Reformation und alter Glaube: Zugehörigkeiten der Altgläubigen im Alten Reich und in Frankreich (1517-1540) 9783110492460, 9783110489620

In the first half of the 16th century, adherents to Catholicism were more than the flipside of the Protestant Reformatio

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German Pages 635 [636] Year 2017

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Repräsentationen der Unterschiede
Repräsentationen der Unterschiede
1. Die Flugschrift als historischer Gegenstand
2. Die Benennung der Unterschiede
3. Darstellungen der Zugehörigkeiten
4. Repräsentationen der rituellen Differenz
Fazit
Teil II: Praktiken der Unterschiede
Praktiken der Unterschiede
1. Priester im Differenzierungsprozess
2. Praktiken des Heils und der Heiligung
3. Leben und Tod
4. Maria und die Heiligen
Fazit
Teil III: Unterschiede und Zugehörigkeiten in Raum und Zeit
Unterschiede und Zugehörigkeiten in Raum und Zeit
1. Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich
2. Raum: Aneignung und Differenzierung
3. Prozessionen: Eine französische Distinktion
4. Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen
5. Die Differenz in der Zeit
Fazit
Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
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Reformation und alter Glaube: Zugehörigkeiten der Altgläubigen im Alten Reich und in Frankreich (1517-1540)
 9783110492460, 9783110489620

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Marc Mudrak Reformation und alter Glaube

Ancien Régime Aufklärung und Revolution

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer

Band 43

Marc Mudrak

Reformation und alter Glaube Zugehörigkeiten der Altgläubigen im Alten Reich und in Frankreich (1517–1540)

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort.

ISBN 978-3-11-048962-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049246-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048978-1 ISSN 2190-295X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: „Luther Siebenkopf“, Holzschnitt von Hans Brosamer auf der Titelseite der Flugschrift „Septiceps Lutherus“ (1529) von Johannes Cochlaeus. Bayerische Staatsbibliothek ­München, Res/4 Polem. 647#Beibd. 3, Titelblatt. Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. Karl Marx

Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2015 an der École des hautes études en sciences sociales Paris und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Rahmen einer Cotutelle-Promotion als Dissertation unter dem Titel „Neuer alter Glaube. Die Entwicklung altgläubiger Zugehörigkeiten und Distinktionen im Alten Reich und Frankreich während der frühen Reformation“ eingereicht und am 2. Juli 2015 in Paris verteidigt. Nach dem Abschluss des „Abenteuers Dissertation“ und der Veröffentlichung ist es mir ein Anliegen, eine Dankesschuld abzutragen. Dank gilt zuvorderst meinen Betreuern, Prof. Dr. Christophe Duhamelle und Prof. Dr. Thomas Maissen. Sie haben mich während der Genese dieser Arbeit auf vielfältige Weise unterstützt und gefördert  – inhaltlich, organisatorisch und persönlich. Ihre Anregungen, ihre Kritik und ihre Ideen haben die vorliegende Dissertation entscheidend geprägt. Der Kontext der Cotutelle hat ebenso sichtbaren Einfluss gezeitigt: Merkmale der französischen und der deutschen Geschichtswissenschaft, die in vielem so verschieden sind, werden sich auf den folgenden Seiten wiederfinden und, im besten Fall, gewinnbringend verbinden. Ich danke zudem Prof. Dr. Sven Externbrink für die interessanten Gespräche und die Bereitschaft, sich dieser Arbeit als Vorsitzender der Prüfungskommission anzunehmen. Im Rahmen der Heidelberger Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften hat mich Prof. Dr. Markus Hilgert als Mentor begleitet. Sein Seminar und die Diskussionen mit ihm haben meinem theoretischen Ansatz wichtige Impluse gegeben. Im Rahmen des deutsch-französischen Doktorandenkollegs der École des hautes études en sciences sociales und der Humboldt-Universität zu Berlin hat mich Prof. Dr. Peter Burschel als Mentor mit zahlreichen Hinweisen unterstützt. Das deutsch-französische Promotionsprogramm in Geschichte der École des hautes études en sciences sociales und der Universität Heidelberg bot einen flexiblen und großzügigen Rahmen für das Gelingen dieser Studie. Für die Förderung der Dissertation sei zudem der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Graduiertenakademie Heidelberg und dem Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne gedankt. Die vorliegende Publikation wurde durch Mittel des Wissenschaftsfonds der VG Wort ermöglicht. In den vergangenen Jahren konnte ich meine Forschungsergebnisse in Kolloquien und auf Konferenzen in Berlin, Erfurt, Heidelberg, Münster, Paris, Tübingen und Zürich vorstellen. Ich danke den Leitern und Teilnehmern für den fruchtbaren Austausch. Die Impulse aus dem Pariser Seminar von Prof. Dr. Christophe Duhamelle und Dr. Falk Bretschneider haben meinen Blick auf die Geschichte des Alten Reichs maßgeblich geprägt. Für bereichernde Gespräche und konstruktive Kritik sowie für Anregungen und Korrekturen an meinen Texten danke ich Prof. Dr. Rainer Babel (Paris), Dr. Stéphane Baciocchi (Paris), Prof. Dr. Joseph Bergin (Manchester), Dr. Stephen Buckwalter (Heidelberg), Prof. Dr. Renate Dürr (Tübingen), Prof. Dr. Mark Greengrass (Sheffield), Prof. DOI 10.1515/9783110492460-203

VIII 

 Danksagung

Dr. Martin Hille (Passau), Dr. Nicolas Lyon-Caen (Paris), Dr. Heinz Scheible (Heidelberg), Prof. Dr. Marc Venard † (Rouen) und Prof. Dr. Eike Wolgast (Heidelberg). Viele Freunde und junge Kollegen haben auf unterschiedlichste Arten zur Genese dieser Dissertation sowie zur Veröffentlichung beigetragen  – durch Diskussionen, Korrekturlesen, Übernachtungsmöglichkeiten während Forschungs- und Konferenzreisen sowie durch fröhliche gemeinsame Stunden, die die zurückliegenden Jahre unvergesslich gemacht haben. Mein Dank geht an Markus Bartl, Martina Calì, Dr. Jean-Dominique Delle Luche, Dr. Benedikt Erforth, Adrian Gillmann, Antonia Höft, Theresa Jäckh, Matthias Jundt, Charlotte Kempf, Hauke Kruse, Dr. Pauline Pujo, Dr. Clarisse Roche, Alexandra Rothenberger, Dr. Johanna de Schmidt, Dr. Luca Scholz, Jasmin Söhner und Julia Wolrab. Besonderer Dank gilt Nadia Makhloufi: Sie war bereichernde Gesprächspartnerin und produktive Kritikerin meiner Arbeit. Mona Beyer hat mit ihrer Begeisterung und Unterstützung sowie mit ihren kritischen Impulsen als Korrekturleserin viel zu diesem Buch beigetragen. Sie weiß, wie viel sie mir bedeutet. Mein letzter, mein größter Dank, gilt meiner Familie, insbesondere meinen Eltern Barbara und Harald Mudrak sowie meinem Bruder Fabian Mudrak. Meine Eltern haben einst die Lust an Wissen, an Büchern und Kultur geweckt und mich während der Promotionsjahre interessiert und unterstützend begleitet. Ihnen und meinem Bruder ist diese Arbeit gewidmet. Offenburg, im März 2017

Marc Mudrak

Inhaltsverzeichnis Danksagung 

 VII

 1 Einleitung  1 Auf der Suche nach der „anderen Seite“ in der Reformationszeit  2 Kritik der Historiographie   7 3 Desiderate   16 4 Auswahl und Beziehung der Fallstudien   18 5 Theoretische Grundlage und Methodik der Quellenanalyse   21 6 Präsentation der Fallstudien   32

Teil I: Repräsentationen der Unterschiede 1 1.1 1.2 1.2.1

1.3.2 1.3.3

Die Flugschrift als historischer Gegenstand   81 Publizistik im Alten Reich und in Frankreich: Ein Überblick   81 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus   89 „Öffentlicher Irrtum“: Wahrnehmungen der protestantischen Textkultur   89 Gegenmaßnahmen und obrigkeitliche Reglementierung   100 Bücherverbrennungen: protestantische Schriften auf dem Scheiterhaufen   104 Altgläubige Textkulturen   108 Produktionskontexte: Warum und wie entstehen Flugschriften?   108 Verbreitung und Rezeption   115 Flugschriften als distinktive Artefakte   119

2 2.1 2.2

 126 Die Benennung der Unterschiede  Begriffe für die Anderen   126 Begriffe für das Eigene   139

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1

 152 Darstellungen der Zugehörigkeiten  Repräsentationen des evangelischen Anderen   152 Lutherbilder: Mönch, Monster und Revolutionär   153 Das reformatorische Führungspersonal   169 Die evangelische Herde und ihre Hirten   178 Reformation und Zeit: die lange Dauer der Häresie   191 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen   196 Die alte Kirche im ewigen Kampf   196

1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1

 1

X  3.2.2 3.2.3

 Inhaltsverzeichnis

Metaphern und Vergleiche   202 Die soziale Ordnung   208

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

 212 Repräsentationen der rituellen Differenz  Sakramente und Liturgie   213 Altarsakrament und Messpraxis   213 Rechtfertigung und Reinigung   222 Taufe und Wiedertaufe: die Verantwortung Luthers und Zwinglis  Der letzte Unterschied: Sterben und Tod   241 Materiale Kultur und praktische Distinktion   251 Maria und die Heiligen: Kulte, Bilder und Figuren   251 Distinktion und Materialität im Raum   265 Das weite Feld der Unterschiede: Fokussierung und Heterogenität   272

Fazit 

 278

Teil II: Praktiken der Unterschiede 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3

Priester im Differenzierungsprozess   285 Pfründen und Obrigkeiten   287 Interaktionen mit der Obrigkeit   287 Posten und Pfründen   294 Zugehörigkeiten der Priester   301 Distinktives Verhalten und Erkennen   301 Konflikte mit dem evangelischen Klerus   306 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot   312

 325 2 Praktiken des Heils und der Heiligung  Eucharistie und Messe  2.1  325 Eine lange Geschichte von Heterogenität und Devianz  2.1.1  325 2.1.2 Abendmahlspraxis: sub una oder sub utraque specie?   330 Der Leib des Herren in Szene gesetzt  2.1.3  341 Frankreich und die Eucharistie: eine aktive Ritualkultur   2.1.4  348 2.2 Beichte und Rechtfertigung   355 2.3 Fastenzeit(en)   365 2.4 Seitenblick: Sakramentalien   376

 236

Inhaltsverzeichnis 

3 3.1 3.2

Leben und Tod   382 Geburt und Taufe   383 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

 389

 404 4 Maria und die Heiligen  4.1 Heilige: Kult und Materialität   404 4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal?  4.2.1 Ulm und Ostbayern   410 4.2.2 Rouen   415 4.2.3 Paris   417 Fazit 

 409

 426

Teil III: Unterschiede und Zugehörigkeiten in Raum und Zeit 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich  1.1 Regensburg   434 1.2 Ulm   442 1.3 Lippe   447 2 2.1 2.2 2.3

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3

 433

 455 Raum: Aneignung und Differenzierung  Schlüsselgewalt: Der Kampf um den Zugang zu den Sakralräumen   458 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien   465 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen   474

3 Prozessionen: Eine französische Distinktion  3.1 Rouen   490 3.2 Paris   497

 XI

 487

Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen  Eine Praktik und ihre Geschichte   510 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens   513 Die Anfänge   513 Mariä Himmelfahrt 1532   515 Pfingsten 1535   524 Grenzphänomene: Auslaufen aus dem Landgebiet   529

 510

XII 

 Inhaltsverzeichnis

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2

Die Differenz in der Zeit   535 Kristallisationsmomente: die Zeitlichkeit der Unterschiede   535 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung   540 Eine reiche Historiographie   541 Allianzen und Differenzen: Binnendifferenzierung in Städten und Gemeinden   544 Manifestierungen kollektiver altgläubiger Zugehörigkeit   551 Ein altgläubiges Pendant zur evangelischen „Gemeindereformation“?   557

5.2.3 5.2.4

Fazit 

 564

Zusammenfassung 

 567

 589 Quellen- und Literaturverzeichnis  1 Quellen   589 1.1 Handschriftliche Quellen   589 1.1.1 Landesarchiv NRW, Abt. Ostwestfalen-Lippe, Detmold (LAV NRW OWL)   589 1.1.2 Hauptstaatsarchiv München (HStAM)   589 1.1.3 Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Münster (LAV NRW W)   589 1.1.4 Archiv des Bistums Passau (ABP)   590 1.1.5 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR)   590 1.1.6 Stadtarchiv Regensburg (StAR)   590 1.1.7 Archives Départementales de Seine-Maritime, Rouen (ADSM)   590 1.1.8 Stadtarchiv Ulm   590 1.2 Frühe Drucke   591 Edierte Quellen  1.3  594 2 Bibliographie   596 Personenregister 

 619

Einleitung 1 Auf der Suche nach der „anderen Seite“ in der Reformationszeit Im Jahr 1542 unternimmt der niedersächsische Reformator Anton Corvinus eine Visitationsreise durch die Grafschaft Lippe im östlichen Westfalen. Vier Jahre zuvor haben die Stände des Territoriums eine lutherische Kirchenordnung eingeführt. Doch deren Umsetzung erweist sich als schwierig. Zunächst schaffen die neuen Normen für Rituale, Predigten und die Ausstattung der Kirchen mehr Unstimmigkeiten, als dass sie zu religiöser Einheit und Ruhe beitragen. 1542 soll die Visitation durch Corvinus einen Überblick über die Lage verschaffen und helfen, die lutherische Kultur besser zu implementieren. Das kleine Kirchspiel Hillentrup, östlich von Lemgo gelegen, scheint auf den ersten Blick die lutherischen Praxisformen angenommen zu haben. Das Zeugnis der Gemeinde über die Lehre des Pastors Johannes Kathemann, der nach eigener Aussage vor kurzem heimlich geheiratet hat, stellt Corvinus zufrieden. Johannes Montanus, ein evangelischer Prediger, der den Reformator wahrscheinlich begleitet, soll die Heiratsangelegenheit überprüfen.1 Es ist eine andere Entdeckung, die Corvinus weit mehr beunruhigt: „Ciborium in hac parochia est, penes quod non ferendi et impii cultus et abusus visi et conspecti sunt. Jussus igitur est Montanus, eam hostiam tollere, et cum aliis aliquot omnem occasionem impii cultus e medio auferri.“2 In der Pfarrei befindet sich ein „ciborium“. Dieser Begriff bezeichnet im Spätmittelalter und im 16.  Jahrhundert meist einen Tabernakel, mitunter ein Sakramentshäuschen und selten ein kelchartiges Gefäß, in dem die Hostien nach der Transsubstantiation aufbewahrt werden.3 Im Tabernakel, bei dem Corvinus gottlose Kulte und Missbräuche beobachtet haben will, befindet sich sogar noch eine Hostie. Bestimmte Formen der traditionellen Sakramentsfrömmigkeit haben sich in Hillentrup trotz der evangelischen Vorschriften erhalten. Corvinus befiehlt deshalb, die Hostie zu beseiti-

1 Johannes Montanus, ein evangelischer Prediger, der den Reformator wahrscheinlich begleitet, soll die Heiratsangelegenheit überprüfen. Corvinus, Antonius: Geheimes lateinisches Kirchenvisitationsprotokoll über die Visitation von 29 Pfarrern und 2 Klöstern der Grafschaft Lippe-Detmold 1542. In: Briefwechsel des Antonius Corvinus. Nebst einigen Beilagen. Hrsg. von Paul Tschackert. Hannover/ Leipzig 1900 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 4). S. 119–125, hier S. 120. Zu Johannes Montanus, der nicht mit dem Fraterherren Jakob Montanus aus Herford zu verwechseln ist, siehe u. a. Schröer, Alois: Die Reformation in Westfalen. Der Glaubenskampf einer Landschaft. Bd. 1: Die westfälische Reformation im Rahmen der Reichs- und Kirchengeschichte. Die weltlichen Territorien und die privilegierten Städte. Die Zweite Reformation. Ergebnisse. Münster 1979. S. 168–172. 2 Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 120. 3 Braun, Joseph: Das christliche Altargerät in seinem Sein und in seiner Entwicklung. München 1932. S. 283 f. DOI 10.1515/9783110492460-001

2 

 Einleitung

gen und die Grundlagen für die von ihm angeprangerten gottlosen Praktiken aus der Kirche zu entfernen. Die Pfarrei ist nicht zum ersten Mal im Mittelpunkt der religiösen Auseinandersetzungen in Lippe. Bereits 1538, als nach dem Erlass der evangelischen Kirchenordnung alle Kleriker der Grafschaft zur Belehrung nach Detmold gerufen werden, gibt es in Hillentrup Schwierigkeiten. Die dortigen Pfarrer setzt der Johanniter-Komtur aus Wietersheim ein.4 1538 verbietet der Komtur Matheus Brandt seinem Pfarrer Kathemann, zur Synode nach Detmold zu gehen und fordert, er solle „bey denn altenn ceremonien und Gottis dienst […], auch bey der kirchenn bleibenn“.5 Diese alten Zeremonien dürften sich, ebenso wie die Gebräuche, der Tabernakel und die Hostie, die Corvinus erwähnt, auf den Bluthostienkult beziehen, der im Spätmittelalter aus Hillentrup einen lokalen Wallfahrtsort machte.6 Vier Jahre nach der Einführung der Reformation finden diese Praktiken, die der Johanniter als „alte ceremonien“ und der Reformator als „impii cultus et abusus“ bezeichnet, weiterhin statt. Corvinus entdeckt 1542 im Dörfchen Hillentrup Gegenstände und damit verbundene Rituale, die für ihn das Nicht-Evangelische, das „Andere“ darstellen, von dem er sich wortgewaltig distanziert. Eine Praxis wird als andersartig bzw. verboten wahrgenommen, wodurch sie Differenz zeigt und Distanz schafft. Dieses Beispiel aus der Grafschaft Lippe zeigt, dass auch in der Wahrnehmung der Reformatoren nichts Neues, Verändertes und Distinktives entstehen kann ohne einen Gegenpart. Doch der ist weit mehr als nur das Negativ der evangelischen Bewegung. In dieser Studie will ich explizit die Herausbildung der anderen, d. h. der altgläubigen Seite während der frühen Reformationszeit in fünf Fallstudien aus dem Alten Reich und Frankreich mit jeweils einer großen Bandbreite mikrogeschichtlich relevanter Quellen sowie anhand der überregional rezipierten altgläubigen Flugschriftenpolemik untersuchen. Ich spüre der alten Religion und deren Träger nach, die ihre Kultur unter veränderten äußeren und inneren Rahmenbedingungen hinsichtlich der Bedeutung und mitunter der Performanz in Raum und Zeit weiterentwickeln. Dabei entsteht eine im sozioreligiösen Feld spezifisch verortete neue alte Religion zwischen Spätmittelalter und Konfessionalisierung bzw. Gegenreformation. Die 1520er- und 1530er-Jahre  – der zeitliche Schwerpunkt dieser Arbeit  – sind in weiten Teilen Europas eine Epoche der beginnenden „konfessionellen“ oder, um in der zeitgenössischen Terminologie zu bleiben, „religiösen“ Differenzierung. So verschieden wie die evangelischen Bewegungen sind dabei auch die Distinktionen

4 Angermann, Gertrud: Volksleben im Nordosten Westfalens zu Beginn der Neuzeit. Eine wachsende Bevölkerung im Kräftefeld von Reformation und Renaissance, Obrigkeit und Wirtschaft: Minden  – Herford – Ravensburg – Lippe. Münster/New York 1995 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 89). S. 170. 5 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Ostwestfalen Lippe, Detmold (LAV NRW OWL), L 65, Nr. 1, Bl. 70r. 6 Schröer, Reformation in Westfalen Bd. 1 (wie Anm.1), S. 172.



1 Auf der Suche nach der „anderen Seite“ in der Reformationszeit 

 3

und ersten Zugehörigkeitsformen der Altgläubigen. Die Entstehung dieser ersten Unterschiede und überhaupt der sozial-religiösen Kategorie der Altgläubigen in der frühen Reformationszeit stellt in vielerlei Hinsicht bis heute eine Art Mysterium der unbefleckten Empfängnis dar. Ab 1517 ist in der Forschung von Gruppen die Rede, die wahlweise als „Katholiken“, „Luthergegner“ oder „Altgläubige“ bezeichnet werden. Doch was die distinktive Besonderheit jener Gruppe ausmacht, ist nur unzureichend bekannt. Tatsächlich sind die ersten beiden Reformationsjahrzehnte Jahre des Übergangs zwischen der spätmittelalterlichen religion flamboyante (Jacques Chiffoleau) und der tridentinischen Reform- und Gegenreformationskultur, deren Erforschung in den vergangenen 30 Jahren qualitativ und thematisch große Fortschritte erzielt hat. Im Augenblick kann sogar von einer Hochkonjunktur der Erforschung des frühneuzeitlichen Katholizismus gesprochen werden.7 Religiöse Identitäten verschieben sich, suchen und finden neue oder erneuerte Ausdrucksformen. Aber was ist – abseits von Politik und Theologie – mit jenen nicht evangelischen Menschen in der Gründerzeit der Differenzen zwischen 1520 und 1540, die keine mittelalterlichen Christen mehr sind, aber auch noch keine konfessionellen Katholiken? Warum wir über deren rituelle und kulturelle Zugehörigkeiten wenig wissen, zeigt ein kurzer Vorgriff auf den historiographischen Überblick. Bislang bietet die Forschung vier Herangehensweisen an die Altgläubigen des frühen 16.  Jahrhunderts.8 Eine einflussreiche Richtung, die besonders in der protestantischen Kirchengeschichte verwurzelt ist, hält die Luthergegner für Konservative, die – zumindest bis zur Gegenreformation – in Sinn und Praxis unverändert am Alten festhalten, isoliert und abgeschirmt den „Neuerungen“ begegnen. Andere Wissenschaftler, v. a. aus der klassischen Reformationsforschung, sehen in den nicht-evangelischen Praktiken schlichtweg Devianzen und Relikte des Alten. Die Differenz, die hier um religiöse oder „magische“ Praktiken entsteht, ist ungleichgewichtet. Auf der einen Seite wird vielfach eine zunehmend bewusste protestantische Identität angenommen, auf der anderen Seite volkstümliches Beharren, mit dem keine partikularen religionsgemeinschaftlichen Zugehörigkeiten verbunden werden. Eine dritte Forschungsrichtung sieht in den Altgläubigen der frühen Reformationszeit noch unbewusste, unreformierte, magisch-traditionalistische Katholiken. Diese Hypothese ist besonders im deutschen Konfessionalisierungsparadigma, aber auch in der klassischen französischen Religionssoziologie mit dem Schwerpunkt auf der longue durée verwurzelt. Eine vierte Linie, nämlich die vorwiegend ältere katholische Historiographie, betont

7 Boer, Wietse de: An Uneasy Reunion. The Catholic World in Reformation Studies. In: Archiv für Reformationsgeschichte (ARG) 100 (2009). S. 366–387. Der Autor skizziert eine Forschungsentwicklung, die sich von der konfessionellen Apologetik verabschiedet hat, hin zum Herausstellen konfessioneller (Funktions-)Parallelen in den 1980er. und 1990er-Jahren und zu aktuellen Untersuchungen der Interaktion und Differenzierung der Konfessionen sowie vergleichenden Studien. 8 Für einen Forschungsüberblick, aus dem sich die folgenden historiographischen Kategorien ergeben, siehe Abschnitt 2.

4 

 Einleitung

die essentielle Kontinuität der angeblich alleinseligmachenden Kirche in deren Auseinandersetzung mit Abspaltungen. Ich werde in dieser Arbeit ein Alternativmodell zur historischen Beschreibung und Erklärung der frühreformatorischen Altgläubigen entwickeln. Dazu werde ich den Zugriff auf die altgläubigen Kulturen und deren Genese verändern und den Untersuchungsschwerpunkt auf die Katalysatoren der Zugehörigkeitsbildung legen: die Momente der rituellen Differenz, der praktischen Distinktion und deren diskursive Repräsentationen. In diesen situationsgebundenen sozialen Figuren der Abgrenzung einerseits, der Interaktion und Bezugnahme andererseits, wird im Alten Reich und Frankreich die Kategorie der Altgläubigen am besten sicht- und greifbar. Die altgläubigen Kulturformen sind in einem doppelten Differenzierungsvorgang als Folge der Reformation begriffen: Zum einen die Abgrenzung zum evangelischen Anderen, zum anderen die dadurch nötige Ausdrücklichmachung des Eigenen sowie dessen bedeutungsmäßige und mitunter performative Neujustierung. Dieser Prozess ist durch eine große lokale und regionale Heterogenität gekennzeichnet. Die Altgläubigen zählen sich sowohl zu einer meist noch stark an konkrete Streitfälle gebundenen, örtlichen religiösen Teilgemeinschaft in Abgrenzung zu den „Neuerern“, als auch zur alten, immerwährenden und allgemeinen Kirche. Die Protagonisten sehen sich selbstverständlich als Christen, aber eben als im Unterschied zu den Evangelischen näher zu spezifizierende, das heißt „alte“ oder „wahre“ Christen. Dieser Zugehörigkeitswandel vollzieht sich maßgeblich durch die Ausführung und Rezeption bestimmter, in der Folge der Reformation distinktiver Rituale und Artefakte, durch die Entwicklung und Reproduktion bestimmter Wahrnehmungen, Bilder und Texte und durch die Entstehung von Deutungsgemeinschaften. Konkret werde ich fragen: Wie, wann und wo entsteht und ändert sich die Zugehörigkeit der Altgläubigen? Nehmen die Gläubigen einen Wandel wahr und worin äußert sich dieser für sie? Wie deuten und repräsentieren sie sich selbst und die anderen? Unter welchen Umständen werden die ersten rituellen und materialen Unterschiede konstruiert, um welche handelt es sich und welche Wissensordnungen stehen dahinter? Kommt es auf der lokalen Ebene zu Vergemeinschaftungen der Unterschiede in distinktiven Gruppen? Wie kohärent oder heterogen sind diese Prozesse in Raum und Zeit – und wie dauerhaft? Der präzise Verlauf des reformatorischen Spaltungsprozesses hängt von den jeweiligen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen ab, ebenso wie von den präzisen Streitpunkten und Auseinandersetzungen in den Städten und Gemeinden. Den spezifischen Distinktionen gehe ich in fünf Fallstudien nach. Die ausgewählten Räume stellen verschiedene topographische, soziale, kulturelle und chronologische Kontexte dar, so dass ein möglichst breites Spektrum an Differenzbildungen und Zugehörigkeitsmerkmalen untersucht, verglichen und interpretiert werden kann. Die Studie beschäftigt sich mit (1) den benachbarten und miteinander eng verflochtenen Gebieten der Reichsstadt Regensburg, des Hochstifts Passau und den östlichen Teilen des Herzogtums Bayern, (2) der freien Reichsstadt Ulm und deren Herrschaftsgebiet,



1 Auf der Suche nach der „anderen Seite“ in der Reformationszeit 

 5

(3) Ostwestfalen mit der Grafschaft Lippe, der Grafschaft Ravensberg, dem Hochstift Paderborn sowie den Städten Herford und Lemgo, (4) Rouen, der normannischen Handelsmetropole und (5) Paris, der Hauptstadt des Königreichs Frankreich. Dabei geht es nicht um die Darstellung jeweils vollständiger Stadt- oder Landesgeschichten. Vielmehr werde ich beispielhafte Auseinandersetzungen, distinktive Praktiken und Fälle religiöser Differenzbildung analysieren und zwischen den verschiedenen Räumen in eine vergleichende Perspektive setzen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die frühen Reformationsjahre zwischen 1517 und etwa 1540. Chronologische Untergliederungen sind meist ein historisch fragwürdiges Konstrukt.9 Nicht umsonst wurde oft versucht, den Anfangs- und Endpunkt des Ereigniskomplexes „Reformation“ aufzubrechen und in andere Zeitspannen – etwa den temps des réformes von Pierre Chaunu und in nuancierter Form von Heinz Schilling10  – einzugliedern und die damit verbundenen Prozesse lediglich als partielle Wandlungen (Erich Hassinger) bzw. normative Zentrierung schon zuvor bestehender Ideen und Frömmigkeitspraktiken darzustellen (Berndt Hamm).11 Dennoch wähle ich das in der Historiographie und der protestantischen Erinnerungskultur bald symbolträchtige Jahr 1517 mit Luthers Thesenanschlag als Beginn meiner Studie. Damit beziehe ich mich nicht nur auf einen in der deutschen Wissenschaftstradition zur Konvention gewordenen chronologischen Augenblick. Im Alten Reich und, in der Folge, auch in Frankreich, kann in diesem Jahr ein Anfangspunkt für Folgewirkungen, Rezeptionen und Reaktionen gesehen werden, die die nächsten Jahrzehnte religionsgeschichtlich prägen sollten. Für die Herausbildung spezifisch altgläubiger Kulturen ist ein Gegenüber nötig, auf das sich die Altgläubigen beziehen, von dem sie sich abgrenzen und sukzessive ihr Eigenes explizieren müssen  – sie sind mehr als „nur“ Christen, sondern in ihrer Selbstsicht spezifisch „alte“, wahre Christen. Die politischen, theologischen und kulturellen Grundlagen dafür werden in den Jahren nach Luthers Thesenanschlag geschaffen, wobei die Leipziger Disputation (1519), die Verurteilung Luthers und dessen Lehren durch Papst (1520) und Kaiser (1521) sowie durch die Theologische Fakultät Paris (1521) die bekanntesten Rahmenpunkte bilden. In diesen Jahren entstehen neue Konflikte und Konfliktkonfigurationen um Themen,

9 Le Goff, Jacques: Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches? Paris 2014 (La Librairie du XXIe siècle). 10 Chaunu, Pierre: Le temps des Réformes. Histoire religieuse et système de civilisation. Paris 1975 (Le Monde sans frontières); Schilling, Heinz: Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes? In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996. Hrsg. von Bernd Moeller. Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199). S. 13–34. 11 Hassinger, Erich: Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300–1600. Braunschweig 1959; Hamm, Berndt: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie. In: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) 26 (1999). S. 163–202.

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 Einleitung

die zuvor nur von Theologen diskutiert wurden, die sich, um es mit Lucien Febvre zu sagen, hinter verschlossenen Türen an ihren Wahrheiten erfreuten.12 Ich beende die Untersuchung um das Jahr 1540. Diese Wahl hat politische, personelle und kulturelle Gründe und verbindet französische mit deutschen Entwicklungen. 1539 führt mit dem Herzogtum Sachsen eine altgläubige Hochburg die Reformation ein, was u. a. den Produktionskontext von altgläubigen Flugschriften fundamental verändert und einen wichtigen Stützpunkt für altgläubige politische und kulturelle Anstrengungen auflöst.13 Im selben Jahr führt Kurfürst Joachim II. in der Mark Brandenburg die Reformation ein. Auch in meinen Fallstudien sind die Jahre um 1540 religionspolitische Wendepunkte, etwa mit der Reformation in der Grafschaft Lippe 1538 und in Regensburg 1541/42. Der französische König wiederum ergreift seit 1535 öffentlich sichtbar und klar Position für die orthodoxe Partei in Frankreich, was sich u. a. in der brutalen Repression nach der Plakataffäre niederschlägt und mit der zeitweisen politischen Annäherung an das Papsttum verbunden ist. Die direkten Folgen dieser Politik zeigen sich in der zweiten Hälfte der 1530er-Jahre. Auch theologisch und kulturell handelt es sich um einschneidende Jahre für die Altgläubigen. Im Alten Reich scheitern die Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg (1540/41) an der offensichtlich gewordenen Unvereinbarkeit altkirchlicher und protestantischer Glaubensgrundsätze. 1543 veröffentlicht die Theologische Fakultät Paris die Glaubensartikel, die für die chrétiens catholiques künftig den ideologischen Bezugspunkt darstellen werden. Ein Jahr später erscheint in Paris der Index der verbotenen Bücher. Zumindest theologisch und bezüglich der Orthopraxis sind das Eigene und das Andere vorerst festgelegt. Damit fällt der Prozess der Calvinisierung der französischen Reformation zusammen, der die Altgläubigen vor neue Herausforderungen stellt und deren kulturelle Entwicklung von den 1520er- und frühen 1530erJahren fundamental unterscheidet. Sowohl im Alten Reich als auch in Frankreich hat sich bis 1540 eine erste, freilich rudimentäre, fluide und keinesfalls „konfessionalisierte“ Klärung der Fronten ergeben – und dieser Prozess bis 1540 ist es, der mich in seiner sozialen und kulturellen Dimension mit Blick auf die Altgläubigen interessiert. Die ersten Unterschiede und Klassifizierungsmerkmale bilden eine der Grundlagen für den heterogenen, formen- und variationsreichen konfessionellen Katholizismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts.14 Was aber sind die tieferliegenden histori-

12 Febvre, Lucien: Le problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais. Paris 2003 (Bibliothèque de l’Évolution de l’humanité 42). S. 390. 13 Keen, Ralph: Ecclesiastical Patronage and Catholic Printing in Germany 1530–50. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 35–1 (2010). S. 41–49, hier S. 46f; Edwards, Mark U.: Printing, Propaganda, and Martin Luther. Berkeley/Los Angeles/London 1994. S. 29–37; Edwards, Mark U.: Catholic Controversial Literature, 1518–1555. In: ARG 79 (1988). S. 189–205, hier S. 196–198. 14 Diese Unterschiedlichkeit sowie die geographische und soziale Heterogenität des Barockkatholizismus wurde beschrieben von Hersche, Peter: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2006.



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ographischen Gründe dafür, dass dessen Geburtsstunde bisher so wenig Beachtung gefunden hat, insbesondere hinsichtlich der Kultur- und Sozialgeschichte?

2 Kritik der Historiographie Bevor ich einen Blick auf die dynamischsten Forschungsfelder der für meine Problematik relevanten Historiographien werfe, will ich der bereits angesprochenen Frage nachgehen, wie es zu der bemerkenswerten Lücke in der katholischen Religionsgeschichte der Vormoderne kommt, die zu schließen ich einen ersten Anlauf unternehme.15 Drei allgemeine Dichotomien lassen sich ausmachen, die grundsätzlich die Beschäftigung der Wissenschaft mit den sozialen Praktiken und Identitäten derer, die nicht evangelisch waren, geprägt haben.16 Dabei wurde „Reformation“ oft zum Synonym für „Reformationszeit“, wonach die Erforschung eines Prozesses teilweise eine ganze Zeit monopolisiert hat. Die erste historiographische Dichotomie bezieht sich auf die kulturelle Handlungsebene, die den Religionsgemeinschaften zugeschrieben wird. Diese Dichotomie kommt nicht zuletzt in der Wissenschaftssprache zum Ausdruck. In der Mehrzahl der Forschungen und Forschungsthemen geht es um die „Durchsetzung“ oder „Einführung“ der Reformation, um die „Entstehung“ der lutherischen, zwinglischen oder täuferischen Ideen und Rituale sowie um deren Verbreitung. Die damit zusammenhängenden sozialen Konfigurationen werden als evangelische „Bewegungen“ oder als Stadt- oder Gemeindereformationen beschrieben, die „verändern“, „erneuern“, „entwickeln“, „durchsetzen“ oder „aufbauen“. Dieses Vokabular und die dahinterstehenden Grundannahmen – so berechtigt sie sein mögen – schreiben allein den Evangelischen eine schaffende Handlung, eine positive Agenda und eine bedeutungsmäßige sowie performative Aktualisierung ihrer Praktiken und Zugehörigkeiten zu. Dieser Bewegung stehen demnach die Altgläubigen entgegen, „konservativ“ oder „traditionell“ in ihren Handlungen und Ritualen. Sie haben gegenüber den Evangelischen in dieser Dichotomie oftmals keine eigenständige Agenda, keine Entwicklung, keine neuen sozialen oder kulturellen Identitäten, die sie zum Ausdruck bringen. Sie erschöpfen sich demnach in einer reaktionären Anti-Position und im Immobilismus als Negativ der evangelischen Bewegungen. Zudem wird das altgläubige Lager in der Forschung vielfach auf die Obrigkeiten sowie kirchliche, juristische oder politische

15 Zur Kritik und der damit verbundenen Verschiebung der Blickwinkel und Zugriffspunkte als Voraussetzung sozialwissenschaftlichen Arbeitens siehe Haag, Pascale u. Lemieux, Cyril: Critiquer. Une nécessité. In: Faire des sciences sociales. Bd. 1 : Critiquer. Hrsg. von Pascale Haag u. Cyril Lemieux. Paris 2012 (Cas de figure). S. 13–27. 16 Das Folgende bezieht sich zudem nicht auf die theologische und politische Geschichte bis 1540, die für die Altgläubigen gut erforscht ist.

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Institutionen und Akteure beschränkt, die den Blick auf die distinktive Entwicklung von Praktiken und Repräsentationen verstellen bzw. dabei das Theologische exklusiv in den Vordergrund rücken.17 Dieser Befund kann auf Forschungstraditionen gerade in Deutschland zurückgeführt werden, wonach das wissenschaftlich Interessante im frühen 16. Jahrhundert eben die allein den Protestanten zugeschriebenen Veränderungen sind. Neuausrichtungen sowie partikulare Bewusstseinsbildungen wurden bei den Altgläubigen im Alten Reich vielfach erst ab der beginnenden Konfessionalisierung bzw. der tridentinischen Reform gesucht.18 In Frankreich werden diese Entwicklungen und Identitätsmerkmale, die über die mutmaßliche Immobilität der v. a. institutionell wahrgenommenen „Orthodoxen“ bzw. „Konservativen“ hinausgehen, sowie deren rituelle Äußerungen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts und den Religionskriegen zum Forschungsgegenstand. Die Zeit bis etwa 1535/40 wird dahingegen vielfach als eine Art harmlose Ouvertüre gesehen, während der allein die Protestanten verändern und agieren.19 Insbesondere den deutschen Altgläubigen wurde bei ihren Versuchen, das Alte zu bewahren, wenig Erfolg zugesprochen. Aus der angeblich unveränderten Tradition der „alten Bräuche“, von denen der eingangs zitierte altgläubige Johanniter-Komtur spricht, hat die Forschung für die frühe Reformationszeit ein Faktum gemacht. Doch handelt es sich dabei, wie ich zeigen werde, um ein gängiges Argumentationsund Repräsentationsmuster in einer Zeit, in der Praktiken und insbesondere deren Bedeutungen in präzisen Momenten bei den Altgläubigen tatsächlich stark verändert werden. Hier greift die Beobachtung von Christophe Duhamelle: „Il n’y a pas de

17 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Bagchi, David V. N.: Luther’s Catholic Opponents. In: The Reformation World. Hrsg. von Andrew Pettegree. London/New York 2000. S. 97–107, hier S. 97 f. Bagchi weist auf eine allgemeine Forschungslücke zu den frühen Luthergegnern im Alten Reich hin, schließt diese dann aber nur auf der Ebene der Theologiegeschichte. Für eine ältere, aber für die Reformationsgeschichte noch weithin gültige Forschungskritik in diesem Zusammenhang siehe Thadden, Rudolf von: Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 9 (1983). S. 598–614, hier S. 599. 18 Schilling setzt den Beginn der katholisch-tridentinischen Konfessionalisierung in den späten 1540er-Jahren an. Siehe Schilling, Heinz: Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. In: Historische Zeitschrift (HZ) 246 (1988). S. 1–45, hier S. 16–19. Für die katholische Konfessionalisierungsthese siehe Reinhard, Wolfgang: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Hrsg. von Wolfgang Reinhard u. Heinz Schilling. Gütersloh 1995 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198). S. 419–452. 19 Die Zeit bis ca. 1535–40 wird vielfach als eine Art „harmlose“ Ouvertüre gesehen, während der allein die Protestanten verändern und agieren. Vgl. Nicholls, David: Heresy and Protestantism, 1520– 1542. Questions of Perception and Communication, in: French History (FH) 10 (1996), 182–205, hier 183.



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temps long de l’identité – hors ce qu’en disent ceux qui font profession d’identité.“20 Der ähnliche Blick der deutschen und der französischen Historiographie auf die ersten Altgläubigen vermag zu überraschen, wenn man bedenkt, wie unterschiedliche die beiden Wissenschaftstraditionen sonst oft sind.21 Eine Ursache dieser Analogie könnte in der Chronologie zu finden sein, die den religiösen Lagern des temps des réformes zu Grunde gelegt wird. Die chronologische Dichotomie kommt u. a. in der gängigen Unterteilung der Allgemeinen- und der Religionsgeschichte des frühen 16. Jahrhundert in drei Etappen zum Ausdruck: Vorreform/Spätmittelalter, Reformation und Konfessionalisierung/ tridentinische Reform/Religionskriege. Diese Dreiteilung vernachlässigt die Altgläubigen des frühen 16. Jahrhunderts, die in eine Art schwarzes Loch fallen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, verschwindet ein Teil der spätmittelalterlichen Christen nach etwa 1520, um als zu konfessionalisierende oder schon konfessionelle Katholiken 30 Jahre später wieder aufzutauchen. Mitunter werden die altgläubigen Kulturen der frühen Reformationszeit auch einfach gleichgesetzt mit den vorreformatorischen Kulturen und deren Bedeutung für die Gläubigen. Beispiele aus der englischen, französischen und deutschen Historiographie mögen diese chronologische Ungleichzeitigkeit verdeutlichen. Denis Crouzet widmet weite Teile seiner Monographie La genèse de la Réforme française der Veränderung der Sterbe- und Zeitkultur des 16. Jahrhunderts, die er als zentral für die religiösen Entwicklungen ansieht. In einem ersten Abschnitt behandelt der Autor die spätmittelalterliche Sterbepraxis und die damit verbundenen Jenseitsängste. Mit Luther und den frühen französischen Evangelischen werde den Menschen durch die Rechtfertigungslehre die Angst vor dem Tod genommen. Calvin schließlich löst die bedrohlichen Eschatologie-Vorstellungen auf. Die Altgläubigen verschwinden in dieser Chronologie bzw. bleiben, so die implizite Annahme, einfach unverändert im Jahr 1520 stehen.22 Ein ähnlicher zeitlicher Bruch offenbart sich in Robert Scribners Studie über „katholische“ Rituale in der Reformationszeit. Die weit ins Sakramentale und Magische hineinreichende „katholische“ Praxiswelt fällt in dieser Darstellung mit

20 Duhamelle, Christophe: La frontière au village. Une identité catholique allemande au temps des Lumières. Paris 2010 (En temps et lieux 20). S. 57. 21 Siehe dazu Duhamelle, Christophe u. Büttgen, Philippe (Hrsg.): Religion ou confession? Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe-XVIIIe siècles). Paris 2010; Duhamelle, Christophe: Auf der Suche nach der französischen Konfessionalisierung, in: ARG 100 (2009), S. 235–255. 22 Crouzet, Denis: La genèse de la Réforme française (vers 1520–vers 1562). Paris, Belin, 2008. Sehr ähnlich arbeitet Koslofsky, Craig M.: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1700 (Early Modern History. Society and Culture), Basingstoke, Palgrave, 2000. Der Autor sieht die Veränderungsdynamiken, neuen und distinktiven Bedeutungsentwicklungen allein auf der protestantischen Seite, wenn es um die veränderten Jenseitsvorstellungen, Neuausrichtungen des Totenkults und die Verlegung der lutherischen Friedhöfe vor die Stadttore geht. Die „katholische“ Totenkultur bildet den chronologischen Vorlauf bzw. beschreibt die nach 1520 mutmaßlich unveränderten, parallelen – aber nicht aktualisierten oder aktiv-distinktiven – Kulturformen.

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dem vorreformatorischen „Katholizismus“ zusammen, von dem sich laut Scribner ab ca. 1520 die evangelischen Ritualwelten unterscheiden, v. a. durch Einschränkungen und Begrenzungen. Die Altgläubigen verschwinden in dieser Darstellung nach Ausbruch der Reformation weitestgehend – oder ihnen wird eine in Bedeutung und Performanz identisch fortgeführte vorreformatorische Praxiswelt unterstellt. Rituale werden dabei zum Symbol diachroner Unterschiede anstatt zu gleichzeitigen sozialen Differenzmerkmalen.23 Nur wenige Arbeiten, in denen die Altgläubigen eine größere Rolle spielen, brechen aus diesem Schema aus. Dabei sind besonders die Studien der französischen Religionssoziologie und Mentalitätengeschichte der 1960er und 1970er Jahre zu nennen. Pierre Chaunu zog im temps des réformes (13.–16. Jahrhundert) die evangelische Reformation und altkirchliche Reformbemühungen in einer Gesamtperspektive zusammen.24 Jean Delumeau sah im Katholizismus des 16.  Jahrhunderts eine eher bruchlose und intensivierende Fortführung der Christianisierungsbemühungen, die dem Protestantismus funktional gleichen. Allerdings konzentriert sich der Autor in seiner Monographie Le catholicisme entre Luther et Voltaire auf die altgläubigen Kulturen nach Luther, also zu einem Moment, in dem die Kategorien schon klar sind.25 Auch andere Versuche, die frühreformatorischen Altgläubigen (und mitunter die spätmittelalterlichen Christen) in eine katholische Gesamtgeschichte von mehreren Jahrhunderten zu integrieren, befriedigen nicht, wenn es darum geht, den entscheidenden Prozessen früher Reformationsjahrzehnte Rechnung zu tragen, durch welche die Kategorie der „alten“ oder „katholischen“ Kirche erst entstehen.26 Bei diesen

23 Scribner, Robert W.: Ritual and Popular Religion in Catholic Germany at the Time of the Reformation. In: Journal of Ecclesiastical History (JEH) 35 (1984). S 47–77. 24 Chaunu, Temps des réformes (wie Anm. 10). 25 Delumeau, Jean: Le catholicisme entre Luther et Voltaire. Paris 1971 (Nouvelle Clio 30bis); Delumeau, Jean: Naissance et affirmation de la Réforme. Paris 1965 (Nouvelle Clio 30). Die Hypothese hat 40 Jahre später Scott H. Hendrix wieder aufgegriffen, in dem er allen Konfessionsgruppen der Reformationszeit zumindest die gleichgerichtete Absicht unterstellte, die spätmittelalterliche Religion christianisieren zu wollen  – allerdings auf unterschiedliche und entgegengerichtete Weisen. Siehe Hendrix, Scott H.: Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization. Louisville 2004. 26 Ein treffendes Beispiel dafür bietet Bireley, Robert: The Refashioning of Catholicism, 1450–1700. A Reassessment of the Counter Reformation, Basingstoke 1999 (European History in Perspective). Erstens ist es im höchsten Maße anachronistisch, eine konfessionelle Kontitunität in dieser zeitlichen Perspektive anzunehmen. Zweitens lässt die isolierte Fokussierung auf den „Katholizismus” dessen urpsrüngliche Genese, die ja eben durch Differenz zu den Evangelischen geschieht, außer Acht. Für eine eher auf die kirchlichen Obrigkeiten bezogene katholische Reformgeschichte der langen Dauer vgl. für Frankreich Hayden, Michael J. u. Greenshields, Malcolm R.: Les réformations catholiques en France. Le témoignage des statuts synodaux. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine (RHMC) 48 (2001). S. 5–29; Hayden, Michael J. u . Greenshields, Malcolm R.: Six hundred years of Reform. Bishops and the French Church, 1190–1789. Montreal/Ithaca 2005 (McGill-Queen’s studies in the history of religion 37).



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Ansätzen werden, von Ausnahmen abgesehen,27 die frühen antireformatorischen Differenzierungsprozesse wenig beachtet und die Betonung auf die funktionalen Parallelitäten der Reformprozesse gelegt. Anachronistisch werden spätmittelalterliche Christen in eine katholische Entwicklung der langen Dauer integriert, ohne die Konstruktion der Kategorie „katholisch“ und die sich tatsächlich stark verändernden Zugehörigkeiten zu erklären.28 Diese Perspektive vermag jedoch wenig zu überraschen, ist sie doch v. a. in Frankreich entwickelt worden und somit in einem Land, in dem aufs Ganze gesehen die Reformation weder so erfolgreich noch so nachhaltig war wie im Alten Reich. Die dritte Dichotomie bezieht sich auf die Beurteilung eindeutig nicht-evangelischer bzw. altgläubiger Praktiken und Artefakte. Differenzen bezüglich religiöser Rituale und Gegenstände stehen im Zusammenhang mit sozialen, geographischen und hierarchischen Unterschieden. Besonders mit den unterschiedlichen evangelischen Ritualentwicklungen werden Identitätsbildungsprozesse verknüpft und in der Forschung automatisch kategorisiert. Der Laienkelch, um ein gängiges Beispiel zu nennen, ist als lutherisches Distinktionsmerkmal bekannt, er nimmt für den Historiker eine expressive, positive Sinnhaftigkeit an. Ähnlich verhält es sich mit deutschen Kirchenliedern oder verweigerter Ehrbezeigungen vor Marienstatuen. Die Praktiken jedoch, die zusehends als eindeutig nicht-evangelisch wahrgenommen bzw. von den Reformatoren abgelehnt werden, unterliegen in der Historiographie großen Kategorisierungsunsicherheiten und -schwankungen. Das zeigt etwa die Debatte um success and failure der Reformation. Diese historiographische Richtung sieht nicht-evangelische Praktiken als noch nicht reformiert oder deren Anhänger als indifferent gegenüber den Neuerungen an. Gerald Strauss etwa machte den Unterschied zwischen den Veränderungsbemühungen der lutherischen Reformatoren und dem Widerstand insbesondere der ländlichen Bevölkerung im Alten Reich deutlich. Nicht-evangelische Praktiken deutet er dabei als einfaches Festhalten an magischen und volkstümlichen Traditionen. Sie drücken für ihn keine religionsgemeinschaftlich-distinktive Haltung aus.29 Vergleichbar geht Raymond A. Mentzer in seiner Studie über volkstümliche und deviante, d. h. nicht reformierte religiöse Praktiken im hugenottischen Südfrankreich vor. Diese drücken für ihn keine konfessionell-distinktive Zugehörigkeit aus, sondern einen sozialen Unterschied zwischen gebildeten evange-

27 Etwa Greengrass, Mark: Les innovations au sein de l’Église établie et leurs limites. Le cas français. In: La Réforme en France et en Italie. Contacts, comparaisons et contrastes. Hrsg. von Allain Tallon [u.a]. Rom 2007 (Collection de l’École française de Rome 384). S. 127–143. 28 Ähnlich argumentiert das deutsche Konfessionalisierungsparadigma, nur eben für die Zeit ab 1555, als grundsätzliche Differenzen zwischen den Religionsgemeinschaften bereits bestehen und eher umgesetzt als entwickelt werden müssen. 29 Strauss, Gerald: Success and Failure in the German Reformation, in: Past and Present 67 (1975), 30–63, hier 59–63.

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lischen Eliten und dem Volk, das in spätmittelalterlichen und magischen Kulturen verharrt.30 Bisherige Studien über nicht- oder antireformatorische Religionsformen vor dem Tridentinum offenbaren wenig Interesse für deren aktiv-distinktive Funktion. Bis in die 1540er-Jahre hinein ist in der deutschen Historiographie in diesem Zusammenhang vielfach von vortridentinischen Strukturen, Parallelen zum Spätmittelalter oder nicht-konfessionalisierten Identitäten die Rede. Die Arbeiten von Andreas Holzem zu den Sendgerichten im Hochstift Münster und die dortige katholische Konfessionalisierung können hier als Beispiel dienen. Den Befund der Visitationen von 1571–73 beurteilt der Autor als einen nicht distinktiven Mix aus Beharren und Wandel. Es handle sich um eine „unentschiedene Katholizität, um eine Kirchlichkeit, die in einem schleichenden Wandel und aus Mischformen lebte, mit einer großen Bandbreite an Praktiken, mit viel Gewöhnlichkeit und Herkommen, oft ohne strenge theologische Rechenschaft, mit individuellen Anpassungen an Willen und Bedürfnisse der lokalen Autoritäten.“31 Die Referenz ist dabei der tridentinische Katholizismus, der in Westfalen zu diesem Zeitpunkt nicht konstatiert werden kann. Die Formen altgläubiger Distinktion und Identität in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bleiben schwer fassbar. Zu vergleichbaren Schlüssen bezüglich der Chronologie der katholischen Identitätsbildungen kam Marc R. Forster in seiner Studie über das Hochstift Speyer, ausgehend von postreformatorischer Indifferenz und Varianz hin zu zunehmend konfessionalisierten und aktiven Katholiken im 17. Jahrhundert.32 Eine Minderheit katholischer Historiker wiederum reklamiert für ihre Kirche eine auch zu Beginn der Frühen Neuzeit ungebrochene und unveränderte Kultur. Harm Klueting33 und

30 „Eradicating old ways, many of which the Reformers considered pagan or idolatrous, and instilling new forms of piety and belief was an arduous task. The mandatory cultural shifts proved impossible for some members of the community to accept. Witness a case from Camares, where a man pleaded that his mother ought not be punished for her failure to participate in the Lord’s Supper. Did the woman persist in what seems to have been a pre-Reformation tendency to take communion infrequently, perhaps no more than once a year? Or did she balk at the notion of the faithful drinking from the cup?“ Mentzer, Raymond A.: The Persistence of „Superstition and Idolatry“ among Rural French Calvinists. In: Church History 65 (1996)S. 220–233, hier S. 232. 31 Holzem, Andreas: Katholische Konfessionskultur im Westfalen der Frühen Neuzeit. Glaubenswissen und Glaubenspraxis in agrarischen Lebens- und Erfahrungsräumen. In: Westfälische Forschungen 56 (2006). S. 65–87, hier S. 70. 32 Forster, Marc R.: The Counter-Reformation in the Villages. Religion and Reform in the Bishopric of Speyer, 1560–1720. Ithaca/London 1992. 33 Zur Auseinandersetzung um den von Klueting als zeitlos postulierten Begriff „katholisch“ siehe Wolgast, Eike: Rezension zu: Harm Klueting: Das konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte, Darmstadt 2007. In: ZHF 36 (2009). S 530–532; Klueting, Harm: Zur Rezension von Eike Wolgast. http://harm-klueting.eu/page9.html (04.02.2014).



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Walter Ziegler34 zufolge sei eine Essenz des Katholischen durch alle Zeit hindurch unverändert geblieben. Altgläubige Kulturen der Frühen Neuzeit erfahren meist ab dem Zeitpunkt ein Forschungsinteresse, ab dem der Katholizismus mit seinen Ritualen, der Architektur und den tridentinischen Lehrdekreten einigermaßen klar definiert ist. Der differenzierende Zwischenschritt vom spätmittelalterlichen Christen dorthin bleibt indes oft unterbelichtet. Dabei erlebt die Forschung über den Katholizismus des 16. Jahrhunderts gerade einen bemerkenswerten internationalen Aufschwung, der durch neue sozial- und kulturgeschichtliche Methoden und Fragestellungen eine ganze Reihe von Aspekten altgläubiger Kultur und Distinktion zum Vorschein gebracht hat. Von diesem Aufschwung zeugen auch die zuletzt veröffentlichten historiographischen Zusammenfassungen.35 Einige Werke scheinen mir wegen ihrer innovativen Kraft und der aktuellen Rezeption in der Forschung von besonderer Relevanz zu sein. Judith Pollmanns Studie über die Katholiken in den Niederlanden des 16. und frühen 17. Jahrhunderts untersuchte die Reaktionen und Kulturformen der Altgläubigen gegenüber den Kalvinisten im Zeitalter des niederländischen Unabhängigkeitskriegs. Ihr Zugriffspunkt ist die Beziehung zwischen Volk und Klerikern. Für die frühe Reformationszeit stellt sie fest, dass die Priester die Auseinandersetzung mit der „Häresie“ für sich beanspruchen und ohne Beteiligung des Volks durchführen wollen. Entsprechend inaktiv und diffus sei die Haltung der Laien gegenüber den Protestanten.36 Die Monographie hat eine internationale Forschungsdiskussion ausgelöst, in deren Rahmen nachdrücklich auch für andere Teile Europas ein neuer, sozialund kulturgeschichtlicher Zugang zu den Katholiken der Reformationszeit gefordert

34 Ziegler, Walter: Typen der Konfessionalisierung in katholischen Territorien Deutschlands. In: Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Hrsg. von Wolfgang Reinhard u. Heinz Schilling. Gütersloh 1995 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198). S. 405–418, hier S. 417. Siehe darauf die berechtigten Einwände von Reinhard, Katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 18), S. 437 f.; Boer, Uneasy Reunion (wie Anm. 7), S. 385. 35 Bamji, Alexandra [u. a.] (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation, Farnham 2013. Mehr als ein Resümee, sondern verbunden mit einer neuen begrifflichen und kategorialen Fassung des frühmodernen Katholizismus ist die Monographie von O’Malley, John W.: Trent and all that. Renaming Catholicism in the Early Modern Era. Cambridge 2002. Siehe ferner die Zusammenfassung über die neue Konfessionalisierungsforschung bei Büttgen, Philippe: Qu’est-ce qu’une culture confessionnelle? Essai d’historiographie (1998–2008). In: Religion ou confession? Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe–XVIIIe siècles). Hrsg. von Christophe Duhamelle u. Philippe Büttgen. Paris 2010, S. 415–437. 36 Erst mit der Zeit und einer größeren Unabhängigkeit und Eigeninitiative des gemeinen Manns im Rahmen der Gegenreformation sei es zu bewussten und engagierten katholischen Zugehörigkeiten gekommen. Pollmann, Judith: Catholic Identity and the Revolt of the Netherlands, 1520–1635. Oxford 2011.

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worden ist.37 Damit ist die zuletzt immer öfter gestellte Frage verbunden, was denn die Selbstsicht der Altgläubigen ausmache, was es bedeute, katholisch zu sein und wie sich dies praktisch im Alltag des Reformationszeitalters äußert.38 Auch zu den ersten Jahrzehnten des 16.  Jahrhunderts gibt es seit den 1990er Jahren verstärkt Bemühungen, etwa die Studie von Thierry Wanegffelen, in der er die religiösen Sensibilitäten der französischen Reformer, Biblisten und Humanisten als „katholisch“ kategorisierte. Als Grund nannte er deren Konkordanzen mit der orthodoxen Lehre hinsichtlich der Eucharistie.39 Die bereits erwähnte Studie von Marc R. Forster über katholische Identitäten im Hochstift Speyer bezieht sich zwar auf einen etwas späteren Abschnitt, ebenso die Forschungen von Olivier Christin zu französischen Ikonoklasten und zu katholische Resakralisierungs- und Rekonstruktionsmaßnahmen.40 Dennoch lieferten beide Arbeiten während der 1990er-Jahre ein neues methodisches Werkzeug, lenkten das sozial- und kulturgeschichtliche Interesse auf altgläubige Zugehörigkeiten und Mentalitäten und führten diese Ansätze zumindest näher an die ersten Reformationsjahrzehnte heran. Ähnliches gilt für die vorwiegend diskursgeschichtlich orientierte Forschung von Harry Oelke zu altgläubigen Flugblättern in der deutschen Reformationszeit.41 John M. Frymire gelang mit der Untersuchung eines neuen Quellenkorpus  – der altgläubigen Postillen  – eine neue Perspektive auf die antireformatorische Religionskultur. Demnach sind Predigten ein weit verbreiteter und effektiv eingesetzter Bestandteil der Glaubensauseinandersetzungen.42 Analog dazu initiierte der Kirchenhistoriker David V. N. Bagchi eine positive Neubewertung

37 Siehe Forster, Marc R.: The Catholic Laity and the Development of Catholic Identity. In: BMGN – Low Countries Historical Review 126–4 (2011). S. 75–80; Diefendorf, Barbara B.: Catholic Identity and the Revolt of the Netherlands. A View from South of the Border. In: BMGN – Low Countries Historical Review 126–4 (2011). S. 82–88; Questier, Michael: When Catholics Attack. The Counter-Reformation in Fractured Regions of Europe. In: BMGN – Low Countries Historical Review 126–4 (2011). S. 89–95; Pollmann, Judith: How to Flatter the Laity? Rethinking Catholic Responses to the Reformation. In: BMGN – Low Countries Historical Review 126–4 (2011). S. 97–106. 38 Pollmann, Judith: Being a Cactholic in Early Modern Europe. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 165–182; Thali, Johanna: „catholisch“ – „uncatholisch“. Die Ausbildung konfessioneller Identitäten in der nachreformatorischen Eidgenossenschaft. In: Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur. Hrsg. von Carola Jäggi u. Jörn Staecker. Berlin 2007 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 104). S. 284–319. 39 Wanegffelen, Thierry: Ni Rome, ni Genève. Des fidèles entre deux chaires en France au XVIe siècle. Paris 1997 (Bibliothèque littéraire de la Renaissance. Reihe 3, 36). S. 1–97. 40 Forster, Counter-Reformation (wie Anm. 32); Christin, Olivier: Une révolution symbolique. L’iconoclasme huguenot et la reconstruction catholique. Paris 1991 (Le sens commun). 41 Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin/New York 1992 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 57). 42 Frymire, John M.: The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany. Leiden/Boston 2010 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 47).



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des lange schlechten Bildes der frühen Kontroverstheologen in Europa.43 Darüber hinaus hat Antje Flüchter mit ihrer Arbeit zum Zölibat in Jülich-Berg eine große Bandbreite von klerikalen Verhaltensweisen und volkstümlichen Erwartungen gerade für das frühe 16. Jahrhundert aufgedeckt. Die Studie warnt nicht zuletzt vor voreiligen Schlüssen bei der Zugehörigkeitskategorisierung und einer Überbewertung konfessioneller Trennlinien in der frühen Reformationszeit.44 Eine weitere Untersuchung zum Alten Reich stammt aus dem Jahr 2010 von Martin Hille, der in altgläubigen Chroniken die Bewertungen des Geschehens, die Zeitdiskurse und übergeordneten Perspektiven auf die reformatorischen Spaltungen erforscht hat. Jüngst hat sich Bent Jörgensen in seiner Studie über Selbst- und Fremdbezeichnungen der konfessionellen Parteien auch mit den Altgläubigen und der diese betreffenden Terminologie auseinandergesetzt. Er wertete dafür eine kleine Auswahl an Flugschriften sowie die Reichstagsakten und die interne Kommunikation der Stände aus.45 Zudem rückt die materiale Kultur mit verschiedenen Aspekten – auch hinsichtlich der konfessionellen Distinktion  – in das historiographische Blickfeld.46 Ein von Andreas Tacke herausgegebener Sammelband beschäftigte sich mit altgläubiger Kunst unter dem Einfluss und in Abgrenzung zur Reformation im Alten Reich.47 Emmanuelle Friant untersucht die Artefakte der katholischen Religionskultur des 16. Jahrhunderts in Frankreich: So maßgeblich die Studie für die intrakonfessionelle Praxis ist, so kurz fällt jedoch der Blick auf die Differenz bildende Funktion von Gegenständen aus.48

43 Bagchi, David V. N.: Luther’s Earliest Opponents. Catholic Controversialists, 1518–1525. Minneapolis 1991. 44 Flüchter, Antje: Der Zölibat zwischen Devianz und Norm. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2006 (Norm und Struktur 25). Sie ergänzt sich mit der v. a. theologiegeschichtlich orientierten Studie zur protestantischen Priesterehe von Buckwalter, Stephen E.: Die Priesterehe in den Flugschriften der frühen Reformation. Gütersloh 1998 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 68). 45 Hille, Martin: Providentia Dei, Reich und Kirche. Weltbild und Stimmungsprofil altgläubiger Chronisten, 1517–1618. Göttingen 2010 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 81); Jörgensen, Bent: Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert. Berlin/New York 2014 (Colloquia Augustana 32). 46 Mudrak, Marc: La construction matérielle du catholicisme allemand au début de la Réforme. In: RHMC 62–1 (2015). S. 79–103; Evangelisti, Silvia: Material Culture. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 395–416 47 Tacke, Andreas (Hrsg.): Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Regensburg 2008. Siehe ferner Packeiser, Thomas: Katholische Kunst angesichts der Reformation. Notizen zur Konfessionalisierung, konfessioneller Identität und Kontextforschung anläßlich einer Neuerscheinung. In: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 103 (2008). S. 188–214. 48 Friant, Emmanuelle: Le catholicisme matériel. Les objets de la piété privée dans la France des XVIe et XVIIe siècles. Dissertation. Nancy 2009.

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3 Desiderate Grundsätzlich verbinde ich in dieser Studie zwei wissenschaftliche Anliegen. Methodisch werde ich den Schwerpunkt auf die altgläubige Differenz- und Zugehörigkeitsentwicklung durch religiöse Rituale und Artefakte legen und die Repräsentationen dieser Prozesse untersuchen. Inhaltlich werde ich die altgläubigen Kulturen und Gemeinschaftsbildungen als expliziten, eigenwertigen Vorgang in den Mittelpunkt stellen, in dem Kontinuitäten und Innovationen auf regional sehr heterogene Weise zusammenfallen. Mit Blick auf die Historiographie ergeben sich im Detail mehrere Forschungsdesiderate, die im Rahmen dieser Arbeit angegangen werden sollen. Ein zentrales Anliegen ist die Dekonstruktion der drei Forschungsperspektiven, die bisher den Blick auf wichtige Aspekte der altgläubigen Kulturen weitgehend verstellt haben: (1) Die Dichotomie zwischen evangelischer Innovation, Veränderung und Aktion und altgläubigem Immobilismus, Konservierung und Repression; (2) die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen von expliziten und aktiven Zugehörigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten; (3) die Beurteilung nicht-evangelischer oder aus protestantischer Sicht devianter Praktiken als entweder vorreformatorisch-immobiles oder als volkstümliches Beharren auf einer magischen Religionskultur, die später im 16. Jahrhundert konfessionalisiert oder christianisiert werde. Die Historiographie, die sich explizit mit den Luthergegnern befasst, war insbesondere für das Alte Reich bis vor kurzem politik- und theologiegeschichtlich geprägt. Die Geschichte von oben soll in dieser Studie durch die Schwerpunktsetzung auf den gemeinen Mann und den gemeinen Pfarrer und deren Handeln ergänzt werden. Methodisch konzentriere ich mich auf religiöse Praktiken und Artefakte, die bei Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen den Unterschied zwischen den Gemeinschaften oder Einzelnen ausmachen. Dabei sollen staatliche, kirchliche und strukturelle Rahmenbedingungen nicht außen vor gelassen werden. Vielmehr wird, soweit möglich, das distinktive Handeln im System der fragmentierten und fraktalen Staatlichkeit der Vormoderne berücksichtigt. Die neuen Bedeutungen alter Praktiken, die graduellen Veränderungen der rituellen Performanz und die Entstehung spezifischer Zugehörigkeiten sollen mit den Repräsentationen dieser Prozesse in der antievangelischen Flugschriftenliteratur abgeglichen werden. Dazu muss auch ein neuer Blick auf die Produktion, die Rezeption und die Rezeptionsnetzwerke dieser Texte geworfen werden, um die Verbindung zwischen sozialer „Realität“ und Repräsentation herstellen zu können. In diesem Zusammenhang sind die Unterschiede zwischen dem Alten Reich und Frankreich zu behandeln, was den Typ, die Gestaltung, den Inhalt und die Zahl der Flugschriften anbelangt. Die distinktiven Praktiken werden von den historischen Protagonisten gedeutet und im sozialen Feld eingeordnet. Wenn Rituale oder religiöse Gegenstände Unterschiede darstellen oder provozieren und somit Vorkommnisse ergeben, die für diese Studie interessant sind, kommt es zu unterschiedlichen und widersprüchlichen

3 Desiderate 

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Deutungen, die der Historiker aufgreifen muss. Deshalb sollte bei der wissenschaftlichen Rekonstruktion des sozialen Feldes die verschiedenen Perspektiven, die dieses Feld ausmachen, dargestellt und somit der Multiperspektivität und Vielschichtigkeit jeden menschlichen Handelns und Deutens Rechnung getragen werden. So lassen sich die hier im Fokus stehenden altgläubigen und antievangelischen Positionen und Gemeinschaftsbildungsprozesse besser und gleichwertig mit jenen der Reformatoren nachvollziehen. Ich werde Praktiken und Repräsentationen an keiner theologischen oder kirchlichen Norm messen – denn was der Standard an sozialen und kulturellen Wertegerüsten sein sollte oder welchen religiösen Riten welche Bedeutung zukommen müsste, davon hatten Bauern eine andere Vorstellung als evangelische oder altgläubige Theologen und Hofprediger. Reformationszeitliche Differenz ist lokal verankert, wird dabei oft graduell unterschiedlich begründet und steht in den unterschiedlichsten sozialen und politischen Zusammenhängen. Spezifische Gemeinschaften, sofern sie sich denn bilden und entlang eines Ensembles von Praktiken und Differenzen bestätigen, müssen daher als Ergebnisse lokaler und regionaler Prozesse untersucht und verglichen werden. Die begriffliche Kategorisierung der Gruppen und Lager muss dieser Pluralität und Unbestimmtheit einerseits Rechnung tragen in einer Zeit, in der vielfach noch nicht aus einer klaren und bewussten Zugehörigkeit heraus gehandelt wird, sondern in der unterschiedliche Handlungen distinktive Zugehörigkeiten erst entstehen lassen. Noch immer bestehen taxonomische Unsicherheiten und Varianzen im Hinblick auf die Altgläubigen. Die Begrifflichkeit muss dabei nicht neu erfunden werden, aber Nachjustierungen bei den Definitionen und Interpretationen von Begriffen, als Abbild sozialer Kategorien, bleiben ein Desiderat. Dabei ist mitunter ein Spagat erforderlich zwischen den Selbstbezeichnungen der altgläubigen Akteure, den Begrifflichkeiten der evangelischen Seite und den Konventionen der Wissenschaftssprache. Dabei muss schließlich untersucht werden, wie dauerhaft die Differenzen sind, ob sie sich verdichten, in Raum und Zeit einschreiben und ob bei den Akteuren die Wahrnehmung einsetzt, nicht mehr (nur) der gemeinen Christenheit, sondern der „alten“ und „wahren“ Christenheit, im Gegensatz zu den „Ketzern“ und „Neuerern“, anzugehören. Kurz: Wie kommt es zu altgläubigen Gemeinschaftsbildungen, welche Formen nehmen diese an und wie werden sie repräsentiert? Damit einher geht die Frage nach der Konstanz oder dem Wechsel, der Homogenität oder der Diversität der altgläubigen Differenzmerkmale. Gerade bei der Analyse der Heterogenität der Unterschiede – also etwa dem Umstand, dass in Paris und Rouen zahlreiche Sonderprozessionen explizit als Reaktion auf die „Häresie“ durchgeführt werden, diese Praxis so im Alten Reich aber nicht existiert – zeigt der Vergleich seine methodische Wirkung. Er lässt neue Zusammenhänge, die sonst in der Normalität verborgen blieben, offenbar werden, verhindert monokausale Erklärungen und zeigt die Vielfalt der kulturellen Entwicklungen, die unter die Kategorie der Altgläubigen fallen. So stellen sich historische Fragen und ergeben sich Blickwinkel, die in Einzelstudien nicht auftauchen.

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Deshalb wurde der Vergleich von altgläubigen Religionskulturen im überregionalen und europäischen Zusammenhang zuletzt immer öfter gefordert.49

4 Auswahl und Beziehung der Fallstudien Vergleiche werden von Historikerinnen und Historikern oft im Munde geführt, aber zu selten methodisch konsequent und reflektiert durchgeführt. Immer wieder finden Vergleiche implizit statt und werden so eher zu Hinweisen oder Verweisen. Zudem ist die Annahme anzutreffen, man könne nur Vergleichbares miteinander vergleichen, also historische Gegenstände, die einander etwa in der Chronologie, den Strukturen oder Ereignissen (beinahe) gleich sind. Der Frage nach der Konstruktion der Vergleiche kommt deshalb eine große Bedeutung zu.50 Dabei gibt es bereits heute vergleichende Arbeiten zur Reformationsgeschichte. Diese überprüfen entweder verschiedene historische Phänomene auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede oder versuchen, Differenzen innerhalb eines Untersuchungsgegenstandes deutlich zu machen und zu interpretieren. Im ersten Fall ist der Vergleich ein Mittel, im zweiten Fall ist die Differenz der Grund für den (oft impliziten) Vergleich. In die erste Kategorie fällt beispielsweise die Studie von Hans-Christoph Rublack zu evangelischen Bewegungen in geistlichen Residenzstädten im Südwesten des Alten Reichs. Der vergleichende Ansatz dient dazu, das Scheitern der Reformation in diesem Städtetyp besser erklären zu können.51 Allgemein hat auch die Erforschung der innerprotestantischen Differenzen eine große vergleichende Historiographie gezeitigt, etwa mit Blick auf den Abendmahlsstreit.52 Das Ziel der komparatistischen Methode ist es, Analogien und Unterschiede in den kulturellen und sozialen Entwicklungen sowie deren Gründe zu suchen. Es geht hier also insbesondere um den Vergleich von Prozessen. Laut Marc Bloch setzt sich ein Vergleich grundsätzlich aus zwei Komponenten zusammen: „[U]ne certaine similitude entre les faits observés – cela va de soi – et une certaine dissemblance entre les

49 Questier, Catholics (wie Anm 37); Harline, Craig: Official Religion – Popular Religion in Recent Historiography of the Catholic Reformation. In: ARG 81 (1990), S. 239–262, hier S. 255; Volkland, Frauke: Konfession, Konversion und soziales Drama. Ein Plädoyer für die Ablösung des Paradigmas der „konfessionellen Identität“. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hrsg. von Kaspar von Greyerz [u. a.]. Gütersloh 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201). S. 91–104, hier S. 95. 50 Vgl. zu den Typen des Vergleichs Green, Nancy L.: Forms of comparison. In: Comparison and History. Europe in a Cross-National Perspective. Hrsg. von Deborah Cohen u. Maura O’Connor. New York/ London 2004. S. 41–56, hier S. 47 f. 51 Rublack, Hans-Christoph: Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen. Stuttgart 1978. 52 Zuletzt Burnett, Amy Nelson: Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy. A Study in the Circulation of Ideas. New York 2011 (Oxford studies in historical theology).



4 Auswahl und Beziehung der Fallstudien 

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milieux où ils se sont produits.“53 Im Vergleich ist es möglich, falsche Ähnlichkeiten und Verallgemeinerungen zu dekonstruieren, en-bloc-Perspektiven auf Entwicklungen oder soziale Gruppen zu nuancieren und das sonst nicht Explizierte, da für die örtlichen Gläubigen sowie in deren Gefolge für die Historiker „Normale“, deutlicher zu sehen. Was sonst in der historischen bzw. historiographischen Tradition und durch die Fokussierung auf nur einen Ort zu verschwinden droht, wird greifbarer. Zudem können durch die komparatistische Methode Unterschiede innerhalb eines Phänomens oder eines Praxisfelds (etwa die Funktionen der Hinrichtungen von Evangelischen in Rouen und in Paris) oder zwischen zwei Phänomenen klarer herausgestellt und bewertet werden (etwa die verschiedenen Spielarten der altgläubigen Distinktion bezüglich der Messe und Eucharistie). So können bisher unbekannte regionale Besonderheiten, Veränderungen, Anpassungen und Distinktionen entdeckt werden. Neue Probleme und Fragestellungen ergeben sich.54 Vergleiche ermöglichen es dabei, monokausale Erklärungen für Entwicklungen sowie historiographische Essentialismen zu dekonstruieren und neue wissenschaftliche Perspektiven einzunehmen.55 Bei Fällen, die zum Vergleich aufbereitet werden, ist die gemeinsame Referenz nicht eine allgemeine Entwicklung oder eine Hypothese, die sich aus dem Fall ergibt oder verifiziert werden soll.56 Die Bezugsgröße bilden vielmehr der Vergleichskontext und die anderen Fälle. Marc Bloch betont dabei, dass die Fälle zwar aus verschiedenen geographischen und sozialen Milieus stammen sollten. Dennoch müssen zeitliche, (weitläufige) geographische und entwicklungsgeschichtliche Gemeinsamkeiten vorhanden sein.57 Diese Kriterien treffen auf den Wittelsbacher Südosten des Alten Reichs, Ulm, Ostwestfalen, Rouen und Paris zu. Sie liegen allesamt im Bereich der lateinisch-nordalpinen Christenheit und sind seit etwa 1520 konfrontiert mit neuen theologischen Entwicklungen, evangelischen Bewegungen, altgläubigen Reaktionen und Innovationen sowie den daraus resultierenden religionskulturellen Differenzierungen. Dennoch sind die Fälle geographisch klar voneinander getrennt und sprachlich und kulturell schon vor 1517 verschieden.

53 Bloch, Marc: Pour une histoire comparée des sociétés européennes. In: Revue de synthèse historique 46 (1928). S. 15–50, hier S. 17. 54 Bloch, Histoire compare (wie Anm. 53). S. 30–41. Stärker als bei Bloch wird die Problematik in die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Vergleichsgegenstände unterteilt bei Green, Forms of comparison (wie Anm. 50). S. 44 f. Gleichzeitig stellt die Autorin heraus, dass bei ambitionierten und gut strukturierten Vergleichen die Frage nach beidem förderlich kombiniert werden kann. 55 Bloch, Histoire comparée (wie Anm. 53). S. 30. 56 Die Fälle bleiben nicht einzeln, weshalb sich zahlreiche methodische und theoretische Probleme von isolierten Fallstudien nicht stellen. Die Schwierigkeiten wurden aufgezeigt bei Pohlig, Matthias: Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem. In: HZ 297 (2013). S. 297–319. 57 Bloch, Histoire comparée (wie Anm. 53). S. 20.

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Die Wahl der Fälle ist also von großer Bedeutung.58 Ebenso wichtig ist die Ebene, auf der die einzelnen Fälle angesiedelt sind: Mit der Wahl des geographischen, thematischen und sozialen Umfangs ist die Problematik genau abzustimmen, anhand derer die Fälle untersucht werden.59 Ich beschränke mich bei der Auswahl meiner Teilstudien nicht auf das Alte Reich, sondern ziehe zwei französische Fälle hinzu. Denn Reformation und evangelische Bewegungen waren ein europäischer Vorgang, ebenso wie altgläubige Reaktionen, Reformen, Anpassungen und Initiativen. Es geht mir nicht um einen deutsch-französischen Vergleich, sondern um den wechselseitigen Vergleich von fünf Städten und Gebieten aus dem Alten Reich und Frankreich. Diese zeigen voneinander eher unabhängige historische Entwicklungen und Rahmenbedingungen. Zugleich haben sie ähnliche Grundsatzentwicklungen und Herausforderungen (evangelische Bewegung, Reformation, altgläubige Kulturaktualisierungen) und mitunter gewisse Berührungspunkte (Reichsgesetzgebung, Reichsinstanzen; die Theologische Fakultät Paris, die Monarchie und deren agents). Hinsichtlich der Größenverhältnisse sind alle Fallgruppen deutlich näher auf der Mikro- als auf der Makroebene angesiedelt. Damit werden die Vergleichseinheiten den theoretischen Anforderungen von Vergleichbarkeit im Unterschied gerecht. Mein Quellenmaterial umfasst verschiedene Sprachen  – Frühneuhochdeutsch, Mittelfranzösisch und Latein  – sowie eine Bibliographie, in der sich insbesondere die französische und deutsche Historiographie, aber auch zahlreiche Ansätze aus dem englischsprachigen Raum wiederfinden. Im Lauf der Studie werden sich somit auch Fragen zum wissenschaftlichen Vokabular, den Kategorien und Begriffen (sowie deren Übersetzung) ergeben, die überprüft und gegebenenfalls weiterentwickelt werden müssen.60

58 Haupt, Heinz-Gerhard: Comparative History. Methods, Aims, Problems. In: Comparison and History. Europe in a Cross-National Perspective. Hrsg. von Deborah Cohen u. Maura O’Connor. New York/ London 2004. S. 23–39, hier S. 26 f. 59 Green, Forms of comparison (wie Anm. 50). S. 45–49. 60 Siehe dazu auch Grosse, Christian: L’histoire comparée des religions. Enjeux d’une anthropologie historique appliquée au christianisme moderne. In: Religion ou confession? Un bilan francoallemand sur l’époque moderne (XVIe–XVIIIe siècles). Hrsg. von Christophe Duhamelle u. Philippe Büttgen. Paris 2010. S. 439–458, hier S. 446–455. Der Autor argumentiert dabei für eine praxis- und situationsbezogene Taxonomie und Begriffsverwendung. Er stellt dazu fest: „Ces notions n’entrent donc en quelque sorte en action que dans des situations de confrontation entre différentes cultures religieuses. Elles constituent alors des outils conceptuels grâce auxquels s’opère un travail de comparaison religieuse“ (S. 455).



5 Theoretische Grundlage und Methodik der Quellenanalyse 

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5 Theoretische Grundlage und Methodik der Quellenanalyse In der Folge werden die theoretischen Grundlagen und die sich daraus ergebenden Methoden erarbeitet, mit denen ich auf die Quellen zugreife. Das vielfältige Quellenkorpus wird dabei im Zusammenhang jeweils kurz erörtert. Eine detaillierte Kritik der Quellentypen erfolgt jeweils im Moment der Analyse.

5.1 Religiöse als soziale Praktiken Religion ist ein von Menschen produziertes und verändertes Phänomen. Auch religiöse Praktiken sind daher soziale Praktiken und mithin ein Phänomen der Kultur(geschichte).61 In der allgemeinen Definition von Andreas Reckwitz sind soziale Praktiken „know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen.“62 Praktiken sind der Ort des Sozialen.63 Sie drücken im Handlungsmoment tieferliegende kulturelle Codes aus und bieten Orientierungs- und Ordnungssysteme im Alltag und Beziehungsgeflecht einer Gesellschaft an.64 Der Habitus ist dabei laut Pierre Bourdieu ein „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.“65 Deutungsgemeinschaften erkennen einerseits das Eigene wieder. In diesem Fall sind Praktiken in den „sozialen Normalfall eingebettet“ und werden als kollektive Kultur von den Akteuren ähnlich oder gleich interpretiert bzw. ausgeübt.66 Zugleich

61 Greyerz, Kaspar von: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000; Grosse, Histoire comparée (wie Anm. 60). S. 442 f. 62 Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003). S. 282–301, hier S. 289. 63 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62). S. 289. 64 Dieses kulturelle Wissen kommt auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck: als Deutungs- und Interpretationswissen im Handlungskontext, als Wissen über die „korrekte“ Ausführung der Praktik sowie als motivational-emotionales Wissen. Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62). S. 292 f. 65 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 658). S. 277 f. 66 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62) S. 289.

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sind Praktiken distinktiv, d. h. sie unterscheiden in der Wahrnehmung der Akteure das Eigene vom Anderen und machen Letzteres kenntlich. So differenziert sich das soziale Feld in der Perspektive seiner Protagonisten.67 Deshalb konzentriere ich mich in meiner Studie auf die konkreten Momente des Konflikts, des Streits und der Auseinandersetzung um Praktiken, in denen erste altgläubige Distinktion und somit aktualisierte Zugehörigkeiten im sozialen Feld geschaffen und sichtbar werden. Praktiken und Objekte unterliegen ständigen Aktualisierungen ihrer Handhabung, ihrer Platzierung im Raum und ihrer Bedeutung.68 Die Frage, wie repetitiv oder veränderungsoffen sie dabei sind, ist in der Praxistheorie umstritten. Während Pierre Bourdieu von Routinisiertheit und der Reproduktion sozialer Hierarchien ausgeht, betont Judith Butler die Unberechenbarkeit von sozialer Praxis.69 Andreas Reckwitz bietet einen weiteren theoretischen Denkweg. Für ihn beruhen Praktiken grundsätzlich auf routinisierten Handlungen in einer kohärenten Kultur. Gleichzeitig seien sie aber bis zu einem bestimmten Grad offen für Veränderung und Innovation, die sich ergeben, wenn „eine interpretative und methodische Unbestimmtheit, Ungewissheit und Agonalität“ vorliegt. Diese kulturelle Ausgangslage dürfte in der Reformationszeit eher die Regel als die Ausnahme gewesen sein. Ist neues Praxiswissen inkorporiert, tendiere es wiederum zu Wiederholung und Verstetigung – ein Prozess, der für mögliche Verdichtungen von Praktiken und rituellen Gemeinschaften zu Beginn des 16. Jahrhunderts ebenso bedeutsam ist wie die Entstehung der ersten Unterschiede.70 Religiöse Praktiken und deren unterschiedliche Bewertungen lassen sich aus einer Vielzahl der untersuchten Dokumente rekonstruieren. Dazu gehören u. a. Protokolle von Verhören, die wiederholt v. a. in Ulm mit altgläubigen Personen geführt werden. Darin beschreiben die Verdächtigen ihre Praktiken und erklären, warum und

67 Die wechselseitigen Beziehungen der religiösen Lager, die im abgrenzenden Austausch ihre Identitäten festigen und zugleich dynamisieren, werden aktuell auch von der Religionsgeschichte stärker in den Fokus gerückt. Vgl. etwa Kaufmann, Thomas: Nahe Fremde. Aspekte der Wahrnehmung der Schwärmer im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hrsg. von Kaspar von Greyerz [u. a.]. Gütersloh 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201). S. 179–241. Der Autor stellt dabei mit Blick auf das Verhalten der lutherischen Orthodoxie gegen innerprotestantische Devianzen fest: „Gegenüber dem Fremden [hier dem Calvinismus, M. M.] sind Abwehrkräfte zu mobilisieren und ist das Bewußtsein des Eigenen zu intensivieren, zu differenzieren und konfessionspädagogisch einzuprägen“ (S. 210). Vgl. ferner die Differenzierungsprozesse und wechselseitigen Abgrenzungen im Moment der Interaktion im katholischen Eichsfeld im 18. Jahrhundert. Duhamelle, Frontière au village (wie Anm. 20). 68 Für den Begriff der „actualisation“ vgl. Duhamelle, Frontière au village (wie Anm. 20). S. 56 f., 75 f.. 69 Reckwitz, Andreas: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Hrsg. von Karl H. Hörning u. Julia Reuter. Bielefeld 2004. S. 40–53. 70 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62), S. 294–296. Vgl. dort auch für die theoretischen Bedingungen für kulturellen Wandel.



5 Theoretische Grundlage und Methodik der Quellenanalyse 

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vor welchem Hintergrund sie diese durchgeführt haben. Das hierbei gewonnene historische Wissen ist indes auch nur eine Annäherung an die Selbstsicht der Laien. Die Verhörten können Ausflüchte erfinden, versuchen ihre Handlungen und insbesondere deren tatsächliche Motivation zu verbergen. Hinzu kommt, dass die Aussagen in direkter und ungleicher Interaktion mit evangelischen Amtleuten, Verordneten oder Theologen erfolgen, an deren Erwartungen sich die Angeklagten mitunter anpassen. Das macht die raren Verhörprotokolle zu einer so komplexen wie aussagekräftigen Quelle, um die spezifischen Deutungsschemata und Zugehörigkeiten im sozialen Feld zu rekonstruieren.71 Visitationsprotokolle stellen in dieser Arbeit  – wie in zahlreichen Studien zur frühneuzeitlichen Religionsgeschichte Europas – eine weitere bedeutende Quellenart dar, v. a. für die religionskulturelle Differenzierung auf dem Land. Besonders in evangelischen Territorien werden Visitationen nach Einführung der Reformation häufig und entlang vergleichbarer Fragenkataloge geführt. Das trifft insbesondere auf Ulm zu. In Rouen und Paris liegt keine einzige Visitation vor. Die Protokolle der Aussagen der Befragten bieten dabei einen besonders präzisen Zugriff auf das gemeine Volk und den niederen Klerus. Bereits die Fragen haben einen eigenen Quellenwert, da sie die erwarteten oder tatsächlichen Schwierigkeiten aus obrigkeitlicher Perspektive deutlich werden lassen. Gerade kontroverse Themen und (altgläubige) Devianzen sowie Missstände aller Art stehen im Fokus der Visitatoren.72 Der konkrete Verlauf der untersuchten Visitationen ist natürlich unterschiedlich. Wahrscheinlich nur in seltenen Fällen gehen die Visitatorengruppen, deren Zusammensetzung und Hintergrund bei der Analyse nicht unterschätzt werden darf, direkt in jedes einzelne Dorf. Viel häufiger rufen sie Vertreter aus den Pfarreien an zentralen Orten zusammen. Befragt werden meist die Geistlichen, Amtmänner, Vertreter der kommunalen Instanzen und einfache Laien. Mit der Reformation und der katholischen Reform ab dem späten 16.  Jahrhundert werden Visitationen ein regelmäßiges Instrument, mit dem die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten die Durchsetzung ihrer religiösen und lebensweltlichen Ordnungsvorstellungen überprüfen wollen. Seit den 1960er-Jahren wurden Visitationsprotokolle in der französischen Historiographie, etwa von Pierre Chaunu, seriell ausgewertet. Seit den 1990er-Jahren scheint sich eine fallbezogene und mit anderen Quellen verschränkte Analyse durchzusetzen, etwa in der Studie von Marc R. Forster über katholische Identitäten im Hochstift Speyer. Die Visitationen und deren Praxis

71 Vgl. die bis heute in dieser Hinsicht beispielhaften Studie von Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin 2007 (Wagenbachs Taschenbuch 444). 72 Lang, Peter Thaddäus: Reform im Wandel. Die katholischen Visitationsinterrogatorien des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. Hrsg. von Ernst Walter Zeeden u. Peter Thaddäus Lang. Stuttgart 1984 (Spätmittelalter und frühe Neuzeit 14). S. 131–190, hier S. 131–146.

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werden für die Dorfpfarrer und die Gemeinden einerseits vorhersehbar und standardisierter, andererseits stellen die einzelnen Reisen und Stationen jeweils separate und gewissermaßen einzigartige Konstellationen dar. Das macht die Auswertung komplex, vor allem in einer diachron vergleichenden Perspektive. Mitunter lassen die Examinierten schlicht das von sich hören, was die Visitatoren hören wollten. Peter Hersche schließt sich dieser Skepsis, der schon in den frühen 1970er-Jahren Robert Sauzet Ausdruck verliehen hat, zwar an, betont jedoch auch, dass die ersten Visitationen  – und um solche handelt es sich bei den in dieser Studie untersuchten  – noch einen Überraschungseffekt beinhalten. Das ermöglicht einen offeneren Blick auf die Differenzen und Kulturen an der Basis. An das gesprochene Wort der Verhörten kommt man durch die Protokolle indes nicht heran. Die Kontrolleure fertigen während der Reise und den Untersuchungen oft nur stichpunktartige Notizen an, die dann später ins Reine geschrieben werden. Es handelt sich sozusagen um das Wort der Untertanen aus der Feder der obrigkeitlichen Bürokratien. Deren Rolle und Status müssen deshalb laut Robert Sauzet verstärkt in die Analyse mit einbezogen werden. Hilfreich könne dabei auch ein Vergleich mit vorhergehenden oder nachfolgenden Visitationen sein. Die Kontrollreisen sind zudem ein Anlass, um Konflikte direkt vor die Obrigkeit zu bringen. Mitunter werden „Missstände“ und religiöse Abweichungen auch erst im Kontext eines Konflikts zwischen Gemeinde und Pfarrer oder Amtleuten angezeigt. Diesem Schritt liegt sicherlich eine Interessenabwägung zugrunde, weshalb mit Übertreibungen und falschen Denunziationen ebenso zu rechnen ist. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich die Gemeinde und der Pfarrer zusammentun und potentielle Mängel verbergen. Ebenso können Devianzen und mitunter sogar Konflikte verborgen werden, die auf der lokalen Ebene geregelt werden sollen. Deshalb mahnen etwa Marc Venard und Peter Hersche die Kombination von Visitationsakten mit anderen Quellen an. Dem wird in dieser Arbeit mit ihrem breiten Quellenkorpus methodisch Rechnung getragen. Auch setzt diese Studie auf die Vielfalt der Quellentypen und deren Kombination als hermeneutisches Instrument.73

73 Meine Überlegungen zu Visitationsprotokollen als Quelle speisen sich aus Hersche, Muße und Verschwendung, Bd. 1 (wie Anm. 14), S. 192–194; Venard, Marc: Die französischen Visitationsberichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. Hrsg. von Ernst Walter Zeeden u. Peter Thaddäus Lang. Stuttgart 1984 (Spätmittelalter und frühe Neuzeit 14). S. 36–75; Strauss, Success and Failure (wie Anm. 29), S. 42–49; Scribner, Robert W.: Historical Anthropology of Early Modern Europe. In: Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe. Hrsg. von Robert W. Scribner u. Ronnie Po-chia Hsia. Wiesbaden 1997(Wolfenbütteler Forschungen 78). S. 11–34, hier S. 27f; Sauzet, Robert: Les procès des visites pastorales du diocèse de Chartres au XVIIe siècle. À propos d’une source de „l’histoire religieuse sérielle“. In: Religion et société à l’époque moderne. Itinéraire de Chartres au val de Loire. Tours 2012 (Perspectives historiques). S. 43–58; Forster, Counter-Reformation in the Villages (wie Anm. 32); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany, London/ New York 1997 (Christianity and Society in the Modern World).



5 Theoretische Grundlage und Methodik der Quellenanalyse 

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5.2 Materialität Das Soziale der Praktiken beruht einerseits auf deren Intersubjektivität. Denn sie werden oft im gemeinschaftlichen Kontext ausgeübt und gedeutet. Reckwitz weist andererseits darauf hin, dass das Soziale der Praktiken auch in der Interobjektivität liege.74 Eine soziale Praxis beruht demnach nicht nur auf Wissensordnungen und körperlichen Handlungen, sondern auch auf den Artefakten, die für den Vollzug der Handlung nötig sind. Dabei werden die Gegenstände im Moment der Praxis gedeutet und in einen kulturellen Zusammenhang eingefügt.75 Materialität wird dabei zu einem wichtigen methodischen Zugriffspunkt auf die sozialen Distinktionen und eröffnet für die Reformationsgeschichte Verbindungen etwa zur Frühneuzeitarchäologie.76 Schließlich sind religiöse Gegenstände eine wichtige Komponente bei der Aneignung und Unterscheidung von Räumen, etwa Kirchen, Kapellen, Straßen oder Stadttoren.77 Sergej Stoetzer beschreibt dies als einen ständigen Prozess. Dieser funktioniere durch die Deutung von Personen oder Artefakten und deren Anordnung im Raum durch selbst im Raumgeschehen involvierte Akteure.78 Raum entsteht somit durch gegenständliches und deutendes Handeln und Anordnen an einem präzisen Ort. Dessen Beschaffenheit bildet den Rahmen für Praktiken. Menschen schreiben Orten, die sie gut kennen und oft besuchen, mittels persönlicher und gemeinschaftlicher Aneignungen Einzigartigkeit und Originalität zu. Dabei sind Räume nie völlig konstant, sondern können durch Umdeutungen, neue Anordnungen von Personen oder Artefakten aktualisiert und distinktiv werden.79 Rechnungsbücher und Protokolle, die in dieser Studie aus der Verwaltung des Bischofs und des Domkapitels von Rouen herangezogen werden, komplettieren die Kenntnis über Praktiken und Gegenstände. In diesen Quellen sind etwa die Anordnung von Ritualen und deren Verlauf festgehalten ebenso wie deren Finanzierung. Dabei handelt es sich meist um Vergütungen für Predigten und andere religiöse Rituale, sowie um Reisekosten, das Agieren von Amtleuten gegen Evangelische oder

74 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62), S. 292. 75 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62), S. 289–291. 76 Vgl. Scholkmann, Barbara: Forschungsfragen, Möglichkeiten und Grenzen einer Archäologie der Reformation in Mitteleuropa. In: Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur. Hrsg. von Carola Jäggi u. Jörn Staecker. Berlin 2007 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 104). S. 3–25. 77 Der (konstruierte) soziale Raum schlägt sich dabei im physischen Raum nieder und wird durch das Handeln in diesem wiederum konstituiert. Stoetzer, Sergej: Ort, Identität, Materialität – soziologische Raumkonzepte. In: Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion Hrsg. von Thomas Erne u. Peter Schüz. Göttingen 2010 (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 63). S. 87–103, hier S. 90. 78 Stoetzer, Ort (wie Anm. 77), S. 97. 79 Zu den raumtheoretischen Grundlagen, auf die ich mich stütze, vgl. Stoetzer, Ort (wie Anm. 77), S. 91–100.

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Ausgaben für Drucke. Die Notizen sind meist recht kurz gehalten und ohne weitergehende Details, sie vervollständigen aber immer wieder unsere Kenntnis über Handlungszusammenhänge und bieten nicht zuletzt einen vergleichsweise unkontroversen Einblick in das Handeln der Obrigkeiten. Zudem bieten sich weitere Quellentypen für die Untersuchung der materialen Artefakte der Altgläubigen an. Darunter fallen insbesondere auch Visitationsprotokolle, die den Zustand von Kirchen und die Ausstattung der Sakralräume festhalten.

