Merkmalen Orthographie, Sprache, Stil und Siegel ebenfalls ein einheitlicher Zusammenhang der Churer Urkunden vorliegt, so steht die Stadt selbst oder doch wenigstens das Gebiet ihrer nächsten Umgebung unzweifelhaft als Herkunft unserer Urkunden fest. Als drittes Merkmal möchte man die Überlieferungslage erwähnen. Viele der verwendeten, sicheren ältesten Churer Urkunden deutscher Sprache lagern heute noch

Abgrenzung des Forschungsmaterials

7

im bischöflichen Archiv. Dahin gelangten sie vermutlich gleich nach ihrer Ausfertigung, da sie häufig den Bischof selbst, seine Rechtstitel und Lehensträger, oder seinen Besitz betrafen. Leider sind die Kanzleiverhältnisse Churs im Spätmittelalter kaum erforscht. Ein Notariat, wo ein öffentlich» Notar wenigstens einen Teil seiner Zeit in eigener Verantwortung rechtsgültig urkundete, gab es in Chur im 14. Jh. noch nicht (Clavadetscher 1978:93). Ferner bleibt unklar, ob die in Urkunden erwähnten Kanzler einer städtischen oder der bischöflichen Kanzlei zuzuweisen sind. Eine Reihe von Kanzlern in Chur ab 1270 ist im Schweiz. Archiv für Heraldik 11, 1897:27 erschienen. Ein Kanzler Sommerau nennt sich 1357 und siegelt mit : (18) < 3 6 , 3 ^ , 3 0 : Diese beiden Zusammenstellungen enthalten sämtliche Belege der Wörter zweier Graphe. Maximal sind in der Struktur vier Kombinationen möglich, wenn jeweils X odo* Y entweder einen Vokal oder einen Konsonanten darstellt Sicherlich sind die Kombinationen und am häufigsten; kommt höchstens ftlr die Abkürzungen und Ligaturen in Frage, höchstens ftlr Wörter, welche nur aus einem Diphthong bestehen. Ein Wort mit zwei Graphen, dessen beide Graphe dieselben wären, fand sich im ganzen Urkundenkorpus keines. Setzten wir als erste Hypothese, ein Wort mit nur einem Graph sei rein vokalisch, so setzen wir nun als zweite, die Wörter mit zwei Graphen stellen vorerst die Kombination und dar; die Wahrscheinlichkeit, in Minimalpaaren auf die anderen beiden Kombinationen zu treffen, erachten wir vorderhand als vernachlässigbar. Da sich also die Graphgruppe 2 als vokalische erwies, müssen die mit dieser Gruppe alternierenden Graphgruppen in der Wortgleichung (2) ebenfalls vokalisch sein. Das betrifft die Gruppen 1, 4, 6 und 7. Das in Gleichung (2) verharrende Schriftzeichen gibt somit wohl einen Konsonanten wieder; er gehört zur Graphgruppe 14. Diese Überlegungen führen auf Grund der entsprechenden Wortgleichungen zu folgenden Konsonantengraphgruppen: Gruppe