5.3 Zugehörigkeiten und Unterschiede im sozialen Feld Durch die gleiche oder unterschiedliche Ausübung von Praktiken und deren Deutung entsteht ein Raum von Beziehungen: der soziale Raum, in dem Gruppen und Individuen verschieden nahe oder entfernt voneinander liegende Positionen einnehmen.80 Das soziale Feld ist laut Bourdieu vorderhand „eine abstrakte Darstellung, ein Konstrukt, das analog einer Landkarte einen Überblick bietet, einen Standpunkt oberhalb der Standpunkte, von denen aus die Akteure in ihrem Alltagsverhalten […] ihren Blick auf die soziale Welt richten.“81 Er unterscheidet zwischen einem wissenschaftlich „objektiven“ und einem „subjektiven“ sozialen Raum aus den Akteursperspektiven.82 Die kritische Soziologie, der Bourdieu zugeordnet wird, sah sich wegen ihres allwissenden Blicks „von oben“ auf das soziale Feld immer wieder Angriffen ausgesetzt. Zudem habe die kritische Soziologie mitunter übersehen, dass die Informationen über Wissensordnungen und Beziehungen im sozialen Feld von den untersuchten Protagonisten selbst kommen, was völlige Objektivität erschwert. Als Alternative präsentierte sich die Soziologie der Kritik um Luc Boltanski, die einem ethnographischen Blick auf das soziale Feld das Wort redet. Handlungen und Sinngebungen sollen demnach allein aus der Perspektive der Protagonisten nachvollzogen und anschließend übersetzt werden. Doch auch diese Methode wurde hinterfragt. Anthropologen forderten, das Handeln und Argumentieren der Menschen nicht nur zu paraphrasieren, sondern in ihren kulturellen und historischen Kontext zu setzen und daraus zu erklären.83

80 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und soziale Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 500). S. 13, S. 20 f.; Stoetzer, Ort (wie Anm. 77), 89 f. 81 Bourdieu, Feine Unterschiede (wie Anm. 65), S. 277. 82 Bourdieu, Sozialer Raum (wie Anm. 80), S. 16. 83 Vgl. Fassin, Didier: Sur le seuil de la caverne. L’anthropologie comme pratique critique. In: Faire des sciences sociales. Bd. 1 : Critiquer. Hrsg. von Pacale Haag u. Cyril Lemieux. Paris 2012 (Cas de figure), S. 263–287, hier S. 270. Für einen sehr guten Überblick zu Geschichte und Fragen der historischen Anthropologie sowie zu den Unterschieden zwischen Geschichtswissenschaft und Ethnologie vgl. Scribner, Historical Anthropology (wie Anm. 73).



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Didier Fassin schlägt eine pragmatische Kombination der beiden Ansätze vor, „c’est-à dire en alliant l’attention à l’égard des agents, de ce qu’ils disent, pensent et font, et le recul pour saisir ce qui leur échappe, soit qu’ils aient intérêt à ne pas voir, soit qu’ils occupent une place ne le leur permettant pas.“84 Am besten, schreibt Fassin, können die beiden Zugriffe in Bezug auf konkrete Differenzen, Problematiken und Herausforderungen (enjeux) untersucht werden.85 Robert Scribner wirbt für einen ethno-historischen Ansatz, der sich auf präzise „points of encounter“ bei der Analyse von sozialen Differenzen und Praktiken fokussiert.86 Dieser integrierende Ansatz wird in der vorliegenden Studie angewendet. Neben Visitations- und Verhörprotokollen stellen die Korrespondenzen von Regierungsinstitutionen, Administrations- und Jurisdiktionsstellen, Vögten und Amtleuten hier, aber auch an vielen anderen Stellen, eine vielversprechende Quelle dar. Im Zuge des Ausbaus vormoderner Staatlichkeit seit dem Spätmittelalter entwickeln sich vielfältige staatliche Institutionen. Deren Bürokratien zur Organisation und Normenimplementierung produzieren einen reichhaltigen Quellenfundus. Dies geschieht besonders dann, wenn neue Entscheidungen umgesetzt, Konflikte ausgetragen oder gelöst werden müssen und Verhandlungen anstehen. Selten zuvor waren diese Funktionen der vormodernen Staatsleitungen und Bürokratien so gefordert wie in der frühen Reformationszeit. Die Korrespondenzen, zu denen auch Berichte, Stellungnahmen und Lageeinschätzungen zu zählen sind, liefern ein reichhaltiges Abbild der Konflikte. Dabei interessiert mich nicht die top-down-Perspektive obrigkeitlicher Ordnungsdurchsetzung. Vielmehr werden in den Korrespondenzen und Berichten die Konfliktlagen und die dahinterstehenden religiösen Differenzierungsprozesse untersucht, ebenso wie deren Darstellung und die Lösungsversuche. Bezeichnend ist für das Alte Reich, dass letztgültige Entscheidungen vieler Differenzen, v. a. wenn sie einen präzisen Herrschaftsbereich überschreiten, fast nie zu belegen sind. In Rouen und Paris sind diese ungleich häufiger zu rekonstruieren, was an der Möglichkeit der Parlamente und des Königs liegt, unwiederbringliche Entscheidungen zu fällen und diese dann vor Ort auch durchzusetzen. Hier sind zudem Suppliken und Petitionen wichtige Quellen, um den Entscheidungs- und Administrationsprozessen nachzuspüren. Suppliken sind ein Instrument, mit dem Gemeinden, Teile von Gemeinden oder deren politische Vertreter, aber auch Pfarrer sowie kirchliche und staatliche Körperschaften ihre Forderungen, Beschwerden oder Anfragen an eine höhere Stelle in der politischen oder instituti-

84 Fassin, Seuil de la caverne (wie Anm. 83), S. 267. 85 „Par enjeu, j’entends ce qui est en cause dans l’action humaine, les normes et les valeurs qui la sous-tendent, les effets et les transformations qu’elle produit.“ Fassin, Seuil de la caverne (wie Anm. 83), S. 285. 86 Scribner, Historical Anthropology (wie Anm. 73), S. 28.

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onellen Hierarchie bringen können. Auch hierbei gilt es, ähnlich wie bei Verhören, Sprach- und Darstellungskonventionen sowie das Gefälle zwischen den Bittstellern und den Adressaten zu berücksichtigen. Erstere verwenden Argumentationen bzw. stellen die Kontexte ihrer Suppliken in aller Regel so dar, dass die Empfänger sich in der Zielsetzung wiedererkennen sollen. Offene Konfliktstellungen mit den Normen der Obrigkeit sind deshalb selten. Nur zweiter Hand werden sie sichtbar. Vielfach werden aber Differenzen der Bittsteller zu anderen Gruppen oder Bittstellern auf einer vergleichbaren hierarchischen Ebene dargestellt und in starken, jedoch mit Bedacht gewählten Farben ausgemalt.87

5.4 Repräsentationen und Taxonomie Die Protagonisten deuten die Kategorien und Handlungen im sozialen Feld, die ihnen vor Augen stehen. Die dabei entstehenden Repräsentationen schaffen soziale „Realität“. Als eine Art Navigationssystem haben sie Einfluss auf Handlungen und die soziale Interaktion.88 Das Bild, das etwa ein altgläubiger Bauer von einem evangelischen Prediger im Kopf hat, beeinflusst seinen Umgang mit dem Geistlichen, der von der reformatorischen Obrigkeit in die Pfarrei geschickt wird. Die Bildung von Repräsentationen ist ein wichtiger Teil der Internalisierung eines sich differenzierenden sozialen Feldes.89 Dabei entsteht das, was Roger Chartier als „luttes des représentations“ bezeichnet hat.90 In dieser Studie wird ein breites Ensemble an Metaphern, Begriffen, Beschreibungen, Vergleichen und Bezeichnungen untersucht, die man als Figuren der Repräsentation des Eigenen und der Anderen bezeichnen kann.91 Diese suche ich vor allem in den altgläubigen Flugschriften, um sie daraufhin mit der „Realität“ der distinktiven Praktiken und religiösen Gemeinschaftsbildungen abzugleichen und die Verbindung von Repräsentationen und Praxis zu rekonstruieren.92 Dabei werden die Kontexte und Bezüge verstärkt beachtet, in denen die Repräsentationen angewendet, angenommen oder abgelehnt werden.

87 Vgl. dazu auch Davis, Natalie Zemon: Fiction in the Archives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France. Cambridge 1987. 88 Vgl. Chartier, Roger: Le monde comme représentation, in: Annales ESC 44 (1989). S. 1505–1520, hier S. 1513. 89 Chartier, Représentation (wie Anm. 88), S. 1513 f.; Bourdieu, Feine Unterschiede (wie Anm. 65). S. 277 f.; Bourdieu, Sozialer Raum (wie Anm. 80), S. 16. 90 Chartier, Représentation (wie Anm. 88), S. 1514–1516. Auch laut Bourdieu besteht ein ständiger „Kampf um Einordnung“ von distinktiven Praktiken. Vgl. Sozialer Raum, S. 29. 91 Vgl. Müller, Ernst: Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Begriffsgeschichte im Umbruch. Hrsg. von Ernst Müller. Hamburg 2005 (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 2004). S. 9–20, hier S. 16–18. 92 Die Bedeutung des Studiums der Interaktion zwischen Repräsentationen und Praxis wurde hervorgehoben von Lotz-Heumann, Ute: Confessionalization. In: The Ashgate Research Companion to



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Diese v. a. anthropologische Herangehensweise muss nuanciert werden, wenn es speziell um die begriffliche Fassung der entstehenden religiösen Gemeinschaften und Zugehörigkeiten in der wissenschaftlichen Arbeit geht. Deren Taxonomie kann nicht einfach alle widersprüchlichen und mitunter sehr polemischen endogenen Gruppenbegriffe verwenden, selbst wenn das Ziel besteht, in der wissenschaftlichen Ausdrucksweise möglichst nah an der Quellensprache zu bleiben. Dadurch würde nicht zuletzt die Anschlussfähigkeit an gängige Forschungsbezeichnungen und notwendige Begriffskonventionen erschwert werden. Andererseits ist die Infragestellung gängiger exogener Begriffe für die frühe Reformationszeit dringend erforderlich, da diese zu sehr einengen und falsche Festlegungen nach sich ziehen.93 Nach welchen Prinzipien sind also die Gruppen zu benennen, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen? Ich wende für den Zugriff auf die Begriffsgeschichte eine integrative Methodik an, die Jean-Pierre Cavaillé entwickelt hat. Laut ihm müsse im Zentrum eine „histoire sociale des pratiques de nomination et de catégorisation, où les actes de langage participent pleinement des interactions“94 stehen. Akteure beziehen in der Benennungspraxis eine Position zum Benannten und somit im sozialen Feld. Begriffliche Repräsentationen integrieren und exkludieren. Deshalb sind die Gruppenbezeichnungen auch Teil der Repräsentationskämpfe.95 „C’est pourquoi l’on peut soutenir qu’un groupe ne préexiste jamais à sa dénomination, sous la forme que lui impose le nom, car le nom ne dénote pas seulement une identité, il la fait être, il la constitue.“96 Diesen Prozess zurückzuverfolgen ist das begriffsgeschichtliche Ziel dieser Arbeit. Es geht bei einer so verstandenen Kategoriengeschichte nicht um die „korrekte“ Bezeichnung, die als essentialistische Gruppenbeschreibung sowieso nie allgemeingültig existiert. Um auch der Gefahr einer wissenschaftlichen Verallgemeinerung von polemischen und diffamierenden Kategorien zu entgehen, schlägt Cavaillé vor, die begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzungen selbst stärker in den Blick zu nehmen. Diese müssten Teil der Beschreibung der sozialen Differenzierung sein, wodurch die frühere diachrone Fixierung der Begriffsgeschichte ergänzt wird.97

the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 33–53, hier S. 44 f., und Grosse, Histoire comparée (wie Anm. 60), S. 441 f. 93 Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire. In: Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer. Hrsg. von Pacale Haag u. Cyril Lemieux. Paris 2012 (Cas de figure). S. 121–147, hier S. 122 f. 94 Cavaillé, Usage critique (wie Anm. 93), S. 124. 95 Cavaillé, Usage critique (wie Anm. 93), S. 124–126. 96 Cavaillé, Usage critique (wie Anm. 93), S. 130. 97 Cavaillé, Usage critiqiue (wie Anm. 93), S. 131 f.; Müller, Einleitung (wie Anm. 91), S. 16. Skeptisch in dieser Hinsicht zeigte sich aus Gründen des angeblich zu großen Umfangs synchroner Perspektiven hingegen Koselleck, Reinhart: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hrsg. von Hans Erich Bödeker. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14). S. 29–47, hier S. 32 f.

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Besonders hier können, um den Selbstrepräsentationen und den Einordnungen des Eigenen und der Anderen nahe zu kommen, persönliche Dokumente herangezogen werden, die im Deutschen als Selbstzeugnisse, im Französischen etwas treffender als „documents du for privé“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Quellen, die von Einzelpersonen verfasst wurden, meist nicht für ein breites oder allzu großes Publikum. Der genaue Produktionskontext variiert dabei stark und macht die hier zusammengefassten Quellentypen sehr vielgestaltig. Darunter fallen persönlich und reichhaltig mit eigenen Eindrücken und Berichten versehene Diarien, Notizen und Notizbücher, individuell gefärbte und mit subjektiven Eindrücken und Erfahrungen angereicherte Verwaltungsbücher (v. a. aus dem klösterlichen Kontext) sowie persönliche Erinnerungen. Durch die meist zum eigenen oder nur eingeschränkt gemeinschaftlichen Gebrauch verfassten Texte fallen Themensetzungen und die Tonlage oft anders aus als z. B. in offiziellen Verwaltungs- oder Justizdokumenten. Weniger die Introspektive und explizite Beschäftigung mit dem Eigenen, sondern vielmehr dessen Einordnung im sozial-religiösen Kontext und die Wahrnehmung lokaler Ereignisse werden aus den Selbstzeugnissen ersichtlich. Durch diese Perspektiven kann auf die Deutungsschemata und somit auf tiefergehende Zugehörigkeiten und Kulturen geschlossen werden. Die genannten persönlicheren Quellen lassen zudem durch die inhaltlichen Schwerpunkte die in der Autorenperspektive wichtigen Themen erkennen. Ein breites Spektrum an Repräsentationen – Metaphern, Bilder, Zeichnungen, Vergleiche, Begrifflichkeiten usw. – liefern zudem die altgläubigen Flugschriften. Für die Begriffsanthropologie, Deutungs- und Repräsentationsgeschichte bilden die hier untersuchten ca. 110 deutschsprachigen und ca. 15 französischen libelli das zentrale Korpus.

5.5 Materiale Textkulturen Flugschriften werden auf der von Markus Hilgert formulierten theoretischen Grundlage der materialen Textkulturen untersucht. Texte als schrifttragende materiale Artefakte haben keine ihnen essentiell innewohnenden Bedeutungen, die als selbständiger oder faktisch zu entschlüsselnder Diskurs aufzuarbeiten wären. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Geschriebenes von den Lesern und Hörern jedes Mal neu angeeignet und gedeutet wird. Somit wird die Rezeption der Polemiken zu einer sozialen und artefaktbasierten Praxis.98 Flugschriften sind nicht nur Quellen, sondern selbst historische Gegenstände mit diversen Bedeutungen und Effekten, gerade in der Reformationszeit. Deshalb sind die Produktions- und Rezeptionspraktiken sowie

98 Hilgert, Markus: „Text-Anthropologie“. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie. In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin 142 (2010). S. 87–126, hier S. 91.



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die Verteilungsnetzwerke nicht nur als eigener Forschungsgegenstand interessant, sondern bestimmen auch den Quellenwert von Flugschriften.99 Laut Markus Hilgert sind die materiale Beschaffenheit sowie die räumliche Präsenz von Geschriebenem zentral für dessen Analyse. Schriftartefakte sind dabei nicht nur Objekte, die von den historischen Akteuren entschlüsselt, verstanden und interpretiert werden müssen, sondern haben auch eine eigene Rolle, z. B. als Distinktionsmerkmal, in der sozialen Praxis. Diese Wirkungen hängen mit der materialen Ausgestaltung des Schriftstücks zusammen, die wiederum in verschiedenen Kulturen unterschiedlich gedeutet wird. Im Fall dieser Studie trifft das nicht zuletzt auf Holzschnitt-Karikaturen zu. Die Rezeptionen finden unter spezifischen räumlichen Bedingungen statt, die auch von der Art der Verbreitung des Texts abhängen. Wichtig ist ebenfalls die präzise Deutungsgemeinschaft. Ein evangelisches Flugblatt, das während der Plakataffäre 1534 nachts an das Schlafzimmer der französischen Königin in Blois genagelt wird, wird von dieser anders wahrgenommen und gedeutet als dasselbe Blatt, das an einer Tür der Pariser Universität befestigt und von evangelischen Studenten gelesen wird.100

5.6 Raum der Möglichkeiten Soziale Praktiken, die damit verbundenen Wissensordnungen und die Verschiebungen im sozialen Feld sind nicht voraussetzungslos.101 Wie aber, in welchem Rahmen, werden Praktiken, deren kulturelle Bedeutungen und die Zugehörigkeiten, die sie ausdrücken, produziert? Dafür hat Pierre Bourdieu mit dem Konzept des „Raums der Möglichkeiten“ eine interessante Lösung angeboten.102 Möglich ist letztlich alles, was an Praktiken und Repräsentationen in einer Kultur  – mit all ihren Widersprüchen und inneren Unterschieden  – gewusst, rezipiert und artikuliert werden kann. Normierende Institutionen, Gesetzgebung und staatliche sowie gesellschaftliche Kontrollmechanismen greifen in die Konfiguration dieses Raums ein. Vielfältige Quellen stehen bereit, um die Bestimmung und Aushandlung des Raums der Möglichkeiten zu rekonstruieren. Darunter fallen die Edikte, Mandate und Entscheide verschiedener Obrigkeiten und obrigkeitlicher Instanzen und Gremien.

99 Vgl. Hilgert, Text-Anthropologie (wie Anm. 98), S. 95–98. 100 Hilgert, Text-Anthropologie (wie Anm. 98), S. 101–104. Vgl. auch Chartier, Représentation (wie Anm. 88), S. 1512 f.: „Contre la représentation, élaborée par la littérature elle-même, selon laquelle le texte existe en lui-même, séparé de toute matérialité, on doit rappeler qu’il n’est pas de texte hors le support qui le donne à lire (ou à entendre) et qu’il n’est pas de compréhension d’un écrit, quel qu’il soit, qui ne dépende des formes dans lesquelles il atteint son lecteur.“ 101 Vgl. Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 62), S. 294. 102 Bourdieu, Feine Unterschiede (wie Anm. 65), S. 596–598. Darauf stützen sich auch meine folgenden Überlegungen.

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Weitere Einsichten in die Rahmenbedingungen und die Gründe für deren Gestalt werden aus politischen Korrespondenzen, etwa zwischen Fürsten, Stadtobrigkeiten und Regierungen gezogen. Protokolle von Sitzungen und Kommissionen der Stadträte, Ständeversammlungen und Domkapitel etc. runden das Bild ab. Sie bieten Einblick in politische, juristische und bürokratische Entscheidungsfindungen und Entwicklungen. Sie zeigen Entwicklungen bei der religiösen Haltung der Obrigkeit, die wiederum auch Resonanzboden ist für Prozesse und Druck bei den Untertanen oder Ständen. Zudem werden in den Sitzungen Praktiken und Verhaltensweisen nicht nur normiert, sondern auch angestoßen und vorbereitet, etwa Prozessionen oder exekutive Maßnahmen. Interaktionen mit anderen Institutionen kommen dabei ebenso zum Ausdruck. Die verschiedenen Räume der Möglichkeiten in den fünf Fallstudien sollen in der Folge in kurzen verlaufs- und strukturgeschichtlichen Überblicken skizziert werden. Diese geographisch gegliederten Synthesen sollen dem Leser zur Orientierung in der ansonsten thematisch gegliederten Arbeit dienen. Die Vorstellung der Ereignisse und Strukturen in den fünf Städten und Regionen beinhaltet eine ausführliche Bibliographie und dient als Referenz während des weiteren Verlaufs der Studie. Für Fragen und Details der Ereignisgeschichte wird sich der Leser an die folgende Präsentation halten. Diese stellt auch einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand dar. Zudem wird für jede Fallgruppe die Quellenlage skizziert. Der Hauptteil der Studie ist dann in drei aufeinander bezogene Teile untergliedert. Im ersten Teil werden die Repräsentationen in der altgläubigen Flugschriftenliteratur untersucht sowie die praktische Rezeption der Texte. Im zweiten Teil wird die Konstruktion von Differenzen und distinktiven Zugehörigkeiten von Priestern und Laien durch religiöse Rituale und Artefakte diskutiert. Im dritten Teil wird die Herausbildung und gemeinschaftliche Verstetigung altgläubiger Differenz in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension untersucht.

6 Präsentation der Fallstudien 6.1 Östliches Bayern, Regensburg, Passau 6.1.1 Regensburg Die Forschung zur Reformations- und Religionsgeschichte der Stadt Regensburg stammt zu einem größeren Teil aus landes- und lokalgeschichtlicher Feder und bis jüngst mit einem konfessionellen Einschlag.103 Die Eckdaten der Verlaufsgeschichte

103 Sydow, Jürgen: Die Konfessionen in Regensburg zwischen Reformation und Westfälischem Frieden. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte (ZBLG) 23 (1960). S 473–491; Simon, Matthias: Beiträge zum Verhältnis der Konfessionen in der Reichsstadt Regensburg. In: ZBLG 33 (1964). S. 1–33;



6 Präsentation der Fallstudien 

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zur Rezeption und anschließenden strukturellen Einführung der lutherischen Kultur sind zuverlässig erschlossen. Verbunden damit sind auch Untersuchungen zu reformatorischen Praktiken und priesterlichem Lebenswandel in der Diözese Regensburg.104 Immer wieder standen auch die Wallfahrt zur Schönen Maria in Regensburg kurz vor und während der ersten Reformationsjahre im Zentrum von Studien und Bewertungen.105 Im Zuge des Konfessionalisierungsparadigmas wurde die frühe Reformationszeit in der Stadt untersucht, wobei die Differenzierung der Konfessionen nach der Mitte des 16.  Jahrhunderts angesetzt wurde.106 Zudem existiert eine kurze Studie von G. Winkler zum altgläubigen Regensburger Konvent 1524 mit Blick auf den Kontext der religiösen Entwicklungen in der Stadt.107 Für die Zeit des Spätmittelalters liegt von O. Richard eine Studie zur Memoriakultur und urbanen Identität Regensburgs vor.108 Regensburg, die ehemalige Residenzstadt der bayerischen Herzöge, hatte zu Beginn des 16.  Jahrhunderts einen großen Teil seiner mittelalterlichen Bedeutung in Politik, Handel und Kultur verloren. Die Bevölkerungszahlen sind rückläufig. Während im Hochmittelalter ca. 15.000 Menschen in Regensburg lebten, sind es 1436 noch ca. 10.000. Anders als z. B. Ulm schafft es die Freie Stadt im 15.  Jahrhundert nicht, ein Landgebiet zu erwerben. So endet die Stadt tatsächlich an der Stadtmauer. Die Reichsstadt ist in einer prekären, mitunter aber auch zum Vorteil gereichenden Lage, denn sie befindet sich im geographischen und politischen Spannungsfeld zwischen den Wittelsbachern und den Habsburgern. 1486 will sich Regensburg den Ersteren unterstellen. Doch das wird durch Kaiser Friedrich III. verhindert. Er stellt die Stadt unter Reichsbann und zwingt sie 1492 zur Aufgabe ihres bayerischen Vorha-

Trapp, Eugen: Das evangelische Regensburg. In: Geschichte der Stadt Regensburg, Bd. 2. Hrsg. von Peter Schmid. Regensburg 2000. S. 845–862. 104 Lommer, Markus: „Zu Nabpurg uff der cantzl offenlich […] angetast und geschmeht“. Eine Vergegenwärtigung reformatorischer Alltagsrealität im Bistum Regensburg. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg (BGBR) 30 (1996). S. 89–112. 105 Zuletzt befasste sich mit der antijüdischen Funktion der „reinigenden“ sowie resakralisierenden Marienwallfahrt und der Propaganda um die angeblichen Wunder Creasman, Allyson F.: The Virgin Mary against the Jews. Anti-Jewish Polemic in the Pilgrimage to the Schöne Maria of Regensburg, 1519–25, in: Sixteenth Century Journal (SCJ) 33 (2002). S. 963–980. 106 Schmid, Peter: Regensburg. Freie Reichsstadt, Hochstift und Reichsklöster. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 6, Nachträge. Hrsg. von Anton Schindling u. Walter Ziegler. Münster 1996 ((Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 56). S. 36–57. 107 Winkler, Gerhard B.: Der Regensburger Konvent (27. Juni – 7. Juli 1524) und die deutsche Glaubensspaltung. In: Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit, Festgabe für Erwin Iserloh, hg. v. Remigius Bäumer, Paderborn u. a., Schöningh, 1980, 413–425. 108 Richard, Olivier: Mémoires bourgeoises. Memoria et identité urbaine à Ratisbonne à la fin du Moyen Âge. Rennes 2009.

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bens. Regensburg wird wieder unmittelbar, aber die alten Rechte der „freien“ Stadt erlangt sie nicht mehr. Vielmehr installiert der Kaiser einen Reichshauptmann mit weitgehenden Rechten in Bezug auf das städtische Regiment.109 Dadurch wird die Rechts- und Verfassungsstruktur Regensburgs noch komplexer, als sie es bis dahin schon war. Die Herrschaft teilt sich auf zwischen dem Rat, dem Bischof sowie den Reichsstiften St. Emmeram, dem Nieder- und dem Obermünster. Die ökonomische Krise ruft um 1500 immer wieder Unruhen und Aufstände hervor, etwa den der Handwerker 1513/14. Im Zusammenhang der Krise steht auch die Vertreibung der Judengemeinde im Februar 1519. An die Stelle der abgerissenen Synagoge lässt der Rat die Pilgerkapelle zur Schönen Maria bauen. Daraus wird ein Wallfahrtszentrum, das zu Beginn der 1520er-Jahre seine Blütezeit erlebt. Durchschnittlich 23 Messen werden pro Tag an dem rasch wundertätigen und zu offenbar exaltiertem Gruppenverhalten einladenden Ort gesungen.110 Das Hochstift der Bischöfe von Regensburg ist klein und zersplittert. Wie an vielen anderen Orten der Diözese sind teilweise noch die Schäden des Bayerischen Erbfolgekriegs von 1504/05 sicht- und spürbar. Fürstbischof sind Administrator Johann III., Pfalzgraf bei Rhein (1507–1538) und Pankranz von Sinzenhofen (1538–1548). Das finanzschwache Hochstift muss sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zudem bayerischer Versuche einer starken kirchlichen und politischen Vereinnahmung erwehren. Die geistliche und weltliche Administration sowie die Gerichtsbarkeit fallen im vom Bischof geleiteten Hofrat zusammen, der zudem für die Verwaltung des Hochstifts und der Diözese zuständig ist. Das Domkapitel gilt als besonders wichtige kirchenpolitische Größe.111 Die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther wird in der Diözese Regensburg in einer leicht modifizierten Form im Druck verbreitet, wenn auch erst Anfang 1521.112

109 Regensburg wird von einer Freien Stadt zur Reichsstadt, deren enge Abhängigkeit von Habsburg durch den Erbschutzvertrag von 1521 zementiert wird. Vgl. Richard, Mémoires bourgeoises (wie Anm. 108), S. 23–31; Schmid, Regensburg (wie Anm. 106), S. 38–40; Schmid, Herbert: Eine „Freistadt“ wird zur „Gemeinen Reichsstadt“. Regensburg in der Zeit der Reichshauptleute unter Kaiser Maximilian I. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 128 (1988). S. 7–79. 110 Creasman, Virgin Mary (wie Anm. 105), S. 973 f.; Richard, Mémoires bourgeoises (wie Anm. 108), S. 31–50; Schmid, Regensburg (wie Anm. 106). S. 38–41. Den Grundstein für die unvollendete steinerne Kirche legt wahrscheinlich der Regensburger Weihbischof Peter Krafft am 9. September. Vgl. Schottenloher, Karl (Hrsg.): Tagebuchaufzeichnungen des Regensburger Weihbischofs Dr. Peter Krafft von 1500–1530. Münster 1920 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 37). S. 36 f. Zur Chronologie der Baugeschichte vgl. Creasman, Virgin Mary (wie Anm. 105), S. 973, 979. 111 Schmid, Regensburg (wie Anm. 106), S. 41 f.; Albrecht, Dieter: Die Hochstifte. In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 3,3, Geschichte der Oberpfalz und des bayerischen Reichskreises bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Andreas Kraus. München3 1995. S 236–270, hier S. 246–248. 112 Kohnle, Armin: Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden. Gütersloh 2001 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 72). S. 74.



6 Präsentation der Fallstudien 

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Die Rezeption evangelischer Wissensordnungen wird von der Forschung meist auf das Jahr 1522 angesetzt. Da finden im Haus eines „Blabhans“ Lektüren des Evangeliums und lutherischer Texte statt. In der Folge kommt es zu Konflikten zwischen „Blabhans“, dem Krämer Hans von Rostock und dem Domprediger Augustinus Marius über die Sprache der Messe und die Beichtpraxis. Bistumsadministrator Johann fordert vom Regensburger Rat, die Lutherischen zu bestrafen. „Blabhans“ muss daraufhin die Stadt verlassen und Hans von Rostock wird inhaftiert.113 Zum 1. Januar 1524 stellt der Rat den evangelischen Juristen Johann Hiltner als Berater an. Kurz darauf treten erste Differenzen bei den religiösen Praktiken auf. Zu Fronleichnam 1525 unterbleibt die traditionelle Prozession, bei der die Stadt umkreist wurde. Ab 1526 duldet der Rat die lutherische Kommunionspraxis in Privatkapellen. Als jedoch zwei Augustinermönche beginnen, lutherisch zu predigen und dies zu Auseinandersetzungen in der Bevölkerung und mit den Repräsentanten des Bischofs führt, werden die Prediger 1534 auf Druck von Erzherzog Ferdinand ausgewiesen. Auch in der Folge üben Bayern und Habsburg Druck aus, um die weitere Öffnung der Stadt für evangelische Praktiken und Predigten zu verhindern. Der Rat ist somit zur Vorsicht und bis zum Ende der 1530er-Jahre mindestens um eine Art Neutralität und Ausgleich bemüht. Auch reichspolitisch unterstützt die Stadt weder die Protestatio von 1529 noch die Confessio Augustana und schließt sich auch nicht dem Schmalkaldischen Bund an. Die Entscheidung zum offenbaren Bruch mit der alten Kirche fällt im Jahr 1541 im Kontext des in Regensburg stattfindenden Reichstags und der Religionsgespräche. Während des Reichstags halten protestantische Fürsten in ihren Unterkünften evangelische Abendmahlfeiern und Predigten ab, zu denen die Bürger in großer Zahl kommen. Evangelische Religionskulturen verbreiten und vertiefen sich in der Stadt. Im Dezember 1541 installiert der Rat einen evangelischen Prediger, Erasmus Zoller, in der Kirche zur Schönen Maria. Am 13. Oktober 1542 fasst der Rat dann den Beschluss zur Durchführung lutherisch-reformatorischer Maßnahmen. Zwei Tage später findet in der Marienkirche die erste öffentliche Abendmahlsfeier sub utraque specie statt. In der Dominikanerkirche finden ein Beichtgottesdienst und eine reformatorische Predigt statt.114 Seit Mitte der 1520er-Jahre treten in Regensburg zudem Priester und Laien mit täuferischen Ideen und Kulturformen auf.115 Als Quellen aus dem Stadtarchiv Regensburg und dem Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg werden Korrespondenzen des Rats mit Institutionen oder Personen

113 Trapp, Evangelisches Regensburg (wie Anm. 103), S. 845 f. 114 Trotz bayerischen Drucks in Form einer dreieinhalbjährigen Wirtschaftsblockade ab November 1542 treibt die städtische Obrigkeit den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens, wenngleich vorsichtig, bis zum Schmalkaldischen Krieg und dem Interim voran. Schmid, Regensburg (wie Anm. 106). S. 43 f.; Trapp, Evangelisches Regensburg (wie Anm. 103). S. 845–848. 115 Pohl, Rüdiger: Die „gegenreformatorische“ Politik der bayerischen Herzöge 1522–1528, unter besonderer Berücksichtigung der Bauern- und Wiedertäuferbewegung. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns im 16. Jahrhundert. Erlangen/Nürnberg 1972. S. 207 f.

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 Einleitung

innerhalb der Stadt sowie religionspolitische Korrespondenzen der Fürstbischöfe u. a. mit König Ferdinand oder den Bayernherzögen ausgewertet. Darüber hinaus werden Mandate, Verhöre und Entscheide des Rats in religiösen Streitsachen untersucht. Außerdem ziehe ich die Tagebuchnotizen des Regensburger Weihbischofs Peter Krafft (ca. 1470–1530) aus den Jahren 1500–1530 zur Untersuchung heran.116 Schließlich studiere ich zwei ausführliche Visitationsberichte aus der Diözese Regensburg. Diese wurden in den Jahren 1508 und 1526 durchgeführt und bieten eine gute Möglichkeit für einen Vergleich der Befunde vor und nach dem Eindringen reformatorischer Ideen und Kulturformen.117 6.1.2 Passau Stadt und Hochstift Passau waren Gegenstand einer weniger umfangreichen Historiographie als Regensburg. So liegt eine Dissertation über die evangelische Bewegung in der Stadt und den herzoglich-bayerischen Gebieten der Diözese Passau im 16. Jahrhundert von B. Kaff aus dem Jahr 1977 vor.118 Die Autorin nimmt für sich eine mentalitätsgeschichtliche Herangehensweise in Anspruch und arbeitet mit Statistiken, etwa was die Zahlen der Täufer und Lutherischen sowie deren sozialen Hintergrund anbelangt. Allerdings muss sich Kaff chronologische Fehler, die ich gleich aufarbeiten werde, vorwerfen lassen. Grundzüge der Verlaufs- und Herrschaftsgeschichte im Hochstift Passau sind weiterhin im Zuge der Konfessionalisierungsforschung beleuchtet worden.119 Auch die Täufer Passaus haben das Interesse der Wissenschaft geweckt.120 Von Bedeutung für diese Studie sind nicht zuletzt ritualgeschichtliche Beiträge über die Stadt.121 Auch die katholisch-landeskirchengeschichtliche Richtung

116 Schottenloher, Tagebuchaufzeichnungen (wie Anm. 110). 117 Mai, Paul u. Popp, Marianne (Hrsg.): Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1508. In: BGBR 18 (1984). S. 7–316; Mai, Paul (Hrsg.): Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1526. In: BGBR 21 (1987). S. 25–314. 118 Kaff, Brigitte: Volksreligion und Landeskirche. Die evangelische Bewegung im bayerischen Teil der Diözese Passau, München 1977 (Miscellanea Bavarica Monacensia 69). 119 Lanzinner, Maximilian: Passau. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 6, Nachträge. Hrsg. von Anton Schindling u. Walter Ziegler, Münster 1996 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 56). S. 58–77. 120 Wiedemann, Hans: Die Wiedertäufergemeinde in Passau 1527–1535. In: Ostbairische Grenzmarken (OG) 6 (1962/63). S. 262–276. 121 Karnowka, Georg-Hubertus: Die Feier der Karwoche und des Ostersonntags in der Passauer Domkirche im 15. und 16. Jahrhundert. In: OG 13 (1971). S. 91–105; Zika, Charles: Hosts, Processions and Pilgrimages. Controlling the Sacred in Fifteenth-Century Germany. In: Past and Present 118 (1988). S. 25–64. Der Autor behandelt ein Hostienwunder in der Nähe von Passu und den rituellen Überbau, den dieses durch den Gemeinen Mann erhält. Dabei handelt es sich um die einzige hier relevante nicht-landesgeschichtliche Studie.



6 Präsentation der Fallstudien 

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steuerte Beiträge bei. So versuchte sich J. Schachtl an der Reformationsgeschichte in der Reichsgrafschaft Ortenburg, die etwa 20 km von Passau entfernt liegt.122 Das Hochstift Passau ist wie das Hochstift Regensburg ein geistliches reichsunmittelbares Territorium, das die Stadt Passau und teilweise exklavierte Gebiete nördlich der Donau sowie südlich und östlich der Stadt enthält. Die Jurisdiktion und Verwaltung ist unterteilt in das Landgericht der Abtei, sechs Pfleggerichte, die drei Stadtgedinge in Passau, das Rent- und Waldgütleramt und die Herrschaft Riedenburg. Die Passauer Landstände setzen sich zusammen aus der Ritterkurie (Adel des Hochstifts und einige Adelige aus dem Herzogtum Bayern), der Prälatenkurie (Domkapitel und Vertreter des Regularklerus) und der Städtekurie, d. h. der Stadt Passau sowie einigen Märkten.123 Die Diözese Passau, geographisch mit ca. 42.000 km2 und 900 Pfarreien die größte des Alten Reichs, erstreckt sich über den östlichen Teil Niederbayerns, Ober- und Niederösterreich bis in den Umkreis von Wien und einen Teil des Salzkammerguts.124 Kirchenpolitisch changiert das Stift Passau zwischen Habsburg und Wittelsbach, wobei sich spätestens ab Ende des 16. Jahrhunderts die Dominanz der Ersteren durchsetzt. In der Forschung wird allerdings herausgestellt, dass das Hochstift Passau nie – anders als Regensburg bezüglich der Wittelsbacher – zu einer Art Sekundogenitur der Habsburger wurde.125 In der Stadt Passau, die in der Folge im Zentrum stehen wird, leben gegen Ende des 16. Jahrhunderts etwa 5.000 Menschen. Etwa die Hälfte der Bewohner besitzt das Bürgerrecht, die andere Hälfte wird als Einwohner bezeichnet, die nicht dem städtischen, sondern dem bischöflichen Richter unterstehen. Die Stadt konnte im Spätmittelalter, anders als Regensburg und Ulm, keine freistädtische Selbstverwaltung erlangen. Der Bischof muss der Aufnahme ins Bürgerrecht sowie der Ernennung von Ratsmitgliedern und Bürgermeistern zustimmen. Er setzte zudem den Stadtrichter ein. Repräsentanten des Bischofs nehmen an allen Sitzungen des Rats teil.126 Da der ereignisgeschichtliche Kontext und somit auch wesentliche Element des Raums der religionskulturellen Möglichkeiten in Passau mangelhaft bekannt sind, soll in der Folge eine etwas ausführlichere Chronologie der Reformationszeit erarbeitet werden. Die Forschung setzt die nachweisbare Rezeption evangelischer Wis-

122 Schachtl, Johann: Glaubensweisen und Lebensformen. Die Konfessionalisierung im ostbayerischen Raum im 16. und frühen 17. Jahrhundert, aufgezeigt am Beispiel der Reichsgrafschaft Ortenburg und ihrer bayerischen Lehensgebiete. Innsbruck/Wien 2009 (Salzburger Theologische Studien 35). 123 Albrecht, Hochstifte (wie Anm. 111), S. 252–254. 124 Seit dem 14. Jahrhundert verfestigt sich die verwaltungsmäßige Zweiteilung der großen Diözese in das Offizialat unter der Enns (für Niederösterreich) und das Offizialat ob der Enns für das übrige Gebiet, also auch den bayerischen Teil und das Hochstift. Albrecht, Hochstifte (wie Anm. 111), S. 255 f.; Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 1. 125 Albrecht, Hochstifte (wie Anm. 111), S. 256 f. 126 Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 6–8; Rublack, Gescheiterte Reformation (wie Anm. 51), S. 116 f.

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sensordnungen spätestens mit dem Jahr 1522 an. Stiftsprediger Johannes Pfeffinger hält lutherische Predigten und verlässt deshalb 1523 die Stadt.127 Ob die Bannandrohungsbulle veröffentlicht wird, ist unklar.128 Kaff datiert das erste Mandat von Administrator Ernst von Bayern (1517–1540) auf das Jahr 1524. Dabei verwechselt sie das Mandat von 1523 mit dem von 1526 und übersieht ein noch früheres, in der Forschung bisher unbekanntes Mandat aus dem Jahr 1522.129 Dieses ist auf den 29. Juli datiert und wendet sich gegen Bücher mit Kritik und „Lästereien“ gegen die Obrigkeit und irrige Artikel über den Glauben.130 Am 23. Mai 1523 publiziert Ernst ein zweites Mandat, das im Wesentlichen das kaiserliche Mandat nach dem Nürnberger Reichstag verkündet. Darin wird bestimmt, dass bis zum Konzil die Prädikanten nur gemäß dem Evangelium nach der alten kirchlichen Auslegung und ohne Aufruhr zu schüren predigen dürfen. Das müsse die Obrigkeit überwachen, ebenso wie die Zensur gedruckter Bücher. Schließlich werden Maßnahmen gegen die Priesterheirat und das Auslaufen aus Klöstern verkündet.131 Ein präziser auf die örtlichen Verhältnisse zugeschnittenes Mandat ergeht an die Stadt Passau am 10. März 1526. Allerdings betont Ernst im Text, dass das Mandat überall dort gelte, wo er zu gebieten hat. Der Administrator verweist auf die bisher ergangenen päpstlichen Bullen, kaiserlichen Edikte und die Edikte der Reichstage, die er veröffentlicht habe.132 Besonders weißt er auf die Beschlüsse des Regensburger Konvents hin. Da sich dennoch an vielen Orten im Reich Irrtümer und Spaltungen ergeben hätten, befielt er die Beibehaltung der alten Messe mit der Kommunion sub una specie bei vorheriger Beichte und verbietet den Druck und die Verbreitung evangelischer Schriften. Die Strafen für Verstöße gegen die Zensurordnung, Fastenbrechen und die vorgeschriebene Beicht- und Kommunionspraxis werden bekräftigt, ebenso die Maßnahmen gegen abtrünnige Kleriker, denen niemand Hilfe oder Wohnung geben dürfe. Die in Regensburg beschlossenen Reformen sollen zügig realisiert werden.133 Ein weiteres Mandat erlässt Ernst im März 1527.134 Dieses ist an die Stadt Passau adressiert, wobei wieder im weiteren Textverlauf hinzugefügt wird,

127 Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 12. Pfeffinger studiert daraufhin in Wittenberg und wird einer der Reformatoren Leipzigs. 128 Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 70 f. 129 Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 13. Somit sind auch bisherige Annahmen hinfällig, die sich allerdings meist auf Kaffs Arbeit stützten, dass 1524 das Jahr der religionspolitischen Wende in Passau sei. Vgl. Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 326. 130 Da die Bücher zu Unruhe und Zweifel beim gemeinen führen würden und erste Folgen im Abfall von jahrhundertalten religiösen Brauchtümern zu beobachten seien, verbietet der Administrator in Stadt und Hochstift Passau den Besitz und den Verkauf dieser Bücher. Archiv des Bistums Passau (ABP), OA Gen., 1113, Bl. 5r. 131 ABP, OA Gen., 4884, S. 35–38. 132 ABP, OA Gen., 4884, S. 40. 133 ABP, OA Gen., 4884, S. 39–50. 134 Ein kurzer Hinweis ohne weitere Diskussion und Nennung des exakten Datums bei Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 14.



6 Präsentation der Fallstudien 

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dass das Mandat für alle Untertanen gelte, über die Ernst zu gebieten hat. Inhaltlich erneuert der Administrator die Bestimmungen des Mandats aus dem Vorjahr.135 Die beiden Mandate während der Fastenzeit 1526 und 1527 richten sich sowohl gegen die unter Strafe gestellten Praktiken als auch explizit gegen lutherischen Praxisgemeinschaften. Das ändert sich mit einem weiteren Mandat vom 28. März 1528, das zwar zentrale Elemente der Vorgängertexte – Beichte, Fasten, Osterkommunion und Zensurbestimmungen  – beibehält, sich aber explizit gegen die Täufer richtet. Das Mandat ist an die Stadt Passau adressiert. Die Täufergruppen, die sich in Passau während des Jahres 1527 gebildet haben, stellt Ernst hier als eine Folge der bereits existierenden lutherischen Lehren einerseits und andererseits der Einflüsse von fremden Predigern und Vorstehern dar.136 Die Obrigkeit entdeckt die Gruppe im Januar 1528 durch die Aussage eines in Bayern verhafteten und verhörten Täufers. Der Stadtrichter leitet sofort Untersuchungen ein, in deren Folge bis Ende des Monats 33 Täufer verhaftet werden. 24 Täufer widerrufen und werden begnadigt. Mindestens vier werden wahrscheinlich verbrannt.137 B. Kaff verweist noch auf ein weiteres Mandat des Administrators vom März 1529, in dem die Untertanen erneut zur zweimaligen Beichte und Kommunion zu Ostern ermahnt werden.138 Ich stütze mich in der Folge vor allem auf die Quellenüberlieferung aus dem Archiv des Bistums Passau. Ich werte Mandate und Anordnung von Administrator Ernst und dessen Räten aus sowie Korrespondenzen mit anderen Bischöfen der Salzburger Kirchenprovinz, mit Erzherzog Ferdinand und Herzog Wilhelm IV. von Bayern. Schließlich finden sich Dokumente, die den Streit über die Kommunionspraxis verdeutlichen sowie Listen, Berichte und Gutachten über erlaubte und verbotene Bücher. 6.1.3 Ostbayern Die östlichen Gebiete des Herzogtums Bayern, d. h. die östlich der Line RegensburgLandshut-Altötting gelegenen Gebiete bis zur böhmischen Grenze bzw. bis zum Hochstift Passau, bilden den dritten Teil der ersten Fallgruppe. Wenig überraschen dürfte,

135 ABP, OA Gen., 2107, S. 7–14. 136 Vgl. Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 29. Allerdings gibt die Autorin als Fundstelle ABP, OA Gen., 4884, Nr. 4 an. Tatsächlich lautet die Ziffer der alten Nummerierung 48. Ich beziehe mich auf die Seitenzahlen aus dem 20. Jahrhundert: ABP, OA Gen., 4884, S. 67–74. 137 Vgl. zu den Passauer Wiedertäufern Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 22– 29. Ernst geht in seinem Mandat vom März 1528 jedoch von der Fortexistenz von proselytierenden Täufern aus. Deshalb erneuert er die vorherigen Mandate über evangelische Schriften, Fastengebote, Beichte und Osterkommunion sub una specie. Dann geht der Administrator auf die täuferischen Kulturformen ein. Er verbietet die Wiedertaufe in Stadt und Hochstift unter schwerer Strafandrohung und verbietet die Unterstützung und den Kontakt mit den Täufern. Dadurch verschärft sich auch die Kriminalisierung der Lutherischen. Wer einen der Vorsteher anzeigt, soll eine hohe Geldbelohnung erhalten. ABP, OA Gen., 4884, S. 67–74. 138 Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 30.

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dass die bayerische Religionsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war. Zum einen mangelt es nicht an historischen Abrissen und verlaufsgeschichtlichen Überblicken,139 die jedoch in ihrer landesgeschichtlichen Verankerung vielfach katholisch-konfessionell eingefärbt sind.140 B. Kaff trägt mit ihrer bereits diskutierten Studie über Passau zur Identifizierung geographischer Schwerpunkte und zur Kenntnis der religionspolitischen Interaktion zwischen den bischöflichen und herzoglichen Obrigkeiten sowie Verwaltungs- und Jurisdiktionsstrukturen bei. Auch die evangelischen Bewegungen in Niederbayern waren Gegenstand des Forschungsinteresses.141 Weiterhin war die Veränderung der Taufnamen unter konfessionellen Vorzeichen ein aufschlussreiches Studienobjekt.142 Ältere und neuere Biographien, die religionsgeschichtlich von Bedeutung sind, liegen zu Personen aus dem Umfeld des Münchner Hofs vor.143 Gleiches gilt für bayerische Kontroverstheologen und Flugschriftenautoren.144

139 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115); Lutz, Heinrich u. Ziegler, Walter: Das konfessionelle Zeitalter. Erster Teil, Die Herzöge Wilhelm IV. und Albrecht V. In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 2, Das Alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12.  Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Andreas Kraus. München 1988. 2. Aufl. S. 324–392; Ziegler, Walter: Bayern. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 1, Der Südosten. Hrsg. von Anton Schindling u. Walter Ziegler, Münster 1989 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 49). S. 56–70. 140 Ein gutes Beispiel dafür liefert die vielsagende Tonlage von H. Lutz und W. Ziegler, die mit Blick auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts eine „tiefgreifende Verschlechterung der religiösen Situation, ja eine Ausblutung der alten Kirche […], und zwar überall in Deutschland“ diagnostizieren. Lutz/ Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 339 f. 141 Markmiller, Fritz: „Als es zu Dingolfing gut lutherisch war“. Niederbayerische Pfarreien des Isar-, Vils-, Kollbach-, Bina- und Aitrachtals im Reformationszeitalter. In: BGBR 33 (1999). S. 99–372. 142 Sargent, Steven D.: Saints’ Cults and Naming Patterns in Bavaria, 1400–1600. In: Catholic Historical Review (CHR) 76 (1990). S. 673–697. 143 U. a. Metzger, Edelgard: Leonhard von Eck (1480–1550). Wegbereiter und Begründer des frühabsolutistischen Bayern. München 1980; Paulus, Nikolaus: Christoph von Schwarzenberg. Ein katholischer Schriftsteller und Staatsmann des 16. Jahrhunderts. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 111 (1893). S. 10–32; Paulus, Nikolaus: Biographische Nachträge zu Christoph von Schwarzenberg, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 112 (1893). S. 144–154. 144 In Auswahl sei hier verwiesen auf Fink-Lang, Monika: Kilian Leib (1471–1553). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 5. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1988 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 48). S. 88–96; Iserloh, Erwin: Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe. Münster 1981 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 41); Iserloh, Erwin: Kaspar Schatzgeyer (1463–1527). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 56–63; Zoepfl, Friedrich: Der Luthergegner Johannes Eckart. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte (ZbKG) 30 (1961). S. 33–37.



6 Präsentation der Fallstudien 

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Die Einwohnerzahl Bayerns wurde auf ca. 800.000 Menschen geschätzt. Seit 1503 ist das Herzogtum geeint.145 Als Jahr der endgültigen Vereinigung von Ober- und Niederbayern gilt 1506, mit dem ersten gemeinsamen Landtag. Das Herzogtum ist aufgeteilt in vier Verwaltungsbezirke, die von einem adeligen Viztum und einem Regierungskanzler geleitet werden. Das Regierungskollegium wird durch den Rentmeister und die Regierungsräte vervollständigt. Die Verwaltungs- und Regierungsstruktur läuft bei den Herzögen, deren Kanzlei und den Hofräten zusammen. Auf lokaler Ebene verfügen adelige und geistliche Hofmarken sowie Städte und Märkte über verschiedene Justiz- und Verwaltungsrechte, etwa die niedere Gerichtsbarkeit.146 Die Verflechtungen der herzoglichen Territorien mit den Diözesen und Stiften Regensburg und Passau sind vielfältig. Die Diözesen erstrecken sich über bayerisches Territorium, auf dem die bischöflichen Instanzen aber meist nur geringe und mitunter nur noch theoretische Rechte und Aufgaben haben, etwa die geistliche Gerichtsbarkeit, Visitationen oder diverse Rechte bei Pfründenbesetzungen. Die bayerischen Herzöge versuchen, geistliche Rechte vermittels päpstlicher Privilegien an sich zu bringen und verfügen über ein gut ausgebautes Landeskirchensystem. Andererseits waren es in der hier behandelten Zeit meist Wittelsbacher, welche die beiden Bistümer leiteten. So ist in Regensburg Johann von der Pfalz Administrator und in Passau Herzog Ernst, der jüngere Bruder von Wilhelm und Ludwig.147 Dies sorgt für eine  – wenngleich fragile – politische und familiäre Kohärenz, welche die Zusammenfassung der drei Teilstudien in einer Fallgruppe rechtfertigt. Die evangelische Bewegung tritt auch in Bayern auf, erlangt aber nie dieselbe Breite und Verwurzelung wie etwa in Ulm oder auch in Ostwestfalen. Dies verleitete H. Lutz und W. Ziegler dazu, von einem „Überspringen der Reformationsepoche in Bayern“148 zu sprechen. Maßgeblich für die angebliche Bruchlosigkeit des Katholizismus sei in Bayern die Politik der Staatsmacht gewesen.149 Wie anderswo verlassen auch in Bayern seit 1519 lutherische Schriften die Druckereien, etwa in München, Ingolstadt und Landshut.150 Bis zu Beginn der 1520er-Jahre kommen von den geistlichen und weltlichen Obrigkeiten aber fast keine Maßnahmen, um die weitere Rezeption der lutherischen Kultur zu verhindern. Die Universität

145 Schachtl, Glaubensweisen und Lebensformen (wie Anm. 122), S. 48; Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 11–13. 146 Zu den genauen Funktionen der Regierungsträger sowie deren Verwaltungen und Funktionären vgl. Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 14–19. 147 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 23 f., 79–82. 148 Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 339. 149 Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 342. Die Autoren versteigen sich zu der Annahme, dass ein zeitlich ungebrochener Katholizismus sozusagen in den bayerischen Genen liege: „Vielmehr hat die Haltung Bayerns durchaus überpersönliche Züge, sie ist im Selbstverständnis und der Tradition des Herzogtums grundgelegt.“ (345). 150 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 32 f.

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 Einleitung

Ingolstadt sowie die Bischöfe von Augsburg, Eichstätt und Passau warten zunächst mit der Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle.151 Wilhelm IV. und Ludwig X. beziehen bis Anfang 1522 keine dezidierte Position zu Luther. Vielmehr schreiben sie noch im März 1521 an die umliegenden Bischöfe und Administratoren, stellen sich dabei gegen eine konsequente Umsetzung der Bulle und drängen zu einer abwartenden Haltung.152 Auf dem Wormser Reichstag lässt sich in den Berichten von Ludwig X. auch kein grundlegender Positionswechsel erkennen.153 Der setzt bei den bayerischen Herzögen nach dem Erlass des Wormser Edikts ein, das in den großen Städten des Herzogtums publiziert wird.154 Leonhard von Eck, Hofrat und enger Berater von Wilhelm IV., gilt als eine der treibenden Persönlichkeiten hinter den religionspolitischen Positionierungen.155 Der Grund für diese Neuorientierung liegt laut R. Pohl in den politischen und sozialen Verwerfungen, welche die Herzöge durch die Lutherischen fürchten.156 Anfang Februar 1522 treffen sich die Herzöge im Schloss Grünwald bei München, um über den weiteren Umgang mit Luther, den Evangelischen und deren Lehren in Bayern zu beraten. In der Forschung gilt dieses Treffen als Geburtsstunde der antievangelischen bayerischen Gesetzgebung.157 Auf dieser Grundlage wird am 5. März 1522 das erste antilutherische Mandat verfasst, das kurz darauf gedruckt und publiziert wird. Es handelt sich zwar nicht um das erste derartige Mandat eines Reichsstandes, doch der namentliche Bezug auf die päpstliche Bulle und das Wormser Edikt stellen eine Premiere im Reich dar.158 Für eine nachhaltigere Durchsetzung ihrer antilutherischen Haltung verfassen die Herzöge am

151 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 35 f. 152 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 38–41; Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 342. 153 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 41 f. 154 Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 138. 155 Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 343, 345; Kopfmann, Klaus (Hrsg.): Die Religionsmandate des Herzogtums Bayern in der Reformationszeit (1522–1531). Edition mit Einleitung und Kommentar. München 2000 (Quellentexte zur bayerischen Geschichte 1). S. 16 f. 156 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 44. Siehe allgemeiner zu den mutmaßlichen Gründen der Herzöge und den damit verbundenen Reformanstrengungen, die für Pohl den Begriff „Gegenreformation“ mit definieren ebd. S. 44–49. Zur Rolle von Leonhard von Eck vgl. ebd., S. 59–64. 157 Wilhelm und Ludwig beschließen den baldigen Erlass eines Mandats und wollen auf die Einberufung einer Provinzialsynode drängen. Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 53 f.; Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 345; Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 19; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 139 f. 158 Zum Inhalt des Märzmandats 1522, das besonders auf politische und soziale Zusammenhänge der evangelischen Bewegung abhebt, vgl. Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), 54–58; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 142–144; Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 345 f. Insbesondere sei auf die hervorragende Darstellung, v. a. im Hinblick auf die Entstehung des Mandats, bei Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 19–21, hingewiesen.



6 Präsentation der Fallstudien 

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25. Februar 1523 eine Ermahnung an die zuständigen Herrschaftsinstanzen.159 Allerdings sind die Tonlage und die Härte der Implementierung zu Beginn der 1520er-Jahre recht moderat.160 In der Folge kommt es besonders an der Universität Ingolstadt zu Verhaftungen und Prozessen gegen Lutherische, darunter im durch die zeitgenössische Publizistik bekannt gewordenen Fall des Magister Arsacius Seehofer.161 Die erste Hinrichtung ist im Juli 1524 in München zu verzeichnen.162 Seit 1524 müssen alle in Bayern veröffentlichten Bücher vor dem Druck von Zensoren genehmigt werden.163 Am 2. Oktober 1524 erlassen die Herzöge als Folge des Regensburger Konvents drei Verordnungen, die in einem Libell zusammengefasst sind: das „Lanndpot“, das gemeinhin als das zweite antilutherische Mandat auf der Basis der Regensburger Einung gilt, das Wormser Edikt und die in Regensburg beschlossene Reformordnung. Das Mandat besteht aus einer Präzisierung und Verschärfung der bisherigen antilutherischen Politik der Herzöge.164 Eine Verschärfung des praktischen Vorgehens gegen Lutherische ist aber nur bedingt festzustellen. Aus der Zeit zwischen 1525 und 1527 sind nur wenige Maßnahmen gegen Evangelische bekannt.165 Für Aufsehen sorgt aber der Fall des Lutherischen Leonhard Käser, der 1527 auf Befehl von Herzog Wilhelm verbrannt wird.166 Die Verfolgung der Täufer erreicht ihren Höhepunkt während der Jahre 1527 und 1528. Die größte Täufergemeinde etabliert sich in München. Die Folgen für überführte Täufer sind, sofern sie nicht widerrufen: Verbannung, Geld- oder Freiheitsstrafen und in vielen Fällen der Tod. Viele Täufer wandern aus Bayern aus.167 Grundlage der inten-

159 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 59. 160 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 21. 161 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 83–86; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 145. 162 Ein unbekannter Bäckerknecht soll die Jungfrau öffentlich verspottet haben. Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 88; Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 21 f. 163 Creasman, Allyson F.: Censorship and Civic Order in Reformation Germany, 1517–1648. ‚Printed Poison & Evil Talk‘. Farnham 2012 (St. Andrews Studies in Reformation History). S. 58. 164 Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 348; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 243; Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 99–105. Laut Pohl dominieren auch in diesem Mandat wieder die sozialen und politischen Motivationen und Herausforderungen über die religiösen. Eine gute Übersicht über die Genese der drei Textelemente des Mandats liefert Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums, 28–33. Ein Druck des „Lanndpot“ wird auch Administrator Ernst bzw. dessen Hof in Passau zugestellt und findet sich heute im ABP, OA Gen., 4884, S. 25–31. 165 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 199–202. 166 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 202 f.; Kaff, Volksreligion und Landeskirche (wie Anm. 118), S. 15–17. 167 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 209–222; Lutz/Ziegler, Herzöge (wie Anm. 139), S. 349 f.

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siven Verfolgungswellen ist das Täufermandat vom 13. November 1527.168 Pohl geht von einer großen Durchschlagskraft der Aktion aus: „Nach den bisherigen Quellenbelegen scheint das Jahr 1528 der bedeutendste Einschnitt für alle reformatorischen Bewegungen in Bayern gewesen zu sein. Seit diesen Jahren hört man von neukirchlichen Regungen nur noch wenige Einzelberichte.“169 Im April 1530 erscheint ein zweites Täufermandat.170 Das dritte bayerische Religionsmandat geht auf die Präsenz einiger Täufergemeinden im Herzogtum sowie auf den antievangelischen Abschied des Augsburger Reichstags von 1530 zurück. Das Mandat wird am 19. Mai 1531 erlassen. Es wendet sich gegen alle Abweichungen vom alten Glauben und wird umfassend und flächendeckend verkündet.171 Die Forschung geht allgemein von einer großen Durchschlagskraft der bayerischen Gesetzgebung aus. Bis Ende der 1520erJahre werden in Bayern zwischen 70 und 100 Täuferinnen und Täufer hingerichtet. Genaue Zahlen für Lutherische liegen nicht vor.172 Ich verwende zur Untersuchung der ostbayerischen Gebiete zum einen Dokumente aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München. Die Religionspolitik der bayerischen Herzöge wird aus Korrespondenzen mit lokalen Amtleuten, deren Berichten, diversen Entscheiden der Obrigkeit sowie Dokumenten zu konkreten Fällen des Vorgehens gegen Evangelische ersichtlich. Die Einstellung der Herzöge und der politischen Führung in München gegenüber auswärtigen Städten mit starken evangelischen Bewegungen – etwa Ulm und Regensburg – wird in einem weiteren, ausführlichen Bestand an Korrespondenzen deutlich. Zudem werden die persönlichen Aufzeichnungen des Regensburger Weihbischofs Peter Krafft zur Untersuchung herangezogen.173 Außerdem sind die „Diarien“ von Kilian Leib, dem Prior des Augustiner-Chorherrenstifts Rebdorf, von großem Interesse.174 Ediert in den Acta Reformationis Catholicae sind zentrale Dokumente zur Kirchen- und Reformpolitik der weltlichen und geistlichen Obrigkeiten in der Salzburger Kirchenprovinz während der

168 Vgl. dazu ausführlicher Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 226–228; Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 39–41; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 311 f. 169 Pohl, Gegenreformatorische Politik (wie Anm. 115), S. 236 f. Ähnlich im Urteil ist Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 39. 170 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 44 f. 171 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 45–48; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 409 f. 172 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 45. 173 Schottenloher, Tagebuchaufzeichnungen (wie Anm. 110). 174 Da Leib immer wieder über Ereignisse aus entfernteren Teilen Bayerns berichtet und an einer Stelle relevante Einblicke in die Ulmer Religionsgeschichte bietet, ist die Aufnahme in die Studie zu rechtfertigen. Schlecht, Joseph (Hrsg.): Kilian Leibs Briefwechsel und Diarien. Münster 1909 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 7).



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1520er- und 1530er-Jahre.175 Schließlich sind auch die bereits erwähnten Visitationen der Diözese Regensburg, sofern sie auf bayerischem Gebiet stattfinden, von Interesse.

6.2 Ulm Trotz des Reichtums der Ulmer Reformationsgeschichte nimmt sich deren Erforschung bislang vergleichsweise gering aus. Die neuere Historiographie beginnt während der 1930er -ahre mit den Studien des evangelischen Stadtpfarrers J. Endriss. Dessen Arbeit ist von einem apologetischen und obrigkeitsfrömmelnden Ton geprägt, sowohl in der Beurteilung der evangelischen Veränderungen als auch bezüglich des altgläubigen Widerstands. Nichtsdestotrotz sind die heimatgeschichtlichen Arbeiten des Pfarrers bis heute recht zuverlässige und bei der Orientierung im Quellenbestand hilfreiche Referenzen. Zu nennen sind insbesondere die Monographie zur Ulmer Abstimmung über die Einführung der Reformation 1530176 und die Edition der Synodal- und Visitationsakten.177 Die 1970er-Jahre stellen eine zweite, intensive Phase der Beschäftigung mit der Ulmer Religionsgeschichte der Reformationszeit dar, die sich v. a. auf das Territorium der Reichsstadt konzentriert. Darunter fallen die Monographien von P. Hofer zur strukturellen Durchführung der Reformation sowie von E. Trostel über das Kirchengut.178 Nach wie vor fehlt aber eine moderne, umfassende Monographie zur Reformation in der Reichsstadt selbst.179 Den dortigen Altgläubigen widmeten sich in den 1970er-Jahren die Arbeiten von P. T. Lang. In diesen liegt der Schwerpunkt allerdings auf der Zeit nach 1548, als in Ulm die konfessionelle Minderheit der Katholiken erstmals einen – wenngleich auch prekären – rechtlichen Status erlangte und an verschiedenen Orten Messen gesungen werden durften.180 Philip Hahn hat jüngst

175 Pfeilschifter, Georg (Hrsg.): Acta Reformationis Catholicae. Ecclesiam Germaniae Concernentia Saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570. Bd. 1, 1520 bis 1532. Regensburg 1959; Pfeilschifter, Georg (Hrsg.): Acta Reformationis Catholicae. Ecclesiam Germaniae Concernentia Saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570. Bd. 2, 1532 bis 1542. Regensburg 1960. 176 Endriss, Julius: Die Abstimmung der Ulmer Bürgerschaft vom November 1530. Ulm [1931]. 177 Endriss, Julius: Die Ulmer Synoden und Visitationen der Jahre 1531–47. Ein Stück Kirchen- und Kulturgeschichte. Ulm 1935. 178 Hofer, Paul: Die Reformation im Ulmer Landgebiet. Religiöse, wirtschaftliche und soziale Aspekte. Tübingen 1977; Trostel, Eugen: Das Kirchengut im Ulmer Territorium unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Geislingen. Eine Untersuchung der Verhältnisse vor und nach der Reformation. Stuttgart 1976 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 15). 179 Am aktuellsten ist der lokalgeschichtlich gefärbte Ausstellungskatalog mit Quelleneditionen von Specker, Hans Eugen u. Weig, Gebhard (Hrsg.): Die Einführung der Reformation in Ulm. Stuttgart 1981 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm. Reihe Dokumentation 2). 180 Lang, Peter Thaddäus: Die Ulmer Katholiken im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Lebensbedingungen einer konfessionellen Minderheit. Franfurt am Main/Bern 1977 (Europäische Hochschulschriften.

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die akustischen, visuellen und sensorischen Veränderungen des Ulmer Münsters und dessen Wahrnehmung im Reformationszeitalter untersucht.181 Ulm hat sich im Spätmittelalter zu einem Zentrum von Wirtschaft und Handel und einer politischen, religiösen und kulturellen Größe in Oberschwaben entwickelt.182 Gelegen in der Diözese Konstanz, konnte sich die Stadt ein beachtliches Landgebiet aneignen, dessen Städte und Gemeinden durch komplexe politische Strukturen an den Ulmer Magistrat gebunden sind. Das Territorium ist administrativ in die Obere und die Untere Herrschaft sowie die Bezirke Leipheim und Wain gegliedert. Die zentrale Verwaltung für die Landgebiete ist das in Ulm ansässige Herrschaftspflegamt.183 Bereits um 1520 gibt es in der Reichsstadt an der Donau erste evangelische Predigten, etwa des Franziskaners Johann Eberlin, der Ulm nach der Publikation des Wormser Edikts verlassen muss.184 Evangelische Kulturformen und Forderungen werden dennoch von einer steigenden Zahl von Bürgern und Einwohnern rezipiert, die wegen einem Tätigkeitsverbot für altgläubige Prediger und die Zulassung der evangelischen Verkündigung an den Rat supplizieren. Dieser beruft am 27. Juni 1524 den Prediger Konrad Sam und macht sich in den Folgejahren daran, altgläubige Praktiken zu beschränken oder ganz abzuschaffen. Das betrifft etwa die Fronleichnamsprozessionen sowie Fasten- und Feiertagsgebote.185 Dabei wird der Raum Ulm während der 1520er- und frühen 1530er-Jahre besonders von oberdeutschen Formen der Reformation und somit eher von Zwingli und Bucer als von Luther geprägt. Das ändert sich nach dem Tod Konrad Sams, als der Rat 1533 Martin Frecht als neuen Prädikanten beruft und die Wittenberger Konkordie, den theologischen Lehrkompromiss zwischen Luther und Bucer, annimmt.186

Reihe 23, Bd. 89); Lang, Peter Thaddäus: Die Ulmer Katholiken zwischen Reformation und Mediatisierung (1530–1803). In: Kirchen und Klöster in Ulm. Ein Beitrag zum katholischen Leben in Ulm und Neu-Ulm von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hans Eugen Specker u. Hermann Tüchle. Ulm 1979. S. 232–252. 181 Hahn, Philip: Sensing Sacred Space. Ulm Minster, the Reformation, and Parishioners’ Sensory Perception, c. 1470 to 1640. In: ARG 105 (2014). S. 55–91. 182 Seebass, Gottfried u. Wolgast, Eike (Hrsg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Bd. 17, Baden-Württemberg. Bd. 4., Südwestdeutsche Reichsstädte, Teilbd. 2: Südwestdeutsche Reichsstädte. Tübingen 2009. S. 61 f. 183 Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 15. 184 Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 232; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 63. 185 Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 232; Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 97; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 63. 186 In der Forschung gilt der Ulmer Protestantismus ab der Mitte des 16. Jahrhunderts als lutherisch. Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 95 f.; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 72 f.



6 Präsentation der Fallstudien 

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1529 befindet sich Ulm unter den protestierenden Ständen gegen den Speyerer Reichsabschied.187 Der Augsburger Reichstag 1530 beschleunigt die reformatorische Entscheidung in Ulm, denn die Stadt muss nun über die Annahme bzw. die Ablehnung des anti-evangelischen Abschieds entscheiden. Die Ratsverordneten bringen die Idee ins Spiel, die Bürger über die Haltung abstimmen zu lassen, auch auf Basis der gemeindlichen Verfassungsrundlage, dem Ulmer Schwörbrief. Letztlich wird auf einen traditionellen Abstimmungsmodus zurückgegriffen. In jeder Zunft sowie in der separaten Gruppe der städtischen Oligarchen wird eine namentliche Einzelabstimmung durchgeführt, die Ergebnisse werden an den Rat weitergeleitet. Die Abstimmung der Zünfte und einiger nicht in Zünften organisierter Berufs- oder Sozialgruppen findet vom 3. bis 8. November 1530 statt.188 Die Abstimmungslisten haben sich recht vollständig erhalten. Deren statistische Auswertung hat ergeben, dass im Durchschnitt 87 % der Stimmberechtigten gegen den Reichsabschied und somit für die evangelische Religionskultur stimmen. Eine altgläubige Mehrheit gibt es in keiner Gruppe.189 Insgesamt stimmen 243 Personen für die Annahme des anti-evangelischen Abschieds, was nach Schätzungen von Lang unter Einbezug der Familienmitglieder insgesamt annähernd 1000 Einwohner ergebe, die nicht protestantisch sind.190 Gestützt auf die grundsätzliche Zustimmung der großen Mehrheit der Ulmer Bürger beschleunigt der Rat die evangelischen Normen- und Strukturveränderungen. Im Februar 1531 tritt Ulm dem Schmalkaldischen Bund bei.191 Für die Umsetzung der Reformation beruft der Rat am 14. April 1531 das sogenannte Neunergremium – die „in evangelischen Sachen Verordneten des Rats“, aus denen ab 1537 die „Religionsherren“ als leitendes Ulmer Religionsamt hervorgehen. Auf deren Initiative werden 1531 Bucer, Oekolampad und Blarer nach Ulm gebeten, die ein Maßnahmenpaket entwickeln, das u. a. die Einberufung aller Kleriker nach Ulm für eine Examinierung sowie zu Pfingsten die Unterrichtung der Landbevölkerung an mehreren Sammelpunkten im Territorium vorsieht.192 Die Reformatoren arbeiten 18 Artikel aus, die im Juni 1531 allen Pfarrern vorgelegt werden. Der Rat kümmert sich dabei wenig um die Patronatsrechte. Beim Examen der Geistlichen attestieren diesen die Reformatoren ein hohes

187 Endriss, Abstimmung 1530 (wie Anm. 176), S. 3 f.; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 65. 188 Grundlage der Abstimmung ist insbesondere der „Vorhalt“, der die Entscheidung zu einer Wahl für oder gegen die wichtigsten evangelischen Kulturformen und Repräsentationen macht. Endriss, Abstimmung 1530 (wie Anm. 176), S. 9–22; Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 232; Seebass/ Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 66. 189 Endriss, Abstimmung 1530 (wie Anm. 176), S. 23–45; Die Ulmer Abstimmungslisten vom November 1530. In: Die Einführung der Reformation in Ulm. Hrsg. von Hans Eugen Specker u. Gebhard Weig. Stuttgart 1981 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm. Reihe Dokumentation 2). S. 345–374 190 Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 238. 191 Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 97. 192 Bucer predigt am Pfingstsonntag 1531 in Geislingen. Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 98; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 66 f.

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Maß an Unwissen über die evangelischen Bekenntnisgrundlagen. Offener Widerspruch kommt nur vom Geislinger Pfarrer Georg Oßwald. Unter den Orden verwerfen Dominikaner und Franziskaner die Artikel.193 Der Raum der religiösen Möglichkeiten wird zügig neu konfiguriert. Die für den 8. Juni vorgesehenen Fronleichnamsprozessionen werden verboten. Kurze Zeit später beschließt der Rat das Verbot der Messe. Die Seitenaltäre, Bilder und Statuen aus dem Münster werden eingezogen. Kurz darauf verfügt der Rat die Schließung der anderen Kirchen und Kapellen in und vor der Stadt sowie den baldigen Abbruch der Kapellen. Teile des kirchlichen Besitzes werden eingezogen und anderweitig genutzt. Am 16. Juli 1531 findet im Münster erstmalig eine reformierte Abendmahlsfeier statt. Am 6. August 1531 wird eine evangelische Kirchen- und Schulordnung veröffentlicht, am 27. September kommt das Handbüchlein für die Priester heraus. Die Agende enthält die neuen Normen für zentrale religiöse Praktiken wie das Abendmahl, Hochzeiten und Taufen.194 Dem Rat wird aber schnell klar, dass zur Etablierung und Internalisierung evangelischer und zur Verdrängung altgläubiger Rituale und theologischer Ideen die Pfarrer und Prediger in den Gemeinden eine Schlüsselrolle spielen. Deshalb besetzt die Ulmer Obrigkeit die in ihren Händen befindlichen Pfarrstellen gegebenenfalls neu und versucht, in den Besitz der u. a. von auswärtigen Klöstern gehaltenen Patronate zu gelangen.195 Nachdem im Juni 1531 nur die Priester examiniert worden waren, findet am 16. Oktober eine erste allgemeine Befragung statt. Wahrscheinlich sollten dabei weniger effektive Fortschritte kontrolliert, sondern vielmehr den Ulmer Amtleuten vor Ort ein Exemplar der Reformationsordnung ausgehändigt werden. Die Befragung wurde von den Herrschaftspflegern Konrad Roth und Daniel Schleicher vorgenommen. Befragt werden Amtleute, Richter – die anstelle der Untertanen antworten sollen – und die Pfarrer aus dem gesamten Ulmer Herrschaftsgebiet.196 Am 20. Februar 1532 findet die erste, auch in ihrem Ablauf gut dokumentierte Synode Ulms statt. Die Synode geht auf den Anstoß des Neunerausschusses zu

193 Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 242; Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 99, 101–103; Schuhholz, Albert: Dr. Georg Oßwald. Ein Pfarrer während der Reformationszeit in Geislingen, in: Ulm und Oberschwaben 47/48 (1991). S. 205–216; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 67. Den Orden wird das Messelesen verboten. Der Rat geht besonders gegen die Dominikaner vor. Er setzt einen Vogt ein, erlässt ein Ausgehverbot und stellt dem Konvent das Wasser ab, so dass die Dominikaner die Stadt verlassen. Allein der reichsunmittelbare Deutschorden bleibt bzw. verändert seine Strukturen nicht grundlegend. Vgl. Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 242–244. 194 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 7; Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 99–101; Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180), S. 233; Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 67–72. 195 Neu- und Umbesetzungen erfolgen insbesondere nach den ersten Examinierungen. Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178), S. 105–110. 196 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 7 f.



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Beginn des Jahres zurück. Geladen werden je Pfarrei mindestens der Geistliche, ein Vertreter des Gerichts und einer der Gemeinde. Insgesamt erscheinen im Ulmer Barfüßerkloster 27 Priester und 63 Laien aus den Ämtern Geislingen, Langenau, Albeck und Leipheim, dazu vier Prädikanten aus Ulm. Wichtig ist  – auch für die Analyse des Synodalprotokolls – dass der Rat auf die Entsendung von dezidiert evangelischen Richtern oder Vierern drängt, die somit eine entsprechende Perspektive auf die örtlichen Kulturen liefern. Es findet für jede Pfarrei eine gemeinsame Befragung aller Geladenen und danach eine gesonderte Befragung statt, die oft die brisanteren Ergebnisse zeitigt.197 1535 findet die erste Visitation statt, von der neben den Berichten auch die Fragstücke und die Eröffnungsmodalitäten erhalten sind. Die Untersuchungen durch die Pfarrkirchenbaupfleger Jos Schad, Christian Harder und Ulrich Kalhart sowie durch den Prädikanten Martin Frecht beginnen am 7. Juli. Über den genauen Ablauf und das Itinerar ist nichts bekannt. Wahrscheinlich ziehen die Visitatoren nicht von Ort zu Ort, sondern rufen Amtleute, Priester und Gesandten der Pfarreien an zentralen Stellen zusammen.198 Die Synode von 1537 ist nur bruchstückhaft überliefert. Mitunter wird sie in den Quellen auch als Visitation bezeichnet. Doch die zu befragenden Priester, Amtmänner, Richter und evangelische Gemeindeangehörige werden nach Ulm gerufen, weshalb sich in der Forschung der Begriff der Synode durchgesetzt hat. Anders als 1532 dauert diese Synode vier Tagen. Täglich wird eine gewisse Anzahl von Orten geladen, die dann an jeweils drei verschiedenen Plätzen in Ulm parallel befragt werden. Die Synode beginnt am 9. Juli 1537. Allerdings ist nur das zweite von drei Verhörprotokollen erhalten. Die Befragung nehmen die Religionsverordneten Jos Schad, Martin Weickmann und Daniel Hochweher sowie der Prädikant Martin Frecht vor.199 1539 findet die letzte Examinierung der Religions- und Glaubenspraxis statt, die in meinen Untersuchungszeitraum fällt.200 Es handelt sich erneut um eine Synode, beginnend am 2. Juni, zu der die zu befragenden Personen aus dem Landgebiet in die Stadt gerufen werden. Organisatorisch entspricht diese Synode jener von 1537: Befra-

197 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 11–16. Siehe dort auch Einzelheiten zum genauen Ablauf der gut dokumentierten Synode. Zu den Beschlüssen und Entscheiden, die in der Folge von den Verordneten, dem Rat und den Herrschaftspflegern gefasst werden, vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 19 f. 198 Dort werden sie gemeinsam über Sinn und Zweck der Untersuchung in Kenntnis gesetzt und dann getrennt voneinander examiniert. Die einzelnen Fragstücke betreffen die Prädikanten, die Schulmeister und Mesmer sowie die Amtleute, werden aber immer allen drei Gruppen gestellt. Bei der Visitation werden in evangelisch-obrigkeitlicher Wahrnehmung eindeutige Mängel bei der Durchsetzung der Reformationsordnung offenbar. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 21–26. Vgl. dort auch zu den Details der Fragenkataloge. 199 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 27–31. 200 1543/44 kommt es zu einer letzten Visitation. Vgl. dazu Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 37–39.

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gungen über vier Tage mit drei Verhören. Nur die Befragungskollegien sind in Teilen anders zusammengesetzt, da die Gruppe der Religionsverordneten zwischenzeitlich erneuert worden war.201 Der für diese Fallstudie herangezogene Quellenbestand stammt in wesentlichen Teilen aus dem Stadtarchiv Ulm. Dabei verfügt Ulm über eine der wohl besten Überlieferungen zur süddeutschen Religionsgeschichte der Reformationszeit.202 Die Reformationsakten der Stadt Ulm beinhalten ein breites Spektrum an Quellentypen, in deren Produktion in der Regel der Rat, die städtische Verwaltung, die religionspolitische Führung oder die Jurisdiktion verwickelt waren. Die Dokumente beziehen sich sowohl auf die Stadt als auch auf das Landgebiet. Sie setzen sich zusammen aus Korrespondenzen des Rats und der Amtleute, Suppliken, Verhörprotokollen und Prozessakten. Zudem greife ich auf die edierten und bereits vorgestellten Visitations- und Synodalprotokolle zurück. Die obrigkeitliche Normensetzung schließlich ist in den Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts nachvollziehbar.203

6.3 Ostwestfalen 6.3.1 Grafschaft Lippe und Hansestadt Lemgo Für die Grafschaft Lippe und die Hansestadt Lemgo ist die Forschungslage günstig. Seit 1926 kann auf die landesgeschichtliche Monographie von W. Butterweck über die lippische Landeskirche zurückgegriffen werden.204 Diese diente bis in die 1970erJahre als Grundlagen für die lippische Religionsgeschichte des 16.  Jahrhunderts. Hilfreich ist die Arbeit bis heute als Nachschlagewerk für die einzelnen Kirchspiele. Maßgeblich wurde die Monographie nicht zuletzt dadurch, dass sie eine Forschungstradition für Lippe zu begründen scheint. Diese besagt, dass die lutherische Reformbewegung in den 1530er- und 1540er-Jahren vor allem von evangelischen Pastoren und den (allerdings zaudernden) Obrigkeiten gegenüber einer weitgehend indifferenten Bevölkerung getragen werde. Diese unvollständige Reformation sei erst durch

201 Die Ergebnisse der Synode zeigen in der religiösen Praxis und dem sittlichen Verhalten des Gemeinen Mannes einen für die evangelische Obrigkeit und die Geistlichkeit wohl wenig erfreulichen Bestand, der zu 1537 fast keine Veränderung aufweist. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 31–36. 202 So ist es sehr erfreulich, dass die Reformationsakten jetzt neu verzeichnet und für Wissenschaftler besser zugänglich gemacht werden. Bis März 2013 wurden 28 Bände der Reformationsakten neu erfasst. Vgl. Stadtarchiv Ulm, http://www.ulm.de/sixcms/media.php/29/ARep14_1.pdf (24.11.2013). 203 Seebass, Gottfried/Wolgast, Eike (Hrsg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Bd. 17, Baden-Württemberg. Bd. 4., Südwestdeutsche Reichsstädte, Teilbd. 2: Südwestdeutsche Reichsstädte. Tübingen 2009. 204 Butterweck, Wilhelm: Die Geschichte der Lippischen Landeskirche. Schötmar 1926.



6 Präsentation der Fallstudien 

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die zweite Reformation zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu ihrem calvinistischen Ende geführt worden. Die reformatorische Verlaufsgeschichte in Lippe ist gut untersucht.205 Studien zu den Pfarreien im lippisch-paderbornischen Kondominat Schwalenberg präzisieren das Bild.206 Lippe liegt unweit der Landgrafschaft Hessen und ist dem Drängen des Landgrafen Philipp zur lutherischen Reformation ausgesetzt. Dieser Prozess ist für die ostwestfälischen Grafschaften politikgeschichtlich dokumentiert.207 1981 erarbeitete H. Schilling in seiner Habilitation anhand von Lippe und Lemgo die für die folgenden 20 Jahre prägende Konfessionalisierungsthese.208 Entlang des Antagonismus Lippe-Lemgo beschäftigt sich der Autor mit der Interaktion konfessioneller mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Sein besonderes Augenmerk gilt der Symbiose von frühmodernem Staat und Konfessionskirchen.209 Die Grafschaft Lippe ist im 15. und frühen 16. Jahrhundert Lehensverbindungen gegenüber Paderborn und Hessen-Kassel eingegangen. Die Verbindungen zum Hochstift Paderborn sind durch die Patronatsstrukturen eng, da die Pfarrer vieler lippischer Kirchspiele von den Paderborner Archidiakonen von Steinheim und Lemgo bestimmt werden. Die um Detmold gelegenen Pfarreien vergibt der Archidiakon des Domprobstes.210 Seit den 1530er-Jahren sind regelmäßige Versammlungen der lippischen Landstände belegt, die sich aus dem Adel und den Städten zusammensetzen.211 In der Grafschaft leben um 1600 ca. 35–40.000 Menschen, davon ca. 9.500 bis

205 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 19), S. 157–184 (Lippe), S. 343–353 (Lemgo). 206 Prieur, Jutta: Beiträge zur Reformationsgeschichte Schwalenbergs im 16. und 17. Jahrhundert. In: Lippische Mitteilungen 50 (1981), S. 158–193; Sagebiel, Martin: Der Erhalt katholischer Gemeinden im Samtamt Schwalenberg. Konfessionelle Streitigkeiten zwischen Lippe und Paderborn. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte (JWKG) 101 (2006). S. 181–206. 207 Wolf, Regula: Der Einfluß des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen auf die Einführung der Reformation in den westfälischen Grafschaften. In: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 51/52 (1958/59), S. 27–149. 208 Schilling, Heinz: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 48). Vgl. auch den unter der Prämisse „Konfessionalisierung“ vorgestellten Aufsatz von Böhme, Ernst: Lippe, Schaumburg. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 6, Nachträge. Hrsg. von Anton Schindling u. Walter Ziegler. Münster 1996 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 56). S. 152–169. 209 Die Lemgoer „Hansestadtreformation“ sei stark von einer Bürgerbewegung getragen, die jedoch an den staatlichen Ordnungen letztlich nicht rüttelt, sondern mittelfristig in diesen aufgeht. Auch bei der Reformation 1538 in Lippe gehe es v. a. um die territoriale Selbstbehauptung gegenüber Hessen. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 15–44, 73–150. 210 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 54–56; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 157; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 155 f. 211 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 63; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 155.

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11.100 in den – abgesehen von Lemgo – eher von Ackerbürgern bevölkerten Städten. Die Bauern verfügen bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts über ein recht hohes Maß an gemeindlicher Selbstverwaltung, etwa mit Bauerrichtern oder der Administration der Pfarrei.212 Ansätze für ein Landeskirchensystem gibt es in der Grafschaft vor der Reformation nicht. Dem stehen etwa bei der Pfründenvergabe die Archidiakone im Weg.213 1511 wird Simon V. zur Lippe (1471–1536) Landesherr, der bis zu seinem Tod persönlich und politisch altgläubig bleibt.214 Lemgo erlebt im 15.  Jahrhundert eine wirtschaftliche Blütezeit. Die Hansestadt ist in ihrer Verfassung weitgehend unabhängig vom lippischen Territorialstaat. 12 Ratsherren und zwei Bürgermeister leiten die Stadt. Die Bürger unter den ca. 4.000 Bewohnern sind über die „Gemeinheit“ und die „Dechen“, welche die neuen Zünfte repräsentieren, an der Verwaltung beteiligt. In der Stadt liegen die Pfarreien St. Nikolaus (Altstadt) und St. Marien (Neustadt). Vor den Toren Lemgos befindet sich die Kirche St. Johann, für die jedoch der Graf zur Lippe zuständig ist.215 Die Reformationsgeschichte Lemgos ist besonders durch die Einflüsse aus Lippstadt und Herford geprägt. Ausgehend von diesen werden seit Anfang der 1520er-Jahre lutherische Kulturformen rezipiert. Die evangelische Predigt in der Stadt beginnt 1525, etwa zeitgleich mit dem Singen lutherischer Lieder. Der altgläubige Pastor Moritz Piderit muss, wahrscheinlich 1527, aus der Nikolaikirche zuerst nach St. Johann vor die Stadttore und dann in die weiter entfernte Kapelle von Lieme ausweichen, um schließlich Messe in der Kapelle von Brake zu lesen. Lemgos evangelischer Prädikant fordert Piderit zu einer Disputation auf. Obwohl der altgläubige Rat offenbar ein Urteil verhindert, verlässt Piderit die Stadt. Andere Priester eignen sich lutherische Religionspraktiken an, weshalb bald nur noch in der Johanneskirche extra muros bis 1531 oder 1532 die alte Messe gelesen wird.216 Ab Ende 1530 fallen dann die Entscheidungen. Auf Druck der Bürgerschaft und gegen den mehrheitlich altgläubigen Rat217 werden die Messe und eine Reihe spätmittelalterlicher Zeremonien abgeschafft. Im Frühjahr 1531 beginnt die entscheidende

212 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 57 f. 213 Die institutionelle und finanzielle Verbindung der Lemgoer Bürger mit der städtischen Kirchenstruktur ist hingegen enger, sieht man von den religiösen Orden ab. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208). S. 68–71. 214 Das drückte sich etwa durch seine engen Beziehungen zu den Blomberger Augustiner-Chorherren aus, dem 1468 nach einem angeblichen Brunnenwunder, das einem Hostienfrevel gefolgt sei, gegründeten Konvent und Wallfahrtsort. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 72, 120; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 158f; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158. 215 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 58–61. Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 343 f.; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 155. 216 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 74–77; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 345–347; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158. 217 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 348 f.



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Phase für die Durchsetzung der lutherischen Kultur, als neue Prediger in Lemgo eintreffen. Der Reformationsausschuss von 24 Bürgern treibt die Bewegung voran und die altgläubigen Bürgermeister verlassen die Stadt. Zwar kehren sie nach einem Vertragsschluss zwischen Lemgo und Lippe wieder zurück, doch bei den Wahlen im Januar 1532 kommen Lutherische in die Bürgermeisterämter. Der zuvor vertriebene Pfarrer Piderit kehrt im selben Jahr als evangelischer Prediger aus Herford nach Lemgo zurück.218 1533 wird ein städtischer Superintendent ernannt und die Stadt nimmt eine an Braunschweig orientierte Kirchenordnung an.219 Außerhalb von Lemgo, in der Grafschaft Lippe, sind erste Formen religiöser Differenz ab 1531 nachweisbar. Vor allem in der Stadt Salzuflen gibt es starke evangelische Kräfte, welche u. a. die Einsetzung eines lutherischen Prädikanten herbeiführen. Auch kommt es zu Gottesdienststörungen.220 1536 stirbt Graf Simon V.: Mit seinem Tod bieten sich neue Freiheiten für die Ausübung evangelischer Kulturen. Die Nachfolger sind noch minderjährig, Vormünder werden Landgraf Philipp, an dessen Hof der junge Graf Bernhard erzogen wird, der Kölner Koadjutor Adolf von Schaumburg und Graf Jobst II. von Hoya.221 Innenpolitisch bilden sich verschiedene Gremien der Vormundschaftsregierung. Ein ständischer Ausschuss („verordnete Räte“) kümmert sich um die Regierungsaufgaben. Die „Befehlshaber“ in Detmold erledigen die Verwaltung und sind die Kontaktstelle zu den Vormündern und den Lehensherren. Regelmäßige „Kommunikationstage“ dienen der Abstimmung zwischen den Befehlshabern und dem ständischen Ausschuss. Im Rahmen dieser Regierungskonfiguration sind mit Lemgo und Salzuflen auch zwei lutherische Städte involviert. Überraschend

218 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 77–79; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 349–351; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158. 219 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 79, 113–114; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 352. Der Autor nennt irrtümlich 1537 als Jahr der Einführung der KO in Lemgo. 220 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 159; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 119. 221 In der Forschung gibt es widersprüchliche Aussagen zur Vormundschaftsfrage. Nach einem Testament von 1529 sollten, so Schilling, Gebhard von Mansfeld und Jobst von Hoya nach dem Tod Simons Vormünder des jungen Grafen werden. Beide waren 1536 lutherisch, weshalb Simon auf dem Sterbebett anstatt des Grafen von Mansfeld den eher altgläubigen Grafen Adolf von Schaumburg, Koadjutor von Köln und Regent im nördlichen Nachbarterritorium Schaumburg, zum Vormund machte. Offenbar bittet die lippische Regierung – laut Wolf auf testamentarischen Wunsch des verstorbenen Simon V. – den hessischen Landgraf, die Vormundschaft zu übernehmen. Die hessischen Räte sagen zu, wollen aber die Zustimmung Philipps zu den anderen Vormündern abwarten. Sie stellen die Bedingung, dass der Landgraf der oberste Vormund sein solle. Schilling berichtet nichts über einen solchen Vorgang. Anders als bei Wolf und Schröer wird bei ihm der Landgraf zwar als wichtigster Machtfaktor und Lehensherr, aber nicht als Vormund aufgeführt. Der Kölner Koadjutor tritt bereits 1538 von der Vormundschaftsfunktion zurück. Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 159–161; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 121; Wolf, Einfluß des Landgrafen (wie Anm. 207), S. 69 f.

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ist, dass diese nicht auf eine evangelische Wende in der Kirchenpolitik der gesamten Grafschaft drängen, sondern sich eher auf ihre eigenen Angelegenheiten zu konzentrieren scheinen.222 Stattdessen macht Philipp von Hessen seinen Einfluss in diese Richtung geltend.223 Doch noch zeigen sich die Ständevertreter reserviert, als der Landgraf 1537 die Lemgoer Reformationsbestimmungen auf die ganze Grafschaft ausgedehnt sehen will. Ohne die Einheit der Vormünder und gegen Kaiser und Reich wollen die Stände noch nichts unternehmen.224 Offenbar sind als erste die Befehlshaber bereit für evangelische Reformanstrengungen, während die Ständevertreter im religionsgemeinschaftlich zunehmend gespaltenen Ausschuss bremsen.225 Zeitweise deutet sich eine Reformpolitik der via media an. Die Stände beauftragen zwei einheimische und im religiösen Feld eher auf einer altgläubigen Position einzuordnende Pfarrer, Mentze und Eckentorp, mit der Ausarbeitung einer Reformordnung. Die Städte Horn, Blomberg und Detmold sowie die Ritterschaft stellen sich jedoch quer und wollen auf die Volljährigkeit von Graf Bernhard warten.226 Allerdings verschieben sich die religionspolitischen Gewichte danach rasch. Die Evangelischen unter den adligen Landschaftsräten und v. a. die Befehlshaber drängen auf eine evangelische Kirchenordnung. Der evangelische Vormund Jobst von Hoya schickt die Prediger Johann Tiemann und Adrian Buxschut nach Detmold, wo sie im August eine Kirchenordnung ausarbeiten. Auf zwei Landtagen am 19. und 28. August 1538 in Cappel bekennen sich die Stände zur Reformation.227 Am 25. Oktober soll sich der lippische Klerus in Detmold einfinden, wo Buxschut ihn über die neue Ordnung informiert. Einige Pfarrer boykottieren die Versammlung und manifestieren so ihre Abehnung der „Neuerungen“.228 In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass es in Lippe in der Folgezeit keinen schnellen und durchgreifenden evangelischen Kulturwandel gibt. Auswärtige Kirchherren wie der Kölner Koadjutor und die Paderbor-

222 Lippstadt nimmt nicht am Regiment teil. Schilling, Konfessionspolitik und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 122 f. 223 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 160. Wolf, Einfluß des Landgrafen (wie Anm. 207), S. 69–85. 224 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 125 f. Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 160 f. 225 Noch im April 1538 unterstütze die Ständeregierung angeblich bedrängte altgläubige Kleriker und Nonnen in Lemgo. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 124 f. 226 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 127. 227 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 128f; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158f; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 161–165. Böhme nennt – ohne Quellenangabe – den 23.9.1538 als Tag, an dem die KO „offiziell eingeführt“ worden sei. Schröer nennt den 29.9.1539, an dem die KO der Regierung vorgelegt worden sei, bezieht sich dabei auf die – offensichtlich fehlerhafte – Chronik von Hamelmann. 228 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 165f; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 131 f.



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ner Domherren halten vermittels ihrer Pfarrer den kulturellen Raum für altgläubige Praktiken offen.229 1542 visitiert Anton Corvinus als Superintendent 29 Pfarreien in Lippe, was vielfach als erste ernstzunehmende Anstrengung zur Implementierung der lutherischen Kirchenordnung gesehen wird.230 Im Landesarchiv NRW Ostwestfalen-Lippe sind die Akten der landständischen Versammlungen ab 1537 überliefert. Sie erhalten Berichte von den Befehlshabern, fällen Entscheidungen und beraten über die Kommunikation mit den Vormündern, den Landesherren und den Instanzen der Paderborner Diözese. Zudem ist der Briefverkehr der Befehlshaber und der „verordneten Räte“ der Stände u. a. mit dem Koadjutor von Köln, Instanzen der Diözese Paderborn, den Herforder Fraterherren, den Vormündern sowie mit Personen oder Gruppen aus der Grafschaft erhalten. Die Vorgänge in den einzelnen Kirchspielen sind schließlich in den jeweiligen Konsistorialakten dokumentiert. Das Protokoll der Visitation von 1542, das Corvinus wohl zum eher persönlichen Gebrauch angefertigt hat, liegt ediert vor.231 6.3.2 Grafschaft Ravensberg mit Herford Nordwestlich an Lippe grenzen die Grafschaft Ravensberg sowie die Stadt und das reichsunmittelbare Frauenstift Herford. Für die Grafschaft Ravensberg ist die Forschungslage weniger ergiebig als für Lippe und Herford und ist oft im Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte im gesamten Herzogtum Jülich-Kleve-Berg gesehen worden. Deshalb sei schon vorab auf die grundlegende Studie von A. Flüchter zum Priesterzölibat unter den Bedingungen der via media in Jülich und Berg verwiesen.232 Durch die Landesgeschichte und die Landeskirchengeschichte sind für Ravensberg die wichtigen ereignisgeschichtlichen Vorgänge bekannt.233 Allerdings fehlt eine nähere Beschäftigung explizit mit den Altgläubigen während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.234 Die Forschungslage für Stadt und Stift Herford ist im Vergleich

229 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 166f; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 159; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 131 f. 230 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 171 f.; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 159; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 132 f. 231 Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1). 232 Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44). Wenngleich fast keine Aussagen zum Zölibat in Ravensberg getroffen werden, so ist doch unter dem Gesichtspunkt der herzoglichen Gesetzgebung, der Stellung der Priester in nordwestdeutschen Kirchspielen und zum Verhältnis zwischen Pfarrern und Gemeinde auch für meine Studie viel Relevantes zu entnehmen, v. a. S. 23–175. Gleiches gilt für die Studie der dörflichen Kirchenstrukturen im Osnabrücker Dekanat Vechta, nicht weit im Nordosten von Ravensberg gelegen, von Freitag, Werner: Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400–1803. Bielefeld 1998 (Studien zur Regionalgeschichte 11). S. 39–132. 233 Vgl. speziell zu Ravensberg Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 271–286; 234 Spätere Epochen sind im dieser Hinsicht besser studiert, vgl. Nottarp, Hermann: Das katholische Kirchenwesen der Grafschaft Ravensberg im 17. und 18.  Jahrhundert. Paderborn 1961 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 2).

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dazu ungleich besser.235 Die verlaufsgeschichtlichen Grundlagen der Reformation in Herford sind gut erschlossen,236 wenngleich aufgrund der lückenhaften Quellen die exakte Chronologie etwas im Unklaren bleibt. Es gibt jedoch eine reiche Forschung zu den Differenzen zwischen dem Frauenstift und der Stadt sowie insbesondere zu den Herforder Fraterherren. Diese geraten nach einer sehr frühen Rezeption der lutherischen Theologie bei der Religionspraxis und bei Rechtsfragen zwischen die Fronten der städtischen Reformationsbewegung einerseits und der altgläubigen Diözesanhierarchie andererseits. Luther selbst macht sich allerdings in den 1530er-Jahren immer wieder für die Rechte des in seiner Sicht evangelischen Hauses stark.237 Die historische Beurteilung der Haltung der Fraterherren unterscheidet sich grundsätzlich je nach der konfessionellen Zugehörigkeit der Forscher.238 Die Grafschaft Ravensberg ist Teil der Vereinigten Herzogtümer von Jülich-KleveBerg. Dieses Territorialgebilde entsteht durch die Heirat (1510) des Herzogs von Kleve-Mark, Johann III., mit Maria von Jülich-Berg-Ravensberg. Nach dem Tod von Johann II. wird Johann III. 1521 Herzog der in seiner Person vereinigten Territorien. Die Verwaltungen, Landstände und Gesetzgebungen bleiben jedoch weitgehend getrennt. Große Bedeutung für die politisch-administrative Struktur der Vereinigten Herzogtümer haben die Landdechanten und die Amtleute vor Ort, an die auch die

235 Für einen Überblick über die rechtlichen und politischen Verhältnisse vgl. Cohausz, Alfred: Herford als Reichsstadt und papstunmittelbares Stift am Ausgang des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte der Landeshoheit in den westfälischen Reichsstiftsstädten. Bielefeld 1928; Fürstenberg, Michael von: „Ordinaria loci“ oder „Monstrum Westphaliae“? Zur kirchlichen Rechtsstellung der Äbtissin von Herford im europäischen Vergleich. Paderborn 1995 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 29). 236 Allgemein vgl. Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 315–343; Cohausz, Alfred: Anmerkungen zum Herforder Bildersturm im Jahre 1532. In: Paderbornensis Ecclesia. Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Paderborn. Hrsg. von Paul-Werner Scheele. München/Paderborn/Wien 1972. S. 207–221; Stupperich, Robert: Die Eigenart der Herforder Reformation. In: JWKG 75 (1982). S. 129–143. 237 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 325–339. Für das Fraterhaus sei besonders auf die zahlreichen Arbeiten von Robert Stupperich hingewiesen: Das Herforder Fraterhaus und die Devotio moderna. Studien zur Frömmigkeitsgeschichte Westfalens an der Wende zur Neuzeit. Münster 1975 (Quellen zur Geschichte der Devotio moderna in Westfalen 10); Das Herforder Fraterhaus und die Reformation. In: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 64 (1971). S. 7–37; Luther und das Fraterhaus in Herford. In: Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Hrsg. von Heinz Liebig u. Klaus Scholder. Berlin 1966 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 38). S. 219–238. 238 Der evangelische Kirchenhistoriker R. Stupperich sieht in der Entwicklung um 1540 vor allem zwei Formen des lutherischen Protestantismus, „[v]erschiedene Auffassungen von ein und derselben Sache“. Stupperich, Eigenart (wie Anm. 236), S. 142. Vgl. auch Stupperich, Fraterhaus und Reformation (wie Anm. 237), S. 21. Der Münsteraner Ehrendomkapitular A. Schröer hingegen bekräftigt: „Schließlich stellten sie [die Fraterherren, M. M.] sich an die Spitze der wenigen katholischen Bürger der Stadt, die den Selbstbehauptungskampf der Fraterherren mit lebhafter Anteilnahme verfolgt hatten.“ Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 338.



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herzoglichen Befehle ergehen.239 Weitgehend agrarisch geprägt, spielt in Ravensberg das Textilgewerbe seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine größere Rolle. Die kirchliche Verwaltungsstruktur ist besonders komplex, nicht zuletzt da die Grafschaft auf die Diözesen Münster, Osnabrück, Minden und Paderborn verteilt ist. Im späten 15. Jahrhundert betreibt Herzog Wilhelm IV. von Jülich-Berg-Ravensberg eine intensive Klosterreform.240 In der Grafschaft Ravensberg sind ab 1523 evangelische Kulturformen zu verzeichnen, für die Herford durch die dortige evangelische Predigt zum Taktgeber wird. 1530 findet sich die „neue Lehre“ in Wallenbrück und Bünde sowie 1531 in Valdorf. Diese Entfaltungsmöglichkeiten stehen im Zusammenhang mit der von Erasmus beeinflussten Kirchenpolitik des Herzogs.241 Am 3. Juli 1525 erlässt Johann III. die sogenannte Kleine Kirchenordnung, durch die v. a. Ruhe und Ordnung garantiert werden sollen. Dies sollte durch die Reform der Amts- und Lebensführung der Pfarrer erreicht werden. Besonders ökonomische Konflikte mit den Laien stehen im Fokus der Verordnung, die in der Forschung als erster Schritt hin zu einer tendenziell altkirchlichen via media und einer qualitativen Ausweitung des landesherrlichen Kirchenregiments gewertet wird.242 1532 und 1533 sind Schlüsseljahre der Ravensberger Religionsgeschichte, mit entsprechend hohem Quellenaufkommen. Im Januar 1532 lässt der Herzog die große, erasmisch geprägte Kirchenordnung ausgehen. Diese wird ergänzt durch die Declaratio vom 8. April 1533. Die Kirchenordnung soll vor allem Streit vorbeugen und stellt kontroverse Fragen, etwa bezüglich des Laienkelchs und des Zölibats, hintan.243

239 Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44), S. 23–26; Smolinsky, Heribert: Jülich-Kleve-Berg. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500– 1650. Bd. 3, Der Nordwesten. Hrsg. von Anton Schindling u. Walter Ziegler. Münster 1991 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 51). S. 86–106, hier S. 88 f.; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 227 f., 271 f. 240 Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg (wie Anm. 239), S. 89f; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 272. 241 Johann III. und Herzogin Maria befehlen den Landdechanten erst am 26. März 1525, gegen Luthers Lehre und Schriftgut vorzugehen. Anhänger Luthers seien zu verhaften. Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44), S. 119–121; Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg (wie Anm. 239), S. 91 f.; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 272. 242 Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44), S. 122–126; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 340. 243 Die Kirchenordnung wandte sich in Glaubens(praxis-)fragen explizit nur gegen die Wiedertaufe und das symbolische Abendmahlsverständnis. Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44), S. 136–139, 147–150; Janssen, Wilhelm: „Gute Ordnung” als Element der Kirchenpolitik in den Vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg. In: Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hrsg. von Burkhard Dietz u. Stefan Ehrenpreis. Köln 1999 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 136). S. 33–48; Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg (wie Anm. 239), S. 93; Stupperich, Eigenart (wie Anm. 236), S. 138; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 429–431. Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm.

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Der Erlass der neuen Kirchenordnung wird von der Durchführung einer Visitation flankiert. Diese war eigentlich in allen Landesteilen vorgesehen, wird letztlich aber nur in Jülich und Ravensberg abgehalten. Wie A. Flüchter betont, geht es dabei nicht nur um die Durchsetzung der Ordnung, sondern auch um die Repräsentation der Herrschafts- und Normsetzungsrechte des Herzogs.244 In der Grafschaft Ravensberg wird die Visitation in den Ämtern Sparrenberg, Ravensberg, Limberg und Vlotho durch den Junker von Daun-Oberstein (Statthalter von Ravensberg), Propst Johann von Vlatten und Matthias von Altenbochum (Droste von Hörde) vorgenommen. Die Visitatoren reisen nicht in jede einzelne Pfarrei, sondern rufen Vertreter des Klerus, die Bürgermeister und Ratsherren, Kirchenprovisoren und Gemeindevertreter im September 1533 an den Hauptorten der Ämter zusammen.245 Herford ist eines der Zentren der lutherischen Bewegung in Ostwestfalen. Die Stadt zählt bis zu 3–4.000 Einwohner, liegt in der Diözese Paderborn und ist im Spätmittelalter der Sitz wichtiger Klöster und Stifte. Herford wird 1474 die Reichsunmittelbarkeit bestätigt, bleibt jedoch durch das adlige Frauenstift eingeschränkt in seiner politischen Selbstbestimmung. Die Bürgerschaft wählt jährlich einen 40-köpfigen Rat mit zwei Bürgermeistern, jeweils aus der Alt- und der Neustadt. Das Frauenstift ist bereits seit 1147 reichsunmittelbar. Es verfügt in der Umgebung des Münsters über eine sichtbar abgegrenzte Stiftsfreiheit. Die Äbtissin verfügt in Herford über archidiakonale Rechte vermittels eines Offizials, den sie einsetzt. Das Stift hat den Kölner Erzbischof als Tutor. Vogt und Schutzherr ist der Herzog von Kleve. Ein weiteres Frauenstift, St. Marien, befindet sich auf dem Stiftsberg extra muros. Zudem gibt es den Konvent der Fraterherren in Herford, der seelsorgerisch das Süsterhaus betreut.246 Die Fraterherren gehören, zusammen mit den Augustinern, von denen schon 1525 viele das Kloster verlassen, zu den ersten lutherischen Predigern. Einer der verbliebenen Augustiner ist Johann Dreier, der zum Schrittmacher der Reformation in Herford wird, unterstützt von einem „Neunerausschuss“ der Bürgerschaft. Religionsgemeinschaftliche Differenzen entstehen auch im Stadtrat, der mit der Reformation zusehends auch die Chance zur Aneignung von Rechten der Reichsäbtissin Anna von Limburg erkennt. 1530 kommt es in der Stiftskirche St. Johann bei der Einsetzung des evangelischen Predigers Blomberg zu einem Handgemenge. In der Münsterkirche, deren Pfarrer Hermann Engelking (noch) altgläubig ist, finden unter der Regie des Schulrektors Rudolf Möller deutsche Gesänge statt. Die Äbtissin lässt das Münster für die Evangelischen zusperren, woraufhin die lutherische Predigt einfach vor der

1), S. 233–235, fällt als katholischer Kontrovershistoriker ein ablehnendes und mitunter verächtliches Urteil über die angeblich „ungeeignete“ Kirchenordnung. 244 Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44), S. 150–153; Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg (wie Anm. 239), S. 93. 245 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 272–277; Stupperich, Eigenart (wie Anm. 236), S. 138 f. 246 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 315f; Cohausz, Herforder Bildersturm (wie Anm. 236), S. 209 f.



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Kirche stattfindet. Am 16. April 1531 lässt der Rat die Münsterkirche von einem Ratsdiener öffnen. Johann Dreier wird neuer Prädikant. Die zwei großen Pfarrkirchen sind nun mehrheitlich in lutherischer Hand, was sich auch in den religiösen Praktiken niederschlägt. Die Altgläubigen weichen u. a. in die Klosterkirche auf dem Stiftsberg aus, bis die Chorfrauen 1547 ebenfalls evangelisch werden.247 Die Unruhen, die als „Herforder Bildersturm“ bezeichnet werden und den Reformationsprozess begleiten, sind nicht exakt zu datieren. Sie müssen sich zwischen Januar 1531 und April 1532 abgespielt haben. Die Franziskanerminoriten werden vertrieben, die Wertgegenstände und Urkunden ausgeräumt und offenbar die Gräber zerstört. Auch aus den anderen Kirchen werden Hostien, Bilder und andere Artefakte entfernt. Die Altäre in der Stiftskirche sowie im Münster werden zerstört und in den Kirchen die deutschsprachige Messe praktiziert. Die Äbtissin sieht darin einen eklatanten Verstoß gegen ihre Rechte. Sie flieht aus der Stadt und beschwert sich beim Herzog.248 Am 7. April 1532 tritt die u. a. von Dreier entworfene Kirchenordnung in Kraft, nachdem Rat und Bürgerschaft sie approbiert hatten.249 Die wichtigste Quelle für die Grafschaft Ravensberg wurde bereits genannt: die Protokolle der Visitation von 1533.250 Für Stadt und Stift Herford befinden sich Quellen im Landesarchiv Münster. Die dortigen Dokumente beziehen sich v. a. auf den „Bildersturm“ von 1531/32. Schließlich sind für das Verhalten der Fraterherren im religiösen Differenzierungsprozess die Korrespondenzen mit lippischen und Paderborner Instanzen von Bedeutung. 6.3.3 Hochstift Paderborn Für das Hochstift Paderborn ist die altgläubige Geschichte des späten 16. Jahrhunderts besser bekannt als die der frühen Reformationsjahre. Sie findet auch in der neueren Forschung größere Beachtung.251 Es liegen landesgeschichtliche Überblicksdarstellungen zum Verlauf der evangelischen Bewegung sowie dem Reformationsversuch und den Reaktionen der Altgläubigen und des Administrators in der Stadt Paderborn

247 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 316–320; Cohausz, Herforder Bildersturm (wie Anm. 236), S. 208 f., 211; Stupperich, Eigenart (wie Anm. 236), S. 129–134. 248 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 320; Cohausz, Herforder Bildersturm (wie Anm. 236), S. 212 f. 249 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 321–323; Stupperich, Eigenart (wie Anm. 236), S. 134–137. 250 Schmidt, Adolf: Protokoll der kirchlichen Visitation der Grafschaft Ravensberg vom Jahre 1533. In: Jahrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte Westfalens 6 (1904). S. 135–169. 251 Vgl. zur neuen Literatur Lotterer, Jürgen: Gegenreformation als Kampf um die Landesherrschaft. Studien zur territorialstaatlichen Entwicklung des Hochstifts Paderborn im Zeitalter Dietrichs von Fürstenberg, 1585–1618. Paderborn 2003 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 42); Gillner, Bastian: Unkatholischer Stiftsadel. Konfession und Politik des Adels im Fürstbistum Paderborn, 1555–1618. Münster 2006 (Forum Regionalgeschichte 13).

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vor.252 Synthesen entstanden ferner unter der Prämisse des Konfessionalisierungsparadigmas.253 Weiterhin finden sich Studien zu kleineren Städten.254 Das Hochstift Paderborn liegt südlich von der Grafschaft Lippe und ist Lehensherr über einige lippische Ämter. Es handelt sich um ein klosterreiches Gebiet (24 Klöster und Stifte), was auch auf die bischöfliche Initiative zu Klosterneugründungen um 1500 zurückgeht. Die Stadt Paderborn genießt einige kommunale Unabhängigkeiten gegenüber dem Territorium des Hochstifts, denn die Bischöfe residieren in Neuhaus. In Paderborn befindet sich der Dom mit seinen 24 Kanonikaten.255 Der 1524 von Johannes Westermann veröffentlichte lutherische Katechismus für Westfalen dürfte auch in Paderborn zentrale Elemente der evangelischen Religionskultur bekannt gemacht haben, ebenso wie Flugschriften aus dem benachbarten Hessen.256 Räume für lutherischer Kultur scheinen manche Klöster zu sein, aus denen die Mönche auslaufen, etwa bei den Minoriten in Paderborn. Aber auch das Benediktinerkloster Marienmünster verzeichnet erste Austritte, während die verbliebenen Mönche verstärkt Antiklerikalismus zu spüren bekommen.257 Zeitgleich bieten sich der zweitgrößten Stadt des Hochstifts, Warburg, durch das benachbarte Hessen viele Rezeptionsmöglichkeiten für evangelische Kultur. Dagegen predigt – offenbar durchaus effektiv – der altgläubige Pfarrer Otto Beckmann an.258 Wie in anderen (ehemaligen) bischöflichen Residenzstädten259 gibt es auch in Paderborn rechtliche und kulturelle Spannungen zwischen der Stadtbürgerschaft und den bischöflichen Institutionen sowie dem Domkapitel.260 Mit der evangelischen Bewegung erhalten diese Differenzen 1528 einen neuen Schub. Bei einem Tanzfest geraten am 12. Juli die Diener der Domherren und die Stadtjugend der Schützengilden

252 Schröer, Alois: Die Reformation in Westfalen. Der Glaubenskampf einer Landschaft. Bd. 2, Die evangelische Bewegung in den geistlichen Landesherrschaften und den Bischofsstädten Westfalens bis zum Augsburger Religionsfrieden (1555). Münster 1983. S. 41–69 (Hochstift), S. 296–317 (Stadt). 253 Meier, Johannes: Paderborn. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 3, Der Nordwesten. Hrsg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. Münster 1991 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 51). S. 148–161. 254 Z. B. Völker, Christoph: Zur Geschichte der Reformation im Hochstift Paderborn mit besonderer Berücksichtigung der Stadt Steinheim und ihrer Umgebung. In: Westfälische Zeitschrift 88–2 (1931). S. 94–139. 255 Meier, Paderborn (wie Anm. 253), S. 150; Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 42 f., 296 f. 256 Meier, Paderborn (wie Anm. 253), S. 151; Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 43 f. 257 Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 44f; Völker, Hochstift Paderborn (wie Anm. 254), S. 97–99. 258 Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 45–49. 259 Vgl. Rublack, Gescheiterte Reformation (wie Anm. 51). 260 Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 298.



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über die Anführung eines Tanzes in Streit. Die Häuser der Domherren werden geplündert, der Dom wird gestürmt und mehrere Tage besetzt. Diener der Stiftsherren werden verhaftet. Nach dem Ende des Aufstands muss Paderborn in einem Vergleich mit dem Bischof zusichern, künftig lutherische Handlungen gemäß den Bestimmungen des Wormser Edikts und der päpstlichen Bannbulle zu ahnden und Einschränkungen der städtischen Freiheit hinnehmen. Die Strafen des bischöflichen Landesherrn fallen jedoch mild aus, womöglich auch, um Konflikten mit dem östlichen Nachbarn, dem Landgrafen von Hessen, vorzubeugen.261 Der Friede ist nicht von Dauer. Obwohl es letztlich zu keinen signifikanten Änderungen in der religiösen Praxis kommt, bleiben lutherische Ideen präsent, insbesondere in den Predigten der Minoriten.262 1532, nach dem Tod von Bischof Erich, kommt es zu neuen Aufständen. Die Lutherischen verschanzen sich im Hardehausener Hof und bestimmen unter sich 12 „Apostel“, die mit dem Rat verhandeln sollen. Sie fordern deutsche Kirchenlieder und freie Prädikantenwahl, was der Rat mit Hinweis auf die Rechtslage und seine mangelnde Kompetenz zurückweist. Nun werden Kirchen besetzt und Prädikanten bieten den Laienkelch an. Der Rat wird von der evangelischen Bewegung unter Druck gesetzt, eingesperrt und verpflichtet sich schließlich zum Schutz der Anhänger der Reformation. Zwischenzeitlich hat das Domkapitel den Kölner Metropoliten Hermann von Wied zum neuen Bischof gewählt. Dessen Vermittlungsversuche scheitern jedoch. Um sowohl seine landesherrlichen Ansprüche über die Stadt als auch die Gültigkeit des alten Glaubens zu verdeutlichen, plant Hermann den symbolischen Einzug in Paderborn. Am 8. Oktober 1532 setzt er sein Vorhaben in die Tat um und hält ein Strafgericht: Die 17 Hauptverdächtigen werden zum Tod verurteilt, aber Dank der Intervention von Gräfin Magdalena von Lippe begnadigt. Der neue Vertrag zwischen Stadt und Bischof fällt ungleich härter aus als der vier Jahre zuvor. Paderborn verpflichtet sich zum Treueeid nicht nur gegenüber dem Bischof, sondern auch gegenüber dem Domkapitel. Die Partizipation des niedrigen Bürgertums an der Stadtregierung wird eingeschränkt, lutherische Drucke sollen dem Offizial ausgehändigt werden. Der Vertrag bedeutet für Paderborn einen klaren Verlust an städtischer Unabhängigkeit. Zumindest in der Führung setzt sich in der Folge im Hochstift eine antilutherische Grundhaltung durch, die sich später während des Reformversuchs von Hermann von Wied darin zeigt, dass Domkapitel, Adel und Städte sich gegen die Reformpläne und die Abschaffung des Vertrags von 1532 aussprechen.263 Ein Selbstzeugnis stellt die wichtigste Quelle zur Paderborner Religionsgeschichte in meiner Studie dar. Es handelt sich um die Aufzeichnungen des Laienbru-

261 Meier, Paderborn (wie Anm. 253), S. 151 f.; Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 298–300. 262 Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 300. 263 Meier, Paderborn (wie Anm. 253), S. 152; Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 301–313.

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ders Göbel Schickenberge, Vogt im Augustiner-Chorherrenstift Böddeken. Die überlieferten Notizen beziehen sich auf die Jahre 1502–1532 und 1541–1543.264

6.4 Rouen Die vierte Fallstudie nimmt eine Region in den Blick, die in Frankreich die frühesten evangelischen Bewegungen und mithin die ersten altgläubigen Unterschiedsund Zugehörigkeitsbezeigungen aufweist: Die Rede ist von der normannischen Hauptstadt Rouen. Die Stadt verfügt über einen selbstbewussten Magistrat und eine komplex, aber gut organisierte Bürgerschaft. Als Sitz des Parlaments der Normandie und Zentrum der Kirchenprovinz mit dem machtbewussten Domkapitel ist Rouen verwaltungs- und kirchenpolitisch von großer Bedeutung für die Region. Zumal das Parlament verleiht aber auch ein vergleichsweise großes Maß an Unabhängigkeit von der französischen Hauptstadt und Machtzentrale Paris. Die Einflussmöglichkeiten des Königs und seiner Amtleute sind im Vergleich zu den Fallgruppen aus dem Alten Reich ungleich größer und effizienter. Die Entwicklungen in der Stadt, in der Jeanne d’Arc 1431 verbrannt wurde und die Karl VII. erst 1449 von den Engländern zurückeroberte, sind verflochten mit dem Umland der benachbarten Diözesen, weshalb die Untersuchung sowie der folgende Überblick gelegentlich auf die obere Normandie und darüber hinaus ausgedehnt werden muss. Die Stadt ist das religiöse Zentrum des Umlandes und bildet so einen Referenzpunkt für die religiösen Konflikte.265 Die Forschungslage zur frühen Reformationszeit in Rouen ist ebenso wie die Quellenlage sehr günstig. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts setzt die moderne Forschung ein mit landesgeschichtlichen Studien über die ersten Erscheinungsformen der evangelischen Theologie sowie über „lutherische“ Gruppen und Einzelpersonen in der Normandie ein. Bis heute liefern diese Arbeiten, insbesondere die von C. Oursel, einen präzisen und nützlichen Überblick.266 Wie häufig in der französischen Historiographie gibt es einen Bruch mit dem Beginn der Religionskriege, die für Rouen P.

264 Rüthing, Heinrich (Hrsg.): Die Chronik des Bruder Göbels. Aufzeichnungen eines Laienbruders aus dem Kloster Böddeken 1502 bis 1543. Bielefeld 2005 (Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Reformationsgeschichte 7). 265 Vgl. dazu Tabbagh, Vincent: Espaces, objets et manifestations de l’attrait des fidèles dans les cathédrales de Rouen et de Sens, à la fin du Moyen Âge. In: Cathédrale et pèlerinage aux époques médiévale et moderne. Reliques, processions et dévotions à l’église-mère du diocèse. Hrsg. von Catherine Vincent u. Jacques Pycke. Louvain 2010 (Bibliothèque de la Revue d’histoire ecclésiastique 92). S. 161–174, hier S. 171, 173. 266 Oursel, Charles: Notes pour servir à l’histoire de la Réforme en Normandie au temps de François Ier, principalement dans le diocèse de Rouen. Caen 1913; Oursel, Charles: La Réforme en Normandie. Les «Placards» de Marcourt à Rouen en 1535. Paris 1912; Aus einer evangelisch-apologetischen Sichtweise schreibt wiederum Weiss, Nathanaël: Note sommaire sur les débuts de la Réforme en Normandie, 1523–1547. Rouen 1911.



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Benedict intensiv untersucht hat, ohne jedoch auf die erste Hälfte des Jahrhunderts weiter einzugehen.267 Für diese Zeit wurde die Forschung seit den 1980er-Jahren mit den Arbeiten u. a. von D. Nicholls erweitert, der die Reaktion des Domkapitels auf die Reformation untersuchte.268 Zuletzt wurden verstärkt auch einzelne Aspekte der normannischen Religionsgeschichte studiert, etwa die Geschichte der Bruderschaften269, der Kirchenfenster270 und bestimmter Orten.271 Rouen zählt in der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zu 78.000 Einwohner und ist nach Paris die zweitgrößte Stadt Frankreichs.272 Durch die Konzentration von Verwaltungs- und Justizinstanzen, durch die auf einem vielfältigen und erfolgreichen Handwerk beruhende ökonomische Kraft und durch den Handelshafen ist Rouen das wichtigste urbane Zentrum im Norden Frankreichs.273 Es handelt sich zudem um eine internationale Stadt, in der sich eine große Zahl ausländischer Händler niederlässt.274 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts leben in Rouen etwa 900 Priester, Mönche und Nonnen. Sie machen somit 1,2 Prozent der Bevölkerung aus.275 Um 1500 residieren die Erzbischöfe nur selten in der Stadt. Umso bedeutsamer ist die lokale und regionale Administration der Erzdiözese mit den Dekanaten (doyenné), den regelmäßig einberufenen Landkapiteln (calendes), den kontrollierenden Archidiakonen und den Synoden. An der Spitze der Zentrale, unter dem Erzbischof, stehen das kirchliche Gericht und die mächtigen Generalvikare.276 1513 tritt mit Georges II. d’Amboise der letzte Erzbischof Rouens sein Amt an (bis 1550), der vor dem Konkordat

267 Benedict, Philip: Rouen During the Wars of Religion. Cambridge 1981 (Cambridge Studies in Early Modern History). 268 Nicholls, David: Inertia and Reform in Pre-Tridentine French Church. The Response to Protestantism in the Diocese of Rouen, 1520–1563. In: Journal of Ecclesiastical History (JEH) 32 (1981). S. 185– 197. Allerdings wurde seine Dissertation nie veröffentlicht, weshalb aus seinen Studien zu Rouen nur der Aufsatz aus dem Jahr 1981 publiziert ist. Vgl. ferner Delsalle, Lucien-René: De l’Église installée à l’Église contestée (1450–1600). In: Le diocèse de Rouen – Le Havre. Hrsg. von Nadine-Josette Chaline. Paris 1976 (Histoire des diocèses de France 5). S. 63–124. 269 Vincent, Catherine: Des charités bien ordonnées. Les confréries normandes de la fin du XIIIe siècle au début du XVIe siècle. Paris 1988 (Collection de l’École normale supérieure de jeunes filles 39). Ein nützliches Quellenband wurde herausgegeben von Venard, Marc (Hrsg.): Les confréries dans la ville de Rouen à l’époque moderne, XVIe-XVIIIe siècles. Rouen 2010. 270 Riviale, Laurence: Le vitrail en Normandie entre Renaissance et Réforme, 1517–1596. Rennes 2007 (Corpus vitrearum 7). 271 Venard, Marc: Les visites pastorales de l’exemption de Montivilliers du XVIe au XVIIe siècle. In: Colloque „L’abbaye de Montivilliers à travers les âges“. Recueil de l’association des Amis du Vieux Havre 46, 1988. S. 85–106. Ich danke Marc Venard für die Zusendung dieses Aufsatzes. 272 Zu Rouen im 16. Jahrhundert vgl. Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 3. 273 Die Krise der großen Industriezweige beginnt erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 11, 15 f. 274 Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 21–23. 275 Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 5. 276 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 64–66.

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von 1516 gewählt wird. Er ist Generalstatthalter (lieutenant général) der Normandie und wird 1545 zum Kardinal ernannt.277 Am Ausgang des Mittelalters existieren in der Diözese etwa 1.400 Pfarreien. Zwar gibt es auch dort die europaweit beklagten Pfründenhäufungen und Absenzen. Doch im Vergleich zu der von manchen Zeitgenossen ausgedrückten Kritik am Pfarrklerus gilt die Frage der Versorgung der Gemeinden offenbar als ein geringeres Problem, solange ein bischöflich bestätigter Vikar vor Ort ist.278 Nennenswerte bischöfliche Reformanstrengungen sind nicht festzustellen. Zwar hält Georges II. in den Jahren 1522 und 1528 Provinzialsynoden ab. Doch stehet bei diesen nicht die religiöse Erneuerung zur Debatte – vielmehr geht es um die finanziellen Rechte der Kirche gegenüber der Monarchie. Auch das Domkapitel scheint eher mit Rechtsgeschäften und der Sicherung seiner Ehre beschäftigt zu sein, als mit Reformbemühungen oder durchgreifenden Maßnahmen gegen die Evangelischen.279 Die sakrale Infrastruktur der oberen Normandie ist durch den Hundertjährigen Kriegs stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Deshalb finden während des 16. Jahrhunderts umfangreiche Rekonstruktions- und Umbauarbeiten an und in den Kirchen statt. Die Pfarrgemeinden leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Hierbei sowie allgemein bei der Organisation der Ortskirchen zeigen sich recht selbständige Gemeindestrukturen.280 Die Zahl und Bedeutung der Bruderschaften in der Erzdiözese Rouen ist nie zuvor und nie danach so groß wie um 1500.281 Interessant ist zudem, dass bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Verfolgung von Einzelpersonen, die der Häresie oder Heterodoxie verdächtigt werden, nachweisbar ist, etwa in Lillebonne, Pont-Audemer und Rouen. Die Ideen, die zur Anzeige kamen, sind allerdings nicht genauer bekannt. Die meisten reuigen Angeklagten werden zu einer öffentli-

277 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 72–74. In seiner Lebensweise ist er ein typischer Renaissancefürst, meist abwesend und häufig in rechtliche Auseinandersetzungen mit der Monarchie verwickelt, die ihn sogar einige Tage ins Gefängnis bringen. 278 Bei den Visitationen werden insbesondere das Konkubinat der Vikare und Pfarrer sowie Fälle von Trunksucht gerügt. Delsalle, Église (wie Anm. 268), 74–78; Riviale, Vitrail (wie Anm. 270), S. 26; Venard, Montivilliers (wie Anm. 271), S. 89 f. Die Relativierung der Absenzproblematik und der Qualitätsmängel des Klerus in der ländlichen Kircheninfrastruktur unterstreicht für das vorreformatorische Frankreich allgemein Brian, Isabelle u. Le Gall, Jean-Marie: La vie religieuse en France, XVIeXVIIIe siècle. Paris 1999 (Campus Histoire). S. 22 f. 279 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 186–188; Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 73. Die große Zahl der Priester, deren finanzielle Schwierigkeiten, die von Fall zu Fall mangelnde theologische Ausbildung und pastorale Fähigkeiten sowie schlechte rituelle Performanz ließen die Forschung häufig von einem reformunwilligen und -unfähigen Klerus sprechen. Vgl. Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 188. 280 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 78–81. 281 Venard, Montivilliers (wie Anm. 271), S. 94.



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chen Buße verurteilt. Bleibt der Angeklagte in seiner Haltung beständig, wird er dem weltlichen Arm zum Vollzug des Todesurteils durch Verbrennen übergeben.282 Es lässt sich nicht genau rekonstruieren, wann und wie die ersten evangelischen Schriften in der Normandie und insbesondere in Rouen auftauchen, erste evangelische Praktiken durchgeführt und von wem und wie sie im sozialen Feld rezipiert werden. In der Handelsstadt mit ihren vielen lesekundigen Bürgern könnten schon vor 1520 erste lutherische Schriften angekommen sein.283 1521 wird der Franziskanerguardian Denis Marcel aus Sées an die Theologische Fakultät Paris übergeben, nachdem er die Kostenpflichtigkeit von Beerdigungen kritisiert hatte. Dasselbe geschieht, ein Jahr später, mit einem Magister Mégret wegen verdächtiger Predigten über die drei Magdalenen. Es bleibt unklar, ob es sich hier um Formen spätmittelalterlicher Konflikte um theologische Differenzen handelt, oder ob lutherische Einflüsse dahinterstehen.284 Gegen Mitte der 1520er-Jahre werden evangelische Kulturformen und altgläubige Gegenbewegungen vereinzelt klarer erkennbar. In Rouen findet, gemäß der Entscheidung des Parlaments vom 9. März 1524, die erste Verbrennung lutherischer Bücher statt.285 Im Herzogtum Alençon entwickelt sich ein aktiver evangelischer Kreis.286 In der oberen Normandie liegen, außerhalb von Rouen, frühe ländliche Zentren der evangelischen Bewegungen um 1530 bei Beaunay, Anneville, Luneray und Bacqueville, die v. a. auf die Aktivitäten von Geoffroy du Couldray zurückzuführen sind. Couldray wird 1530/31 verhaftet, verurteilt und soll zur Strafe Predigten des Inquisitors an den Orten seiner früheren Tätigkeit anhören. Doch er entkommt während des Gefangenentransports. Erst Jahre später taucht Couldray wieder auf, als ihm 1535/36

282 Zum Vorgehen gegen die Heterodoxen: Der Offizial lässt sich von der königlichen Justiz den Verdächtigen bringen. Die erzbischöfliche Justiz nimmt dann die Ermittlungen auf. Dabei kann das Gericht auch von sich aus tätig werden, unterstützt durch den für die Diözese zuständigen Inquisitor. Die exemten Klöster verfügen über die gleichen Möglichkeiten in dieser Sache. Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 100 f. 283 Riviale, Vitrail (wie Anm. 270), S. 26. 284 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 5 f. Bei dem Streit um die Madeleine handelt es sich um eine Auseinandersetzung gegen Ende der 1510er-Jahre. Lefèvre d’Étaples hatte auf die hagiographische Verschmelzung von drei Personen – Maria, die Schwester des Lazarus; Maria-Magdalena; die Sünderin aus dem Lukas-Evangelium – in einer aufmerksam gemacht und will den Magdalenenkult entsprechend verändern. Lefèvres Einlassungen lösen eine Auseinandersetzung aus, bei der er von Josse Clichtove unterstützt und von Noël Beda angegriffen wird. Vgl. Brian/Le Gall, Vie religieuse (wie Anm. 278), S. 35. 285 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 9 f. 286 Dort befinden sich bei Marguerite d’Angoulême neben Étienne Lecourt, der 1533 in Rouen verbrannt werden sollte, auch Pierre Caroli und der evangelische Drucker Pierre Duboys. Bereits früh hatte Michel d’Arande evangelisch gepredigt. Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 7–9, 29 f.

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erneut der Prozess gemacht wird. Unklar ist, ob das über ihn verhängte Todesurteil wirklich vollstreckt wird oder ob er zuvor verstirbt.287 In der zweiten Hälfte der 1520er-Jahre häufen sich in Rouen und der Normandie die „lutherischen“ Devianzen bzw. die Prozesse und Quellen diesbezüglich. Die Zahl der Verhaftungen erhöht sich deutlich, vor allem in den Küstengebieten.288 Auch Todesurteile gegen „Ketzer“ häufen sich. Der am 23. Juli 1528 auf dem Alten Markt in Rouen verbrannte Pierre Bart soll die Jungfrau gelästert haben. Nach der Exekution gibt es eine Prozession und eine Predigt vor dem Karmelitenkonvent.289 1531 wird Marguerite Hurier aus Grainville-sur-Fleury nach Ermittlungen wegen Ketzerei verurteilt und erhält vor der Kathedrale – nach der Beendigung einer Prozession – eine öffentliche Predigt.290 In der Diözese Avranches werden 1528/29 drei Frauen hingerichtet.291 Aus Coutances ist im Frühjahr 1532 die Verbrennung des „lutherischen“ Pierre de Lamprout, Edelherr (écuyer) und Herr von La Mare, überliefert.292 Die Predigten des Landpfarrers von Condé-sur-Sarthe (Diözese Séez), Etienne Lecourt, richten sich gegen den Ablass, Aspekte der Heiligenverehrung, Wallfahrten und Reliquien. Vor allem aber fordert er den Zugang des Volks zu volkssprachlichen Bibeln. Er wird verhaftet, die Theologische Fakultät Paris verurteilt die von Lecourt geäußerten Glaubensvorstellungen. In Rouen wird ihm mit großem Aufwand der Prozess gemacht. Am Ende wird er degradiert, dem weltlichen Arm übergeben und am 22. Dezember 1533 auf dem Platz Marché-aux-Veaux verbrannt.293 In Alençon kommt es 1533 nach einem Mariensakrileg einen Tag vor Fronleichnam zu umfangreichen Ermittlungen durch eine von König Franz I. eingesetzte Kommission des Parlaments. Hart fallen dann im September 1534 die Strafen der Kommission aus: Todesurteile in Abwesenheit und die

287 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 19–23; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 191; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 10 f. Weiss ist der Meinung, Couldray sei hingerichtet worden. Oursel zeigt sich skeptisch. 288 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 101f; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 10f, 17–19; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 8. 289 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 11–14; Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 101 f.; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 8. Riviale, Vitrail, (wie Anm. 270), S. 27; Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 27. 290 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 17; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193, der von einer „unnamed woman“ spricht. 291 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 15; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 8. 292 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 27; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 8. 293 Ausführlich dazu Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 31–40; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 8 f.; Monter, William E.: Judging the French Reformation. Heresy Trials by Sixteenth-Century Parlements. Cambridge 1999. S. 67 f.; Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543. Leiden 1985 (Studies in medieval and Reformation thought 32). S. 198 f.



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Exekution u. a. der beiden Ikonoklasten.294 Im Dezember 1534 wird Richard Leblond als Ketzer verurteilt. Er war in Bully verhaftet und mit mehreren anderen Verdächtigen nach Rouen überführt worden. Dort wird er durch die erzbischöfliche Justiz gerichtet, degradiert und vom bailli von Rouen zur öffentlichen Buße mit anschließendem Verbrennen verurteilt.295 Die immer offensichtlicher werdende „Häresie“ bewegt das Domkapitel, im Jahr 1534 gleich zwei Bittprozessionen zu veranlassen – die eine im Juni, die andere im Dezember.296 Am 27. Januar 1535 finden die Bürger in Rouen Wandzeitungen (placards) gegen die Messe und den Heiligenkult in den Pfarreien, Kirchen, Häusern und dem königlichen Palais. Der Text entspricht den Flugblättern von Antoine Marcourt, die in der Nacht zum 18. Oktober 1534 in Paris und anderen Städten Frankreichs verbreitet wurden: die sogenannte „Plakataffäre“. Wie in Paris, so entscheidet sich auch in Rouen das Parlament sofort für die Abhaltung einer großen Prozession, die am 4. Februar stattfindet. Guillaume Huchon, ein Apotheker aus Blois, der womöglich für die Verbreitung der placards verantwortlich war, wird auf der Flucht nach England in Dieppe gefasst. Über ihn fällt das Parlament von Rouen am 30. August das Todesurteil.297 Die bis zum Edikt von Coucy (16. Juli 1535) in ganz Frankreich stattfindenden Verfolgungen von Evangelischen als Reaktion auf die Plakataffären führen in der Normandie offenbar zur Auswanderung einer gewissen Zahl von Evangelischen nach England.298 Am 21. Juni 1539 ordnet das Domkapitel eine weitere Prozession an.299 Die evangelische Bewegung weitet sich in diesem und den Folgejahren dennoch weiter aus, was sich in einer höheren Zahl von Untersuchungen, Verfahren und Verurteilungen

294 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 44–52; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 9. 295 In seinem Entscheid (arrêt) drängt das Gericht zugleich auf eine stärkere Bekanntmachung und Durchsetzung der Bücherverbote. Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 57 f.; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 10; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 73. 296 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 54–59. 297 Riviale, Vitrail (wie Anm. 270), S. 27; Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 50; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 59–63; Oursel, Placards à Rouen (wie Anm. 266); Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. Zur Schuldfrage von Huchon vgl. Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 197. Vgl. allgemein Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 206 f.; Brian/Le Gall, Vie religieuse (wie Anm. 278), S. 50 f.; La Garanderie, Marie-Madeleine de: La réponse catholique aux placards de 1534. Le Contre les tenebrions de Jérôme d’Hangest, „marteau des hérétiques“. In: La controverse religieuse (XVIe-XIXe siècles). Bd 1. Hrsg. von Michel Péronnet. Montpellier 1980. Bl. 1r-6r. 298 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 69; Weiss, Débuts de la Réforme (wie Anm. 266), S. 4. 299 Am Ende des am 24. Juni stattfindenden Umzugs wird ein Sermon gesprochen, um das Volk zu ermahnen. Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 74; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193, bringt die Prozession in Zusammenhang mit kurz zuvor entdeckten Irrtümern in einer Predigt.

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ausdrückt. Auch in Le Havre und dem Pays de Caux ist um 1540 die evangelische Bewegung unübersehbar. Allgemein kommt es in der Normandie v. a. im Jahr 1542 zur Intensivierung der „Ketzerverfolgung“ unter Führung des Parlaments.300 Dieses ordnet für den 18. Juni 1542 wiederum eine Großprozession mit anschließender Predigt auf dem Kirchhof der Kathedrale an.301 Insgesamt werden in Rouen zwischen 1528 und 1560 zehn Prozessionen gegen die Evangelischen abgehalten.302 Auch die antilutherische Predigt wird lokal gezielt von den Altgläubigen eingesetzt. Prediger ziehen während der 1530er-Jahre durch die Diözese. Erst ab den 1540er-Jahren finden aber regelmäßige altgläubige Predigten statt.303 In der frühen Reformationszeit wird die Stadt Rouen frankreichweit zu einem der wichtigsten Herstellungs- und Verbreitungsmärkte von religiösen und kontroversistischen Drucken. Die ins Französische übersetzen Evangelien sind um 1530 wahrscheinlich sehr verbreitet. Nach ihnen wird gezielt in den Häusern der Stadt gesucht.304 Evangelische Schriften finden früh und so weit Verbreitung, dass der bischöfliche Ankläger (promoteur) 1539 zu Hausdurchsuchungen schreitet.305 Darüber hinaus werden neben altgläubigen Texten auch Papstbullen, Lettres patentes, Verfügungen des Erzbischofs (mandements) und Anordnungen der Vikare gedruckt.306 Eine wichtige Quelle für diese Fallstudie stellen die in den Archives Départementales de Seine-Maritime in Rouen aufbewahrten Akten der im Domkapitel stattfindenden Versammlungen und der darin gefällten Beschlüsse dar. Die Protokolle wurden von einem Notar des Kapitels verfasst. Die Überlieferung ist für den hier behandelten Zeitraum nahezu vollständig. Interessant sind im Rahmen dieser Studie weiterhin die jährlich angelegten Rechnungsbücher der erzbischöflichen Schatzmeister. In diesen sind die Ausgaben verzeichnet, die beim Vorgehen gegen die Evangelischen der Diözese entstehen. Ähnlichen Inhalts sind auch die Rechnungsbücher des erzbischöflichen Gerichts. Die Jurisdiktionsakten aus der exemten Abtei Montivilliers beinhalten eine große Zahl an Prozessen und Fällen aus der kirchlichen Mikroebene. Ähnliche Aufschlüsse bieten auch die Rechnungsbücher des Vikariats Pontoise. Weiterhin sind die Ratsprokotolle des Stadtarchivs Rouen aus dem Ancien Régime zu beachten, die sich heute ebenfalls in den Archives Départementales de Seine-Maritime befinden. Während bei den kirchlichen Quellen die Rolle der Kleriker naturgemäß im Mittel-

300 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 74–97. 301 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 99–106. Dort ist auch der Aufbau der Prozession nach den Akten des Stadtrats von Rouen abgedruckt. Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193, geht davon aus, dass der Stadtrat die Prozession angeordnet habe. 302 Nicholls, Intertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193 f. Die beste Quellenlage liegt für die Prozessionen von 1535 und 1542 vor. 303 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 191 f.; Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 102. 304 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 16; Riviale, Vitrail (wie Anm. 270), S. 26  305 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 102 f.; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 74. 306 Delsalle, Église (wie Anm. 268), S. 102.



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punkt steht, ermöglichen die Ratsprotokolle an manchen Stellen ergänzende Blicke auf die Rolle der Bürger und Körperschaften der Stadt Rouen. Schließlich werte ich die Aufzeichnungen eines unbekannten Bürgers aus Rouen aus.307

6.5 Paris In der französischen und internationalen Reformations- und Religionsgeschichtsforschung ist Paris stets ein zentraler Untersuchungsort gewesen. Das gilt insbesondere für die Zeit der Religionskriege und der Katholischen Liga.308 Verlaufsgeschichtlich ist die Situation der ersten Evangelischen in Paris recht gut erschlossen.309 Im Zentrum der Forschung stehen meist das Handeln und die Positionierung des Königs und des Hofs sowie der Theologischen Fakultät der Universität Paris und des Parlaments  – über die sehr gute Studien vorliegen.310 Im Besonderen wurden die Produktion und die Verteilung evangelischer Drucke und die dagegen vorgehende Zensur311 sowie die Unterdrückung und Verfolgung von Lutherischen312 studiert. Auch biographische Schlaglichter auf die wichtigen Personen der Pariser Religionsgeschichte liegen vor.313 Dabei weist die Historiographie zu Paris in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun-

307 Pottier, André (Hrsg.): Relation des troubles excités par les Calvinistes, dans la ville de Rouen, depuis l’an 1537 jusqu’en l’an 1582; écrite par un témoin oculaire, et anciennement conservée dans les Archives de la Cathédrale. Publié, pour la première fois, d’après une copie du XVIIe se, inséré dans un Ms. de la Bibliothèque de Rouen, rouen 1837 (Publication de la Revue de Rouen et de la Normandie). 308 Verwiesen sei u. a. auf Barbara B. Diefendorf: Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in Sixteenth-Century Paris. New York/Oxford 1991; From Penitence to Charity. Pious Women and the Catholic Reformation in Paris. Oxford 2004. 309 Elemente für einen Überblick finden sich vielfach in größere Themenkomplexe, Räume oder Chronologien umfassenden Aufsätzen und Monographien. Vgl. u. a. Foisil, Madeleine: L’époque moderne. Le XVIe et le XVIIe siècle. In: Le diocèse de Paris. Bd. 1, Des origines à la Révolution. Hrsg. von Bernard Plongeron. Paris 1987 (Histoire des diocèses de France 20). S. 215–321; Babelon, JeanPierre: Nouvelle Histoire de Paris. Paris au XVIe siècle. Paris 1986; Lécrivain, Philippe: Paris au temps d’Ignace de Loyola (1528–1535). Paris 2006. 310 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293); Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293). 311 Higman, Francis: Censorship and the Sorbonne. A Bibliographical Study of Books in French Censured by the Faculty of Theology of the University of Paris, 1520–1551. Genf 1979 (Travaux d’Humanisme et de Renaissance 172); Pettegree, Andrew: La Réforme en France, 1520–1570. Les leçons à tirer de la culture de l’imprimé. In: La Réforme en France et en Italie. Contacts, comparaisons et contrastes. Hrsg. von Philip Benedict [u. a.]. Rom 2007 (Collection de l’École française de Rome 384). S. 37–52. Darin erklärt der Autor die Gründe für die im Vergleich zum Reich sehr geringe numerische und normative Durchschlagskraft evangelischer Drucke in Frankreich und besonders dessen publizistischem Zentrum Paris. 312 Vgl. u. a. Dupèbe, Jean: Un document sur les persécutions de l’hiver 1533–34 à Paris. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance (BHR) 48 (1986). S. 405–417. 313 Wursten, Dick: „Dear Doctor Bouchart, I am no Lutheran“. A Reassessment of Clément Marot’s Epistle to Monsieur Bouchart. In: BHR 70 (2008). S. 567–578; Langlois, John: A Catholic Response in

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derts eine Merkwürdigkeit auf. In der Forschung spielt die Hauptstadt mit ihren personellen und institutionellen Faktoren zwar eine große Rolle als Entscheidungs- und Handlungszentrum, doch es fehlt eine explizite Religions-Sozialgeschichte von Paris selbst. Die Geschichte der Verbreitung der frühen Reformation in Frankreich ist vielfach eine Pariser Ereignisgeschichte.314 Die Hauptstadt wird zum wissenschaftlichen Aussichtspunkt ohne explizite Einsichten in die sozial-religiösen Differenzierungsprozesse vor Ort. Paris ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts das mit Abstand größte urbane Zentrum des Königreichs, maßgebliche Entscheidungs- und Rechtsetzungszentrale sowie Sitz wichtiger Institutionen. Die Bevölkerungszahl ist wegen des Verlusts der 1871 beim Brand des Rathauses zerstörten Register nur aus zeitgenössischen Angaben abzuleiten. Babelon geht auf dieser Basis von 200.000 Bewohnern im Jahr 1500 und 350.000 im Jahr 1550 aus.315 1528 beschließt Franz I., häufiger in Paris, genauer gesagt im zu restaurierenden Louvre zu residieren und somit seine Präsenz in der Hauptstadt zu erhöhen. Bis dahin ist er etwa einmal im Jahr für zwei Monate vor Ort. Die engen Verflechtungen zwischen der Monarchie und der Stadt werden im 16. Jahrhundert bis zum zeitweisen Bruch unter der Katholischen Liga andauern.316 Die Theologen der Universität sind eine im lateinischen Europa unumgängliche und regelmäßig konsultierte Autorität in Glaubensfragen, trotz der zunehmenden Kritik an konservativen Lehrmeinungen.317 Paris entwickelt sich seit dem späten 15. Jahrhundert außerdem zu einem der bedeutenden Druckerplätze Europas. Im Jahr 1500 gibt es in der Stadt 75 Druckereien, 50 Jahre später 102.318

Sixteenth-Century France to Reformation Theology. The Works of Pierre Doré. Lewiston 2003 (Roman Catholic studies 18); Taylor, Larissa: The Good Sheperd. François LePicart (1504–1556) and Preaching Reform from Within. In: SCJ 28–3 (1997). S. 793–810; Taylor, Larissa: Heresy and Orthodoxy in Sixteenth-Century Paris. François Le Picart and the Beginnings of the Catholic Reformation: Leiden/ Boston/Köln 1999 (Studies in medieval and Reformation thought 77). 314 Ein gutes Beispiel dafür ist die Monographie von Francis Higman, die viel über Entscheidungen in Paris und auch viel über Ereignisse v. a. in Bezug auf die Evangelischen – und deren theologische Einordnung – aussagt. Aber über distinktive Praktiken, soziale Zugehörigkeiten und Differenzen ist dort für Paris nur wenig zu lesen. Vgl. La diffusion de la Réforme en France, 1520–1565. Genf 1991 (Publications de la Faculté de théologie de l’Université de Genève 17). Sehr ähnlich verhält es sich in der Monographie von Denis Crouzet, in der ein knapper Ereignisrahmen gegeben wird für die theologisch-psychologische Studie des Autors. Siehe Crouzet, Genèse (wie Anm. 22). 315 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 159–166. 316 Diese Beziehung war für Paris im Hinblick auf die stärkere Einbeziehung in die außenpolitischen und militärischen Ausgaben des Königs allerdings seit Beginn der 1520er-Jahre durchaus kostspielig Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 45 f. 317 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 79–84. Zur Organisation und der soziologischen Analyse der Theologen vgl. Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 7–114. 318 Um 1530 dominiert der Verlagsort Paris in Nordfrankreich, ergänzt durch Troyes und Rouen. Hinzu kommt die große Zahl an Buchhändlern, die mitunter zugleich Verleger sind. Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 102, 106.



6 Präsentation der Fallstudien 

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In Paris hat ein Bischof seinen Sitz, dessen Diözese in der Kirchenprovinz Sens liegt.319 Während der in der Folge untersuchten Jahre leiten Étienne Poncher (1503– 1519), dessen Neffe François Poncher (1519–1532) und Jean du Bellay (1532–1551) die Diözese. Vor und nach deren Nominierung verfolgen sie auch politische Karrieren. Während der Pontifikate dieser typischen Renaissancebischöfe lassen sich insgesamt keine systematischen Reformanstrengungen in Stadt und Diözese ausmachen.320 Zu Beginn des 16.  Jahrhunderts finden durch den humanistenfreundlichen Bischof Poncher und dessen Umfeld, darunter Guillaume Briçonnet, einige Reformbemühungen statt, vor allem in Bezug auf die Klöster und Konvente.321 Zudem hält sich in Person von Jacques Lefèvre d’Etaples ein bedeutender Humanist in der Stadt auf. 1508 wird er in die Abtei Saint-Germain-des-Prés durch deren Abt Guillaume Briçonnet aufgenommen. Briçonnet wird 1516 zum Bischof von Meaux berufen, wohin ihm Lefèvre 1521 als Generalvikar folgt.322 Die Pariser Laien sind an der Organisation und Leitung ihrer Pfarrgemeinden auf unterschiedliche Arten beteiligt. Die Gemeinden versammeln sich jährlich, um die Konten der Kirchenfabriken zu überprüfen, die die Küster (marguillier) führen. Diese werden dann neu gewählt, wobei die Notabeln bis hin zu Personen aus der Robe sowohl in der Versammlung als auch bei der Ämterbesetzung in der ersten Reihe stehen.323 Bruderschaften, die sich entweder aus Berufsgruppen rekrutieren oder zu einem bestimmten Devotionszweck gegründet werden, verbreiten sich im 16.  Jahrhundert stark.324 Bei den regelmäßigen, großen Prozessionen, die in der Regel für die Bitte um eine gute Ernte, gutes Wetter oder zum Schutz vor Krieg, Plünderung und Seuchen abgehalten werden, werden je nach Anlass die Reliquien der Schutzheiligen

319 Erst im Jahr 1622 sollte Papst Gregor XV. Paris zum Sitz einer Erzdiözese mit Suffraganen in Chartres, Meaux und Orléans erheben. Ludwig XIII. bestätigt 1623 durch seine Lettres patentes diese kirchenstrukturelle Veränderung. Vgl. Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 263. 320 Étienne Poncher saß vor seinem Bischofsamt 18 Jahre lang im Parlament von Paris. Seine politische Tätigkeit setzt er auch als Pariser Oberhirte fort. Er wird zu diplomatischen Missionen ins Alte Reich, nach Italien, 1517 als Botschafter an den spanischen Hof und 1518 als Botschafter nach England entsandt. Bereits 1512 wurde Étienne Poncher Siegelbewahrer (garde des sceaux) unter Ludwig XII. Noch bedeutender war die politische Rolle von Jean du Bellay, der 1541 Bischof von Limoges und 1544 Erzbischof von Bordeaux wird. Bellay übte mehrere Male die Funktion des Botschafters in England, im Alten Reich und Italien aus, wird 1538 Generalstatthalter (lieutenant-général) in der Regierung von Paris und der Ile-de-France. Bereits 1537 ist er Mitglied des königlichen Rats (Conseil du Roi). Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 264 f. 321 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 372–381; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 44–48. 322 Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 216; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 52–56; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 104–147. 323 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 383 f. 324 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 384–389.

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Genoveva, Dionysius oder Marcellus durch die Straßen getragen. Zwischen 1534 und 1599 finden 21 Prozessionen mit dem Schrein der Genoveva statt. 325 Etwa ab 1519 gelangen die ersten Exemplare von Luthers Flugschriften, gedruckt in Basel, nach Paris. Während beinahe zwei Jahren dürfen diese legal gelesen, gehört und verkauft werden.326 Am 15. April 1521 verurteilt die Theologische Fakultät in der „Determinatio“ Luthers Thesen aus der Leipziger Disputation sowie einige zwischenzeitlich entwickelte Aspekte seiner Theologie. Die Untersuchungen der Aussagen Luthers aus Leipzig hat letztlich erst im Juli 1520 begonnen, nach Luthers Exkommunikation durch den Papst und in Kenntnis der Sakramentskritik in De Captivitate Babylonica Ecclesiae. Vor allem Luthers Reformschrift vom November 1520 bietet den Pariser Theologen die Möglichkeit, die umstrittenen Themen des päpstlichen Primats – gegen den sie deutliche Vorbehalte haben – bei ihrem Urteil außen vor zu lassen. Die Determinatio ist somit die vollständigste aller universitären Verurteilungen Luthers. Sie umgeht aber bewusst den ursprünglichen Hauptstreitpunkt von Leipzig.327 Bereits ab März 1521 verschärft das Parlament, in enger Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät, in mehreren Entscheiden (arrêts) die Zensur religiöser Bücher. Der Gerichtshof fokussiert sich dabei immer präziser auf lutherische Bücher, deren Druck, Verkauf und Besitz unter Strafe gesetellt wird.328 Doch immer mehr evangelische Schriften zirkulieren in der Stadt. Das Parlament verlangt die Ablieferung all dieser Publikationen – ohne Erfolg. So findet etwa die französische Übersetzung des neuen Testaments von Lefèvre größere Verbreitung.329 Paris bleibt in den 1520er-Jahren das französische Zentrum für die Produktion evangelischer Drucke, v. a. in den Werkstätten von Simon de Colines und Simon du Bois. Ansonsten kommen heterodoxe lateinische Schriften aus den angrenzenden Gebieten ins Königreich, insbesondere aus Straßburg, aber auch aus Basel und Antwerpen.330 Dagegen schreiben einzelne altgläubige Autoren, u. a. Josse Clichtoveus mit dem 1524 erschienenen Antilutherus.331 Mitte der 1520er-Jahre bemüht sich die Theologische Fakultät, unterstützt durch das Parlament, die Veröffentlichung von Bibelübersetzungen, v. a.

325 Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309, S. 288; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 392–394. 326 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 400; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 18 f. 327 Vgl. dazu die neuen Ergebnisse von Büttgen, Philippe: Luther et la philosophie. Études d’histoire. Paris 2011 (Contextes). S. 158–161. Er stellt zudem die Frage nach der Position der Philosophie in der Theologie als einen zentralen Differenzpunkt zwischen Wittenberg und Paris heraus. Die lange Dauer der Entscheidung ist hingegen laut Farge nicht auf Ausweichen und Nachlässigkeit der Theologen zurückzuführen, sondern auf deren Ziel, ein gründliches und verschwiegenes Verfahren abzuhalten. Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 125–129, 165–167; Vgl. ferner Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 92 f.; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 217; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 400 f.; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 83. 328 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 168 f.; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 93–95. 329 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 401; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 83 f. 330 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 33–36. 331 Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 98–102.



6 Präsentation der Fallstudien 

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Lefèvres Epistres et évangiles, zu unterbinden.332 1531 ernennen die Theologen und das Parlament jeweils zwei Visitatoren für Buchhandlungen. Die Faculté verurteilt einige Luther-Übersetzungen und den Oraison de Jesus-Christ (Farel/Luther).333 Eine systematische und effiziente Zensur „heterodoxer“ Schriften findet allerdings erst ab Beginn der 1540er-Jahre statt.334 Derweil bekennen sich in Paris erste Priester zu Luthers Theologie bzw. zu bestimmten Aspekten von dieser. Der Augustiner Arnaud de Bronoux etwa predigt 1523 gegen den Papst und die Werkegerechtigkeit. Evangelische Wissensformen werden in der Universität offenbar besonders unter Studenten aus dem Alten Reich und der Eidgenossenschaft rezipiert.335 Am 8. August 1523 kommt es zur ersten Hinrichtung. Der normannische Augustinermönch Jean Vallière wird gehängt und verbrannt.336 Viele weitere werden folgen, darunter der bekannte und langwierige Fall von Louis Berquin. Der von Lefèvre beeinflusste Humanist und Übersetzer von Erasmus und Luther wird 1523 und 1526 verhaftet, kann aber dank der Patronage von Margarete von Angoulême und Franz I. der Hinrichtung als Ketzer entgehen. 1528 wird Berquin erneut verhaftet und am 17. April 1529 – in Abwesenheit des Königs – hingerichtet und verbrannt.337 Wie stark ansonsten Franz I. darauf hinwirkt, den Raum der religiösen Möglichkeiten in einem humanistisch-reformerischen Sinn offen zu halten, zeigt sich ex negativo während seiner spanischen Gefangenschaft nach der Schlacht von Pavia ab Februar 1525. Gedeckt von der Regentin, der Königinmutter Luise von Savoyen, beginnen die Theologische Fakultät und das Parlament mit der Zerschlagung des evangelischen Kreises von Meaux. Ein neues Inquisitionstribunal wird in Paris eingerichtet, die sogenannten juges délégués. Als Franz I. aus Spanien zurückkehrt, öffnet sich der Raum der Möglichkeiten für die Evangelischen wieder. Der altgläubige Theologe Noël Beda publiziert seine Annotationes zu Texten von Lefèvre und Erasmus – doch schon bald muss das Parlament auf königliche Anweisung hin die Verbreitung des BedaTextes stoppen. Die juges délégués werden 1527 wieder abgeschafft und die Theologische Fakultät darf nichts drucken lassen ohne vorherige Genehmigung durch das Parlament.338

332 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 178 f. 333 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52. 334 Für einen Überblick zur Zensur in Paris und ganz Frankreich vgl. Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 154–158. 335 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 401. 336 Vgl. Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 59; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 217; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 401 f. 337 Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), 239–240; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 217; Babelon, Paris (wie Anm. 309). S. 402–405; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 22 f., 52 ; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 173 f., 198; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 63 f. 338 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 47–49, 155; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 88 f.; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 181–196; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 203–208, 221–237; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 59–62.

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 Einleitung

Lutherische Zugehörigkeiten und Überzeugungen manifestieren sich in Marienund Heiligenikonoklasmen. Auf diese antworten die Pariser Institutionen und die Monarchie auf zwei Arten: Mobilisierung der Justiz und Prozessionen.339 Der Präzedenzfall wird in einer Nacht Anfang Juni 1528 geschaffen, als eine Marienstatue mit Jesuskind in der rue des Juifs zerstört wird. Die Pfarreien und die Universität organisieren schon in den folgenden Tagen Prozessionen. Am Tag nach Fronleichnam nimmt Franz I. selbst an einer der Bußprozessionen teil und ersetzt die zerstörte Figur. Nichtsdestotrotz kommt es 1530 zu einem neuen Marien-Ikonoklasmus mit neuen Prozessionen.340 Die evangelische Bewegung lässt sich v. a. in universitären Humanistenkreisen, in den Kollegien der Universität, bei einem Teil des Klerus sowie bei gebildeten Bürgern und Händlern verorten.341 Zwischen 1533 und 1535 verdichtet sich die Pariser Religionsgeschichte durch eine Kette von Ereignissen und Entscheidungen, die zumindest kurzfristig den Spielraum für die Religionsgruppen beträchtlich verändern. In der Fastenzeit 1533 lässt die Schwester des Königs, Margarete von Navarra, den evangelischen Prädikanten Gérard Roussel vor 5.000 Zuhörern beim Louvre sprechen. Dagegen beginnen, auf Initiative der Theologischen Fakultät, sechs altgläubige Bakkalaureaten ebenfalls zu predigen und dabei Margarete heftig anzugreifen. Bei einer Novene bekunden die Teilnehmer ihre Anhängerschaft an das Papsttum. Die Reaktionen sind scharf, zumal die altgläubigen Prediger bei Hofe als Aufrührer gelten: Es kommt zu Verhaftungen, Predigtverboten und Verbannungen aus Paris.342 An Allerheiligen 1533 hält der neu gewählte Rektor der Universität Paris, Nicolas Cop, eine von vielen Zeitgenossen als klar evangelisch eingestufte Rede, in deren Folge er aus Paris fliehen muss  – ebenso wie ein gewisser Johannes Calvin. Nach einer euphorischen Phase und anscheinend günstigen Umständen für die Evangelischen dreht sich jetzt der Wind, zumal nach dem einvernehmlichen Treffen von Franz I. mit Papst Klemens VII. Ende 1533 in Marseille. In diesem Umfeld entstehen zwei päpstliche Bullen. Die erste ist adressiert an alle Erzbischöfe, Bischöfe und Inquisitoren Frankreichs und auf den 30. August 1533 datiert. Sie regelt die nun möglichen Schnellverfahren gegen verdächtige Evangelische. Die zweite Bulle wird nach dem Treffen von Marseille verfasst, wahrscheinlich auf Bitten des Königs. Sie ist auf den 10. November datiert und regelt die Modalitäten der Degradierung lutherischer Priester. Die Bullen werden vom Pariser Parlament angenommen und Ende Dezem-

339 Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 217. 340 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 403–406; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 100 f.; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 62 f.; Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 179–185. 341 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 406. 342 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 406 f.; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 102 f.; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 201–203; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 46–52; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 259.



6 Präsentation der Fallstudien 

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ber publiziert. Laut J. Dupèbe und F. Higman bezieht Franz I. damit zum ersten Mal klar und öffentlich Stellung gegen die evangelische Bewegung. Während u. a. Roussel und zwei Augustiner verhaftet werden, dürfen in den letzten Dezembertagen 1533 die verbannten altgläubigen Prediger nach Paris zurückkehren. Doch etwa zeitgleich bemüht sich der König um den Kontakt und ein letztlich nicht zustande gekommenes Kolloquium mit Melanchthon in Paris. Franz I. liegt daran, einer Positionsverhärtung und dem Eindruck einer zu harten Repression der Evangelischen vorzubauen, auch im Kontext der außenpolitischen Annäherung an die protestantischen Fürsten und Städte des Alten Reichs. Noël Beda wird erneut verhaftet und wie Nicolas Leclerc eingesperrt. Auch Le Picart wird nach einiger Zeit eingesperrt, wahrscheinlich wegen seiner Predigten.343 Am Morgen des 18. Oktober 1534 finden die Pariser an vielen Orten der Stadt Flugblätter mit einem polemischen Inhalt aus der Feder von Antoine Marcourt gegen die altgläubige Messe und die Transsubstantiation. Es handelt sich um die folgenreiche affaire des placards. Die Reaktion ist heftig, trotz oder gerade wegen der Abwesenheit des Königs. Gerüchte machen die Runde, denen zufolge die „Ketzer“ während der Messen die Kirchen mit den darin versammelten Gläubigen niederbrennen wollen. Andere glauben an einen bevorstehenden Sturm auf den Louvre. Die Gefangenen Le Picart und Leclerc kommen frei. Nur Beda profitiert nicht von den Wirkungen der Plakataffäre. Er muss im Februar oder März 1535 öffentlich Buße (amende honorable) vor Notre-Dame leisten und wird auf den Mont-Saint-Michel verbannt, wo er 1537 stirbt. Mitte November 1534 taucht ein zweites Flugblatt von Marcourt auf, in dem er die Thesen der ersten placards nochmals zuspitzt. Diese Schriften werden am 13. Januar 1535 heimlich im Louvre und an anderen Orten in Paris verteilt. D. Crouzet und L. Taylor sehen hier den eigentlichen, entscheidenden Auslöser für die folgende Repressionswelle durch die Monarchie. Bereits am 19. Oktober beschließt der Stadtrat die Abhaltung einer Generalprozession, die am 21. Januar 1535 vom Louvre bis zur Kathedrale Notre-Dame stattfindet. Daran nehmen u. a. Franz I., der danach Paris offenbar wieder verlässt, die königliche Familie, der gesamte Pariser Klerus und der Adel teil. An diesem Tag werden sechs Evangelische sowie „ketzerische“ Bücher verbrannt. Bereits zuvor kommt es immer wieder zu Prozessionen mit dem Sakrament. Manche Evangelische oder diejenigen, die sich gefährdet sehen, können fliehen, dar-

343 Zu den Vorgängen dieser zentralen Monate vgl. Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 204–206; Dupèbe, Document sur les persécutions (wie Anm. 312), S. 406–414; Berthoud, Gabrielle: La „Confession“ de maître Noël Beda et le problème de son auteur, in: BHR 29 (1967). S. 373–397; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 262–265; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 217 f.; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 407 f.; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 53–55; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 56–60; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 103–105. Zu Melanchthon vgl. Scheible, Heinz: Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich. In: Heinz Scheible. Aufsätze zu Melanchthon. Tübingen 2010 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 49). S. 173–188; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 150–158.

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 Einleitung

unter Clément Marot. Am 13. Januar 1535 verbietet Franz I. generell den Druck von Büchern – eine Maßnahme, die aber schon zwei Wochen später rückgängig gemacht werden muss .344 Das Edikt von Coucy (16.7.1535) schließlich bietet reuigen Evangelischen – aber nicht „Sakramentariern“ – eine Amnestie an. Die intensiven Verfolgungen nach der Plakataffäre enden daraufhin auch in Paris.345 Dort werden in den sieben Monaten nach der ersten Plakataffäre zwei Dutzend Menschen hingerichtet – in so kurzer Zeit wurden nie zuvor und nie danach so viele Todesurteile gegen „Ketzer“ in einer französischen Stadt vollstreckt. Zudem setzt der neue Terminus des sacramentaire eine für die kommenden Jahrzehnte prägende Repräsentation von „Häretikern“ im französischen Rechtsdiskurs.346 Zentrale Bausteine der Paris-Fallstudie sind drei zeitgenössische Selbstzeugnisse. Die wohl bekannteste, religionsgeschichtlich detaillierteste und deshalb häufig zitierte Quelle ist das Notizbuch eines anonymen Parisers aus den Jahren 1515 bis 1536.347 Beim zweiten Selbstzeugnis handelt es sich um das wohl für den persönlichen Gebrauch verfasste Notiz- und Tagebuch (livre de raison) von Nicolas Versoris, Anwalt im Pariser Parlament. 348 Drittens untersuche ich die tagebuchartigen Aufzeichnungen (1522–1535) von Pierre Driart, Kämmerer des Kanonikerstifts Saint-Victor vor den Toren der Stadt.349 Zu zentralen Ereignissen gibt es zudem für die altgläubige Seite – v. a. aus dem Umfeld von Parlament und Theologischer Fakultät – eine gute Edition mit zentralen Texten von J. K. Farge.350

344 Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 265–278; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 218; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 410 f.; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 106–108; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 60–63; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 69–73. 345 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 81; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 206 f.; Crouzet, Genése (wie Anm. 22), S. 278 f.; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 73 f. 346 Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 69. 347 Journal tenu par un bourgeois de Paris au temps de François Ier, 2. Bde. Clermont-Ferrand 2001 (Sources de l’histoire de France). Für meine Analyse zentrale Stellen habe ich mit der ersten Edition verglichen, deren Kommentare und Einführung ich außerdem heranziehe. 348 Fagniez, Gustave (Hrsg.): Livre de raison de Me Nicolas Versoris, avocat au Parlement de Paris, 1519–1530. Paris 1885 (Extrait des „Mémoires de la Société de l’histoire de Paris et de l’Ile-de-France“ 12). 349 Bournon, Fernand: Chronique parisienne de Pierre Driart, chambrier de Saint-Victor (1522–1535). In: Mémoires de la Société de l’histoire de Paris et de l’Île-de-France 22 (1895). S. 67–178. 350 Farge, James K. (Hrsg.): Le parti conservateur au XVIe siècle. Université et Parlement de Paris à l’époque de la Renaissance et de la Réforme. Paris 1992 (Documents et inédits du Collège de France).

Teil I: Repräsentationen der Unterschiede

Wir schreiben das Jahr 1522. Der arme Landsknecht Veit befindet sich gerade in Frankreich, als er zum ersten Mal von Martin Luther hört. Luther prangere die Not in Deutschland an und rufe einen neuen Bund zusammen. Veit will da nicht abseitsstehen und eilt zurück in sein Vaterland. Doch kaum ist er dort angekommen, macht sich Ernüchterung breit: „So ist es nur ein münches dant“, stellt der Landsknecht fest. Luther zahle keinen Sold und, was besonders schwer wiegt, er gebe seiner Vereinigung keinen Namen. Veit schaut sich daraufhin den Bund etwas genauer an, denn niemand wisse, wer diese Schelme eigentlich sind. Dem Text des Wormser Edikts entnimmt der Landsknecht, dass der lutherische Bund dem Kaiser und dem ganzen Reich feindlich gegenüberstehe. Doch gegen „mein erboren reich“ wolle er niemals kämpfen, zumal der Türke vor den Toren liege. Deshalb ändert Veit seine Meinung und will nun sogar ohne Sold dabei helfen, Luther und die Bundesmitglieder zu töten. Er empört sich über die Forderungen und die Taten der Lutherischen: Priesterheirat, Fastenbrechen, Veränderung religiöser Rituale und die Verbreitung deutscher Schriften. Besonders erzürnt ihn, dass die Heiligen aus den Kirchen geworfen werden und deren Anrufung verboten wird – dabei sind die Heiligen für Veit unverzichtbare Helfer in der Not. Mit wüsten Flüchen hofft der Landsknecht auf das baldige Ende des Bundes, der gegen so vieles kämpfe, was ihm wichtig ist und dessen Bedeutung ihm jetzt auf ganz neue Weise bewusst wird.351 Veit ist eine Figur aus der Flugschrift Vom großen lutherischen Narren des altgläubigen Straßburger Autors Thomas Murner. Mit diesem Text greift Murner im Jahr 1522 Entwicklungen auf, die ihm vor Augen stehen: Es bilden sich verschiedene Gruppierungen mit verschiedenen Anliegen, deren Namen und Wesen aber noch nicht recht klar sind. Die „Lager“ konstituieren sich im Zusammenspiel aus einer Reihe religiöser Praktiken, Gegenstände und Glaubensinhalten, mit denen der Landsknecht in Murners Text den lutherischen Bund erkennt und überlegt, in welches Heerlager er selbst gehört. Die Flugschrift spiegelt damit elementare und epochemachende Prozesse wider, die in den 1520er- und 1530er-Jahren im Alten Reich und in Frankreich stattfinden. Es wird deutlich, dass Flugschriften sozioreligiöse Prozesse in der Gesellschaft der Frühreformation spiegeln, Themen aufgreifen, Ereignisse und entstehende Gruppen deuten und Rituale sowie religiöse Gegenstände in ihrer neuen, distinktiven Bedeutung herausarbeiten. Da sie v. a. im Alten Reich auf allen Seiten massenhaft verbreitet werden, nehmen sie eine zentrale kulturelle Funktion während der frühen Reformationszeit ein. Flugschriften spiegeln und deuten die von den Akteuren und Gruppen empfundenen Deutungen und Einordnungen des Eigenen und des Anderen sowie der damit einhergehenden Klassifizierungsmerkmale. Dies gilt besonders für die volkssprachlichen Texte, die naturgemäß ein ungleich größeres Publikum errei-

351 Murner, Thomas: Von dem großen Lutherischen Narren. Hrsg. von Paul Merker. Straßburg 1918 (Thomas Murners Deutsche Schriften 9). S. 162–165. DOI 10.1515/9783110492460-002

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 Teil I: Repräsentationen der Unterschiede

chen als die lateinischen Theologenpamphlete. Damit sind Vernakularflugschriften eine der wichtigsten repräsentationsgeschichtlichen Quellen der Religionsgeschichte des frühen 16. Jahrhunderts. Während die Texte und Bilder der Evangelischen jener Jahre auch in ihrer sozialen und kulturellen Dimension bereits gut erforscht sind, bestehen nach wie vor große Lücken hinsichtlich der altgläubigen Publizistik. Das ist vor allem für das Alte Reich mit seinem großen Aufkommen an Kontroverstexten erstaunlich. Inhaltliche Analysen beschränken sich bisher vielfach auf die lateinische Publizistik und sind in der Theologie- und Kirchengeschichte verankert.352 Ich werde in diesem Teil der Studie neue Aspekte in die Beschäftigung mit altgläubigen Flugschriften einbringen. Ich konzentriere mich auf die volkssprachliche Publizistik und untersuche diese mit dem methodischen Instrumentarium der materialen Textkultur-Theorie. Dabei spielen Verbreitungs- und Rezeptionsstrategien und die Fokussierung auf die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern sowie auf die Entwicklung distinktiver Wissensordnungen in Hinsicht auf Rituale und Artefakte eine herausragende Rolle. Der Vergleich zwischen deutscher und französischer Flugschriftenkultur wird mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden auch die Partikularitäten der jeweiligen Kontroverspublizistik und deren Gründe in einem neuen Licht erscheinen lassen. In einem weiteren Schritt ermöglicht es der Abgleich mit den konkreten Differenzierungsprozessen und der tatsächlichen Anwendung von distinktivem Deutungswissen in Teil II und Teil III dieser Studie, Aussagen über die Bezüge zwischen polemischer Literatur und den realen Erfahrungen von Differenz und Zugehörigkeit durch die einfachen Gläubigen und Priester zu treffen. Ich werte in der Folge eine Auswahl von ca. 100 deutschsprachigen und 15 französischsprachigen Flugschriften aus dem altgläubigen Lager aus. Untersucht werden die Texte, deren Autoren in anderen Quellen oder Flugschriften als explizit altgläubig benannt werden bzw. die in der Forschung als solche gesichert bekannt sind. Geeignet für die Untersuchung sind weiterhin jene Publikationen, die sich besonders mit distinktiven Praktiken sowie der Konstruktion von Fremd- und Selbstbildern befassen. Im ersten Kapitel ordne ich die Flugschriften in ihrer doppelten Funktion als historisch relevante Gegenstände und als Quellen ein. Dabei geht es um die statistische Dimension ebenso wie um Fragen der Verbreitung und Rezeption der altgläubigen Texte und die Wahrnehmungen der evangelischen Schriften. So können Flugschriften hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung für die Differenzbildung der frühen Reformationszeit neu eingeordnet und ihre Aussagekraft als Quelle neu bewertet werden. Danach erfolgt in den Kapiteln zwei bis vier die inhaltliche Analyse der Texte hinsichtlich der Begriffsbildungen, der Entstehung von Fremd- und Selbstrepräsentationen sowie der Repräsentation distinktiver Praktiken und deren Bedeutungen für die Zugehörigkeitskonstruktion.

352 Vgl. ausführlicher im Forschungsüberblick in Kap. I. 1.1.

1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand 1.1 Publizistik im Alten Reich und in Frankreich: Ein Überblick Unsere Kenntnis der altgläubigen Flugschriften und Flugblätter hat sich in den vergangenen 25 Jahren deutlich verbessert. Doch eine Funktion, die der von reformatorischen Schriften vergleichbar wäre, ist den altgläubigen Drucken im Alten Reich in der Praxis nie zugeschrieben worden. Das liegt einerseits an der historischen Tatsache ihrer deutlich geringeren Stückzahl, andererseits an der forschungsgeschichtlichen Dominanz der Kirchengeschichte, die lange eher lateinische Fachtexte von Theologen für Theologen ausgewertet hat, anstatt sich mit den volkssprachlichen Drucken auseinanderzusetzen. Die deutschen Kontroverstheologen wurden dabei wegen der von ihnen vorgebrachten Lehrinhalte und ihres angeblichen Misserfolgs als erste Gegner Luthers meist kritisch gesehen oder gar unwirsch abgekanzelt, selbst von Katholiken wie Joseph Lortz.353 Auch die Tendenz zur isolierten Betrachtung, anstatt auf die Interaktions- und Bezugsmechanismen der Texte zu achten, hat ihr Scherflein zur lückenhaften Kenntnis der antilutherischen Vernakulardrucke beigetragen. So gerieten in der neueren Forschung über die Luthergegner andere Kommunikationsformen in den Mittel-

353 Lortz, Joseph: Wert und Grenzen der katholischen Kontroverstheologie in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts. In: Um Reform und Reformation. Zur Frage nach dem Wesen des „Reformatorischen“ bei Martin Luther. Hrsg. von August Franzen. Münster, 2. Aufl., 1983 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 27/28). S. 9–32. Vgl. ferner Jedin, Hubert: Die geschichtliche Bedeutung der katholischen Kontroversliteratur im Zeitalter der Glaubensspaltung. In. Historisches Jahrbuch 53 (1933). S. 70–97; Iserloh, Erwin: Der Kampf um das Verhältnis der Freiheit des Christenmenschen. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. 4, Reformation, katholische Reform und Gegenreformation. Hrsg. von Hubert Jedin [u. a.]. Freiburg im Breisgau 1967. S. 115–216, hier S. 201–216. DOI 10.1515/9783110492460-003

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

punkt, etwa Predigten354, gedruckte Bilder355 und Musik.356 Auch unser Wissen über die Druck- und Buchhandelsinfrastruktur hat sich deutlich verbessert.357 Dennoch: Seit den 1980er-Jahren hat sich die altgläubige Flugschriftenforschung zum Alten Reich durch ihre Aufarbeitung in Registern358 sowie durch die quantitativen Analysen u. a. von Mark U. Edwards erneuert.359 Damit gerieten die Schriften nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch als historische Gegenstände in den Blick der Forschung. Zuletzt wurden diese Ansätze mit Studien über die Zensur360, den Handel361 sowie sprach- und literaturwissenschaftliche Aspekte362 gewinnbringend vorangetrieben.

354 Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany. Oxford/New York 2010; Taylor, Larissa: Soldiers of Christ. Preaching in Late Medieval and Reformation France. New York/Oxford 1992; Taylor, Good Sheperd (wie Anm. 313); Frymire, Postils (wie Anm. 42). 355 Scribner, Robert W.: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford, Clarendon Press, 1994; Deyon, Propagande religieuse; Suckale, Robert: Themen und Stil altgläubiger Bilder 1517–1547. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Hrsg. von Andras Tacke. Regensburg 2008. S. 34–70. 356 O’Regan, Noel: Music and the Counter-Reformation. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 337–353. Vgl. auch Dixon, C. Scott: Contesting the Reformation. Malden 2012 (Contesting the Past). S. 79–80. 357 Keen, Ecclesiastical Patronage (wie Anm. 13); Gilmont, Jean-François: Le „Protestantisme“ des libraires et typographes lyonnais (1520– 1560). In: Revue d’histoire ecclésiastique (RHE) 101 (2006). S. 988–1013; Ornato, Ezio: Les conditions de production et de diffusion du livre médiéval (XIIIe–XVe siècles). Quelques considérations générales. In: Culture et idéologie dans la genèse de l’État moderne. Actes de la table ronde organisée par le Centre national de la recherche scientifique et l’École française de Rome, 1517 octobre 1984. Rom 1985 (Collection de l’École française de Rome 85). S. 57–84; Audisio, Gabriel: Deux réseaux, quatre circuits. Le livre religieux en Provence au XVIe siècle. In: Le livre religieux et ses pratiques. Etudes sur l’histoire du livre religieux en Allemagne et en France à l’époque moderne. Hrsg. von Gérald Chaix [u. a.]. Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 101). S. 95–109. 358 Klaiber, Wilbirgis (Hrsg.): Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jahrhunderts. Ein Werkverzeichnis. Münster 1978 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 116). Einige Fehler werden aufgezeigt von Gilmont, Jean-François: La bibliographie de la controverse catholique au XVIe siècle. Quelques suggestions méthodologiques. In: RHE 74 (1979). S. 362–371. 359 Edwards, Printing (wie Anm. 13); Edwards, Controversial Literature (wie Anm. 13). 360 Creasman, Censorship (wie Anm. 163). 361 Fudge, John D.: Commerce and Print in the Early Reformation. Leiden 2007 (The Northern world 28). 362 Bremer, Kai: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104).



1.1 Publizistik im Alten Reich und in Frankreich: Ein Überblick 

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Die theologischen Gesichtspunkte hat David V. N. Bagchi in den 1990er-Jahren gründlich aufgearbeitet.363 Seit einiger Zeit wird die essenzialistische Textexegese aber abgelöst durch einen vielschichtigeren Zugriff auf das Medium Flugschrift. Bildprogramme, Rezeptionsmechanismen und Verbindungen mit der Volkskultur kamen in den Fokus der Wissenschaft, ebenso die Kontexte, in denen die Schriften produziert und verbreitet werden.364 Robert Scribner hat mit seiner Studie über die Abbildungen in Flugblättern und -schriften bereits in den 1980er-Jahren ein neues Forschungsfeld zur Repräsentationskultur erschlossen.365 Im Alten Reich finden sich Illustrationen wie z. B. Holzschnitte v. a. in lutherischen und nur gelegentlich in antireformatorischen Drucken, in Frankreich benutzen auch die Evangelischen fast nie Visualisierungen.366 In Frankreich sind antievangelische Flugschriften der 1520er- und 1530er-Jahre, von Ausnahmen abgesehen, kaum erforscht. Wenn, dann fanden v. a. die Antworten auf die Flugblätter der Plakataffäre von 1534/35 Beachtung. Insbesondere sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze fehlen weitgehend für die altgläubige Publizistik bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.367 Bis in die 1980er-Jahre wurde die frühreformatorische altgläubige Publizistik in Frankreich von der Forschung als letztlich unhörbar abgetan und als ernstzunehmender Propagandafaktor erst für die Zeit kurz vor den Religionskriegen akzeptiert. Zwischenzeitlich hat sich diese Haltung so weit verändert, dass von einer schnellen, effizienten und bewussten publizistischen Reaktion

363 Bagchi, Earliest Opponents (wie Anm. 43); Bagchi, David V. N.: „Eyn mercklich underscheyd.“ Catholic Reactions to Luther’s Doctrine of the Priesthood of All Believers, 1520–25. In: The Ministry. Clerical and Lay. Hrsg. von William J. Sheils u. Diana Wood. Cambridge 1989 (Studies in Church History 26). S. 155–165; Bagchi, Catholic Opponents (wie Anm. 17). 364 Zugleich haben manche Forschungsrichtungen die exklusive Bedeutung von Büchern für die evangelische Bewegung relativiert. Vgl. Dixon, Contesting the Reformation (wie Anm. 356), 71–80. 365 Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355); Scribner, Robert: Reformatorische Bildpropaganda. In: Historische Bildkunde: Probleme – Wege – Beispiele. Hrsg. von Brigitte Tolkemitt u. Rainer Wohlfeil. Berlin 1991 (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 12). S. 83–106; Vgl. ferner Deyon, Pierre: Sur certaines formes de la propagande religieuse au XVIe siècle. In: Annales ESC 36 (1981). S. 16–25; Talkenberger, Heike: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften, 1488–1528. Tübingen 1990. 366 Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 50. 367 Higman, Francis M.: Premières réponses catholiques aux écrits de la Réforme en France, 1525–c. 1540. In: Le Livre dans l’Europe de la Renaissance. Actes du XXVIIIe Colloque international d’études humanistes de Tours. Hrsg. von Pierre Aquilon u. Henri-Jean Martin. Paris 1988 (Histoire du livre). S. 361–377; Higman, Francis M.: La réfutation par Pierre Doré du catéchisme de Megander. In: Aux origines du catéchisme en France. Hrsg. von Marc Venard [u. a.]. paris 1989 (Relais-études 6). S. 55–66; Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 201 f. Mit dem altgläubigen Protestantenbild vor den Religionskriegen beschäftigte sich Sypher, G. Wylie: „Faisant ce qu‘il leur vient a plaisir“. The Image of Protestantism in French Catholic Polemic on the Eve of the Religious Wars. In. SCJ 11 (1980). S. 59–84.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

der französischen Altgläubigen gesprochen wurde. Mittlerweile wird diesen etwa von Andrew Pettegree sogar eine Art Feldvorteil zugesprochen.368 Um was handelt es sich genau bei Flugschriften? In der Forschung werden diese Texte, deren Bezeichnung im 16.  Jahrhundert „biecher“, „büchleyn“ oder „livres“ lautet, als eine Form des reformationszeitlichen Propagandaschriftguts verstanden. Dem deutschen Terminus stehen die französischen Bezeichnungen pamphlet oder libelle gegenüber. Der deutsche Begriff „Flugschrift“ stammt aus dem späten 18. Jahrhundert. Darunter sind ungebundene, unterschiedlich lange, in großer Zahl gedruckte und günstig zu erwerbende religiöse Text mit kontroversem Inhalt zu verstehen. Flugschriften sind auf keine literarische Gattung festgelegt. Bei einer gewissen Zahl werden gar kein oder nicht der wahre Autor und Drucker im Titel oder in der Signatur angegeben. Da die „büchleyn“ leicht zu transportieren und zu verstecken sind, können sie gut von Buchhändlern, Kaufleuten oder Druckern vertrieben werden. Obwohl die Länge beträchtlich schwankt, sind zumindest evangelische Schriften meist kurz gehalten. Der Durchschnitt liegt bei 16 Blatt, die abgesehen von der Titelseite meist unbebildert sind.369 Auch das unterscheidet sie von den einseitigen Flugblättern, die in dieser Arbeit nicht behandelt werden.370 Dank detaillierter quantitativer Forschungen können die Chronologie und die räumliche Verteilung von Flugschriften besonders im Alten Reich gut überblickt werden. Dort ist allgemein bis in die Mitte der 1520er-Jahre ein starker Anstieg der Flugschriftenproduktion zu verzeichnen. Zwischen 1518 und 1524 steigt die Zahl der „büchleyn“ um das Achtfache: Etwa 6,6 Millionen Exemplare verlassen die Offizinen zwischen 1520 und 1526. Das entspricht 73,9 % aller Drucke der 1520er-Jahre. Damit ist allgemein ein Sprachwandel hin zur Volkssprache verbunden.371 Evangelische Schriften dominieren das publizistische Feld insbesondere bis 1525. Martin Luther veröffentlicht zu dieser Zeit mehr als alle anderen evangelischen Autoren zusammen, wird zum Ende der 1520er-Jahre aber zu einem schwerpunktmäßig in Mittel- und Nord-

368 Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 43; Pettegree, Andrew: Catholic Pamphleteering. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. Von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 109–126, hier S. 119, 121. 369 Moeller, Bernd: Flugschriften der Reformationszeit, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 11 (1993). S. 240–246, hier S. 240; Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 15 f.; Scheible, Heinz: Reform, Reformation, Revolution. Grundsätze zur Beurteilung der Flugschriften. In: ARG 65 (1974). S. 108–134, hier S. 108–111; Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 362), S. 5–6, 27–32. 370 Flugblätter bestehen aus einem großen Blatt mit kurzem und prägnantem Text und einem Kupferstich, einem Holzschnitt oder einer Radierung. Text und Bild sind genau aufeinander abgestimmt und werden in ihrer kommunikationsgeschichtlichen Funktion und Wirkung anders eingestuft. Vgl. Oelke, Konfessionsbildung (wie Anm. 41), S. 18–20. 371 Zu den Statistiken vgl. Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 16–21. Die Tendenz wird bestätigt bei Crofts, Richard A.: Printing, Reform, and the Catholic Reformation in Germany (1521–1545). In: SCJ 16 (1985). S. 369–381, hier S. 373–375.



1.1 Publizistik im Alten Reich und in Frankreich: Ein Überblick 

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deutschland gedruckten Autor. Mehr als ein Drittel aller Flugschriften stammen aus dem Süden des Alten Reichs, v. a. aus Augsburg, Straßburg und Basel.372 Die altgläubigen Auflagenzahlen liegen weit hinter jenen der Evangelischen zurück. Zwischen 1518 und 1544 zählt Edwards allein für Luther 2.551 deutschsprachige Schriften, darunter auch nicht-Polemische, und ohne das Neue Testament. Auf altgläubiger Seite erscheinen nur 514 Schriften bzw. 542, wenn alle undatierten Editionen dazugezählt werden. Richard A. Crofts kommt in seinen Schätzungen auf 992 altgläubige Publikationen zwischen 1521 und 1545. Diese unterteilt er in Neueditionen von Väterliteratur, nichtkontroverse und kontroverse Literatur. Letztere habe etwa ein Drittel aller altgläubigen Publikationen ausgemacht. Zwischen 1518 und 1524 sind die Druckorte für altgläubige „büchleyn“ recht verstreut. Sogar in Städten mit starken evangelischen Bewegungen wie Augsburg und Straßburg wird in diesen Jahren noch antilutherische Literatur herausgebracht. 41,2 % der Texte sind laut Edwards auf Deutsch verfasst, 45 % laut Crofts. Der Höhepunkt der deutschsprachigen Produktion liegt zwischen 1525 und 1529 mit 49,2 % aller altgläubiger Drucke, um in der ersten Hälfte der 1530er-Jahre auf 44,5 % zu fallen. Danach sinkt die vernakulare Veröffentlichungsquote weiter ab von 39,8 % (1535–39) bis auf 23,4 % (1540–44). Ab der zweiten Hälfte der 1520er-Jahre kristallisieren sich zudem zwei altgläubige Druckzentren heraus: die Stadt Köln sowie Leipzig und Dresden im albertinischen Herzogtum Sachsen. Als dieses 1539 reformiert wird, verlagern sich die altgläubigen Druckanstrengungen nach Mainz und Ingolstadt. In Leipzig und Dresden wird die Mehrzahl der Drucke auf Deutsch verfasst, in den Städten am Rhein nur ein Sechstel.373 So ist es nicht verwunderlich, dass viele der produktivsten altgläubigen Autoren wie Johannes Cochlaeus, Hieronymus Emser, Petrus Sylvius oder Georg Witzel zumindest zeitweise im Herzogtum Sachsen leben und von Herzog Georg gefördert werden.374 Diese Befunde spiegeln sich auch in den für diese Arbeit untersuchten volkssprachlichen Flugschriften aus dem Alten Reich wieder: Sie kommen zu einem beträchtlichen Teil aus Leipzig und Dresden. Die zweite, zahlenmäßig deutlich kleinere Schriftengruppe wird in Ingolstadt und München gedruckt. Schließlich gibt es eine dritte Gruppe, v. a. aus den frühen 1520er-Jahren, die breiter gestreut publiziert wird, besonders in Straßburg u. a. mit Murner, Cochlaeus und Dietenberger, aber auch in Augsburg, Köln, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Luzern, Tübingen und Mainz.

372 Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 26–28. Ähnlich Crofts, Printing (wie Anm. 371), S. 376 f. 373 Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 28–35; Edwards, Controversial Literature (wie Anm. 13), S. 190–197; Crofts, Printing (wie Anm. 371), S. 376, 378–381; Keen, Ecclesiastical Patronage (wie Anm. 13). 374 Unter den meistgedruckten Luthergegnern lebt nur der Ingolstädter Theologe Johannes Eck außerhalb des albertinischen Herzogtums. Bemerkenswert ist auch, dass eine große Zahl antilutherischer Autoren auf nicht mehr als ein paar Publikationen kommt. Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 36 f.; Edwards, Controversial Literature (wie Anm. 13), S. 197 f.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

Flugschriften stellen mit ihrer schieren Masse sowie der Vielfalt der Produktionsund Rezeptionskontexte bis 1540 einen deutschen Ausnahmefall in der europäischen Buch- und Kommunikationsgeschichte dar.375 Das macht der Blick nach Frankreich deutlich. Nach dem Verbot von Luthers Schriften durch die Theologische Fakultät Paris und der in der Folge einsetzenden Zensur ist es unmöglich, lutherische Schriften in größerer Zahl zu verbreiten. Frankreichs Evangelische sind deshalb gezwungen, als Einzelkämpfer und heimlich zu publizieren. Für Jahrzehnte bleibt ihre Produktion eher marginal.376 Das führte dazu, dass ist in der französischen Historiographie die kategoriale Trennung zwischen den einzelnen Publikationsformaten weniger stark ausgeprägt ist als in der deutschen.377 Hubert Carrier hat einige Merkmale für den in der französischen Forschung häufig verwendeten Begriff pamphlet ausgearbeitet. Diese seien hinsichtlich der Seitenzahl nach unten hin offen und schließen Einblattdrucke mit ein. Ansonsten wehrt sich Carrier gegen formale Eingrenzungen und definiert das pamphlet eher über die Tonlage des Angriffs und der Abgrenzung.378 Francis Higman hat 80 evangelische Kontroversschriften bis 1530 identifiziert. Darunter führt er unterschiedliche Gattungen und Formate wie Übersetzungen der Heiligen Schrift, Erläuterungen biblischer und liturgischer Texte, doktrinäre Schriften und Übersetzungen lutherischer Autoren an.379 Die unterschiedlichen Herangehensweisen an Flugschriften in der deutschen und der französischen Historiographie beruhen somit auf unterschiedlichen Begrifflichkeiten, Forschungstraditionen und verschiedenen historischen Gegebenheiten. In Frankreich finden sich bis 1524 auf der von den Orthodoxen als evangelisch wahrgenommenen Seite insbesondere Lefèvres Neues Testament und Erasmus-Texte. Im August 1524 veröffentlicht Guillaume Farel die erste und rasch erfolgreiche französische Reformationsschrift, Le Pater noster et le Credo en françoys.380 Die Publikationsmöglichkeiten innerhalb des Königreichs sind sehr begrenzt, weshalb evangelische Drucke aus Basel, Straßburg und Antwerpen importiert werden. Heterodoxe Literatur ist in Frankreich somit in Teilen ein Transferphänomen aus den Grenzräumen des Alten Reichs. Frühe Zentren für evangelische Drucke sind Paris mit den Offizinen von

375 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 33 f.; Pettegree, Catholic Pamphleteering (wie Anm. 368), S. 116. 376 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 36. 377 So werden oft alle Texte zusammen untersucht, die auf die eine oder andere Art kontrovers ausfallen, ohne Rücksicht auf die konkreten Formate. Diese sind somit weniger auf das für das Alte Reich standardisierte und leicht zu klassifizierende Medium der „Flugschrift“ zu reduzieren. Vgl. Nicholls, Heresy (wie Anm. 19). S. 199. 378 Carrier, Hubert: Pour une définition du pamphlet. Constantes du genre et caractéristiques originales des textes polémiques du XVIe siècle. In: Le pamphlet en France au XVIe siècle. Paris 1983 (Collection de l’École Normale Supérieure de Jeunes Filles 25). S. 123–136. 379 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 37 f. 380 Bis 1545 sollte sie 13 Neuauflagen erleben, dann unter dem Titel Oraison de Jesuchrist. Die Schrift ist eng angelehnt an Luthers Betbüchlein von 1522. Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 26–31, 33.