Gleichungen

9

4, 13

11

9

12

17

13

14

28

Graphemik und phonetische Interpretation Grippe

Gleichungen

14 15 17

2, 14 8, 12, 18

18 19 21 23

8, 9, 12 6, 7, 10, 15 6, 7, 13, 16 5, 13 3, 13, 14

Die Bestimmung der Graphgruppen 5, 8,10,16,20,22,24-27 steht noch aus. Für die Graphen und sind wegen der Gleichung (12) die Festlegungen zu Konsonantengraphgruppen noch provisorisch. Einerseits zeigt sich als Konsonant, wodurch < o und < j > Vokale sein müssten. Dagegen sprechen jedoch die Gleichungen (8,13,18), die vor allem die Partnergraphe von als Vokale erkamen lassen. Vertretbar ist bereits die Bestimmung des Graphems aus der Gruppe 1. Die Gleichungen (1) und (2) weisen eben diese Graphe als Allographe eines Graphems aus; die Graphe < j > und < J > zeigen sich als Grossbuchstaben, da sie nur im Anfang eines Wortes vorkommen; ist selten und nimmt an keiner Wortgleichung teil. Der Graph ist der weitaus häufigste und kommt in allen möglichen Positional vor. Er sei somit als Graphem «I» angesetzt, während seine Allographe darstellen. «I» ist also das Zeichen der Graphgrupe 1, deren funktionelle Glieder als Allographe dieses Graphem in den Urkundentexten wiedergeben. Die Graphe mit Diakritika < I , T > müssen erst noch näher untersucht werden, bevor sie sich zum Graphem «(» oder einem anderen bekennen. Da der Vergleich von Wörtern mit der Struktur nicht alle Graphgruppen als vokalische oder konsonantische bestimmen konnte, ziehen wir nun zur weiteren Festlegung die entsprechend dienstbaren minimalen Oppositionen der Wörter mit drei und vier Graphen hinzu. Daraus zeigt sich die Graphgruppe 8 als vokalische durch die Gleichung (19): (19) : < l y t > : d - u t , Lit, Ltu, Löt> : < l a t > Gruppe 10 ist konsonantisch durch die Gleichung (20): (20) < w l l > : auf. Davon werden einige Varianten anderer darstellen. Jedenfalls legt die grosse Menge der Minimalpaare zu den Diakritika nahe, graphematisch zwischen Graphen mit Diakritika und solchen ohne zu unterscheiden; man kann die einen nicht als stellungsbedingte Varianten der anderen auffassen, wie dies die Grossbuchstaben ermöglichten. In der nunmehr möglichen Fortführung der Bestimmung des graphematischen Gehaltes der Graphgruppe 2 wird jetzt immerhin das Graphem «e» mit seinen Allographen sichtbar.

Ein Graphem «a» mit seinen Allographen zeigen Wörter wie , d a z ,

SNSZEG, ATIS2C§>

jaz,

(Sz> oder die bereits erwähnten o n S z e g ,

und , in denen «a» nie durch einen anderen

Graphen ersetzt erscheint. Aus der Graphgruppe 6 kann vorläufig nur ein Graphem «o» mit seinem Allographen isoliert werden; ist selten, seine Verwendung nur in medialer oder finaler Position möglich. In Minimalpaare bildenden Wörtern findet es sich nicht, damit kommt es auch als Allograph nicht in Frage. Die nach dieser Ausscheidung in der Graphgruppe 6 verbleibenden Graphe tragen alle Diakritika. Aus der Gleichung (17) gehen die Graphe als offenbar zu einem Graphem «υ» gehörende hervor, weil in dieser Verteilung ähnlich wie bei «c» vor dem Konsonantengraphen in all den Urkundenhandschriften kein anderer Vokalgraph zu finden war; dasselbe gilt für die Kombinationen , .

Somit steht das Graphem «υ» mit den Allographen , "u, Or, Ή> fest. Der Allograph zeigt sich in vor. Ihren graphemischen Wert

beleuchten die Gleichungen (78) - (93). (78=18)

:, der in dieser Urkunde zweimal auftaucht und die unterschiedliche Funktion der beiden Diakritika vermuten lässt. Doch dagegen spricht gerade deren Verwendung in den Beispielen (d), (e) und (g)·

Graphemik und phonetische Interpretation

38

In einem vergleichbaren Wortgefüge steht in der Uikunde 1338, Dezember 7, (vgl. Anhang Nr. 10), wo das Wort entweder als oder als , als Simplex oder als Kompositum, insgesamt achtmal vorkommt und nie ein Diakritikon trägt; man vergleiche auch die Urkunde 1339, September 16, im Anhang Nr. 11, worin wiederum die , , litt, coaj>et>. Nach unserer Strukturierungsregel kommen und daher nur als Allographe in Frage. Spätere Belege ordnen diese Allographe > mit den im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts auftauchenden und zusammen: , , sodass die ganze Graphgruppe 8 als erweiternde Allographgruppe dem jungen Graphem «T» zugeteilt weiden kann. Doch der Allograph 5»> < e , e, c, G, Έ>

a, a>