1.1 Publizistik im Alten Reich und in Frankreich: Ein Überblick 

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Simon de Colines (1523–1524) und Simon Du Bois (bis 1529) und Lyon, wo zwischen 1529 und 1531 Pierre de Vingle evangelische Schriften herausgibt, bevor er Farel nach Genf folgt und dort u. a. die messkritischen placards von 1534 druckt, die in Paris und anderen großen Städten des Königreichs für einen Skandal sorgen.381 Es sind v. a. solche momentanen Wogen der Erregung, die auch auf altgläubiger Seite ein breiteres publizistisches Aufkommen zeitigen.382 Erst ab den 1540er- und 1550er-Jahren verändern reformierte Flugschriften aus Genf die publizistische Lage in Frankreich.383 Allerdings gibt es über die genaue Chronologie und Verbreitung der altgläubigen Texte kaum aussagekräftige Studien.384 Die Publikationsfrequenz steigt in Frankreich leicht an, als sie im Alten Reich in ihrem Zenit steht. Viele der hier untersuchten Kontroversschriften werden in den 1530er- Jahren verfasst. Als wichtige Autoren erscheinen Guillaume Petit, Jérôme de Hangest und Pierre Doré. Doch finden sich Differenzmomente auch in den Vorworten neu aufgelegter Andachts- und Gebetsbücher.385 Für Andrew Pettegree sind Flugschriften eine typisch deutsche Erscheinungsform. In Frankreich hingegen sei das publizistische Kräfteverhältnis zwischen den religionsgemeinschaftlichen Lagern ausgeglichener. Die Gründe dafür liegen laut Pettegree im frühen Eingreifen der Obrigkeiten, dem dadurch fehlenden Markt für evangelische Publikationen, der politischen Struktur sowie in der effizienten altgläubigen Antwort.386 Breit angelegte und offene evangelische Flugschriftenpropaganda ist in Frankreich in den großen Druckorten nicht möglich, schon gar nicht auf Dauer. Deshalb sind protestantische Autoren gezwungen, immer wieder am Rand der Orthodoxie zu arbeiten und zu dissimulieren. Besonders Übersetzungen bieten Möglichkeiten, Unorthodoxes punktuell und versteckt in Texte einzufügen. Manchmal werden heterodoxe Texte unter orthodoxen Buchdeckeln feilgeboten.387 Daraus ergibt sich für Frankreich ein Erklärungsansatz für die spezifische Chronologie, die Formate und die Texttypen der Kontroversschriften. Die altgläubigen Autoren müssen meist keine großen volkssprachlichen Gegen- oder Affirmationsschriften verfassen. Kontroversen und distinktive Bekenntnisse sind in Abstimmung

381 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 34–36; Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 199–201; Gilmont, Libraires et typographes (wie Anm. 357), S. 994–996. 382 Darunter fällt die Auseinandersetzung um den Miroir de l’ame pecheresse von Margarete von Navarra. Die anonyme Schrift wurde von den Pariser Theologen wegen des Verdachts auf Heterodoxie examinierten. Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52 f. 383 Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 45–52; Brian/Le Gall, Vie religieuse (wie Anm. 278), S. 49. 384 Darüber klagt schon Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 201 f. Einen guten Überblick für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts gibt Audisio, Livre religieux (wie Anm. 357), S. 99–105. 385 Higman, Premières réponses (wie Anm. 367), S. 363–375. 386 Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 41–44. 387 Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 201; Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 44 f.; Pettegree, Catholic Pamphleteering (wie Anm. 368), S. 117 f.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

auf die mitunter nur schwer sicht- und greifbare evangelische Textkultur seltener und mitunter schlicht in herkömmliche Frömmigkeitsliteratur eingefügt. In diesem Fall finden sich zu aktuellen Ereignissen nur ein paar Bemerkungen, die fein eingestrickt und beinahe versteckt sind. Doch auch dabei werden, wenngleich auf eine andere Weise, Unterschiede konstruiert und artikuliert. Im Alten Reich wiederum entspricht die altgläubige Textkultur unter zahlenmäßigen, formalen und stilistischen Gesichtspunkten stark der evangelischen Buchmasse. Entsprechend weitläufig werde ich in dieser Studie für Frankreich auch die spezifischen, aber von ihrer historischen Funktion und der Darstellung in der Historiographie her zu deutschen Flugschriften analogen Pamphlete für den Vergleich heranziehen. Es ist der jeweilige Bezugskontext, der bei französischen und deutschen Altgläubigen Zahl, Form und Tonlage der Kontroversliteratur bestimmt. Ein ähnlicher Wandel des Blickwinkels lässt sich zuletzt auch für gedruckte Predigten feststellen. Neben der Bedeutung der praktisch gehaltenen Predigt hat John M. Frymire die wichtige Funktion katholischer Postillen, also umfassender Predigtsammlungen, seit der frühen Reformationszeit untersucht. Der Autor hebt die Rezeption dieser Texte selbst in den kleinsten und ärmsten Pfarrhäusern hervor. Damit reagieren die Altgläubigen adäquat auf die weit verbreiteten lutherischen Postillen, die in der Forschung wiederum eine lange historiographische Tradition haben.388 Die Medien der Religionsgemeinschaften werden also in der sozialen Interaktion entwickelt und eingesetzt. Dies muss einen methodischen Paradigmenwechsel nach sich ziehen. Die Frage sollte, wie auch Frymire fordert,389 nicht die nach angeblichem Erfolg oder Scheitern der frühen Altgläubigen sein. Vielmehr sollte deren Handeln, deren Selbst- und Fremdsicht und Kultur an sich dargestellt und erklärt werden. Dies kann allerdings nur geschehen, wenn das altgläubige Eigene in seinem Bezugsystem zum religionsgemeinschaftlichen Anderen untersucht wird. Denn in diesem Differenzierungsprozess entsteht überhaupt erst das distinktive Eigene, über das sich die Akteure im Zuge der Abgrenzung auf eine neue, andere Art Gedanken machen. Die altgläubigen Wahrnehmungen der evangelischen Textkulturen im Alten Reich und Frankreich sind nicht nur für sich genommen von Interesse, sondern beeinflussen auch die Selbsteinordnung sowie das eigene Auftreten und Handeln der Altgläubigen.

388 Frymire, Postils (wie Anm. 42), S. 38–125. 389 Frymire, Postils (wie Anm. 42), S. 38–49.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 1.2.1 „Öffentlicher Irrtum“: Wahrnehmungen der protestantischen Textkultur Fast alle Altgläubigen im Alten Reich, die sich zu quantitativen Fragen äußern, weisen spätestens ab 1522 auf die aus ihrer Perspektive beinahe hoffnungslose publizistische Überlegenheit Luthers und anderer evangelischer Autoren hin. Die eigene Position wird als eher isoliert betrachtet, jedoch mit unterschiedlichen Akzentuierungen je nach Herkunftsregion der Autoren und dem Zeitpunkt. Um ihre Lage zu versinnbildlichen, greifen sie Metaphern des einsamen Kämpfers und Märtyrers auf, der allein die Wahrheit verteidigt oder gerade wegen seiner prekären Lage als Prophet, der in seiner Heimat kein Ansehen hat, über die Wahrheit verfügen müsse. Der Dresdner Hofkaplan Hieronymus Emser befindet sich mit Martin Luther 1520/21 in einer direkten Auseinandersetzung.390 Mit der Schrift An den Stier zu Wittenberg entgegnet Emser auf Luthers vorangegangenen Text An den Bock zu Leipzig. Er widerspricht dem Wittenberger Augustiner, dass seit der Leipziger Disputation von 1519 alle Gelehrten zu Emsers Feinden geworden seien.391 Vielmehr zählt er mehrere Personen auf, von denen er freundliche Briefe erhalten habe: Willibald Pirckheimer, Petrus Mosellanus, Philipp Melanchthon und Johannes Lang.392 Zu dieser Gruppe, die größtenteils einem 1520 noch vielseitig vernetzten, biblischen Humanismus mit eigenem Reformprogramm zuzurechnen ist,393 will Emser 1520 in engerem Kontakt

390 Vgl. dazu Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie An. 362), S. 68–100. Zu Emsers Biographie vgl. Smolinsky, Heribert: Hieronymus Emser (1478–1527). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 37–46. Aus der älteren Kirchengeschichte vgl. Kawerau, Gustav: Hieronymus Emser. Ein Lebensbild aus der Reformationsgeschichte. Halle 1898 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 61). 391 Vgl. dazu allgemeiner die Beiträge von Armin Kohnle, Heiko Jadatz, Johann Peter Wurm, Markus Cottin und Christoph Volkmar in: Die Leipziger Disputation 1519. 1. Leipziger Arbeitsgespräch zur Reformation. Hrsg. von Markus Hein u. Armin Kohnle. Leipzig 2011 (Herbergen der Christenheit. Sonderband 18). 392 Emser, Hieronymus: An den Stier zu Wittenberg. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518– 1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 221–228, hier S. 223. Zu der lateinischen Auseinandersetzung von 1519 zwischen Emser und Luther im direkten Bezug zur Disputation von Leipzig vgl. Thurnhofer, Franz Xaver (Hrsg.): Hieronymus Emser. De disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est. A venatione Luteriana aegocerotis assertio. Münster 1921 (Corpus Catholicorum 4). S. 15–20. 393 Vgl. Augustijn, Cornelis: Die Stellung der Humanisten zur Glaubensspaltung 1518–1530. In: Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche. Internationales Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum in Augsburg vom 3. –7. September 1979. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1980 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 118). S. 36–48, hier v. a. S. 38–42, 47 f.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

stehen. Am Hof des auf eine klar antilutherische Politik festgelegten Herzogs Georg394 empfindet Emser noch keine allzu drückende Überlegenheit der evangelischen Publikationen, v. a. hinsichtlich deren Rezeption in den für Emser wichtigen Kreisen. Auch Johannes Eck sieht sich einer Flugschrift zufolge, die er im September 1520 auf seiner Rundreise zur Verkündigung der Bannandrohungsbulle gegen Luther verfasst, nicht isoliert. Eck, Professor der Theologie an der bayerischen Universität Ingolstadt und eng in die antilutherischen Netzwerke des Handelsgeschlechts der Fugger integriert, schreibt seit 1518 gegen Luther, mit dem er sich, ebenso wie mit Andreas Karlstadt, bei der Leipziger Disputation von Angesicht zu Angesicht duelliert hat. Der Verfasser des mehrfach neu aufgelegten Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes ecclesiae ist bis zu seinem Tod einer der prominentesten und politisch wirksamsten altgläubigen Autoren.395 Im September 1520 erkennt er zwar die große Produktivität Luthers an und betont, dass dieser aus Ruhmsucht ein Buch nach dem nächsten verfasse.396 Doch kann Eck eine Reihe klar antilutherischer Autoren aufzählen. Er nennt den Ablassprediger Johann Tetzel, Hieronymus Emser, den bayerischen Franziskaner Augustin von Alveldt, sich selbst sowie die Universitäten Köln und Löwen – und schließlich den Papst.397 Johannes Eck sieht sich auch ein Jahr später nicht als solitärer Schreiber gegen Luther, im Gegenteil. Zwar klagt er in seiner lateinischen Epistola ad Carolum V, dass sich die lutherische Lehre wie ein

394 Vgl. Volkmar, Christoph: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525. Tübingen 2008 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 41). S. 458. 395 Der schwäbische Bauernsohn schreibt meist auf Latein gegen die evangelische Reformation, hat aber als einer der wenigen altgläubigen Theologen europaweite Sichtbarkeit. 1520 reist er nach Rom, um dort erfolgreich die Bannandrohungsbulle gegen Luther voranzutreiben, die er dann im Reich gleich persönlich umzusetzen versucht. Zur Biographie vgl. Iserloh, Erwin: Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe. Münster 1981 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 41). Ecks Integration in das Fuggernetzwerk, seine dadurch vorhandenen Verbindungen nach Italien und das Herzogtum Sachsen und die Wirksamkeit dieses Netzwerks bei der Entscheidung gegen und das Vorgehen gegen Luther vgl. Tewes, Götz-Rüdiger: Luthergegner der ersten Stunde. Motive und Verflechtungen. In: Quellen und Forschungen in italienischen Archiven und Bibliotheken 75 (1995). S. 256–365. 396 Zu den Motiven der Hoffart, Ruhmsucht etc. als angebliche Triebfeder für Luthers Veröffentlichungen vgl. ferner Bachmann, Paul: Martin Luther, wie es ein Mann sei und was er führt im Schilde. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S 362–384, hier S. 369. 397 Eck, Johannes: Des heilgen concilii tzu Costentz, der heylgen Christenheit und hochlöblichen keyßers Sigmunds und auch des teutzschen adels entschüldigung, das in bruder Martin Luder mit unwarheit auffgelegt, sie haben Joannem Huß und Hieronymum von Prag wider babstlich, christlich, keyserlich geleidt und eydt vorbrandt. In: Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, den Bürgermeister und Rat von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Hrsg. von Karl Meisen. Münster 1929 (Corpus Catholicorum 14). S. 3–18, hier S. 3, 12 f.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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Feuerbrand in Deutschland ausbreite. Doch liefert er erneut eine genaue Aufzählung zahlreicher Luthergegner.398 Zu diesem Zeitpunkt hat sich bei Emser, der näher bei Wittenberg lebt als Eck, die Wahrnehmung bereits verschoben. In der Quadruplica (1521) parallelisiert Emser seinen Kampf gegen Luther mit dem von David gegen Goliath. Er sieht sich dabei in der Rolle des nur augenscheinlich unterlegen David, dem mit seinen Flugschriften ein Sieg gegen den Riesen Goliath-Luther gelingt.399 Er werde den verurteilten Reformator mit den Waffen des rechten Glaubens überwinden: dem Schwert, dem Spies und dem Degen. Diese Waffengattungen verwenden auch andere altgläubige Autoren als Symbole für ihren rhetorischen und theologischen Einsatz.400 Emser bedauert die Übermacht Luthers, nicht nur mit Blick auf die Veröffentlichungszahlen, sondern auch hinsichtlich der Zustimmung in der Bevölkerung: Dann es ist offentlich am tag, das er denn grostenn hauffen an ym hangen, und nu lenger dann ein halb yar, nyemand dann ich aleyn, wider yn geschriben hat, außgenomen was sich Doctor Murner naulich understanden, dem er gleych wie mir ouch mer mit scheiten dann mit redli-

398 Demnach haben sich Johannes Tetzel, der Italiener Sylvester Prierias, Hieronymus Emser, Augustin von Alveldt und er, Johannes Eck, gegen den Wittenberger Reformator gestellt. Kardinal Adrianus Dertusensis, der zukünftige Papst Hadrian VI., habe sein Urteil zwar noch nicht öffentlich machen können, doch er kenne dessen Meinung. Zudem verweist Eck auf einige nicht publizierte Texte des Italieners Thomas Rhadinus, Antonius Modestus‘ (princeps der „Akademia Austriaca“) sowie eines gewissen, nicht näher zu identifizierenden Lancilotus. Potenzielle Luthergegner wären laut Eck der bereits 1519 verstorbene Arzt und Geistliche Magnus Hundt aus Leipzig, der wahrscheinlich 1521 ebenfalls bereits verschiedene und seit 1519 antilutherisch agierende Jodocus von Eisenach sowie Wendelin Steinbach, Theologe aus Tübingen und 1521 wohl auch nicht mehr am Leben, gewesen. Eck, Johannes: EPISTOLA AD DIVVM // Caesarem CAROLUM // V. Imp. Ro. Maxi==//mum & Hispani//arum regem Ca//tholicum. // De Luderi causa. [Ingolstadt] 1521. Bl. B2v–B3r. 399 Emser, Hieronymus: Quadruplica auff Luters // Jungst gethane ant=//wurt/ sein reformation belangend. Leipzig: [Martin Landsberg] 1521. Bl. A2r–v. Diese alttestamentarische Metapher taucht immer wieder in altgläubigen Flugschriften auf, etwa bei Fabri, Johann: Eine freundliche Schrift an Ulrich Zwingli, darin angezeigt wird, wie dieser auf die angesetzte Disputation ohne genugsame Ursache nicht kommen will. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 247–264, hier S. 247. 400 Emser, Hieronymus: Wider das unchristliche Buch Martin Luthers an den deutschen Adel. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 229–269, hier S. 232–236. Das Motiv des langen Spießes als Symbol für die Glaubenstradition und Waffe in der Flugschriftenauseinandersetzung kommt 1524 u. a. bei Johannes Cochlaeus vor. Vgl. Ob St. Peter zu Rom gewesen sei, verdeutscht durch J. Dietenberger. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 598–613, hier S. 602. Auch Blick hält sein Büchlein aus dem Jahr 1524 für ausreichend mit symbolischen Waffen ausgestattet, so dass diesem die „zcene der reissenden tobenden hunde“ (d. h. die Lutherischen) nichts würden anhaben können. Vgl. Blick, Simon/ Wolfgang: Verderben und Schaden der Lande und Leute an Gut, Leib, Ehre und der Seelen Seligkeit aus Luthers und seins Anhangs Lehre. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 651–684, hier S. 651.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

cher antwurt begegnet und uns beyd in ein buch tzusamen gekoppelt, so doch keyner von dem andern ichtzit gewust hat.401

1521 sieht sich Emser also als zunehmend einsamen Kämpfer gegen Luther. Die öffentliche Stimmung sei auf Seiten Luthers, abgesehen von Thomas Murner, den er bis vor Kurzem überhaupt nicht gekannt habe.402 Dieser zunehmend negative Eindruck der eigenen Position in der literarischen Auseinandersetzung verfestigt sich allgemeiner im altgläubigen Autorenlager zu Beginn der 1520er-Jahre. Paul Bachmann, Zisterzienserabt im sächsischen Kloster Altzelle, wird 1522 wegen des Schweigens der Gelehrten gegenüber Martin Luther und wegen der mittlerweile gefürchteten polemischen Kraft des Reformators abgeraten, einen Text zu veröffentlichen.403 Auf den plötzlichen Ausbruch und den tatsächlich bis 1525 fortgesetzten, rasanten Anstieg der evangelischen Publizistik weist auch Johannes Cochlaeus hin. Cochlaeus hat an verschiedenen Universitäten im Alten Reich und in Italien studiert, hat Kontakte zu Reformer- und Humanistenkreisen geknüpft, darunter zu Jakob Wimpfeling und Ulrich von Hutten. Die Lektüre der reformatorischen Schriften Luthers von 1520 führen jedoch zur Abwendung von der lutherischen Bewegung. Der Dekan der Liebfrauenkirche in Frankfurt am Main verlässt die Stadt 1525 und kommt über Köln und Mainz 1528 als Nachfolger des ein Jahr zuvor verstorbenen Hieronymus Emser nach Dresden. Er wird zum produktivsten altgläubigen Autor der 1520er- und 1530er-Jahre, wobei einige seiner frühen Schriften erst keinen Drucker finden und nur nach der heimlichen Übersetzung und Veröffentlichung durch Johannes Dietenberger, einen weiteren wichtigen antilutherischen Autor, publiziert werden. 1539 muss Cochlaeus wegen der Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen nach Breslau ausweichen.404 In seiner 1524 veröffentlichten Schrift Christliche Vermahnung der heiligen Stadt Rom an Deutschland wendet sich die Stadt Rom enttäuscht und tadelnd an ihre von Ketzerei befallene Tochter Germania. Rom bedauert, dass Luther seine schweren Angriffe gegen die Missstände in der Papststadt „in manch tausent büchern offentlich in lateinischer und teütscher sprach“ habe ausgehen lassen, noch bevor er verurteilt worden war. Die Papststadt zeigt sich fassungslos angesichts der Nichtbeachtung des

401 Emser, Quadruplica (wie Anm. 399), Bl. A4v. 402 Murner veröffentlicht bis 1522 anonym. Laube, Adolf: Das Gespann Cochläus/Dietenberger im Kampf gegen Luther. In: ARG 87 (1996). S. 119–135, hier S. 119 f. 403 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 362. 404 Bäumer, Remigius: Johannes Cochlaeus (1479–1552). Leben und Werk im Dienst der katholischen Reform. Münster 1980 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 40); Samuel-Scheyder, Monique: Johannes Cochlaeus. Humaniste et adversaire de Luther. Nancy 1993 (Germaniques); Grimm, Heinrich: Cochlaeus, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie (NDB) 3 (1957). S. 304–306.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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Wormser Edikts.405 Auch andere altgläubige Autoren drücken 1524 ihr Erstaunen über den Verkaufserfolg und die Verbreitung der lutherischen Flugschriften aus.406 Besonders die Fälle, in denen Frauen als Autorinnen von Flugschriften auftreten, sind für manch einen (männlichen) Altgläubigen verwerflich und sogar unglaubwürdig.407 Auch Hieronymus Emser prangert die Verbreitung von Luthers Drucken an: „Zu dem, so sint seyne ketzerische bucher und ler nit aleyn in eyner provintz, sonder durch die gantze welt lantkundig, das ouch die kynder auff der gassen und die alten weyber in spitaln davon wissen tzu singen und tzu sagen.“408 Die Schriften des Wittenberger Reformators dringen dieser Darstellung zufolge bis in niedrige und ungebildete Bevölkerungskreise vor, in denen sie großen Schaden anrichten. Über den Umstand, dass die altgläubigen Flugschriften durchaus ähnliche Verbreitung finden, schweigt sich Emser lieber aus.409 Auch in Gebieten, in denen sich wie im Herzogtum Sachsen ein stabiles altgläubiges Umfeld ergeben hat, ist die Wahrnehmung eines Ungleichgewichts und einer bei bestimmten Themen fortdauernden Isolation altgläubiger Autoren auch knapp 20 Jahr nach Beginn der evangelischen Bewegung vorhanden. 1537 erklärt der sächsische Zisterzienserabt Paul Bachmann im Appendix seiner Flugschrift Von Zeremonien der Kirche, dass er bei der Ausarbeitung des Textes neben der Mühe auch Furcht vor der Publikation empfunden habe. Seine Begründung lautet: „Darumb das zu dieser zeit der richter und urteiler die welt voll ist und der ketzer vleiß, mühe und erbeit sich widder die ceremonien am meisten strecket. Ist auch niemandes germercket, der von den ceremonien geschrieben hette.“410 Tatsächlich befassen sich viele Autoren in den 1520er- und 1530er-Jahren mit der Messe, dem Messkanon und den Sakramenten. Sie verteidigen die Funktionen des Chorgesangs, des Schmucks in den Kirchen sowie der

405 Cochlaeus, Johannes: Eine christliche Vermahnung der heiligen Stadt Rom an Deutschland, verdeutscht durch J. Dietenberger. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 614–645, hier S. 617, 632. 406 Vgl. u. a. Bachmann, Paul: Zu Errettung den schwachen Ordenspersonen eine tröstliche Rede. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 756–777, hier S. 773 f. 407 Vgl. zahlreiche Passagen bei Henricus P.V.H. (Pseud.): Antwort wider das unchristliche Lästerbuch Ursula Weidin, der Schosserin zu Eisenberg. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 778–816. 408 Emser, Hieronymus: Wider den falsch genannten Ecclesiasten und wahrhaftigen Erzketzer Martin Luther. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 456–483, hier S. 462. 409 Zur Rezeption altgläubiger Schriften und deren Leserbezug vgl. Kap. I. 1.3.2. 410 Bachmann, Paul: Von Ceremo=//nien der Kirchen/ das ist/ // Von eusserlichem dienste Got//tes/ oder von Leyplicher // vbunge Gö=//ttlicher Ampter. // Appendix von Priesterli=//chem Celibat oder // Keuscheit. Leipzig: Nikolaus Wolrab 1537. Bl. H2r. Ähnlich äußerte sich bereits Mitte 1520 Alveldt, Augustin von: Ein Sermon, darin er sich über die Schmähungen Martin Luthers beklagt. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 91–109, hier S. 92.

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liturgischen Artefakte. Das ändert an Bachmanns zum Ausdruck gebrachter Wahrnehmung jedoch nichts. Mitunter wird die Haltung des (Text-)Märtyrers auch zur Pose und heroischen Selbstrepräsentation, deren Wurzeln in der frühen Reformationszeit liegen und die sich in der altgläubigen Textkultur zum Selbstläufer entwickelt hat. Die Altgläubigen unterstellen den Reformatoren zudem eine ausgeklügelte Kommunikationsstrategie, gegen die sie nur schwer ankommen könnten. Sie klagen etwa über die Scheltworte der Evangelischen.411 Der Elsässer Franziskaner Thomas Murner prangert 1520 eine Unwucht an, die sich gar nicht so sehr auf die Druckzahlen, sondern auf die Tonlage bezieht: Sobald man gegen Luther und andere Evangelische argumentiere, antworteten diese mit Beleidigungen und Schmähungen, schreibt Murner. Dabei müsse in theologischen Kontroversen auch die Gegenseite ihre Meinung äußern dürfen. Das Vorgehen der evangelischen Autoren schade ihrer Glaubwürdigkeit.412 1521 stellt auch Johannes Eckart, Vikar im bayerischen Dorf Pobenhausen bei Ingolstadt,413 die Hemmungen heraus, welche die Vehemenz und die Menge der lutherischen Publikationen bei ihm vor der Veröffentlichung seiner ersten und zugleich letzten Flugschrift ausgelöst haben sollen. Lange habe er sich versteckt um zu vermeiden, „in lutterischen zenen erknißchet“ zu werden.414 Erneut kommt hier eine Selbstrepräsentation zum Ausdruck, die sich einerseits aus der faktischen Übermacht lutherischer Schriften und deren Durchschlagskraft, andererseits aus einer märtyrerhaften und den eigenen Wagemut herausstellenden Rhetorik speist. Die Publikationsstrategie der Lutherischen folge nicht inhaltlichen, sondern strategischen Leitmustern – darauf laufen wiederum die Vorwürfe von Johannes Cochlaeus in der Widmung der Sieben Köpfe Martin Luthers vom hochwürdigen Sakrament an seinen Landesherrn, Herzog Georg von Sachsen, aus dem Jahr 1529 hinaus. Die vielen altgläubigen Schriften, die in letzter Zeit etwa von König Heinrich VIII., John Fisher,

411 Dieser Vorwurf tritt schon früh bei ihren Kontroversen mit Luther auf. Vgl. Emser, Quadruplica (wie Anm. 399), B. A2v–A3r. 412 Murner, Thomas: Von Doktor Martin Luthers Lehren und Predigen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 142–170, hier S. 144 f. Im Ende 1522 erschienen Großen lutherischen Narren wiederholt Murner den Vorwurf, nach seinen ersten Schriften durch Luther und anonyme Autoren geschmäht, beleidigt und lächerlich gemacht worden zu sein. Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 90. Entsprechend klagt auch der sächsische Priester Petrus Sylvius, Luther pflege gegen ihn gerichtete Flugschriften „nur mit eyttel schmacheyt, schendung unnd lesterunge zu settigen“. Sylvius, Petrus: Eine klare Beweisung, wie Luther würde sein eine Ursache des steten Einzugs der Türken, des unchristlichen Irrtums, Zwietracht, Aufruhr und Empörung des gemeinen Volkes. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 429–453, hier S. 441. 413 Zoepfl, Eckart (wie Anm. 144), S. 33–37. 414 Eckart, Johannes: Ain Dialogus zwischenn // Doctor Martin Luthers Au//gustiners vnd Joann Eckartz // pfarher zue Bobenhausen/ // Augspurger Bistumbs/ // Christum das höchst // goldtrain opfer der // heyligen Meß // betreffent. [Ingolstadt ca. 1521], Bl. A1v.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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dem Pariser Theologen Jodocus Clichtoveus, Johann Fabri und Konrad Wimpina erschienen seien, habe Luther mit Schweigen quittiert oder mit Spott bedacht. Bei diesem Vorgehen habe zwar das gemeine Volk gelacht, aber vor einem Konzil würde Luther mit dieser Taktik untergehen.415 Thomas Murner schreibt im Großen lutherischen Narren (1522), die Gegenseite wolle verhindern, dass sich Widerspruch gegen Luther behaupten könne. Deshalb würden reformationsfeindliche Texte und deren Verfasser der Lächerlichkeit preisgegeben.416 Neben dem Umstand, dass sich Laien zu theologischen Fragen äußern,417 wird auch die große Zahl anonymer Schriften, die trotz der obrigkeitlichen Verbote zirkulieren, von altgläubigen Autoren angeprangert.418 Thomas Murner berichtet im Großen lutherischen Narren von seinen Erfahrungen mit der evangelischen Publizistik in der Folge seiner ersten Schriften aus dem Jahr 1520. Zu Beginn der rituellen Beschwörung des großen lutherischen Narren, die in dem Text vorgenommen wird, verneint Murner, dass mit dieser Figur Luther karikiert sei. Der Wittenberger tritt tatsächlich erst später auf. Die Zielgruppe der Satire ist laut Thomas Murner eine andere: Allein will ich die grosen naren Hie beschweren vnd vertreiben, Die alle zeit verborgen bleiben Vnd den luther nit verston, Mit schmachbüchlin vmbher gon, Mit schelmenstück die welt verblenden Vnd mit liegen ieden schenden, Auch martin luthers grose sachen Zum hüppenfaß und gauckel machen, Zu affenspil vnd buben dant.419

Murner prangert hier nicht nur, wie andere seiner Glaubensgenossen, die Zahl und den Ton der evangelischen Schriften an, sondern den Umstand, dass viele der Verfasser verborgen blieben. Gerade sie brächten einen neuen, sozusagen unkontrollierten

415 Cochlaeus, Johannes: Sieben Köpfe Martin Luthers vom hochwürdigen Sakrament des Altars. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 989– 1021, hier S. 990–991. 416 Murner, Vom Lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 103. 417 Vgl. dazu Chrisman, Miriam Usher: Lay Response to the Protestant Reformation in Germany, 1520– 1528. In: Reformation Principle and Practice. Essays in Honour of Arthur Geoffrey Dickens. Hrsg. von Peter N. Brooks. London 1980. S. 35–52. Zur einzigen Ausnahme, in der ein altgläubiger Laie aus dem Volk das Wort ergreift, vgl. Schrader, Franz: Caspar Querhamer. Ein katholischer Laie nimmt Stellung zur Reformation. In: Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Hrsg. von Remigius Bäumer, Paderborn [u. a.] 1980. S. 367–400. 418 Vgl. zu dieser Thematik auch Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 35–45. 419 Murner, Vom Lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 93.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

Ton in die Auseinandersetzung. Als ihr Charakteristikum nennt Murner nicht nur das Schmähen, sondern auch satirische Schriften, Reime und karikaturistische Darstellungen. Damit erwiesen sie Luther allerdings einen Bärendienst: Sie machten die Anliegen des Reformators zu einem Affenspiel und Bubenstreich. Andere altgläubige Autoren, wie der Schweizer Johannes Buchstab, repräsentieren die anonymen Bücher sogar als Mittel der Evangelischen, dem Antichristen den Weg zu bereiten.420 Tatsächlich ist zu dieser Zeit die anonyme Publikation von Flugschriften nichts Ungewöhnliches. Es ist laut Harry Oelke gerade die verschärfte Strafandrohung gegen Drucker und Verfasser, die zu einer hohen Anonymitätsrate führt.421 Die Altgläubigen grenzen sich von dieser Publikationsform scharf ab, so etwa der Rottweiler Dominikanerprior Georg Neudorffer. Er liefert sich im Nachgang der kurzfristig abgesagten Disputation in Konstanz eine Auseinandersetzung mit dem dortigen Reformator Ambrosius Blarer. Im Jahr 1526 verwahrt sich Neudorffer in seiner Widerrede gegen Blarers Mutmaßung, dass er gar nicht der Autor der vorangegangenen Flugschrift (Fragstuck) gewesen sei.422 Im Gegenzug greift Neudorffer den Konstanzer Reformator wegen der großen Zahl anonymer Schriften scharf an: [B]üchlin mit erdichten namen zu machen ist (wie du weist) in geistlichen und keyserlichen rechten zum höchsten verbotten, wurd unserm evangelion vast nachteilig sein, hette ye ein apostel oder heiliger lerer solliche libellos famosos, schmachbüchlin wider die geschriben, so ir evangelium nit wolten annemen, wie dann yetz bey eüch geschicht, daz ir ein schmachbuchlin über das ander lassen außgon wider die, so ewerm gefelschten evangelium nit wöllend anhangen.423

Zum einen unterstreicht Neudorffer, dass die anonymen Texte gegen die geltenden Zensurbestimmungen verstoßen.424 Zudem widerspreche dieses Vorgehen der Tradition der Apostel und der Kirchenväter. Damit repräsentiert Neudorffer anonyme Drucke als Beweis dafür, dass deren Autoren wohl kaum die evangelische Wahrheit verteidigen können, wenn sie nicht einmal ihren Namen nennen wollen. Schmähbücher mit falschen Namen sind in dieser Darstellung seit dem frühen Christentum integraler Bestandteil der ketzerischen Schriftkultur. Zum anderen haben die, „die dem alten glauben anhangen“, solche Mittel nicht nötig, behauptet der Dominika-

420 Buchstab, Johannes: Daß die biblischen Schriften eine geistliche Auslegung haben müssen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 861– 886, hier S. 861. 421 Oelke, Konfessionsbildung (wie Anm. 41), S. 102–105. 422 Neudorffer, Georg: Widerrede auf die ungegründete Verantwortung Ambrosius Blarers. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 335–359. Zum Kontext der Auseinandersetzung vgl. S. 356. 423 Neudorffer, Widerrede (wie Anm. 422), S. 335. 424 Vgl. Oelke, Konfessionsbildung (wie Anm. 41), S. 102–109; Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 23–60.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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ner.425 Hier manifestiert sich die interaktive Konstruktion der altgläubigen Textkultur. In Abgrenzung zu den anonymen Schriften der Gegenseite messen die Reformationsgegner der Publikation der Autorennamen einen moralischen Wert bei, der zum Indikator für die die christliche Wahrhaftigkeit des Textinhalts wird. Mit der Kritik der anonymen evangelischen Drucke werden Warnungen an die Christen und die Obrigkeiten verbunden. Johannes Cochlaeus prangert 1529 die Heimlichkeit an, die mit der Herstellung und dem Vertrieb der namenlosen Veröffentlichungen einhergehe. Dies entspreche der Heimlichkeit der ketzerischen Theologie.426 Doch genau darin liege auch eine Gefahr, denn die Zuordnung und die Erkennung der häretischen Texte fallen schwerer. Sie zirkulieren unter ungebildeten Laien, deren Meinung angesichts der Masse an Drucken im Alten Reich nicht mehr kontrolliert werden könne.427 Auch in Frankreich ist die frühe Reformation ein Schriftereignis – allerdings zu Beginn v. a. mit Blick auf das benachbarte Alte Reich. Nicolas Versoris, Anwalt im Pariser Parlament, bemerkt in seiner ersten Tagebuchnotiz zur evangelischen Bewegung (1522), dass ein Mönch Namens Luther „composa plusieurs livres, auquelz il suma plusieurs erreurs en l’esglise.“428 Auch der anonyme Pariser Bürger notiert in seinem Tagebuch für das Jahr 1520, dass sich in Sachsen ein ketzerischer Theologe erhoben habe, der viele Bücher gegen den Papst sowie die Ordnungen und Zeremonien der Kirche verfasst habe „et en fit plusieurs livres qui furent imprimés et publiés par toutes les villes d’Allemaigne et par tout le royaume de France.“429 Die „livres“ sind also auch in französischer altgläubiger Wahrnehmung ein Signum der deutschen Lutherischen. Die für das Alte Reich aufgestellte These, dass die Konstruktion der altgläubigen Textkultur, etwa bezüglich der Medienformate und der Tonlage, mit der Form der evangelischen Publizistik interagiert und nur aus diesem Bezugssystem heraus verstanden werden kann, bestätigt sich auch für Frankreich. Ein gutes Beispiel dafür liefert Jean de Gaigny, Doktor der Theologischen Fakultät Paris und hoher Geistlicher am Königshof. Er übersetzt um 1540 die Predigten des mittelalterlichen Zisterzienserabtes Guerric von Igny ins Französische. Im Vorwort geht Gaigny auf den Schriftenkontext seiner Zeit ein und ermahnt den potenziellen Leser, dieser solle der heiligen Kirche treu bleiben und

425 Neudorffer, Widerrede (wie Anm. 422), S. 336. 426 Cochlaeus, Johannes: Eine Vermahnung an alle frommen standhaften Christen und die Obrigkeit, wie man sich vor verführerischen Lehren hüten soll. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1076–1091, hier S. 1076. 427 Redorffer, Wolfgang: Von der heiligen gemeinen christlichen Kirche. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 837–858, hier S. 838–840. 428 Fagniez, Livre de raison (wie Anm. 348), S. 28. 429 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 1 (wie Anm. 347), S. 65.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

diligemment observer quelz livres on te baillera & presentera en langue vulgaire francoise. Car au grand detriment des pauvres ames simples, par cy devant ont esté imprimez & publiez plusieurs petis livres en icelle langue vulgaire francoise, sans nom de l’aucteur ny de l’imprimeur, lesquelz ie te supplie sans aultrement regarder reiecter & tenir à certain que a cause de la maulvaise doctrine qui y est cachee, tant l’aucteur que l’imprimeur, de paour d’estre pugnyz, ont supprimé leur nom. Et quant aux aultres livres en francois ou le nom de l’aucteur & imprimeur seront mis & apposez, speciallement qui sont imprimez hors du royaulme, ie te supplie ne te addonner à la lecture d’iceulx que premier tu ne les ayes communicqué à quelque homme de bien & scavant pour t’en asseurer.430

Zwei Aspekte machen in Gaignys Wahrnehmung die evangelische Textkultur aus. Er warnt vor anonymen Flugschriften ohne Autor und Druckerverzeichnis, ähnlich wie seine Glaubensgenossen im Alten Reich. Die fehlende Autorenangabe macht er zu einem festen Indikator dafür, dass ketzerische Ideen im Text versteckt sein müssen. Ansonsten würden sich die Verfasser ja zu erkennen geben. Der Leser solle das Buch dann unangesehen zurückweisen. Doch allgemein sind volkssprachliche Bücher verdächtig, selbst wenn die Herkunft angegeben ist. Das gilt insbesondere für Drucke, deren Signatur auf einen Entstehungsort außerhalb des Königreichs hindeutet. Hintergrund dieser Warnung dürfte die große Zahl evangelischer Drucke sein, die aus Basel, Genf, Straßburg oder Antwerpen nach Frankreich kommen. Die Lektüre darf erst erfolgen, nachdem die Bücher einem kundigen Priester gezeigt worden sind. Der Priester muss ihre Übereinstimmung mit der christlichen Wahrheit identifizieren und somit Deutungssicherheit herstellen. Zu bemerken ist aber auch, dass die literarische Kontroverse für die altgläubigen Autoren in Frankreich insbesondere während der 1520er-Jahre bei Weitem nicht dieselbe Bedeutung hat wie für ihre Glaubensgenossen im Alten Reich.431 Das dürfte auch mit der schlechteren Sichtbarkeit der häretischen Inhalte zu tun haben, die oft in Devotionsbüchlein, Kommentaren und Übersetzungen subtil eingestreut werden. Eine der seltenen Ausnahmen, in denen reformatorische Schriften klar identifizierbar und weit verbreitet werden, stellt die Plakataffäre dar. Auf sie reagieren die antievan-

430 Gaigny, Jean de: Sermons de Guer//RICVS ABBE D’IGNY, // translatez de latin en langue vulgai=// re francoise, par Iehan de Gaigny, // Docteur, Conseiller, & premier Aul=//mosnier du Roy, par le commande=//ment dudict seigneur. Paris: Simon de Colines pour Estienne Roffet [1540]. Vorwort, s.p. 431 Vgl. Conrad, Olivier: Le mirouer // des pecheurs. Paris: François Regnault [1526]. Im zweiten Kapitel seiner Flugschrift über die Habgier und den Staat geht der Autor dieses Devotionsbüchleins für einen Text jener Jahre recht ausführlich auf Luther, dessen Positionen, die Ausbreitung seiner Ideen und deren Folgen ein. Doch einen Bezug zu Flugschriften und Büchern stellt er dabei nicht her. Vgl. Bl. 51v–53v. Jérôme de Hangest erwähnt die evangelischen Bücher und deren Gefahr eher beiläufig in einem Werk, das ansonsten alle Wahrnehmungen und Verhaltensregeln der altgläubigen Seite für den gemeinen Mann in Zeiten der religiösen Differenz auf den Tisch legt: Hangest, Jérôme de: EN CON//=trouersie voye seure. Paris: Jean Petit 1537 (1536 a. Z.). Bl. B6v–B7v.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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gelischen Autoren mit entsprechendem Publikationsaufwand.432 Ist der Gegner auf dem Papier also klar erkennbar und werden die Texte in großer Zahl verbreitet und rezipiert, kommt es in Frankreich zu ähnlichen Wahrnehmungen und kommunikativem Folgeverhalten wie im Alten Reich. Von Dauer ist das allerdings nicht. 1538 beklagt Guillaume Petit in La formation de l’homme et son excellence nur noch nebenbei, dass schädliche Schriften gegen das Altarsakrament das Volk aufrühren.433 Nach der Repression im Zuge der Plakataffäre kehren sowohl evangelische als auch altgläubige Autoren für einige Jahre nochmals zu den früheren Kommunikationsstrategien zurück. Einlassungen gegen die Häresie streuen Altgläubige wie Petit eher in traditionelle Frömmigkeitsbücher ohne explizite antievangelische Stoßrichtung. Es wird erneut deutlich, wie sehr die Flugschriftenproduktion während der frühen Reformation an Konjunkturen und Kontexte gebunden ist. Im Alten Reich, aber auch in Frankreich, betonen die Autoren immer wieder, dass das Problematische an Luthers Publizistik die materiale Verbreitung seiner Thesen ist. So wird in vielen der hier untersuchten Flugschriften gerade der „öffentliche“ Irrtum angeprangert. In der Forschung ist öfters etwas zu allgemein darauf hingewiesen worden, dass altgläubige Kontroversisten „in Luthers Ideen“ oder „in Luthers Schriften“ die Ursache für Unruhe, Veränderung und Verführung gesehen hätten. Diese Aussage muss im Hinblick auf die zirkulierenden Verschriftlichungen der evangelischen Theologie und Gesellschaftsdarstellungen präzisiert werden. Es ist nicht nur die Idee, sondern besonders der Gegenstand der Flugschrift sowie dessen Verbreitung und Rezeption, die z. B. der sächsische Priester Petrus Sylvius für den Grund der Bauernaufstände hält. Deshalb prophezeit er für den Fortgang der evangelischen Bewegungen: „[U]nd wirt auch solche gefare des yrthums, zwitracht, auffruhr und empörung des gemeinen lutherischen volckes und des Türcken und des verderbnis und verdamnis der christenheit keyn end haben, dieweyl yrgend die lutherische schrifft odder eyn lutherischer geist odder mensch ynn der christenheit wird gespürt“434. Der Geist der lutherischen Idee und dessen Verfechter werden verbunden mit der materialen Präsenz des schrifttragenden Artefakts „Lutherbuch“, das im Rezeptionsfall Aufstände und Irrtümer befördere. Die Materialität und die soziale Verortung theologischer Diskurse sollten deshalb mehr in den Mittelpunt auch der Kirchen- und

432 Vgl. La Garanderie, Réponse catholique (wie Anm. 297) Bl. 1r–6r. 433 Petit, Guillaume: LA FORMA//TION DE LHOMME ET // son excellence, & ce quil doibt a-//complir pour auoir Paradis, // Compose par feu de bon-//ne memoire [erster Teil des recueil, Bl. 1r–67r]. Paris: Galliot du Pré/Olivier Mallard 1538. Bl. 58r–v. Petit erwähnt weiterhin entsprechende Taten (ohne weitere Details), aufgrund derer der König zur Repression gegen die „Ketzer“ geschritten sei. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei noch um einen Nachklang der affaire des placards. 434 Sylvius, Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), S. 441.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

Theologiegeschichte rücken.435 Für Cochlaeus scheinen es in seiner Disputation vom heiligen Sakrament des Altars neben der Essenz der evangelischen Ideen besonders deren Manifestierung in schrifttragenden Objekten zu sein, die für Irrtümer und Verführungen im Volk sorgen, d. h. die „viel lesterbüchlein und schimpffliche gedicht und schmahe, auch von unerfarnen der heyligen schriefft, unters volgk gegeben.“436 Erneut liegt der Fokus der Kritik auf dem Artefakt, das von den Laien gelesen und nicht verstanden werde sowie auf dem kulturellen Produktionshintergrund der Texte. Bemerkenswert, aber keinesfalls außergewöhnlich ist zudem, dass im Jahr 1530 für Cochlaeus nicht mehr allein Luther im Zentrum der evangelischen Textkultur steht. Vielmehr schreiben auch ungelehrte Laien. Das publizistische Andere wird zu Beginn der 1530er-Jahre sogar in Mitteldeutschland, nahe bei Luther, diffuser und heterogener. Der Wittenberger Reformator bleibt für Cochlaeus aber „diszes und anders yrthumbs heerfürer und fenrich“437. Ohne Artefakt keine Verbreitung der Idee, glauben die Reformationsgegner. Deshalb sehen sich altgläubige Obrigkeiten im Alten Reich und in Frankreich verpflichtet, ihre Verordnungen nicht nur gegen die Ideen, sondern auch gegen das Objekt „evangelische Flugschrift“ zu richten.

1.2.2 Gegenmaßnahmen und obrigkeitliche Reglementierung In der Folge wird ein allgemeiner Überblick über die Zensur- und Kontrollmechanismen der altgläubigen Obrigkeiten gegeben. Dabei wird der Forschungsstand evaluiert, besonders im Licht der im deutsch-französischen Vergleich gewonnenen Erkenntnisse zur altgläubigen Wahrnehmung der evangelischen Textkulturen. Einige eher vernachlässigte Aspekte des altgläubigen Vorgehens gegen evangelisches Schriftgut sollen dabei herausgearbeitet werden. Der Schwerpunkt liegt auf den fünf Fallgruppen, die in dieser Studie behandelt werden, und dabei besonders auf Städten und Territorien mit altgläubigen Obrigkeiten. In Fragen der Zensur lag das Augenmerk der Forschung bisher meist auf der altgläubigen Seite. So verschieden wie die Wahrnehmungen der evangelischen Textkultur und die Präsenz und Form der evangelischen Schriften in den konkreten Fällen vor Ort sind, so unterschiedlich sind die Instrumente der altgläubigen Repression. Anhand von süddeutschen Reichsstädten hat Allyson F. Creasman die Zensurpolitik

435 Ähnlich Edwards, Michael: Intellectual Culture. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 301–317, hier S. 302. 436 Cochlaeus, Johannes: Ernstliche Disputation vom heiligen Sakrament des Altars. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1139–1188, hier S. 1139. 437 Cochlaeus, Ernstliche Disputation (wie Anm. 436), S. 1139.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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in der Praxis untersucht. Creasman stellte heraus, dass in den 1520er-Jahren auch evangelische Obrigkeiten die Verbreitung missliebiger religiöser Inhalte unterbinden. Zensur erstreckt sich laut Creasman dabei nicht nur auf das gedruckte, sondern auch auf das gesprochene Wort. Vielfach wird die Überwachung durch die Autoren, Drucker und Bürger internalisiert und geradezu erwartet. Streit gibt es eher um die konfessionelle Stoßrichtung der Verbote. So entsteht ein System der Anpassung und der situativen Aushandlung der Zensur, die durch die fragmentierte Staatlichkeit des Alten Reichs zudem recht einfach durch Ortswechsel umgangen werden kann.438 Die Strukturen und sozialen Aushandlungsmechanismen, die bei der Zensurpraxis zur Anwendung kommen, sind recht gut erforscht. Dasselbe gilt für die Normen und die allerdings mehr als top-down-Prozess dargestellten Vorgehen gegen heterodoxe Bücher in wichtigen altgläubigen Territorien, allen voran in den Herzogtümern Bayern und Sachsen.439 Im Alten Reich setzt der Wandel von situativen zur kohärenten Zensurbestimmungen mit dem Wormser Edikt ein, das Druck, Verkauf, Besitz und Lektüre von Luthers Schriften unter Strafe stellt. Doch spätestens mit dem Speyrer Reichstag von 1526 endet die Norm der reichsweit einheitlichen Zensur. Ab da genießen Landes- und Stadtherren in Religionssachen eine relativ große Verfahrensfreiheit. Während der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts verschärfen sich die Zensurbestimmungen auf der Reichsebene, wobei die inhaltliche Richtung der Verbote unschärfer und religionsgemeinschaftlich unspezifischer wird. 1529 beschließt der Reichstag die Pflicht zur Zensur noch vor der Publikation. Ab 1530 müssen alle Texte mit Druckersignaturen versehen sein. Doch weiterhin bleibt die konkrete Durchsetzung den Reichsständen überlassen. Entsprechend groß sind die lokalen und regionalen Unterschiede.440 In Frankreich, wo die Historiographie bis ca. 1540 bezüglich des Vorgehens gegen evangelische Bücher auf Paris fokussiert bleibt, wurden die Zensurbestimmungen und deren Durchsetzung besonders im Autoritäts- und Beziehungsgeflecht von Monarchie, Theologischer Fakultät und Parlament studiert. Die Theologen fungieren demnach als Gutachter und Zensoren, während das Parlament und die königliche Exekutive die Urteile und Zensurbestimmungen in Gesetzen und Erlassen festlegen und vollstrecken. Sie entscheiden für den großen Jurisdiktionsbereich des Pariser Parlaments oder, im Fall der Monarchie, für das ganze Land. Weitere Institutionen der Zensur und deren Umsetzung sind zumindest phasenweise Bischöfe und Inquisitoren. Immer wieder greifen der König und der Hof vermittelnd und Urteile abschwächend gegenüber dem Parlament und der Theologischen Fakultät ein, vor

438 Vgl. Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 3–96. 439 Vgl. zu Sachsen Volkmar, Reform statt Reformation (wie Anm. 394), S. 581–593. 440 Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 50–52; Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 85–104, 116–127, 204–227, 254–276, 363–394; Oelke, Konfessionsbildung (wie Anm. 41), S. 102– 103, 112–121.

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allem bis zur Plakataffäre. 1521 gebietet das Parlament die Vorzensur aller religiösen Bücher durch die Theologen. Kurz darauf folgen die Zensuren der Werke Luthers und Melanchthons sowie später Lefèvres Épitres. Volkssprachliche Bibelübersetzungen werden verboten, ebenso wie anonyme Drucke oder heimliche Neudrucke. Die Vorzensur aller Bücher durch die Theologische Fakultät wird zur gängigen Praxis. James K. Farge hat insgesamt 30 Zensurgesetze zwischen 1521 und 1551 gezählt. 221 Schriften werden zwischen 1520 und 1542 von der Fakultät examiniert, von denen sie 122 (55 %) zensiert. Doch auch intern geht die Fakultät gegen Evangelische vor. Generell wird von den orthodoxen Institutionen in Paris die Bandbreite der evangelischen und somit zumindest heterodoxen Autoren und Schriften viel weiter gefasst als im Alten Reich. So unterliegt etwa Erasmus von Rotterdam der Zensur. 1544 erscheint schließlich der erste Index der verbotenen Bücher, der von den Theologen herausgegeben und laufend aktualisiert wird.441 Uneinig ist sich die Forschung über die Durchschlagskraft der Zensurmaßnahmen in Frankreich. Francis Higman geht für die Zeit zwischen 1520 und 1540 von einer lückenhaften und ineffizienten Umsetzung aus. Mit ein Grund dafür sei die Unklarheit über die Grenzen der Orthodoxie gewesen.442 Dem widerspricht James K. Farge, der glaubt, dass die Orthodoxie durch Papst, Bischöfe und die Theologische Fakultät klar umrissen gewesen sei.443 Zensurbestimmungen sind meist allgemein formuliert.444 Ihre Anwendung und sozialen sowie kulturellen Auswirkungen sind am besten anhand präziser Fälle zu rekonstruieren, in denen übergeordnete Kategorisierungen und Normen schnell an Aussagekraft verlieren oder gewinnen. Gerade Rouen bietet in diesem Zusammenhang interessante Einsichten. Anders als in Paris scheint das dortige Parlament eine geringere Rolle beim Vorgehen gegen die unerwünschten religiösen Schriften zu spielen. Dahingegen kommt dem Domkapitel und der kirchlichen Justiz, in Abstimmung mit dem Parlament und den Amtleuten der Monarchie, eine bedeutendere Funktion zu. So wird auch innerhalb Frankreichs eine bisher wegen der Fokussierung auf Paris unterschätzte Bandbreite an Verhaltensmöglichkeiten und Strukturen sichtbar. Darunter fallen zum einen Prozessionen als altgläubige Antwort auf die Verbreitung evangelischer Texte im Zuge der Plakataffäre.445 Ein weiteres Instrument

441 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 149–158; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 165–219; Pettegree, Réforme en France (wie Anm. 311), S. 41 f.; Brian/Le Gall, Vie religieuse (wie Anm. 278), S. 46–48; Langlois, Catholic Response (wie Anm. 313), S. 21–33. Zur Verurteilung Luthers durch die Theologische Fakultät Paris vgl. Büttgen, Luther et la philosophie (wie Anm. 327), S. 157–163. 442 Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 153 f., 156. 443 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 160–162. 444 Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 26 f., 34. 445 Zu den Prozessionen Kap.  III. 3. Zu Büchern als altgläubige Distinktion im Kirchenraum vgl. Mudrak, Marc: Zensiert und zerrissen. Alte Bücher und religiöse Differenzierung in Zürich und Biberach, 1520–1532. In: ARG 106 (2015). S. 39–66.



1.2 Evangelische Schriften im altgläubigen Fokus 

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der Altgläubigen ist die Predigt. In dieser kann vor der Lektüre evangelischer Texte gewarnt und die jeweilige Zensurordnung kommuniziert werden. In Rouen findet 1528 eine Prozession nach der Hinrichtung des mutmaßlichen Marien-Blasphemators Pierre Bart statt „in qua fiet predicatio ad instructionem populi ut abstineant ab erroribus et lectura librorum sacre scripture in linguam vernaculam translatorum.”446 Die Prozession und die anschließende Predigt werden infolge des Urteils offenbar in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Parlament initiiert. Bei anderen, vergleichbaren Prozessionen ist die Stellung des Predigers und die Bestimmung des Predigtinhalts alleinige Sache des Domkapitels.447 Durchsuchungen und Kontrollen sind eine Reaktionsmöglichkeit der Obrigkeiten im Alten Reich und Frankreich, die gemeinhin besser bekannt sind. Diese müssen sich nicht auf die Druckwerkstätten und Buchläden beschränken. Die Zusammensetzung der Kontrollgruppen und der genaue Ablauf, durch den Zensurnormen zur Realität werden, sind dabei sehr unterschiedlich. Derartige Kontrollen finden in Frankreich nicht nur in Paris, sondern auch in Rouen statt. Im Rechnungsbuch des erzbischöflichen Gerichts aus dem Zeitraum 1538/39 findet sich eine Zahlung von sechs livres an den Sonderankläger des bischöflichen Gerichts (promoteur volant), Nicolas Bréant, sowie an den Notar Gérmain Lamy, die Amtleute des geistlichen Gerichts Martin Canu und Jean Champion sowie an Guillaume Passart, den Untervogt des Königs. Sie erhalten die Zahlung für ihren Einsatz („pro eorum pena et vacatione“) bei der Durchsuchung einiger Häuser in Rouen nach lutherischen Büchern („de libris de doctrina Lutherana suspectis“).448 Ferner ist die Gruppe, welche die Durchsuchung vornimmt, anders zusammengesetzt als in Paris, wo 1533 die Theologische Fakultät federführend ist bei der Kontrolle der Buchhändler, bei denen die Theologen manches Werk sogar gegen den Willen des Parlaments examinieren.449 Das Parlament scheint in Rouen 1538/39 keine Rolle zu spielen: Die Untersuchungsgruppe setzt sich zusammen aus kirchlichen Justizbeamten und einem regionalen Vertreter der Monarchie. Damit ist schlaglichtartig die Varianz der kulturellen, praktischen und personellen Konfigurationen angedeutet, in deren Rahmen die Zensur in Frankreich und im Alten Reich ins Werk gesetzt, erfahrbar und somit zu einem historischen Gegenstand wird. Doch nicht immer bleibt es bei der Konfiszierung der Schriftstücke. Eine besondere Form des meist, aber nicht immer obrigkeitlich sanktionierten Vorgehens ist die Verbrennung ketzerischer Bücher. Diese ist oft begleitet von weiteren juristischen Vorgängen oder religiösen Ritualen.

446 Archives Départementales de Seine-Maritime, Rouen (ADSM), G 2153, Bl. 114v. 447 Vgl. auch Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 192. 448 ADSM, G 240, s.p. 449 Vgl. Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

1.2.3 Bücherverbrennungen: protestantische Schriften auf dem Scheiterhaufen Die Verbrennung von Schriftgut wird in der frühen Reformationszeit auf allen Seiten praktiziert. Das altgläubige Lager zeigt darin aber einen besonderen Eifer. Avner Shamir hat sich kürzlich in einem Artikel mit den Bücherverbrennungen in der Folge der Bannandrohungsbulle von 1520 im Alten Reich als einer demonstrativen und warnenden Inszenierung auseinandergesetzt. Er hob dabei die Rolle der Obrigkeiten und der päpstlichen Nuntien Eck und Aleander hervor.450 In den in meiner Studie behandelten Räumen sind eher selten obrigkeitlich errichtete Scheiterhaufen für protestantische Bücher bekannt. Für Frankreich werden die offiziellen Verbrennungen in der Literatur erwähnt, jedoch steht eine explizite Untersuchung der sozialen und kulturellen Funktionen noch aus. Durch die Fokussierung auf entsprechende Aktionen „von oben“ wurde bisher eine kulturell hoch interessante Form dieses Rituals übersehen: die Einzelinitiative „von unten“. Diese taucht in den staatlichen und kirchlichen Verwaltungs- und Jurisdiktionsquellen nicht auf – Zensur und deren Durchsetzung gelten als Aufgaben der Obrigkeiten. Im Rahmen dieser Studie sind Einzelinitiativen nur einmal in einem Selbstzeugnis nachweisbar. Es ist sicher kein Zufall, dass der im Anschluss untersuchte Vorfall spontaner Bücherverbrennungen in Biberach, einer rasch zwinglisch geprägten Reichsstadt 35 Kilometer südlich von Ulm, stattfindet, in der die staatlichen und kirchlichen Stellen, die für die Verbrennung gemäß dem Wormser Edikt eigentlich zuständig wären, diese nicht durchführen wollen oder können. Deshalb geht ein altgläubiger Priester namens Heinrich von Pflummern selbst ans Werk. Pflummern ist ein alter Mann, als er 1545 im Exil in Waldsee die Erinnerungen an die Reformation in seiner Heimatstadt niederschreibt. Seine Aufzeichnungen sind eine persönliche und detailreiche Perspektive auf die entstehenden evangelischen Kulturen in Biberach und auf die in Bezug dazu entstehenden altgläubigen Verhaltensweisen.451 In einer längeren Passage erklärt er, warum er selbst lutherische Drucke zerstört – und wie: Item als der bapst den Luter ain ketzer erkent het, sampt mit den cardenelen und wer dar zuo kort, ouch sine bicher ketzersch, und die von Bibrach das am tantzhus durch den statschriber in gegenwierte etlicher ret verkuntent, […] solt man ouch die Lutersche biecher verbrenen; do

450 Shamir, Avner: Early Reformation Book Burning and Persuasion. In: Historisk tidsskrift 110 (2010). S. 338–357. 451 Die Aufzeichnungen sind ediert bei Schilling, Albert: Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern. In: Freiburger Diöcesan-Archiv 9 (1875). S. 141–238. Mit Pflummern hat sich bisher Christopher Wood beschäftigt, allerdings mit dem Ziel, die vorreformatorische Bildkultur in Biberach zu untersuchen. Vgl. In Defense of Images. Two Local Rejoinders to the Zwinglian Iconoclasm. In: SCJ 19 (1988). S. 25–44. Zur Reformation in Biberach vgl. Rüth, Bernhard: Reformation in Biberach (1520–1555). In: Geschichte der Stadt Biberach. Hrsg. von Dieter Stievermann. Stuttgart 1991. S. 255–288.



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verbrant ich, was ich Luterschs het. Dan ich het zum ersten ouch koft, das nur andechtig ding was, ain us legung des pater nosters, ain uslegung des pasions etc., die ich in clusinem ouch verschankt. Doch naicher fiel der Luter mit der ketzery herus, das ich erst inen ward, so ich sine die naich gende biechlin las. Ich schrib das dar umb, das ich glich corsam was mit minen Lutherschen biechlin zuo verbrenen und dar naich nie me kain globen weder an in, noch an sine ketzerische biecher oder an sins anhangs biecher wellen hun.452

Pflummern beschreibt, wie sich seine Haltung zu den Lutherschriften verändert. Der Priester will zu Beginn noch unproblematische Bücher des Wittenbergers gekauft und verschenkt haben. Dieser unbefangene Umgang dürfte in die ersten Jahre nach der Publikation der 95 Thesen fallen. Dann setzt in der Beschreibung ein doppelter Prozess ein. Es verändert sich die Sinnzuschreibung zu den Folgewerken; hinzu kommt ein neuer Deutungsschlüssel: die Bekanntmachung der Bannandrohungsbulle in Biberach. Pflummern präsentiert das Urteil des Papstes und der Kirche als eine Art Initialzündung, die mit seiner eigenen, veränderten Rezeption zusammenfällt. Tatsächlich sieht die Bannandrohungsbulle die Verbrennung von Luthers Schriften vor – allerdings durch die Obrigkeiten.453 Diesen Teil der Bulle übergeht Pflummern und wird selbst tätig bzw. glaubt, selbst tätig werden zu müssen, da der Biberacher Rat nicht agiert. Also folgt prompt die Reaktion auf Exsurge Domine in Form der selbstständigen Verbrennung seiner Lutherbücher. Über den genauen Hergang und den Ort schweigt sich Pflummern aus. Es scheint sich aber um einen eher solitären Akt gehandelt zu haben. Damit will Pflummern seinen Gehorsam gegenüber Papst und Kirche, seine Treue zum alten Glauben und seine ablehnende Haltung gegen Luther und die evangelischen Schriften manifestieren. Die Bücherverbrennung wird so als persönlicher Rechtfertigungs- und Distinktionsakt inszeniert. Darüber hinaus symbolisiert sie den Bruch mit der früheren Sympathie für Luther. Die Bücherverbrennung Pflummerns ist also repräsentativer Ausdruck einer altgläubigen Neupositionierung im sozialen Feld, dessen Akteure sich in Biberach zu Beginn der 1520er-Jahre in Bezug zu Luther und dessen Bücher neu sortieren. Ein solch flammendes Statement kann indes auch durch die Obrigkeiten erzwungen werden, vorzugsweise öffentlich und mit einem hohen symbolischen Wert. Anhand von Paris, dem Fall mit den häufigsten, aber nur bruchstückhaft untersuchten Bücherverbrennungen der 1520er- und 1530er-Jahre in Frankreich, lässt sich dies besonders gut erläutern. Ausgangspunkt ist ein Vorkommnis einen Tag vor Weihnachten 1525. Ein junger Mann aus Meaux sei der Sekte Luthers gefolgt, schreibt der unbekannte Pariser Bürger in seinem Tagebuch. Deshalb muss der Mann eine amende honorable leisten, d. h. eine öffentliche Bußstrafe vor der Kathedrale Notre-Dame auf der Île de la Cité, „et furent brûlés devant lui certains livres qu’il avait translatés de

452 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 176. 453 Vgl. Die verdeutschte Bulle wider Martin Luther ausgegangen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 110–126, hier S. 117.

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latin en françois, tenant le parti de Luther, lesquels il lut de mot à mot, en déclarant qu’ils étaient faux et damnables, et furent ceux-ci brûlés en sa présence.“ Der junge Mann konnte sein Leben nur durch Widerrufen des „ketzerischen“ Glaubens retten.454 Diese Form der Bücherverbrennung ist ein erzwungenes Reinigungs- und Abgrenzungsritual im öffentlichen Raum. Der Verurteilte muss Buße leisten für sein aus altgläubiger Sicht ketzerisches Handeln und Denken. Besonders bemerkenswert ist, dass der Unbekannte sich von seinen eigenen Lutherübersetzungen distanzieren und diese verdammen muss. Die öffentliche Lektüre der gesamten Texte verstärkt nicht nur den Buß-, sondern auch den Warncharakter des Rituals, da das sicherlich vorhandene Publikum durch die anschließende Verbrennung der vorgelesenen Schriften ein unmissverständliches, antilutherisches Deutungsmuster für die evangelische Textkultur präsentiert bekommt. Bücherverbrennungen kommen in Paris auch im Zusammenhang mit der Hinrichtung von zum Tode verurteilten Lutherischen vor. So im Jahr 1523 bei der ersten Verbrennung eines angeblichen Evangelischen in Frankreich. Es geht um Jean Vallière, einen Eremiten, womöglich einen Augustiner, der im August 1523 auf Beschluss des Parlaments wegen seiner Kritik an der spätmittelalterlichen Marienverehrung lebendig verbrannt wird.455 Der Parlamentsanwalt Versoris berichtet, dass vor der Hinrichtung des Eremiten dessen Bücher auf dem Vorplatz von Notre-Dame verbrannt werden.456 Versoris geht detailliert auf die Hintergründe ein: „Fault noter que, parce que led. hermite avoit esté induict en partie à ce prescher par les livres de Luther qu’il avoit leuz et regardez, furent les livres de Luther, se que l’on en peult trouver, bruslez aud. parvy, peine imposée à ceulx qui doresnavant et cy après en auroient et retiendroient pour lire.“457 Es scheint sich um ein breiter angelegtes Ritual zu handeln, bei dem nicht nur die Bücher von Vallière auf dem Scheiterhaufen landen. Pierre Driart, der Kämmerer von Saint-Victor vor den Toren von Paris, berichtet in seinen Notizen von einer Verordnung des Parlaments, gemäß derer viele Lutherbücher verbrannt

454 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 44 f. Auch Pierre Driart erwähnt, allerdings nur in einem kurzen Nebensatz ohne weitere Details, die Bücherverbrennung. Jean Clérici, ein altgläubiger Theologe der Fakultät, habe dabei eine Predigt gehalten. Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 113. Der Vorfall ist auch in den Notizen von Versoris aufgeführt, allerdings ohne Erwähnung einer Bücherverbrennung. Der Parlamentsanwalt berichtet weiterhin, dass der Prediger nach der amende honorable in Meaux zu ewiger Haft verurteilt worden sei. Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 87. Der anonyme Bürger gibt 1526 als Jahr an, Driart und Versoris 1525. Bei allen drei Quellen wird das Geschehen auf den 23. Dezember datiert. 455 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 33 f.; Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 78. Vgl. auch Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 58 f. 456 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 33 f. 457 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 34.



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werden sollten.458 Hinter dem Urteil dürfte das Parlament stehen, das den Büchern also eine zentrale Funktion bei der Verbreitung der lutherischen Kultur zuspricht und sie deshalb tilgen will. Die frühe und eindeutige Reaktion unterstreicht, dass als ketzerisch identifizierte Bücher in Paris durchaus nicht selten sind. Hier entsteht ein Kontrast zu den altgläubigen Flugschriften, in denen die konkrete Verbreitung und Rezeption heterodoxer Literatur eher wenig Aufmerksamkeit erhält. In Anbetracht der durchaus häufigen Bücherverbrennungen, die in Paris als Spektakel organisiert werden, ist das relative Schweigen der altgläubigen Autoren durchaus bemerkenswert. Eine weitere Steigerung erfolgt dann im Kontext der Plakataffäre. In Paris findet im Januar 1535 eine monumentale Reparationsprozession statt, bei der auch Franz I. teilnimmt.459 Im Anschluss an den Umgang werden am Nachmittag sechs „Lutherische“ hingerichtet, die auf dem Weg zu den Richtstätten vor Notre-Dame öffentlich Buße tun müssen. Sie werden, wie häufig in diesen Fällen, auf Karren durch die Straßen von Paris zu den Buß- und Exekutionsplätzen gefahren. Diesmal wird vor den Verurteilten ein weiterer Karren mit evangelischen Büchern hergeschoben. Die Schriften werden gemeinsam mit drei „Lutherischen“ an der ersten Richtstätte verbrannt. Die Bedeutung schrifttragender materialer Artefakten scheint unter dem Eindruck der in großer Zahl verbreiteten Flugblätter gegen die Messe rasant größer geworden zu ein. Schriftgut, das altgläubige Institutionen wie das Parlament und die Theologische Fakultät von Paris als ketzerisch einstufen, wird in dem beschriebenen Ritual eine bedeutende Rolle als Faktor evangelischer Propaganda zugeteilt. Zentrale Bestandteile der Bußpraxis, des Transports und der Hinrichtung werden identisch bei Hinrichtungen von Protestanten durchgeführt.460 Gedruckte evangelische Texte sind in diesem Augenblick für die Altgläubigen also mehr als nur der leblose Auslöser unorthodoxen Verhaltens. Die Bücher werden selbst als Akteure der lutherischen Gegenseite wahrgenommen.

458 Durch öffentliches Ausrufen sei das Verbot kundgetan worden, die Schriften des deutschen Augustiners zu besitzen. Stattdessen sollten sie ins Feuer geworfen werden. Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 79. 459 Vgl. dazu Kap. III. 3.2. 460 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 176 f. Der anonyme Bürger ergänzt, dass es sich bei einem der drei Verurteilten um einen gewissen Valeton, Finanzbeamter (receveur) aus Nantes, gehandelt habe. Mit ihm seien die Bücher verbrannt worden, die man in seiner Wohnung gefunden habe. Journal d‘un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 176.

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1.3 Altgläubige Textkulturen 1.3.1 Produktionskontexte: Warum und wie entstehen Flugschriften? Immer wieder kreist die Debatte um die Frage, warum sich die deutschen Altgläubigen mit der Publikationsform der volkssprachlichen Flugschrift so schwer getan hätten. Lange wurde nur nach Gründen für ein angebliches Scheitern der literarischen Offensive gesucht, meist ohne das Scheitern oder die „Hemmungen“ historiographisch infrage zu stellen.461 David Bagchi hat als Erklärung ein Dilemma der Luthergegner ausgemacht. Demnach wollten die altgläubigen Autoren einerseits das päpstliche Urteil begründen und den Reformatoren publizistisch etwas entgegensetzen. Andererseits durfte mit einem verurteilten Ketzer nicht disputiert werden.462 Diese Erklärung gerät allerdings schon beim Blick auf die Statistiken ins Wanken. Denn diese zeigen ab 1522 kein Sinken, sondern einen zahlenmäßigen Anstieg und eine inhaltliche Verbreiterung der altgläubigen Flugschriften, die freilich nicht immer Luther direkt ansprechen, aber sich in aller Ausführlichkeit mit dessen Person und Theologie auseinandersetzen. Mit anderen Reformatoren wird zudem ganz selbstverständlich schriftlich disputiert.463 Deshalb gehe ich mit einer veränderten Fragestellung an das Quellenkorpus der volkssprachlichen Flugschriften heran. Es geht darum zu zeigen, wie die antilutherischen Autoren des Alten Reichs selbst ihre Publikationen begründen, auf welche Gegner, Kontexte und Zielgruppen sie sich mit ihren Schriften beziehen wollen, in welche Kultur sie sich einordnen und v. a. aus welchem Grund sie das Medium der Flugschrift wählen. Wie begründen die Autoren ihre Veröffentlichungen und das gewählte Medium? Augustin von Alveldt, seinerzeit Lektor im Franziskanerkloster in Leipzig und künftiger Guardian des Konvents in Halle (ab 1524),464 schreibt im April 1520 ein eher unpolemisches Traktat zur Verteidigung des Papsttums.465 Nach Luthers Antwort darauf reagiert er mit einer weiteren Flugschrift. Darin wirft er Luther vor, dieser habe in die

461 Auf diesen Umstand hat im Allgemeinen, aber insbesondere bezüglich der katholischen Postillen Frymire, Postils (wie Anm. 42), S. 41–49 hingewiesen. 462 Bagchi, Earliest Opponents (wie Anm. 43), S. 201–214. 463 Vgl. Kap. I. 1.3.1. 464 Zur Biographie Alveldts siehe Smolinsky, Heribert: Augustin von Alveldt († ca. 1535). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 47–55; Vgl. ferner Smolinsky, Heribert: Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser. Eine Untersuchung zur Kontroverstheologie der frühen Reformationszeit im Herzogtum Sachsen. Münster 1984 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 122). 465 Alveldt, Augustin von: Ein gar fruchtbares und nützliches Büchlein von dem päpstlichen Stuhl und von St. Peter. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 72–90.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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Herzen der Menschen gegen ihn geschrieben. Darauf müsse er antworten, und zwar ebenfalls in der Volkssprache. Denn er wolle sich nicht von den Lutherischen, sondern von den „vernunfftigen cristenmenschen“ beurteilen lassen und die Wahrheit seiner Lehre darstellen. Trotz aller angeblichen Drohungen Luthers wolle er künftig noch mehr Bücher gegen die Wittenberger und über die christliche Lehre publizieren.466 Hier finden sich bereits einige der zentralen Argumente deutscher altgläubiger Autoren für ihre volkssprachlichen Veröffentlichungen, wie sie in den Folgejahren immer wieder vorgebracht werden. Alveldt begründet sein Vorgehen mit der Notwendigkeit, sich gegen Luther zur Wehr setzen zu müssen. Die volkssprachliche Flugschrift ist für ihn ein effektives Mittel, in die Deutungskämpfe einzugreifen. Deshalb kündigt Alveldt weitere Veröffentlichungen an. Andere Autoren argumentieren zur selben Zeit ähnlich und offenbaren wenig Skrupel, den bereits verurteilten Ketzer Martin Luther in ihren Texten direkt anzusprechen – entgegen den Vorschriften des kanonischen Rechts. Johannes Eck, der gerade dabei ist, die Bannbulle zu verbreiten, begründet eine seiner Publikationen vom Oktober 1520 mit der weiten Verbreitung der Schriften Luthers und dessen Anhänger. Er wolle sich deshalb an jeden frommen Christen wenden, also wie Alveldt den direkten Zugang zum gemeinen Mann suchen. Angesichts der Publikationssteigerung Luthers erscheint auch dem Ingolstädter Theologen die Wahl eines gleichartigen Mediums als angebracht.467 Der Anspruch, die wahre christliche Lehre zu verbreiten und zu verteidigen, verbindet sich dabei mit dem Anspruch, das Volk vor den Reformatoren, deren Lehren sowie den Auswirkungen der „Neuerungen“ zu warnen. Thomas Murner argumentiert in seiner ersten, noch anonymen Flugschrift von 1520, er schreibe nicht aus Neid oder Hass gegen Luther und dessen Anhänger. Aber er könne nicht mehr zusehen, wie der Wittenberger auf Deutsch zu Hans Karst – der gängigen Repräsentation des aufständischen Laien – und zur ungelehrten Gemeinde gegen die Obrigkeit und die Geistlichen rede.468 Hieronymus Emser schreibt im Zuge seiner längeren Auseinandersetzung mit dem Wittenberger Reformator in einem Text vom Januar 1521, dass zum rechten christlichen Glauben nur Vertrauen, aber keine Disputation und zweifelhaften Schriften gehören. Dennoch sei man manchmal verpflichtet, den Feinden entgegenzutreten, ihnen zu widersprechen und das Volk zu unterweisen.469 Ähnliche Argumentationen tauchen bei vielen weiteren altgläubigen Autoren der 1520er- und 1530er-Jahre auf.470

466 Alveldt, Ein Sermon (wie Anm. 410), S. 92–94. 467 Eck, Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 3. 468 Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 142. 469 Emser, Hieronymus: Wider das unchristliche Buch Martin Luthers an den deutschen Adel. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 229–269, hier S. 231. 470 Cochlaeus, Johannes: WIder die Reubischen vnd // Mordischen rotten der Bawren, die vnter dem scheyn des hei//ligen Euangelions felschlichen wider alle Oberkeit // sich setzen vnd empören Martinus Luther. // Antwort Johannis Coclei // Von Wendelstein. // Eyn kurtzer begriff von auffru=//ren vnd

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Emser nennt zwei verschiedene Gründe für seine Schrift An den Stier von 1520/21. Neben Luther, der das christliche Volk entzweie und verführe, habe ihm auch sein Gewissen keine Ruhe gelassen und zum Handeln gedrängt, zumal Luther mit seinen Schriften von Tag zu Tag forscher gegen die Kirche vorgehe.471 Durch die Nennung des Gewissens als Beweggrund für das eigene Agieren unter widrigen Umständen inszeniert sich Emser als solitärer Verfechter der evangelischen Wahrheit. Zunehmend ist es also nicht nur die angeblich falsche Lehre Luthers, sondern deren massenhafte schriftliche Verbreitung, die die Autoren zu ihren Veröffentlichungen treibt. Der bayerische Dorfpfarrer Eckart spricht Luther 1521 in der zweiten Person Singular direkt an und begründet seine Publikation damit, dass der Reformator die Priester angreife und das Evangelium fälsche. Und weiter: „So erwachßeth zeythigee ursach, dir Martine zu antwarten. Nit das ich sey ain doctor… sunder das ich pin ain Christen mensch und Christo im sacrament des h. tauffs gelubt hab, dem teuffel und seinen falschen gespensten zu wider sagen unnd falscher ler der gleichen zu widerstreben.“472 Eckart leitet aus dem Taufgelübde die Pflicht ab, gegen Luther zu publizieren. 1523 erläutert Emser in Wider den falsch genannten Ecclesiasten, dass er gleichsam gezwungen sei, öffentlich gegen Luther zu schreiben und diesem etwas entgegenzusetzen. In Zeiten wie diesen, wo das Schiff Petri in Seenot geraten ist, müsse jeder da helfen, wo er könne. Auch Paul Bachmann notiert im Vorwort zu seiner ersten Anti-Luther-Schrift von 1522, dass er gegen den Wittenberger trotz der widrigen Umstände anschreibe, da jeder Christ verpflichtet sei, Luther zu widerstehen.473 Dafür scheint den Autoren die Form der deutschen Flugschrift am wirkungsvollsten zu sein – per se als mittlerweile erprobtes Kommunikationsmittel und da sie die Verbreitung der lutherischen Kultur mit diesem Medium in Verbindung bringen. Sie wollen die Reformation mit deren eigenen Mitteln schlagen, wobei sie um die ungleiche Verteilung der Chancen, Verbreitungs- und Rezeptionsstrukturen wissen. Die Frage nach etwaigen Skrupeln, Vorschriften des kanonischen Rechts oder Absatzschwierigkeiten wird sehr schnell überdeckt von der Frage der Zweckmäßigkeit und innerer Pflichtgefühle. Mit fortschreitender Zeit lässt sich im Alten Reich jedoch mehr und mehr das Fehlen detaillierter Begründungen für die Wahl des Formats der volkssprachlichen Flugschrift beobachten. Autoren begnügen sich ab der Mitte der 1520er-Jahre häufi-

rotten der Bawren in hohem Teutsch=//land diß Jar begangen […]. Köln: Peter Quentel 1525. Bl. A1v; Sylvius, Petrus: Eine Erklärung der evangelischen Kirche. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 113–135, hier S. 113; Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 426), S. 1076; Cochlaeus, Johannes: Erklärung der strittigen Artikel der Konvokation zu Marburg. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1122–1138, hier S. 1123 f. 471 Emser, An den Stier (wie Anm. 392), S. 222 f. 472 Eckart, Ain Dialogus (wie Anm. 414), Bl. A2r. 473 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 362 f.



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ger mit wenigen Sätzen zum Entstehungs- und Bezugskontext ihrer Veröffentlichungen, zumal wenn es nicht ihre erste ist. Die Artikulationsform scheint, als eine von mehreren, bei den Altgläubigen nicht nur gängig geworden zu sein, sondern auch ein zunehmend verstetigtes Publikum zu finden, das der Begründungen nicht mehr wirklich bedarf.474 Gregor Breitkopf etwa, ein humanistisch orientierter Doktor der Theologie aus Leipzig,475 geht zu Beginn seiner 1528 erschienen, ersten und letzten Flugschrift gegen die Täufer zwar kurz auf den aktuellen Ereigniskontext ein. Anders als viele Autoren fünf Jahre zuvor sieht er aber keine Notwendigkeit, das Medium oder dessen sprachlich-stilistische Form zu begründen.476 Um 1530 sind Flugschriften im altgläubigen Lager ein schlichtweg normales Mittel zur Äußerung von Differenz, für den Angriff und zur Verteidigung der eigenen Glaubenskultur und religiösen Praxis geworden. Im Vergleich dazu sehen die französischen Autoren wenig Grund, sich für die Formen ihrer Wortmeldungen zu rechtfertigen. Die Gründe dafür sind wohl ebenso vielfältig und spezifisch wie die antilutherische französische Textkultur. Eine Ursache für die Selbstverständlichkeit der antievangelischen Publizistik kann auch mit dem soziokulturellen Status derer zu tun haben, die gegen die Heterodoxen tätig werden. Ein großer Teil der Autoren sind Doktoren und Mitglieder der Theologischen Fakultät in Paris. Sie verfügen damit nicht nur über eine mächtige strukturelle Unterstützung, sondern auch über die Legitimität, wenn nicht für, so doch mit der Fakultät im Rücken zu schreiben. Die Doktoren der Theologie dürften es als ihre ureigene Aufgabe ansehen, gegen Luther und die französischen Evangelischen aufzustehen. Sie sind es gewohnt, Urteile zu fällen und als Institution in Auseinandersetzungen über das wahre Christentum zu belehren.477 Daher ist es nicht weiter nötig, dass sie ihr Eingreifen in den öffentlichen Diskurs erklären. Sie tun schlicht das, was neben der Zensur Aufgabe der Theologischen Fakultät ist: lehren und zurechtweisen. 1532 etwa schreibt ein anonymer Altgläubiger eine Apologie gegen mehrere angeblich lutherische Irrtümer in der volkssprachlichen Schrift von Georges de Halewijn, dem Erasmus-Korrespondenten und -übersetzer.478 Der Anonymus antwortet

474 Vgl. folgendes Kapitel 1.3.2. 475 Schnorr von Carolsfeld: „Breitkopf, Gregorius“. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 3 (1876). S. 303. 476 Breitkopf, Gregor: Daß die Wiedertaufe irrig sei. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525– 1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 701–716. 477 Pettegree, Catholic Pamphleteering (wie Anm. 368), S. 121; Higman, Premières réponses (wie Anm. 367), S. 161–163. Zur Tätigkeit der Pariser Doktoren als Glaubenshüter und -richter innerhalb und außerhalb des Reformationskontextes, vgl. Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 160–208. 478 Vgl. Higman, Francis M.: Piety and the People. Religious Printing in French, 1511–1551. Aldershot 1996 (St. Andrews studies in Reformation history). S. 47. An anderer Stelle spekuliert Higman über eine mögliche Autorschaft von Jodocus Clichtoveus, der 1533 einen in einigen stilistischen, rhetorischen und theologischen Punkten der anonymen Apologie ähnelnden lateinischen Text veröffentlicht hat. Higman verwirft die Hypothese aber. Vgl. Premières réponses (wie Anm. 367), S. 367–370.

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im Vernakularen, doch er rechtfertigt dies nicht umständlich wie manche deutschen Altgläubigen. Vielmehr beschränkt er sich auf die Erläuterung seiner Motivation, er wolle die Fehler von Halewijn aufzeigen a celle fin que ceulx qui des a present se sont occupez en la lecture d’icelluy congnoissant que ilz ne si doibvent aucunement arrester, mais du tout le reiecter comme chose perileuse & induisante a plusieurs Erreurs de Luther & ses sequances qui seroit au grand preiudice de nostre saincte Foy Catholique. Car il est a craindre que le peuple croyant sondit petit Livre estre du tout contre Luther ne tumbe tant plus es erreurs dudit Luther & ses complices, qui seroit tresgand inconvenient a la Chose Publicque.479

Wer die Schrift bereits lese, müsse sofort damit aufhören und sie zurückweisen bzw. zurückwerfen, da sie für den gemeinen Glauben gefährliche Irrtümer enthalte. Dagegen will der Verfasser der Apologie als Aufklärer und Belehrer vorgehen – das Format oder die Volkssprache begründet er mit keinem Wort. Die Schrift von Jérôme de Hangest gegen die Plakate von 1534/35 ist in ihrem Ziel eindeutig: Sie will aufklären und darstellen. Eine Rechtfertigung für Form oder Format braucht es da nicht.480 Die Tenebrions gelten als die offizielle Antwort der Theologischen Fakultät auf die placards von Antoine Marcourt.481 Auch der Pariser Theologe und Dominikaner Pierre Doré, der 1538 eine volkssprachliche Widerlegung des ins Französische übersetzten Katechismus von Kaspar Megander aus Bern publiziert, erläutert zwar den Kontext seiner Publikation, aber rechtfertigt nicht deren konkrete Form.482 Allein die Zielgruppe wird näher umrissen. Der protestantische Katechismus richte sich an kleine Kinder und sei in Lyon durch einen Lutherischen an die Tür eines Klerikers genagelt worden. Deshalb müsse er dem Text etwas entgegensetzen, um dem Volk die Milch des wahren, evangelischen Glaubens zu geben. Dazu sei er von einigen guten Christen ermuntert worden. Mehr als diesen Hintergrund für die Publikation nennt der Verfasser nicht.483 Neben den bis hierher untersuchten Kontroversen-Zusammenhang der altgläubigen Flugschriftenproduktion ist über deren materiale und soziale Kontexte im

479 Apolologie [sic] pour la Foy // Chrestienne contre les // Erreurs contenues au Petit // Liure de Messire George // Seigneur de Haleuin. Paris: Geoffroy Tory 1532 (1531 a. Z.). Bibliothèque Mazarine, Paris, cote: 8° 25543-1 (Rés.). Bl. A2v. 480 Hangest, Jérôme de: Contre les // tenebrions Lumiere euangelicque. Paris: Jean Petit 1535 (1534 a.Z.). Bibliothèque nationale de France (BNF) Paris, cote: Rés. D 80052, v. a. die Widmung an Anne de Montmorency, Bl. A2r–A4v. Ohne eine vergleichbare Begründung für die Schrift oder eine konkrete Ziel- oder Rezipientenangabe bleibt Hangest, En controversie (wie Anm. 431). 481 Vgl. La Garanderie, Réponse catholique (wie Anm. 297), Bl. 1r-2r. 482 Higman, Réfutation (wie Anm. 367); Higman, Premières réponses (wie Anm. 367), S. 372–375. Zur Person vgl. Langlois, Catholic Response (wie Anm. 313), S. 39–60. 483 Doré, Pierre: Dyalogue // Instructoire des Chrestiens en la foy/ esperance/ // et amour en Dieu. Paris: Jean Real/Vincent Certenas 1538. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k109368p (28.2.2013). BNF Paris, cote: Rés. D 32766, A2r–A3r.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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Einzelfall meist wenig zu erfahren. Umso bemerkenswerter ist eine in der neueren Forschung unbekannte Auseinandersetzung aus dem Südosten des Alten Reichs. Es handelt sich um die Kontroverse der Familie von Schwarzenberg. Diese von Anfang bis zum Abschluss lückenlos dokumentierte Auseinandersetzung, in der sich das fränkische Freiherrengeschlecht überwirft, liefert wertvolle Hinweise zur Produktion von altgläubigen Flugschriften, aber auch zu Rezeptionsformen und -gruppen. Fünf Schriften mit jeweils mehreren Auflagen werden dabei von drei Personen zwischen 1524 und 1527 geschrieben. Den Auftakt macht der bayerische Landhofmeister Christoph von Schwarzenberg (1488–1538), der Sohn des fränkischen Juristen Johann von Schwarzenberg. Er hat in Tübingen studiert, wo er erste Netzwerke in humanistische und später antilutherische Kreise knüpfte. Er macht rasch Karriere am Münchner Hof von Herzog Wilhelm IV. von Bayern.484 Christoph von Schwarzenberg veröffentlicht anonym zu Jahresbeginn 1524 seine am Ende des Jahres 1523 verfasste Treue väterliche Anzeigung und Unterweisung.485 Darin greift er einen bunten Strauß an Themen und allgemeinen theologischen Streitpunkten der frühen Reformationszeit auf, die in Luthers Betbüchlein vorkommen.486 Den präzisen Grund und den Kontext für die Veröffentlichung beschreibt der altgläubige Schwarzenberg anschaulich im Vorwort an seine Tochter: Hertzliebe tochter, du hast mir in vergangen tagen ain petpüechlein zu ainem neüen jar zuegeschickt, welliches mit ganntzem vleiß eingepunden, und von aussen (die örtter des papirs) übergült gewesen sein. Alls ich aber sölichs öffnet, befannde ich zuvorderst allso geschriben: Ain petpüechlein der zehen gepot des glaubenns, des vatter unnsers unnd des Ave Maria. Unntter disen wortten allen stunde: D. Martin Luter. Unnd wiewol ich erstlich das püechlein von dem pottn, alls der vatter, mit vätterlichem danck entpfienge, dae ich aber den Lutter darauff fannde, würde ich aus pillichem vätterlichem zorn bewegt, warffe das püechlein von mir. Und was ich deshalben wider geschrieben, ist dir wissent etc.

484 Paulus, Schwarzenberg (wie Anm. 143), S. 10–13, 29–32; Paulus, Biographische Nachträge (wie Anm. 143), S. 144–154; Zoepfl, Friedrich: Johannes Altenstaig. Ein Gelehrtenleben aus der Zeit des Humanismus und der Reformation. Münstet 1918 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 36). S. 19. 485 Schwarzenberg, Christoph von: Ain treüe vätterliche // anzaygung/ vnd vnntter=//weysung/ aines Lute=//rischen (genennten) // petpüechleins // halben. [München] 1524. In dieser Schrift sind keine Informationen zum Druckort und Drucker enthalten. Die ältere Literatur spricht von Nürnberg als Erscheinungsort, vgl. Paulus, Schwarzenberg (wie Anm. 143), S. 20. VD16 nennt wiederum den Münchner Drucker Hans Schobser. 486 Die Inhaltsangabe, die Schwarzenberg von der Lutherschrift gibt, deckt sich mit dem Betbüchlein, das 1522 zum ersten Mal erschien und dann in erweiterten Fassungen zu Luthers Lebzeiten insgesamt 48 Auflagen erlebt. Vgl. Beyer, Michael: Martin Luthers Betbüchlein. In: Lutherjahrbuch 74 (2007). S. 29–50.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

Aber dabei belässt er es nicht: Als ich aber anders tags darnach, gemellts petpüechlein (ungevärlich) wider in die hanndt nam, hinden und vorn stüpflweys darinnen laß, unnd wollt auch sehen, was der arm mennsch der Luter pöß unnter das güt het mögen schreiben, befande ich warlich, das er allerley güter leer und ermanung gesetzt het. Deßhalben ich ain brüederlich mitleyden mit sölhem unnserm kranncken brüeder (dem Luter) entpfienge, das er also mit grossen genaden von Got begabt, und der gestallt mißpraucht etc. Bedacht auch darbey, so du mein liebe tochter, und vil annder allso, das (gut scheinent) leset, ir würdet das seelschedlich darunntter nit entpfinden, und allso von der allten schlangen, die unser gemaine mueter Eva trogen, auch verfüert werden. Sölichs mir von allen Christen (unnd sonnderlich von dir mein tochter) treülich und vätterlich laid wäre. Und beratschlagt bey mir selbst, ich wolt das püechlein durchlesen, und was mir darinnen nit gefiel, unntterstreichen und sölichs dir allso wider (mit vätterlichem rat) zueschicken. Als ich aber sölhe untterstreichung anfieng, het ich zu yeder zeyl gern mit dir geredt. Dz nit gsein kunte, nam ich ainen pogen papiers, vermaint auff ain yedes unntterstreychen ain klaine gloss zuschreiben. Das aber sich etwas meret, wie du hiebey sichst. Das wöllest auch allso töchterlich (von mir deinem vatter) annemen.487

Der Auslöser von Schwarzenbergs Schrift ist ein Lutherbuch, das er in einem präzisen materialen, rituellen und sozialen Kontext erhält. Ordnungsgemäß habe er die Schrift des „Ketzers“ sofort weggeworfen und einen – sicher unangenehmen – Antwortbrief an die Tochter verfasst. Durch die Geste des Fortwerfens und die Intervention bei der Tochter unterstreicht Schwarzenberg seine religionsgemeinschaftliche Zugehörigkeit und bringt körperlich seine Ansicht über Luthers Schrift zum Ausdruck. Als er sich später dennoch zur Lektüre entschließt, fasst er das Buch nur mit spitzen Fingern an und rezipiert es bewusst mit seinem spezifischen kulturellen Wissen. Erneut scheinen die Papstbulle und das Wormser Edikt für einen Altgläubigen kein Hindernis für den materialen und intellektuellen Umgang mit Lutherbüchern zu sein, sondern vielmehr ein wichtiger Faktor zu deren Deutung. Schwarzenberg zeigt, wie viele andere, keine größeren Skrupel, gegen den verurteilten Ketzer zu schreiben. Das ist umso bemerkenswerter, als dass er Laie ist und somit unter den altgläubigen Autoren eine winzige Minderheit darstellt. Wie viele antilutherische Publizisten hebt er hervor, dass Gift in Luthers Texten versteckt und verborgen sei.488 Daraus leitet er den Auftrag ab, selbst tätig zu werden. Dies zeigt: Es bedarf eines konkreten Grundes, eines Bezugs oder einer Involvierung in die Differenzkonstruktion, damit Altgläubige und hier besonders ein Laie zur Feder greifen. Schwarzenberg will seine, d. h. die altgläubige Deutung von Luthers Schrift durchsetzen, und die Tochter warnen. Die Textproduktion erfolgt somit im Hinblick auf eine genaue Zielgruppe, die im Text genannt und deren mutmaßliche Haltung antizipiert wird. Schwarzenberg beschreibt nicht nur den religionskulturellen Dif-

487 Schwarzenberg, Treüe vätterliche anzaygung (wie Anm. 485), Bl. A2r–v. 488 Vgl. Kap. I. 3.1.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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ferenzkontext, sondern auch den konkreten Prozess der Textgenese, der später in die Flugschrift münden sollte. Der Druck scheint anfangs gar nicht geplant gewesen zu sein, sondern hat sich offenbar in der Dynamik des Kommentierens und Schreibens ergeben. Zuerst ist Schwarzenbergs Arbeit auf die persönliche Belehrung seiner Tochter ausgerichtet. Er entschließt sich, das Betbüchlein ganz durchzulesen und dabei die für ihn kritischen oder freiheraus ketzerischen Stellen aufzudecken. Zu Markierungen, die er im Buch an bestimmten Passagen anbringt, will er die altgläubige Deutung und theologische Gegenmeinung liefern, die zu Beginn womöglich noch als Marginalien geplant sind. Doch rasch bemerkt Schwarzenberg die Unangemessenheit dieser Schreibtechnik. Der Luthertext beinhaltet so viele Elemente, die er ablehnt oder korrigieren will, dass er den Kommentar auf gesonderten Papieren fortsetzt. Aus der ursprünglich beabsichtigen Glossierung von Einzelstellen wird ein langer, eigenständiger Text – aus einem privaten Kommentar wird eine öffentliche Flugschrift.489 Die Länge des Schreibens wird zur Begründung für die Drucklegung herangezogen. Doch das ist nicht alles. Christoph von Schwarzenberg scheint im ersten Beispiel den Druck aus zwei Gründen zu benötigen: Erstens wegen der neuen Massen-Rezeptionskultur der frühen Reformationszeit sowie zweitens aufgrund der spezifischen Verbreitungsnetzwerke für Texte.

1.3.2 Verbreitung und Rezeption Flugschriften werden über vielfältige Kommunikationswege und -stufen verbreitet und konsumiert.490 Bei den Altgläubigen scheint das Verschicken von Texten in speziellen Netzwerken, oft über mehrere Stellen hinweg, neben dem schlichten Kauf eine gängige Praxis zu sein. So verschickt Christoph von Schwarzenberg ein Exemplar seiner gedruckten Kommentare zu Luthers Betbüchlein an seine Tochter mit dem Hinweis, sie solle den Druck auch ihrem Mann zu Lesen geben. Mehr über die Verbreitungsmechanismen und den Hintergrund für den Druck sind in der folgenden evangelischen Gegenschrift des Familiendisputs zu erfahren. Diese stammt von Ende 1524 oder eher Anfang 1525 und wird anonym in Nürnberg veröffentlicht.491 Autor

489 Ein ähnliches Beispiel der Textproduktion ist uns aus dem Herzogtum Sachsen bekannt. Der Zisterzienserabt Paul Bachmann schreibt 1524 eine Flugschrift gegen den Austritt der Mönche und Nonnen aus den Klöstern. Er ermutigt die Ordensleute, in den Konventen zu bleiben, da sie nur dort ein dem Seelenheil förderliches und von guten Werken geprägtes Leben führen könnten. Der Text war ursprünglich als Sendschreiben von Bachmann an einen ungenannten und Luther nicht gänzlich abgeneigten Freund konzipiert, doch sei der Text dann so lange geworden, dass ihn der Abt gleich als Druck veröffentlicht. Bachmann, Zu Errettung (wie Anm. 406). 490 Vgl. z. B. Creasman, Censorship (wie Anm. 163), S. 23–60; Audisio, Livre religieux (wie Anm. 357). 491 Paulus, Schwarzenberg (wie Anm. 143), S. 29.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

der Beschwörung der alten teuflischen Schlange492 ist Christophs Vater Johann von Schwarzenberg. Der bekannte Jurist war von 1501 bis 1522 Hofmeister des Bischofs von Bamberg. Nach seinem Dienst im Reichsregiment wurde er Rat der Markgrafen von Brandenburg und 1526 für kurze Zeit Berater von Albrecht von Brandenburg in Preußen.493 In der Beschwörung greift der lutherische Johann von Schwarzenberg neun Themenblöcke aus der Flugschrift und aus weiteren Briefen seines Sohnes auf. Doch wie kam er in deren Besitz? Er habe den Druck von seinem Sohn selbst zugeschickt bekommen, berichtet er. Doch da der Text anonym verfasst wurde und sich Christoph von Schwarzenberg seinem Vater in einem Schreiben, das der Flugschrift beilag, auch nicht als Verfasser zu erkennen gab, war für Johann von Schwarzenberg die Autorschaft vorerst unklar. Und er war nicht der einzige Empfänger der Flugschrift: „so hab ich doch kürtzlich darnach und sonderlich auß eynem schreyben, mir von unser beder schwiger (der du dergleichen büchlein auch gesandt) zukumen, sovil erfunden, das dasselbig büchlein von dir geschriben und in druck gegeben worden ist.“ Über einen Umweg innerhalb der Familie also erfährt der lutherische Vater von der Autorenschaft des altgläubigen Sohns. Dieser hat demnach seine Schrift Anfang 1524 dem engeren Familienkreis zugeschickt, einem Familienkreis, der dann untereinander brieflich über die Flugschrift korrespondiert und deren Einordnung u. a. in der Verfasserfrage interaktiv vornimmt. Laut Johann von Schwarzenberg blieb das Netzwerk aber nicht auf die Familie beschränkt, sondern öffnete sich auch „etlichen andern ungesipten“, also womöglich dem direkten Umfeld von Christoph, etwa am Münchner Hof oder aus seiner Studienzeit in Tübingen. Der Vater hält die Schrift des Sohnes jedenfalls für eine Verführung und Ausbreitung von Irrlehren, gegen die er sich nun seinerseits schriftlich wendet – aber weiterhin anonym.494 Mehrere kommunikationsgeschichtlich relevante Schlüsse lassen aus diesem Fall ziehen. Erstens erscheint das Verschicken der gedruckten Anti-Luther-Schrift der wichtigste Verbreitungsweg gewesen zu sein. Zu Beginn der Polemik ist der Empfängerkreis beschränkt und konzentriert sich auf die Familie und das nähere soziale Umfeld von Christoph von Schwarzenberg, das sich freilich in größeren Teilen mit dem familiären Netzwerk überschneidet. Neben dem Verschicken ist die Weitergabe des erhaltenen Textes durch den Empfänger in dessen Umfeld die zweite, wichtige Handlung. Entsprechend klein dürfte auch die erste Auflage der Väterlichen Ermahnung gewesen sein, die dann im März 1524 eine neue und erweiterte Auflage

492 Schwarzenberg, Johann von: Beschwerung der alten Teüfe//lischen Schlangen mit dem // Götlichen wort. Nürnberg 1525. 493 Merzbacher, Friedrich: Johann Freiherr zu Schwarzenberg. In: Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensbilder aus Franken, Bd. 4. Hrsg. von Gerhard Pfeiffer. Würzburg 1971. S. 173–185; Roser, Hans: Altbayern und Luther. 40 Portraits. München 1996. S. 80–82; Markert, Gerhard: Menschen um Luther. Eine Geschichte der Reformation in Lebensbildern. Ostfildern 2008. S. 244–249. 494 Schwarzenberg, Beschwerung (wie Anm. 492), Bl. A3r–v.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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erfährt.495 Die gestiegene Nachfrage weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung breitere Beachtung und der Text weitere potentielle Leser hat. Brief, Handschrift und gedruckte Schrift stehen dabei nicht nur nebeneinander, sie sind in den Netzwerken komplementär und gehen ineinander über. Christoph von Schwarzenberg passt sich schlicht den neuen Verbreitungsmaßstäben von religiös-distinktiven Schriften an. Den vielen ihm bekannten Lesern von Luthers Betbüchlein kann er nicht jeweils einzeln in Briefen oder Kommentaren antworten, zumal in der in seinen Augen eigentlich erforderlichen Länge. Um selbst im begrenzten familiären und engen sozialen Umfeld Einfluss auf die Deutung von Luthers Schriften und die religiösen Haltungen der Adressaten zu nehmen, muss er seine Notizen drucken lassen. Nur so kann Christoph von Schwarzenberg mit dem Luthertext im genannten Kontext auf numerische Augenhöhe kommen. Er sorgt selbst für die Anstoßverbreitung und legt noch zusätzlich Briefe bei, die die Deutung der mitgeschickten Schrift durch die Rezipienten beeinflussen sollen. Nach der lutherfreundlichen Antwortschrift des Johann von Schwarzenberg entgegnet hierauf anstelle des Sohns im Mai 1525 Kaspar Schatzgeyer mit der Fürhaltung von 30 Artikeln. Der gebürtige Landshuter Schatzgeyer hat im Franziskanerorden eine beeindruckende Karriere hingelegt, wurde Guardian des eng mit dem bayerischen Hof und so auch mit Christoph von Schwarzenberg verbundenen Münchner Konvents und für einige Jahre Provinzial der oberdeutschen Franziskanerprovinz.496 In der Fürhaltung will Schatzgeyer 30 Irrtümer aus der vorhergehenden Schrift des Johann von Schwarzenberg aufzeigen.497 Dieser wiederum antwortet im Jahr 1526, diesmal von Königsberg aus, mit der vierten Flugschrift der Serie. Darin greift der alte Schwarzenberg mit dem Zölibat und dem Fastengebot nur noch zwei Themen auf.498 Die fünfte und letzte Flugschrift erscheint im Januar 1527, wiederum von Schatzgeyer. Dem Text ist ein Briefwechsel zwischen Christoph von Schwarzenberg und Schatzgeyer vorangestellt. Der Brief vom 25. Oktober 1526 von Christoph von Schwarzenberg an den Franziskaner gibt erneut Einblicke in die Praxis des Schriftverschickens  – diesmal aber einer lutherischen Schrift. Schwarzenberg berichtet, dass ihm die neueste, zweite Schrift seines Vaters kürzlich und noch bevor er München für eine Reise verlassen habe, zugeschickt worden sei. Erneut wird deutlich, dass die Flugschriften

495 VD16 S 4703. Die erste Auflage trägt die Normnummer VD16 S 4702. 496 Iserloh, Schatzgeyer (wie Anm. 144), S. 56–63. 497 Schatzgeyer, Kaspar: Fürhaltung von 30 Artikeln, die durch einen neuen Beschwörer der alten Schlange gerechtfertigt werden. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 76–107. 498 Schwarzenberg, Johann von: Diß büchleyn Kuttenschlang genant // Die teueffels lerer macht bekant. Herr Johannßen vonn // Schwartzenbergs andere Christenliche // veterliche warnung und vermanung/ // seynes Sons herrn Christoffels etc. // vff Caspar Schatzgeyers schrey//ben/ das er widder genantes // herrn Johanßen büchleyn // die Schlangen beschwe//rung genant ym druck // hat außgehen // lassen. [Königsberg 1526].

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

der verschiedenen Seiten wechselseitig intensiv rezipiert werden, jedoch mit sich jeweils zunehmend schärfendem spezifischem Deutungswissen. Seine Strategie ist es zunächst, dass das Buch am Münchner Hof vor seiner anstehenden Reise gar nicht erst bekannt wird. Deshalb zeigt er es weder Schatzgeyer noch anderen und versucht, „solichen druck ungeöffnet zu erhallten, daz mir aber unmüglich, und muess also des außpraytung leyden.“ Deshalb greift Schwarzenberg schließlich von Ingolstadt aus brieflich in die Deutungskonstruktion am Münchner Hof ein. Er will Schatzgeyer beschwichtigen oder zumindest von einem allzu polemischen Ton bei dessen Antwort abhalten. Die Produktion von Flugschriften ist also nicht nur interkonfessionellen, sondern auch intrakonfessionellen Bezugssystemen und sozialen Mechanismen der durchaus auch konfliktreichen Aushandlung unterworfen.499 Mit dieser letzten Schrift endet die Auseinandersetzung, allerdings nicht aus Einsicht, sondern wegen des Todes von Kaspar Schatzgeyer im September 1527 und von Johann von Schwarzenberg im Folgejahr. Ein abschließendes Beispiel aus der altgläubigen Verbreitungsstruktur stammt ebenfalls aus dem südostdeutschen Raum, überschreitet diesen aber zugleich und lässt Schlüsse auf die Transregionalität der altgläubigen Flugschriftenkultur zu. Caritas Pirckheimer, die altgläubige Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters und Schwester des bekannten Humanisten Willibald Pirckheimer,500 schreibt im Jahr 1522 einen Brief an Hieronymus Emser nach Dresden. Der Brief wird von Lutherischen abgefangen und mit satirischen Kommentaren veröffentlicht. Deshalb ist er als Quelle erhalten geblieben, die abgesehen von den Glossen als authentisch gelten kann. Darin berichtet die Nonne über ihren Umgang mit Emsers Flugschriften: Ich schick euch ewr buechlein auß weit und breyt in vil cloester uber vil meyln, da man uberal groß iubel davon schreibt, besonder dan unser vetter die Barfussen gar begirlich darnach, auch unser oeberster, wann sie wissen, daz ich new Emsers buechlen hab, so lassen sie mir keyne ruwe, ehe ichs geliß, muß ichs hingeben. Desgleichen auch die Carmeliten hie seint seer begirig darnach und allerley orden, besunder sant Benedict ym junckfrawenkloster haben grossen trost davon, auch weltliche priester, aber nicht alleine die geystlichen, sondern auch vil erbare buerger und buergerin ym elichen standt.501

Pirckheimer beschreibt sich als Zentrum eines Netzwerkes, über das altgläubige Flugschriften verschickt werden. Auch in diesem Fall handelt es sich um gezielt ausgewählte Rezipienten. Doch anders als bei Christoph von Schwarzenberg sind

499 Schatzgeyer, Kaspar: Wider Herrn Hansen von Schwarzenbergs Büchlein von der Kirchendiener und geistlichen Personen Ehe. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 416–428, hier S. 416. 500 Vgl. Barker, Paula S. Datsko: Caritas Pirckheimer. A Female Humanist Confronts the Reformation. In: SCJ 26 (1995). S. 259–272; Ebneth, Bernhard: „Pirkheimer, Caritas“. In: NDB 20 (2001). S. 474 f. 501 Pfanner, Josef: Briefe von, an und über Caritas Pirckheimer aus den Jahren 1498–1530. Landshut 1966 (Caritas Pirckheimer Quellensammlung 3). S. 123.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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Lutherische im Verbreitungssystem gar nicht vorgesehen. Der Großteil der Empfängerinnen und Empfänger stammt aus dem Klerus, insbesondere dem Regularklerus. Doch auch Laien sind Endpunkte der Textverbreitung. Die Rezipienten werden in der Beschreibung als offen und begierig dargestellt, die neuen Schriften Emsers zu lesen. Wenngleich im Zusammenhang des Briefs auch damit zu rechnen ist, dass Pirckheimer eine für den Dresdner Hofkaplan erfreuliche Wirkung seiner Schriften demonstrieren möchte, offenbart sich doch ein gefestigter Empfängerkreis, wobei auch der frühe Zeitpunkt der Quelle (1522) beachtet werden muss. Zwei oder drei Jahre später wäre die altgläubige Rezipientengruppe in Nürnberg wahrscheinlich deutlich kleiner gewesen. Allgemein sind in die Texte einerseits die Erwartungen der potenziellen Leser eingeschrieben, andererseits vertieft die wiederhole Rezeption spezifischer Textinhalte auch Deutungsgemeinschaften.502 Das zeigt sich, in stilisierter Form, in Pirckheimers Beschreibung des Jubels über Emsers Schriften in den Klöstern sowie im Hinweis auf den Trost, den diese den Geistlichen und den Bürgerinnen und Bürgern spendeten. Emsers Schriften treffen bei den Lesern und Hörern also auf vergleichsweise feste Deutungsmuster und Wissensordnungen und sind mit diesen derart synchron, dass sie bei der Rezeption zumindest laut Pirckheimers Brief stark affektive Reaktionen hervorrufen.503 Doch nicht nur die inhaltliche Rezeption der Texte produziert und spiegelt Unterschiede. Auch das Artefakt selbst wird in seiner Materialität zu einem Unterscheidungsmerkmal.

1.3.3 Flugschriften als distinktive Artefakte Texte sind materiale Gegenstände, die ihre konkrete Bedeutung in der praktischen Rezeption erhalten. Darüber hinaus sind sie Faktoren der sozialen Interaktion, wie Roger Chartier festgehalten hat: „La lecture n’est pas seulement une opération abstraite d’intellection: elle est mise en jeu du corps, inscription dans un espace, rapport à soi ou à l’autre.“504 Flugschriften als Artefakte des Unterschieds rufen in der frühen Reformationszeit körperliche Gesten wie die von Christoph von Schwarzenberg hervor, als er das Luther-Büchlein seiner Tochter von sich wirft.

502 Vgl. Chartier, Représentation (wie Anm. 88), S. 1516. 503 Laut Bremer lässt die Stilform der disputatio und der confutatio, die bei den Altgläubigen dominieren, auf deren Publikum schließen, nämlich Gebildete und Kleriker. Luther hingegen richte sich an ein breites und unterhaltungswilliges Publikum. Der Grund für die vielen lateinischen Schriften sei, dass diese den Altgläubigen leichter fielen. Bremer glaubt, es sei den altgläubigen Autoren weniger um Überzeugung der „Anderen“ gegangen, als vielmehr um die Ausarbeitung eigener theologischer Position und um Abgrenzung. Polemische religiöse Texte richten sich demnach im Alten Reich zuerst an die eigenen Leute. Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 362), S. 38–45, 99 f., 190–211. 504 Chartier, Représentation (wie Anm. 88), S. 1512.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

Ein wichtiges und von den Altgläubigen häufig verwendetes soziales Regulativ zur Überblickung des Flugschriftenmarkts sind Listen mit Buchtiteln oder Autorennamen, über welche die inhaltlichen Ausrichtungen der Schriften antizipiert werden. Diese Listen sollen entsprechende Verhaltensmuster produzieren, Deutungen prägen und soziale bzw. politische Normen in Erinnerung rufen.505 Listen sind ferner Grundlage und Arbeitsinstrument der obrigkeitlichen Zensurpolitik. 1528 werden in Oberund Niederösterreich und der Steiermark Visitationen durchgeführt, v. a. gegen die Täufergemeinden. In diesem Kontext starten die Obrigkeiten auch Initiativen für die altgläubige Predigt. Dafür kommen aus Wien genaue Anweisungen, die an alle Pfarrer und Vikare in den genannten Gebieten geschickt werden sollen, um sie von der Initiative in Kenntnis zu setzen. Die Visitation steht unter dem nicht nur intellektuellen Einfluss von Johann Fabri, an den strittige theologische Aussagen weitergeleitet werden sollen.506 Fabri ist ab 1517 Generalvikar in Konstanz, von wo aus er sich gegen die Reformation Zwinglis einsetzt. 1524 wird er Koadjutor von Wiener-Neustadt und 1530 Bischof von Wien. Auch politisch ist Fabri als Rat König Ferdinands seit 1523 aktiv.507 Zusammen mit den Richtlinien werden 1528 Listen mit verbotenen und erlaubten Büchern verschickt, bei deren Erstellung Fabri involviert gewesen sein dürfte.508 Auf der Verbotsliste stehen der Reihe nach Martin Luther, Andreas Karlstadt, Huldrych Zwingli, Johannes Oekolampad, Franz Lambert, Otto Brunfels, Johannes Bugenhagen, Konrad Pelikan, Johannes Brenz, Wolfgang Capito, Philipp Melanchthon, Martin Bucer, Urbanus Rhegius, Johann Heß, Balthasar Hubmaier, Andreas Osiander, Justus Jonas, Johannes Zinck (gemeint Johannes Zwick?)509, die Werke unter dem Pseudo-

505 1524 etwa kommt Paul Bachmann in seiner Flugschrift Zu Errettung der schwachen Ordenspersonen namentlich auf 32 Personen und Gruppen in Europa, die wie er gegen den Wittenberger geschrieben hätten. 14 davon stammen aus „deutzschen landen“. Aus Frankreich führt Bachmann die Universität Paris und Augustin Justiniani an, den Bischof von Nebbio (Korsika). Bachmann, Zu Errettung (wie Anm. 406), S. 756 f. 506 ABP, OA, Gen. 2107, S. 38–39. 507 Zur Biographie vgl. Immenkötter, Herbert: Johann Fabri (1478–1541). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 90–97; Tüchle, Hermann: „Fabri, Johannes“. In: NDB 4 (1959). S. 728 f. 508 Die Listen führen nicht nur Namen auf, sondern stellen eine Kombination von Autoren und Werken dar, wobei allerdings immer alle opera eines Verfassers verboten oder empfohlen werden. 509 Johannes Zinck (1504/06–1545) war Mediziner, Philosph und Humanist, Professor in Freiburg im Breisgau. Über seine religiösen Ansichten ist nichts bekannt. Johannes Zwick (ca. 1496–1542) war protestantischer Theologe und Liederdichter. Vgl. Tschackert, Paul: Zwick, Johann. In: ADB (1900), S. 533.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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nym Karsthans, Johannes Eberlin, die Akten der evangelischen Berner Disputation und die Werke von Johannes Platner (gemeint Tileman Platner?)510. Die Bücher der explizit zugelassenen zeitgenössischen Theologen sind der Reihe nach Erasmus von Rotterdam, John Fisher, der englische König Heinrich VIII., Johann Fabri, Johannes Eck, Johannes Cochlaeus, Hieronymus Emser, Kaspar Schatzgeyer, Johannes Dietenberger, Johannes Mensing, Thomas Murner, Konrad Treger, Johannes Chamer (?), Johannes Sichard, Johannes Findling, Johannes Böhm (?), Ambrosius Pelargus, Bonifacius Amerbach (?), Jodocus Clichtoveus, Jakob Montanus, Jakob Hogstraten, Johannes Mensing, Melchior Vattlin (Weihbischof von Kontanz), Augustinus Marius (Weihbischof von Basel), Berthold Pürstinger (Bischof von Chiemsee), Jacobus Lapidus (?), Thomas Morus, der spanische Humanist Juan Luis Vives, Friedrich Nausea, Otmar Nachtgall511, Augustin von Alveldt und Catharinus.512 Sowohl bei der evangelischen als auch bei der altgläubigen Seite handelt es sich um Auflistungen, die mutmaßlich nach Fabris Wahrnehmung der jeweiligen Autoren sowie deren sozial-hierarchischer Stellung strukturiert sind. Die Anordnung der evangelischen Liste spiegelt die publizistischen Erfolge wieder.513 Die Liste der erlaubten Bücher wird von Erasmus angeführt, was wohl dessen allgemeiner Anerkennung geschuldet ist, aber auch dem Umstand, dass Fabri Teil des Freundeskreis von Erasmus gewesen ist.514 John Fisher, der Bischof von Rochester und Autor antilutherischer Schriften sowie König Heinrich VIII., dessen Schrift gegen Luther ins Deutsche übertragen wurde,515 folgen in der Liste entsprechend ihrer kirchlichen und weltlichen Ränge. Deren Auflistung dürfte auch als politisches Aushängeschild und Sinnbilder einer europaweiten Allianz gegen Luther gedacht gewesen sein. Dann folgen die produktiven und breit rezipierten altgläubigen Kontroversautoren. Fabri

510 Tileman Platner war Reformator in den stolbergischen Harzlanden und im Stift Quedlinburg. Vgl. Jacobs, Eduard: Platner, Tileman. In: ADB (1888). S. 262–265. 511 Zur Biographie dieses Altgläubigen (1478/80–1537), der vor der evangelischen Bewegung nachfolgend aus Straßburg und Augsburg nach Freiburg im Breisgau ausweicht und 1526 bei der Disputation in Baden teilnimmt, vgl. Albus, Mechthild u. Schwingenstein, Christoph: Luscinus, Othmar. In: NDB 15 (1987). S. 531 f. 512 ABP, OA, Gen. 2107, S. 40 f. 513 Zwischen 1518 und 1525 führt Luther den innerreformatorischen Druckmarkt klar an, gefolgt in weitem Abstand von Karlstadt. Ihnen folgen Rhegius, Melanchthon und Zwingli, der sich in der österreichischen Rangliste von 1528 sicherlich wegen der Ereignisse und Partikularitäten der Schweizer Reformation ab 1524 weiter nach oben schiebt. In den deutschen Druckstatistiken bis 1525 sind unter den meistverkauften Werken noch die von Thomas Müntzer und Ulrich von Hutten aufgeführt, die 1528 fehlen. Sie scheinen sich in dieser altgläubiger Perspektive als Problem nach dem Ritteraufstand und den Bauernkriegen erledigt zu haben. Zu den evangelischen Druckstatistiken vgl. Edwards, Printing, 26. 514 Vgl. Tüchle, Fabri (wie Anm. 508), S. 728. 515 Heinrich VIII.: Schutz und Handhabung der sieben Sakramente wider Martin Luther. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 344–361.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

wird bezeichnenderweise zuerst genannt, was bei der Herkunft der Liste nicht wirklich überrascht. Die nach ihm aufgeführten Kontroverstheologen Eck, Cochlaeus, Emser und Murner sind tatsächlich die am meisten gedruckten und am weitesten rezipierten altgläubigen Verfasser zwischen 1518 und 1539, jedoch nicht in der Reihung ihrer Auflagenzahlen.516 Die Liste spiegelt den klerikal-humanistischen Bildungshintergrund wieder, über den ihr mutmaßlicher Spiritus Rector Fabri verfügt. Das erklärt ferner die Aufnahme des Gelehrten Nachtgall oder des Pariser Theologen Clichtoveus. Anhand eines anderen Beispiels, jenes des Gerold Edlibach, lässt sich die geographische Bedingtheit der Autorenzuordnungen demonstrieren. Der altgläubige Zürcher Ratsherr Edlibach erstellt 1526 in seinen persönlichen Augenzeugenberichten über die Reformation in seiner Heimatstadt gleich zu Anfang zwei getrennt nebeneinanderstehende Autorenlisten.517 Edlibach schreibt, dass 1520 ein neuer Glaube entstanden sei, der die Verbreitung vieler und widersprüchlicher, ja gegeneinander gerichteter Texte zur Folge gehabt habe. Mit zwei systematisierenden Listen versucht er, mehr Klarheit zu schaffen. Die Gruppe der Autoren, die demnach für den alten Glauben schreiben, umfasse Martin Luther  – was umso mehr überrascht, als dass er einleitend den neuen Glauben mit dem lutherischen Glauben identifiziert hat  – sowie Erasmus, Thomas Murner, Johann Heß, Johann Fabri, Johannes Eck, Andreas Karlstadt, Jakob Probst, Philipp Melanchthon und einen nicht näher zu identifizierender Johann Dölcker. Auf der Seite derer, deren Bücher und Personen dem neuen Glauben zuzurechnen seien, nennt Edlibach Huldrych Zwingli, Ulrich von Hutten, Hieronymus Schürpf, Johannes Oekolampad, Balthasar Hubmaier und Leo Jud.518 Edlibachs Listen sind durch ihre offensichtliche Zürcher Prägung ein aufschlussreiches Dokument, das die großen normativen Deutungsvorgaben wie jene Fabris eindrucksvoll relativiert und die vielfältigen sowie teils widersprüchlichen Wahrnehmungen des literarischen Felds offenbart. Edlibach deutet die Flugschriftenkulturen von seiner lokalen Warte aus, aufbauend auf den konkreten religiösen Zerwürfnissen und Ereignissen in seiner Stadt. Die Klassifizierungen sind somit sehr spezifisch.

516 So hatte Cochlaeus die größte Auflagenhöhe, gefolgt von Georg Witzel, der zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht publiziert hat. Zu den altgläubigen Druckstatistiken vgl. Edwards, Printing (wie Anm. 13), S. 36. 517 Edlibach zählte lange zu den einflussreichsten Männern Zürichs und machte rasch Karriere in politischen Ämtern. 1488 wurde er erstmals in den Kleinen Rat gewählt, dem er mit Unterbrechungen bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1524 angehörte. Auch danach blieb Edlibach bis zu seinem Tod im Großen Rat, wo er jedoch von den Sitzungspflichten entbunden war. Zur Biographie vgl. Jezler, Peter: „Da beschachend vil grosser endrungen“. Gerold Edlibachs Aufzeichnungen über die Zürcher Reformation 1520–1526. In: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation. Hrsg. von Peter Jezler u. Hans-Dietrich Altendorfer. Zürich 1984. S. 41–74, hier S. 41 f.; Büsser, Fritz: Edlibach, Gerold. In: NDB 4 (1959). S. 315. Bei den Aufzeichnungen handelt es sich um einen separaten, in sich geschlossenen Text, den Edlibach auf kleineren Papierbögen verfasste und in dem er das religiöse Geschehen in Zürich zwischen 1520 und 1526 festhielt. 518 Jezler, Gerold Edlibachs Aufzeichnungen (wie Anm. 517), S. 45 f.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

 123

Einige der aufgeführten Autoren, allen voran freilich Luther, wären von Fabri oder in anderen Teilen des Alten Reichs, etwa im Herzogtum Sachsen, niemals zur altgläubigen Seite gerechnet worden. Zudem ist Edlibachs altgläubiger Listenteil geographisch breiter gestreut und weniger präzise als der evangelische, da etwa Johannes Cochlaeus und Hieronymus Emser fehlen. Dennoch macht sich die eidgenössische Perspektive bemerkbar. Heß ist Vikar in Appenzell und nicht zu verwechseln mit dem Breslauer Reformator Johannes Heß, der auf der österreichischen Liste aufgeführt ist. Fabri war Teilnehmer der Zürcher Disputation 1523 und Murner lebt seit seiner Flucht aus dem Elsass bis 1529 in Luzern. Der Block der Neugläubigen setzt sich wiederum zu einem größeren Teil aus Evangelischen mit Zürcher Bezug zusammen. Die von Edlibach konkret erfahrene zwinglische Kultur ist für ihn der neue Glaube. Alles, was sich gegen die reformierte Zürcher Theologie und Religionspraxis stellt, wird in dieser Sichtweise zu „Altgläubigem“. Die Klassifizierung von und der soziale Umgang mit Flugschriften erfolgen also auch entsprechend der religiösen Unterschiede vor Ort, welche die Deutungsraster prägen. Die bisherigen Beobachtungen in diesem Abschnitt stammen allesamt aus dem Alten Reich. Dort entstehen altgläubige Textkulturen, die in Sinnzuschreibungen, Form und Rezeptionsarten zwar von Raum zu Raum und von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft verschieden sind, aber doch auch mit einigen bekannten Personen verbunden und in jedem Fall distinktiv in Bezug zur protestantischen Textkultur werden. In Frankreich ist dieser Prozess zur selben Zeit eindeutig langsamer und weniger klar. Das hat einerseits mit den bereits diskutierten statistischen Gründen und den „Verschleierungsstrategien“ der evangelischen Autoren zu tun, deren Schriften zumal auf den ersten Blick meist nicht als klar häretisch auffallen. Die französischen Altgläubigen agieren ihrerseits, wie gesehen, mit ähnlichen Kommunikationsstrategien.519 Doch es gibt sie, die Unterschiede. Ein seltenes Beispiel, in dem wenige Monate nach der Plakataffäre die Rezeptionsarten und deren Folgen auf der Ebene des gemeinen Mannes sichtbar werden, stammt aus Paris im September 1535. Der Bericht ist dem Tagebuch des anonymen Parisers entnommen. Zwei Handwerksgesellen kommen von einer längeren Reise aus dem Alten Reich zurück. Von dort bringen sie lutherische Flugschriften mit, die sie, wie sie später gestehen, in Paris binden lassen und verkaufen wollten. In ihrer Unterkunft bitten sie den Wirt, ein lutherisches Buch zu verstecken. Der Wirt zeigt das Buch dennoch einem Priester, der es ansieht und identifiziert: Es handle sich um ein schlimmes und verdammtes Werk. Der Wirt zeigt die beiden Männer bei den Kriminalbehörden an, welche die Lutherischen festnehmen, durch den lieutenant verhören lassen und sie zum Tod durch lebendiges Verbrennen verurteilen.520

519 Vgl. Kap. I. 1.1. 520 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 179 f.

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 1 Die Flugschrift als historischer Gegenstand

An dieser Darstellung des altgläubigen Chronisten ist bemerkenswert, dass die heterodoxen und schnell identifizierten Schriften aus dem Alten Reich kommen. Wahrscheinlich handelt es sich um lateinische Luthertexte. Die beiden Männer sind sich der Gefahr bewusst, die eine öffentliche Verbreitung für sie haben könnte und letztlich auch hat. Der Priester verfügt über so viel Wissen um die distinktiven Textkulturen oder zumindest um die verbotenen Drucke, dass ihm die entsprechende Deutung gelingt. Aber solche Anwendungsmöglichkeiten für das kulturelle Wissen sind wegen der Zensur im Vergleich etwa zu deutschen Reichsstäten rar und somit die konkrete und sozial effiziente Distinktion über Schriftartefakte eher selten. In Frankreich wird die Zensur zentral von der Theologischen Fakultät Paris vorgenommen. Neben dieser beträchtlichen strukturellen Differenz zum Alten Reich weist im Königreich die Zensurliste auch andere Namen – etwa Erasmus von Rotterdam, den der Wiener Humanist Fabri als Lektüreempfehlung weit verbreitet sehen wollte. Während den deutschen Altgläubigen Erasmus spätestens nach seiner Schrift gegen Luther De libero arbitrio diatribe (1524) als einer der ihren gilt, sehen ihn die französischen Orthodoxen auf einer Seite mit Luther. Die Theologische Fakultät Paris gibt ab den 1540er-Jahren Listen mit zensierter Literatur heraus. Am 2. März 1543 leitet sie eine Aufstellung aller seit April 1542 zensierten Bücher an den königlichen procureur weiter. 65 Titel finden sich auf dieser Liste von Autoren wie Johannes Calvin, Clément Marot, Johannes Brenz, Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, Johannes Oekolampad, Heinrich Bullinger, Martin Bucer, Étienne Dolet, Huldrych Zwingli, Philipp Melanchthon und François Rabelais. Die Fakultät ergänzt den Katalog in den Folgemonaten und kommt zu dem Schluss, dass er als Handreichung für die Justiz gedruckt werden sollte. Dies geschieht nach der letzten Beratung über die Liste, zu der noch viele der vor 1542 zensierten Schriften hinzugefügt werden, am 12. August 1544. Ein Jahr später wird der Katalog der verbotenen Bücher erneut gedruckt, zusammen mit den Glaubensartikeln der Fakultät von 1543. Diesmal zeichnet jedoch das Parlament von Paris verantwortlich für die Edition, was deren legislative Wirkkraft deutlich erhöht.521 *** Es gibt in der frühen Reformationszeit recht feste, wenngleich auch nur vereinzelt und sehr spezifisch nachweisbare und durch das Verschicken bzw. die Verbreitungswege verbundene altgläubige Rezeptionsgruppen für Flugschriften. Diese normieren weniger von oben und haben keine dem Text immanente und unveränderliche Bedeutung. Vielmehr ist es charakteristisch für die hier untersuchten Ausschnitte

521 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 213–216. Zum Verhältnis Luthers mit Erasmus vgl. Bietenholz, Peter G.: Erasmus, Luther und die Stillen im Lande. In: BHR 47 (1985). S. 27–46. Zu Melanchthons Frankreichbezug vgl. Scheible, Ökumenischer Einsatz (wie Anm. 343), S. 173–188.



1.3 Altgläubige Textkulturen 

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aus der altgläubigen Textkultur, dass die Verfasser bei den Zielgruppen bereits vorhandene kulturelle Sinnmuster, Wissensordnungen und praktische Inhalte in die Texte einbauen und diese somit bei den potenziellen Hörern, Lesern und Betrachtern reproduzieren, vertiefen und an neue Ereignisse anpassen. Daraus folgt auch, dass die Flugschriften eher an das eigene Lager gerichtet sind. Dazu müssen die Autoren sprachlich und inhaltlich so allgemeinverständlich schreiben, dass der Inhalt auch in anderen Dialekt- und Kulturregionen mit ihren wiederum spezifischen Distinktionsmerkmalen und Kontexten von den dortigen Altgläubigen verstanden wird. Daraus wird sich bei der inhaltlichen Analyse der Flugschriften die Frage nach der Argumentationshöhe und der Allgemeinheit bzw. der lokalen Fallbezogenheit der repräsentierten Deutungen und Rituale ergeben. Schließlich hat sich gezeigt, dass in der Praxis der antilutherischen Textkultur der Umgang mit evangelischen Schriften durchaus nichts Ungewöhnliches ist: Auf sie wird direkt geantwortet, die Flugschriften entstehen in Interaktion und abgrenzendem Bezug zu jenen der Gegenseite. So werden Schriftstücke auch in ihrer Materialität zu distinktiven Artefakten, deren Besitz, Vorzeigen oder Lektüre spezifische Glaubenshaltungen ausdrückt. Deshalb reagieren die altgläubigen Obrigkeiten mit Verboten, Kontrollen, Verbrennungen und Bußprozessionen auf die Präsenz protestantischer Textartefakte, die es aus der Stadt oder dem Territorium auszumerzen gilt.522 Die Deutungs- und Rezeptionsgemeinschaften der Flugschriften brauchen allerdings auch Bezeichnungen, um in den Texten kategorisiert werden zu können. Die Frage, wie die eigene Gruppe genannt werden soll und wie die der Anderen, bewegt die Autoren ebenso wie ihre Leser und Hörer.

522 Vgl. auch Hille, Providentia (wie Anm. 45), S. 18–21.

2 Die Benennung der Unterschiede Ich konzentriere mich in diesem Kapitel auf die begrifflichen Repräsentationen des Eigenen und des Anderen in der altgläubigen Flugschriftenliteratur. Die Bezeichnungen spiegeln, wie sich zeigen wird, vielfach die wahrgenommenen sozialen Differenzierungen und Bruchlinien zwischen den Religionsgemeinschaften wider. Womöglich hat dabei die historiographische Blässe jener Gruppen, die keine mittelalterlichen Christen mehr sind, aber auch noch keine konfessionalisierten Katholiken, mit der lange mangelhaften begriffsgeschichtlichen Forschung bzw. mit taxonomischen Anachronismen zu tun. Die Begriffsfrage ist also nicht geklärt, wenngleich Bent Jörgensen mit seiner jüngst erschienen Studie zur Terminologie auf den Reichstagen bedeutende Ansätze zu einem besseren Verständnis der Begriffsbildung geliefert hat. Zwar zieht der Autor auch einige Flugschriften in seine Analysen mit ein, doch verfährt er dabei nur stichprobenartig.523 Distinktive Gruppenbezeichnungen sind in der Reformationszeit immer auch Bestandteil der Repräsentationskämpfe und der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über die aktuellen Geschehnisse. Aber es gibt einen Unterschied zwischen wiederkehrenden Taxonomien wie „Lutherische“ oder „Evangelische“ und polemischen Sprachbildern wie „Vorläufer des Antichristen“. In der Folge geht es um erstere Bezeichnungen. Ich beginne mit dem altgläubigen Blick auf protestantische Selbstbezeichnungen und altgläubige Begriffe für die Anderen, um dann in einem zweiten Schritt auf die begrifflichen Fassungen des Eigenen auf altgläubiger Seite einzugehen.

2.1 Begriffe für die Anderen Wie Johannes Burkhardt zu Recht unterstrichen hat, waren die Begriffe für das protestantische Lager während der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts einem stetigen Wandel, ja nachgerade einer völligen Umkehr in Wort und Bedeutung unterworfen. Die Reformation als eine Entwicklung hin zu etwas Neuem, Verändertem und in die

523 Jörgensen, Selbst- und Fremdbezeichnungen (wie Anm. 45). Vgl. ferner Parish, Helen: New Perspectives on the Reformation. In: Journal of Religious History (JRH) 32 (2008). S. 96–108, hier S. 108. Während die Debatten um die begriffliche Fassung „katholischen“ Handelns im Reformationszeitalter („katholische Reformation“, „Reform und Gegenreformation“, „Konfessionalisierung“…) seit dem 19. Jahrhundert intensiv geführt werden, so fand doch selten eine Auseinandersetzung um die Bezeichnung der entsprechenden sozial-religiösen Gruppen- und Zugehörigkeitskategorien statt. Vgl. O’Malley, Renaming Catholicism (wie Anm. 35), S. 16–117. Als eine der wenigen Ausnahmen kann eine fast 100 Jahre alte, allerdings doch eher die reformatorische Perspektive der Zeitgenossen nachvollziehende Monographie gelten von Lepp, Friedrich: Schlagwörter der Reformationszeit. Leipzig 1908 (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 8). V. a. S. 17–91. DOI 10.1515/9783110492460-004



2.1 Begriffe für die Anderen 

 127

Zukunft Weisendem ist eine Konstruktion des 18. und des 19. Jahrhunderts. Die Rede von „Alt- und Neugläubigen“ im herkömmlichen, unreflektierten Sinne ist ein Anachronismus. Denn Martin Luther sieht sich und seine Bewegung tatsächlich als die Verteidiger des alten Glaubens, d. h. als die, die zum Evangelium und der ursprünglichen Form des Christentums zurückkehren wollen. Die „Papisten“ wiederum sehen die Protestanten als jene, die an den menschlichen Erfindungen, Zusätzen, Neuerungen und Verfälschungen, die sich über die Jahrhunderte ergeben haben, festhalten. Alt und Neu werden im Reformationszeitalter zu umstrittenen Kampfbegriffen, die sich die verschiedenen Religionsgemeinschaften aneignen oder dem Gegner anheften.524 In den volkssprachlichen Flugschriften, die ab 1520 erscheinen, rezipieren und refutieren die Luthergegner die sich zeitgleich herauskristallisierenden evangelischen Selbstbezeichnungen.525 Bis zur Formierung der evangelischen Bewegung im Alten Reich sowie der reichsrechtlichen Verurteilung Luthers scheinen auf altgläubiger Seite das Bedürfnis gering, im Deutschen explizite Begriffe für das sich nur schemenhaft abzeichnende andere Lager zu entwickeln.526 In der Flugschriftenpole-

524 Jörgensen, Selbst- und Fremdbezeichnungen (wie Anm. 45), u. a. S. 73f, 88–92. Ferner Burkhardt, Johannes: Alt und Neu. Ursprung und Überwindung der Asymmetrie in der reformatorischen Erinnerungskultur und Konfessionsgeschichte. In: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002. Hrsg. von Peter Burschel [u. a.]. Berlin 2002. S. 152–171. 525 Auf Latein beginnt im Alten Reich um 1519 die Konstruktion von Begriffen für das Andere. Da die Differenzen schwach und begrenzt sind, sind neue Bezeichnungen stark an präzise Personen, geographische Faktoren und Vorfälle geknüpft, etwa im Umfeld der Leipziger Disputation 1519. In einem Brief an Freunde in Ingolstadt identifiziert Johannes Eck das gegnerische Lager in Leipzig gleich mehrmals über diejenigen, die aus Wittenberg kommen und Karlstadt bzw. Luther unterstützen als „Wittenbergenses“. Zudem benennt er die Freunde und Anhänger des Augustinerprofessors: „Plurimi sunt Lutterani“. Eck, Johannes: Brief an Georg Hauer und Franz Burkhart, 1. Juli 1519. Unter: Johannes Eck, vorläufige Internet-Edition der Briefwechsel. Hrsg. von Vinzenz Pfnür, http://ivv7srv15. uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/Eckbriefe/N087.html (28.04.2014). So äußert sich Eck auch im Brief an Hochstraten vom 25. Juli 1519. Vgl. Eck, Johannes: Brief an Jakob Hochstraten, 24. Juli 1519. In: Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521). Bd. 2, Vom Augsburger Reichstag 1518 bis zum Wormser Edikt 1521. Hrsg. von Peter Fabisch u. Erwin Iserloh. Münster 1991 (Corpus Catholicorum 42). S. 258–265, hier S. 262, 264. 526 Thomas Murner klagt 1520, in seiner Gegenschrift zu Lazarus Spenglers Apologie „Schützred“ über die angeblichen Beschimpfungen, die die Lutherfreunde ihren Gegnern anhängen würden. Hinter den Worten, mit denen Spengler die Luthergegner in ein schlechtes Licht rücken wolle, verbirgt sich für den Straßburger Franziskaner ein Weltbild der Gegenseite, nach dem „ir allein seint die ewangelischen lerer, liebhaber der warheit, nachvolger Christi, allein uwere wörter seint glat ballieret, und aller andrer ruch und rostigk.“ Murner will den Reformatoren diese Selbstbegriffe nicht zugestehen, denn wer sich näher mit ihrer evangelischen Sache auseinandersetzt, wolle mit ihnen schnell nichts mehr zu tun haben. Dennoch rät Murner, man solle zu den aktuellen Streitfragen alle reden lassen, damit im baldigen Konzil die verständigen Männer aus Rede und Gegenrede die Wahrheit erkennen können. Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 163 f.

128 

 2 Die Benennung der Unterschiede

mik besteht dieses v. a. aus Luther und dessen theologischen Verfechtern.527 Einen eigenen Begriff sucht man auch im Wormser Edikt, das Karl V. am 26. Mai 1521 unterzeichnet, vergeblich. Dort ist nur die Rede von „etliche[n] ketzereyen“, „jrrungen und ketzereyen“ und natürlich viel von der Person Luthers. Zudem werden Bestimmungen „gegen seinen mitverwandten, anhengern, enthaltern, fürschiebern, gönnern und nachvolgern“ erlassen.528 Binnen weniger Jahre kristallisiert sich in der volkssprachlichen FlugschriftenTextkultur jedoch ein neuer, präziser und mehr oder weniger einheitlich gedeuteter, jedoch überraschend flexibel einsetzbarer Begriff für die Gegenseite heraus: die Lutherischen. In der von Johannes Cochlaeus im März 1523 verfassten, von Johannes Dietenberger übersetzten529 und 1524 publizierten Ansprache der Stadt Rom an ihre Tochter Deutschland steht gleich zu Beginn eine Mahnung: Die Tochter solle gut zuhören, so dass sie das Gesetz der Mutter vielleicht doch nicht verlasse, „wo du [Deutschland, M. M.] würdst fürter an lenger anhengig sein den sündern mit namen die Lutherischen genant, welche dich mit schedlicher und neüwer freyheit listiglich verfüren unnd betriegen.“530 Die Anderen sind also über die Person Luthers zu ihrem Namen gekommen, der sie in der sozialen wie diskursiven Gegnerstellung zu den altgläubigen Autoren greifbar macht. „Lutherisch“ wird zudem zum negativ konnotierten und in fast allen Flugschriften vorkommenden Adjektiv für alles, was im positiven Bezug steht zu Religion und Gesellschaftsvorstellungen der Reformatoren, deren Handlungen, Haltungen oder theologischen Äußerungen. So spricht Cochlaeus in der Vermahnung von „lutherischer ketzerey und zwitracht“ in Deutschland.531 Johannes Eck erklärt im Vorwort zu einer gedruckten Predigt vom November 1522, seine Gegner streiten nicht nach dem Evangelium Christi, sondern nach dem lutherischen Evangelium.532 Matthias Slegel beschreibt als wahrscheinlich selbst Geschädigter die Zerstörungen und das Blutvergießen im Zuge des Ritterkriegs von 1522/23 als das Werk der „falschen luterischen katzen […], alle vergifft von dem luterischen kather“. Mit diesem ist niemand anders als Luther selbst gemeint. Dessen Anhänger seien entlaufene Mönche und Pfarrer, die nun glaubten, das wahre Evangelium zu

527 Johannes Eck führt seine antilutherische Flugschrift über das Konzil von Konstanz und Jan Hus mit der Bemerkung ein, es habe sich zuletzt „vil außschreibens begeben durch bruder Martin Luder von Wittenberg und sein anhang“. Vgl. Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 3. Auf gleiche Art äußert sich, im November 1520, Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), u. a. S. 142, 157. 528 Das Wormser Edikt (wie Anm. 525), S. 512, 532, 536. 529 Vgl. zu dieser Kooperation Laube, Gespann (wie Anm. 402). 530 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 615. 531 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 614. 532 Eck, Johannes: Ein predig zu Minchen ge//than in vnnser Frawen Kirch//en am sonntag vor Martini. [Ingolstadt 1522]. Bl. A1v.



2.1 Begriffe für die Anderen 

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besitzen.533 Mitunter wird in den Flugschriften synonym für Lutherische auch Martinische verwendet.534 Luther wird zum Namensgeber „seiner“ Bewegung, und das besonders dauerhaft in Nord-, Mittel- und Nordwestdeutschland. Wittenberg ist dort nah, die Reformation sowie die evangelischen Kulturen und Praktiken sind lutherisch beeinflusst. Besonders Flugschriften aus mitteldeutschem Kontext, v. a. aus dem Herzogtum Sachsen, repräsentieren früh eine klare Trennung der Religionsgemeinschaften. Luther bleibt in der Regel die begriffsgebende Figur, zumal wenn sich die Polemiken auf einen lokalen Kontext beziehen. Das verdeutlicht ein Pamphlet von Augustin von Alveldt aus dem Jahr 1524. Der Text ist Teil der Kontroverse um die Heiligenerhebung Bennos von Meißen, die von Herzog Georg von Sachsen vorangetrieben wird.535 In der Schrift gegen Luthers Angriff auf die Einrichtung des neuen Kults durch die Altgläubigen stellt Alveldt zwei Kirchen gegenüber. Auf der einen Seite die wahre, christliche, erprobte Kirche und auf der anderen Seite „Luthers kirchenn“.536 Der Zisterzienserabt Bachmann aus dem sächsischen Altzelle hält 1527 anlässlich des dritten Jahrestags der Kanonisierung Bennos von Meißen eine Predigt über das Evangelium und den Heiligenkult. Für die Auslegung der Heiligen Schrift seien die Väter und Kirchenlehrer zu Unrecht „von den luterischen“ verworfen worden. Zudem verachten und verspotten sie die Heiligenverehrung und dabei besonders den Reliquienkult.537

533 Das Prädikat „Evangelische“ will schon Slegel den Anderen nicht überlassen und spricht korrigierend von „falsch gesanten ewanngelisten“. Deren Kinder seien der blutdürstige, ungehorsame Adel, der Slegels Heimatstadt Trier während der Sickingen-Fehde belagert hat. Vgl. Slegel, Matthias: Was Nutzen entspringt von den falschen lutherischen Katzen als Franz von Sickingen und seinem teuflischen Bündnis, die das Evangelium mit Rauben, Morden, Brennen verfechten wollen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 385–388, hier S. 385. 534 Beispielsweise bei Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 651; Oberwalt, Hans von: Wie die Untertanen ihrer Obrigkeit in Haltung der Zeremonien sollen gehorsam sein. Und von guten Werken. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1225–1236, hier S. 1225–1227, 1236. 535 Zum historischen Zusammenhang vgl. Volkmar, Christoph: Die Heiligenerhebung Bennos von Meißen (1523/24). Spätmittelalterliche Frömmigkeit, landesherrliche Kirchenpolitik und reformatorische Kritik im albertinischen Sachsen in der frühen Reformationszeit. Münster 2002 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 146). Zum altgläubigen Unterschied in Bezug auf Heiligenpraktiken vgl. Kap. I., 4.3 sowie Kap. II, 4.1. 536 Alveldt, Augustin von: Wyder den Wittenbergischen Abgot Martin Luther (1524). Erklärung des Salve Regina (1527). Hrsg. von Käthe Büschgens u. Leonhard Lemmens. Münster 1926 (Corpus Catholicorum 11). S. 27. Zur näheren Beschreibung der neuen „andern kirchen und samlung“ und deren Verortung in der Tradition der Ketzergruppierungen der Kirchengeschichte vgl. 31–47. 537 Gott werde diese Lästereien hart strafen. Einstweilen solle die weltliche Obrigkeit zum Schwert gegen die Ketzer greifen. Der gemeine Mann müsse sich hingegen bei seiner Devotion nicht durch die Lästerungen gestört fühlen. Bachmann, Paul: Ein Sermon des Abts zu Altzelle in Aufnehmung

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 2 Die Benennung der Unterschiede

Neben Lutherische entwickelt sich im Reich die Variante Lutheraner zu einer Gruppenbezeichnung für die Anderen.538 In den im März 1529 gedruckten zwei Predigten von Johannes Koss, dem Prädikanten von St. Nikolai in Leipzig, kommen sogar synonym die Denominationen „luteraner“, „lutteranen“ und „lutterische“ vor.539 1536 hat Georg Witzel für das Gesamtphänomen einen plakativen Begriff: „Luderthum“540. Lutherische ist in verschiedenen Situationen auf diverse Bezugsgruppen anwendbar. Zwar sind oft diejenigen gemeint, die Luthers Lehre predigen oder aktiv verbreiten, also etwa evangelische Theologen, Autoren, Geistliche oder Ratsmitglieder.541 Aber auch die einfachen Anhänger, Institutionen oder Akteure der „ketzerischen“ Religionskultur können mit diesem Begriff benannt werden. „Lutherische“ bezeichnet, zumal mit fortschreitender Zeit, sowohl Adelige, Priester und Obrigkeiten als auch Bauern und Handwerker.542

der Reliquien St. Bennos. In: Eine Erklärung der evangelischen Kirchen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 464–483, hier S. 464, 473–475. 538 Der Begriff wird verwendet z. B. in der Schrift von Mensing, Johannes: Bescheid, ob der Glaube allein ohne alle guten Werke genug sei zur Seligkeit. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525– 1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 758–796. 539 Koss, Johannes: Zwei Sermone von der Rechtfertigung des Sünders. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 971–988. 540 Es geht ihm an dieser Stelle besonders um die Beichtpraxis und den Schwenk, den Wittenberg in der Beichtfrage durchgeführt habe und nun im Luthertum – im Sinne der praktischen und distinktiven Kultur – durchgeführt sehen möchte. Witzel, Georg: VOn der Puß: Beicht: vnnd // Bann/ tzwey büchlin auß // grund der schrifft. Freiburg im Breisgau: Johannes Faber aus Emmich 1536. Bl. C1v. 541 Obwohl altgläubige Flugschriften an die Gegenseite adressiert sind und diese somit auch kenntlich machen, werden sie in der Breite v. a. im eigenen Lager rezipiert. Zu den distinktiven Textkulturen und deren Funktionieren vgl. Kap. I. 1.3. 542 So warnt Petrus Sylvius im Sommer 1525, dass Obrigkeiten mit lutherischen Untertanen nicht hoffen dürften, noch lange herrschen zu können. Das gelte noch viel mehr, wenn das ganze Volk lutherisch werde. Denn der lutherische Geist vertrage keine Obrigkeit. Sylvius, Petrus: Ein Missive an die christliche Versammlung und sonderlich an die Obrigkeit deutscher Nation. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 149–167, hier S. 161. Derselbe Autor spricht im Juni 1527 mit Blick auf die aufständischen Bauern von „lutherischen pawrn“, die von Luther und dessen Lehre gereizt worden seien. Sylvius, Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), S. 435. Lutherisch lässt sich adjektivisch auf alles anwenden, zumal für Autoren aus dem Herzogtum Sachsen wie Johannes Cochlaeus in Sieben Köpfe Martin Luthers vom Sakrament (1529). Darin verweist der Autor auf die Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit verschiedener Äußerungen des Wittenbergers in den Bereichen der Abendmahlstheologie sowie der Mess- und Kommunionspraxis. Niemand sei mit Luthers Lehre bisher gut gefahren. Am Ende heißt es warnend: „Inn lutherischen stedten ist teglich unnd manigfeltige zwitracht, im gemeynen lutherischen volck alle zucht und andacht erloschen, dazu wirt schir yderman arm und weys nicht wie, und entstehen viel selzamer fahrlicher und heimlicher practicken, land und lewte in schaden und yamer zu füren, welchs alles vor Luthers schreyben ungedacht unnd unerhört was.“ Cochlaeus, Johannes: Sieben Köpfe Martin Luthers vom hochwürdigen Sakrament des Altars. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 989–1021, hier S. 1013 f.



2.1 Begriffe für die Anderen 

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Die Sprachwelt der Altgläubigen fällt in Oberdeutschland und der Eidgenossenschaft diesbezüglich differenzierter aus, allerdings erst ab dem innerprotestantischen Abendmahlsstreit. Die gängige begriffliche Neuordnung überträgt Johannes Eck in den Sendbriefen an die Eidgenossenschaft von 1524 auch auf die Zürcher Reformation. In der Eidgenossenschaft seien längst verurteilte Ketzereien durch Luther und Zwingli erweckt worden, schreibt er. Zwingli firmiert dabei als Lutherischer, denn seine wütenden Schriften seien „der Lutheraner art.“543 Zwei Jahre später haben sich die Kategorisierungen jedoch verschoben. 1526, nach der Badener Disputation, publiziert Johann Fabri die Christliche Beweisung mit seinen sechs ausformulierten Glaubensartikeln. Darin beschreibt er die Genealogie der Reformation. Zuerst sei Luther gewesen, der wahre Vorläufer des Antichristen. Der Wittenberger habe mit Zwingli einen Gesellen in Zürich bekommen, der anschließend mit seiner Gruppe eigenständig geworden sei. Doch auch diese sei von der für Ketzer typischen Zersplitterung nicht verschont geblieben. Wie bei Luther „syen auß zwinglischer sect unerhört wunderbarlich secten“ entstanden, darunter die „wiedertäuffer“. Zwinglis Lehre und zwinglische Sekte sind in dieser Flugschrift wiederkehrende und klare Begriffe für die Gegenseite.544 Auch die Bezeichnung „Wiedertäufer“ etabliert sich bei den Altgläubigen für die entsprechende religiöse Gruppe. Bis etwa 1530 findet der Begriff Zwinglische auch in mitteldeutschen Flugschriften Eingang und repräsentiert eine doppelte Differenz: die Anderen gegenüber dem altgläubigen Eigenen und eine spezifische Teilgruppe der zerstrittenen Gegenseite. Letzteres wird in der Anfang 1530 gedruckten Attacke von Johannes Cochlaeus auf das Marburger Religionsgespräch vom Vorjahr deutlich. In Marburg hatten sich im Oktober 1529 Luther, Zwingli und weitere Reformatoren getroffen, um nach einer theologischen Verständigung zu suchen. Diese scheiterte am Ende trotz mancher Annäherung an der Abendmahlslehre. Dies bietet für altgläubige Autoren reichlich Angriffsfläche. Cochlaeus schreibt in der Schlussrede nach seiner Punkt für Punkt vorgenommenen Refutation der 15 Marburger Artikel eine Warnung an den gemeinen Mann, sich nicht von der angeblichen evangelischen Einigung täuschen zu lassen. Die Differenzen sind für Cochlaeus offenkundig: Denn die lutherischen halten noch mess, haben noch altaria, meszgewand, bilde, clöster und kirchen, und glauben, das im hochwirdigen sacrament der ware leib und das ware blut Christi sey. Aber die zwinglischen halten gar kein mess, brechen ab die altar, tragen die meszgwant auff den krempelmargkt, zerstören die clöster, brechen und verbrennen die bilde der heyligen und

543 Eck, Johannes: Ein sendbrieve ann eine fromme Eid=//gnoßschaft von doctor // Johann Eckenn die Lute//rey betreffend. // Ablainung etlicher sch//mach d. Ecken von M. // Ulrichen Zwingli zu// gemessen. [Ingolstadt: Lutz] 1524. Bl. A2v, A4v. 544 Fabri, Johann: Christliche Beweisung über sechs Artikel des unchristlichen Ulrich Zwingli. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 265– 283, hier S. 266–268.

132 

 2 Die Benennung der Unterschiede

sagen, im sacrament sey wesenlich nichts denn brot und wein, und sein also der sachen noch weyt uneins.545

Man wird Johannes Cochlaeus an dieser Stelle keine Sympathie für die lutherische Religionskultur unterstellen. Jedoch ist für ihn die zwinglische Praxis eine deutliche Verschlimmerung im Vergleich zu jener der Wittenberger. Die Bezeichnungen indes sind für beide Gemeinschaften klar und eindeutig. Sie brauchen keine weiteren Erklärungen. Eher selten selten und meist in spezifischen Fällen mit Bezug zur evangelischen Binnendifferenzierung verwenden altgläubige Autoren eigene Bezeichnungen für weitere Richtungen oder Gruppen („secten“) innerhalb des Protestantismus. Johannes Eck kommt darauf in seiner Schrift gegen Ambrosius Blarer nach dem Nichtzustandekommen ihrer Disputation in Konstanz 1526 zu sprechen. Anders als Blarer hält Eck die Präsenz und die Entscheidungsgewalt von gelehrten Richtern bei Disputationen für unabdingbar.546 Und das hat seinen Grund: Der münch [Blarer, M. M.] ratt entlich dar zu, man müeß das wort Gottes für und für würcken lassen „und ainem yeden für sich selb sein urteil freylassen“. Ist das nit ein hübscher göckel schwanntz? So wolten wir wol hundert glauben in einem jar überkummen, yetlichs dorff würd ain besunders glauben […], wie man so in kurtzer zeyt erfarn hat. Do sindt Lutterisch, Carlstadisch, Schwirmgeyst, Bildsturmer, Zwinglisch, Widertoufer etc., ich geschweig der klein seckten.547

545 Cochlaeus, Erklärung der strittigen Artikel (wie Anm. 470), S. 1134. 546 Es sind in der Eidgenossenschaft zu einem nicht unerheblichen Teil auch die Disputationen der 1520er- und 1530er-Jahre, die die religiöse Differenz entwickeln und in nicht nur theologischen und personalen Konfigurationen deutlich werden lassen. Durch göttliche Eingebung soll dabei die Wahrheit weniger gefunden als neu empfangen werden. Tatsächlich ist die Entscheidung für die zwinglische Kulturaktualisierung schon oft gefallen und die Disputationen haben die Funktion, die Entscheidung zu legitimieren, für diese zu werben und ein Ort der Verdeutlichung der Unterschiede zwischen zwei überspitzt klaren Lagern zu sein. Die Thesen, die die jeweiligen Seiten bei den Disputationen schriftlich verbreiten, zeigen besonders bei den Schweizerischen Reformatoren einen allgemeinen Rekurs auf Zwinglis 67 Thesen vom Januar 1523. Die Aufnahme dieser Theologie in die weiteren evangelischen Disputationen in der Schweiz verdeutlicht nicht nur die Abgrenzung zu den Altgläubigen, sondern auch zu den Lutherischen. Flückiger, Fabrice: Dire le vrai. L’expérience de la différence religieuse dans les disputes de l’Ancienne Confédération (1523–1536). In: L’expérience de la différence religieuse dans l’Europe moderne (XVIe–XVIIIe siècles). Hrsg. von Bertrand Forclaz. Neuchâtel 2013. S. 67–88. Ferner Flückiger, Fabrice: La dispute d’Ilanz en 1526. Enjeux et pratiques de la controverse religieuse au début du XVIe siècle. In: Les affrontements religieux en Europe. Du début du XVIe siècle au milieu du XVIIe siècle. Hrsg. von Véronique Castagnet [u. a.]. Villeneuve-d’Ascq 2008 (Histoire et civilisations). S. 179–191. 547 Eck, Johannes: Anntwurt uff das ketzerisch büchlin Ambrosi Blarers, des abtrinnigen münchs, den selbigen handel belangend. In: Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, den Bürgermeister und Rat von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Hrsg. von Karl Meisen. Münster 1929 (Corpus Catholicorum 14). S. 43–52, hier S. 47 f.



2.1 Begriffe für die Anderen 

 133

Ohne verbindliche Lehr- und Entscheidungsinstanzen, die für Eck nur in der römischen Kirchenstruktur liegen können, entstehe die heillose Differenzierung, die der Ingolstädter Theologe bei den Anderen wahrnimmt. Die Begriffe werden entweder von namhaften Reformatoren abgeleitet, die spezifische theologische und kulturelle Tendenzen verkörpern, oder von Praktiken wie der Wiedertaufe, welche die betreffenden Gemeinschaften unterscheiden.548 Zudem greift Eck Begriffe aus der lutherischen Textkultur auf und verwendet die Bezeichnung „Schwärmer“, mit der Luther innerreformatorische Abweichungen belegt hat. 1535 schreibt Michael Hillebrandt über die laut ihm beginnenden letzten Tage, in denen gemäß der Voraussage von Paulus verführerische Lehrer vom Glauben der Kirche abweichen würden. Dagegen zählt Hillebrandt 20 heilsame Lehren auf, an die sich die Christen während der endzeitlichen Prüfungen zu halten hätten. Jedermann könne die Irrlehrer heute erkennen und wisse somit, dass das letzte Stündchen geschlagen habe: „Seyen nicht Lutheraner, seyen nicht Zwinglianer, Carolstadianer, Oecolampadianer, Butzerianer, Blarianer und dergleichen vil andere? Uber das seindt nicht auch mancherley Widerteuffer? Wehr kann alle diese verterbliche secten erzelen?“549 Die Täufer sind wiederum die einzige Gemeinschaft, die nach einer markanten Praxis benannt wird. Ansonsten definiert auch der Sachse Hillebrandt die innere Zersplitterung der Evangelischen über die führenden Reformatoren. Auch theologische Inhalte und Referenzen, die sich die Religionsgemeinschaften auf die Fahnen schreiben, können namensgebend sein. So wird im Alten Reich besonders heftig um die Bezeichnung Evangelische gerungen. Dabei handelt es sich auch um eine Selbstzeichnung der reformatorischen Seite, mit der diese zentrale Elemente ihrer Theologie darstellen will, die aber auch eine Spitze gegen die Papisten beinhaltet, die einem gängigen Vorwurf gemäß das Evangelium für Jahrhunderte unter der Kirchenbank versteckt gehalten haben. Die Altgläubigen müssen den umstrittenen Begriff also besonders nachdrücklich aufgreifen. Ein anonymer Autor, der unter dem Pseudonym Henricus P.V.H. veröffentlicht, nimmt sich dieser Aufgabe im Jahr 1524 an. Henricus will mit seiner Schrift auf das „Lästerbuch“ der Frau des Schössers von Eisenberg, Ursula Weida, reagieren. Deren Text war wiederum durch eine Flugschrift des altgläubigen Benediktinerabts von Pegau, Simon Blick, motiviert. Blick hatte die

548 Zum selben Anlass stellt Georg Neudorffer in seiner Schrift gegen Blarer diesen als eine Art illegitimen Partikularbischof dar. So seien in Konstanz nun zwei Kirchen, eine von Bischof Hugo „unnd eine, da der Blarer bischoff wie der Zwinglin zu Zürich, Oecolampadius zu Basel, Wolffgangus Capito zu Straßburg, Luther zu Wittenberg oder, wenn du dich noch des titels nit annimbst, ein kirch, die kein bischoff hat, accephala.“ Neudorffer, Widerrede (wie Anm. 422), S. 343. Hier wird deutlich, wie stark in der Eidgenossenschaft und Oberdeutschland die Zentrierung – auch kategorialer Natur – auf Luther abnimmt und die innerreformatorischen Gruppen stärker wahrgenommen und sowohl geographisch als auch personal zugeordnet werden. 549 Hillebrandt, Michael: Von den letzsten fehrlichen gezeitten // aus Gottlicher Schrifft. Dresden: Wolfgang Stöckel 1535. Bl. B3r.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

religiösen, politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Schäden angeprangert, die seiner Ansicht nach die Lutheraner angerichtet haben.550 Ursula Weida setzte dem eine Schrift entgegen, in der sie besonders das Zölibat angreift. Darauf reagiert dann Henricus. Die Einlassung Ursula Weidas, dass das weltliche Leben gottgefällig und christlich, das ehelose Mönchsleben hingegen ein von Menschen erfundener Brauch und teuflisch sei, weist er zurück. Zwar sei nur das Wort Gottes ewig, aber auch gute und erprobte Traditionen sollten beibehalten werden. Zudem müsse das Evangelium so verstanden werden, wie es die Kirche auslegt. Für ihn stehen Christus und das Wort Gottes nur in der Kirche, obwohl sich bisher viele Ketzer dieser Erkenntnis widersetzt haben.551 Der Anonymus fährt fort: Auch itzund leyder die Lutheriani machen eyn rotte und gemeyn und nennen yre kirche die evangelische kirche, man gibt wol fur, das daryn das heylig evangelium gepredigt wirt, aber wan man es beschawet, so eytel ketzerey dahynden, und machen, das der gemeyn man nit weiß, ob es graw oder blaw ist, unnd wo solch versamlung ist, die sich austzihen von der christlichen gemeyn und nitt reynen glauben haben, wie die gotliche schrifft leret, unnd sich nitt wollen underrichten lassenn, furwar das seyn ketzer, abtrinnigk Christo unnd seyner brautt, der christlichen kirchenn.552

Henricus will nicht akzeptieren, dass die Lutheraner das wahre Evangelium für sich beanspruchen und es zu ihrem Namensgeber machen. Bei Ketzern, die von der Kirche abtrünnig seien, könne es keine evangelische Wahrheit geben, so wie es allgemein keine zwei wahren Interpretationen der Heiligen Schrift geben könne. Nicht erst nach den Bauernkriegen machen deutsche Altgläubige der Gegenseite den Gruppenbegriff „Evangelische“ streitig. Der sächsische Priester Petrus Sylvius spricht in seiner zwischen Mai und August 1525 in der Dresdner Emserpresse gedruckten Erklärung der evangelischen Kirchen gleich zu Anfang mit einer klaren Dekonstruktionsabsicht von den „lutherischen ecclesiastes, die sich mit den pigkarden sunderlich evangelisch nennen, also misszlich gebrauchen der heiligen vier evangelion.“553 Wenn er den Evangelischen diese Selbstbezeichnung überlässt, dann bestenfalls im Sinn eines falsch verstandenen Evangeliums. Denn die partikulare Aneignung der Heiligen Schrift hätten schon die Pickarden – eine radikale Strömung der Hussiten – für sich versucht.

550 Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400). Der tatsächliche Autor war wohl Simons Bruder Wolfgang, ein Erfurter Stadtsyndikus. Vgl. S. 681 f. 551 Diese Kirche, gebaut auf dem Felsen Petri, sei die Gemeinschaft der Gläubigen. In ihr gebe es die Sakramente. In ihr kommen alle Schichten sowie der Sünder und der Fromme zusammen. Henricus P.V.H., Antwort wider Ursula Weidin (wie Anm. 407), S. 787 f. 552 Henricus P.V.H., Antwort wider Ursula Weidin (wie Anm. 407), S. 788. 553 Sylvius, Petrus: Eine Erklärung der evangelischen Kirchen, in: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 113–135, hier S. 113.



2.1 Begriffe für die Anderen 

 135

Der Begriff kursiert auch in den Folgejahren weiter in den altgläubigen Flugschriften, muss jedoch meist kommentiert werden, anders etwa als die Kategorien, die aus Namen hergeleitet werden. Die Vielfalt der im Sprachschatz der frühen Reformationszeit möglichen Sinnzuschreibungen zu Evangelische führt offenbar dazu, dass die altgläubigen Autoren eine zusätzliche Erklärungsnotwendigkeit sehen – und das, obwohl sich ihre Schriften ja v. a. an die eigene Seite richten. Deshalb unternimmt Petrus Sylvius in der Erklärung den Versuch, die altgläubige Herangehensweise an das Evangelium für den gemeinen Mann darzustellen. Der müsse sich fünf Punkte merken. Zum einen müsse kein Christ alles tun, was im Evangelium erwähnt oder vorgelebt wird. Zum andern müsse er aber auch mehr glauben und tun, etwa die Bräuche und Lehren, die von den Aposteln und Kirchenvätern eingeführt worden sind. Zudem dürfe das Evangelium nicht wörtlich ausgelegt werden und schon gar nicht von jedermann, sondern nur von den Aposteln und der Kirche. Deren Verdikt soll der gemeine Mann dann anhören und es dabei bewenden lassen. Der ständige Bezug auf die Heilige Schrift allein reicht Sylvius nicht, um jemanden als wahren Christen anzuerkennen.554 Wolfgang Redorffer schreibt zu diesen Fragen im Arzneichbüchlein über seinen Wittenberger Freund Esculapius, dieser nenne sich „nit mer einen cristen sunder einen evangelischen“.555 Wie eine Reihe anderer Autoren führt Redorffer aus, welche die wahren Früchte des neuen evangelischen Lebens seien. Er habe mit eigenen Augen gesehen, dass es sich dabei um unmoralische und unchristliche Folgen handle.556 Die Begriffsbildungen in Frankreich lassen sich zu Beginn gut an einem präzisen Fall untersuchen. Im Jahr 1528 geschieht in Paris eine Gräueltat – gefolgt von einem Wunder, so heißt es in den altgläubigen Quellen. Ein oder mehrere Unbekannte zerstören demnach nachts in der rue des Juifs eine Marienstatue mit Jesuskind. Die zerstörte Figur wird zum Zielort zahlreicher Prozessionen und zum Mittelpunkt eines neuen und affirmativen Marienkults. Sie wird in der Kirche Saint-Gervais aufgestellt, wo sie

554 Sylvius, Erklärung (wie Anm. 553), S. 114–124, 130. 555 Redorffer, Wolfgang: Arzneibüchlein von den Früchten des neuen evangelischen Lebens. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 417–438, hier S. 417. Laut Laube handelt es sich beim Adressaten um Blasius Axt aus Frankfurt an der Oder, der am 21. Mai 1520 an der Universität Wittenberg immatrikuliert worden ist. Vgl. S. 437, Fußnote 1. 556 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 419–422. Ähnlich argumentieren viele weitere altgläubige Autoren, u. a. Freiberger, Johannes: Eine brüderliche Ermahnung zu denen, die sich evangelisch nennen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 499–508, hier S. 502; Emser, Hieronymus: Aus was Grund und Ursach Luthers Dolmetschung über das Neue Testament dem gemeinen Mann verboten worden sei. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 509–529, hier S. 509; Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 265; Eck, Johannes: Ableinung der verantwurtung burgermeisters unnd rats der stat Costentz, sy und irr Luttherisch predicanten betreffend, durch Doctor Ecken etc. In: Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, den Bürgermeister und Rat von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Hrsg. von Karl Meisen. Münster 1929 (Corpus Catholicorum 14). S. 21–40, hier S. 22 f.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

nur wenige Tage nach dem Ikonoklasmus in den Ruf der Wundertätigkeit gelangt.557 Eine kleine anonyme Flugschrift berichtet in Versform über das Geschehen und das Wunder. Dieses Wunder sei eine klare Bestätigung der göttlichen Allmacht und des Marienkultes, denn es gebe viele Zeugen, was die „malheureus lutheriens“ sicher verärgere.558 Wie im Alten Reich, so sind in altgläubiger Perspektive die Einzelpersonen oder Gruppen ketzerischer Handlungen Lutheraner. Verwendet wird der Begriff nicht erst ab diesem Zeitpunkt. In Schriften mit kontroversem Charakter fällt er bereits früher, etwa 1526 in Olivier Conrads Miroir des pecheurs. Es handelt sich bei dieser Schrift um eine Klage über den Zustand der Welt, die Sünden, den Niedergang des Staats und die Missstände in der Kirche. Mit dieser geht Conrad bereits im Prolog ins Gericht: „Je voy l’Eglise en ung estat piteux. Car maintenant y a gens despiteux et capiteux contre Dieu et l’Eglise: lutheriens pervers en mainte guise, fiers, arrogans, obstinez, scismaticques, excommuniez et maulditz hereticques.“559 Die Anderen sind also Lutheraner  – auch in Frankreich. Conrad untergliedert seine Schrift entlang der sieben Todsünden. Im zweiten Kapitel über den Geiz kommt er auf die Missstände der Kirche zu sprechen und kritisiert die Kirchenoberen, die sich den „lutheriens heretiques“ nicht in den Weg stellen. Die Lutherischen könnten ungehindert in den Städten und auf dem Land predigen.560 In der Folge erklärt Conrad in einem längeren Abschnitt, wer sich hinter diesen Ketzern verberge: Es seien Luther und seine Anhänger, Luther und die Seinen, Luther und seine Kohorte…561 Die frühe Begriffsbildung bezieht sich also auf den Namen des deutschen Reformators. Jérôme de Hangest bleibt in seiner Antwortschrift auf die placards von Antoine Marcourt 1534 erstaunlich vage, was die personalisierte Begriffsnennung der Zugehörigkeit des Autors der Flugblätter und der Gruppe, in deren Zusammenhang dieser steht, betrifft. Hangest spricht in der Widmung an Anne de Montmorency von zeitgenössischen Ketzern562, ein Begriff, der im Verlauf des Textes nicht weiter präzisiert wird. Vielmehr wird die Gegenseite durch harte Metaphern und andere Repräsentationen umrissen, vor allem aber direkt angesprochen – insbesondere Marcourt –, so

557 Vgl. Kap. II. 4.2.2. 558 Sensuyt le miracle // notable. // Faict en la ville de Paris // Qui est vne chose sans fable // Comme verres en ces escriptz [1528]. BNF Paris, cote: Rés. YE 1423, Vers 19. 559 Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 2r–v. 560 Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 46v–47r. 561 Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 51v–53v. Ähnlich in der anonymen und voll auf Luther bzw. dessen mutmaßlichen Verfechter bzw. „Weiterentwickler“ Hallewijn gerichteten Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. A2r–v. Noch viel expliziter und früher zieht sich diese Argumentation durch die erste französischsprachige antilutherische Schrift des Genfer Autors Gacy, Jean: TRialogue nouueau con=//tenant lexpression des erreurs // de Martin Luther. Les do=//leances de Jerarchie eccliastique // Et les triumphes de verite in=// uincible. [Genf: Wigand Köln] 1524. Bibliothèque Mazarine, Paris. Cote : 4° 10828 [Rés.]. 562 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A3v.



2.1 Begriffe für die Anderen 

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dass wenig Raum bleibt, in allgemeineren Gruppenbezeichnungen die Anderen zu kategorisieren. Dies wird deutlich durch den Vergleich mit der 1537 erschienenen und bislang kaum untersuchten Flugschrift En controversie voie sûre. Darin will Hangest den Gläubigen den sicheren Weg zum christlichen Leben und zum Seelenheil weisen, einen Weg, der v. a. auf den erprobten Bahnen der Vorfahren sowie entlang der Entscheidungen der christlichen Autoritäten und der Kirche verlaufen solle.563 Hangest schreibt nicht gegen, sondern über die angeblichen Ketzer, die er somit auch benennen muss. Bereits in der Widmung an François Ier de Bourbon, den Grafen von SaintPol, spricht er von der „maleureuse bende lutheriane” bzw. den „lutherians“, die den erprobten Weg der Kirche verließen und den umgekehrten Weg ins Verderben gingen.564 Konsequenterweise ist die Bande nach Luther benannt, ihrem Kapitän und Impulsgeber. Dabei sieht Hangest deren veränderte Kultur und Ritualwelt als „neu“ an. Die Verbreitung der Neuerungen, die von Luther und dessen Gruppe ausgehen, verbindet Hangest mit Büchern. Die „Ketzer“ sprechen demnach die Neugierde der Menschen und deren Lust an Neuem an, eine Lust, die aber auch schnell wieder vergehe.565 Als namentlich personalisierte Gruppenbezeichnung für die Evangelischen hält sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums der Begriff luthériens. Pierre Doré versucht 1538 in seinem Dialogue instructoire des chrétiens eine Widerlegung der 1537 erschienenen französischen Übersetzung von Kaspar Meganders Berner Katechismus. Dieses Büchlein sei voll von Häresien „et fut trouvé l’an passé attaché a Lyon par ung lutherien a la porte d’ung homme ecclesiasticque.“566 Eine im Alten Reich mögliche, vielleicht sogar wahrscheinliche Verfeinerung der Namenszugehörigkeit im eidgenössischen Kontext etwa zu „zwinglisch“ kommt bei Doré nicht vor. Der „Ketzer“ in Aktion sowie „ketzerische“ Gruppen bleiben in Frankreich aus altgläubiger Perspektive bis um 1540 allgemein Lutheraner. Dieser Begriff wird als distinktive Gruppenbezeichnung bis zur Durchsetzung des kalvinistischen Protestantismus und der religionsrechtlichen Bezeichnung als religion prétendue réformee nach den Religionskriegen bleiben. Gruppenbezeichnungen werden auch von den deutschen Altgläubigen nicht nur durch Namen oder theologische sowie rituelle Referenzen gebildet, sondern auch durch Rekurs auf Temporalstrukturen, in denen sie die lutherische oder zwinglische Gegenseite verorten. So wird früh die Differenz „alt-neu“ in die Begriffsbildung integriert. Im Alten Reich gilt das ab den Entscheidungsjahren 1520 und 1521, in denen die Luthergegner das nun konkretere und weiter verbreitete Andere in Abgrenzung

563 Vgl. auch die kurze Erwähnung bei Higman, Premières réponses (wie Anm. 367), S. 371 f. 564 Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. A1v. Luther sei der Kapitän und Anführer dieser Bande, der für seine Sache Freiheit und Sinnesfreuden locke. Ebdl., Bl. D1r–D3r. 565 Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. D7r–D8r. 566 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. A2v.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

zum Eigenen als ein neues, da veränderndes und zunehmend umstürzendes Phänomen beschreiben. Hieronymus Emser etwa warnt in seiner Entgegnung auf Luthers Adelsschrift, dass nun jedermann die freie Wahl habe, beim alten erprobten Glauben zu bleiben „ader Luters nawe ler nachtzuvolgen und alles, das die alten auffgericht, widerumb umbtzustossen und tzerreyssen.“567 Das Alte und das Neue werden zum distinktiven Paar, das wie kein anderes Binom die Unterschiedlichkeit und die zumindest in den Flugschriften propagierte wechselseitige Unvereinbarkeit der entstehenden Religionsgemeinschaften sprachlich zum Ausdruck bringt. Johannes Eck bezeichnet seine Feinde im Vorwort zu einer als Flugschrift abgedruckten Münchner Predigt vom November 1522 als „die Lutherischen new Christen“, die das Evangelium anders auslegen wollten und ihn öffentlich in Schrift und Wort angriffen.568 Wolfgang Wulffer, seit 1519 Kaplan an der Schlosskirche in Dresden und somit wohl in Kontakt mit Hieronymus Emser, erklärt in seiner Flugschrift Wider die Aufruhre Martin Luthers (1522), Luther lehre seinen neuen Christen so ketzerisch zu sprechen wie er selbst, und zu behaupten, ihr Mund sei Gottes Mund. Damit verführe er die neuen Christen und verwandle sie in Antichristen. Bei Wulffer steht die Kategorie der Neuchristen im Gegensatz zu den wahrhaftigen und alten Christen.569 Johannes Eck geißelt 1524 in seinen ersten Publikationen zur Schweizer Reformation Zwinglis neues, verführerisches Vorhaben, das der Heiligen Schrift zuwider sei.570 Doch das Neue mache das Volk neugierig, erklärt der altgläubige Wolfgang Blick 1524. Deshalb, schreibt er, finden die Lutherischen in der Bevölkerung so großen Anklang.571 Mit einem Anfang 1528 gedruckten Schreiben an die Eidgenossenschaft, dem ein Brief an Zwingli und ein Brief an den Ulmer Prediger und Reformator Konrad Sam („Rotenacker“) beigegeben ist, reagiert Johannes Eck auf die zwinglische Disputation von Bern im Januar desselben Jahres. Er bezeichnet die Evangelischen als „Neuchristen“, welche die Berner Disputation jetzt aufblasen würden, obwohl keine Obrigkeiten dazu eingeladen gewesen seien. Eck ermahnt die Eidgenossenschaft, beim alten wahren Glauben zu bleiben.572

567 Emser, Wider das Buch an den Adel (wie Anm. 400), S. 236. 568 Eck, Predigt zu München (wie Anm. 532), Bl. A1v. 569 Wulffer, Wolfgang: Wider die unseligen Aufruhre Martin Luthers. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 294–304, hier S. 296. 570 Eck, Sendbrieve (wie Anm. 543), Bl. A2r. 571 Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 665 f. 572 Eck, Johannes: Ein Sentbrieue an // ein frum Eidgnoßschafft/ betreffendt // die ketzerische disputation Frantz Kolben des außgeloffen münchs // vnnd B. Hallers des verlognen predican==//ten zu Bern. // Ein annderer brieue an // Vlrich Zwingli. // Der drit brieue an Cunrat // Rotenacker zu Vlm. [Ingolstadt 1528], s.p. Den Begriff verwendete Eck bereits 1526 mehrmals in einer Flugschrift, die in die Auseinandersetzung um die nicht zustande gekommene Disputation in Konstanz fällt. Vgl. Eck, Ablehnung der Verantwortung (wie Anm. 556).



2.2 Begriffe für das Eigene 

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Die Begriffe für die Anderen speisen sich also aus temporalen, theologischen, rituellen und personalen Bezügen. Sie sind abhängig von der Chronologie und der räumlichen Nähe oder Distanz, in der die Bezeichnenden und die Bezeichneten sich befinden. Wie verläuft in Bezug dazu die Entwicklung neuer Begriffe für das Eigene auf altgläubiger Seite?

2.2 Begriffe für das Eigene Die Selbstbegriffe entstehen zögerlicher als die Namensgebung für die Gegenseite. Denn diese ist es schließlich in altgläubiger Perspektive, die von der christlichen Normalität abweicht und deshalb zuerst begriffen und bezeichnet wird. Die altgläubige Selbstkategorisierung bezieht sich im Umkehrschluss darauf, die angebliche Normalität bzw. Normativität des Eigenen zu unterstreichen und diese Position damit gegen die „Ketzer“ und „Abweichler“ stark zu machen. Diese begriffliche Bruchlinie wird bereits in der ersten aller volkssprachlichen Anti-Luther-Flugschriften hervorgehoben – von Johann Tetzel. Bekanntlich provoziert das umstrittene Vorgehen des Ablasspredigers 1517 die 95 Thesen Martin Luthers. Als Antwort auf diese arbeitet Konrad Wimpina, Theologe an der brandenburgischen Universität Frankfurt/Oder573, einige Thesen zugunsten des Ablasses aus, die Tetzel am 20. Januar 1518 verteidigt. Luthers Reaktion darauf, der Sermon von Ablass und Gnade vom März 1518, wird von Tetzel wiederum umgehend refutiert. Wahrscheinlich nur einen Monat später erscheint die Widerlegung von Luthers Einlassungen, die laut Tetzel der heiligen christlichen Kirche entgegenstehen. Formelhaft wiederholt er vor jeder Refutation eines mutmaßlich irrigen Artikels des Wittenberger Augustiners, dass seine Widerlegung christlich sei. Der Grundton ist damit gesetzt: Die Luthergegner sehen sich selbst als Anhänger des wahren Christentums und bezeichnen sich als Verteidiger des wahren Glaubens und der christlichen, allgemeinen Kirche, die auf dem Felsen Petri stehe und deren Traditionen und Rituale allein christlich seien. In seiner Schrift zur Verteidigung der Entscheidungen des Konzils von Konstanz und gegen Martin Luther vom September 1520 bedient sich Johannes Eck ebenfalls dieser rhetorischen Figur. Er klagt, Luther verwerfe die christlichen Bräuche der Kommunionsvorbereitung. Insgesamt sei dessen Tendenz zum Laienkelch ketzerisch und gegen den Brauch der christlichen Kirche, den Eck wiederum verteidigen will.574 Diese affirmative Haltung in Bezug auf eine Reihe von Praktiken wird für die Luthergegner bald namensgebend: Sie sehen sich

573 Vgl. zur Biographie Bäumer, Remigius: Konrad Wimpina (1460–1531). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 3. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1986 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 46). S. 7–17. 574 Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 4.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

als die wahren Christen. Nach der endgültigen Exkommunikation Luthers im Januar 1521 und der reichsrechtlichen Verurteilung im Mai 1521 steht der Reformator in dieser Wahrnehmung außerhalb der einzig wahren, christlichen Kirche. In deren Reihen sehen sich diejenigen, die aus ihrer Eigenperspektive zu „Kirchentreuen“ werden – im Gegensatz zu den aus der christlichen Kirche ausgeschiedenen „Ketzern“.575 So weit gehen nicht alle Autoren, aber die grundsätzliche Dichotomie kommt bei allen zum Ausdruck. So fordert Wolfgang Blick 1524, dass jeder Christ öffentlich bekennen solle, was er im Herzen glaubt und „wem er anhange, der mutter der heiligen christlichen kirchen ader Martino Luther ader seinem evangelio.“576 Allerdings ist es schwierig, daraus einen kernigen Selbstbegriff zu formen. Es bleibt vielfach bei der Umschreibung, die zusehends repetitiv für das Eigene verwendet wird: die mutmaßliche Zugehörigkeit zur einzig wahren, allgemeinen Kirche. Petrus Sylvius fordert in einer im Juni 1527 überarbeiteten Schrift, in der er Luther in einen Kausalzusammenhang mit den Siegen der Osmanen in Ungarn und den Bauernkriegen stellt, dass die Christenheit mit ihrem wahren und unveränderten, einträchtigen und christlichen Glauben den Anderen widerstehen solle. Diese Anderen sind für Sylvius die bösen Geister und deren Glieder, die Ungläubigen und Ketzer. Die Christen müssten mit Leib und Leben den Glauben schützen. Der Autor hat dafür auch gleich ein Vorbild parat: die Juden des Alten Testaments.577 So aktualisiert Sylvius den Topos des einsamen Kampfs der echten Gläubigen und setzt ihn in den reformatorischen Zusammenhang. Während die Anderen in den altgläubigen Darstellungen verändern, unterbrechen oder Neues zum Glauben hinzufügen, verweisen die Reformationsgegner auf die zeitliche Verwurzelung und Beständigkeit ihrer Theologie und ihrer Rituale. Diese Auffassung findet früh Eingang in die Denomination. Dabei rühren wir an eine zentrale Selbstauffassung der Altgläubigen, nämlich die Einschreibung des Eigenen in die ungebrochene Fortsetzung der wahren christlichen Tradition, in das Recht und die Legitimation des alten Herkommens. Aus Christen werden alte Christen oder Altgläubige. In den Folgejahren werden diese Begriffe im antilutherischen Lager internalisiert und in den Flugschriften häufig und zusehends persönlicher und distinktiver angewendet. Es ist Hieronymus Emser, der 1523 in seiner Flugschrift Wider den falsch genannten Ecclesiasten den wertenden Unterschied „alt-neu“ als einer der ersten auf Deutsch explizit formuliert. Dafür greift er Luthers Auslegung der Warnung des Apostels Petrus

575 Vgl. die Aufforderung von Johannes Eck: „Was sollen aber wir lernen aus disem, das lern das du bleibest bey dem breitgam Jesu Christo. Den darfstu nit da oder dört bey dem Ludder oder Wickleph suchen. Allain such in bey seinem liebsten gemahel, der heiligen christenlichen kirchenn. Wa du sunst in such wurdest, so würdestu irren.“ Eck, Predigt zu München (wie Anm. 532), Bl. B2r–v. 576 Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 651. 577 Sylvius, Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), S. 439.



2.2 Begriffe für das Eigene 

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vor Irrlehren auf, die bei ihren Ausschweifungen viele Anhänger finden würden (2 Petr 2). Emser deutet diese Stelle wie folgt: Darumb so redt Sant Peter diße wort hie nit von den alten guten christen, die irer vorordneten prelaten und bischoven ler nachvolgen, sonder von denen, die der nawen falschen lerer vorderblichen sect und ler anhangen und inen nachvolgen, deren leider, wie Sant Peter sagt, vil seyn, ja ich weyß schier keyn stat noch flecken im reych oder ye gar wenig als die fromen lewt auff dem Aldenberg oberhalb Dreßden gelegen, do noch gar keyn mensch… ir knye vor disem abgot gebogen, sonder iren alten glouben mit mund und hand vorfechten.578

Wenn sich die selbsternannten wahren Christen genauer qualifizieren, werden sie wie bei Emser zu alten Christen. Sie wollen weiterhin der Lehre der Kirchenobrigkeiten folgen, die hier in Form der Prälaten und Bischöfe die gemeine christliche Kirche bilden. Unvermeidbarer Weise setzt Emser dieser eigenen Gemeinschaft die neuen Lehrer mit den falschen Doktrinen entgegen. Fromme Leute würden sich diesen aber nicht beugen. Diese alten Christen fänden sich etwa in Altenberge, einer der altgläubigen Hochburgen bis zur Reformation des Herzogtums Sachsen 1539. Alte Christen wird zur festen Kategorie, welche die altgläubigen Autoren in ihren Flugschriften verteidigen, der sie sich selbst zurechnen und die sie gegen die evangelischen Neuchristen stellen.579 Doch wen genau umfasst diese Kategorie? Der albertinische Priester Petrus Sylvius verwendet den Begriff in Bezug auf das Volk eher unspezifisch. In seiner Missive vom August 1525, in der er – noch unter dem Eindruck der Bauernaufstände – seine 25 Traktate gegen Luther und für die alte Kirche in der Art eines Inhaltsverzeichnisses präsentiert und jeweils kurz kommentiert, klagt er, Luther wolle das Volk von Gehorsam und Seelenheil abbringen. Dafür habe der Wittenberger eine neue Messordnung gegen die Bestimmungen der heiligen Kirche aufgestellt. Und weiter: „Welche seyne unchristliche und frevelische ordenunge er nuhr darumb ertichtet hat, das er mit seynem anhangk will das alt christlich volck von der alte selige und heilige ordenunge mit gewalt und frevel abdringen und tzu irer nawe frembde ketzerischer ertichtunge und vertumligkeit gebringen.“580 Das altgläubige Volk ist hier eher ex negativo und als passive Einheit in einer Großkategorie zusammengefasst.581

578 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), 470. 579 Vgl. etwa Wulffer, Wider die Aufruhre (wie Anm. 569), S. 296 f. Dort stellt er Luthers „newen christen“, die Gott und den Heiligen Geist lästerten, die „alden christen“ entgegen, die genauso beanspruchen könnten wie die Lutheraner, dass aus ihrem Mund Gottes Wort komme. 580 Sylvius, Missive (wie Anm. 542), S. 149. 581 Vgl. ähnlich Johannes Mensing in seiner Schrift vom Testament Christi (1526). Dort schreibt der Autor an die Adresse des sächsischen Adels: „Es tröstet mich aber dargegen nicht wenig, das ich ein grossen, yha den mehren teyll nicht alleyne unter euch frommen herrn und junckern, sondern auch des gemeinen fromen andechtigen volcks yn stedten, flecken unnd dörffern unsers sachsischen landes (Gott sey lob und ehre) nach ym alten und rechten glawben unverruckt sehe und befinde, von aller

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 2 Die Benennung der Unterschiede

Andererseits sprechen altgläubige Autoren den nicht-Lutherischen in den Städten, in denen bereits die Reformation eingeführt worden ist oder die stark evangelisch geprägt sind, eine aktivere und explizitere Identität zu, so etwa Georg Neudorffer in seiner bereits erwähnten Auseinandersetzung mit dem Konstanzer Reformator Blarer. Es geht für Neudorffer um die Frage, wo die wahre Kirche in Konstanz ist und wer diese verkörpert: Bischof Hugo oder Blarer, der wie Zwingli in Zürich oder Luther in Wittenberg eine neue Kirche bilde. Blarer sieht die Anhänger des wahren Evangeliums als Kern der christlichen Kirche. Im Lauf der ekklesiologischen Debatte stellt Neudorffer dagegen fest, dass Blarer die wahren Christen wohl nicht zu seiner Ketzerkirche dazurechnen könne, denn unter den Rechtgläubigen sieht Neudorffer „den bischoff mitt sampt seiner priesterschafft und vil frommer leyen, die dem alten glauben noch dapfferlich anhangen, sich an deine ketzerischen predigen und letzgen nit werden kehren.“582 Dem altgläubigen Teil der Bürger und Bewohner von Konstanz wird hier ein aktivistisches und explizites Auftreten zugesprochen, indem sie dem alten Glauben nachhaltig anhängen und sich gleichzeitig den Lehren und Predigten der Evangelischen verweigern.583 Eine weitere Begriffsvarianz sei noch angemerkt. Sie ist zu lesen, wie einige weitere Sprachinnovationen auf altgläubiger Seite, bei Georg Witzel. Dieser hat sicherlich einen der bewegtesten Lebensläufe aller deutschen altgläubigen Autoren des 16. Jahrhunderts. Als junger Priester war er Verfechter der lutherischen Reformation, heiratete und wurde 1525 auf Luthers Empfehlung hin Pfarrer in Niemegk bei Wittenberg. Bis 1531 ändert sich seine Glaubenshaltung: Die gemeindlichen Ideale des Urchristentums sieht er im Luthertum nicht realisiert und auch nicht realisierbar.

dieser leychtfertigkeyt und ketzerischer lere reyn, frey und unschuldig“. Ein Indiz für den beschriebenen Umstand sei, dass es in Sachsen praktisch keine aufständischen Bauern gegeben habe. Mensing, Johannes: Von dem Testament Christi dem hochlöblichen Adel im Land zu Sachsen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 225–234, hier S. 225 f. 582 Neudorffer, Widerrede (wie Anm. 422), S. 344. 583 Eck klagt, ebenfalls im Zusammenhang der geplatzten Disputation, dass es in Konstanz vier neuchristische Prädikanten gebe, aber nur einen für die frommen alten Christen, derer indes noch viele in der Stadt seien. Vgl. Eck, Ablehnung der Verantwortung (wie Anm. 556), S. 24. Thomas Murner betont in einer Flugschrift gegen Zwingli im Nachgang der Badener Disputation von 1526: „All wegen mit vorbedingtem reden, anstat einer rechtmessigen protestation, das ich in dissen geschrifften ein ersamen weisen radt der löblichen stat Zürich, die frummen altan christlichen Zuricheren, deren, ob Got will, noch grössere zal ist, in keinerley weg will angetastett und enteret haben, wie ich mich des och uff der disputation, zu Baden gehalten, protestieret unnd bezugt hab.“ Murner scheint es ein Anliegen zu sein, einen religionsgemeinschaftlich differenzierten Blick auf Zürich aufrecht zu erhalten. Der eindringliche Gottesbezug lässt das Wissen Murners um die prekäre und konfliktreiche Situation der Altgläubigen in Zürich erkennen. Murner, Thomas: Ein wahrhaftiges Verantworten der hochgelehrten Doctores, die zu Baden auf der Disputation gewesen sind. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 284–309, hier S. 284. Vgl. zu den Zürcher Altgläubigen ferner Mudrak, Zensiert und zerrissen (wie Anm. 445); Jezler, Gerold Edlibachs Aufzeichnungen (wie Anm. 517).



2.2 Begriffe für das Eigene 

 143

Er wechselt zur alten Kirche, verlässt Niemegk und wird Pfarrer von St. Andreas in Eisleben. Von dort aus verfasst er zahlreiche reformerische und antilutherische Schriften. 1538 geht er bis zur Einführung der Reformation nach Dresden und ist danach zu zahlreichen Ortswechseln gezwungen, wonach er 1554 bis zu seinem Tod in Mainz Fuß fasst.584 In seiner Flugschrift von 1536 über das Begräbnis und die Totenkultur, in der er u. a. um die richtige Art der Beerdigung streitet, klagt Witzel in einer Passage allgemein über die für die Altgläubigen angeblich ungünstigen Kräfteverhältnisse der Religionsgemeinschaften im Alten Reich. Diese Notsituation zwinge zu Zugeständnissen in der Religionsausübung, denn: „Wir sind veracht, weil unser so wenigk ist, kaume eine handtvoll, wie sie [die Lutherischen, M. M.] selbs sagen, unnd mussen zur not auffnemen unnd haben, was wir künnen ynn solcher zeit… Furwar die kleinste zal der alt kyrchischen ist ytzt ynn Germanien, welche zal Gottes Reich unnd seine gerechtigkeit suchet.“585 1536 ist für Witzel die Zahl der wahren Christen ein kleines Häuflein, das sich durchschlagen muss. Diese Gläubigen kategorisiert er als Altkirchliche, die nach Gott und er Rechtfertigung der Sünden suchen. Die Wortschöpfung bezieht sich auf jene, die noch Teil der christlichen ecclesia seien und sich derzeit in einer erdrückenden Minderheitensituation befänden. Die alte Kirche ist auch noch im Jahr 1536 eine Kategorie, die sich vorzugsweise aus dem Moment der Abgrenzung zu den mutmaßlichen Neuerern ergibt. Der taxonomische Bezug zum Anderen führt zu der Notwendigkeit, das Eigene sprachlich näher zu definieren und dessen angebliche Eigenschaften begrifflich darzustellen. Die Bezeichnung drückt dabei in altgläubiger Perspektive nur die temporale Verwurzelung und Legitimation der Religionskultur aus. Sie impliziert keine Logik der zeitlichen Abfolge, sondern die zeitliche Parallelität zweier Gruppen mit divergierenden Eigenschaften. So ist es gerechtfertigt, von den in dieser Arbeit untersuchten Religionsgemeinschaften als Altgläubigen zu sprechen. Der Ausdruck entspricht am ehesten der Selbstwahrnehmung der Reformationsgegner in ihren Flugschriften (anders als „Katholiken“), garantiert den Anschluss an die Forschungskonvention (anders als z. B. „Altchristen“) und ist weniger polemisch oder kontrovers konnotiert als mögliche Alternativbegriffe wie „Kirchentreue“ oder „Papstanhänger“. Wichtig ist, dass „Altgläubige“ oder „alte Kirche“ Bezeichnungen sind, die v. a. in Momenten der Abgrenzung und des Unterschieds zur Anwendung kommen. Ansonsten dürften sich die Protagonisten schlichtweg als „Christen“ oder „wahre“ und „gemeine“ Christen empfunden und bezeichnet haben.

584 Vgl. Bäumer, Remigius: Georg Witzel. In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 125–132; Henze, Barbara: Aus Liebe zur Kirche – Reform. Die Bemühungen Georg Witzels (1501–1573) um die Kircheneinheit. Münster 1995 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 133); Tschackert, Paul: Witzel, Georg. In: ADB 43 (1898). S. 657–662. 585 Witzel, Georg: Von den Tod=//ten/ vnd yhrem Be=//grebnus. Leipzig: Melchior Lotter 1536. Bl. I5v–I6r.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

Der große Vorzug des Begriffs „Altgläubige“ besteht schließlich darin, dass er auch quellenmäßig als Selbstbenennung belegbar ist. Einer der ersten, vielleicht der erste, bei dem der Begriff mit der hier beschriebenen Bedeutung auftaucht, ist der 1528 in Luzern lebende Franziskaner Thomas Murner. In seiner Polemik gegen das Ausschreiben des Berner Rats zur Disputation zählt er in einer längeren Passage acht Listen auf, die die Evangelischen anwenden, um die Welt zu ihrem Glauben zu bewegen. Darunter fallen Predigtstörung, Klosterauflösungen, Entmachtung der geistlichen Obrigkeiten, Druck auf altchristliche Priester, anonyme Schmähbücher, Diebstahl von Kircheneigentum, gezielte Propaganda in noch nicht evangelischen Gebieten und die Verdammung der Vorfahren und deren Religionskultur.586 Zur ersten List präzisiert Murner, dass durch die Predigtstörungen viele Priester verunsichert worden seien: „damitt handt sy [die Evangelischen, M. M.] die altgleubigen gweltigklich bezwungen, von irem predigen abzuston, und hand ire ketzerischen predicanten uffgestelt.“587 Der Begriff Altgläubige bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die durch die Störungen verjagten und von evangelischen Prädikanten ersetzten Priester. Manche Autoren versuchen, diese temporal begründeten Selbstbegriffe auch rechtlich fruchtbar zu machen. Denn in der vormodernen europäischen Kultur ist es die Dauer, welche Besitz und Recht Gültigkeit verleiht. Das spielt den Luthergegnern in ihrer Selbstauffassung natürlich in die Hände. Auch Thomas Murner bedient sich dieser Idee bei seiner Kommentierung des Berner Disputationsausschreibens, in dem die Bischöfe aufgefordert wurden, nach Bern zu kommen und ihre Gelehrten zur Diskussion mitzubringen. Dieses Ansinnen weist Murner zurück, nicht zuletzt wegen der angeblichen Sinnlosigkeit der Reise und eines Hinweises auf das Corpus Iuris Civilis: „So nun wir by XV hundert jaren sint unsers glaubens in besitzung gewesen biß in anfechtung disser evangelischen ketzer, worumb wollten dann uns die bischöff anhalten, unsere besitzung zu verlassen, und erst uff ein nuwes bezwingen umb unsere besitzung zu erobren mitt disputieren. Grande est beneficium possessionis.“588 Murner sieht das Recht auf seiner Seite, da der Glaube der alten Kirche durch 1500 Jahre unverändertes Bestehen und Ausüben vollkommen ausreichend befestigt sei. Es wäre demnach sogar fahrlässig, auf dieses in der vormodernen Rechtskultur entscheidende Argument dadurch zu verzichten, dass man sich in eine offene Disputation begibt. Das Argument der posessio und des Rechtserwerbs durch lange Dauer sollte spätestens ab dem Westfälischen Frieden zu reichsrechtlicher Bedeutung gelangen

586 Murner, Thomas: Hier wird angezeigt das unchristliche Ausrufen und Fürnehmen einer löblichen Herrschaft von Bern, eine Disputation zu halten. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525– 1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 818–860, hier S. 840 f. 587 Murner, Unchristliches Ausrufen und Fürnehmen (wie Anm. 586), S. 841. 588 Murner, Unchristliches Ausrufen und Fürnehmen (wie Anm. 586), S. 835 f.



2.2 Begriffe für das Eigene 

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und in der konfessionellen Auseinandersetzung bis ins späte 18. Jahrhundert zu einer effizienten Rechtfertigung für umstrittene religiöse Praktiken werden.589 Die Evangelischen wiederum belegen die Altgläubigen mit Bezeichnungen, gegen die sie sich wehren oder die sie anders deuten. Dies beginnt schon bei der zeitlichen Dimension der antilutherischen Selbstrepräsentation. Thomas Murner weist darauf im Nachgang zur zwinglischen Disputation in Bern 1528 hin: „Allegiert man inen die fünffzehenhundertjärige possession unsers christlichen glaubens, sagent sy, hunderttusent jar unrecht thon, wardt nie kein stund recht thon.“590 Für die Evangelischen gehe es nicht um die Länge der Ausübung bestimmter Praktiken, sondern um deren Qualität, die sie den altgläubigen Religionskulturen nicht zugestehen. Die Begriffe „Papisten“ oder „Romanisten“ sind ein weiteres Beispiel. Beide Bezeichnungen werden von Luther und vielen anderen Reformatoren verwendet, um das, was sie als ihre Gegenseite wahrnehmen, zu stigmatisieren.591 Zwei Strategien ergeben sich für die Altgläubigen in dieser Auseinandersetzung: Abstreiten und Distanzieren oder die Entwicklung eines alternativen Deutungsangebots. Thomas Murner wählt in seiner Antwort auf Luthers Schrift an den Adel die vorsichtige Distanzierung. Dabei geht er auf die Argumentation Luthers ein, der den Romanisten vorwarf, sie hätten die geistliche Gerichtsbarkeit über den Adels- und Bauernstand nur erfunden, um sich vor Reformen zu schützen und um vor Bestrafung für ihr willkürliches Treiben sicher zu sein. Murner weist diese Einlassung zurück. Es ist jedoch 1520 eine schwierige Aufgabe, von offensichtlichen Missständen befallene Institutionen wie das Papsttum und den Klerus zu verteidigen. Entsprechend nuanciert äußert sich Murner, bevor er die Trennung zwischen Laien und Klerikern und die Sonderstellung der Letzteren verteidigt: „Darzu gib ich ein antwurt mit solcher protestation, das ich weder die romaniscen noch niemans anders in seinen ubeltadten verfechten und beschirmen wil, oder in seinem mutwil halßstarck machen, allein zugegen den unwahrhafftigen und unchristlichen reden geantwurt haben will.“592 Murner sieht sich nicht als Teil der von Luther angeprangerten Gruppe der Romanisten, deren Verfehlungen er keinesfalls verteidigen will. Letztlich klammert er die Frage nach seiner

589 Vgl. dazu Duhamelle, Frontière au village (wie Anm. 20), S. 59–72. 590 Auch an dieser Stelle wird erneut die große Bedeutung der Zeit als rechtssetzendes Moment auch für religiöse Praktiken und Lehren ersichtlich. Murner, Thomas: Appellation und Berufung der hochgelehrten Herren und Doktoren Eck, Fabri und Murner wider die vermeinte Disputation von Bern. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 744– 757, hier S. 747. 591 Romanist bezeichnet die Anhänger des Papsttums; der Begriff Papist bringt dies noch deutlicher zum Ausdruck und wird wohl auch öfter in der Polemik verwendet. Darauf deutet das häufigere Eingehen der Altgläubigen auf diese Bezeichnung hin. 592 Murner, Thomas: An den großmächtigsten und durchlauchtigsten Adel deutscher Nation, daß sie den christlichen Glauben beschützen wider den Zerstörer des Glaubens Christi, Martin Luther. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 171–220, hier S. 177.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

eigenen Haltung zu den von Luther als Romanisten Bezeichneten aus, um aus einer selbständigen Position heraus gegen den Wittenberger argumentieren zu können. Diese Strategie wird wenig später in Murners Adelsschrift noch deutlicher, in der er betont, dass die Altgläubigen an die gemeine Christenheit glauben und nicht an den Papst. Gleichzeitig unterstreicht er, dass Luther nicht derjenige sei, der die Wahrheit offenbart bekommen habe. Während Murner somit Luther in Glaubensfragen nicht zustimmt und das allgemeine Konzil als oberste Entscheidungsinstanz in doktrinären Fragen anführt, äußert er sich im Hinblick auf die Missbräuche und Rechtsbrüche von Papst und Kurie in seiner Adelsschrift zurückhaltend: Hierzu könne er sich noch nicht äußern, da Rom zu den Vorwürfen noch nicht Stellung bezogen habe.593 Auch der Münchner Kaspar Schatzgeyer setzt sich in seiner Fürhaltung von 30 Artikeln gegen den Nürnberger Laien Johann von Schwarzenberg mit dem von diesem verwendeten Begriff „Papisten“ auseinander.594 Anfangs zählt er zehn Punkte auf, die ihm allgemeiner in Schwarzenbergs Text nicht gefallen. Darunter befindet sich eine Passage, die sich mit der Kategorisierungsfrage befasst. Schatzgeyer will von Schwarzenberg wissen, wer denn die Papisten überhaupt seien, die er so heftig angreift. Der Franziskaner greift zuerst die Deutung auf, die seiner Meinung nach Schwarzenberg von dem Begriff habe und der zufolge alle Papisten seien, die unter dem Gehorsam des Papstes stehen.595 Und weiter: Also machstu und dein hauff ain neüwe kirch, die nit bäbstisch ist, welche wir haissen scismaticam, ein abgetrennt rot… Darumb so ich beschirm die römisch und bäbstisch kirchen, soltst du mich versteen, redent von der gemainen kirchen, in welicher wir und unnser elltern über tausent jar Got gedienet haben on alle irrung in christlichem glauben, und rechtem verstandt der heyligen schrifft, nemlich antreffendt die nottürfftigen ding, gehörig zu der seelen hayl.596

Schatzgeyer distanziert sich nicht, sondern bietet eine andere, distinktive Bedeutungszuschreibung für die Begriffe Papist sowie römische bzw. päpstliche Kirche an. Darunter versteht er natürlich nicht die verdammungswürdige Anhängerschaft an ein ausbeuterisches oder antichristliches Regime. Vielmehr handle es sich um eine Verteidigung und Zugehörigkeitserklärung zur gemeinen und traditionellen Kirche und deren Strukturen. Doch betont Schatzgeyer abschließend, dass er damit keinesfalls die menschlichen Irrungen und Verirrungen, die unter dem Mantel des Papsttums geschehen, verteidigen wolle.597 Auf eine gewisse Grunddistanz zu den Institutionen der Kirche in Rom kann auch der Münchner Franziskaner nicht verzichten.

593 Murner, An den Adel (wie Anm. 592), S. 189 f. 594 Die Schrift aus dem Jahr 1525 stammt aus dem Kontext der Schwarzenberg-Familienauseinandersetzung. Vgl. Kap. I. 1.3.1. und 1.3.2. 595 Schatzgeyer, Fürhaltung von 30 Artikeln (wie Anm. 497), S. 79 f. 596 Schatzgeyer, Fürhaltung von 30 Artikeln (wie Anm. 497), S. 80. 597 Schatzgeyer, Fürhaltung von 30 Artikeln (wie Anm. 497), S. 80. Unter den 30 Widerlegungen von Schwarzenberg befasst sich der dritte Artikel mit der Legitimität und der biblischen sowie kirchen-



2.2 Begriffe für das Eigene 

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Das wollen insbesondere die altgläubigen Autoren in Frankreich nicht. Bei ihnen ist die Frage der begrifflichen Selbstkategorisierung für den Historiker schwerer zu beantworten als im Alten Reich. Die Zahl offensiv „ketzerischer“ Flugschriften, mit denen die Orthodoxen konfrontiert werden, ist deutlich geringer und auch aus evangelischer Perspektive ist die Grenzziehung zur etablierten Kirche verschwommener, wie das Beispiel des Kreises von Meaux um Bischof Briçonnet und Lefèvre d’Étaples deutlich macht. Auf beiden Seiten sind die Dynamik der begrifflichen Abgrenzung und der Zwang dazu v. a. während der 1520er-Jahre schwächer ausgeprägt als im Alten Reich. Auffällig ist, dass die Debatte um die Stellung zum Papsttum von französischen Autoren in der Volkssprache weitestgehend ausgespart wird. Sie hätte aber womöglich auch nicht viel hergegeben, denn in der gallikanischen Tradition ist die Referenz die allgemeine Kirche und das Konzil – weniger der Papst in Rom. Für Jérôme de Hangest etwa ist es in seiner Antwort auf die Plakate von Marcourt 1535 selbstverständlich, dass die alten Konzile mit ihren Schiedssprüchen zu Eucharistie und Messe gelten sollten. Zudem würden die „lutherians“ wie Marcourt das Urteil, über das es für Hangest wohl keinen Zweifel gibt, sowieso nicht anerkennen.598 Noch aussagekräftiger für die relative Bedeutungslosigkeit des Papstes in der volkssprachlichen Polemik der französischen Antievangelischen ist eine im Januar 1537 publizierte Flugschrift von Jérôme de Hangest. Der Titel En controversie voie sûre ist Programm: Der Autor will in Zeiten unterschiedlicher Praxis- und Theologieangeboten und auseinanderfallender Meinungen zu essenziellen Sakramenten den wahren Weg für ein christliches Leben und das Seelenheil aufzeigen. Im ersten Kapitel unterstreicht der Autor, dass der sichere Weg die durch die Kirche entschiedene Doktrin sei, wobei der Papst keine und die Konzile eine entscheidende Rolle spielen.599 Es gibt hier kaum begriffliche Angriffsfläche, da die Altgläubigen von sich aus eine große Distanz zu den päpstlichen Institutionen einnehmen. Selbst in den Plakaten von 1534/35 ist von der „messe papalle“, aber nicht von papistes die Rede.600

geschichtlichen Begründung der Institution des Papsttums. Vgl. S. 84–87. Artikel vier behandelt die Macht der Päpste auf Erden und ihre geistlichen Bevollmächtigungen. Vgl. S. 87 f. 598 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. G4v–G6v. Andere, wie der Prediger François Le Picart, fordern ein Reformkonzil, betonen aber gleichzeitig die Bedeutung des Gehorsams. Vgl. Taylor, Good Sheperd (wie Anm. 313), S. 805 f. In der anonymen Apologie (März 1532) antwortet der altgläubige Autor dem mutmaßlich lutherischen Georges de Halewijn auf dessen Forderung (ähnlich wie Marcourt) nach einem Konzil, dass es ja wohl der Papst und nicht der Laie sei, der ein solches einberufen könne. Vgl. Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. A4v. 599 Vgl. etwa Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. A8r–v. 600 Die Gegenseite, die der Reformator Antoine Marcourt angreift, apostrophiert er meist als „sacrificateurs“. Conrad zählt unter die Übeltaten der Lutheraner 1526 u. a., dass diese schlecht über den apostolischen Stuhl redeten und dem Heiligen Vater Bezeichnungen gäben, die der Autor lieber nicht wiedergeben möchte. Vgl. Miroir (wie Anm. 431), Bl. 53r.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

Wie die deutschen Autoren, so legen auch französische Altgläubige den Schwerpunkt auf die Betonung der Wahrheit, der Tradition und der zeitlichen Legitimität, die sie ihrer Theologie und ihren religiösen Praktiken zuschreiben.601 Der anonyme Autor der Apologie pour la foi zum Beispiel setzt genau diese Argumentation in seiner Kritik an Georges de Halewijn um. Dieser hatte behauptet, Luthers Lehre widerlegen zu wollen. Doch genau das will der antilutherische Anonymus als Falschaussage herausarbeiten, die nur dazu diene, unbedarfte Leser zu gewinnen und zu verführen: Mais combien que le bon & excellent vouloir dudict seigneur de Aluyn soit grandement a louer & prouffitable a la chose publicque, toutesfoys en lisant sondict livret ay trouvé & aperceu plusieurs choses, lesquelles a gens d’esperit, letréz & vrays chrestiens pourroient donner non seullement suspition, mais evident argument que ledict seigneur, voulant ou cuidant eviter ung inconvenient, soit tumbé… en ung aultre ou plusieurs.602

Durch die Brille der gebildeten und wahren Christen gesehen, denen sich der Anonymus selbst zweifelsohne zurechnet und deren Perspektive er in der Fortsetzung der Apologie verteidigt, ist das Buch von Halewijn bedenklich. Die wahren Christen erscheinen hier als Gruppe in impliziter Abgrenzung zu falschen, irrenden Christen wie Halewijn. Anders als im Deutschen taucht im Französischen, in Verbindung mit der Bezeichnung „wahre Christen“, der Begriff der Katholiken auf. Dieser verdient eine genauere Diskussion, da er in der französischen Forschung immer wieder zu Anachronismen und etwas nachlässigen Verwendungen führt. Jérôme de Hangest stellt in seiner 1537 erschienenen Darstellung des richtigen Wegs in Zeiten der religiösen Kontroverse gleich zu Beginn klar, dass in Streitfragen der Glaube der Kirche der Weg sei, dem er in seinem Text folgen werde: „Et pour autant que aux interpretations de divers passaiges de la saincte escripture d’une part & d’aultre insiste ladicte controversie, hereticques les interpretantz aultrement que les vrays catholiques, a ceste cause sera en l’auctorité de l’eglise chrestienne… fondee ma premiere raison & est telle.“603 Die „wahren Katholiken“ fallen kategorial mit der christlichen Kirche zusammen, zu deren Schriftinterpretation und zu der allgemein sich Hangest bekennt. Im Gegensatz dazu stehen die Häretiker. Der Begriff catholique entspricht in dieser Bedeutung indes nicht einfach den späteren Katholiken der Religionskriege. Die Bezeichnung

601 So argumentiert 1535 Jérôme de Hangest in seiner vernakularen Antwort auf die Plakataffäre. Marcourt hatte kritisiert, dass die „sacrificateurs“ – gemeint sind die Praktizierenden des Messopfers – zwar Missstände in der Messe erkennen würden, bisher aber kein Jota daran geändert hätten. Darauf erwidert Hangest, dass die Missbräuche bei den „vrays chrestians“ bereits bestraft würden und außerdem von den Sakramentariern verübt würden. Die Länge der zeitlichen Ausübung und der Tradition sind für Hangest entscheidende Legitimationshilfen für die altgläubige Messe. Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. G8v–H2r. 602 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. A2r–v. 603 Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. A4r–v.



2.2 Begriffe für das Eigene 

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geht auf den lateinischen Terminus der sancta ecclesia catholica zurück. Dieser wird im Deutschen des frühen 16. Jahrhunderts als ‚heilige gemeine Kirche‘ übersetzt, aus der sich sprachlich dann der „gemeine Christ“ entwickelt. Ebenso verfahren die französischen Autoren, aber sie übersetzen „catholicus“ mit „catholique“. Dies lässt sich exemplarisch demonstrieren. Der Dominikaner Pierre Doré lässt Petrus in seinem Dialogue instructoire (1538) mit dem Schüler Cornelien über den wahren Glauben diskutieren, wobei Cornelien eher der Stichwortgeber für Petrus ist. Der Schüler fragt dabei auch nach der Bedeutung der Bezeichnung „catholique“. Dafür liefert Petrus folgende Definition: „Catholique c’est a dire universelle.“604 In dieser gemeinen, allgemeinen bzw. universellen Kirche findet sich folglich bedeutungsmäßig Ende der 1530er-Jahren nicht der konfessionalisierte „Katholik“ als Teilgruppe der Christenheit, sondern schlichtweg die Entsprechung des „gemeinen Christen“ der deutschen Zeitgenossen. So wird die Zugehörigkeit zur universellen und ewigen Kirche zum Ausdruck gebracht. Doch wie im Alten Reich erhält der Begriff auch für die französischen Reformationsgegner eine zusätzliche, distinktive Bedeutung. Denn „katholische“ Christen sind nun eben nicht mehr alle Getauften. Bereits Olivier Conrad in seinem wahrscheinlich 1526 entstandenen Miroir des pécheurs verwendet den Begriff zur Repräsentation zweier klar unterschiedener, freilich nicht als gleichwertig angesehener Glaubenswelten. Entlang der sieben Todsünden beschreibt Conrad mit Verve die Missstände in Religion und Gesellschaft. Im zweiten Kapitel über den Geiz nimmt er sich dabei auch die Kirche vor und kritisiert die reformbedürftigen Kleriker, den Adel und die Kirchenobrigkeiten.605 Conrad betont dabei die Nachlässigkeit der Prälaten bei der Verteidigung des christlichen Glaubens gegen die lutherischen „Ketzer“: Nous en voyons trop peu qui soient preschans // A leurs subiectz, et qui soient empeschans // Ceulx qui destruient nostre foy catholique. // Lutheriens, heretiques meschans // Sont maintenant par villes et par champs // Preschans erreur perverse et heretique. // Voyez vous point que par trop est inique // Leur volunté. Comment povez souffrir // Voir vos tropeaux aller la voye oblique? // Plus tost debvriez vos corps a mort offrir.606

Auch in diesem Zitat wird der „katholische“, d. h. der gemeine christliche Glaube, gegen die Lutheraner und deren angebliche Ketzerei ins Feld geführt. Denn von diesem sondern sich die „Häretiker“ ab. Ein gängiger Begriff behält somit seinen theologischen, historischen und sozialen Status, erhält aber einen zusätzlichen Sinn. Anders als das Deutsche „gemeiner Christ“ sollte sich „catholique“ als distinktive Gruppenbezeichnung in der Volkssprache dauerhaft durchsetzen.

604 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. F2r. 605 Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 44v–48v. 606 Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 46v–47r.

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 2 Die Benennung der Unterschiede

Im Deutschen setzt sich erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts der Begriff „Katholik“ als abgrenzende Selbstbezeichnung mit Bekenntnisfunktion durch. Die Bezeichnung „katholisch“ ist indes auch im Alten Reich in der Volkssprache nicht unbekannt, aber eben selten, da der lateinische Begriff in der Regel übersetzt wird. Das Wort taucht im Jahr 1524 in einer Flugschrift von Augustin von Alveldt auf. In diesem antilutherischen Text (Wider den Wittenbergischen Abgott), dessen Ausgangspunkt die Kontroverse um den Heiligenkult ist, will Alveldt den fortdauernden Kampf zweier Kirchen demonstrieren. Auf der einen Seite befinde sich die Kirche des Teufels, auf der anderen Seite die Kirche Gottes. Beide liefern sich seit Anbeginn der Zeit erbitterte Kämpfe, bei denen die Kirche Gottes jedoch immer die Oberhand behält.607 Alveldt beschreibt die Kirche Gottes, der er sich zugehörig fühlt und in deren Kontinuität er sich und seine Kultur einschreibt, wie folgt: „Dyse kirch hat auch ein freyen namen, welchen yr weder fleysch, weld noch teuffel benemen kan, nemlich: catholica, das ist: offentlich, gemein… Apostolica heyst sie auch, darumb das sie allein einen stul ader eins apostels ampt hat, darinnen auch nun ein stetter stadthalter Christi und sant Peter sitzen sol.“608 Das Eigene, dem sich Alveldt zurechnet, ist demnach apostolisch, d. h. mit dem Papsttum verbunden, sowie katholisch im Sinne von „allgemein“ und „weltumspannend“. Genau das meinen sowohl deutsche als auch französische Autoren, wenn sie sich mit unterschiedlichen Begriffen als „catholiques“ und „gemeine Christen“ bezeichnen. Im Deutschen lässt sich diese Taxonomie auch in der zweiten Hälfte der 1530erJahre nachweisen. In seiner 1536 in Leipzig erschienenen Flugschrift Von den Toten und ihrem Begräbnis diskutiert Georg Witzel die Möglichkeiten für die Sterbenden und die Begleiter am Sterbebett, sich emotionale Erleichterung vor dem Lebensende zu verschaffen. Dazu gehören für Witzel u. a. die Regelung der diesseitigen Angelegenheiten, aber auch materiale Artefakte wie Kerzen oder Kreuze.609 Besonders betont Witzel die drei Sakramente, die für ihn zum guten Tod gehören: die Beichte, die Kommunion der Hostie und die Krankensalbung. Gegen diese Tröstungen werde viel „geschwirmpt“. Dennoch seien die Sakramente nötig: Welcher den waren leichnam Christi nicht hat nemen wöllen, do ehr noch frisch und gesund war, sondern, weis nicht wie, darvon gehalten, der stehe an seinem letzten sein ebentewr. Wer der kirche ordenung folget, der wirt am letzten sicherer sein. Nhu der sunden bekentnis oder beicht sol lauterlich unnd aus der warheit gescheen Got und dem priester. Glaub sol da sein, und ihm die wort Christi, durch des priesters mundt gesprochen, nutz machen. In der empfagung des heiligen warleichnams Jhesu soltu thun unnd ausrichten, was hirtzu gehört, als du catholice geleret bist.610

607 Ausführlicher zu den Geschichts- und Zeituaffassungen vgl. Kap. I. 3.2.1. 608 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 29 f. 609 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. C6v–D5v. 610 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D3v.



2.2 Begriffe für das Eigene 

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Dem schließt Witzel noch eine Verteidigung der letzten Ölung an. Der Absatz ist eingebettet in den Kontext von lutherischer Anfechtung und altgläubiger Bestätigung. Das lateinische Adjektiv „catholice“ erinnert die Leser daran, dass sie die letzte Kommunion nicht nach lutherischem Brauch, sondern nach altem – gemeinem, christlichem – Brauch sub una specie, als wahrer Leib Christi und natürlich nach vorheriger Beichte empfangen sollen. So jedenfalls sieht es der altgläubige Autor. In diesem Zusammenhang bekommt der Begriff „katholisch“ einen kontroversen und distinktiven Klang. Anders als „gemeiner Christ“ sollte dieser sich aber nachhaltig durchsetzen. Damit grenzen sich die Altgläubigen von den Abtrünnigen und abgefallenen Ketzern ab, denen diese Universalität in der Gültigkeit und Dauer der Lehren und Glaubenspraktiken versagt bleibe. *** In den 1520er-Jahren sehen die Kontroverstheologen der verschiedenen Lager die Notwendigkeit, ihren christlichen Glauben näher zu definieren. Dieser ist nicht mehr nur allgemein, sondern spezifisch. Begriffe für das Andere und das Eigene sind damit integraler Bestandteil der Repräsentationskämpfe während der ersten beiden Reformationsjahrzehnte. Altgläubige Autoren verwenden für die Gegenseite Taxonomien, die sich an Personen, Praktiken und theologischen Referenzen orientieren. Die Begriffskonstruktionen erfolgen dabei nicht parallel oder jeweils isoliert, sondern in ständiger Interaktion und Bezugnahme auf die Selbstbezeichnungen der Evangelischen. Genauso verhält es sich bei der Entstehung von Bezeichnungen für das Eigene, das als Konsequenz der Anfechtungen ebenfalls näher umrissen werden muss. Dabei werden nicht nur klassische Begrifflichkeiten der christlichen Sprachkultur weiterentwickelt und distinktiv aktualisiert, sondern auch Fremdbezeichnungen abgewehrt, nuanciert oder widerlegt. Dabei haben die Worte noch keine feststehende Konnotation oder Bedeutung, die allgemein geteilt wird oder auch nur in einem Lager allgemeine Akzeptanz findet. Vielmehr erhalten die Begrifflichkeiten ihre Bedeutung vielfach nur im Moment ihrer kontroversen Verwendung. Der „gemeine Christ“ ist nur dann distinktiv, wenn er sich vom Ketzer abgrenzt. Zwischen dem Alten Reich und Frankreich haben sich Unterschiede in der Intensität der taxonomischen Auseinandersetzungen gezeigt, die an die unterschiedliche Verbreitung und Sichtbarkeit der Flugschriften gebunden sind. Dennoch wird der gegen Ende des 16. Jahrhunderts zentrale Begriff der „Katholiken“ in Frankreich früher als distinktiver Eigenbegriff der Altgläubigen verwendet als im Alten Reich, wo eher von der „allgemeinen Kirche“ und „gemeinen Christen“ die Rede ist. Begriffe repräsentieren damit auf flexible und situative Weise tieferliegende Selbstverortungen in der Zeit und der Kultur. Diese werden im weiten Feld der Repräsentationen aber auch in Sprachbildern, Metaphern und Abbildungen ausgedrückt.

3 Darstellungen der Zugehörigkeiten Repräsentationskämpfe enden nicht bei den Begrifflichkeiten. Die Darstellungen der Anderen in den altgläubigen Flugschriften sind von einer bisher unterschätzten Vielgestaltigkeit: Metaphern, Vergleiche, historische und biblische Analogien sind ebenso vorhanden wie materiale Abbildungen, etwa Holzschnitte. Um diese vielfältigen Repräsentationsmöglichkeiten geht es im folgenden Kapitel. Ich untersuche die polemischen Bilder, die über Luther, andere Reformatoren, den protestantischen gemeinen Mann, die evangelische Bewegung sowie deren Folgen für die gesellschaftliche Ordnung und das corpus christianum in den altgläubigen Flugschriften entwickelt werden. Zudem analysiere ich die altgläubigen Selbstbilder. Diese Repräsentationen sind für die soziale Interaktion von größter Relevanz, denn das Bild, das man von seinem Gegenüber im Kopf hat, beeinflusst auch das Verhalten, das man dem Anderen gegenüber an den Tag legt. Die Repräsentationen sind so zahlreich und verschieden wie die altgläubigen Flugschriften. In diesem Kapitel geht es darum, exemplarisch die wichtigsten Darstellungen herauszugreifen und zu analysieren und dabei auch auf regionale und chronologische Unterschiede zu achten. Ich beginne mit den altgläubigen Repräsentationen des protestantischen Anderen und analysiere daraufhin die altgläubigen Selbstdarstellungen.

3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen Der Inhalt, die Form, die kulturellen Bedeutungen sowie Funktionen der Repräsentationen des evangelischen Anderen sollen in der Folge analysiert werden. Dabei implizieren die Bilder und Vorstellungen, die in der altgläubigen Textkultur entstehen, auch die Schlüssel und Schablonen der altgläubigen Autoren zur Einordnung der Gegenseite.611 Die Konstruktion des Anderen sagt oftmals mehr über die Konstruierenden aus als über die Konstruierten. Ich beginne mit den altgläubigen Lutherrepräsentationen, um daraufhin schlaglichtartig weitere bedeutende Reformatoren sowie die protestantischen Religionsgemeinschaften und den Gemeinen Mann zu analysieren. Anschließend untersuche ich die altgläubige Einordnung der „neuen Ketzer“ in die Zeit.

611 Vgl. allgemein Müller, Daniela: Our Image of „Others“ and Our Own Identity. In: Iconoclasm and Iconoclash. Struggle for Religious Identity. Second Conference of Church Historians Utrecht. Hrsg. Von Willem J. van Asselt. Leiden 2007 (Jewish and Christian Perspectives 14). S. 107–123. DOI 10.1515/9783110492460-005



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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3.1.1 Lutherbilder: Mönch, Monster und Revolutionär Während die Evangelischen Martin Luther auf gedruckten Bildern um 1520 als Mönch mit Doktorhut und Bibel darstellen, ihn wenig später als guten Hirten, neuen Evangelisten und mitunter als eine Art Heiligen repräsentieren,612 entwickeln sich im altgläubigen Lager – in Abgrenzung und Bezug dazu – ebenso vielfältige Lutherrepräsentationen, die allerdings viel mehr auf der schriftlichen als auf der visuellen Kommunikationsbasis beruhen. Fast keine altgläubige Flugschrift kommt ohne Seitenhieb auf den Wittenberger Augustiner aus, egal aus welchem zeitlichen, geographischen oder thematischen Zusammenhang sie stammt. Auch in Frankreich wird Luther auf verschiedene Arten dargestellt, jedoch ausschließlich schriftlich. Die antilutherischen Autoren im Alten Reich beginnen mit herablassenden Narrativen über die Person des zunehmend populären und bekannten Reformators. Besonders die Repräsentationen als Mönch sind bis mindestens 1525 gängig und beziehen sich im Deutungskampf fraglos auf evangelische Darstellungen des Reformators im Mönchskostüm. Dabei werden Erstaunen über die Wirkmächtigkeit des Mönchs mit Geringschätzung und Ironie verbunden. Johannes Eck wundert sich 1520 in seiner Entschuldigung, wie ein einziger kleiner Mönch es wagen könne, die Entscheidungen des Konstanzer Konzils anzuzweifeln.613 Cochlaeus fragt in seiner 1522 veröffentlichten Glosse und Kommentar, ob man jemals schon derartige Aufruhr und Unzucht von einem Bettelmönch gehört habe.614 Cochlaeus beschreibt es als eine Schande, dass sich eine Bettelkutte gegen alle ehrbaren und gesetzestreuen Päpste, Kaiser und Könige derart aufblase.615 Die Handlungen und Schriften des Bettelmönchs aus Wittenberg werden als vermessen und geradezu peinlich verurteilt.616 Doch Luther wird von den Altgläubigen auf dieser Deutungsebene auch gezielter Kritik unterworfen. Hieronymus Emser etwa beschreibt 1523 Luther als verfluchten Mönch, der mit seiner Ketzerlehre die Geistlichen in den weltlichen Stand und zum Verlassen der Klöster treibe.617 Manche altgläubigen Autoren, v. a. Säkularkleriker, streuen sogar Antimonachismus in ihre Texte. So verfährt beispielsweise Hieronymus Emser in seiner Entgegnung

612 Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 16–36. 613 Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 15. 614 Cochlaeus, Johannes: Glosse und Kommentar auf 154 Artikel, gezogen aus einem Sermon Dr. Martin Luthers. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 389–416, hier S. 389. 615 Cochlaeus, Glosse und Kommentar (wie Anm. 614), S. 392. 616 Gezielt werden derartige Bilder des anmaßenden Mönchleins auch später noch eingesetzt, zum Beispiel bei Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 630, in der die Stadt Rom prophezeit, dass Luther, ein armer elender Bettelmönch ja wohl nicht die Heilige Stadt am Tiber überwinden werde. 617 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 476.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

auf Luthers Adelsschrift. Luther verweist darin auf die sehr große Anzahl an Teufeln in Rom. Emser antwortet darauf, dass dies nicht verwunderlich sei, da in Rom eben viele Menschen lebten, darunter auch Juden und Türken. Er fährt fort: „Aber wan ich nicht auß eim alten sprichwort gehort het, das, was der teuffel sust durch nymant außrichten kan, durch ein monch tzu wegen bringt, wer mirs unglaublich gewest, das er durch ein solichen armen elenden monch solich ungeschickt ding vorwenden und anhang gewynnen solt.“618 Emser schafft eine Analogie, durch die Luthers Vorwürfe auf diesen selbst zurückfallen. Der Teufel wird dabei geschickt auf Luther umgemünzt, der mit dem Dämon im Bund stehen müsse. Der Teufel ist die Erklärung für den Erfolg des kleinen Mönchs, der sich bei den Absatzzahlen der Flugschriften 1520 und bei der triumphalen Reise nach Worms 1521 manifestiert. Etwa zur selben Zeit schreibt Johannes Eck in der Entschuldigung zur Erklärung von Luthers kritischer Haltung gegenüber den traditionellen Fastengeboten: „Es bleyb auch yetzt, das er die christenlichen messigkeyt vorschlecht und die fasten frey machen will und allerley speyß frey machen; das ist ein closterman, der will den sack auffbinden den vollen brüdern.“619 Der Mönch Luther wird assoziiert mit dem durch die Reformation noch verschärften Stereotyp des müßiggängerischen und lasterhaften Klosterinsassen. Als solcher wolle Luther seinen Mitbrüdern ihr gesättigtes Leben nur noch erleichtern, indem er das Fastengebot entschärft. Ähnlich kommt diese Repräsentation auch in der reformatorischen Bildpropaganda vor, allerdings bezogen auf altgläubige Mönche.620 Letztlich bleiben solche Anspielungen jedoch selten und verschwinden nach Luthers gezielten Angriffen auf das Mönchtum und die Gelübde im Traktat De votis monasticis, das er Anfang 1522 veröffentlicht. Entsprechende Assoziationen werden weitestgehend überführt in die Darstellung des angeblich sanft lebenden Martin Luther. Eine populäre und weit verbreitete Beschreibung Luthers besteht in der Verbindung des Reformators mit dem Teufel.621 Bereits im Dezember 1520 schreibt der Straßburger Franziskaner Thomas Murner, dass aus Luther der Teufel spreche.622 Johannes Cochlaeus bezeichnet den Wittenberger in verschiedenen Flugschriften wahlweise als teuflischen Blindenführer623 oder als „verkert heutig teüffel“, der listig

618 Emser, Wider das Buch an den Adel (wie Anm. 400), S. 252 f. 619 Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 12. 620 Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 44–48. 621 Auch Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 231, hat bei seiner – allerdings sehr knappen – Analyse der frühen altgläubigen Lutherrepräsentationen die gängige Verbindung des Reformators mit dem Teufel festgestellt. 622 Murner, An den Adel (wie Anm. 592), S. 208. 623 „O, du tüflischer blindenfürer, wie lang wiltu Got lestern, den glauben schmehen (zuvoruß Tütschland) betriegen? Hastu ein ederlin eins mänlichen mans in dir, so kum mit mir für die gelerten, von diesen dingen zu disputieren, leib und leben will ich gern wagen, tütscher nation zu gut, daz dein butschu uff ein end kum, nit durch schreiben und büchlin, sunder durch red und widerred.“ Cochlaeus, Glosse und Kommentar (wie Anm. 614), S. 398.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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die Freiheit der Christen mit der Freiheit des Antichristen vertausche.624 Das Bild vom Bündnispartner, Instrument und Vollstrecker des Teufels wird zu einer der häufigsten Repräsentationen Luthers in der altgläubigen Textkultur. Dabei schrecken Autoren wie Hieronymus Emser nicht vor Spitzfindigkeiten zurück. Emser weist in Wider den falsch genannten Ecclesiasten von 1523 auf die auffällige Namensähnlichkeit zwischen Luther und Lucifer hin.625 Luther ist hier nicht nur der Vollstrecker des Teufels, sondern dessen Entsprechung. Einen eindrucksvollen Beleg für die Verstetigung dieser Rhetorik und Bildersprache liefert die 1535 von Petrus Sylvius in Leipzig veröffentlichte Flugschrift Von Luthers und Luzifers einträchtiger Vereinigung. 22 Punkte führt der Autor darin auf, in denen der Wittenberger Reformator und der Teufel sowie deren Kirchen miteinander konform gingen.626 Diese Parallelisierung und Symbiose von Luther und dem Dämon wird in einem Bild auf dem Titelblatt aufgegriffen. Visualisierungen sind in der altgläubigen Flugschriftenkultur des Alten Reichs, verglichen mit der evangelischen Seite, in jenen Jahren sehr selten. Wird ein bestimmtes Motiv dennoch visualisiert, lässt dies auf seine Verbreitung und Präsenz in den altgläubigen Gemeinschaften schließen, deren kulturelles Wissen in den Flugschriften aufgegriffen und vertieft wird. Punkt für Punkt wird in der Sylvius-Flugschrift die Geschichte Luzifers, dessen Handeln, dessen Lehre und Charakterisierung aufgezählt, die dann anhand der jeweils selben Kategorien mit Luther verglichen werden. Danach stellt Sylvius die lutherische-luziferische Kirche der wahren, alten und apostolischen Kirche gegenüber. Die Abbildung interagiert dabei mit dem Textinhalt und verstärkt sich mit diesem wechselseitig. Dargestellt (Abb. 1) sind Luther und ein Teufel, die sich die Hand geben und einen Pakt schließen. Während Luzifer wie zum Schwur die rechte Hand hebt, lässt Luther seine Linke auf einem Buch ruhen, wahrscheinlich der Bibel. Damit wird aber nicht nur der Abschluss des Teufelspakts verdeutlicht, sondern auch eine gängige Kritik an Luthers Interpretation der Heiligen Schrift aufgegriffen. Dessen Auslegung sei diabolisch inspiriert, eine Aussage, die durch den kleinen Teufel verstärkt wird, der Luther ins rechte Ohr flüstert. Die Abbildung Luthers mit Doktorhut, Bibel und in

624 Cochlaeus, Johannes: Ein Spiegel der evangelischen Freiheit. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 582–597, hier S. 583. 625 Nachdem er Luther vorgeworfen hat, dieser wolle sich über Papst und Kirchenhierarchie stellen und sich deren Macht anmaßen, führt er aus, dass nicht nur das Vorhaben, sondern auch das Ende von Luther und Luzifer gleich sein würden. Denn bei beiden stimmen die Buchstaben am Anfang und Ende überein. Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 472. Darauf spielt Emser nochmal kurz an in der Flugschrift Grund und Ursach (wie Anm. 556), S. 525. 626 Sylvius, Petrus: Luthers und Lutzbers // eintrechtige vereinigung/ so in xxii // eygenschafften sindt allenthalben gleychförmig verfüget. Leipzig: Michael Blum 1535. VD16 P 1310. Ähnlich bei Cochlaeus, Spiegel der evangelischen Freiheit (wie Anm. 624), S. 585. Dort heißt es, wer dem Teufel nahesteht und gegen die Kirche Christi kämpft, ist ein Gegner Gottes. Der Autor unterstreicht, dass ein lutherisch-freier Christ dem Teufel nicht ungleich sei, der im Himmel seinen Stuhl über Gott erheben wollte und deshalb aus dem Himmel geworfen wurde.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

einer Nische greift auf frühere evangelische Darstellungsformen zurück, die Luther ebenfalls mit Bibel, Doktorhut und Heiligem Geist als Sinnbild der Inspirationsquelle für seine Lehre repräsentieren.627 Die altgläubige Darstellung greift also nicht nur Deutungsweisen aus dem eigenen Lager auf, sondern visualisiert diese auch in Bezug zu den lutherischen Bildsprachen.

Abb. 1: „Luther und Luzifer“, Holzschnitt in der Flugschrift „Von Luthers und Luzifers einträchtiger Vereinigung“ (1535) von Petrus Sylvius. Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Polem. 2890, Titelblatt.

627 Vgl. auch Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 14–20, 231 f.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Auch in Frankreich finden sich in der altgläubigen Flugschriftenliteratur diabolische Repräsentationen des Mönchs aus Wittenberg.628 Sie werden etwa von Jérôme de Hangest in seiner 1537 erschienenen Schrift En controversie voie sûre verwendet. Darin riskiert eine Gruppe von verrückten Leichtsinnigen („folz adventuriers“) aus der lutherischen Bande („maleureuse bende Lutheriane“) ihr Seelenheil, indem sie nicht dem geraden Weg der Kirche folgt.629 Hangest beschreibt Luther als Anführer einer Soldaten- und Musikertruppe, deren Kapitän der deutsche Reformator sei. Luther tritt als Leiter einer Kompanie auf sowie als Leutnant des Fürsten Satan. In diesen Funktionen ist es Luthers Aufgabe, mit List und Trug Abenteurer für seine Bande zu rekrutieren. Dafür lässt er das Tamburin der fleischlichen Freiheit schlagen, hisst die Fahne der Lust und spielt die Trompete des trügerischen Scheins. Damit gelingt es ihm tatsächlich, Anhänger für seine Sekte anzulocken, die für sittenlose Freiheit steht.630 Allgemein ist der Vorwurf der Fleischlichkeit, der Sinnlichkeit und moralischen Lasterhaftigkeit an die Ketzer ein gängiges altgläubiges Argument. Denis Crouzet hat den Grund für die Gewalt der Katholiken gegen Hugenotten während der französischen Religionskriege in einer psychologischen Übersprunghandlung gesehen: Die Sündhaftigkeit, die jeder Gläubige in sich selbst spüre, sei auf die gemarterten Protestanten übertragen und mit diesen stellvertretend getötet worden.631 Wie schon bei den Begriffen, so streiten sich die Lager auch bei den Repräsentationen nicht nur um verschiedene Darstellungen einer Person, eines Ereignisses oder einer theologischen Frage, sondern ebenso um verschiedene Verwendungsarten ein und derselben Darstellung. Parallel zum Gruppenbegriff Evangelische bezeichnet sich Luther gelegentlich selbst als Evangelisten, Ecclesiasten und Propheten. Dem widersprechen altgläubige Autoren wie Hieronymus Emser, der diesen Bildern eine Gegendarstellung widmet. Nach einer Kompilation von Zitaten aus Luthers neuesten Schriften kommt Emser zu folgendem Schluss: Auß wolchem gut tzu vormercken, das er keyn rechter ecclesiastes noch prophet, sonder deren eyner, von wolchen Christus spricht: Hut euch vor den falschen propheten, die tzu euch komen

628 Die Analogie zwischen den Zielen Luthers und Luzifers findet Verwendung u. a. bei Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 51v–52r. 629 Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. A1v–A2r. 630 „Certe pour a sa malheureuse bende plusieurs adventuriers tirer, a de grande astuce & cauteleuse invention usé le capitaine Luther, lieutenant du prince Satan, car le tabourin de liberté sensuelle a faict treshaultement sonner, de volupté la baniere apertement a deployé & a faict doulcement resoner la trompette de deceptive palliation, avec aultres clarons consonantz aux particulieres affections de plusieurs qui en ladicte bende se sont iectez, aliez & confederez, appetans voluptes & liberté de vivre a leurs sensueulz plaisirs que concede ladicte secte, plus que epicurienne.“ Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. A2v–A3r. 631 Crouzet, Denis: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525– vers 1610), Bd. 1. Seyssel 1990. S. 240–262. Ferner Sypher, Image of Protestantism (wie Anm. 367), S. 69 f.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

in scheffin kleidern Mathei VII, dartzu nit Christi, sonder des tewfels ewangelist und apostel sein muß, dann die heiligen ewangelisten und tzwolffboten Christi haben uns nit gelort soliche vorletzung der majestat und oberkeiten.632

Emser heftet seinem Wittenberger Feind das Etikett des falschen Propheten an, das zu einem häufig wiederkehrenden Bild in der altgläubigen Textkultur wird. Zugleich gilt Luther als neuer Evangelist und Apostel auf Seiten des Teufels, was Emser anhand der Diskrepanz zwischen den politischen und gesellschaftlichen Normen der historischen Figuren und jenen Luthers zu belegen versucht. Die Evangelisten und die Apostel hätten z. B., anders als Luther, niemals Ungehorsam und Widerstand gegen Kaiser und Obrigkeiten gelehrt. Johann Fabri, der Humanist und Wiener Koadjutor, greift Luther zu Beginn seiner eigentlich gegen Zwingli im Kontext der Badener Disputation gerichteten Christlichen Beweisung auf eine ähnliche Weise an. Dabei bedient sich Fabri der neutestamentarischen Metaphorik, um den Wittenberger als falschen, verführerischen und endzeitlichen Propheten anzuprangern. Er verweist gleich eingangs auf eine Stelle des Matthäusevangeliums, in der Jesus vor falschen Heilsbringern warnt, die unter seinem Namen auftreten würden (Mt 24,5). Weiterhin greift er auf die Warnung vor Irrlehrern zurück, die eine große Anhängerschaft gewinnen und den Weg der Wahrheit in Verruf bringen, aber rasch ins Verderben stürzen (2 Petr 2,1). Weiterhin verweist Fabri auf den ersten Brief des Johannes mit dem Rat, wegen der vielen falschen Propheten die Geister zu prüfen, ob sie von Gott kommen (1 Joh 4,1). Nicht zuletzt führt er die Paulusbriefe an. Fabri weist auf den zweiten Brief an Timotheus hin, in dem Paulus vor dem ungehorsamen und nur zum Schein frommen Menschenschlag der Endzeit warnt (2 Tim 3, 1–5). Aus dem zweiten Brief an die Korinther bezieht er das Bild der Lügenapostel, die sich als wahre Apostel ausgeben, so wie Satan sich als Engel des Lichts tarnt (2 Kor 11, 13–15). Diese Darstellungen bezieht der Autor allesamt auf Martin Luther. Dieser habe unter dem Schein des Evangeliums Sekten und Spaltungen in den Glauben eingeführt und viele Nachfolger damit gewonnen. Er predige, was dem Volk gefällt – doch man erkenne den Baum an seinen Früchten. Und die seien bei Luther eindeutig: Er habe die deutsche Nation von Frieden, Einigkeit und alter Frömmigkeit abgebracht. Deshalb stellt Fabri den Lesern und Hörern der Flugschrift die rhetorische Frage, ob nicht Satan aus dem abtrünnigen Mönch spreche. Schließlich habe er doch die Bauernkriege provoziert und führe den Türken nach Deutschland.633 Häufig im Gebrauch und besonders nach den Bauernkriegen in ihrer Wirkung sehr effizient sind darüber hinaus sozialrevolutionäre Metaphern für den Wittenberger Mönch. Besonders häufig wird er als Erwecker oder Anführer des Bundschuhs

632 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 457 f. 633 Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 265 f. Exemplarisch wurden hier die einleitenden Seiten besprochen.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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repräsentiert. An dieser Stelle sollen entsprechende Repräsentationen explizit für Luther untersucht werden, während sozialrevolutionäre Attribute für den evangelischen gemeinen Mann später analysiert werden.634 Im Großen lutherischen Narren, einer mit zahlreichen Holzschnitten versehenen Flugschrift in Versform, erzählt der Autor Thomas Murner, wie sich, aufgehetzt von der neuen Lehre, ein Religion und Gesellschaft umstürzender Bundschuh bildet. Dieser setzt sich zusammen aus Söldnern und den Narren, die Murner  – selbstironisch als Kater „Murnarr“ in Mönchskutte abgebildet – aus dem großen lutherischen Narren herausbeschwört. Der Hauptmann des Bundschuhs ist Martin Luther, dem die aufrührerische Sache liege und der nach seinem Klosteraustritt Zeit habe.635 Der Reformator wird in Rüstung, bewaffnet mit Schwert und Axt repräsentiert: Ein gewalttätiger Mann, umgeben von aufrührerischen, verführerischen evangelischen Narren und Söldnern. Die Tonsur weist auf die 1522 in der altgläubigen Text- und Bildkultur noch gängige Mönchsdarstellung Luthers hin. Zudem impliziert die Darstellung eines Klerikers, der zu den Waffen greift anstatt zu beten, die Idee der verkehrten Welt. Die Szene des darauffolgenden Schwurs, den der neu gewählte Hauptmann seinem Bund abnimmt, zeigt Luther und seine mit Streitäxten bewaffneten Mitstreiter. Diese erheben die Hand zum Schwur. Die Abbildung dürfte bei den altgläubigen Betrachtern die in der Textkultur verbreitete Darstellung Luthers als eidbrüchigen Menschen evoziert haben, der nun einen neuen Eid entgegennimmt – den des Aufruhrs und der Gewalt. In der dritten Darstellung aus diesem Abschnitt des Textes ist Luther erneut mit Rüstung und Tonsur als kriegerisch-revolutionärer Mönch abgebildet. Um dem Volk seinen Bundschuh schmackhaft zu machen, muss er diesen später mit allerlei religiösen und sozialen Polemiken beschmieren.636 Er sitzt dabei, tonsuriert und gerüstet, auf einem Schemel am Feuer, wo er seinen Bundschuh in der Art eines Schmieds bearbeitet. Bekanntermaßen sehen sich viele altgläubige Autoren mit den Bauernkriegen in ihren Warnungen und Ängsten vollauf bestätigt. Das führt zu einer merklichen Fokussierung der Lutherrepräsentationen auf die Gewaltbereitschaft, die vor allem in der Zeit direkt nach den Aufständen intensiv diskutiert wird. Erneut prescht hier der Dresdner Hieronymus Emser mit zwei 1525 publizierten Flugschriften vor. In Der Bock tritt frei auf diesen Plan weist er Luther die Schuld an den Aufständen zu.637 Die Metapher des „Bocks“ verwendet Emser für sich selbst, obwohl sie ihm ursprünglich von Luther während ihrer seit 1519 währenden Auseinandersetzung gegeben wurde.

634 Vgl. Kap. I. 3.1.3. 635 Murner, Vom Lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 178 f. 636 Murner, Vom Lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 214–219. 637 Emser, Hieronymus: Der bock trith frey // auff disen plan // Hat wyder Ehren nye gethan // Wie sehr sie yn gescholden han/ // Was aber Luther fuer ein man // Vnd wilch ein spil er gfangen an // Vnd nun den mantel wenden kan // Nach dem der wind thut eynher ghan // Findstu in disem buechlin stan. [Dresden: Emserpresse] 1525. VD16 E 1102.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Nun tritt der Bock Emser also ungeschützt und  – anders als der waffenstarrende Luther – unbewaffnet auf eine freie Fläche zur direkten Auseinandersetzung. Obwohl der Reformator nun dem Teufel die Schuld für die Bauernkriege gibt und so versucht, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wäre es ohne dessen Bücher gar nicht erst so weit gekommen, schreibt Emser. Vielmehr habe Luther selbst zum Aufruhr angestachelt. Emser appelliert an die Fürsten, den alten Glauben und die Gesellschaftsordnung konsequenter zu schützen. Luther solle ebenso wie der Prediger und Bauernführer Thomas Müntzer hingerichtet werden. Emser schließt mit einer Deutung der Aufstände als Strafe Gottes für die Missstände in der Welt. Der Umstand, dass im selben Jahr noch zwei Nachdrucke des Textes in Augsburg und Landshut erscheinen, deutet auf einen Verkaufserfolg hin.638 In der Flugschrift ist auf der ersten Seite bei einer Ausgabe zusätzlich eine Darstellung Luthers abgedruckt (Abb. 2).639 Im Text der Flugschrift werden die Leser und Zuhörer gleich zu Beginn aufgefordert: „Hört zu ir Tewtschen, und schawt an // Das ist Luther, der fromme man.“640 Die Schrift Emsers ist damit auf zwei Rezeptionswege hin angelegt: das Zuhören und das Ansehen. Orale und visuelle Kommunikation werden bewusst und der Zahl der Nachdrucke nach zu urteilen offenbar erfolgreich verknüpft. Die in der Forschung weitgehend unbekannte Lutherrepräsentation zeigt den Reformator mit Tonsur und schwarzer Mönchskutte, dem Ordensgewand der Augustiner.641 Die Attribute des Regularklerus werden durch die militärischen Symbole des Schwerts und der Reiterstiefel konterkariert, die Luthers enge, ja kausale Verbindung mit den Bauernunruhen versinnbildlichen. Der Griff der Bauern zum Schwert wird im Text explizit erwähnt642 und dann visuell auf Luther, den eigentlichen Träger des Schwerts der Revolution, übertragen. Der Reformator wird somit

638 In Landshut erschien die Schrift bei Johann Weißenburger (VD16 E 1103) und in Augsburg bei Philipp Ulhart (VD16 E 1100 und 1101). 639 Das Bild findet sich nur in der Dresdner Ausgabe aus der Emserpresse (VD16 E 1102). Robert Scribner kennt kennt die Abbildung nicht. 640 Emser, Der Bock (wie Anm. 637), Bl. A2r. 641 Der schwarze Mönch taucht immer wieder in der altgläubigen Literatur auf. Johannes Felbaum greift auf diese Darstellung zurück in seiner 1524 erschienenen Dialogschrift zwischen dem Wurstbub – einem Jungen, der etwas wirr lutherische Gedanken von sich gibt – und dem Altvater, der den Jungen widerlegt, sowie einem evangelischen Mönch. Der Junge sucht den alten Mann auf, um ihn um Rat zu fragen: „Ein münch in eim schwartzen kleit, // der hat geworffen weit und breit // ein somen, da von Christus spricht, // im ewangelio Luce, bin ich bericht. Der gett schier uff in allen hertzen. // Vatter, daz klag ich dier mit schmertzen.“ Felbaum, Sebastian: Eine nützliche Rede, Frage und Antwort von drei Personen in lutherischen Sachen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 817–836, hier S. 818. Neben dem Augustinerbezug, den die Herausgeber der Flugschrift annehmen, könnte die Farbe schwarz, wie auch in der visuellen Reformationspropaganda, als Antipode zum hellen Licht des Evangeliums und der Erlösung in der Papstkirche verwendet werden. 642 Emser, Der Bock (wie Anm. 637), Bl. A2v.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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zum kriegerischen Mönch. Luther hat sich zudem das Kollar, den weißen Kragen der Priester, abgenommen. Dies könnte mit der im Text herausgestellten Eidvergessenheit Luthers korrelieren,643 aber auch bereits eine Anspielung auf die im Text jedoch nicht erwähnte Heirat Luthers mit Katharina von Bora im Juni 1525 sein. Der WendehalsCharakter, der Luther in der Flugschrift unterstellt wird, sowie die schon zuvor gängigen Beschreibungen des Reformators als Verschleierer und Betrüger werden versinnbildlicht durch den falschen Bart sowie das schwarze rechte Auge. Dieses bezieht sich womöglich auf das glimpfliche Davonkommen Luthers, im Vergleich etwa zu Müntzer, und somit auf das sprichwörtliche blaue Auge. Der kleine Teufel auf Luthers Schultern zeigt diesen als vom Dämon inspiriert. Luther steht in einem befestigten Turm, was sein von Emser angeprangertes Wechseln auf die Seite der Mächtigen und der Obrigkeit ebenso unterstreicht sowie Luthers Rückzug vor der Verantwortung für seine Reden, gleichsam wie 1521 als Junker Jörg auf der Wartburg.644

643 Emser, Der Bock (wie Anm. 637), Bl. A3r. 644 In einer weiteren Flugschrift aus demselben Jahr weist Emser die Schuld für die Aufstände, die Luther der Messe und v. a. der Stillmesse gegeben habe, zurück. Vielmehr habe der Wittenberger in seinen Schriften gegen die ständische Ordnung und die Obrigkeiten gehetzt. Bereits im Wormser Edikt sei auf die Gefahr des Aufruhrs und der Spaltung hingewiesen worden. Nun sind Dörfer, Städte, Schlösser und Kirchen zerstört, viele Witwen und Weisen zeugen von den langfristigen Folgen der evangelischen Lehre. Wenn die Toten der Bauernkriege wieder auferstehen würden, gäben sie Luther die Schuld. Sie würden Rache schreien gegen den Reformator und die, die ihn und seine Ketzerei zu lange verteidigt und sogar gefördert haben. Emser, Hieronymus: Auff Luthers // grewel wider die heiligen Still=//meß. // Antwort. // Item wie/ wo/ vnd mit wol//chen wortten Luther yhn seyn // buechern tzur auffrur er=//mandt/ geschriben // vnd getriben // hat. [Dresden] 1525. VD16 E 1088. Bl. A2r–B1r. Emser zitiert aus Luthers Flugschriften, um dessen zentrale Schuld an den Aufständen zu beweisen. Gegen Ende resümmiert der Dresdner Hofkaplan, dass es nicht die Papisten, sondern Luther sei, der bei der Interpretation der Bauernkriege lüge. Luther sei ein falscher falscher Prophet und dreister Lügner. Vgl. Emser, Auf Luthers Greuel (wie Anm. 644), Bl. D4r–E1r.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Abb. 2: „Martin Luther“, Holzschnitt in der Flugschrift „Der Bock tritt frei auf diesen Plan“ (1525) von Hieronymus Emser. Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Polem. 647#Beibd.6, Titelblatt, verso.

Auch Johannes Cochlaeus, der in explizitem Bezug auf Luthers Bauernkriegsschrift Wider die Rotten der Bauern schreibt, macht die zentrale Schuld für die Aufstände am Wittenberger Reformator fest. Die Evangelischen hätten dem Volk glauben gemacht, dass alle durch die Taufe frei und gleich seien. Da nun die Bauern aber geschlagen sind, wende sich Luther den Fürsten zu. Er wird somit als Verräter an der Sache der Bauern dargestellt. Martin Luther habe in der Bauernschrift die Seelen der Aufständischen dem Teufel übergeben und die Toten gelästert. Cochlaeus wirft Luther außerdem vor, sich über das Unglück zu freuen, denn als dieses am größten war, hat er gegen seinen Mönchseid und gegen die christliche Ordnung geheiratet. Die Obrigkeit hätte verhindern müssen, dass Luther dem Volk seine ketzerischen Freiheitsideen wie



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Läuse in den Pelz setzen konnte. Den Deutschen wären die Unruhen erspart geblieben, wenn der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise Luther nach dem Wormser Edikt in die Elbe oder samt seinen Büchern ins Feuer geworfen hätte.645 Diese altgläubige Repräsentationsstrategie dürfte wegen der Enttäuschung des gemeinen Mannes über Luther nach den Bauernkriegen durchaus realistisch gewesen sein. Der Magdeburger Dominikanerprior Johannes Mensing646 schreibt ironisch im Jahr 1526, als die Erinnerung an das Geschehene noch äußert lebendig und die Schäden noch sichtbar sind, dass es offensichtlich sei, wie evangelisch das Volk in Deutschland durch Luthers Lehre geworden ist. Luther wasche nun seine Hände im Blut der Bauern, eine Darstellung, die Luthers Verantwortung für die tausenden von Toten unterstreicht. Zwar habe es Luther nur nach dem Blut des Papstes, der Bischöfe, der Pfarrer und der Mönche gedürstet, aber Gottes Wege seien unergründlich. Die Kausalität zwischen dem gewalttätigen und dann verräterischen Wittenberger Reformator findet sich indes bestätigt.647 Entsprechend gröber und überzeichnender werden die altgläubigen Lutherrepräsentationen ab Mitte der 1520er-Jahre, einer Zeit verstärkter Vorstöße der Osmanen gegen Ungarn und die habsburgischen Erblande. 1526 bereiten die Türken der mittelalterlichen Stephanskrone in der Schlacht von Mohács den Garaus, 1529 belagern sie Wien. Die Deutschen im Südteil des Alten Reichs nehmen diese Entwicklungen als zunehmend reale „Türkengefahr“ wahr. Sowohl die Evangelischen als auch die Altgläubigen greifen diesen dieses mit diversen Ängsten besetzte Motiv auf und versuchen, es auf die jeweilige Gegenseite anzuwenden. Türkenschriften auf altgläubiger Seite stammen vorwiegend aus südlichen und südöstlichen Reichsteilen, die durch die Vorstöße der Osmanen am stärksten bedroht sind.648 Altgläubige Autoren

645 Auch Parallelen zwischen Luther und dem thüringischen Bauernführer Thomas Müntzer werden gezogen, durchaus zum Nachteil des Ersteren. Müntzer sei durch Luthers Bücher überhaupt erst zur Ketzerei angestiftet worden und während der Unruhen ein auf Thüringen begrenztes Phänomen gewesen. Luthers Schriften hingegen hätten deutschlandweit Unruhen geschürt. Cochlaeus, Antwort wider die Rotten der Bauern (wie Anm. 470), Bl. A2v–A3r, A4v–B2v, B3v, C2r. 646 Zur Person vgl. Pfnür, Vinzenz: Johannes Mensing († 1547). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 3. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1986 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 46). S. 48–64. 647 Mensing, Testament Christi (wie Anm. 581), S. 228. 648 Martin Hille hat in den altgläubigen Pamphleten und Predigten einerseits eine letzte Woge der Hoffnung in den 1530er- und frühen 1540er-Jahren ausgemacht, die jedoch von einer zum Ende des 16. Jahrhunderts dominierenden eschatologischen Deutung begleitet und grundiert war. Im Mittelpunkt steht vielfach die Erklärung der aktuellen Ereignisse. Hille, Providentia Die (wie Anm. 45), S. 289–304. Zur Religionsgeschichte Wiens in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts vgl. aktuell Roche, Clarisse: Wolfgang Schmeltzl à la recherche de la Vienne céleste (1548). In: Seizième Siècle 9 (2013). S. 107–120.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

stellen Luther dabei als Wegbereiter und Kollaborateur der Türken649 oder als deutschen Türken dar.650 Die Protestanten wiederum machen die „papistischen“ Missbräuche und die Uneinsichtigkeit der Altgläubigen für die erfolgreiche Expansion der Osmanen auf dem Balkan verantwortlich.651 Altgläubige Autoren bedienen sich, wie die Evangelischen, der Helligkeits- und Dunkelheitsmetapher, allerdings ohne diese in Bildern zu visualisieren. Dieses Farbspiel hat laut Robert Scribner eine apokalyptische Konnotation652 und wird u. a. von Paul Bachmann in einer an biblischen Metaphern reichen Schrift eingesetzt. Der Text ist eine Antwort auf zwei Schriften Luthers zum Augsburger Reichstag, nämlich die Vermahnung an die Augsburger Geistlichen sowie einen offenen Brief an Kardinal Albrecht von Brandenburg, in dem er für Frieden wirbt und vor einem drohenden Religionskrieg warnt. Bachmann beginnt seine Schrift mit einem Zitat Luthers, der mit Blick auf seine Theologie ankündigt, sie werde als Wahrheit ans Licht kommen.653 Bachman verwendet ebenfalls die Lichtmetapher und aktualisiert sie gemäß einer altgläubigen Metaphorik: Es ist war, volget aber nicht, alles was anß liecht kompt, ist die warhait. Arrii ketzerey und aller andern ist anß liecht kommen, aber nicht die warhait gewesen, derhalben vom liecht verzert und zunicht gemacht, dann anß liecht kommen, aigentlich zu reden, ist und nicht anders, dann am liecht besteen und vom liecht bewert werden, darumb und ob lugen, irrsall, ketzereyen anß liecht komme (wie dann nichts so heimlich ist, es würt offenbar, Luc. 8) so besteen sie aber am liecht nicht, sonder werden vom liecht gestraffet und getadelt, also würdt Luthers leere auch geschehen, es sey auff dyß oder ain ander mal.654

649 Dieser Deutung widmet Petrus Sylvius 1527 eine ganze Flugschrift. Vgl. Ein klare Beweisung (wie Anm. 412). Darin zeigt er fünf Wege auf, mit denen Luther v. a. indirekt die Türken fördere, da er die Christen schwäche. Deshalb sei Luther, schreibt Sylvius, kein Glied der göttlichen, christlichen und menschlichen Ordnung, sondern ein abtrünniger Ketzer und vermischter Antichrist. Vgl. ferner z. B. Fabri, Johann: Summarium. Unterricht, aus welchen christlichen Ursachen er bisher der lutherischen Lehre nicht anhängig gewesen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 168–215, hier S. 188. 650 Mensing, Johannes: Gründlicher Unterricht, was ein frommer Christ von der heiligen Kirche, von der Väter Lehre und von der heiligen Schrift halten soll. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 566–609, hier S. 569. 651 Die Schrift von Petrus Sylvius aus dem Jahr 1527 steht im Zusammenhang dieses Repräsentationskampfs aber auch offenbar zirkulierender Gerüchte, die der Autor aufgreift, dass der Papst beim Sacco di Roma durch den Kaiser verhaftet worden sei, da er ein Förderer der Türken war. Vgl. Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), S. 429, 446. 652 Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 56. Zu Farben und deren Symbolik in der Reformationszeit vgl. allgemeiner Pastoureau, Michel: La Réforme et la couleur. In: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 138 (1992). S. 323–342. 653 Bachmann, Paul: Antwort auf Luthers Sendbrief gen Augsburg. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530). Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1248–1258, hier S. 1249. 654 Bachmann, Antwort auf Luthers Sendbrief (wie Anm. 653), S. 1249.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Anders als bei den Reformatoren, bei denen Licht synonym ist und sinnbildlich steht für die Wahrheit und Christus und somit eine Art evangelisches Proprium wird, verwenden Altgläubige wie Paul Bachmann die Metapher oft in einem funktionalistischen Sinn. Denn Ketzerlehren wie die des Arius, der im 4. Jahrhundert Belege gegen die Göttlichkeit Jesu vorgebracht hat und auf dem Konzil von Nizäa 325 verurteilt wurde, könnten am Licht nicht bestehen und nur im Dunkeln erhalten bleiben. Das Licht hat in dieser Darstellung eine reinigende, Irrtümer aufzeigende und somit indirekt die christliche Wahrheit festigende Funktion. So werde es, glaubt Bachmann, Luthers Lehre auch ergehen – sei es nun auf dem Augsburger Reichstag oder später. Mit monsterhaften Darstellungen versuchen manche Autoren, die außergewöhnliche Gefährlichkeit des „Erzketzers“ Martin Luther zu symbolisieren. Ein Beispiel dafür ist Paul Bachmanns Erwiderung auf Luthers Angriff auf den Heiligenkult im Zuge der Erhebung Bennos von Meißen zum Heiligen im Herzogtum Sachsen im Jahr 1524.655 Bachmann, eigentlich ein feinsinniger und gebildeter Kleriker, unterlegt seine Gegenschrift mit harten Worten an den Reformator. Luther wird als wild geiferndes Eberschwein dargestellt, das im Weinberg des Herrn wühle und diesen dabei zerstöre. Den Kirchenschmuck hält Bachmann aber für nötig, um beim gemeinen Mann innere Andacht zu wecken. Dies sei ein christliches Ziel, von dem Luther seinen Schweinerüssel lassen solle. Luthers eigentliches Ziel sei nicht die finanzielle Entlastung des Volks von Ausgaben für religiöse Kulte, sondern die Abschaffung der Verehrung Gottes und der Heiligen.656 Ebenfalls in Zusammenhang mit der Heiligenerhebung Bennos 1524 veröffentlicht Augustin von Alveldt, Guardian des Hallenser Franziskanerkonvents, eine Flugschrift. Diese ist nicht nur wegen ihres Reichtums an Metaphern bemerkenswert, sondern auch, da Alveldt besonders detailliert die Vorstellung zweier Kirchen mit eigenen Kulturen, Referenzen und Normen ausarbeitet. Luther ist dabei Teil der Ketzerkirche, die sich immer wieder gegen die wahre Kirche Gottes erhebt. Alveldt münzt dabei die Beschreibung der Bestie aus der Offenbarung des Johannes (Offb 13) auf Luther um, der als das Tier mit den sieben Köpfen dargestellt wird. Auf den Köpfen, heißt es in der Bibelstelle, würden Namen mit Gotteslästerungen stehen. Die Menschen beten die Bestie an, die ermächtigt wird, Gott und alle, die im Himmel wohnen, zu lästern. Das Tier bekommt Macht über alle Völker und Nationen, die vor ihm niederfallen. Alveldt sieht darin eindeutige Analogien zu Luther, der so als endzeitliches Monster repräsentiert wird.657

655 Vgl. dazu Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 535). 656 „Sunder dein geyfferrussel stincket dir so fern, das menniglich richen magk, wy du meher suchest vertylgung gotlicher ehr und dinst seyner heyligen, den erhalttung armer lewth.“ Bachmann, Paul: Wider das wild geifernde Eberschwein Luther. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518– 1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. 740–755, hier S. 742. 657 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 25.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Das Bild des siebenköpfigen Luther greift Johannes Cochlaeus in einer lateinischen Schrift auf, dem Septiceps Lutherus, einem Text, der 1529 in drei Teilen auch auf Deutsch erscheint. Teil eins handelt vom Altarsakrament, Teil zwei von Acht hohen Sachen und Teil drei von Sieben hohen Sachen der christlichen Lehre. Die Flugschriften sind als kommentierte Zitatensammlung aus Luthers Texten zu den einzelnen Themenfeldern angelegt und sollen die Widersprüchlichkeit und mangelnde Lehrkonstanz des Reformators brandmarken. Auf dem Titelblatt der Flugschriften ist ein Holzschnitt von Hans Brosamer abgedruckt (Abb. 3).658 Dieser zeigt eine Riesenfigur, die ein an der Kukulle über den Schultern erkennbares Mönchsgewand trägt und ein Buch in den Händen hält. Dabei dürfte es sich um eine Bibel handeln, in der die sieben Köpfe des Wittenberger Reformators lesen. Jeder Kopf ist mit einem Schlagwort überschrieben. Die gesamte Gestalt bildet den „Martinus Luther Siebenkopff“. Cochlaeus erklärt in der Flugschrift gleich zu Beginn die Bedeutung der einzelnen Köpfe, die mögliche Zuhörer während des Vorlesens zu sehen bekommen. Von links nach rechts stellen die ersten beiden den Doktor, erkennbar am Doktorhut, und Martinus mit einer mönchischen Kopfbedeckung dar. Beide sind noch nicht allzu sehr von der Kirche abgewichen. Der dritte Kopf ist Luther mit einem Turban, was in der zeitgenössischen Ikonographie mit den Türken in Verbindung gebracht wird und somit auf verbreitete Repräsentationen des Wittenbergers als Verbündeten des Türken oder deutschen Türken zurückgreift. Kopf vier zeigt den selbsternannten Ecclesiasten, der das predige, was der Pöbel gerne hören will. Der fünfte Kopf zeigt den von Bienen umflogenen Schwärmer, ein von Luther selbst gegen den „radikalen“ Flügel der Reformation verwendetes Motiv. Kopf sechs wiederum, der im Text erst an siebter Stelle kommt, zeigt den Barrabas, der mit der Keule zuschlagen will. Scribner interpretiert diesen als die Figur des brutalen Wilden Manns. Der letzte Kopf zeigt den Visitator, der eine neue Ordnung nach der alten Weise errichten wolle. Damit bezieht sich Cochlaeus auf die Visitation im Kurfürstentum Sachsen und den Beginn des Aufbaus einer lutherischen Landeskirche.

658 Zum Kontext der Schrift und der Illustration vgl. den Kommentar der Herausgeber bei Cochlaeus, Sieben Köpfe vom Sakrament (wie Anm. 415), S. 1014 f.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Abb. 3: „Luther Siebenkopf“, Holzschnitt von Hans Brosamer auf der Titelseite der Flugschrift „Septiceps Lutherus“ (1529) von Johannes Cochlaeus. Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Polem. 647#Beibd.3, Titelblatt.

Die sieben Häupter resümieren die chronologische Entwicklung Luthers in altgläubiger Wahrnehmung, vom anfänglichen Kritiker der Missstände über den sich radikalisierenden Ketzer der Bauernkriege bis hin zum Visitator, den mit der Obrigkeit verbündeten Bürokraten. Jeder der Köpfe, heißt es in der Flugschrift, sei nicht nur gegen die Lehren der Kirche, sondern wolle auch selbst gegenüber den anderen Köpfen Recht behalten. Diese Uneinigkeit ist für Cochlaeus Evidenz genug, um Luther als wirren und, in Anklang an die Johannesoffenbarung, apokalyptisch-monströsen Irrlehrer zu repräsentieren. Robert Scribner hielt diese Darstellung für inneffizient, da sie zu spät gekommen sei, um lutherische Darstellungen des siebenköpfigen Papstmonsters zu verdrängen und sie den apokalyptischen Ansatz der Johannes­offenbarung

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

nicht voll entwickle.659 Ich schlage eine andere Interpretation vor, die sich auch von den Kategorien „Erfolg“ und „Misserfolg“ löst. Da sich die Schrift nicht an alle Gläubigen, sondern an die altgläubigen Religionsgemeinschaften richtet, greift sie eine ganze Reihe bekannter und etablierter Repräsentationsmuster auf und führt diese in einer chronologischen Perspektive zusammen bzw. spielt sie gegeneinander aus. Dem steht, in den Textkommentaren von Cochlaeus, die altgläubige Kultur und Lehre als stabiler, unveränderter und bewährter Grundsatz entgegen. Im Vergleich zu anderen altgläubigen Flugschriften, die auf eine Visualisierung in aller Regel verzichten, dürfte die Trilogie von Cochlaeus in besonderem Maße einprägsam und verständlich für die altgläubigen Rezipienten gewesen sein. Die mangelnde apokalyptische Komponente ist kein Zufall oder gar Versagen, sondern entspricht der auch in anderen Flugschriften geringen eschatologischen Stimmung im altgläubigen Lager.660 Mit diesen so eindringlichen wie abstoßenden Repräsentationen Luthers erreichen die altgläubigen Autoren zweierlei. Der beabsichtige Effekt dürfte die (Re-)Produktion eines klaren Lutherbilds in der altgläubigen Textkultur sein. Der Reformator wird als Person zum Differenzierungsfaktor. Zumindest im Alten Reich sind zweideutige Haltungen in Bezug auf Luther kaum aufrecht zu erhalten, zumal wenn man bedenkt, dass die Flugschriften ein Spiegel bereits existierender Vorstellungen sind. Damit erfährt Luther aber – das ist der wohl unbeabsichtigte Effekt – zugleich eine Überhöhung und beinahe Mystifizierung, die ihn zum teuflischen und monströsen Übermenschen macht. Zwar steht er in altgläubiger Wahrnehmung nicht ganz allein auf weitem Feld, da v. a. in Oberdeutschland und ab 1523/24 in der Eidgenossenschaft weitere „Komplizen“ auftauchen. Auch in der französischen Textkultur, in der Luther sehr präsent, aber bei weitem nicht so häufig und stark überzeichnet vorkommt, muss nuanciert werden. Im Alten Reich trägt die zahlenmäßige Stärke der mitteldeutschen Textproduktion auf altgläubiger Seite aber zur überproportionalen Verbreitung des entsprechenden Lutherbildes bei.

659 Cochlaeus, Sieben Köpfe vom Sakrament (wie Anm. 415), S. 989; Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 232–234. 660 Vgl. dazu Kap. I. 3.1.4. und 3.2.1. Allgemein Schilling, Johannes: Der liebe Jüngste Tag. Endzeiterwartung um 1500. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Manfred Jakubowski-Tiessen [u. a.]. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155). S. 15–26; Smolinsky, Heribert: Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 2000 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 20).



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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3.1.2 Das reformatorische Führungspersonal Wir haben gesehen, dass Luther aus altgläubiger Perspektive zum Namensgeber für eine ganze Religionskultur wurde. Er gilt als Urgrund der reformatorischen Veränderungen und aller „ketzerischen“ Lehren, die zu Umsturzversuchen führen und dem Teufel sowie den Türken in die Karten spielen. Indes taucht schon ab der Leipziger Disputation von 1519 mit Andreas Karlstadt eine weitere Persönlichkeit auf, die als erstes von Johannes Eck unter Häresieverdacht gestellt wird. Ab etwa 1522 finden sich neben Luther auch andere Führungsfiguren der „Ketzer“ in den volkssprachlichen Flugschriften wieder und werden durch ein weites Spektrum an Metaphern, Vergleichen und Sprachbildern repräsentiert. In der französischen Polemik ist die Zahl der anderen Darsteller einerseits reduzierter, aber ihre Bedeutung in der Relation zu Luther größer, was sich etwa in der Polemik gegen Marcourt nach der Plakataffäre von 1534/35 zeigt. In beiden Fällen ist es bemerkenswert, dass viele Repräsentationselemente Luthers auf andere Reformatoren übertragen werden. Im Folgenden werde ich nicht alle wichtigen Reformatoren in den altgläubigen Darstellungen detailliert herausarbeiten, sondern mich exemplarisch auf wiederkehrende Topoi zur Beschreibung der protestantischen Führungsspitzen beschränken. Allein auf Ulrich Zwingli werde ich wegen seiner Bedeutung im Südwesten des Alten Reichs gesondert eingehen. Eine der frühesten Darstellungen der Reformatoren um Luther ist zugleich eine der eindrücklichsten. Im Dezember 1522, so lautet ein Gerücht, kam es in der Nähe der sächsischen Stadt Freiberg zu einer Monstergeburt: Eine Kuh habe einen Zwitter geboren, halb Kalb, halb Mönch. Das Gerücht vom Mönchskalb verbreitet sich rasant und gerät in die Fugen der religiösen Polemik. Von Sachsen bis Basel entstehen Bilder, Texte und verschiedene Deutungsangebote des als göttliches Zeichen interpretierten Vorgangs. Außergewöhnlich detailliert geht Johannes Cochlaeus in der Schrift Vermahnung der Stadt Roms an Deutschland auf die Monstergeburt ein. Er verwendet diese, um Wittenberg als Zentrum der Häresie eingängig darzustellen.661 Die Missgeburt wird auf Martin Luther umgemünzt, der von der Kanzel blökt. Er wird als neuer Jan Hus – so wie die evangelische Bewegung insgesamt – in die Nähe der Hussiten gerückt. Um das Lutherkalb steht eine größere Gruppe von Humanisten und „Grammatikern“, die schon 1518/19 von Johannes Eck als Verantwortliche für die theologischen Verwerfungen ausgemacht worden sind.662 Darüber hinaus befinden sich bei

661 Cochlaeus beendet seine Schrift Ende März 1523, doch sie erscheint in deutscher Übersetzung von Johannes Dietenberger erst 1524, jedoch noch vor dem lateinischen Original, das im Februar 1525 publiziert wird. Vgl. den Kommentar der Herausgeber bei Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 639; Spahn, Martin: Johannes Cochläus. Ein Lebensbild aus der Zeit der Kirchenspaltung. Berlin 1898. Nr. 18, 29. 662 Vgl. Selge, Kurt-Victor: Das Autoritätengefüge der westlichen Christenheit im Lutherkonflikt 1517 bis 1521. In: HZ 223 (1976). S. 591–617, hier S. 601.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

dem Kalb eidbrüchige Mönche und betrunkene Bauern, die als zweiköpfige Ochsen beschrieben werden: halb lutherisch und halb christlich. Trotz oder gerade wegen der Verschiedenartigkeit der Zuhörer versteht es das Lutherkalb meisterhaft, die Umstehenden zu überzeugen.663 Unter diesen befinden sich Justus Jonas, Theologe und Propst der Wittenberger Schlosskirche, sowie andere Kanoniker und eine große Schar verheirateter Priester wie Andreas Karlstadt, den Cochlaeus detailliert beschreibt: Karlstadt habe ein hässliches und bartloses Gesicht mit tölpischen Augen, eingefallenen Backen und einer verrunzelten Stirn. Er sei „ein ertzdracken, ein alter kärlin, hart, blaich, kalt, ein alter theologus, aber gantz unstät und alweg beweglich, eben als das kalb jetzundt ein scolasticus, denn ein ecclesiasticus, jetzundt ein biblicus, denn ein Paulinus, jetzundt ein erasiner, denn ein lutterischer, alleweg wanckelmütig.“ Ferner sei er zänkisch, bäuerisch, anmaßend und neidisch. Dieser ersten Gruppe mit der zentralen Figur Karlstadt plärrt das Kalb verschiedene ketzerische Lehren zu.664 Bei dem Mönchskalb stehen außerdem die Studenten der Universität Wittenberg und deren Meister, Philipp Melanchthon. Dieser lehrt das Kalb die antiken Philosophen sowie die mittelalterlichen Theologen zu verachten. Er drängt, die Gebote der Kirche zu übertreten und ist verantwortlich für die Verbrennung der Bannbulle und des kanonischen Rechts. In der Wittenberger Kälberschule platziert Cochlaeus noch eine weitere Gruppe, die aus Junkern, Rittern, fürstlichen Amtleuten und Hofgesinde besteht. Darunter befindet sich der arme Spalatin, der in der Gruppe wegen seiner Aufschneiderei und seines kleinen Körperwuchses für größtes Aufsehen sorgt. Spalatin kommt in der Repräsentation eine Schlüsselrolle als Vertrauter des Kurfürsten Friedrich des Weisen zu. Er habe Friedrich so verblendet, dass dieser nun in seinem Land die hussitisch-lutherische Ketzerei wachsen lasse und sich von Gott abwende.665

663 „Do nichts christlichs, kein glaub, kein andacht, kein gotsdienst, kein burgerlich zucht, kein erbarkeit erfunden wirdt, man sihet und höret nichts do denn ein halb münchisch kalp, den Luther, welches die neüwen hussen mit grossen eren, als sie bedunckt, hören von dem pulpet oder predigstul abher plerren und bläen, nit anders denn wie etwan die Egyptier hörten iren abtgott Apim und Anubim. Sihe dises sachßisch halb münchisch kalp umbstan vil treflicher seines lybs verwarer mit namen etliche teütschen poeten, Greculi, Hebreoli, die geckischen oder greckischen unnd hebreischen wolschwätzische, auch vil meineydiger, verlauffner, abtrünniger von örden münch, die sachssischen bier zapffen, follen bauwern, die wilden zweyköppischen ochsen, halb lutherisch, halb, noch iren beduncken, christen, lutherisch indem sie ein frey stracks urlaub haben von irem wittenbergischen halbmunchischen kalp, kirchen und klöstern zu berauben, münch und pfaffen zu verjagen, das sie, wie die Böhemer, ire rent, gült und gut haben möchten, halb christen nach irem beduncken, daz sie dem kalpsgeplerr kein glauben geben als sie vermeint wider die heilige sacramenta, wider die heiligen concilia gemeiner christlicher kirchen, und als under disen zuhörern mancherley leüt, sinn und begird seind, also weiß diß halb munchisch kalp sie mit mancherley weiß, ler, radt und fürschlag meisterlichen zu überreden.“ Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 623. 664 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 623 f. 665 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 624–627.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Cochlaeus fährt dann mit der Beschreibung größerer und deshalb nicht personalisierter Gruppierung fort, die bei dem Kalb in die Schule gehen. Darunter sei das „ungeschickt volck der halbgelerten, der gestraifften leien, als schriber, advocaten, fürsprechen, schaffner, sampt andern, die in latinischen aber teütschen büchern leßen künnen, deßhalb sie sich beduncken etwas wyters wissen, denn der gemein leie.“666 Diese Personen, ein Abbild der Verwaltungselite, stehen unter dem Einfluss des Kalbs, das ihnen die Heilige Schrift ketzerisch auslege bzw. vorgebe, mit welchen Mitteln diese auszulegen sei. Cochlaeus schreitet die Gesellschaftspyramide dann weiter nach unten. Auch der ungelehrte Laie steht in der Nähe des lutherischen Kalbes, das listiger als alle Schlangen und Füchse das Volk durch den Freiheitsgedanken verführe und ihm vorspiele, es könne frei von religiösen Bräuchen und Pflichten und der sozialen Ordnungen sein. Schließlich stehen die schönen, aber schwachen Frauen um das Mönchskalb, das sie mit fröhlichen und liebevollen Augen anblicke, auf ihre roten Wangen schaue und mit Freuden ihre zarten Münder zähle.667 Cochlaeus beschreibt hier das gesamte lutherische Lager, wie es ihm im Jahr 1523 vor Augen steht. Während die reformatorischen Theologen als Luther zwar hörige, aber dennoch gebildete und sich ihrer Handlungen bewusste Unterstützer der evangelischen Bewegung gezeichnet werden, stehen die Laien mehr als Verführte denn als Täter da. Einzige Ausnahme ist Spalatin, der den sächsischen Kurfürsten beeinflusse und dadurch verhindere, dass die Obrigkeit der Ketzerei Einhalt gebietet. So können das Lutherkalb und dessen Propagandisten ihren Einfluss auf die Laien ungestört und effizient ausüben. Cochlaeus zeichnet das Bild eines ganzen Volks, das in alttestamentarischer Anlehnung um ein neues goldenes Kalb tanzt. Luther wird so zum Abgott, dessen Anhänger und Freunde Jonas, Karlstadt, Melanchthon und Spalatin zum neuen Aaron. Allgemein zielen Darstellungen der evangelischen Führungselite jedoch ab 1524/25 auf die Zersplitterung des reformatorischen Lagers und deren theologische Kontroversen. Die Binnendifferenzierung des entstehenden Protestantismus werten die antievangelischen Autoren als sicheres Zeichen dafür, dass Kultur und Theologie der Gegenseite falsch sind. Denn Wahrheit und Recht zeichnen sich in der Vormoderne durch Konstanz und lange Dauer aus. So prangern die Altgläubigen bei den Reformatoren, ähnlich wie bei Martin Luther, deren angebliche Selbstwidersprüche und Konfusion an. So schreibt Johannes Mensing 1528 in Gründliche Unterricht, einer Denkschrift über das Verhältnis von Kirche und Evangelium: Der heylige Gregorius (ynn Moralibus) saget gar feyn von diesen leuthen, es sey unmüglich, das die ketzere bleyben ynn der meynunge, darynne sie seynd, wan sie von der kirchen sich abreyssen, sondern fallen ymmer teglich ynn grössere yrthumb. Und weyl sie dürsten das ergiste, trennen sie sich selbst an viele teyl und durch zancke unter eynander sich verstören. Das ist

666 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 627. 667 Cochlaeus, Vermahnung Roms (wie Anm. 405), S. 627–629.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

heute also ware, das ich meyne, niemand bald müge zelen, wie viel heupter dise ketzerey wol hat, die doch wie die füchse Sansonis alle mit den schwentzen zusammen gepunden seind, alleyne die heupter seind von eynander.668

Mensing rekurriert auf Papst Gregor den Großen, der eine Typologie der Häresie entwickelt hat, der zufolge Ketzer früher oder später untereinander zerstritten sind. Für die selbsternannten Orthodoxen ist das letztlich selbstverständlich, da nur innerhalb der Papstkirche der Heilige Geist und durch diesen das kirchliche Lehramt die Wahrheit benennen und garantieren könne. Der zänkische Charakter, der den Ketzern zugeschrieben wird, richte sich früher oder später gegen sie selbst. Die daraus resultierende Binnendifferenzierung kommt im Bild der Vielköpfigkeit zum Ausdruck, mit dem auch Martin Luther repräsentiert wird. Die Fuchsmetapher ist eine Anlehnung an die alttestamentarische Figur des Samson, der 300 Füchse fing, je zwei an den Schwänzen mit einer Fackel zusammenband und mit den Tieren die Felder und Weinberge der Philister niederbrannte (Ri 15, 4–5). Die Füchse stehen bei Mensing für die Ketzer, die zwar untrennbar verbunden sind, doch in jeweils verschiedene Richtungen streben und dabei mit der Fackel die Glaubenswelt in Brand stecken. Auch in Frankreich nehmen die Altgläubigen eine theologische Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit wahr, die sie der evangelischen Elite vorwerfen. So Jérôme de Hangest in seiner Gegenschrift gegen die Plakate von 1534, in denen er die Sprunghaftigkeit und Inkonsistenz der Lutherischen entdeckt haben will. Falls also morgen ein Ketzer mit Argumenten gegen die Messe käme, sollte der christliche Laie dem Verführer Folgendes antworten: O de telz chrestians ainsy tost variantz trop vituperable inconstance, trop opprobrieuse instabilité, contre le conseil du benoist sainct Paul disant: ne soyez comme petis enfantz fluctuantz & a estre circunferez, tournantz a tous vents de doctrine en perversité & astuce des hommes par circunvention d’erreur. Certe ainsy successivement (comme ilz ont commencé faire & continuent) multipliant articles, en fin se aboliroit la chrestianté & a gentilité seroit reduicte, ce que par ses ministres pretend l’antique et cauteleux serpent.669

Die Anderen werden hier als in ihren Meinungen wechselhaft wie kleine Kinder beschrieben. Wie ein Fähnchen im Wind beeinflussen sie demnach in betrügerischer Absicht den Gemeinen Mann mit ihren Lehren. Dies sollen die Gläubigen den Lutherischen vorhalten, wenn es zu einer Diskussion über theologische Fragen kommt. Das Spiel der Differenzierung und Meinungspluralität ist für den Autor das Spiel des Teufels. Denn es drohe die Gefahr eines Rückschritts in der Zeit: Die Christen könnten wieder Ungläubige werden.

668 Mensing, Gründlicher Unterricht (wie Anm. 650), S. 570. 669 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. B8v–C1r.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Verglichen mit den rüden Darstellungen Luthers und anderer Reformatoren wird ein protestantischer Theologe jedoch vielfach geschont und ist, gemessen an seiner späteren Bedeutung, eher selten Thema der altgläubigen Polemik: Philipp Melanchthon. In der Erzählung des Cochlaeus über das Mönchskalb wird er zwar als Magister der Schüler aufgeführt, aber persönlich nur sehr unscharf gezeichnet und v. a. wegen seiner Theologie und deren Einfluss auf Luther angeprangert. Schätzte Cochlaeus den jungen Luther-Gefolgsmann vielleicht sogar? In einer weiteren Schrift, diesmal aus dem Jahr 1530 kurz vor Beginn des Augsburger Reichstags, lassen sich dafür zumindest Anhaltspunkte finden. Zu Beginn des Jahres hatte der Nürnberger Lutheraner Lazarus Spengler eine Sammlung kirchlicher Rechtsartikel im Auszug aus den päpstlichen Rechten der Decret und Decretalen veröffentlicht. Ziel der Schrift war es, dem altgläubigen Herzog Georg von Sachsen und Kurfürst Joachim I. von Brandenburg die Übereinstimmung der lutherischen Lehre mit dem alten Recht aufzuzeigen. Das war brisant, hatte doch Luther zehn Jahre zuvor noch kanonische Rechtsbücher verbrennen lassen.670 Cochlaeus unterstreicht in der Schlussrede seiner Antwort auf den Auszug, dass es sich bei diesem um Tatsachenverdrehung und versuchten Aufruhr handle. Er weiß offenbar, dass die anonyme Schrift über die päpstlichen Rechte vor ihrer Publikation Luther und Melanchthon zur prüfenden Lektüre zugesandt worden ist. Diese hätten die Fehler sehen müssen und haben sie dennoch billigend in Kauf genommen, glaubt Cochlaeus. Während er Luther solch ein unredliches und theologisch fragwürdiges Verhalten jederzeit zutraut und dafür nochmal auf den Siebenkopf-Text hinweist, zeigt er sich von Melanchthon enttäuscht: „Ich hette auch Melanchthon ettwas frommer gehalten, dann das er zu solcher offentlichen, uneerlichen, unkünstlichen und auffrüerischen büberey helffen ader rathen solte, will yn auch hiemit nit bezichtiget haben.“671 Interessant an dieser polemischen Schrift ist auch die Darstellung der Cochlaeus nicht bekannten Autoren des Auszugs über das Dekret – er weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Spengler der Verfasser ist. So bedenkt er die ihm unbekannten Autoren mit einer Fülle von Metaphern und Vergleichen, die in vielen antilutherischen Schriften des Alten Reichs vorkommen und von denen die Wichtigsten kurz näher analysiert werden sollen. Im vierten Kapitel über die weltliche Obrigkeit unterstreicht Cochlaeus, dass die Ketzer und deren Lehren im Dekretbüchlein verborgen liegen wie giftige Schlangen unter ihren Masken. So wollen sie mit List und Tücke v. a. die Geistlichkeit beim Volk in Verruf bringen, doch lassen sie ihre giftigen Natternzungen auch

670 Zum Kontext und der Vorgeschichte der Schrift vgl. den Kommentar des Hrsg. bei Cochlaeus, Johannes: Auf den deutschen Auszug übers Dekret. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525– 1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1189–1216, hier S. 1210 f. 671 Cochlaeus, Auf den Auszug übers Dekret (wie Anm. 670), S. 1209. In Frankreich gilt Melanchthon zur selben Zeit am königlichen Hof als hoffnungsvoller Vermittler zwischen den orthodoxen und den evangelischen Kräften. Vgl. Scheible, Ökumenischer Einsatz (wie Anm. 343).

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

gegen die antilutherische Obrigkeit „herfür vippern und ynen einen heimlichen stich geben“. Danach fliehen sie wieder in ihr Versteck unter die Larve. Darin unterscheiden sie sich von Luther, der „wenn yn die zornigen humeln stechen“ seine Schriften frei veröffentliche und Kaiser und Fürsten öffentlich schmähe. Mit ihrem verdeckten Gift können die lutherischen Schlangen beim Volk auf die Dauer jedoch mehr ausrichten. „Darumb auch yre geblümte füchsschwentze nicht weniger giffts haben dann Luthers bekante schelltwort“. Sie seien verborgene Füchse und zugleich verbergende schlaue Füchse.672 Die auch auf Luther angewendeten Tieranalogien und -repräsentationen stehen in der Tradition der mittelalterlichen Bestiarien, der Heraldik und der Volkskultur. Tiere haben präzise Bedeutungen und stehen symbolisch für ein gewisses Verhalten sowie für unterschiedliche Eigenschaften und Charakterzüge. Nicht nur diese Bedeutungen prägen das Bild, das sich die Altgläubigen von den „Ketzern“ machen, sondern auch der Umstand, dass die Gegenseite überhaupt als Tier dargestellt wird. Dies soll nicht nur den Ausschluss aus der christlichen Gemeinschaft verdeutlichen, sondern mitunter auch den Ausschluss aus der Menschheit. Gewalt fällt viel leichter, wenn man das Gegenüber nicht als Mensch, sondern als Tier sieht und somit auf einer anderen Wertstufe stellt. Schädlingsmetaphern können gute Dienste leisten, wenn es darum geht zu erklären, warum die Ketzer verfolgt, gefoltert oder hingerichtet und verbrannt werden. Nicht zuletzt legitimieren diese Repräsentationen auch die gewalttätige Sprache der Kontroverse und später die Gewalt gegen einen „Tiergegner“ bzw. einen entmenschlichten Ketzer.673 Damit greifen die altgläubigen Autoren auf die Vorstellungs- und Symbolwelt des Spätmittelalters zurück. Den Gegner, Kriminelle oder soziale Randgruppen als Tiere zu bezeichnen, verleiht diesen feste und kalkulierbare Eigenschaften. Es handelt sich zudem um einen Vorgang der sozialen Hierarchisierung und führt, wie die neuere Forschung betont, zu einer Verwischung der Grenze zwischen Mensch und Tier. Mithilfe der Tierdarstellung soll laut Jolanta N. Komornicka, gezeigt werden, dass der animalische Teil der menschlichen Natur von der Person Besitz ergriffen hat. Doch gerade indem Außenseiter, Kriminelle oder eben

672 Dies versucht Cochlaeus an der Arbeitsweise der lutherischen Autoren zum Thema Kirchenbesitz zu zeigen: Nur durch gezieltes Auslassen von Paragraphen könnten sie den Einzug der zeitlichen Güter aus Klöstern und Kirchen legitimieren. Sie seien Füchse, die durch ihre Masken nur das sehen, was sie wollen. Was ihnen nicht gefällt, deckten sie mit Masken zu in der Annahme, dass der Pöbel den Text sowieso nicht überprüfen werde. Nicht zuletzt wegen dieses Vorgehens verbergen sie demnach ihren Namen und scheuen das Licht. Cochlaeus, Auf den Auszug übers Dekret (wie Anm. 670), S. 1199 f., 1204. Zur Fuchsmetapher vgl. Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 77. 673 Vgl. Pineaux, Jacques: La métaphore animale dans quelques pamphlets du XVIe siècle. In: Le pamphlet en France au XVIe siècle. Paris 1983 (Collection de l’École Normale Supérieure de Jeunes Filles 25). S. 35–45; Kienzle, Beverly M.: La représentation de l’hérétique par l’imagerie animale. In: Les Cathares devant l’histoire. Mélanges offerts à Jean Duvernoy. Hrsg. von Martin Aurell. Cahors 2005 (Domaine Historique). S. 81–195.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Ketzer als Tier bezeichnet werden, erscheinen sie als beherrschbar, schließlich hat sich der Mensch die Tiere untertan gemacht. So werden in letzter Konsequenz auch durch spezifische Hinrichtungsmethoden im spätmittelalterlichen Frankreich Menschen tatsächlich zu tiergleichen Wesen herabgestuft.674 Zu vergleichbaren Schlüssen kommt auch Denis Crouzet bezüglich der katholischen Polemik am Beginn der französischen Religionskriege: Laster und Untugenden werden in Tiermetaphern versinnbildlicht, wodurch die Annahme des ketzerischen Glaubens zu einem Sturz in das Animalische wird. Ketzer als gefährliche Tiere mit apokalyptisch-prophetischen Analogien müssten demnach von den wahren Gläubigen verfolgt und ausgerottet werden.675 Der nach Luther am häufigsten angegriffene und zitierte evangelische Frontmann der 1520er- und 1530er-Jahre ist Ulrich Zwingli. Besonders Johann Fabri, ehemaliger Generalvikar von Konstanz und Opponent Zwinglis im Jahr 1523 bei der ersten Zürcher Disputation, arbeitet sich am Schweizer Reformator ab, aber auch Eck und Murner sind im Rahmen der Disputationen in der Eidgenossenschaft während der 1520er- und 1530er-Jahre persönlich und publizistisch im Einsatz. Besonders prägend für die weiteren Darstellungen war Zwinglis Verhalten bei der altgläubig geprägten Disputation von Baden 1526, zu der er nicht erschien, da er der Organisation nicht zustimmte und sich wohl Sorgen um seine Sicherheit machte. Das trägt ihm v. a. bei süddeutschen Autoren den Ruf ein, ein Feigling zu sein bzw. ein Ketzer, der seine Irrlehren nicht ans Licht lassen möchte. Noch vor Beginn der Disputation kommt es zu schriftlichen Auseinandersetzungen zwischen Fabri und Zwingli. Im Zuge dieser Auseinandersetzung verfasst Fabri im Mai 1526 Eine freundliche Schrift an Ulrich Zwingli, in der er gleich zu Beginn den Ton für den weiteren Textverlauf setzt. Fabri zeigt sich überrascht und verärgert über die Absage Zwinglis, „deß ich mich nit nun allein verwundern, sonder von grund meines hertzen mit dir ein getrewes mitleiden trag und hab, dann ich in dem selben deinem außschreiben befind, das über dich der fluch kommen ist, von dem so offt im alten testament geschriben, daz du schantlich fleüchst, ee auch du an die schlacht kommest.“676 Dabei habe sich Zwingli nun schon so lange gerüstet und bewaffnet, dass er zum Angst einflößenden Goliath geworden sei. Doch nun, da zwei arme Hirten – Johannes Eck und Fabri – gegen ihn ziehen, nur mit Hirtenstab, Schleuder und ein paar Steinen bewaffnet, wolle Zwingli fliehen, noch bevor er seine Feinde überhaupt gesehen hat. Entlang biblischer Analogien präzisiert Fabri dieses Paradox. Zwingli habe sich oft zur Disputation erboten und sich schon als Sieger gesehen. Doch jetzt, da ein Ort ausgewählt, die Richter und alle Geistlichen bereit seien und Fabri seine sechs Disputationsthesen bereits veröffentlicht hat,

674 Komornicka, Jolanta N.: Man As Rabid Beast. Criminals Into Animals in Late Medieval France. In: FH 28 (2014). S. 157–171, hier S. 157–161, 168–170. 675 Crouzet, Guerriers de Dieu (wie Anm. 631), S. 262–269. 676 Fabri, Freundliche Schrift (wie Anm. 399), S. 247.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

fliehe Zwingli und verstecke sich. Insbesondere verweist Fabri darauf, dass jeder, der Böses tue, das Licht hasse und nicht zum Licht komme, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden (Joh 3,20).677 Dann widerlegt Fabri die einzelnen Punkte von Zwinglis Vorbehalten gegen die Badener Zusammenkunft. Anschließend beschreibt er bildhaft sein eigenes Handeln: [E]s ist auch unser meinung, das wir den ratten und unkraut, die du [Zwingli, M. M.] bey nächtlicher weil in Gots acker geseet, wöllend außreüten, und das recht wayssen kernli [Weizenkorn, M. M.] und nit deine faulen sprewer säen, sonder dieselbigen nach dem befelch Christi verbrennen, hinauß werffen und mit füssen tretten, unnd nit weitter von deinen kleyen, wie die schwein gespeißt werden, dann wir deren nit bedörffend, dieweyl wir das himmelbrot gehaben mögent, dann wer sich under die kleyen mischet, den fressend auch gern die schwein.678

Fabri sieht sich und Eck als die Pfleger der Felder Gottes. Als solche müssen sie die Früchte gegen tierische und pflanzliche Schädlinge (Ratten und Unkraut) schützen, die Zwingli nachts in den Acker des Herrn streut. Weiterhin müssen sich die altgläubigen Eliten um den Umgang mit der Ernte kümmern und den guten Weizen auswählen, der selbst später wieder Frucht werden kann (vgl. Joh 12,24). Vom Weizen als Symbol der guten Lehre, die in die Scheune Christi, d. h. die alte Kirche, zu bringen sei, ist demnach die Spreu zu trennen, die ins Feuer geworfen werden müsse. Diese Metapher ist aus einer Predigt Johannes des Täufers, der mit diesen Worten das Wirken Jesu ankündigt, dessen Handeln sich Fabri hier bewusst parallelisierend zu eigen macht, so wie auch Christus von Johannes als eine Art Gärtner mit einer Schaufel in der Hand angekündigt wird (Mt 3,12; Lk 3,17). Auch bei der Nahrung der wahren Christen gibt es Unterschiede zu den Ketzern, da sich Letztere ihr Brot aus Kleie backen müssen. Dieses Abfallprodukt der Mehlherstellung, mit dem gemeinhin Schweine gefüttert werden, dürfte auch als Symbol für die geistige Nahrung der Evangelischen zu verstehen sein, also für die unangemessene und falsche Auslegung des Evangeliums. Die Kirche hingegen bekomme ihre Nahrung, also die wahre Auslegung des Evangeliums, als himmlisches Manna direkt von Gott (vgl. 2. Mose, 16). Zum Ende hin wirft Fabri Zwingli vor, dass seit 1000 Jahren in der Eidgenossenschaft niemand schädlicher gewesen sei als er, da er tausende Seelen verführt habe. In seiner Führungsposition ist Zwingli unangefochten, wird aber gleich in den überregionalen Kontext eingeordnet. Eine Großinvasion der Türken wäre nämlich besser für die deutsche Nation gewesen als der Erfolg Luthers, Karlstadts und „dein und ewer anhenger leer“. Sie alle seien wie der Affe auf dem Dach, der nicht herunterkomme, bevor er alle Ziegel herabgeworfen hat.679

677 Fabri, Freundliche Schrift (wie Anm. 399), S. 247 f. 678 Fabri, Freundliche Schrift (wie Anm. 399), S. 249 f. 679 Fabri, Freundliche Schrift (wie Anm. 399), S. 260.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Nach der Disputation, als Fabri in der Christlichen Beweisung seine sechs Artikel gegen Zwinglis Lehre veröffentlicht, hat sich sein Bild des Zürcher Reformators weiter verfestigt. Dessen Theologie vergleicht Fabri mit dem Turmbau zu Babel. Die Irrlehren seien mittlerweile so konfus und vielfältig geworden, dass Zwingli selbst von seinen eigenen Untertanen in Zürich nicht mehr verstanden werde. Seine Lehren würden beinahe täglich wechseln, was wiederum ein klarer Beweis dafür sei, dass besagte Lehren nicht von Gott, sondern vom Teufel kommen. Auf Zwingli treffen laut Fabri die Warnungen der Apostel vor den Irrlehrern zu.680 In der Zueignung der Schrift an Leonhard von Harrach, Obersthofkanzler von König Ferdinand I., steht Zwingli in der Hierarchie des Bösen allerdings unter Luther. Dieser sei der wahre Vorläufer des Antichristen, jener nur ein mittlerweile abtrünniger Geselle.681 Komplettieren wir die altgläubigen Darstellungen und Einordnungen der evangelischen „Frontmänner“ mit einem Blick nach Frankreich. Erneut bieten sich die Flugschriften von Jérôme de Hangest für exemplarische Untersuchungen an. 1535 verfasst Hangest als Reaktion auf die eucharistie- und messkritischen Flugblätter von Antoine Marcourt eine flammende Gegenschrift. Hangest widmet seine Antwort auf die placards Herzog Anne de Montmorency, einem der frühesten und führenden reformationsfeindlichen Fürsten in Frankreich. Der Vertraute von König Franz I. hat seit 1522 seinen Hauptsitz in Chantilly und bekleidet ab 1538 die Funktion des connétable, des obersten Armeechefs des Königreichs, der zudem über weitreichende administrative, finanzielle und juristischen Kompetenzen verfügt.682 Hangest beginnt in seiner Flugschrift mit der Repräsentation der Verbreiter der Plakate als abscheuliche Schattenoder Dunkelmänner („abominables tenebrions“), deren Vorgehen allerdings sehr aufschlussreich sei. Denn sie begingen ihre abscheulichen Verbrechen im Schutz der Nacht. Wenn ihre Anliegen katholisch und christlich gewesen seien, hätten sie ihre Flugblätter nicht bei Nacht verstecken müssen, sondern tagsüber auf den Dächern gepredigt. Auch Hangest verweist in diesem Zusammenhang auf jene Stelle aus dem Johannesevangelium, die eine Verbindung zwischen christlicher Wahrheit und Licht bzw. zwischen ketzerischer Unwahrheit und Dunkelheit nahelegt (Joh 3,20). Die evangelischen Verbreiter der Plakate seien von ihrem Hauptmann der Schatten geführt worden.683 Damit ist der Teufel gemeint, was der Hell-Dunkel-Metapher nicht nur eine

680 Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 269–271. 681 Diese Hierarchie betont Fabri am Ende seiner Fugschrift nochmal: Luther ist für ihn der Ausgang der neuen Sekte und Zwingli einer der daraus hervorgehenden Fleischprediger – allerdings ein besonders bedeutender. Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 265–269, 279. 682 Vgl. Amalou, Thierry: Une concorde urbaine. Senlis au temps des réformes, vers 1520–vers 1580. Limoges 2007 (Histoire. Lieux). S. 27–36, 147, 161 f. Zur Funktion des connétable vgl. Barbiche, Bernard: Les institutions de la monarchie française à l’époque moderne, XVIe-XVIIIe siècle. Paris 2012 (Quadrige Manuel). S. 146 f. 683 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A2r–v, A3v.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

größere Signifikanz verleiht, sondern sie auch als Repräsentation für allgemeinere und zeitlich länger dauernde Kämpfe zwischen dem Guten und dem Bösen einsetzt. Darüber hinaus wird die negativ besetzte Nacht in der Frühen Neuzeit mit einem leidensgeschichtlichen Kontext verbunden und gilt als die Wirkstunde des Teufels. In einer agrarisch-dörflichen Gesellschaft, die die Nacht fürchtet, hat die Dunkelheitsmetapher das Potenzial, entsprechende Empfindungen auszulösen.684 Für Hangest ist Marcourt ein Vorläufer des Antichristen sowie ein seelenmörderischer Wolf, der Angst um seine Haut hat und deshalb den Orthodoxen die grausame Verfolgung der Evangelischen vorwirft.685 Mit dieser Tiermetapher greift Hangest ein im Alltag sowie dem Gesellschaftsdiskurs in Frankreich verbreitetes Bild auf. Der Biss eines tollwütigen Wolfs führt zur Übertragung der Krankheit auf den Menschen. Diese wirken auf die Zeitgenossen wie Besessene, die zudem als Teil des Leidens Angst vor Wasser haben und die menschliche Umwelt vor dem Tod nicht mehr erkennen, was nicht zuletzt die Verabreichung der Sterbesakramente erschwert. Der Wolf wird somit zur Gefahr für die Seele und bringt die Gläubigen dazu, die Kontrolle über das Tier in ihnen zu verlieren. Darüber hinaus ist der Wolf ein Symbol für die nach damaliger Vorstellung in jedem Menschen anlegte Sündhaftigkeit. Ein als Wolf bezeichneter Mensch gilt demnach als so weit von Gott entfernt, dass seine Verurteilung im Jüngsten Gericht sicher ist.686 Zentrale Motive und Sprachbilder zur Beschreibung der führenden Evangelischen und deren Handeln, wie wir sie im Alten Reich kennen gelernt haben, finden sich also auch in Frankreich. Allerdings sind wegen der relativen Unklarheit des Profils der Gegenseite die Varianz und die Häufigkeit ad personam angewendeter Bildern geringer als im Alten Reich. In einem weiteren Schritt bewegen wir uns fort von den stark personalisierten Repräsentationen der Anderen und deren Führungspersonal und blicken auf die Darstellungen, die in der altgläubigen Textkultur von den protestantischen Gemeinschaften und dem evangelischen Gemeinen Mann gegeben werden

3.1.3 Die evangelische Herde und ihre Hirten In der Szenerie, die Johannes Cochlaeus 1523 um das Mönchskalb von Wittenberg beschreibt, stehen neben den theologischen und politischen Führungsfiguren noch weitere Gruppen. Diese werden zwar nur grob und kollektiv beschrieben, machen tatsächlich aber die übergroße Mehrheit der Evangelischen aus: die halbgelehrten Laien und der Gemeine Mann. Die einen bildeten sich nur deshalb ein, Gelehrte zu sein, da sie ein wenig Latein und Deutsch lesen könnten. Die anderen würden durch

684 Vgl. Delumeau, Jean: La peur en Occident, XIVe-XVIIIe siècles. Paris 2008 (Pluriel). S. 119, 122–131. 685 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A6r, G3v. 686 Komornicka, Criminals Into Animals (wie Anm. 674), S. 164–168.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Luther mit Freiheitsversprechen verführt, während der Reformator den umstehenden Frauen schöne Augen macht. Finden sich diese Repräsentationen der evangelischen Gläubigen als passive, kurzsichtige und fleischliche Christen in anderen altgläubigen Flugschriften? Wie wird darüber hinaus der niedrige protestantische Klerus in den Städten und Gemeinden dargestellt? Eine zentrale Stellung nimmt dabei das auf verschiedene Kontexte anwendbare Bild der verirrten Schafherde ein. Die 1524 erschienene Flugschrift des sächsischen Zisterzienserabts Paul Bachmann gegen die Klosteraustritte behandelt eine ganze Reihe theologischer Differenzpunkte zwischen Altgläubigen und Lutherischen. Einer davon bezieht sich auf das Verhältnis von Glaube und guten Werken für die Rechtfertigung der Sünden. Dabei verwendet Bachmann die Schafsmetapher für die Menschen, die keine guten Werke mehr verrichten bzw. nicht mehr glauben, dass diese für das Seelenheil nötig sind: „Du wilt nicht beten, du wilt nicht wachen, du wilt nicht fasten noch yrgent abstinentz halten, sunder freytags, sonabendes fleysch essen, wye dirs gefellet, und wilt gar kein gehorsam tragen, auch keyn geboth der kyrchen halten, wilt seyn als eyn yrrende schaff ane hyrten, dich selbst weydende.“687 Ohne das Regelwerk der Kirche und den Zwang zu guten Werken wie das Fasten oder das Gebet seien die Menschen wie verirrte Schafe, die ihren Hirten verloren haben. Sie versuchen, entgegen dem Befehl Christi, sich abgesondert von der christlichen Herde selbst zu weiden, d. h. sich die christliche Lehre selbst zusammenzureimen. Die Gläubigen lehnten den Gehorsam ab und missachteten die Gebote der Kirche, was zum Verlust des Seelenheils führe. Immer wieder ziehen die altgläubigen Autoren auch zwei Stellen aus dem Matthäusevangelium heran. Es handelt sich um die Warnung Jesu, seine Gemeinde solle sich vor den falschen Propheten hüten, die in Gestalt harmloser Schafe kommen werden, aber in Wirklichkeit reißende Wölfe seien (Mt 7,15). Erneut kommt die seelenmörderische, gewalttätige und unmenschliche Konnotation des Wolfs zum Tragen. Jesus erklärt auch, wie man diese falschen Propheten erkennen könne, nämlich an den Früchten ihrer Lehren und ihres Handelns. Denn ein schlechter Baum trage keine guten Früchte und werde deshalb umgehauen und ins Feuer geworfen (Mt 7,16–20). Diese neutestamentarischen Bilder werden nicht nur gegen Luther und die evangelische Führungsspitze, sondern auch gegen die vielen evangelischen Prädikanten und Laien eingesetzt. Wolfgang Redorffer verwendet die Metaphern 1524 in seiner Schrift Von der heiligen gemeinen christlichen Kirchen, als er die Bedeutung der guten Werke herausstellt. Deren Heilsnotwendigkeit wird bekanntermaßen von den Reformatoren abgelehnt, was wiederum den altgläubigen Propagandisten einen willkommenen Anlass bietet, um die Matthäus-Passagen auf ihre Gegner anzuwenden. So auch Redorffer bei seiner Interpretation besagter Bibelstellen:

687 Bachmann, Zu Errettung (wie Anm. 406), S. 761 f.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Damit Cristus zu versten gebe, daz er in dem von solchen ketzern geredet het, spricht er pald daruff: Habt uffmerckung uff die falschen propheten, die zu euch kommen in scheffen kleydern etc., und beschlieslich saget er: Aus iren fruchten werd ir sie erkennen. Ist solche lere und warnung Cristi gantz klerich von der lutterischen ketzerei, irem anhang und der selbsten kirchen zu vornehmen, die den engen weg dis lebens nit suchen, aber den breitten und rawmen weg in fresserei, in sofferei, in unkeuscheit, ungehorsam, unvorpunden und alle gleich sein wollen und nach eins itzlichen selbst gevallen erwelen zu wandern.688

Die Früchte der falschen lutherischen Propheten, wie sie Redorffer hier beschreibt, seien auch im lutherischen Volk bereits klar sichtbar. Sie zeigen sich in einer bequemen Lebensführung, in der die guten Werke nicht mehr nötig sind, um das Seelenheil zu erlangen. Sauferei, Unkeuschheit, Fresserei und Ungehorsam seien die Folgen. Die Gegenseite fördere den Wunsch nach Gleichheit der Menschen, wofür freilich die sozialen Unterschiede zwischen Priestern und Laien eingeebnet werden müssten. Dem hält Redorffer den schwierigen Weg zum Heil entgegen, wie ihn die alte Kirche lehre (vgl. Mt 7,13–14; Lk 13,24). Dieser sei gesäumt von Normen und Regeln für den Glauben sowie für religiöses und lebensweltliches Handeln. Die Zustände auf der „ketzerischen“ Gegenseite vergleicht Redorffer mit der Vorhersage des Apostels Paulus über den sittlichen Verfall und den charakterlichen Niedergang der Menschen am Ende der Zeit (2 Tim 3, 1–9).689 Petrus Sylvius greift zu Tiermetaphern, um die in seiner Wahrnehmung sichtbaren Folgen der lutherischen Kultur für das Leben und die Religionspraxis des Volks anzuprangern. Wenn nur der Glaube selig machte und gute Werke unnütz wären, würde das z. B. das Ende der Almosen bedeuten und jeder müsse sich selbst helfen. In der Konsequenz müssten die Menschen wie die unvernünftigen Tiere zusammenleben. Auch das Ende der alten Gebräuche wie Messe und Chorgesang oder der alten Gegenstände wie Glocken und Priestergewänder würde zu einem Leben wie dem der Schweine und wilden Wölfe führen, d. h. ohne formgebende christliche Ordnungen.690 Auch die evangelischen Prediger in den Städten und Dörfern werden in der altgläubigen Kontroversliteratur angegriffen. Der pseudonyme Henricus P.V.H. beschreibt in seiner Antwort wider das Lästerbuch der Ursula Weidin (1524) das Motiv der verkehrten Welt, die durch die Lutherischen geschaffen werde. Es geht Henricus um die Frage, welche Seite die Wahrheit predigt. Denn Ursula Weidin hatte den altgläubigen Klerikern vorgeworfen, die Annahme des Wortes Gottes zu verhindern. In seiner Erwiderung auf die Flugschrift der lutherischen Frau greift der Anonymus auf das Christuswort von der engen Tür zurück, durch welche die Gläubigen gehen müssten. Dahingegen solle man heute genau hinsehen, wer die Pforten zum Him-

688 Redorffer, Von der Kirche (wie Anm. 427), S. 851. 689 Redorffer, Von der Kirche (wie Anm. 427), S. 852–855. 690 Sylvius, Missive (wie Anm. 542), S. 149.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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melreich in den Predigten eng und wer sie fälschlicherweise weit mache. Was Jesus eng geschaffen habe, würden jetzt die lutherischen Prädikanten weit machen wollen. Heute werde Schande zu Ehre und Ehre zu Schande.691 Andererseits solle man sich vor den Propheten in Schafskleidern hüten, die innerlich reißende Wölfe sind. Genauso verstellt agieren nämlich, in der Wahrnehmung von Henricus, die evangelischen Geistlichen: Das seyn itzundt unser evangelische predigern, welch gehen auff der gassen mit grossen byrrethen, mit rothen und bunthen rocke, außgeschnitten schuch, lang messer, gleich als dy landtsknecht, aber wan sie wollen predigen, so tzihen sie graw rocke an, auff das der einfeltige man yn guttem scheyn betrogen wirt, aber Christus hat unns gewarnet und eyn tzeychen geben und gesagt: An iren fruchten solt yr sie erkennen.692

Das Motiv der Verschleierung, der Falschheit sowie des Verbergens des wahren Charakters wird also auch dem klerikalen Mittel- und Unterbau der Reformation angeheftet. Henricus macht dies am Beispiel der Kleidung fest: Die Prädikanten geben und zeigen sich demnach auf der Straße völlig anderes – nämlich ihrem wahren Wesen gemäß – als in der Kirche. Die schlichte und graue Bekleidung auf der Kanzel diene der Verführung des Gemeinen Mannes, der die Geistlichen in seiner Gutgläubigkeit für bescheidene und rechtschaffene Männer halte. Umso mehr müsse man auf den Inhalt der Predigten und auf das alltägliche Verhalten der evangelischen Priester achten, um sie überführen zu können. Die neuen Prediger seien Vorläufer des Antichristen und eschatologische falsche Propheten, die die Schafe Christi zerstreuten.693 Darüber hinaus finden Metaphern zu Körper und Krankheit Anwendung bei der Deutung und Beschreibung der evangelischen Masse. Diese Metaphorik wird von den Altgläubigen nicht nur auf das gesamte corpus christianum angewendet, sondern auch in Bezug auf kleinere und präzise Gruppen und sogar auf Einzelpersonen. Zu diesem Zweck setzt Wolfgang Redorffer die fraglichen Metaphern bereits 1523 im Arzneibüchlein ein. In dieser angeblichen Augenzeugen-Beschreibung der evangelischen Lehre und des evangelischen Lebens in Wittenberg firmiert die lutherische Ketzerei unter einer Krankheit mit bestimmten, aber zu diesem Zeitpunkt noch behandelbaren Symptomen. Redorffer stellt als priesterlicher Seelenarzt fest, dass sein Wittenberger Freund Esculapius, den er kürzlich besucht hat, im Glauben vergiftet gewesen sei. Das Gift umschleiche und entzünde schon das Herz des Freundes und bringt diesen an den Rand des Todes.694

691 Henricus P.V.H., Antwort wider Ursula Weidin (wie Anm. 407), S. 785. 692 Henricus P.V.H., Antwort wider Ursula Weidin (wie Anm. 407), S. 785 f. 693 Henricus P.V.H., Antwort wider Ursula Weidin (wie Anm. 407), S. 780 f. 694 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 417.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Ein weiteres, in vielen Flugschriften aufgegriffenes Krankheitsbild ist das der Blindheit der Reformatoren und deren Anhänger.695 Auch die „Wirbelsucht“ oder „hirnwirrisches“ Verhalten, also geistige Störungen, werden den Evangelischen sowohl im Alten Reich als auch in Frankreich unterstellt. Ein möglicher Hintergrund dieser Repräsentation: Bei klarem oder wieder kontrollierbarem Verstand kämpft niemand gegen die gesellschaftliche Ordnung und die Kirche Gottes, wodurch man das Seelenheil aufs Spiel setzt. Für die Altgläubigen sind die Lutherischen demnach Wahnsinnige und müssten als solche auch behandelt werden.696 Die spätmittelalterliche Assoziation zwischen Sünde und Krankheit scheint in all diesen Repräsentationen sehr präsent zu sein. Sehr häufig wird auch Gift als Metapher für die Handlungen und Lehren der Gegenseite herangezogen. Dieses Motiv, das sich bereits in der Diagnose Redorffers über seinen Wittenberger Freund findet, ist im gesamten Untersuchungszeitraum sowohl in der französischen als auch der deutschen Textkultur eines der häufigsten. Das Gift der Ketzer findet sich in altgläubiger Wahrnehmung überall und wirkt doch meist versteckt bzw. wird im Verborgenen verabreicht. Vor allem reformorientierte Luthergegner nutzen die Metapher für eine differenzierte Betrachtung der aktuellen Lage, etwa wenn sie betonen, dass Luther zu Beginn zwar richtige Kritik geübt und durchaus annehmbare Vorschläge zur Beseitigung von Missständen gemacht habe. Dennoch müsse man bei seinen Lehren genau hinsehen, zumal nach der Verurteilung durch Papst und Kaiser. Denn das Gift des Irrtums liege unter dem guten Schein verborgen, was besonders für die einfachen Gläubigen gefährlich sei. So rechtfertigt Christoph von Schwarzenberg, der bayerische Landhofmeister, zum Jahreswechsel 1523/24 gegenüber seiner Tochter das Verbot, Luthers Bücher zu

695 Luther, so schreibt Redorffer, habe viele Sehende blind gemacht mit Dingen, die er sich in seinem eigenen, nicht mehr klaren Kopf ausgedacht habe. Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 419. Dabei unterstellen manche Autoren wiederum auch Luther Blindheit, etwa Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 41. Auch Cochlaeus greift die Blinden-Repräsentation in seinen Kommentaren auf 154 Artikel aus einem Sermon Luthers auf. Die Lutherischen hätten ihr Augenlicht verloren, schreibt er. Luther wird deshalb auch als „tüflischer blindenfürer“ dargestellt. Cochlaeus, Glosse und Kommentar (wie Anm. 614), S. 398. 696 Blick schreibt 1524 in der Skizze seiner Wahrnehmung der gesellschaftlichen Folgen der lutherischen Bewegung: „Und es sein solche arme leuth (Got erbarms) also blindt und geergert worden an dem wort Gottes, das yr eins teyls gantz wurbelsuchtig und eins teyls also in yrer boßheit verstockt, welchs alles antzeigt yr mergklicher neyd und haß, den sie zu den rechten christen tragen, das sie nich mehr erkenne noch wissen, was böß ader gut ist.“ Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 659. Matthias Slegel stellt den lutherisch gesinnten Klerus als „hürnwirrischen pfaffen“ dar, deren Reden, Denken und Fühlen im Herzen nicht übereinstimme. Slegel, Luterische Catzen (wie Anm. 533), S. 385. Damit werden die Lutherischen als nicht mehr klar bei Verstand, ja wahnsinnig repräsentiert. Vgl. Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 432. Auch Jérôme de Hangest beschreibt in einer 1537 erschienen libelle die Lutherischen immer wieder als verrückte, wahnsinnige Abenteurer („folz adventuriers“). Vgl. Hangest, En controversie (wie Anm. 431).



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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lesen, mit einem medizinischen Vergleich: „Als gleycherweis du kompst mit mir für ein ain apotecken, pitst mich dich hinein zu lassen, es seye vil süess und guets darinnen zu essen. So spräch ich: nit bey dem leben, liebe tochter, es ist auch vil giffts in den guten apotecken, ässt du der ains in dich (nach dem du sy nit von einannder erkhennst) du sturbst, und hullff dich das gut nit.“697 Luthers Apotheke besteht hier aus todbringender Medizin. Da man das Gute und das Böse in den Büchern des Reformators nur schwer unterscheiden könne, hätten Papst, Kaiser und etliche Fürsten die entsprechenden Schriften gänzlich verboten. Die gute Lehre könne nicht getrennt von der Häresie aufgenommen werden. Auch andere Texte sprechen sich für ein Totalverbot der lutherischen Texte aus, da die „Ketzer“ heimlich Gift unter die angebliche Arznei zur Abhilfe gegen die Missstände gemischt hätten. Die Heimlichkeit des Gifteinsatzes fällt mit anderen Darstellungen zusammen, in denen die Protestanten als Verschleierer und Betrüger gezeichnet werden.698 In Frankreich sind Vergleiche der lutherischen „Häresie“ mit Gift und dessen Wirkungen ebenso gängig.699 Pierre Doré fürchtet 1538 in seiner Widerlegung des Berner Katechismus von Kaspar Megander um die Vergiftung der Jugend durch die reformierte Schrift. Das religiöse Wissen, das Menschen in der Kindheit erhalten, präge sie ihr Leben lang. Da der Katechismus besonders für die religiöse Früherziehung entworfen worden sei, sei die Gefahr bleibender Schäden durch derartige Bücher besonders groß: Qui est la cause pour laquelle auiourd’huy se efforcent hereticques corrumpre les enfans par faulse erudiction, leurs donnans mal a entendre que c’est de la foy, les nourrissans en ieunesse de poison, d’envenimée doctrine, affin que par longue accoustumance ne sentent l’infectée et de long temps receue semence de mal, comme on lict d’une fille qui vivoit de poison, par ce que des jeune age en avoit esté nourrie.700

Gerade die stille Immunisierung gegen bzw. das Gewöhnen an das ketzerische Gift sei das Ziel des Katechismus, glaubt Pierre Doré. Das Mädchen, das angeblich von Gift gelebt habe, weil es von frühester Jugend an damit genährt worden war, stellt er als abschreckendes Beispiel heraus. Umso nötiger erscheint es, dass orthodoxe Autoren

697 Schwarzenberg, Treüe vätterliche anzaygung (wie Anm. 458), Bl. A2v. Vgl. zu diesem Fall speziell Kap. I. 1.3.1. und 1.3.2. 698 U. a. Johannes Cochlaeus greift auf die Metapher zurück, 1529, in seiner Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeiten. Er beginnt seine Flugschrift mit dem für ihn offenbar drängendsten Problem: Der großen Zahl der „ketzerischen“ Bücher, die an vielen Orten produziert und vertrieben werden. Durch diese Bücher würden die Herzen der Gläubigen befleckt und verdorben, denn sie hätten verdammte ketzerische Lehren in sich, obwohl die Büchlein mit guten und schönen Reden vermischt seien und der Geschmack des Gifts von süßem Honig überdeckt werde. Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1076. 699 Vgl. z. B. Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A3v. 700 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. A2v.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

ihre gute Lehre in Schriften verabreichen und somit zur Bekämpfung des ketzerischen Serums beitragen. Aber was motiviert die einfachen Laien im Alten Reich und Frankreich, sich den protestantischen Gemeinschaften anzuschließen bzw. an deren Bildung mitzuwirken? Ein deutscher und ein französischer Autor haben sich ausführlicher mit dieser Frage befasst. Ihre Antworten und Erklärungsversuche sollen an dieser Stelle näher analysiert werden. Der bayerische Franziskaner Kaspar Schatzgeyer nennt 1525 im Vorwort zu seiner Schrift gegen den Nürnberger Reformator Andreas Osiander fünf Gründe für die Anziehungskraft der lutherischen Bewegung auf das Volk. Erstens haben die Weltweisheit und die Annahme der Laien, alles Religiöse mit ihrem Verstand selbst einschätzen zu können, die Herzen leicht gemacht für die Hinwendung zur lutherischen Lehre. Zweitens ermögliche es ihnen die neue Lehre, das zu tun, was sie gerne tun wollten. Weiterhin befördere die Abneigung gegen Priester und Klosterleute die neue Lehre, zusätzlich zu den vielen materiellen Lasten des Volks, das auf das Ende der Abgaben durch die evangelische Freiheit hoffe. Schließlich hätten die falschen Propheten, Prediger und Lehrer Schuld, die ihre Lehre aufbliesen, mit der Heiligen Schrift schmückten, mit bunten Farben anstrichen und ihr gut klingende Namen geben, wodurch sie den wahren Inhalt der Ketzerlehre vor dem Volk zu vertuschen hoffen.701 In der Darstellung Schatzgeyers entspricht das Angebot der Lutherischen genau der Nachfrage der Laien. In Frankreich werden die luthériens im Volk in ebenso düsteren Farben gezeichnet. Jérôme de Hangest versucht 1537 in mehreren Punkten eine Antwort auf die Frage zu geben, warum sich Gläubige der „lutherischen Bande“ anschließen. Acht Gründe nennt er als mögliche Motive. Luther locke Laien und Kleriker mit einem Freiheitsversprechen, das sich auf die Freiheit von Geboten und religiösen Pflichten beziehe. Hangest bezieht seine Wahrnehmung auf die Warnung des Apostels Petrus vor den Irrlehrern, die bei ihren Ausschweifungen eine große Anhängerschaft gewinnen würden (2 Petr 2,1–3). Weiterhin werden die Abenteurer aus dem Volk durch die Aussicht auf Genüsse und Wollust gewonnen. Neid und Hass zögen die Anhänger ebenso an wie die Aussicht auf Posten und Pfründen, wobei sich manche sogar gegen Gott selbst erhoben hätten. Habgier und Ruhmsucht rechnet Hangest ebenso zu den Motiven wie Neugierde. Der achte Grund sei die gelungene Verschleierungstaktik der Lutherischen – doch unter dem Schleier stecken die „ministres“ des Teufels mit ihrem Gift der Irrlehre.702

701 Schatzgeyer, Kaspar: Abwaschung des Unflats, so ihm Andreas Osiander in sein Antlitz gespien hat. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 108–112, hier S. 109 f. 702 Hangest, En controversie (wie Anm. 431), Bl. D1r–D8v.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Zu Beginn des 16.  Jahrhunderts ist die Warnung vor sozialen Unruhen und Aufruhr im Volk ein Topos des politischen Diskurses und ein gängiges Argument in allen möglichen Auseinandersetzungen.703 Die mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen von Ruhe, Frieden und Harmonie in der ständischen Hierarchie finden zumindest in weiten Teilen der Eliten Akzeptanz.704 Religion und sozialer Aufruhr sind in der Reformation aus altgläubiger Perspektive untrennbar miteinander verbunden und werden ihnen zufolge von Luther wechselseitig instrumentalisiert.705 Dies könne auf zwei Arten geschehen. Erstens bekräftigen die altgläubigen Autoren, dass Luther und die evangelischen Prädikanten das Volk unter dem Deckmantel des christlichen Glaubens, des Kampfs gegen Missstände und für Reform in Wahrheit doch nur zu Aufruhr und Irrtum anreizen wollen.706 Wolfang Wulffer weist demgemäß 1522 darauf hin, dass Luther mit der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen die Einfältigen hinter den Ohren kraulen wolle, um gemeinsam mit ihnen einen Aufruhr anzuzetteln.707 Paul Bachmann, der Abt des sächsischen Klosters Altzelle, bringt diese Wahrnehmung der Kausalverbindung zwischen religiöser Veränderung und Aufruhr 1522 auf den Punkt. Zwar gesteht Bachmann ein, dass es im Klerus der alten Kirche Laster und Missstände gebe, doch diese fänden sich auch in den anderen Ständen. Deshalb sei es arglistig von Luther, die Gebrechen der Kirche derart stark herauszustellen und wegen ihnen Papst und Prälaten zu schelten. Und weiter: Ich sprech nicht, daß man laster sall sopyren [= schönreden, M. M.], sunder gebrech mit vornunfft reformyrenn, durch die, den eß von recht tzustatt. Es seynt lögen, das eyn itzlicher tzu thun macht hatt, als Luther wol mhe leuget und treuget, vill mit der schrifft falschlich betzeuget. Er ist der schlangen list und töckheyt voll, hat vorstand tzum argen und weyß woll, daß das unadliche volck leycht ergernyß nympt in gebrechen, dye es in den prelaten findt, dorumb tzu erweckenn mher auffrur, czeucht er deß römischen stuls sund erfur,

703 Wolgast, Eike: Die deutschen Territorialfürsten und die frühe Reformation. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996. Hrsg. von Bernd Moeller. Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199). S. 407–434, hier S. 409. 704 Vgl. zu diesen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der ersten Luthergegner: Hille, Providentia Die (wie Anm. 45), S. 399–406. 705 Hierbei handelt es sich um ein gängiges Topos der altgläubigen Propaganda. Vgl. Sypher, Image of Protestantism (wie Anm. 367), S. 71–74. 706 Dieses Motiv wird schon stark gemacht bei Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 142. 707 Wulffer, Wider die Aufruhre (wie Anm. 569), S. 294.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

durch welch argument er allermeist das pövelvolck weder dye öberkeyt reytzt und den gehorsam also ist vorterben, welchen tzu erföllen Christus hat wollen sterben.708

Die Strategie Martin Luthers ist für Bachmann klar: Der Wittenberger instrumentalisiere die unbestreitbaren Sünden der Kirchenobrigkeit, um so Aufruhr zu schüren. Luther wisse, dass das Volk auf die Missstände bei den Bischöfen und v. a. der römischen Kurie besonders gereizt reagiere. Auch in der Forschung wurde immer wieder die schwierige und gewundene Antwort der altgläubigen Kontroversisten auf die „nationale“ lutherische Argumentationsweise herausgestellt.709 Die zweite Verbindung zwischen Religion und Aufruhr, die in der altgläubigen Textkultur immer wieder reproduziert wird, verläuft in einer entgegengesetzten Logik. Sie beschreibt die mutmaßliche gesellschaftliche und ökonomische Agitation des Gemeinen Mannes durch die Evangelischen, wodurch erst die Veränderung der wahren, christlichen Religion und deren Institutionen erreicht werden solle. Als einer der ersten drückt diese Deutung der Dresdner Hofkaplan Hieronymus Emser in seiner Flugschrift Wider den falsch genannten Ecclesiasten aus. Darin diagnostiziert er, dass das Volk von zwei Seiten verärgert werde, nämlich durch die üblen Lebensweisen vieler Kleriker und durch die Lehre der Ketzer. Ersteres sei aber gar nicht so dramatisch, denn die Kleriker könnten leben, wie sie wollen, so lange sie keine Irrlehren erdichten und diese unter dem Schein eines angeblich reinen Lebens verbreiten. Die Lutherischen hingegen würden nur deshalb gegen die zu hohen Zahlungen des Volks an den Klerus wettern, weil sie Stimmung gegen diese machen wollten. Wenn eines Tages gemäß der evangelischen Absicht Priester, Kirche, Messe, Sakramente und andere religiöse Praktiken verschwunden seien und das Seelenheil der Gläubigen verspielt wäre, dann hätten die Ketzer das Ziel ihres subtilen Wegs erreicht: die Zerstörung der Christenheit.710 Paul Bachmann konkretisiert dieses Deutungsschema bezüglich der Heiligenverehrung. Er verteidigt die notwendigen Ausgaben und den materiellen Aufwand in seiner zweiten Anti-Luther-Schrift im Zusammenhang mit der von Luther heftig attackierten Heiligenerhebung Bennos von Meißen im Herzogtum Sachsen (1524). Bachmann zitiert Luthers Kritik, dass den armen Leuten Geld abgenommen werde für den Schmuck in den Kirchen und die teuren Bilder. Mit diesem Geld würden faule Fresser

708 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 367 f. 709 Vgl. Schmidt, Alexander: Konfession und Vaterland. Katholische Reaktionen auf den protestantischen Patriotismus im Alten Reich 1520–1620. In: Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. Hrsg. von Thomas Kaufmann [u. a.]. Gütersloh 2008 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 207). S. 13–48; Bagchi, David V. N.: „Teuschlandt uber alle Welt.“ Nationalism and Catholicism in Early Reformation Germany. In: ARG 82 (1991). S. 39–58. 710 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408). S. 477 f.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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und Müßiggänger in den Kirchen und Klöstern genährt. Bevor daraufhin Bachmann die Notwendigkeit der Bilder als Frömmigkeitshilfe für den gemeinen Mann begründet, erläutert er die seiner Meinung nach wahren Absichten Luthers. Dieser singe nur sein altes Lied, mit dem er gerne alle Welt zu Hass und Neid gegen die Diener Gottes und die Heiligen bewegen wolle.711 Die Abgaben an die Kirche und die Obrigkeit sowie die Gliederung der Gesellschaft in Kleriker und Laien gelten den altgläubigen Autoren als Reizmittel, deren sich Luther bediene, um in Wahrheit die heilbringende und lang erprobte Religionskultur der alten Kirche hinwegzufegen.712 In die antilutherischen Diskurse findet Anfang der 1520er-Jahre die Figur des Karsthans Eingang. Im November 1520 will der Straßburger Franziskaner Thomas Murner hinter Luthers angeblicher Hetze gegen die Obrigkeiten in deutscher Sprache eine gezielte Propagandastrategie erkannt haben. Je mehr Luther gegen Obrigkeit und Klerus anrede, desto größer werde sein Erfolg beim gemeinen Mann und bei Hans Karst. Murner hat Karsthans jedoch nicht erfunden, sondern greift zurück auf eine im Elsass gängige Repräsentation des gemeinen Manns als Bauer Hans, der den Kars, d. h. die zweizinkige Hacke, führt. Bereits Johann Geiler von Kaysersberg hat die Figur in seiner Predigt über das Narrenschiff von Sebastian Brant (1498) verwendet.713 In der evangelischen Kultur wird Karsthans besonders ab 1521 zum Symbol des religiös mündigen, das Priestertum aller Gläubigen realisierenden Laien, der zudem bibelfest auf Augenhöhe mit dem Klerus diskutieren kann und seine gesellschaftliche Umwelt autonom und kritisch analysiert. In frühen Texten erscheint er sogar tendenziell als gewaltbereit. Aber noch vor 1525 wird Karsthans in evangelischen Schriften und Abbildungen so sehr seiner subversiv-kritischen Konnotation beraubt, dass er für die aufständischen Bauern keine Rolle als Identifikationsfigur mehr spielen sollte.714 Ein weiterer Grund für die Ambivalenz, die auf allen Seiten mit der schillernden Figur des Hans Karst verbunden ist, dürfte in der zumindest in Teilen erfolgreichen altgläubigen Deutung im Repräsentationskampf begründet liegen. Die Luthergegner verwenden Karsthans als Projektionsfläche der gesellschaftlichen Auswirkungen der Reformation in einem völlig anderen Sinn als die Evangelischen. Sie zeichnen Karsthans als ungelehrten Laien, meist als tumben Bauern, der durch Luthers Reden ver-

711 Bachmann, Wider das Eberschwein Luther (wie Anm. 656), S. 741. Ähnlich Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 655. 712 Diese Argumentationslinie setzt sich auch nach den Bauernkriegen fort, z. B. bei Murner, Hier wird angezeigt (wie Anm. 586), S. 822. 713 Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 142; Neukirchen, Thomas (Hrsg.): Karsthans. Thomas Murners „Hans Karst“ und seine Wirkung in sechs Texten der Reformationszeit. Heidelberg 2011 (Beihefte zum Euphorion 68). S. 285–287. 714 Vgl. Kaufmann, Thomas: Die Geschichte der Reformation. Frankfurt am Main/Leipzig 2009. S. 313–317; Neukirchen, Karsthans (wie Anm. 713), S. 288–296; Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 104–105.

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führt und zu Aufruhr, Gewalt und Umsturz angereizt werde. So beschreibt ihn 1522 der Sachse Wolfgang Wulffer: Karschthans drauet uns aber mit flegel und kolben yn hauffen tzu schlaen. Liber Karschthans, schlae yn eynem ledigen wynckel, du mochst sunsten Luder und pabst treffen und schluchst doch nymands seher, dann dich selbst. Karschthans ist hirumb auch unsinnig worden, vormeynt mit seynem schlaen und buchen Gottes werck tzu fordern, so er doch ungerecht, wer schlecht, der ist unrecht… Sye beid sennd nichts, Karschthans ist nichts, Luder ist nichts, Karschthans und Luder seynd eyn ding, alleyn Christus Jesus ist der warhafftig naturlich sone Gottes und vorheischen Messias, der treybet das redleyn aus und eyn yn die hertzen der gotforchtigen kyndern und gybet gewalt, Gottes sone tzu werden, den die yn yn glauben.715

Karsthans droht in Wulffers Darstellung mit Flegel und Kolben, was auf seine Gewaltbereitschaft hindeutet und ihn mit den Insignien der spätmittelalterlichen Bauernaufstände als Drohkulisse hinter der evangelischen Bewegung erscheinen lässt. Dabei ist der Bauer außer Kontrolle geraten: Er schlägt wild um sich und könnte sowohl Luther als auch den Papst treffen. Dabei glaubt Karsthans, mit seiner Gewalt eine der Sache Gottes förderliche Handlung zu begehen. Obwohl potenziell bedroht vom alles umstürzenden Karsthans, wird Luther mit diesem doch parallelisiert, womit der altgläubige Autor die Frage, woher der Bauer die Anregungen für sein Handeln und Denken bekommen hat, eindeutig mit Blick auf den Wittenberger Reformator beantwortet. Diesen beiden stellt Wulffer Jesus gegenüber, um die Unchristlichkeit der Aufstände zu brandmarken. Auch in dieser Darstellung erscheint der lutherische Gemeine Mann nicht als selbstbestimmt und aus eigenen Überlegungen heraus agierender Mensch, sondern als ein plumper und verführter Grobian, der sich von Gott abgewendet hat. Eine weitere rhetorische Figur im Alten Reich ist der sogenannte Bundschuh. Dieser war im späten 15. und im frühen 16. Jahrhundert vor allem am Oberrhein ein Synonym für Protestbewegungen der Bauernschaft.716 In seiner gleich nach der Rückkehr aus Worms verfassten Schrift Glosse und Kommentar erläutert Johannes Cochlaeus das sozialrevolutionäre Potential, das er Luther und der beginnenden evangelischen Bewegung zuschreibt. Cochlaeus antwortet damit auf Luthers Annahme, dass eine niedrige Anzahl an Geboten und Gesetzen das Recht und die guten Werke stärke: „Reim dich buntschuch, ein böser anfang, noch ein böser end.“ Luther wolle den Bundschuh wiederbeleben, in dem Recht, Ehre und Gesetz ihr Ende nähmen.717 Bildlich kommt die Bundschuh-Metapher in Thomas Murners Großem lutherischem Narren zum Ausdruck. Dort verbinden sich die Figuren der sozial am Rand

715 Wulffer, Wider die Aufruhre (wie Anm. 569), S. 298. 716 Kaufmann, Geschichte der Reformation (wie Anm. 714), S. 58. Vgl. allgemeiner Conrad, Franziska: Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologien im Elsaß. Wiesbaden 1984 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 116). 717 Cochlaeus, Glosse und Kommentar (wie Anm. 614), S. 390 f.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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stehenden Söldner mit dem Hauptmann Martin Luther, der sich seine evangelische Truppe zusammenstellt. Zu dieser gehören nicht nur die lutherischen Narren, sondern auch drei „reissig“, also Söldner, die im Text nacheinander vorgestellt werden. Die Art ihrer Darstellung drückt einerseits ihre Gewaltbereitschaft und ihr militärisches Wesen aus, andererseits aber auch ihren prekären gesellschaftlichen Status und ihre fehlende Ehre. Die Tiere, auf denen die lutherischen Söldner herbeireiten, haben in der Volkskultur bestimmte Bedeutungen. Der erste „reissig“ reitet auf einem Schwein, dem Sinnbild für Schmutz und Heruntergekommenheit. Der Zweite wird auf einer Schnecke sitzend abgebildet, dem Symbol der Faulheit und der sexuellen Lasterhaftigkeit. Der dritte „reissig“ kommt auf einer Gans angeritten, einem der entehrenden Vögel in der Bildsprache des 16. Jahrhunderts.718 Zentral in den Darstellungen ist der geschnürte Bauernschuh, der Bundschuh, das Symbol der aufständischen Bauern des Spätmittelalters. Mit bäuerlichen Arbeitsgegenständen als Waffen verstärkt sich die Deutung der Söldner als gewaltbereite und aufrührerisch-bäuerliche Charaktere. Durch die Bauernkriege sehen sich die deutschen altgläubigen Autoren in ihre Befürchtungen bestätigt. Petrus Sylvius geht in seiner im Juli 1527 erschienenen Flugschrift Klare Beweisung so weit, dass er alte Traktate, die er 1522 geschrieben hat und in denen er die Obrigkeiten vor dem aufrührerischen Potenzial Luthers warnt, nun nochmals aufgreift. Damit will er die Vorhersehbarkeit der Ereignisse unterstreichen und die Zuverlässigkeit der altgläubigen Prognosen aufzeigen. Aus diesem Grund verweist Sylvius auch auf weitere Autoren wie Johannes Cochlaeus und Johannes Eck, die ebenfalls vor einem Aufstand gewarnt haben.719 Die altgläubigen Autoren verurteilen natürlich die Bauern, doch ins Fadenkreuz ihrer Kritik geraten die Reformatoren als angebliche Verursacher des Unglücks. Dass die Angriffe in diesem Zusammenhang besonders Martin Luther persönlich treffen sollen, ist bereits herausgearbeitet worden.720 Doch die Anwürfe beschränken sich nicht auf Luthers angebliche Untreue und Teufelshörigkeit, sondern werden in den größeren Zusammenhang mit zeitgenössischen Vorstellungen des gemeinen Mannes und der guten Gesellschaftsordnung gesetzt. Erneut kommt hier die Vorstellung zum Tragen, dass die Laien verführbar, dumm und gewalttätig seien, aber selbst keine ursächliche Verantwortung für das Geschehene tragen. Vielmehr treffe die reformatorische Führung und, wegen Unterlassung, manche Obrigkeiten die Schuld am Bauernkrieg. In diese Richtung argumentiert auch der bischöfliche Koadjutor von Wiener Neustadt, Johann Fabri. In seinem im August 1526 gedruckten, aber wohl schon ein Jahr zuvor verfassten Summarium greift er Martin Luther heftig an. Dieser hatte sich kategorisch dagegen verwahrt, die Bauernaufstände als Konsequenz der evangelischen Lehre zu sehen, denn dort,

718 Zur Bedeutung der drei besprochenen Tiere vgl. Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 74–75, 140. 719 Sylvius, Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), v. a. S. 435 f. 720 Vgl. Kap. I. 3.1.1.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

wo diese angenommen wurde, sei der Friede erhalten geblieben. Johann Fabri sieht dies genau andersrum: Wo der Gemeine Mann mit Gewalt zur Annahme der lutherischen Lehre gebracht worden ist, hätten sich Bauern am häufigsten erhoben. An vielen Orten hätten die Evangelischen dem Volk gepredigt wie der Wolf den Schafen oder der Fuchs den Gänsen. Hier wird die Vorstellung vom Wolf als unkontrollierbarer Gefahr für die Gesellschaft und für die Seele aufgegriffen. Zudem wird der Wolf in zeitgenössischen Darstellungen mit Kriminellen und anderen gewalttätigen Randgruppen assoziiert: Er steht in Verbindung mit dem Fall der Zivilisation und der guten Ordnung. Als Seelendieb ist er ein enger Mitarbeiter des Teufels.721 Ferner wirft Fabri Luther dessen Schriften gegen die Aufständischen (Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern) und seinen Aufruf zu Gewalt darin vor. Luther sei der Herkules mit dem Kolben und der hochfahrende Goliath. Er komme gerüstet mit einer großen Stange und einem Panzer, mit denen er wild um sich steche und schlage. Nicht mal sein Eidgeselle Karlstadt konnte vor seinem Schwert und Zorn fliehen.722 Mit der Beschreibung Luthers als Herkules greift Fabri wahrscheinlich auf das Thema eines bekannten evangelischen Farbholzschnitts von Hans Holbein aus dem Jahr 1522 zurück.723 Der Autor greift somit ein bekanntes polemisches Motiv der Gegenseite auf und entwickelt es weiter, um es schließlich wieder gegen den Reformator zu wenden. Luther wird, wie in Holbeins Holzschnitt, als schlagender Herkules mit dem Kolben beschrieben, bekommt aber die Assoziation mit dem alttestamentarischen Riesen Goliath hinzugefügt. Der sei derart von Sinnen und unkontrollierbar, dass er sogar und insbesondere auf die eigenen Leute eindresche. Auch der Sachse Petrus Sylvius bringt in seinem Missive vom August 1525 so etwas wie erklärende Empathie für die verführten, geschlagenen und dann angeblich von Luther verratenen Bauern auf: [U]nnd nun er das arm christlich volck durch seyn unchristliche schrifft vorfurt, vorgifftet und yn unwidderruffliche tzwytracht, uffrurh unnd grymmige boszheyt gefurt unnd getriben hat, den mantel sich zu beschönen umbkert und spricht allererst, daz Christus die christenheit underwirfft der öberkeit, szo er doch vormals gelert hat, das unther den christen sall noch kan keyn öberkeit gesein, sonder ein itzlicher ist dem andern zugleych unterthan etc. Und heyst itzt, das man das arm volck, welchs er selbst verfurt und tzum uffruhr widder die öberkeit gebracht hat, sall todtschlahen, stechen und wurgen, wer do kan.724

721 Vgl. Komornicka, Criminals Into Animals (wie Anm. 674), S. 163–168. 722 Fabri, Summarium (wie Anm. 649), S. 189–192. 723 Luther ist als kolbenschwingender „Hercules Germanicus“ zu sehen, der gerade die Hydra der mittelalterlichen Scholastiker besiegt hat. U. a. Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham sind bereits zu Boden gegangen. Zwischen den Zähnen hält er den Henkerstrick des ebenfalls bereits hingerichteten Papstes. Nun holt er zum finalen Schlag gegen Jakob von Hoogstraten, den dominikanischen Scholastiker, Reuchlin-Gegner und Zielscheibe der humanistischen Dunkelmännerbriefe aus. Vgl. Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 32–34. 724 Sylvius, Missive (wie Anm. 542), S. 151 f.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Luther wird als der Urgrund der Bauernaufstände gesehen. Ihn treffe die Verantwortung wegen seiner angeblichen Hetze zu Zwietracht und Bosheit. Er habe die Gleichheit aller Menschen gefordert und die Obrigkeiten für abgeschafft erklärt. Nachdem die Bauern geschlagen worden waren, nachdem Leid und Tod über sie gekommen ist, wende er den Mantel, um von sich abzulenken, verrate die Bauern und fordere deren Tötung. Wie Martin Hille herausgearbeitet hat, beginnt in der altgläubigen Chronistik des 16.  Jahrhundert die Erinnerung an die Reformation mit den Bauernkriegen.725 Dies führt zur Frage nach den Zusammenhängen zwischen Reformation und Zeit und deren Wahrnehmung durch die altgläubigen Autoren.

3.1.4 Reformation und Zeit: die lange Dauer der Häresie Was in altgläubigen Chroniken des 16. Jahrhunderts zum gängigen Topos wird, zeichnet sich auch in der altgläubigen Flugschriftenliteratur ab: Die Reformation wird als Zäsur wahrgenommen. Gleichzeitig sehen die Autoren aber auch Parallelen zu früheren Häresien in der Kirchengeschichte. Das evangelische Andere ist in altgläubiger Deutung nämlich nicht nur eine neue und außergewöhnliche Attacke auf das mutmaßlich Alt-Immerwährende, sondern reiht sich in eine lange Dauer der Häresie ein. Aus der mittelalterlichen Ketzergeschichte steht den Autoren ein großes Arsenal an Argumenten, Literaturtypen und persuasiven Kommunikationsmitteln zur Verfügung, wodurch nicht zuletzt der Einschnitt- und Bruchcharakter der frühen Reformationszeit etwas relativiert wird. Zugleich kommt es um 1530 in der deutschen Kontroversliteratur zu einer ersten apokalyptischen Zuspitzung.726 Seit der Disputation von Leipzig zwischen Eck und Luther und den darauffolgenden Monaten verbinden zunächst einige Theologen die lutherische Lehre mit den Hussiten. Eck war aber nicht der erste, der so argumentierte, anders als in der Forschung des Öfteren angenommen wird.727 Denn schon der Ablassprediger Johann Tetzel argwöhnte im Frühjahr 1518 in Bezug auf Luthers Rechtfertigungslehre, dass mit ähnlichen Worten vor Jahren die Ketzer John Wyclif und Jan Hus zeigen wollten, dass Beichte und Buße nicht nötig seien.728 Mit der Analogie zu den spätmittelalterlichen Ketzern bezwecken die Luthergegner die Diffamierung und theologische Kon-

725 Hille, Providentia Dei (wie Anm. 45), S. 252–255. 726 Hille, Providentia Dei (wie Anm. 45), S. 281–286, 390 f.; Arnold, John H.: Catholic Reformations. A Medieval Perspective. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. Von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 419–434, hier S. 421. 727 Bagchi, Earliest Opponents (wie Anm. 43), S. 240  728 Tetzel, Johann: Widerlegung eines vermessenen Sermons. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 51–71, hier S. 55 f. Zur Datierung siehe den Kommentar des Hrsg., S. 68 f. Auch Kaufmann, Geschichte der Reformation (wie Anm. 714), S. 175,

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

taminierung der Lehre des Wittenberger Augustiners. Darüber hinaus setzen sie auf eine implizite Stärkung der eigenen argumentativen Position.729 Neben Johannes Eck zählt Hieronymus Emser, der Kaplan am albertinischen Hof in Dresden, zu den ersten, die sich problematisierend mit Luthers Haltung zu den hussitischen Böhmen auseinandersetzen.730 Rasch verschärft Emser dabei den Ton und spitzt seinen Hussitenvorwurf zu. Er klagt Ende 1520 oder Anfang 1521 in seiner Schrift An den Stier zu Wittenberg, dass Luther den Deutschen die schon lange verdammte Ketzerlehre von Jan Hus wiederbringe und damit ein erloschenes Feuer aus der Asche hole.731 Im Wormser Edikt von 1521 heißt es, dass Luther die durch Konzile und Päpste verdammten Lehren von Neuem aus der Hölle gezogen habe.732 Der Wittenberger Augustiner erscheint den altgläubigen Kontroversisten zu diesem Zeitpunkt als jemand, der nicht nur Neues entwickelt, sondern in hohem Maße alte Häresien erneuert und noch zusätzlich verschärft. Allerdings ist die Häufigkeit der Analogie mit Hus und Wyclif ein deutsches Phänomen, französische Autoren bleiben meist allgemeiner in ihren historischen Vergleichen.733 Die Folgen dieser harten Geschichtsmaßstäbe sind dennoch schwerwiegend. Denn die Assoziation der Reformation mit dem historisch als übel und verderblich Erwiesenen wird zum dauerhaften Muster im Umgang mit den Protestanten. Diese Wahrnehmung macht, einmal kulturell verwurzelt und im eigenen Lager akzeptiert, eine spätere Verständigung nicht nur zwischen den Theologen überaus schwierig. Paul Bachmann verwendet 1522 in seiner ausführlichen Personenbeschreibung Luthers folgendes Bild, um die zeitliche Dimension der lutherischen Häresie zu erfassen: „Luther ist eyn veister ketzer, gemast vonn fetykeyt des ackers, den dye alden vordampten ketzer bepfercht und getunget haben, welcher acker ja früchte traget, aber nicht brauchlich den schaffen Christi, sunder den sauwen, von deßern sauwen

weist darauf hin, dass Tetzel hier erstmals den Häresieverdacht gegen Luther „öffentlich wirksam aufscheinen“ lässt. 729 Vgl. auch Sypher, Image of Protestantism (wie Anm. 367), S. 68. Für eine evangelische Perspektive vgl. Benrath, Gustav Adolf: Die sogenannten Vorreformatoren in ihrer Bedeutung für die frühe Reformation. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996. Hrsg. von Bernd Moeller. Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199). S. 157–166. 730 Im August 1519 schreibt Emser einen Brief an den Administrator des Erzbistums Prag, Johann Žak, in dem er vorgibt, Luther gegen den in Leipzig enstandenen Ruch hussitischer Ansichten zu verteidigen. Der Brief erscheint als lateinischer Druck und wird von Luther bitter aufgenommen – und entsprechend beantwortet – da er sich in die Enge getrieben fühlt. Vgl. die Einleitung des Herausgebers bei Thurnhofer, Emser (wie Anm. 392), S. 15 f. Dort ist auch der Brief De disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est ediert. 731 Emser, An den Stier (wie Anm. 392), S. 223. Zur Datierung der Flugschrift vgl. den Kommentar des Herausgebers, S. 225 f. 732 Wormser Edikt (wie Anm. 525), S. 512. 733 Für eine der raren expliziten Nennungen vgl. Conrad, Miroir (wie Anm. 431), Bl. 51v.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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oß, treber und spulicht Luther incrassatus, inpinguatus, dilatatus.“734 Luther nährt sich in dieser Darstellung auf dem Acker der antiken und mittelalterlichen Ketzer, deren Früchte für die Schafe, d. h. für die wahren Christen, ungenießbar seien. Mit der Ernte des ketzerischen Ackers werden Schweine gefüttert, von deren Kot und Abfall sich Luther dick und fett mäste. Das Bild des Schweins wird hier, wie auch in anderen zitierten Textstellen, als jenes eines schmutzigen, unehrenhaften Tier verwendet, das sich auf dem Feld der Ausgestoßenen und der Ketzer tummelt. Die verurteilten Häresien bzw. das, was davon übriggeblieben ist, nehme Luther körperlich auf und stärke sich daran für sein eigenes Handeln. Die Reproduktion und Aktualisierung der mittelalterlichen Häresien, die Bachmann Luther unterstellt, erscheint somit als ein Kreislauf von Lehren und Praktiken, die im Kern aber bekannt und lange verurteilt sind. Besonders im Herzogtum Sachsen mit seiner geographischen Nähe zu Böhmen und den Erfahrungen aus den Hussitenkriegen ist der Vergleich von großer Häufigkeit und Bedeutung. Hinzu kommt, dass Herzog Georg der Bärtige familiär vorbelastet ist: Sein Großvater mütterlicherseits war der Hussitenkönig Georg von Podiebrad.735 Allerdings belassen es die altgläubigen Autoren nicht bei den Bezügen zu den Hussiten und deren Nachfolgegruppen, die in Böhmen ein wichtiger Teil der christlichen Kulturen geblieben sind und aus Böhmen und Mähren im 16. Jahrhundert für kurze Zeit ein einzigartiges multikonfessionelles Gebiet machen sollten.736 Wolfgang Redorffer, der Propst des Nicolaistifts im brandenburgischen Stendal, stellt in seiner Schrift Von der heiligen gemeinen christlichen Kirchen der alten Kirche die lutherische Kirche gegenüber. Diese attackiert Redorffer mit einem längeren und für die altgläubigen Schriften durchaus typischen Deutungsmuster: Die lutterische kirche und ir ursprung ist nicht frembd, aber in den kronicken und historien seer woll bekant. Auch in der heiligen schrifft, durch die cristlichen lerer gantz klar gemacht, durch Cristum im evangelio, durch Paulum und andere apostoln in iren episteln nit vergessen, besunder gnugsam angetzeigtt, das nymandts sagen mag, das es ein newe oder frembde lere, die vor nye gehöret were, itzund von hymmel geholet, wan aus den historien gantz woll wislich, in was meynung Petrus Waldo erstlich bey den frantzosen in gestalt einer willigen armut den anfangk disser secten angehaben, welcher die Lugduner, wie woll pald uneyns und unter sich selbst widerwertig, anhengig, vill irsall in cristlicher eynikeit einfurten. Derhalben solch ir ungegrunte lere und ketzereyen von der romischen kirchen verpotten, sie ketzer erkennet und verdammet worden sein. Demnach und in verdries, das inen solch ir muthwillig furnemen durch die geistliche romische oberkeit gestopfet und verhindert worden, haben sie, so vill inen möglich, altzeit bas an her, der romischen kirchen unnd derselben heiligen gewaltt widersprochen, unnd was sie nit offentlich vermugt, hemylich und in winckeln unterstanden, bas entlich Johannes Wicleff in

734 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 379. 735 Volkmar, Reform statt Reformation (wie Anm. 394), S. 453–455. 736 Mat’a, Petr: Constructing and Crossing Confessional Boundaries. The High Nobility and the Reformation of Bohemia. In: Diversity and Dissent. Negotiating Religious Difference in Central Europe, 1500–1800. Hrsg. von Howard Louthan [u. a.]. New York 2011 (Austrian and Habsburg Studies 11). S. 10–29.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Engellandt unnd Hans Husse zu Behem solche ire ungegrundte meynung auch in lateinischen puchern geschrieben haben.737

Luther speist seine Ideen dieser Darstellung zufolge aus drei aufeinanderfolgenden Häresien, die nach den frühen Warnungen und Hinweisen Christi, der Kirchenväter und Apostel entstehen. Die Ketzertradition beginnt für Redorffer mit Petrus Valdes aus Lyon, dem Begründer der südfranzösischen Waldenserbewegung des späten 12. Jahrhunderts. Diese zeichnete sich durch ihre arme Lebensweise aus, weswegen ihre Anhänger auch „Arme von Lyon“ genannt wurden, sowie u. a. durch den Gebrauch volkssprachlicher Evangelien. Nachdem sie verurteilt worden waren, seien sie in den Untergrund gegangen, aber nicht vollständig ausgelöscht worden. So hätten später der Engländer John Wyclif und der Tscheche Jan Hus die Ketzerlehren wieder aufgegriffen und in lateinischen Büchern verbreitet.738 Anders als Paul Bachmann, der mit seiner Acker-Metapher eher einen Kreislauf der Häresie impliziert, stellt Redorffer die lineare Kontinuität zwischen den mittelalterlichen Ketzereien und den Lutherischen heraus, die in dieser Chronologie eine weitere Verschärfung bedeuten. Ketzerchronologien haben im Alten Reich während des gesamten Untersuchungszeitraums Konjunktur, nicht nur in Mitteldeutschland, sondern auch bei süddeutschen Autoren wie dem Münchner Dichter und Gelehrten Wolfgang Hermann, genannt Kyriander.739 Eine besonders ausgefeilte und stringente temporale Einordnung der Anderen entwirft Augustin von Alveldt, der Guardian des Franziskanerkonvents in Halle. Alveldt geht in seiner 1524 im Zuge der Auseinandersetzung mit Luther um den Heiligenkult erschienenen Schrift Wider den wittenbergischen Abgott bis in die Antike zurück. Zwei Kirchen kämpfen in dem Text gegeneinander: die wahre und am Ende immer siegreiche christliche Kirche und die Gemeinschaft der Bösen und der Ketzer, deren Haupt der Teufel ist. In der Folge repräsentiert Alveldt die Kontrahenten als zwei Körper mit zeitlich und personell definierten Gliedmaßen. Das Andere ist demnach kein abgetrennter Teil des corpus christianum, sondern seit Anbeginn der Welt eine eigene Gestalt bzw. ein Gegenkörper, dem sich Alveldt in seiner Beschreibung chronologisch nähert.

737 Redorffer, Von der Kirche (wie Anm. 427), S. 849 f. 738 Beide hätten alles auf den Glauben gesetzt, auch als Angriff gegen die römische Kirche, und die guten Werke verachtet. Das Prinzip der Rechtfertigung aus der Gnade Gottes (sola gratia) schreibt Redorffer den spätmittelalterlichen Häretikern ebenfalls zu. Diese hätten Irrtümer vom Fegefeuer, den Heiligen und bei der Schriftauslegung verbreitet und wie Luther die Gelehrten der Kirche beiseite geschoben. Redorffer, Von der Kirche (wie Anm. 427), S. 850. 739 Hermann, Wolfgang: Was die Gmain Chri=//stelich vnd Appostolische Kirch für Trüb=//selkait/ vnnd veruolgung von Tirannen/ // Ketzern und abtrinnigen/ erlitten hat/ auch von // der selbigen Tiranney/ Secten/ Irtungen/ // leren/ früchten/ zwitrachten/ vnd // auffruren von zeyten der // Appostel bißhero. [München: Schobser] 1539. VD16 H 2442. Vgl. zur Biographie Westermayer, Georg: „Hermann, Wolfgang“. In: ADB 12 (1880). S. 188.



3.1 Repräsentationen des evangelischen Anderen 

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Er beginnt im Alten Testament u. a. mit dem Brudermörder Kain. Die Ketzerkirche habe ihr erstes Konzil beim Turmbau zu Babel gehalten, bei dem sie Gott den Himmel streitig machte. Weitere böse Kirchen wurden etwa in Sodom und Gomorra errichtet oder beim Tanz um das Goldene Kalb. Auch der Verräter Judas gehörte der teuflischen Gemeinschaft an. Doch nach dem Kreuzestod Jesu sei die Kirche des Teufels sehr geschwächt gewesen, weshalb der Dämon zu einer neuen Strategie gegriffen habe und unter den guten Samen des Evangeliums bösen Samen mischte, nämlich die Ketzerei, die zum Tod der Schafe Christi führt. Allerdings konnten die Apostel diese Gefahr zu Anfang noch erfolgreich bekämpfen. Deshalb habe der Teufel Tyrannen wie die römischen Kaiser Nero und Diokletian mit den Christenverfolgungen beauftragen müssen. Dann kamen die spätantiken Ketzer, u. a. Arius, der die Gottheit Christi verneinte, Nestorius und dessen mutmaßliche Irrlehren über die zwei Naturen Christi und Mohamed. Doch auch dieser neue Schub an Häresien sei erfolgreich niedergeschlagen worden, diesmal durch die Schriften der Kirchenväter. Erst im 14. Jahrhundert konnte so die Ketzerei wieder auferstehen, in der Person des Engländers John Wyclif, auf dessen Bücher sich dann wenig später Jan Hus bezogen habe. Deren Glut sei nun durch einen Wind aus Norden – aus Wittenberg – neu entfacht worden.740 Unter all diesen sukzessiven Angriffen auf die christliche Kirche stellt die lutherische Häresie für Alveldt eine apokalyptische Zuspitzung dar: [S]o kommet der teuffel selbst auff einem meyneidigen munch, (das ist) auf Mertten Luther geritten, welcher des teuffels sattil sein, darmit er den antechrist satteln, und wan er aussgeritten haben, pferd unnd sattel in das hellische fewer werffen wirt… Dyser lotter ist nicht ein eigner dichter der bubreyen, schalckheyten und ketzereyen, sonder ein… vernewer aller vorgehenden ubel unnd boßheit und nun in dyßen zeyten des teuffels stathalter und ein öberst hauptman an seiner kirchen.741

Neben der in diesem Zitat wiederkehrenden Verbindung zwischen Luther und dem Teufel zeigt sich eine Verdichtung um die Person des Wittenberger Reformators. Dieser sei der Sattel des Teufels, der diesmal selbst den Angriff gegen die Kirche reite und den Sattel für den Antichristen vorbereite. Luther sei das bisher beste Instrument der ketzerischen Kirche und selbst Hauptmann der Teufelskirche, was ihn in eine besondere Nähe zu Luzifer bringt. Dabei steht Luther in der zeitlichen Dimension wiederum nicht als Neuerer da, sondern als Erneuerer und Verschärfer alter Ketzereien, die nun heftiger und drohender als je zuvor auf die Kirche eindringen. Die Altgläubigen greifen diese temporale Rückbindung der Anderen in ihren eigenen Selbstdarstellungen auf. Der Rekurs auf das Alte und Immerwährende wird dabei auf vielfältige und innovative Arten zu einem Gesamtbild des Eigenen umgearbeitet.

740 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 31–35. 741 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 526), S. 35 f.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 3.2.1 Die alte Kirche im ewigen Kampf Die Repräsentationen altgläubiger Zugehörigkeiten sind eng mit der Zeit verbunden. Die Konstruktion dieser Identitäten im Alten Reich und Frankreich kann überhaupt nur in Verbindung mit temporalen Selbsteinordnungen verstanden werden, die der neu entstehenden Gruppe nicht zuletzt ihren Namen geben. Metaphern, Sprachbilder und Vergleiche funktionieren dabei im Rahmen des bereits herausgearbeiteten Mechanismus kultureller Diversifizierung: Der altgläubige Unterschied ergibt sich einerseits aus der Fortentwicklung spätmittelalterlicher Kulturelemente, die sich die in Frage stehenden Gemeinschaften als distinktive Propria aneignen, andererseits aus Abgrenzung, Reaktion und Bezug zum evangelischen Anderen und dessen Selbstäußerungen. Im Eigenen findet sich somit auch ein Stück des Anderen wieder – und umgekehrt. Obwohl die altgläubigen Autoren für ihre Lehre, ihre Kultur und ihre Institutionen sozusagen transtemporale Konstanz einfordern, werden zentrale Merkmale und Aussagen seit Beginn der 1520er-Jahre in ein neues Licht gerückt und auf andere Art beleuchtet. So etwa von Michael Hillebrandt in seiner Flugschrift über die gefährlichen letzten Zeiten aus dem Jahr 1535. Für Hillebrandt sind die letzten Tage angebrochen, die Paulus im zweiten Brief an Timotheus angekündigt hat: Die Menschen wollen die Wahrheit nicht mehr hören und suchen nach neuen Lehrern, die den Ohren schmeicheln. Paulus ermahnte Timotheus, in dieser Zeit dennoch das Leid zu erstragen, das Evangelium zu verkünden und seinen Dienst zu erfüllen (2 Tim 4, 2–5). Genau diese affirmative Haltung verlangt der Autor in den letzten Tagen von den altgläubigen Christen. Sie sollen kurz vor dem Ende der Welt weiter die christliche Wahrheit propagieren.742 Für den Schweizer Altgläubigen Johannes Buchstab handelt es sich bei den Häresien sogar um eine Notwendigkeit, damit die wahren Christen überhaupt ausfindig gemacht werden können. Die aktuelle Entwicklung ist also eine Art apokalyptischer Test für die Altgläubigen, in dem sie sich als standhafte Christen beweisen müssen. In einer eschatologisch grundierten Passage in der wahrscheinlich 1528 veröffentlichen Flugschrift über die Auslegung der Bibel durch die Geistlichen greift Buchstab u. a. auf eine Stelle aus Jesu Rede an die Gemeinde zurück, in der Christus betont, dass es zwar Verführungen geben müsse, aber er auch den Verführern droht (Mt 18,7). Weiterhin weist er auf eine markante Passage des ersten Korintherbriefs hin, in dem Paulus über die Differenzen innerhalb der Gemeinde bezüglich der Feier des Abendmahls spricht. Diese Spaltungen, sagt Paulus, seien notwendig, denn nur so würde sicht-

742 Hillebrandt, Letzte fehrliche Zeiten (wie Anm. 549), Bl. A2v–A3v.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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bar, wer unter den örtlichen Christen treu und zuverlässig ist (1 Kor 11, 18–19).743 So erhält die eigene Position in dem altgläubigen Text einen prägnanten Sinn: Die Fortsetzung des Alten und Immerwährenden in eschatologischen Zeiten als eine Form der Prüfung. Die Distinktion ist das Ziel, das Mittel dazu ist die Differenzierung der Christengruppe. Die altgläubigen Autoren situieren sich in der langen Dauer auf eine besondere Weise. Sie argumentieren, dass ihre Theologie, ihre Rituale und Wissensordnungen unverändert seit der Zeit der Apostel in Gebrauch seien oder zumindest seit vielen Jahrhunderten und nach eingehender Prüfung durch die Kirche institutionalisiert seien. Zeit als christianisierendes Moment begründet und legitimiert somit auch Rituale und Lebensweisen, die nicht biblisch begründbar sind. Das Alte als metaphorische Kategorie verwendet u. a. Hieronymus Emser in seiner im Januar 1521 gedruckten Antwort auf Luthers Adelsschrift als Bestandteil einer Waffenschau gegen den Wittenberger Augustiner.744 Das Schwert symbolisiert das Evangelium und der kurze Degen die Kirchenväter. Die spätantike und mittelalterliche Theologie und insbesondere die Scholastik werden zu symbolischen Waffen. Die Tradition, die Emser für seine Kultur in Anspruch nimmt, stellt er in der Form des Spießes dar: „Durch den langen spies sol man vorstehen den langwirigen brauch, ubung und alt herkommen der christenlichen kirchen, und was die liben veter von anbegin der kirchen Got oder seinen heiligen tzu eren und uns tzu seligkeit auffgesatzt, durch die gantzen christenheit entrechtiglich gehalten und biß auff uns hergebracht haben.“745 Der lange Brauch und die bisher unverändert und allgemein beachtete Übung sowie das alte Herkommen der Kirche sind gängige und positiv besetzte Begriffe in den altgläubigen Texten, durch welche die von den Protestanten angegriffenen Bräuche legitimiert werden sollen. Der Bezug zu den Kirchenvätern als geistige Autoritäten verstärkt diesen Effekt ebenso wie der Hinweis, dass die spezifischen Frömmigkeitspraktiken und religiösen Kulturformen mit dem Beginn der Kirche zusammenfallen und somit nicht ohne schwere Beschädigung der Grundlagen des Christentums abgeschafft werden können. Der Zweck der geltenden Praktiken ist ebenso klar: Sie sind ein bewährtes Mittel, um Gott zu loben und das Seelenheil zu gewinnen. Doch dabei bleibt es nicht. Der Spieß des alten Herkommens erhält bei Emser einen neuen, zusätzlichen Sinn in Anbetracht der veränderten religiösen Umwelt. Er wird zur militaristischen Repräsentation des Eigenen, das nun nicht mehr nur „normal“ ist, sondern sich gegen andere Gruppen wendet. Gerade dieser Aspekt wird sich in der Performanz und der Bedeutung der konkreten Praktiken wiederfinden. In dieser Logik stellt Augustin von Alveldt gegen die seit Anbeginn der Zeit existierende Kirche des Teufels wiederum „seine“, die wahre Kirche, deren Haupt Chris-

743 Buchstab, Biblische Schriften (wie Anm. 429), S. 873–875. 744 Emser, Wider das Buch an den Adel (wie Anm. 400), S. 232–236 745 Emser, Wider das Buch an den Adel (wie Anm. 400), S. 234.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

tus sei. Er ordnet diese, wie die Ketzerkirche, in die lange Dauer ein. Die frühesten Gliedmaßen dieser Kirche waren Abel, der von seinem Bruder erschlagen wurde, sowie Noah, Hiob, Abraham, Isaac und Jakob. Moses habe diese Gruppe ebenso verkörpert wie David. In dieser Kirche, schreibt Alveldt, seien Laster und Missstände nie ungestraft geblieben. Dann kam Christus selbst auf die Erde, baute seine Kirche von Neuem auf und sandte ihr den heiligen Geist, der sie bei schwierigen Entscheidungen bis ans Ende der Zeit zur Wahrheit führen werde. Christus habe Petrus befohlen, die Kirche vor den Wölfen, Dieben und Mördern zu bewahren. Diese Ketzer hätten die Kirche oft angefochten, doch habe sie die 13 Verfolgungen – gemeint sind die Christenverfolgungen in der Antike – sowie 21 Schismen und 300 Häresien, die der Teufel geschickt habe, überstanden. Den Grund für diese sagenhafte Durchhaltekraft seiner Kirche findet Alveldt im Matthäusevangelium. Nach dem Bekenntnis des Petrus habe Jesus zu diesem gesagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18). Diese Aussage liefert Augustin von Alveldt den entscheidenden Erklärungsansatz für die früheren Siege der Kirche und ermöglicht ihm zugleich eine zeitliche Perspektive in die Zukunft, in der sich diese Kontinuität der unüberwindlichen Kirche fortsetzen werde: ecclesia semper triumphans.746 Alveldt fährt fort mit einer genaueren Beschreibung dieser Kirche, zu der er sich zugehörig fühlt und in deren Kontinuität er sich und seine Kultur einschreibt, besonders im Gegensatz zur ketzerisch-diabolischen Sammlung. Da heißt es: Dyse kirch hat auch ein freyen namen, welchen yr weder fleysch, weld noch teuffel benemen kan, nemlich: catholica, das ist: offentlich, gemein… Apostolica heyst sie auch, darumb das sie allein einen stul ader eins apostels ampt hat, darinnen auch nun ein stetter stadthalter Christi und sant Peter sitzen sol; welcher stul allein ungereittert beliben ist, der andern apostel stul aber alle durch des teuffels sib gefallen… In dysem stul hat kein babst gesessen, der dyser kirchen ader samlung ym glauben und der selen weyd… schaden het mögen zufugen.747

Das Eigene, dem sich Alveldt zurechnet, ist demnach katholisch, also im bereits analysierten Sinn allgemein und die Welt umfassend. Sie ist apostolisch, was für Alveldt im Jahr 1524 bedeutet, dass sie dem Papst untersteht. Die Papstinstitution ist für den Autor, anders als für seine französischen Glaubensgenossen, zentral bei der Beschreibung der eigenen Gemeinschaft. Das Papsttum habe niemals geirrt und die Päpste seien ihrer Pflicht als Hirten der christlichen Schafe stets voll und ganz gerecht geworden. Auch das Motiv des immerwährenden Triumphs über die Ketzer klingt nochmals an. Diese zeitliche Einbettung des Eigenen findet sich in vielen deutschen Flugschriften wieder. Auch Wolfgang Redorffer arbeitet in seiner Schrift Von der Kirche mit dem Bild der zwei wiederstreitenden Kirchen und repräsentiert dabei die Kirche in einem

746 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 27–29. 747 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 29 f.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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ähnlichen chronologischen Schema. Er betont die ununterbrochenen Siege seiner Gemeinschaft, deren Führung für die Auseinandersetzung mit den Ketzern zuständig sei.748 Auch der Bayer Wolfgang Hermann denkt bei der Gegenüberstellung der Kirche Gottes mit der Ketzerkirche Satans in ähnlichen Kategorien.749 Darüber hinaus finden sich auch Einbettungen einzelner Dynastien wie der Herzöge von Lothringen in die Kontinuität des christlichen Kampfs gegen Ketzer und Ungläubige.750 Diese Betonung des Eigenen ist im Alten Reich sehr institutionsbezogen und papstzentriert. Für Augustin von Alveldt ist es die Aufgabe der Kirchenführung, das Unkraut der Ketzereien auszurotten. Nur auf der Grundlage der unfehlbaren Entscheidungen der Konzile und des Handelns der Päpste und Prälaten sei es möglich, dass sich die Kirche seit nunmehr 1400 Jahren der heiligen Sakramente erfreue, in Armut, Keuschheit und Gehorsam lebe, sich vieler guter Werke befleißige und im wahren Glauben geblieben sei.751 Bei dieser Darstellung und der Rolle, die dem Klerus und der Kirchenführung zugeteilt wird, ist freilich zu berücksichtigen, dass Alveldt selbst Teil dieser Führungsgruppe ist: Er ist Guardian des Franziskanerkonvents in Halle und zwischen 1529 und 1532 Provinzial der sächsischen Ordensprovinz.752 Dies mag, wie in anderen Fällen auch, die sehr institutionelle Beschreibung des Eigenen befördert haben. Die Handlungsinitiative auf altgläubiger Seite wird den Klerikern zugeschrieben und darunter besonders den Bischöfen und dem Papst. Laien hingegen nehmen meist eine eher untergeordnete Rolle ein: Sie sollen schlichtweg gehorchen, das Bekannte fortführen und sich von theologischen Diskussionen fernhalten. Dieses Ergebnis in der polemischen Literatur deckt sich mit den Beobachtungen von Judith Pollmann bezüglich der Altgläubigen in den frühreformatorischen Niederlanden. Pollmann hat die Dominanz derartiger altgläubiger Schriften und Predigten für die anfangs verhaltene und passive Reaktion der Katholiken auf den kalvinistischen Mili-

748 Redorffer betont, dass es sich beim Eigenen nicht nur um die gemeine christliche, sondern auch um die apostolische Kirche handelt, d. h. um die Gemeinschaft, die das Evangelium und die religiösen Rituale nach der Aufsetzung von Petrus und den Aposteln forführe – gerade wegen der ständigen Anfechtungen. Diese apostolische Kirche sei die römische Kirche, die den Regierungsauftrag erhalten habe und seither über die Ketzereien entschieden habe. Redorffer, Von der Kirche (wie Anm. 427), S. 850. 749 Hermann, Wolfgang: Bayder Kirchen – der hei=//ligen vnd der Bößhafften/ sampt dero // glideren/ vnndterschidliche erkanntnuss. München: Schobser [1538]. VD16 H 2432. 750 Vgl. Brachmann, Christoph: Zeugnisse öffentlicher und privater Positionierung im Glaubensstreit. Die Victoire contre les Lutheriens von 1526 und das Stundenbuch von Herzog Antoine le Bon von 1533. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Hrsg. von Andras Tacke. Regensburg 2008. S. 241–266. 751 Alveldt, Wider den Abgott (wie Anm. 536), S. 30 f. 752 Zur Biographie vgl. Smolinsky, Alveldt (wie Anm. 464), S. 48.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

tantismus verantwortlich gemacht.753 Ein vorhergehendes Ergebnis meiner Untersuchungen legt jedoch nahe, dass die Flugschriften bereits vorhandene Wissensformen eher spiegeln, als diese von oben zu prägen oder gar zu erschaffen.754 Die Autoren dürften also nicht völlig an Überzeugungen und Verhaltensweisen ihrer antilutherischen Ziel- und Käufergruppen vorbei geschrieben haben. Ich möchte deshalb einen zusätzlichen Erklärungsansatz für diese im Verhältnis zu den tatsächlichen Verhaltensweisen und Aktionen der altgläubigen Gemeinschaften und Einzelpersonen, wie sie im zweiten und dritten Teil dieser Studie erkennbar werden, verschobene metaphorische Selbstdarstellung vorschlagen. Die altgläubigen Selbstrepräsentationen entwickeln sich nicht isoliert aus sich heraus. Gemäß der Funktionsweise der frühreformatorischen Repräsentationskämpfe, greifen die Autoren die Bilder auf, welche die Protestanten von den Reformationsgegnern zeichnen. Wie sehen diese aus? Ein Kuperstich von Lucas Cranach dem Jüngeren (Abb. 4, um 1540) mag das verdeutlichen. Der lutherische Künstler zeigt darauf die zwei Lager der Reformationszeit. Auf der linken Seite empfangen die Lutheraner das Abendmahl, wobei typischerweise die Kommunion des Laienkelchs deutlich herausgestellt wird.755 Auf der evangelischen Seite befinden sich das Kreuz, an dem Christus als Lamm Gottes für die Sünden der Welt gestorben ist, sowie die Gläubigen, die durch Gottes Gnade erlöst werden. Bürgerlich gekleidete Männer und Frauen empfangen das Sakrament. In der Mitte des Bildes ist der Prediger Martin Luther zu sehen, der von der Kanzel aus mit erhobenem Arm auf die Szenerie zu seiner Rechten deutet, aber sich gleichzeitig mit dem Blick und gesenktem Arm zur anderen Szenerie des Holzschnitts wendet. Links von Luther findet die Höllenfahrt der Papisten statt, die in das weit aufgerissene Maul der antichristlichen Bestie stürzen, umschwirrt von Dämonen. Dass auf dieser Seite kein Heil zu finden ist zeigt auch die dunkle Schraffierung. Der Grund dafür wird aus der Komposition des Bildes heraus deutlich: Die Nicht-Evangelischen sind entfernt vom wahren Abendmahl und dem Glauben an die Erlösung durch Christi Kreuzestod. Aussagekräftig für meine Fragestellung sind die Personen, die das aus lutherischer Sicht Andere repräsentieren. Der Hölle am nächsten ist der Papst mit dem langen Bart und der Tiara. Mit Mitra sind ein Erzbischof und ein Bischof zu sehen, zudem Kardinäle, erkennbar an den runden Hüten. Weiterhin fällt ein tonsurierter Mönch mit seiner Kutte in den Schlund. Hierbei handelt es sich um eine für die reformatorische Ikonographie typische Darstellung der Reformationsgegner, nämlich um Kleriker und die Spitze der Kirchenhierarchie, deren systemische

753 Pollmann, Catholic Identity (wie Anm. 36), S. 44–67; Pollmann, Judith: Countering the Reformation in France and the Netherlands. Clerical Leadership and Catholic Violence 1560–1585. In: Past and Present 190 (2006). S. 83–120. 754 Vgl. Kap. I. 1.3.1. und 1.3.2. 755 Vgl. zur distinktiven Dimension des Abendmahls in der rituellen Praxis Kap. II. 2.1.2.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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Relevanz um 1500 sowieso schon deutlich geschrumpft war und die somit im Alten Reich eine populäre Zielscheibe abgeben können.756

Abb. 4 : Lucas Cranach der Jüngere, Das Abendmahl der Evangelischen und die Höllenfahrt der Katholischen. Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank.

Auf diese häufigen Repräsentationsformen müssen die altgläubigen Autoren reagieren. Sie stellen deshalb die heilbringende und für das Christentum angeblich unabdingbare Funktion des Klerus und der kirchlichen Obrigkeiten noch stärker heraus. Alveldt reproduziert deshalb die Gegenüberstellung der zwei Kirchen, die sich auch auf Cranachs Holzschnitt findet, nur eben mit der umgekehrten Deutung: Während das Papsttum, die Bischöfe und Prälaten sowie der Klerus für das Heil der Menschen sorgen und die christliche Schafherde schützen, sind die Ketzer und insbesondere Luther Teil der teuflischen Kirche. Deshalb fährt der Wittenberger Reformator in Alveldts Beschreibung auch sofort in die Hölle, nachdem er als Sattel und Pferd für den Teufel und den Antichristen ausgedient hat. Demzufolge ergeben sich die spezifischen Repräsentationen des Eigenen in der altgläubigen Kontroversliteratur nicht

756 Vgl. Selge, Autoritätengefüge (wie Anm. 662).

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

nur aus der klerikalen Perspektive der Autoren. Vielmehr gehen sie auf Fremddeutungen von evangelischer Seite ein, widerlegen diese und entwickeln Alternativbilder. Die Laien spielen auch deshalb eine untergeordnete Rolle, da nicht über sie gestritten wird, sondern um sie.

3.2.2 Metaphern und Vergleiche In der Folge werde ich die wichtigsten und häufigsten Selbstdarstellungen in den altgläubigen Flugschriften analysieren. Die Darstellungen des Eigenen werden letztlich allesamt mit textuellen Mitteln ausgedrückt, anders als bei den Repräsentationen des Anderen. Offenbar ist das Bedürfnis, sich von diesen ein Bild zu machen größer, als das vertraute Eigene bildlich zu präzisieren. Beginnen wir mit einer Flugschrift des Schweizers Johannes Buchstab, vermutlich aus dem Jahr 1528. Buchstab ist 1522 Plebanus in Herisau, 1523 Lateinlehrer und Chorherr in Bremgarten und 1524 in Zofingen tätig. 1528 ist er einer der wenigen Vertreter der altgläubigen Seite bei der Disputation von Bern. Kurz darauf geht er als Schul- und Singmeister nach Freiburg im Üechtland.757 In seiner Flugschrift begründet Buchstab die angebliche Wahrheit der kirchlichen Bibelauslegungen mit der Unfehlbarkeit der Kirche. Zur Illustration dieses Wahrheitsanspruchs und dessen Durchsetzung greift er eine Reihe neutestamentarischer Metaphern auf, die sich auch in vielen anderen Texten vorher und nachher finden. Buchstab reklamiert für seine Kirche, dass Christus in dieser ist und immer war, d. h. bei all den Kirchenvätern, Heiligen, Märtyrern und Bußfertigen. Die heilige Kirche könne sich unmöglich über 1500 Jahre geirrt haben, sonst wäre sie die Kirche des Vaters aller Lügen, des Teufels. Er greift das Bild von Christus als einem guten Hirten auf, der sein Leben für die Schafe hingibt. Dies könne niemand bestreiten, denn sonst wäre Christus nur ein bezahlter Knecht, der die Schafe im Stich lässt und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht, der dann die Schafe reißt (vgl. Joh 10, 11–13). Weiterhin verweist Buchstab auf die Worte Christi zu Petrus, dieser sei der Fels der Kirche, gegen den die Mächte der Unterwelt nichts ausrichten können (Mt 16, 18).758 Bibelzitate und Metaphern, die den Gläubigen geläufig sein dürften, werden aktualisiert und auf die neue Situation religiöser Differenz und Konfrontation umgedeutet. Sie repräsentieren bei Buchstab die eigene Kirche, in der Christus der gute Hirte ist und die auf dem Felsen Petrus steht, d. h. auf den unüberwindlichen Grundfesten des Papsttums. Mit diesen Schutz- und Stärkemotiven wird zugleich die unveränderte und sichere Gültigkeit des Alten betont. Die Kirche sehen die antilutherischen Autoren als Gemahlin Christi. Diese Darstellung detailliert Johannes Mensing in seinem Gründlichen Unterricht über die Lehre

757 Guggisberg, Kurt: Buchstab, Johannes. In: NDB 2 (1955). S. 710. 758 Buchstab, Biblische Schriften (wie Anm. 429), S. 873 f.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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der Väter und die heilige Schrift sowie über die Papstkirche, die von den Lutherischen als Sünderin angegriffen wird. Im sechsten Kapitel des 1528 veröffentlichten Textes argumentiert Mensing, die Kirche könne überhaupt keine Sünderin sein und nicht irren, denn sonst müsste sie gegenüber Christus als Ehebrecherin gelten, da sie die Kinder des Teufels, d. h. Verführungen und Irrtümer, auf die Welt brächte.759 Doch wer befindet sich in dieser wahren Kirche? Wie wir gesehen haben, beziehen sich die altgläubigen Autoren in den Selbstrepräsentationen stark auf die klerikalen Obrigkeiten und deren Handlungen, die von den Reformatoren angegriffen und als die „Papisten“ dargestellt werden. Daraus ergibt sich für die breite Masse der Altgläubigen eine gewisse Repräsentationslücke, die nur in Teilen geschlossen wird. Johannes Mensing spricht dieses Problem in seiner Flugschrift von 1528 offen an. Er schreibt, dass die Widersacher zu Unrecht sagten, dass für seine Seite die Kirche nur aus den Päpsten, Bischöfen, Priestern und Mönchen besteht. Dabei erkennen er und seine Mitstreiter alle rechtgläubigen Christen als Teil der Kirche an. Gleichzeitig muss Mensing zugeben, dass es beim Begriff „Kirche“ schon in der Heiligen Schrift Definitionsunterschiede gibt.760 Darüber hinaus findet sich in der altgläubigen Publizistik die Metapher des Schiffs als Bild für die römische Kirche und die Christenheit. So schreibt der bayerische Dorfpfarrer Johannes Eckart im Jahr 1521, dass alle wahren Priester und Christen im Schiff Petri bleiben und unter der Fahne des Kreuzes siegen würden.761 Das Schiff Petri als Symbol für die Papstkirche gilt den antilutherischen Autoren zwar als unsinkbar. Dennoch stellen sie das Schiff der Kirche in den 1520er- und 1530erJahren in aufgewühlter See dar. Deshalb begründet Hieronymus Emser die Veröffentlichung seine Flugschrift Wider den falsch genannten Ecclesiasten damit, dass jeder mit anpacken müsse, wenn die Ketzer ungestüm das Schiff Petri anstoßen und es zusammen mit dessen geistlicher und weltlicher Besatzung ersäufen wollten. Dabei unterscheide sich das Schiff der Kirche nicht von einem wirklichen Schiff in Seenot, dessen Kapitän bei einem Orkan das Ruder aus der Hand gerissen worden sei. In so einem Boot müssten nicht nur die Besatzung, sondern alle an Bord mitrudern, Lecks abdichten und Wasser abschöpfen. So müsse auch jetzt jeder, wo und womit er kann, anpacken und das Schiff Petri wieder sicher in den Hafen bringen. Denn

759 Mensing, Gründlicher Unterricht (wie Anm. 650), S. 583. In der Folge erklärt er, warum die Kirche nicht irren könne und durch ihre Auslegung und die christlichen Schriftgelehrten allein die gute Interpretation der Bibel zu geben vermag – und nicht der ungelehrte gemeine Mann. Ketzer rühmten sich zwar oft, den wahren Sinn des Evangeliums zu kennen, aber da sie von der Kirche abgefallen seien, hätten sie Gott, Christus und die Gnade nicht auf ihrer Seite. Denn viele heilsnotwendige Dinge und Bräuche stünden nicht in der Heiligen Schrift, sondern ergeben sich aus der Tradition der Kirche. Vgl. Ebd., S. 583–592. 760 Mensing, Gründlicher Unterricht (wie Anm. 759), S. 593. Im Anschluss folgt eine ländere ekklesiologische Debatte 761 Eckart, Ain Dialogus (wie Anm. 414), Bl. I3r.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

kentert es, verderben alle.762 Mit diesem Bild begründet der Priester Emser nicht nur seine eigenen Aktivitäten, sondern bezieht alle Menschen auf dem Schiff in die Aktivistenpflicht mit ein. Daraus können die Laien zumindest einen Aufruf ableiten, mit noch größerer Unbeirrtheit an ihren alten Praktiken und Normen vor Ort festzuhalten und sich noch bewusster von den „Ketzern“ abzuwenden. Die Schiffsmetapher kommt auch in der französischen Literatur zum Einsatz, wenngleich Anspielungen und implizite Verweise auf den Papst vermieden werden. Jérôme de Hangest greift am Anfang seiner Schrift gegen die Plakate von 1534/35 zu dieser Repräsentation. Er bezeichnet die Evangelischen, die nachts die Flugblätter gegen die Transsubstantiation verteilten und damit die Ruhe der Kirche störten, als Piraten, die das Meer zwar kräftig aufgewühlt hätten, aber das Schiff der Kirche („l’ecclesiasticque navire“) nicht zum Kentern bringen.763 Neben dieser sehr auf die aktuelle Lage bezogenen Funktion der Metapher lässt sich das Schiff auch in einer zeitlichen Dimension als ecclesia militans darstellen, die niemals untergehe. Diese Selbstdarstellung bringt der Dresdner Wolfgang Wulffer in seiner 1522 gedruckten Flugschrift Wider die Aufruhre Martin Luthers zum Ausdruck. In dem mitunter nur schwer zu verstehenden Text unternimmt Wulffer einen Generalangriff auf Martin Luther. Er fragt sich, ob der Wittenberger Augustiner mit seinen angeblich revolutionären Reden und Schriften Erfolg haben könne: Trutz habenn gewaget alle ketzer, tzu scheidenn die bosenn vonn den guthen, unnd thun das noch, wider unser christlich licht unnd warheit, als wir in chronicis lesen unnd tzu unsern getzeitten uffm preth ist, hirumb pepstlich heilig regiment, vielmals angefochten, umbtzustossen, die feyndt sich an das schiffleyn Petri gelenet haben, wie auch tzukunfftig geschenn kann nach dem willenn Gottes. Es sall unnd muß aber nicht gantz tzu grunde vorstoret weren.764

Zur Bewertung der aktuellen Lage des Schiffs Petri blickt Wulffer auf die vergangenen Stürme zurück und entdeckt dabei eine Reihe von Kontinuitäten. Ketzerei sei auch ein Mittel, die guten von den schlechten Christen zu trennen. Die eigene Wahrheit assoziiert Wulffer mit Licht und Helligkeit. Um das päpstliche Regiment als Garant der Wahrheit umzustoßen, stemmten sich die Ketzer gegen das Schiff Petri. Dies könne auch zukünftig passieren. Doch untergehen werde das Schiff nicht. Damit unterstreicht der Autor die angebliche Konstanz und Durchhaltefähigkeit der Kirche, die nun zur distinktiv alten Kirche wird. Zugleich betont er die Verteidigerfunktion der Kirchenführung und liefert historische Argumente, warum es ratsam sein könnte,

762 So komme es auch nicht so sehr darauf an, greift Emser mögliche Einwände auf, ob die Schiffleute, d. h. Papst und Bischöfe, fromm sind, sondern ob sie für eine sichere Fahrt sorgen können. Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 458 f. 763 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A2v. 764 Wulffer, Wider die Aufruhre (wie Anm. 569), S. 301. Der Sinn der anderen Hälfte des Satzes ist unklar.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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sich der altgläubigen Gemeinschaft anzuschließen: Diese stehe in der Kontinuität der unzerstörbaren christlichen Kirche. Vielfach verwenden antiprotestantische Autoren biblische Bilder, welche die Rezipienten mit der agrarischen Umwelt des 16.  Jahrhunderts verbinden können. Schafe, Hirten und der Schafstall repräsentierten verschiedene Facetten der eigenen Gemeinschaften und deren zentrale Figuren. Bei Augustin von Alveldt taucht diese Metapher im Frühjahr 1520 in seiner noch recht unpolemischen Schrift vom päpstlichen Stuhl und der Figur des Papstes auf. Christus sei der gute Hirte, der mit der römischen Kirche einen neuen Schafstall errichtet und für die Zeit nach seiner Himmelfahrt in Petrus und den Päpsten seine Stellvertreter auf Erden bestimmt habe. Sie sollen die Lämmer Christi weiden (vgl. Joh 21,15–17). Petrus und mithin die päpstlichen Nachfolger als Stellvertreter Christi auf Erden sind somit für Alveldt und zahlreiche andere deutsche Autoren die guten Hirten, die über die Schafe wachen, sie beschützen und mit dem rechten christlichen Glauben füttern. Ihre Aufgabe sei es zu verhindern, dass Irrtum oder Ketzerei in den Glauben, die Heilige Schrift und die Sakramente geraten. Denn dadurch würden die Schafe Christi vergiftet, krank und sterben.765 Der Tenor der altgläubigen deutschen Flugschriften lautet: Der Papst hält die gute Ordnung innerhalb der Herde aufrecht und verteidigt sie nach innen gegen Unreinheit und nach außen gegen die Angriffe der ketzerischen und teuflischen Wölfe, Diebe und Mörder, das heißt nun gegen die Lutherischen. Der sichere Schafstall ist demnach das unvergängliche päpstliche Amt und die Papstkirche. In einer apokalyptischen Zeit, in der die Evangelischen als die im Matthäus-Evangelium angekündigten Wölfe im Schafspelz (Mt 7,15) gedeutet werden, gewinnt der Papst-Hirte noch mehr an Statur.766 Dies gilt umso mehr, als dass er gegen die in zeitgenössischer Vorstellung unkontrollierbaren, brutalen und die Seelen der Gläubigen bedrohenden Tiere einschreitet.767 Mitunter werden auch die antilutherisch aktiven Fürsten als gute Hirten bezeichnet.768 Die Schafe repräsentieren dabei den gemeinen Altgläubigen. Vielfach kommt diesen eine eher passive Rolle zu. Sie werden gut oder schlecht gehütet, von Wölfen angegriffen oder vom Hirten verteidigt, gut oder schlecht genährt. Selten kommen aktive Rollenzuschreibungen wie bei Paul Bachmann in einer gedruckten Predigt aus dem Jahr 1527 vor. Darin bezieht sich der Autor v. a. auf den Heiligenkult und ermahnt die Zuhörer und Leser:

765 Alveldt, Von dem päpstlichen Stuhl (wie Anm. 465), S. 72–77. 766 Vgl. u. a. Alveldt, Ein Sermon (wie Anm. 410), S. 94, 96–98; Cochlaeus, Glosse und Kommentar (wie Anm. 614), S. 411; Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 464. 767 Komornicka, Criminals Into Animals (wie Anm. 674), S. 163–168. 768 So wird Herzog Georg von Sachsen genannt von Emser, Hieronymus: Antwort auf Karlstadts Buch von Abtuung der Bilder. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 305–343, hier S. 305.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Dieweil Christus spricht on unterscheyt ‚meine schaff‘, wirt kein schaff Christi außgeschlossen von der weydung oder hüttung Petri. Demnach alle, die Petro und seinem stathelter ungehorsam werden, die seind aus dem schaffstal Christi gefallen und werden nicht mit den schaffen Christi geweydet oder gespeyset, sonder mit den hellischen tzigenböcken. Darumb, wiltu der waren sepys götlichs worts gebrauchen und teilhafftig werden, so mustu bleyben in dem schaffstall Christi, das ist, in der heyligen christlichen kirchen odder gemeinschafft der gleubigen, Paulus nennet die kirche ein sewel und grundtfest der warheit.769

Die Schafe werden hier mit einer überraschend selbstständigen Entscheidungsgewalt dargestellt, was sicher auch den appellativen und pädagogischen Aspekt des Textes unterstreicht, dem ja eine Predigt zugrunde liegt. Nur im Stall des Papstes ist demnach das wahre Evangelium zu finden. Jedes Schaf kann Zutritt zu diesem Stall haben, doch muss es das auch wollen und seinen Willen zum Gehorsam zeigen. Die Tiere, die sich nicht dem Hirten-Papst unterwerfen, werden von der Herde der Christen ausgeschlossen. Erbauliche Nahrung und sichere Weide haben nur die Schafe, die im auf festem Grund gebauten Stall des Nachfolgers Petri bleiben. Dabei üben manche altgläubigen Autoren des Alten Reichs mit dieser Metapher auch subtile Kritik an den v. a. kirchlichen Obrigkeiten, die eigentlich für die Ketzerbekämpfung zuständig wären. Diese werden mitunter als schlechte Hirten dargestellt, die den reißenden Wölfen nicht Einhalt gebieten, sondern die schutzlose Schafherde den protestantischen Raubtieren überlassen. In diesem Sinne äußert sich der sächsische Abt Paul Bachmann 1522: Dye hyrtten haben des weyns tzu vill genossen, seynt faull, trege worden und vordrossen, sye schloffen den schloff des eygennutz, haben die schaff Christi in geryngem schutz, darumb ist der wolff gantz korre geworden, gehat frey hyn und her umb dye hörden, er daß maull öffent und dye tzene blecket, domit hat er hunde und hyrten erschrecket.770

Der Text ist sicherlich geprägt vom reformorientierten und stark auf landeskirchliche Maßnahmen gegen die Reformation setzenden Herzogtum Sachsen. Im Kontrast dazu steht die immer wieder auch von anderen antilutherischen Zeitgenossen kritisierte Passivität vieler Fürstbischöfe und Prälaten.771 Allerdings hat der Ketzer-Wolf noch nicht zugeschlagen, sondern droht bisher nur mit Zähnefletschen und Knurren.

769 Bachmann, Ein Sermon (wie Anm. 537), S. 468. 770 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 370. 771 Felbaum, Nützliche Rede (wie Anm. 641), S. 833 f., kritisiert den schlafenden Hirten, den Papst, mit ähnlichen Worten. Zu den Kirchenobrigkeiten während der Reformation vgl. Wolgast, Eike: Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648. Stuttgart 1995 (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 16). S. 83–253.



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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Dem Volk, schreibt Paul Bachmann weiter, können daraus nur Schwierigkeiten und Sünden entstehen. Deshalb ruft er die Hirten auf, sich zu bekehren, ihren Lebenswandel zu bessern und sich um die Schafe Christi zu kümmern, für welche die größte Gefahr in der Abkehr vom wahren Glauben bestehe. Wenn dies geschehe und die Hirten ihrer Pflicht nicht nachkommen, würden sie gemeinsam mit den irrenden Schafen zur Hölle fahren.772 Wie bereits herausgearbeitet worden ist, beschreiben altgläubige Autoren die Reformation insgesamt, aber auch evangelische Einzelpersonen, mit Krankheitsmetaphern oder vergleichen sie mit Gift.773 Dem stellen einige Autoren sich selbst, ihre Schriften oder andere Priester als medizinisches Gegenmittel bzw. als Ärzte gegenüber. Pierre Doré etwa greift in seinem Dialogue instructoire gegen den zwinglischen Katechismus Kaspar Meganders zu dieser medizinischen Metapher. Er klagt, dass die Ketzer mit ihren Lehren besonders Kinder vergiften würden und somit für ihr ganzes Leben zu prägen versuchten. Dies will Doré mit seinem Text verhindern, denn diesen habe er geschrieben pour bailler aux chrestiens le laict de catholique doctrine qu’ilz puissent succer en croissant en eage, consummée de vertus congnoissant qu’ilz tiennent du laict de leur nourrice. Par quoy reiectant la zizanie, leur donneray le pur grain en ostant le pourry de la pomme, comme pour leur parer, vailleray ce qui est sain et entier, suyvant l’escripture saincte, les determinations de l’eglise et docteurs approuvé d’icelle, et usans de contrepoison contre le dessudict pernicieux livre dudict Gaspart, hereticque manifeste, nyant la verité du sacrement de l’autel.774

Während die Christen im Alter heranwachsen, will Doré ihnen mit seinen Instruktionen symbolisch die christliche Milch zu trinken geben. Dass sein komplexer und langwieriger Text sicher nicht an Kinder adressiert war, ist hier nebensächlich. Doré sieht sich als guten, zuverlässigen Ernährer, der die Spreu vom reinen Weizenkorn trennt und das Vergammelte vom Apfel abschneidet. Um die Kinder zu beschützen, will er gleichsam darüber wachen, dass sie nur gesunde und vollständige Kost zu sich nehmen. Dazu werde er der Heiligen Schrift und den Lehrmeinungen der Kirche sowie den Kirchenvätern folgen. Somit kann er dem christlichen Nachwuchs eine christliche Nahrung anbieten, die nicht nur im Glauben stärkt, sondern auch ein Gegengift gegen das Buch von Megander ist. Ähnlich arbeitet Wolfgang Redorffer 1523 in einem öffentlichen Brief an einen nicht namentlich genannten Freund in Wittenberger, einen evangelischen Arzt, der Redorffer beim Besuch in Wittenberg wegen dessen Krankheit Rat und Arznei gegeben habe. Im Gegenzug diagnostiziert der Seelenarzt Redorffer bei seinem Freund die Ketzerkrankheit, deren Gift schon das Herz umschleiche. Doch er weiß

772 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 371. 773 Vgl. Kap. I. 3.2.2. und 3.2.3. 774 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. A2v–A3r.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Rat, „so ich dergleichn kranckheitten hievor etwan lang, wie dir bewust, ein artzt und apoteker, vernym ein prediger und selsorger gewest.“775 Deshalb solle sein Freund ihm zuhören und seinen Rat für die geistliche Gesundheit befolgen. Der Seelenarzt verordnet am Ende der Brief-Flugschrift seinem Patienten eine Diät, die er mit einer gesunden Lebensführung vergleicht und die einen Rückfall verhindern soll. Sechs Regeln müsse der Freund für eine dauerhafte Genesung befolgen. Am wichtigsten sei, dass er die Wittenberger Luft verlasse und sich an gesündere Orte begebe. Weiterhin soll er die Ursachen der Krankheit bekämpfen und auf die ketzerischen Bücher verzichten, aus denen ihm das krankmachende Gift eingeflößt werde. Zudem empfiehlt Redorffer die Lektüre oder das Anhören guter christlicher Schriften sowie Misstrauen gegen volkssprachliche Bibelübersetzungen. Dabei zeigt sich erneut die Bedeutung von Büchern als distinktive Artefakte, deren Verbreitung gesteuert und kontrolliert werden muss. Fünftens solle sich der Freund an die Lehren und die Gewalt der christlichen Kirchen halten und sich schließlich wegen der Missstände in der Welt nicht zu sehr ärgern.776 Diese Metaphern der Körperlichkeit kehren wieder wenn die Altgläubigen die gute soziale und religiöse Ordnung beschreiben, der sie sich zugehörig fühlen und die sie in ihren Schriften verteidigen wollen.

3.2.3 Die soziale Ordnung Die Altgläubigen wollen ein Teil der guten, alten und christlichen Ordnung sein. Die Autoren loben das Ideal einer harmonischen, hierarchisierten und in concordia lebenden Christenheit, in der die Ketzer keinen Platz haben. Friede und Eintracht einer gottesfürchtigen Gesellschaft sind stände- und konfessionsübergreifende Werte, die in den altgläubigen Flugschriften jedoch als partikulare Eigenschaften altgläubiger Christen repräsentiert werden.777 Auch hierbei kommen Körpermetaphern häufig zum Einsatz. Dem wegen der evangelischen Bewegung seit Beginn der 1520er-Jahre im Alten Reich befürchteten Chaos stellt Johannes Cochlaeus die in seiner Sicht wahre christliche Gesellschaftsordnung entgegen. In dieser müsse der gute Christ an seinem gottgegebenen Platz bleiben und dort die für ihn vorgesehene Funktion erfüllen. Die kirchliche Gesellschaftsordnung vergleicht er mit einem Körper, in dem alle Sinnesorgane und Gliedmaßen gebraucht würden und das Ganze nicht ohne die Pflichterfüllung der Einzelnen auskomme: „Derhalben mag das aug zu der hand nit sagen, dein werck

775 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 417. 776 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 433–437. 777 Vgl. Hille, Providentia Die (wie Anm. 45), S. 399–406. Exemplarisch Janssen, Gute Ordnung (wie Anm. 243).



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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sein mir nit von nöten, deßgleichen das hautp zu den füssen nicht sprechen, ir seit mir nit nutz, uff das in dem cörper nit ein scisma… werd, sunder das die glider in dem selben cörper für einander sorgfeltig sein.“778 Die Obrigkeit verfügen über ihre Gewalt durch göttlichen Willen und alle Menschen haben die Pflicht, demselben unterworfen und gehorsam zu sein. Wer sich der göttlichen Ordnung aber wiedersetzt, werde die ewige Verdammnis erleiden. Hieronymus Emser betont mit Blick auf die gesellschaftliche Rolle des Volks, dass zum wahren christlichen Glauben Vertrauen, aber keine spaltenden Disputationen und kritischen Lektüren gehören. Dem gemeinen Mann wird mehr denn je, sowohl in Fragen der Religion als auch der sozialen Ordnung, die Rolle des passiv-folgenden, absolut gehorsamen und vertrauend-annehmenden Untertanen zugewiesen. Den Obrigkeiten sei vollkommener Gehorsam zu leisten, predigt auch der Pfarrer von Vohburg und Kanoniker des Domstifts Freising, Johannes Freiberger, 1523 im Freisinger Dom. Denn die irdische Ordnung sei vom Himmel gegeben und selbst im Himmel gebe es eine Hierarchie, in der ein Engel über dem anderen stehe.779 Wo altgläubige Autoren den Evangelischen Aufruhr und sozialen Umsturz vorwerfen, betonen sie für die eigene Gemeinschaft das Festhalten an der überkommenen Ordnung. So betont Emser im April 1522, dass der gute Christ neben diversen religiösen Aufgaben auch die Pflicht habe, Kaiser und Fürsten Ehre und Verehrung zuteilwerden zu lassen.780 Wolfgang Redorffer unterstreicht in seinem Arzneibüchlein im Zusammenhang mit seiner Definition des wahren Christen, dieser müsse der Kirche und den Obrigkeiten gehorchen und sich ansonsten an den vorgegebenen Glauben und die entsprechenden Religionspraktiken halten.781 Denn eine Reformation, die laut Johannes Freiberger trotz allem notwendig sei, dürfe einzig und allein von den Obrigkeiten durchgeführt werden.782 In altgläubiger Selbstwahrnehmung unterscheidet sich gerade dieser Ansatz von dem der Lutherischen. Zudem betonen die Autoren besonders gegen Mitte der 1520er-Jahre die materiellen Rechte und Privilegien der Obrigkeiten und Autoritäten. Man könne zwar diskutieren, schreibt Emser 1523, ob die Herren zu viel oder zu wenig erhielten. Aber dass sie grundsätzlich finanzielle Ansprüche haben, ist für ihn wie in Stein gemeißelt. Auch

778 Cochlaeus, Spiegel der evangelischen Freiheit (wie Anm. 624), S. 590. 779 Freiberger, Brüderliche Ermahnung (wie Anm. 556), S. 503. Zur Biographie vgl. den Kommentar der Herausgeber, ebd., S. 507. Zu den theologischen Hintergründen dieser Himmel und Erde parallelisierenden Gesellschaftsvorstellung vgl. Gould, Graham: Ecclesiastical Hierarchy in the Thought of Pseudo-Dionysius. In: The Ministry. Clerical and Lay. Hrsg. Von William J. Sheils u. Diana Wood. Cambridge 1989 (Studies in Church History 26). S. 29–41. 780 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 310. Freilich betont Emser sofort im Anschluss, dass auch andere Menschen geehrt werden sollten, bei denen Ehre, Tugend, Kunst oder Adel zu vermuten seien. 781 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 432. 782 Freiberger, Brüderliche Ermahnung (wie Anm. 556), S. 502 f.

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 3 Darstellungen der Zugehörigkeiten

Luthers Kritik an zu hoch besoldeten, aber unnützen Professoren und Doktoren weist Emser entschieden zurück. Denn diese würden für das Geld arbeiten, mit dem das steuerzahlende Volk sie finanziere. Die Gelehrten seien die Wächter über den reinen Glauben und somit von enormem Nutzen für die guten Christen, die vor Irrlehren bewahrt werden müssen.783 Ketzer solle das altgläubige Volk, das ja ein lebendiger Teil des heilbringenden corpus christianum ist, meiden so weit es geht. Paul Bachmann betont in seiner Luther-Beschreibung von 1522, dass Ketzer zwar nötig seien, damit sich die guten Christen beweisen können. Doch solle man sie in keiner Gemeinschaft dulden.784 Etwa zur selben Zeit stößt Wolfgang Redorffer mit seinen Diät-Empfehlungen an den lutherischen Freund in Wittenberg in dasselbe Horn: Der Freund solle sich mit den verbliebenen frommen Christen zusammentun und die Stadt dann so schnell wie möglich verlassen.785 Darüber hinaus müsse der altgläubige Christ die Unterscheidung zwischen Laien und Klerikern vollumfänglich respektieren. Diesen Punkt macht z. B. Hieronymus Emser in seiner Flugschrift gegen Luthers Adelsschrift von 1520 stark. Zwar gesteht Emser die Notwendigkeit von Veränderungen und Reformen in Bezug auf den Klerus ein. Doch legt er größten Wert darauf, dass die Geistlichen einen besonderen Stand in der Gesellschaft bilden. Diese sakrale und privilegierte Stellung legitimiere sich dadurch, dass die Priester von Gott eingesetzt seien und das Recht haben, Sakramente zu spenden. Deshalb sei auch der sichtbare Unterschied zwischen Geistlichen und Weltlichen etwa durch Äußerlichkeiten wie Gewänder und die Tonsur nötig. Der geweihte Priester ist für Emser ein heilsnotwendiger Mittler zwischen Gott und den Menschen. Daraus legitimiert sich für ihn auch die Herrschaftsasymmetrie in der christlichen Kirche, die Luther mit seinem Priestertum aller Gläubigen aufheben wolle. Die Laien haben in der innerkirchlichen Ordnung keine Macht, vielmehr sollten sie regiert werden. Nicht die große Masse der Laien, sondern allein die Priester hätten von Gott verliehene Freiheiten.786 Zudem betonen die antilutherischen Autoren mit dem Klosterwesen einen weiteren Pfeiler der Sozial- und Heilsstruktur der harmonisch geordneten Gesellschaft. Der christliche Mönch müsse an dem für ihn vorgesehenen Platz bleiben, das heißt in seinem Konvent, und dort seinen betenden Dienst an der Gesellschaft verrichten.

783 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 471. 784 Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 370. 785 Redorffer, Arzneibüchlein (wie Anm. 555), S. 434. 786 Emser, Wider das Buch an den Adel (wie Anm. 400), S. 240–245. Ausführlicher zur altgläubigen Antwort auf Luthers Idee vom Priestertum aller Gläubigen vgl. Bagchi, Catholic Reactions (wie Anm. 363).



3.2 Repräsentationen des altgläubigen Eigenen 

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Entlaufene Mönche sollen unter der Drohung, ihr Seelenheil zu verlieren, ins Kloster zurückkehren und so die alte Ordnung wiederherstellen.787 *** Die distinktiven Textkulturen und in diesen besonders die Repräsentationen der Anderen und des Eigenen entstehen in einem komplexen Zusammenspiel aus wechselseitigen Bezügen, Anleihen, Innovationen und Abgrenzung, Um- und Neudeutungen und forcierten Unterschieden. Die Darstellungen des Eigenen bleiben indes meist schriftlich. Die Sichtbarkeit des Unterschieds, die konkrete visuelle Erfahrung der Abgrenzung, des Zeigens der eigenen Identität und der Unterschiedlichkeit, suchen die Altgläubigen eher in der religiösen Praxis, der Materialität und der Raumaneignung. Bevor ich deren konkrete Form in der „Realität“ untersuche und dabei auch zeigen werde, inwieweit die Akteure dort mit den bis hierher untersuchten Selbstund Fremdrepräsentation zur Artikulation der Unterschiede arbeiten, folgt zum Abschluss des ersten Teils dieser Studie ein Blick auf die Repräsentation der Rituale und Objekte des Anderen und des Eigenen. Dadurch wird nicht zuletzt die nötige Ausgangslage geschaffen, um die Verbindung der Textkultur mit den tatsächlichen Lebens- und Konflikterfahrungen der altgläubigen Gemeinschaften in den folgenden beiden Teilen dieser Studie zu untersuchen und zu bewerten

787 Emser, Wider den Ecclesiasten (wie Anm. 408), S. 476; Dietenberger, Johannes: Antwort, daß Jungfrauen die Klöster und klösterliche Gelübde nimmer göttlich verlassen mögen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 530–544, hier S. 533, 540; Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 653.

4 Repräsentationen der rituellen Differenz Bekanntermaßen wird das Altarsakrament in der theologischen Kontroverse und der Praxis zu einem zentralen Unterscheidungsmerkmal der frühneuzeitlichen Konfessionen. Aber es ist bei Weitem nicht das einzige Ritual, das den Unterschied zwischen Alt- und Neugläubigen ausmacht. Diese Differenzierungsprozesse werden in der polemischen Massenliteratur der Frühreformation aufgegriffen, gespiegelt, zugespitzt und verallgemeinert. Während zur liturgischen Praxis, allen voran zur Messe, für das Spätmittelalter sowie für die Evangelischen in der Reformationszeit zahlreiche Studien vorliegen, ist die hier in Frage stehende kulturelle Repräsentation der altgläubigen Rituale in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts eher vernachlässigt worden.788 Die Kirchengeschichte hat sich v. a. der theologisch-normativen Debatten angenommen.789 Auch Sakramentalien und Bräuche der spätmittelalterlichen Kirche werden in der frühen Reformationszeit distinktiv und entsprechend in der altgläubigen Flugschriftenpolemik repräsentiert.790 In diesem Kapitel soll die Darstellung der distinktiven Praktiken in der altkirchlichen Textkultur näher untersucht werden. Die Wahrnehmungen und Deutungen dieser Unterschiedskonstruktion entlang der Sakramente soll zuerst analysiert

788 Für die altgläubige Messpraxis wurden die Reformversuche untersucht, bei denen die missa privata abgeschafft werden sollte. Vgl. Thompson, Nicholas J.: Going Public: Catholic Calls for the Abolition of the Private Mass in the Sixteenth Century. In: Reformation and Renaissance Review 13 (2011). S. 63–92. John Bossy stellte das Messopfer als Ritual dar, das soziale Bezüge konstruiert, Konflikte in der Gemeinschaft einhegt und Frieden symbolisch darstellt. Vgl. Bossy, John: Essai de sociographie de la messe, 1200–1700. In: Annales ESC 36 (1981). S. 44–70. Einen Brückenschlag zwischen Repräsentation und Ritual versuchte, allerdings unter nur geringer Berücksichtigung der frühreformatorischen Altgläubigen, Wandel, Lee Palmer: The Eucharist in the Reformation. Incarnation and Liturgy. Cambridge 2006. Bei den zitierten Beiträgen handelt es sich freilich um eine unvollständige Auswahl. 789 An dieser Stelle kann ich nur eine kleine Auswahl als Indikator für den Reichtum der besagten Forschungsrichtung angeben, u. a. Iserloh, Erwin: Die Eucharistie in der Darstellung des Johannes Eck. Ein Beitrag zur vortridentinischen Kontroverstheologie über das Messopfer. Münster 1950 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 73/74); Iserloh, Erwin: Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther. Münster 1952 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 10); Kötter, Franz Josef: Die Eucharistielehre in den katholischen Katechismen des 16. Jahrhunderts bis zum Erscheinen des Catechismus Romanus, 1566. Münster 1969 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 98); La Garanderie, Réponse catholique (wie Anm. 297). 790 Vgl. in Auswahl für die altgläubige Geschichte Scribner, Robert W.: Ritual and Popular Religion in Catholic Germany at the Time of the Reformation. In: JEH 35 (1984). S. 47–77. Darin stellt der Autor, ausgehend von der spätmittelalterlichen Religionskultur, einen Abbau der „magischen“ und „missbräuchlichen“ Sakramentalien in der lutherischen und eine noch stärkere Eischränkung auf die verbliebenen Kernsakramente in der reformierten Kultur fest. Was in dieser Phase in Performanz und Sinngehalt mit den verbliebenen alten Praktiken und deren Protagonisten geschieht, bleibt unklar. Vgl. zudem Strauss, Success and Failure (wie Anm. 29). Der Autor geht vom Scheitern der Reformation am Fortbestehen der traditionellen volkstümlichen Religionskultur aus. DOI 10.1515/9783110492460-006



4.1 Sakramente und Liturgie 

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werden. Die sakramentalen, adiaphoren und materialen Distinktionen werden dann in einem zweiten Schritt studiert. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Verbindungen der Darstellungen zwischen dem Allgemeinen und dem Präzisen sowie zwischen dem Überregionalen und dem Lokalen. Besonders dieses Kapitel dient als Grundlage, auf der im Fortgang die tatsächlichen Praxisunterschiede beleuchtet und in Bezug gesetzt werden können.

4.1 Sakramente und Liturgie 4.1.1 Altarsakrament und Messpraxis In Bezug auf die Messe und die Austeilung des Sakraments gibt es für die altgläubigen Autoren allgemein drei Aspekte, die zwar zusammenhängen, aber chronologisch und geographisch verschieden akzentuiert werden. In Mittel- und Norddeutschland sowie bis in die Mitte der 1520er-Jahre auch in Oberdeutschland ist das zentrale Distinktionsmerkmal der Altgläubigen die Ablehnung des Laienkelchs und die Kommunion sub una specie. Mit der Ausbreitung des zwinglischen, d. h. des symbolischen Abendmahlsverständnisses und der Ablehnung der Realpräsenz, gerät die Frage nach der Substanz der Hostie in Oberdeutschland und der Eidgenossenschaft mehr in den Mittelpunkt der Differenzbildung. Die verschiedenen Wissensordnungen der Gläubigen in Bezug zur Hostie kommen in den Devotionsformen sowie in den rituellen Handlungen des Priesters und den Sinnzuschreibungen zu diesen zum Ausdruck. Dementsprechend variabel sind die Bruchstellen, entlang derer altgläubige Zugehörigkeiten vor Ort tatsächlich erfahren werden.791 Im Dezember 1519 kommt die Frage nach dem Laienkelch auf die theologische Tagesordnung. Luther veröffentlicht die Flugschrift Sermon von dem Hochwürdigen Sakrament, auf deren Titelblatt eine Monstranz mit dem programmatischen Untertitel Für die Laien abgebildet ist.792 Im Herzogtum Sachsen, in Nachbarschaft zum hussitischen Böhmen und mit den Hussitenkriegen im kollektiven Gedächtnis der Region, stellt dies eine Provokation dar.793 In diesem Sinne predigt Paul Bachmann, der Abt von Altzelle, im Jahr 1527:

791 Vgl. dazu Kap. II. 2.1. 792 Kaufmann, Geschichte der Reformation (wie Anm. 714), S. 255–260, bewertet die Abbildung des Laienkelchs als gezielt polarisierenden und provozierenden Akt Luthers. Dieser suche nun immer mehr, die Unterschiede besonders in der praktizierten Religion herauszustreichen. Im Text des Sermons spielt die Forderung nach dem Laienkelch jedoch nur eine untergeordnete Rolle. 793 Die Obrigkeiten dort nehmen rasch Kenntnis von der Schrift und rücken die vorsichtige Forderung Luthers sofort in die Nähe des Hussitentums. Vgl. den Brief von Herzog Georg an Kurfürst Friedrich von Sachsen vom 27.12.1519 sowie den Brief von Bischof Adolf von Merseburg an Herzog Georg vom 20.1.1520. In: Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen. Bd. 1, 1517–1524.

214 

 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Im anfang und erhebung der behemischen ketzerey mochten diße umbligende land durch leibliche verfolgung und beschedigung zu dem kelch nicht gedrungen werden, duldeten ehr alles und lyden, was yn geschach an leib und gut. Sonder jetzo in fride, one leibliche und eusserliche verfolgung, durch geschmirte wort, durch betrigliche lere, durch falsche verkerung der schrifft, so eyn verlauffener, ehrloßer mönch fürgibt, haben sie den kelch mit andern vilen irrsaln angenomen.794

Die Bewohner der an Böhmen angrenzenden Gebiete haben demnach selbst während der Hussitenkriege die Hostienkommunion beibehalten. Das Leiden und die Zerstörungen des 15. Jahrhunderts dienten den Heutigen aber nicht als Vorbild für eigene christliche Treuebeweise. Vielmehr fielen sie auf die Verführungen und Irrtümer eines ehrlosen Mönchs herein. Die Hostienkommunion bzw. die Ablehnung des Laienkelchs ist zu einer, vielleicht zu der distinktiven Praxis schlechthin in der altgläubigen Flugschriftenliteratur Mitteldeutschlands geworden. Ebenso äußert sich Johannes Cochlaeus 1529 in seiner Verteidigungsschrift für das antilutherische Mandat des Bischofs von Meißen, den Martin Luther angegriffen hat. Die Auseinandersetzung dreht sich immer wieder um den Kelch, den Luther für die Laien einfordert. Cochlaeus entgegnet, dass die Hostie allein ausreiche, wofür er eine Reihe pragmatischer Gründe liefert. Die Kommunion sub una beinhalte sowohl Leib als auch Blut Christi und sei nicht zuletzt eine Vorsichtsmaßnahme, damit dem Blut Christi keine Unehre, etwa durch ungeschickten Umgang mit dem Kelch, zugefügt werde.795 Dieses Erklärungsmuster findet sich auch in einer Flugschrift, die unter dem Pseudonym eines Laien Hans von Oberwalt im Vorfeld des Augsburger Reichstags von 1530 in Dresden gedruckt wird. Der Autor zeigt darin, weshalb und in welcher Form die Untertanen ihren Obrigkeiten immer Gehorsam schuldig seien. Die Reform von Missbräuchen in der Messe sei demnach nicht die Sache der Laien und schon gar nicht der Evangelischen, unter denen die Zwinglischen das Sakrament nur für ein Zeichen halten und die Lutherischen die Kommunion gänzlich einstellen würden. Dem altgläubigen Gemeinen Mann genüge es, beim alten Glauben zu bleiben, wonach das Altarsakrament der wahre Leib und das wahre Blut Christi ist. Beides befinde sich auch in der Hostie, weshalb deren Kommunion völlig ausreiche.

Hrsg. von Felician Gess. Leipzig 1905 (Aus den Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte 10). S. 111 f., 116. Verbunden damit ist eine positive Aneignung, Repräsentation und Betonung des Konstanzer Konzils durch die Luthergegner. Unter den zahlreichen Beispielen vgl. Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 14–18; Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 153; Bachmann, Martin Luther (wie Anm. 396), S. 373. 794 Bachmann, Ein Sermon (wie Anm. 537), S. 471. 795 Cochlaeus, Johannes: Verteidigung des bischöflichen Mandats zu Meißen. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 899–934, hier S. 922. Vgl. ferner Cochlaeus‘ detaillierte Auseinandersetzung mit Luthers Abendmahlsverständnis in seiner Disputation vom heiligen Sakrament.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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Die alten frommen Christen sollten auf den traditionellen Zeremonien der Messe und der Eucharistie beharren.796 Auch in süddeutschen Texten dominiert zu Beginn der 1520er-Jahre die Frage nach dem Laienkelch. 1526 publiziert der Konstanzer Weihbischof Melchior Vattlin eine Flugschrift über die Art, wie das Altarsakrament empfangen werden solle. Der Text wird im Zusammenhang mit der altgläubigen Badener Disputation von 1526 publiziert, doch kann von einer früheren Entstehung ausgegangen werden, da sich Vattlin nur mit Luthers Babylonica und Sakramentstheologie befasst, aber die innerreformatorische Spaltung in diesen Fragen nicht anspricht.797 Im sechsten und letzten Kapitel der Flugschrift argumentiert Vattlin, dass Kirche und Konzil nicht irren und keine Praktiken anordnen, die nicht in der Heiligen Schrift stehen. Dies betreffe auch den Brauch, dass niemand außer dem zelebrierenden Priester aus dem Kelch mit dem Blut Christi trinken dürfe. Die Hostienkommunion sei in der christlichen Kirche von Anfang an so gehalten worden, noch ehe sie Gesetz wurde, und sei zudem biblisch begründbar. Daneben nennt der Anonymus wiederum pragmatische Gründe für das Verbot des Laienkelchs, denn es bestehe die Gefahr der Entehrung des Sakraments. Der Transport sei gefährlich, etwa wann man eilig einen Sterbenden versehen müsse, der dann mitunter den Wein gar nicht trinken kann. Im Sommer locke der Wein Ungeziefer an und im Winter friere er ein, so dass niemand das Blut Christi trinken wolle. Es sei auch nicht nötig, den Laienkelch auszuteilen, denn unter jeder Gestalt, also sowohl Wein als auch Brot, sei Christus ganz und vollkommen enthalten. Wer das Sakrament nicht auf die alte Weise empfange, dem gereiche die Kommunion nicht zum Heil, sondern zu Verdammnis und Höllentod.798 Eine traditionelle Argumentation aus dem Repertoire der Auseinandersetzung mit den Ketzern des Spätmittelalters wird hier erneuert und zur Verteidigung bzw. Bekräftigung der altgläubigen Praxis eingesetzt. Mit der symbolistischen Wende in der Schweizer Reformation verschieben sich im Süden des Alten Reichs jedoch die Bruchlinien zwischen den entstehenden Religionsgemeinschaften. Dies schlägt sich in der altgläubigen Flugschriftenpolemik insbesondere aus Schweizer und oberdeutschen Regionen nieder. Dies wird deutlich anhand von Thomas Murners Anzeige gegen die Disputation von Bern vom Dezember 1528. Der Franziskaner lebt zu diesem Zeitpunkt in der altgläubigen eidgenössischen Stadt Luzern, wo er über eine eigene kleine Druckerpresse verfügt, mit der er auch die genannte Flugschrift verlegt. Er widerlegt darin die 10 Schlussreden, also das theologische und rituelle Programm des Berner Disputationsausschreibens vom Vorjahr.

796 Oberwalt, Wie die Untertanen (wie Anm. 534), S. 1225–1128. 797 Vgl. den Kommentar des Herausgebers bei Vattlin, Melchior: Wie im Anfang der heiligen Kirche die Christgläubigen das Sakrament des Altars empfangen haben. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 310–334, hier S. 330. 798 Vattlin, Anfang der heiligen Kirche (wie Anm. 797), S. 327–329.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Ziel der Disputation, heißt es im Ausschreiben, sei die Herbeiführung der religiösen Einheit der Eidgenossen. Murner sieht das natürlich völlig anders. Noch nie sei die Eidgenossenschaft so gespalten gewesen wie heute, denn ohne Glaubenseinheit gebe es keine politische Einheit. Dazu führt Murner mit Blick auf das Altarsakrament aus: Der Lutzerner knüwet nider in der meß, und in krafft sines glaubens und der wort Gottes bettet er an die gegenwürt Christi Jhesu in dem sacrament des altars, so verspotten ir [die Berner, M. M.] in und all sine fordren und sagt, es syg ein abgöttery, er fastet, so fressent ir fleysch uff den Karfritag, er bichtet, bettet und tröstet sich der heyligen sacrament Gott des herrn, so ist es uch alles ein gruwel vor Gott, ein gottzlesterung, ein affenspil.799

Murner stellt in dieser Quelle zwei Ritualkulturen gegeneinander: die des altgläubigen Luzerners und die des zwinglischen Berners. Dabei steht die Hostie im Mittelpunkt, neben anderen altgläubigen Bräuchen wie das Fasten und Beichten, welche die österliche Kommunion vorbereiten helfen. Der Luzerner glaubt laut Murner, dass sich in der Hostie der wahre Leib Christi befindet. Um diesem Glauben Ausdruck zu verleihen, kniet er in der Messe nieder, insbesondere während die Hostie eleviert wird, und betet den real präsenten Christus an. Die spezifische Performanz drückt demnach die partikulare Wissensordnung der Transsubstantiation und der angeblichen Früchte des Messehörens aus. Die Zwinglischen halten diesen Glauben für Abgötterei und verspotten den Luzerner und dessen Vorfahren, die diesen Brauch ebenso durchgeführt haben. Vom Laienkelch als Unterscheidungsmerkmal ist hingegen nicht die Rede, obwohl dieser natürlich auch in reformierten Kulturen ausgeteilt wird. Zwar weisen auch nord- und mitteldeutsche Autoren auf die Substanz und Realpräsenz der Hostie hin. Oberdeutsche Flugschriften betonen ebenfalls die Notwendigkeit der communio sub una specie. Beide Aspekte werden immer wieder zusammengefasst, etwa in der in Dresden gedruckten Schrift des pseudonymen Hans von Oberwalt vor dem Augsburger Reichstag, auf dem tatsächlich über beide Probleme – Laienkelch und Transsubstantiation  – diskutiert werden sollte.800 Doch je regionalspezifischer eine Flugschrift wird, desto mehr macht sich die Nuancierung in der Betonung der Konfliktmomente bemerkbar. Binnendifferenzierungen gibt es in der frühen Reformationszeit bezüglich der präzisen distinktiven Rituale und Wissensordnungen also nicht nur im protestantischen, sondern auch im altgläubigen Lager.801 Dabei ist die Trennung zwischen Nord und Süd in der Textkultur nie vollkommen. Dies ist auch insofern zu erklären, als dass die Flugschriften zumindest der bekann-

799 Murner, Hier wird angezeigt (wie Anm. 586), S. 837. 800 Oberwalt, Wie die Untertanen (wie Anm. 534), u. a. S. 1225. 801 Für die evangelische Seite vgl. Kaufmann, Thomas: Nahe Fremde. Aspekte der Wahrnehmung der Schwärmer im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hrsg. von Kaspar von Greyerz [u. a.]. Gütersoh 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201). S. 179–241.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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ten Autoren im ganzen deutschsprachigen Reich gelesen werden und somit auch außerhalb z. B. von Sachsen ihre altgläubigen Leser und Hörer ansprechen und erreichen müssen, wie bei der Untersuchung der komplexen und weitläufigen Verbreitungs- und Rezeptionsmechanismen antievangelischer Pamphlete herausgearbeitet wurde.802 So wird auch in Flugschriften aus dem Herzogtum Sachsen Luther mit der Ablehnung der Realpräsenz und der göttlichen Substanz der Hostie in Verbindung gebracht. Johannes Cochlaeus macht in den Sieben Köpfen Luthers vom Sakrament des Altars von 1529 auf die Veränderungen der Theologie des Wittenberger Reformators hinsichtlich der Substanz der Hostie aufmerksam, was bei dem als Rundumschlag gegen Luthers Mess-, Eucharistie- und Abendmahlskultur gedachten und überregional rezipierten Text nicht verwundern mag. Cochlaeus beginnt seinen Bericht mit der Natur des Altarsakraments, um in der Folge die Formen der eucharistischen Verehrung zu begründen und erst dann, allerdings ausführlich, auf die Kommunion einzugehen. Der Messpraxis hingegen ist nur ein kleiner Abschnitt gewidmet.803 Doch vermischen sich die zwei geographisch verschiedenen altgläubigen Distinktionsmerkmale bezüglich der Messe und der Kommunion nicht nur, wenn ein überregionales Publikum anvisiert wird oder ein überregionales Thema wie Reichstage oder deutschlandweit bedeutsame theologische Texte wie die Confessio Augustana behandelt werden. Beide Elemente werden auch stark gemacht, wenn altgläubige Autoren die evangelische Binnendifferenzierung herausarbeiten wollen und diese als Argument gegen die Reformation insgesamt instrumentalisieren. Der Ex-Konstanzer Johann Fabri weist 1526 auf die Zersplitterung der Evangelischen in Fragen der Realpräsenz hin.804 Der sächsische Abt Paul Bachmann unterstreicht dies in seiner Flugschrift Von den Zeremonien (1537) im Abschnitt über das Recht der Päpste und Prälaten, nicht biblisch begründete Praktiken und Ordnungen einzuführen. Die lange Übung und das kirchliche Placet seien entscheidende Faktoren für die Neubegründung von Ritualen. Die Obrigkeiten werden dabei zur Erhaltung der Einheit dringend benötigt, andernfalls drohe auch den alten Christen dasselbe Schicksal wie den Protestanten805: Was sich aber von solcher einhaltikeit sundert, dz wirt baldt zurissen und zustrewet in viel opiniones, sihestu bey den lutherischen secten wol, welcher balt ander zwo folgeten, Sacramentarii und Anabaptisten. Ja, ein jede secte zufelt auch in sich selbest und bleibet nicht eines, das ich der Bohemen geschweige, die inn so viel glauben zurissen seindt, das man sie nit alle erzelen mag… So findestu auch bey den Lutherischen, Zwinglischen und Widderteuffern, das sie ihrer

802 Vgl. Kap. I. 1.3.1 und 1.3.2. 803 Vgl. Cochlaeus, Sieben Köpfe vom Sakrament (wie Anm. 415). 804 Fabri, Johann: Ein Sendbrief an Ulrich Zwingli, Meister zu Zürich, wegen der zukünftigen Disputation zu Baden im Aargau. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 1. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 235–246, hier S. 241. 805 Zu den Repräsentationen der guten, christlichen Gesellschaftsordnung vgl. Kap. I. 3.2.3.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

observantz nirgent eins seind. In einem dorff helt mans also, in dem andern nicht also, in etlichen flecken communiciren sie, in etlichen nit.806

Am Beispiel der Kommunionspraxis und hier insbesondere der Frequenz will Bachmann die in der vormodernen Kultur delegitimierende Vielfalt der Sakramentspraxis anprangern. Mit dem Hinweis auf die Böhmen spielt der Autor dabei auf die Zersplitterung der hussitischen Bewegung an. Johannes Cochlaeus geht bereits in seiner 1529 erschienenen Verteidigung des bischöflichen Mandats zu Meißen, das sich explizit gegen eine Flugschrift Luthers wendet und somit klar im mitteldeutschen Regionalkontext steht, ebenfalls gesondert und ausführlich auf die Hostie ein. Diese sei während des Bauernkriegs durch die lutherischen Rotten geschändet worden, indem die Aufständischen diese zu Boden warfen und aufforderten, sich zu wehren, wenn sie Gott sei. Es sei zu fürchten, einer der vielen Reformatoren werde noch eine Scheibe Rettich als Hostie ausgeben. Die Passage steht im Zusammenhang mit dem Hinweis auf innerprotestantische Spaltungen, die im altgläubigen Lager meist mit Verweis auf den Abendmahlsstreit betont werden, wobei dann die Frage nach der Realpräsenz auch im Norden größere Bedeutung erlangt. In diesem Fall steht die beschriebene Hostienschändung zudem in Bezug zu den aufständischen Bauern, die zwar oft als Folge der Reformation, aber nicht genuin als die Lutherischen beschrieben werden, und somit einen Sonderfall in der Hostien-Frage bilden.807 Auch in Frankreich werden die altgläubigen Unterschiede gegenüber den Evangelischen im Themenfeld Messe, Eucharistie und Kommunion geschaffen. Ähnlich wie in Oberdeutschland, findet die hauptsächliche Differenzierung gegenüber der zunehmend symbolistischen Reformationsbewegung in Bezug auf die Substanz des Altarsakraments statt.808 In französischen Flugschriften beginnt die Auseinandersetzung damit allerdings meist erst in den 1530er-Jahren. Guillaume Petit etwa veröffentlicht 1538 eine Schrift mit dem Titel La formation de l’homme et son excellence, bei der es sich um eine typische Form der leicht kontroversistisch aktualisierten, in spätmittelalterlicher Tradition stehenden Devotionsliteratur der französischen Altgläubigen handelt.809 Petit ist seit 1527 Bischof der Diözese Senlis, Theologe der Pariser Fakultät und Beichtvater sowohl von König Ludwig XII. als auch von Franz I., woraus sich ein nicht unbedeutender politischer Einfluss ergibt. Der Dominikaner fördert den Humanismus und bereitet das letztlich gescheiterte Kolloquium mit Philipp Melanchthon vor.810 Petit wendet sich in seinem Text an die einzelnen Gläubigen und will ihnen

806 Bachmann, Von Zeremonien der Kirche (wie Anm. 410), Bl. E7v. 807 Cochlaeus, Verteidigung des Mandats (wie Anm. 795), S. 925–927. 808 Für die konkrete Differenzierung vgl. Kap. II. 2.1.3. und 2.1.4. 809 Vgl. Kap. I. 1.1. 810 Bedouelle, Guy: Guillaume Petit, humaniste, théologien et politique. In: Mémoire dominicaine. Histoire, documents, vie dominicaine 30 (2013). S. 109–121 [1998].



4.1 Sakramente und Liturgie 

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erklären, welches Verhalten und welcher Glaube für das Seelenheil notwendig seien. Nur einige Aspekte haben dabei offenbar so viel kontroverses Potenzial, dass sie nicht mehr nur „normal“ sind, sondern spezifischer und neuer Einordnungen und Kommentierung bedürfen. Das ist v. a. in den Passagen über den Sinn und die Praxis der Kommunion der Fall. Nach allgemeinen moralischen Ermahnungen kommt Petit auf die Einsetzungsworte Christi und die Feier des Abendmahls zu sprechen. Der Autor betont die Begründung, warum die Laien den Kelch nicht erhalten: Die mangelnde Frömmigkeit und die Ungeschicklichkeit des Volks sowie die christliche Tradition. Zudem sei der Empfang des Kelchs gar nicht nötig, denn in der Hostie seien sowohl Leib als auch Blut Christi enthalten. Der Laie erhalte also nicht mehr oder weniger als der Priester. Wenn es anschließend aber darum geht, was der gute Christ für die heilbringende Kommunion tun muss, dann steht ein Element an erster Stelle: Petit betont nämlich, dass es für die alten Christen heilsnotwendig sei zu glauben, dass Christus wirklich im Sakrament unter der Gestalt von Brot und Wein enthalten sei.811 Den Grund, warum er gerade diesen Aspekt der Kommunion so sehr herausstellt, liefert der Dominikaner gleich mit: Mais qui pis est, [ils, d. h. die Sakramentarier, M. M.] contemnent, desprisent, calumnient & contaminent ce sainct & salutaire sacrement par parolles venimeuses, escriptz pernicieux qui composent de iour en iour seduire le simple peuple avec faictz sxecrables [sic], que nul bon chrestien de bon sens & d’esperit doibt tolerer, car ce qui est commis contre la foy & la religion chrestienne tourne a l’iniure d’un chacun. A ceste cause le Roy treschrestien Francoys premier de ce nom, devot a ce sainct & tresdigne sacrement, considerant l’eminent peril qui povoit venir & de faict venoit en toute la chrestiente & mesmement au royaume de France, esmeu du zele de la foy & de l’honneur de Dieu, decerna & ordonna promptement mandemens expres a sa court souveraine de Parlement et a tous aultres juges ordinaires, que incontinent on feist prendre tous ses meschans & meschantes sentans mal de la foy & de ce sainct sacrement, & qu’on en feist telle punition que telz blaphemes [sic] & heresies requeroient, sans avoir esgard aux personnes de quelque estat ou condition qui fussent. Lequel mandement a esté promptement & devotement executé. Donc tous ceulx es mains desquelz viendra ce present livre, prient devotement nostre Dieu pour ledict seigneur, lequel avec les grandz biens qu’il faict en son royaume comme de le garder & defendre des ennemis & de mectre peine de soublager son peuple, nous a faict davantage ce grand bien inestimable de chasser, destruire, abismer & estaindre les villains blasphemes contre nostre seigneur & aultres heresies.812

Die Betonung der Realpräsenz hängt also zusammen mit den Angriffen der Evangelischen auf das alte Sakramentsverständnis. Dieses erhält somit einen neuen, kontroversen Sinn zugeschrieben. Mit diesem Konflikt wird der französische König eng

811 Erst danach werden die weiteren Bestandteile der Kommunion aufgezählt, nämlich das Vertrauen auf die Gnade Gottes, die Liebe zu demselben sowie v. a. Gewissenserforschung, Beichte und Buße. Das Altarsakrament dürfe nur makellos empfangen werden. Petit, Formation de l’homme (wie Anm. 433), Bl. 44v–62r. 812 Petit, Formation de l’homme (wie Anm. 433), Bl. 58r–59r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

verbunden, da dieser als allerchristlicher Herrscher die Ketzer und Gotteslästerer bekämpfe. Diese Anmerkung geht sicherlich auf die kurzen, aber heftigen Verfolgungen der Sakramentarier nach der Plakataffäre 1535 zurück. Eine staatliche oder obrigkeitliche Unterstützung der Ketzer sieht Petit nicht, anders als die Autoren im Alten Reich, die etwa auf das Kurfürstentum Sachsen, Zürich oder Bern blicken. In Frankreich werden die Anderen also als vollkommen außerhalb der staatlichen Strukturen stehend betrachtet. Durch ihre Sakramentspraxis machen sie sich Gott und den König zugleich zum Feind. Der Inhalt der Plakate von Antoine Marcourt richtet sich gegen die Messe und die Transsubstantiation und verteidigt ein symbolistisches Verständnis der Eucharistie. Jérôme de Hangest reagierte darauf in der ebenfalls schon zitierten Flugschrift Contre les tenebrions, in der er die theologischen und rituellen Differenzen mit den Sakramentariern herausarbeitet. Im ersten Kapitel argumentiert Hangest für die Realpräsenz Christi im eucharistischen Sakrament, die so klar im Evangelium stehe, dass sogar Luther daran glaube  – anders als Marcourt und dessen Anhänger, die sich fälschlicher Weise auf das reine Wort des Evangeliums berufen. Hier zeigt sich die wachsende Wahrnehmung der Heterogenität der Reformation durch die französischen Kontroverstheologen. Nach der Zurückweisung der Sakramentskultur der Anderen zählt Hangest in 12 Punkten seine Sichtweise bezüglich der Transsubstantiation auf. Die Idee, dass sich in der Hostie Leib und Blut zugleich befinden und somit der Laienkelch unnötig ist, wird dabei nur gestreift. Wichtiger erscheinen dem Autor die Handlungen der Menschen gegenüber der Hostie und die Praxis bzw. die Früchte der Messe sowie die Legitimierung der Zeremonien, die nicht in der Bibel stehen. Worte und Gesten seien besonders wichtig für den Gemeinen Mann, da man der Hostie die Transsubstantiation nicht ansehe.813 In der folgenden Passage wendet sich Hangest dezidiert gegen die „Verleumder“, die die Messe auslöschen wollten: [Les cérémonies extérieures, M. M.] sont aux chrestians grandement profictables, pour l’humaine infirmité aider a soy spirituelement en hault eslever & plus vigoreusement considerer des choses divines la magnitude & dignité voyant auxdictes choses les belles, excellentes et solenneles ceremonies observées & honorablemente exercées. Sans lesquelles certe (& principalement au commun populaire non lettré) ne seroient en si grande reputation & appreciation les sainctz sacrementz, les divins mysteres & toutes choses celestes, mais fort souvent froide devotion. Ce que monstre l’experience audict peuple qui plus reveremment, plus humblement & plus attentivement se exhibe ausdictcs [sic] choses, d’autant que plus solennelement, plus decentement & en beau ordre se font & excercent telles ceremonies, & pour ce profict abolir tasche par ses ministres les exterminer l’envieux serpent.814

813 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. A6v–D3r. 814 Hangest, Contre les tenebrions (wie Anm. 480), Bl. C8v–D1r.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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Die Devotionen und Rituale rund um die Wandlung und die Verehrung des Sakraments demonstrieren dem Volk demnach die Bedeutung der Hostie und sorgen für die Internalisierung dieser Wissensordnung bei den einfachen Laien. So verfügen die Zeremonien über einen doppelten kulturellen Sinn: Sie fügen der Hostie eine spätmittelalterliche sowie eine neue, distinktive Bedeutung zu. Realpräsenz wird in der Praxis erlebbar und sichtbar, weshalb dem Messritual insgesamt eine große Bedeutung beigemessen wird. Denn ohne dieses gäbe es nur kalte Devotion und, mehr noch, eine völlige Entwertung, ja Abkehr von der Verehrung Christi. Dies wiederum entspreche dem Ziel der teuflischen Schlange und ihrer irdischen Vertreter. Die Abschaffung des Glaubens an den wahren Christus in der Hostie wird demach zum eigentlichen Antrieb der Sakramentarier. Die Messe wird außerdem behandelt im neunten Kapitel der anonym erschienenen Apologie, wobei die hintere Platzierung im Textarrangement nicht der subjektiven Bedeutungshierarchisierung des altgläubigen Verfassers geschuldet ist, sondern dem Umstand, dass der Anonymus dem Aufbau des Buchs des Erasmianers Georges de Halewijn folgt.815 Dieser wollte in seiner vorangegangenen Flugschrift angeblich Luthers mutmaßliche Verfehlungen aufzeigen, hat sich nach Meinung des Altgläubigen jedoch nicht ausreichend distanziert und die Irrtümer sogar verschlimmert. Das Buch wird im März 1533 veröffentlicht, also zu einem Zeitpunkt, als in Paris die reformerisch-evangelische Kultur zunehmend verbreitet und durch Margarete von Navarra, die ihren absenten Bruder vertritt, unterstützt wird. Der Evangelische Gérard Roussel predigt im Louvre, altgläubige Kleriker wie François Le Picart vertreten wiederum öffentlich ihre Gegenpositionen. Der Anonymus greift eine Reihe von Äußerungen Halewijns zur Messe auf. Es ist interessant zu beobachten, bei welchen Punkten es zu größeren Differenzen mit dem erasmischen Evangelischen kommt – und bei welchen nicht. Ziemlich unkontrovers ist die anfängliche Frage nach den Vorschriften bezüglich des Messhörens. Halewijn prangert zudem Missstände bei der Finanzierung von Messen an, die der altgläubige Autor im Einzelfall nicht abstreitet, aber dennoch relativiert. Dann verschärft der Reformer seine Kritik an der hohen Frequenz des Messhörens und insinuiert, dass dies den Menschen schade und eine Untugend bzw. ein Fehler („vice“) sei. In der Widerlegung wird diese Einlassung ins genaue Gegenteil verkehrt: Häufiges Messehören sei förderlich und ein frommer Akt. Abschließend greift der altgläubige Anonymus die Vermutung Halewijns auf, dass die Priester unter sich einen Pakt geschlossen hätten, um sich unter dem Vorwand der sakralen Dienstleistung vor Handarbeit zu drücken, was er natürlich abstreitet. Vielmehr sei die Regelung biblisch begründbar. Die Kritik am Klerus werde von den Ketzern zur Herbeiführung eines Schismas instrumentalisiert.816

815 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. A2v. 816 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. C8r–D3r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Die Differenzpunkte mit dem Erasmus-Anhänger drehen sich weder um die Praxis der Kommunion noch um die Substanz des Sakraments, anders als bei den nur wenig später entstandenen Schriften von Hangest und Doré gegen die Sakramentarier. Zwar wird auch Halewijn in den großen Topf der lutherischen Häresie geworfen, doch die Unterscheidungslinien verlaufen anders. In der zentralen Frage des Altarsakraments kommen die aus altgläubiger Perspektive in Frankreich vorhandenen zwei Untergruppen der Anderen zum Vorschein. Einerseits sehen sie sich mit radikalen Sakramentariern und andererseits mit erasmisch-evangelischen Reformern konfrontiert, wobei mit letzteren die Trennungen schwächer und unschärfer sind und laut Thierry Wanegffelen letztlich nicht existieren. Die reformerischen Gruppen wie der Kreis von Meaux oder Einzelpersonen wie Roussel, Claude d’Espence und die Schwester des Königs, Margarete von Navarra, sieht Wanegffelen in Fragen der Eucharistie und mitunter der Frömmigkeit in keinem Bruch mit der alten Kirche.817 Doch mit seinem Blick „von oben“ auf die theologischen Schlachtfelder hat Wanegffelen übersehen, dass in der subjektiven altgläubigen Wahrnehmung des religiösen Feldes beide Untergruppen als das Andere gelten bzw. die Unterschiede zu diesen in den Repräsentationen stark gemacht werden, wenngleich auch auf verschiedenen Ebenen. Neben der Eucharistie werden auch andere Sakramente und deren rituelle Umsetzungen zu zentralen sowie vielgesichtigen Unterscheidungsmerkmalen in den Flugschriften. Die Rechtfertigung der Sünden beschäftigt die Menschen der Vormoderne und gilt als eine Triebfeder der spätmittelalterlichen Frömmigkeit. Deshalb werden in den Flugschriften Ablass, österliche Beichte und Fasten zu Grenzen zwischen den Religionsgemeinschaften.

4.1.2 Rechtfertigung und Reinigung Um in der altgläubigen Kultur das Seelenheil zu erlangen, muss der Mensch mit seinen Sünden vor Gott gerechtfertigt werden. Mit der protestantischen Rechtfertigung durch den Glauben und Christi Kreuzestod sowie mit der altgläubigen Vorstellung von einem notwendigen Zusammenspiel zwischen göttlicher Gnade, guten Werken und Sakramenten stehen sich zwei verschiedene Grundkonzepte entgegen. Der Ablass ist im Spätmittelalter eine beliebte und nachgefragte Form der Sicherung des Seelenheils. Neben der Beichte ist das Fastengebot in der Vorosterzeit und an gebannten Feiertagen in der alten Kirche ein wichtiges Kulturelement und Zugehörigkeitsmerkmal. Die Speisegebote werden in den Flugschriften gemeinsam mit der vorösterlichen Beichte und der Osterkommunion zu einem wiederkehrenden Kristallisationsmoment der Unterschiede.

817 Vgl. Ni Rome, ni Genève (wie Anm. 39), S. 75–97.



4.1 Sakramente und Liturgie 

 223

Der Ablassstreit 1517/18 gilt in der deutschen Historiographie traditionell als Startpunkt der Reformation. Die Frage nach dem Ablass und der Rechtfertigung bringen Luther im Herbst 1517 dazu, seine 95 Thesen zu formulieren und an die Tür der Wittenberger Schlosskirche zu nageln. Damit steht gleich zu Beginn ein bedeutendes Phänomen der Volksfrömmigkeit im Mittelpunkt des Deutungs- und Handlungsnormenstreits. Ablässe sollen verstorbene Angehörige von den zeitlichen Sündenstrafen im Fegefeuer befreien und Erleichterung im Jenseits verschaffen. Sie waren ein teilweise massenhaftes Kommunikations- und Interaktionsmittel der Lebenden mit den Toten.818 Nun wettern die Reformatoren gegen die wuchernde und reißerische Art des Ablasshandels und gegen den Ablass als Weg zur Heilssicherheit. Die Folge: Immer öfter stören aufgebrachte Bürger den Ablassverkauf und es scheint, dass die Verkaufszahlen unter Druck geraten,819 wobei hierzu statistisch gestützte Studien noch fehlen. Die Kritik an manchen Formen des Ablasshandels wird auch von den meisten späteren Luthergegnern geteilt.820 Sie fordern in ihren Stellungnahmen zumindest ein seriöseres Ablasswesen, dessen religiöse Praxis mit aufrichtiger Reue und Umkehr verbunden sein müsse. Reformerisch gesinnte Autoren wie Thomas Murner sehen in den Ablässen vor allem eine Art karitatives Instrument, das zugleich ein gutes Werk sei.821 Dennoch setzt sich unter den meisten altgläubigen Autoren kein grundsätzlicher Zweifel an der Wirkmächtigkeit und der Funktion der Ablässe durch, wenngleich diese 1518 nur durch den Prediger Tetzel, den mit Tetzel in Verbindung stehende Theologe Konrad Wimpina aus Frankfurt an der Oder sowie Johannes Eck öffentlich verteidigt werden. Eck wird dabei von den Fuggern unterstützt, die um ihren finanzi-

818 Vgl. Chiffoleau, Jacques: La religion flamboyante. France 1320–1520. Paris 2011. S. 131–135, 139– 165; Koslofsky, Reformation of the Dead (wie Anm. 22), S. 23–27; Brian/Le Gall, Vie religieuse (wie Anm. 278), S. 15 f. 819 Die Furcht vor einem Rückgang der Erträge aus dem Ablassgeschäft habe die Fugger, schreibt Tewes, Luthergegner (wie Anm. 395), S. 337–340, maßgeblich zu ihrer antilutherischen Haltung und Unterstützung von Johannes Eck oder Jakob Hochstraten veranlasst. Jedenfalls machen sich in immer größeren Teilen des Volks in immer größeren Räumen des Alten Reichs Ablehnung oder zumindest Skepsis gegenüber den Ablässen breit. 820 So äußert sich zum Beispiel der später entschiedene Luthergegner Bischof Adolf von Merseburg erfreut darüber, dass nun die armen Leute vor dem Betrüger Tetzel gewarnt wurden. Er begrüßt die Verbreitung der 95 Thesen und prognostiziert, jedoch ohne sichtbares Bedauern, einen Werteverlust für den Ablass. Kaufmann, Geschichte der Reformation (wie Anm. 714), S. 208. Zu Sinn und Reformierbarkeit des Ablasses, dessen konkrete Ausgestaltung ihm selbst sehr missfällt, siehe auch noch Ende 1520 Murner, Luthers Lehren und Predigen (wie Anm. 412), S. 151 f. 821 Das fordert bereits, mit Blick auf den Ablasstross und -handel des Johann Tetzel, Kardinal Albrecht von Brandenburg in seinem Brief an die Räte in Halle im Dezember 1517. Vgl. Schreiben an die Räte in Halle, 13. Dezember 1517. In: Dokumente zur Causa Lutheri, 1517–1521. Bd. 1, Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen, 1517–1518. Hrsg. von Peter Fabisch u. Erwin Iserloh. Münster 1988 (Corpus Catholicorum 41). S. 303–309.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

ellen Anteil am Ablasshandel fürchten.822 Dennoch verliert der Ablass, wie es scheint, in der altgläubigen Textkultur zu Beginn der 1520er-Jahre an Bedeutung. Zumindest wird er in den Flugschriften zu einem Randphänomen, das nur sehr zurückhaltend angesprochen wird. Der Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung wird somit für die Altgläubigen kaum zu einem effektiven Distinktionsmerkmal. Beispielhaft für diese Ambivalenz ist eine Äußerung von Johannes Eck in dessen antilutherischer Schrift vom Herbst 1520 über das Konstanzer Konzil: Mit dem ablaß las ich auch ruhen; dan ich acht, nith alleine den Ludder, sunder vil frummen Christen geistlich und weltlich den mißbrauch der ablassamler auch mißgefallen habe. Aber den ablas auß redlicher ursache gegeben von dem, der das gewaldt hat, tzu vornichten und unnütz tzu schatzen den frummen Christen (wie er thut), die sich gebuerlich den selbigen tzu entpfahen schycken, ist anne tzweyfell ein yrrig, vorfurisch, böße meynung, auch dem heyligen apostel Paulo wider, darinn der ablas gegrundert ist, wiewol Luder und Carlstadt das darin noch nith funden haben ader nicht finden wollen.823

Die Behandlung des Ablasses ist kurz gehalten, zu groß und augenfällig sind wohl die Missbräuche. Die Verfehlungen rechtfertigen jedoch nicht, dass die Praxis völlig eingestellt wird, wie dies Luther und Karlstadt fordern – ein typisches Argumentationsmuster altgläubiger Autoren, die über Missbräuche in der eigenen Ritualkultur sprechen oder mit diesen konfrontiert werden. Eck unterstützt die Rechtmäßigkeit der Ablässe nur, wenn sie aus redlichen Gründen in einem korrekten Verfahren an reuige Christen erteilt werden, und dann auch nur von den Bevollmächtigten, d. h. von Priestern und Prediger mit einem rechtmäßigen Auftrag. Etwas weniger nuanciert äußert sich der Sachse Petrus Sylvius. In einer Flugschrift vom Juni 1527, in der er verschiedene Wege anprangert, durch die Luther das Vorrücken der Türken und die Aufstände des Volks provoziert habe, schreibt er: Der vierde weg, wilchen der Luther dem ungütigem Türcken ynn die christenheyt deste leychter zu kommen zugerichtet hat, ist, so er den volkümlichen bebstlichen ablas, wilcher stets widder alle ungleubigen eyne grosse sterckunge ist gewest, ytzt bey den bawfelligen christen so wol als alle göttliche dinste, christliche zucht und menschliche seligkeyt hat niddergestossen und

822 Vgl. Johannes Tetzel OP: Frankfurter Thesen über Ablaß und päpstliche Gewalt (Frühjahr 1518). In: Dokumente zur Causa Lutheri, 1517–1521. Bd. 1, Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen, 1517–1518. Hrsg. von Peter Fabisch u. Erwin Iserloh. Münster 1988 (Corpus Catholicorum 41). S. 310–375; Tetzel, Widerlegung (wie Anm. 728); Johannes Eck: Obelisci zu Luthers Thesen und dessen Erwiderung (Asterisci 1518). In: Dokumente zur Causa Lutheri, 1517–1521. Bd. 1, Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen, 1517–1518. Hrsg. von Peter Fabisch u. Erwin Iserloh. Münster 1988 (Corpus Catholicorum 41). S. 376–447. Beim persönlich betroffenen Tetzel sowie beim Fuggervertrauten Eck wurden dahinter zudem schon von den Zeitgenossen ökonomische Motive vermutet. Zum Verhältnis von Eck zu Jakob Fugger vgl. Tewes, Luthergegner (wie Anm. 395), S. 330–335. 823 Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 10.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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verechtig gemacht, wie wol solcher bebstlicher und allen christlichen schoffen zu yhrer seelen seligkeit nothafftiger ablas, yn dem heiligen evangelio klerlich gegründet durch Christum, seiner christlichen kirchen zu trost und seligkeyt eyngesetzt und bekrefftiget ist.824

Kritik an Missständen und reformerische Ansprüche werden hier zugunsten einer allgemeinen theologischen und historischen Legitimierung zurückgestellt. Sylvius bezieht sich dabei auf eine besondere Form des Ablasses, nämlich den päpstlichen Generalablass, der für gewöhnlich bei Kreuzzügen oder Feldzügen gegen Ketzer erteilt wurde, aber auch zu anderen besonderen Anlässen. Dieser habe der Stärkung der Gläubigen gedient, sowohl was das Seelenheil als auch was die Verteidigung der Christenheit anbelangt. In der Konsequenz helfe Luther den Türken, wenn er dem Generalablass ein Ende bereitet. Den Ablass, den Sylvius für direkt von Jesus eingesetzt hält, stellt er dabei in den allgemeineren Zusammenhang von Luthers Vorgehen gegen die alten Gottesdienste, d. h. gegen die rituelle Praxis der guten Christen. Insofern Sylvius den Ablass als heilsnotwendig für die christlichen Schafe darstellt, wird seine Ausübung als altgläubiges Positionsmerkmal repräsentiert. Distinktiv für die Altgläubigen wird der Ablass somit v. a. in konkreten Lebenssituationen, etwa dem Sterben. Matthias Kretz, seit 1521 Domprediger in Augsburg, veröffentlicht 1529 eine während der Fastenzeit gehaltene Predigt darüber, wie sich der Einzelne auf einen guten Tod vorbereiten kann. Die Schrift ist an die frommen und standhaften Christen in Augsburg gerichtet.825 Diesen gibt er 27 Ratschläge zu einem seligen Tod. Unter Punkt 17 empfiehlt er, bereits zu Lebzeiten auf den Ablass zurückzugreifen. Denn durch diesen werde das Fegefeuer hinweggenommen, d. h. die Gläubigen müssen dort gar keine oder weniger Sündenstrafen büßen.826 In Frankreich entfällt die Entwicklung der Ablässe zum distinktiven Unterscheidungsmerkmal in den altgläubigen Flugschriften fast vollständig. Nur zu wenigen und zugespitzten Momenten, etwa um die Vorosterzeit 1533 mit den polarisierenden und im Volk stark rezipierten Predigerauseinandersetzungen in Paris, etwa zwischen dem Evangelischen Gérard Roussel und dem Altgläubigen François Le Picart, entstehen öffentliche Kontroversen um Sinn und Unsinn der Ablässe. Diese realen Auseinandersetzungen finden in den volkssprachlichen Texten der orthodoxen Seite jedoch keinen großen Niederschlag haben. Ex negativo lässt sich aus den Flugschriften ableiten, dass Ablässe oft einfach noch Normalität sind.827

824 Sylvius, Eine klare Beweisung (wie Anm. 412), S. 432. 825 Kretz, Matthias: Das büchlein helt in sich // drey ding. // Das erst/ Wie sich der mensch zu ainem // seligen end schicken soll. // Das ander/ Wie man den sterbenden // zusprechen soll. // Das dritt/ Außlegung des letsten Ca=//pitels Ecclesiastes/ lautend von // dem end des menschen. [Augsburg: Alexander Weißenhorn] 1529. VD16 ZV 9211. Bl. A1v. Zur Biographie vgl. Tüchle, Kretz, Matthias. In: NDB 13 (1982). S. 16 f. 826 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. B1v. 827 Zur religiösen Praxis vgl. Kap. II. 2.2.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Eine Ausnahme stellt die Auseinandersetzung dar, die ein altgläubiger Anonymus mit seiner Apologie gegen den Erasmus-Anhänger Georges de Halewijn führt. Dieser hatte in seinem vorangegangenen, aber nicht überlieferten Text in Bezug auf Ablässe und die Verstorbenen im Fegefeuer geschrieben, dass Luther und dessen Gegner über diese Fragen besser nicht gesprochen hätten, zumal derlei Praktiken für den Erwerb des Seelenheils belanglos seien. Der anonyme Altgläubige hingegen greift Luther in diesen Fragen an, lobt die Verteidigungsschriften der Luthergegner und verweist auf Konzilsbeschlüsse, in denen die Existenz des Fegefeuers festgelegt ist. Den Grund für Halewijns Zurückhaltung in diesem Punkt will der Altgläubige auch gleich ausgemacht haben: Mit dem Fegefeuer sei nicht nur die Frage nach deren biblischer Begründung, sondern auch nach den päpstlichen Ablässen verbunden. Indirekt gibt der Autor damit zu erkennen, dass die Evangelischen sich vor diesen Diskussionen scheuten, die sie nur verlieren könnten.828 Der altgläubigen Norm zufolge muss der Laie vor dem Empfang der Kommunion zu Ostern mindestens einmal gebeichtet haben, und zwar im Rahmen einer individuellen Ohrenbeichte mit anschließender Absolution. In manchen Territorien des Alten Reichs gibt es dafür schon seit Beginn der 1520er-Jahre Kontrollen, die etwa im Herzogtum Sachsen, dem Herzogtum Bayern und dem Hochstift Passau auch recht konsequent durchgesetzt werden und durch entsprechende Mandate zur Staatsnorm erhoben werden. Nicht nur in der altgläubigen Gesetzgebung, sondern auch in den Flugschriften wird die Beichtpraxis im Alten Reich zu einem effektiven Distinktionsmerkmal.829 Johannes Eck weist 1520 als erster explizit in einer deutschsprachigen Flugschrift, wenngleich auch eher am Rande, darauf hin, dass Luther das alte Bußsakrament zerrissen habe: Ich laß auch stehen, das ehr das heylig sacrament der busse der maß tzurissen hat, das ehr die rhew vornichtet und unnötig geacht, die beicht der massen beschnitten, das sie lützel nütz were, allein die offentliche sund tzu beychten (die weiß man vor wol) und die gnugthung gar mit ayn hinweggenommen, alßo das ein yetlicher priester hab volkommen macht, wie der babst tzu absolviren fur pein und schuldt.830

Die Beichtfrage ist eng an den Streit um die lutherische Rechtfertigungstheologie gebunden. Luthers „Zurichten“ des Sakraments bestehe darin, dass er die Reue als konstitutives Element des altgläubigen Bußsakraments für unnötig hält und somit das erzieherische Moment der Kirchenzucht schwächt. Eck wirft Luther dessen Ini-

828 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. E1v–E2r. 829 Vgl. Kap. II. 2.2.; Volkmar, Reform statt Reformation (wie Anm. 394), S. 500–542. Vgl. allgemeiner und reichsweit Kohnle, Reichstag und Reformation (wie Anm. 112), S. 128–201, 228–247, 298–361, 408–437. 830 Eck, Des Konzils zu Konstanz Entschuldigung (wie Anm. 397), S. 4.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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tiative vor, die Beichte auf die öffentliche Sünde zu beschränken und die Buße als Wiedergutmachung und gutes Werk abzuschaffen – gerade das sollte tatsächlich ein nachhaltiger theologischer Unterschied zwischen den späteren Konfessionen werden. Die autonome Absolutionsgewalt der Priester sei Luther ebenfalls ein Dorn im Auge, denn der Sündenablass ist an den Papst und dessen Schlüsselgewalt gebunden. Luthers Beichtvorstellungen sind noch in der Entwicklung begriffen, laufen mittelfristig aber auf pragmatische Lösungen und nur geringe Veränderungen hinaus. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte die lutherische Beichte eine private Ohrenbeichte mit anschließender Absolution durch den Pastor bleiben. Die Absolution wurde in der lutherischen Orthodoxie zur Voraussetzung für die Zulassung zum Abendmahl und somit ein gängiges, aber doch in Aushandlungsprozessen mit der Gemeinde umgesetztes Mittel der Kirchenzucht.831 Einige deutsche Autoren widmen der Beichte ganze Flugschriften. Darunter ist der Augsburger Matthias Kretz mit seinem Sermon von der Beichte aus dem Jahr 1524. Kretz nennt drei Arten der Beichte. Erstens die gemeine Beichte, die z. B. im Augsburger Dom nach der Predigt gesprochen werde, verbunden mit der Bitte des Priesters um Nachlass der Sünden. Zweitens die offene Beichte in Anlehnung an das MatthäusEvangelium. Darunter könne einerseits die völlige Öffentlichkeit des Sakraments verstanden werden, also öffentliche Beichte und Buße, was die Lutherischen als „evangelische Beichte“ befürworten. Gegen diese Interpretation sprechen für Kretz v. a. pragmatische Gründe, denn wenn jeder Sünder bei oder vor anderen beichte und sich rechtfertige, würde es zu Streit und Mord kommen. Deshalb habe die frühchristliche Kirche die Beichte rasch zu einer geheimen Praxis gemacht und nur die Öffentlichkeit der Buße beibehalten.832 Die private Ohrenbeichte ist demnach auch ein Mittel der Konfliktentschärfung und -regulierung. Kretz befürwortet deshalb die vierte von ihm aufgezählte Beichtart, anhand derer er 1524 den großen Unterschied zu den Lutherischen festmacht: Die vierdt haymlich peicht, die genennt mag werden kirchen peicht, ist die, so der sünder all sein todt sünd die im bewissend seind, haimlich entdeckt vor dem priester als vor aim stathalter Gots. Darvon ist der streit. Dann die Lutherischen sagen, die sey nicht gegründt in der schrifft, sey deßhalb nit auffgesetzt von Got… Das sie aber irren unnd solch peicht gegründt sey in der schrifft, wöllen wir anzaygen auß nachfolgenden ortten.833

831 Vgl. Dürr, Renate: Private Ohrenbeichte im öffentlichen Kirchenraum. In: Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Susanne Rau u. Gerd Schwerhoff. Köln/Weimar/Wien 2004 (Norm und Struktur 21). S. 383–411; Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 94–107. 832 In der westlichen Christenheit sei diese Form bis heute üblich und könne konkret in verschiedenen Formen erfolgen. Kretz, Matthias: Ain sermon von der peicht/ // ob sie Gott gebotten hab/ Durch D. // Matthiam Kretz zu Aug=//spurg/ zu unser fra=//wen im Thum // gepredigt. [Augsburg 1524]. VD16 K 2366. Bl. A1v–A2r. 833 Kretz, Von der Beichte (wie Anm. 832), Bl. A2v.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Kretz bringt dann einige Bibelzitate bei, die seiner Meinung nach die altgläubige Beichtpraxis belegen. Der Sünder müsse die Absolution des Priesters erhalten, damit ihm die Sünden auch vor Gott vergeben sind. Nur der Priester könne zudem über das nötige Bußmaß sachgerecht entscheiden. Auch die persönliche Beichte nur vor Gott reiche nicht. Kretz verteidigt die konkreten Regeln, deren posthumer Aufsetzung durch die Kirche er sich bewusst ist: Beichte vor Ostern, in der Kirche und beim zuständigen Pfarrer oder einem anderen dazu berechtigten Geistlichen. Die Beichtväter nimmt Kretz indes stark unter Beschuss. Sie hätten aus dem Sakrament ein Affenspiel gemacht, weshalb nun die Evangelischen das ganze Sakrament umstoßen wollen. Dann zählt er eine Reihe von Missständen auf, etwa unwirsches Verhalten, Neugierde oder die Instrumentalisierung der Beichtabgaben als „geltnezlin“. Deshalb fordert Kretz die geistlichen Obrigkeiten auf, nur geeignete Männer zu Beichtvätern zu ernennen. Aber auch die Gläubigen werden zu mehr Disziplin ermahnt. So sollen sie mit der Beichte nicht immer bis in die Karwoche warten, denn so werden die Kleriker vor Ostern mit Arbeit überfrachtet.834 Auch in Mitteldeutschland befassen sich altgläubige Autoren in langen Flugschriften mit der Beichte. Unter diesen Autoren ist Georg Witzel. Der Ex-Lutheraner veröffentlicht 1536 die Flugschrift Von der Buße, Beichte und Bann. Das erste Buch befasst sich mit Buße und Beichte, die Witzel im Lichte der sich verstetigenden lutherischen Sakramentskultur verteidigt und aktualisiert. Zu Beginn legt er allgemeine theologische Grundsätze dar. Er weist die Rechtfertigung durch den Glauben allein zurück und betont die Notwendigkeit des Sakraments, zu dem Reue und Buße ebenso gehören wie die Beichte, die täglich vor Gott und mindestens einmal jährlich mündlich und geheim bei einem Priester erfolgen müsse.835 Nach einer historischen Einordnung der Ohrenbeichte kommt Witzel auf die Praxis der Lutherischen zu sprechen, zu denen er den Unterschied der eigenen, altgläubigen Rituale und Lehre herausarbeitet: Wolan, du sectischer, wie stehen wir nun zusammen?… Wie woll die beycht, so du haben wilt, auch sectisch ist, wie fast alles. Es ist nur ein gleissen, darmitt du umbgehest, lerest unnd beichtest auff ein schein unnd schutztrutz, darmit dich niemandt schüldige, du habest dye beicht getilget und verdammet. Denn das es nitt rechter ernst sey, beweyset sich inn teglicher erfarunge. Wittemberg sampt seinem unterthenigen refier rufft wider beicht, beicht. Wo aber meer ym Luderthum? Was hören sey aber dargegen vom zornigen volck, denn marter, velten und frantzhosen? Item beicht euch der teuffel wider, ich nitt. Wie unwillig sind ire Evangelistenn darzu, das sie wider sollenn beicht sitzen? Wie unsanfft gehets an, noch ists keyn recht beichten. Denn erstlich geschicht, was do geschicht, in der sect, mit hass der kirchenn. So ist kein ordenung do. Zum drittenn ist weder forcht, noch andacht do, und die hertzen sind träger und widerwilliger, denn sie vor warenn, unnd bleibt manch mensch der beicht halb vom sacrament.

834 Am Ende gesteht Kretz, dass auch Luther die Ohrenbeichte beibehalten möchte, allerdings fordere der Wittenberger, dass sie freiwillig stattfinden müsse. Kretz, Von der Beichte (wie Anm. 832), Bl. A2v–B2v. 835 Witzel, Von Buße, Beichte und Bann (wie Anm. 540), Bl. A2r–A3r.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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Zum vierden leuffts dohyn, und heischet eynn absolutz, sagend, sie haben Gott gebeichtet, alles on rewe unnd leydt, on ernst und meynunge. Denn wie künden dise leut rew und leid umb ire sünd haben, so do teglich predigen hören: Gott rechne dem glaubigen kein sünde zu und kein sünde verdamme one der ungelaube. Auch das Christus habe für unsere sünde genug gethon. Warumb sollen wir uns denn darumb bekümmeren?836

Die Beichte bei den „Ketzern“ könne laut Witzel keine wahre Beichte sein. Vielmehr wollen sich die Lutherischen mit ihrer Praxis aus Hass gegenüber der Kirche von dieser abgrenzen. Dennoch macht der Autor eine Rückbesinnung oder zumindest deren Versuch in Wittenberg aus. Damit spielt er sicherlich auf die Ausformung der Sakramentspraxis im zunehmend institutionalisierten Luthertum an, das der altgläubigen Form stark ähnelt. Doch das sei nur ein übler Schein, den Witzel nicht anerkennen will. Nur der Teufel würde nun wieder bei den Lutherischen beichten. Selbst das Volk lästere und schimpfe in den reformierten Territorien gegen die nun wieder eingeführte Beichtpflicht. Der Gemeine Mann sei unwillig, zur Beichte zu gehen, und verzichte deshalb sogar auf die Osterkommunion – was erneut die Verbindung zwischen den beiden Sakramenten im Ensemble der Distinktionen deutlich werden lässt. Die Absolution, die im Luthertum weiter durch den Priester erteilt wird und in der späteren Orthodoxie zu einem umstrittenen, aber doch wirkmächtigen Mittel der Kirchenzucht wird, findet bei Witzel keine Gnade. Denn das Volk wolle gewissermaßen eine abgeschwächte Version der Absolution, ohne Reue und Buße und ohne die in der alten Kirche geforderte Bekennung aller Todsünden. Die lutherische Predigt habe über die Jahre hinweg unter der sola-fide- sowie der sola-gratia-Prämisse Eifer und Reue im Volk ausgelöscht. Das Sakrament ist, wenngleich es weiter in lutherischen Territorien gefordert wird und in der Performanz näher an die altgläubige Form rückt, für Witzel eine leere und wertlose Hülse. Davon unterscheidet Georg Witzel im Anschluss die wahre Beichte. Diese sei in der Tat reformbedürftig und könne nur bestehen, wenn sie wieder rein werde wie zu Beginn. Gleichzeitig könne man die Lutherischen durch Reformen wichtiger Argumente gegen die alte Praxis berauben und den angeblichen Automatismus der lutherischen Argumentation beenden, wonach Rituale mit Missständen gleich ganz abgeschafft werden sollten. Witzel macht acht Ratschläge für eine gelungene christliche Beichte. Dazu müsse sich der Gläubige einen guten und gelehrten Beichtvater suchen und fasten. Dann fordert er den Gläubigen zu tief empfundener, schmerz- und leidvoller Reue und in diesem Geist zur Buße auf. Besonders hebt er die Rolle des Pfarrers hervor, der die Beichtkinder intensiv befragen solle. Dies sei besonders wichtig, da man nie wissen könne, was sich in diesen häretischen Zeiten im Volk verbirgt und da gerade keine Visitation durchgeführt werden kann. Umso wichtiger sei das Examen durch den Beichtvater, der jeden Gläubigen mindestens eine Stunde im Jahr verhören

836 Witzel, Von Buße, Beichte und Bann (wie Anm. 540), Bl. C1v–C2r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

sollte. Nach Ablegen der Beichte bittet der Priester um Vergebung und Nachlass der Sünden und erteilt die Absolution. Damit die Sünden dann auch wirklich vergeben werden, müsse der Gläubige Buße tun, das heißt gute Werke zum Ausgleich und zur Wiedergutmachung. Darin bestehe die zentrale Auseinandersetzung mit den Lutherischen, schreibt Witzel. Schließlich müsse der Christ gute Vorsätze fassen und die dauerhafte Abkehr von der Sünde anstreben.837 In der altgläubigen Textkultur Frankreichs entstehen zwei Bruchlinien bezüglich der Ohrenbeichte. Zum einen wird das Sakrament in der eher traditionell anmutenden Frömmigkeitsliteratur distinktiv aktualisiert. So im Büchlein La formation de l’homme et son excellence von Guillaume Petit. Die wenigen, dann aber sehr stark kontrovers aufgeladenen Stellen im Buch des Bischofs von Senlis aus dem Jahr 1538 beziehen sich auf das Altarsakrament und die Betonung der Realpräsenz sowie der Kommunion unter einerlei Gestalt. Ansonsten entspricht der Text eher den Merkmalen eines spätmittelalterlichen Katechismus, was Guy Bedouelle jedoch nicht davon abhält, ihn als ein Beispiel für die rasche und kontroverse Reaktion gegen die Verbreitung des „neuen Glaubens“ in Frankreich einzustufen.838 Guillaume Petit stellt unter den zur Vorbereitung der Kommunion verpflichtenden Ritualen das Beichtsakrament besonders heraus. Er fordert zur genauen Erforschung des Gewissens auf, da sich die Gläubigen dem Altar nur im makellosen Zustand der spirituellen Reinheit nähern dürfen. Er präzisiert dabei: „Garde toy donc, o chrestien, de approcher de ce digne sacrement, se cognois & penses avoir en toy aulcun peché non confessé, comme dict est, ou vouloir de pecher, car indignement & a ta damnation tu le recepverois.“ Denn aus einer unwürdigen Kommunion erwachse großes Übel.839 Der Umstand, dass Petit die Notwendigkeit des Beichtsakraments im Zusammenhang mit der von den Sakramentariern angegriffenen Eucharistie derart betont, legt nahe, dass diese Bedeutung in den Augen Petits nicht mehr von allen Zeitgenossen geteilt wird. In der anonymen Flugschrift Apologie gegen den Erasmianer Halewijn wiederum geht es zu Anfang nicht um die Frage des Für und Wider der geheimen Ohrenbeichte, sondern um deren Ursprung. Während Halwijn, der bei der aktuellen Praxis großen Reformbedarf sieht, ohne sie jedoch grundsätzlich infrage zu stellen, auf die Veränderung urchristlicher Formen durch die Konzile und den Klerus sowie durch die Zustimmung der Christen im Laufe der Zeit verweist, hält der altgläubige Anonymus das Sakrament für direkt von Christus eingesetzt. Die Konzile hätten die Ausgestaltung dann konkretisiert und das jährliche Beichten vorgeschrieben. Die Kritik, dass die Gläubigen für die Abnahme der Beichte an die Priester zu viel bezahlen müssten, wischt der altgläubige Anonymus beiseite: Zahlungen seien immer freiwillig, zudem handle es sich um Kleinstbeträge. Schließlich könne Halewijn das gar nicht wissen,

837 Witzel, Von Buße, Beichte und Bann (wie Anm. 540), Bl. C2v–E4r. 838 Bedouelle, Guillaume Petit (wie Anm. 810), S. 117. 839 Petit, Formation de l’homme (wie Anm. 433), Bl. 60r–62v.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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da er wohl noch nie selbst gebeichtet habe.840 Der Unterschied ist hier nuancierter, sozusagen schwächer, als gegenüber den Sakramentariern und dreht sich um Details der Ausführung sowie um historische Begründungen. Betont wird allgemein von altgläubiger Seite zudem die Pflicht des Fastens während der Vorosterzeit, an Freitagen und an bestimmten gebannten Feiertagen. Dabei ist das Fastengebot auch vor der Reformation unter Humanisten und Reformern, die die vielen Gesetze der Kirche skeptisch sehen, keineswegs unumstritten. Kritik kommt etwa von Erasmus von Rotterdam. Deshalb werden die spätmittelalterlichen Speisegebote in der Reformationszeit später zu Distinktionsmerkmalen als die in der Praxis damit eng verbundene vorösterliche Beichte. Der Franziskaner Thomas Murner stimmt Luther 1520 sogar noch darin zu, dass es zu viele kirchliche Gebote gebe, unter denen er das Fasten aufführt.841 Mir scheint, dass die Fastenfrage zeitweise in Süddeutschland und der Eidgenossenschaft etwas stärker und konkreter von den altgläubigen Autoren herausgestellt wird als im Norden und in Frankreich, was sicherlich auch eine Folge des aufsehenerregenden Fastenbrechens in Zürich am 9. März 1522 ist. An diesem Tag werden ostentativ Würste im Haus des Druckers Froschauer gekocht und dem dort versammelten evangelischen Zirkel als Essen vorgesetzt. Zwingli, der bereits als Prediger bekannt geworden war, nimmt daran zwar nicht teil, rechtfertigt den Fastenbruch jedoch wenig später auf der Kanzel. Zwar folgt er dabei allgemein Luthers Position zum Fastengebot, doch die Umsetzung in einem kaum verheimlichten Fastenbrechen erzielt großes Aufsehen und macht die Speisegebote zu einem wichtigen Distinktionselement zwischen den Religionsgemeinschaften.842 Die Fastenfrage wird im Jahr 1524 in einem Reformationsdialog von Johannes Felbaum behandelt.843 Der Text ist laut Adolf Laube durch den Elsässer Franziskaner Thomas Murner zumindest beeinflusst, wenn nicht sogar verfasst worden.844 Felbaum, aus Bretten im Kraichgau stammend, setzt in seiner Schrift den jungen Wurstbub, den altgläubigen Altvater und einen lutherischen Mönch in Szene. Nachdem der Alte den Wurstbub von der Nichtigkeit der Rechtfertigung aus dem Glauben allein überzeugt hat, folgt eine Diskussion über die Speisegebote:

840 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. C3v–C5v. 841 Murner, An den Adel (wie Anm. 592), S. 200. 842 Vgl. zum Vorgang Gordon, Bruce: The Swiss Reformation. Manchester/New York 2002 (New Frontiers in History). S. 53–55. 843 Zur Gattung der Dialoge vgl. Weiß, Ulman: Sich „der Zeit vnd dem Marckt vergleichen“. Altgläubige Dialoge der frühen Reformation. In: Flugschriften der Reformationszeit. Colloquium im Erfurter Augustinerkloster 1999. Hrsg. von Ulman Weiß. Tübingen 2001. S. 97–124. 844 Vgl. Kommentar des Hrsg. in Felbaum, Nützliche Rede (wie Anm. 641), S. 835.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Wurst buob Vatter, hast mich underwisen wol, darumb ich dir billich folgen sol. Noch meer haben sie [die Lutherischen, M. M.] vorhanden, das dann auch bringt vil schanden, also fleisch fressen uff verbottene zeit, doch ob die schrifft yn das zugeit, ist mir auch nit wolbekant. Des gib mir auch ein guten verstant. Altvatter Sun, hör mich auff deine frag, darauff ein antwort mich zu geben wag, die du hie begerst zu wissen, unnd bist gantz darzu geflissen, ob fleisch essen in verbottener zeit sey ein schand in allen landen weit. Es ist vil schand darauß entsprungen. We dem, der darnach hat gerungen. Die schand steckt nit in der spyß, sunder in des nechsten ergerniß, welchs Christus und Paulus thun verbieten, unnd sagen, sich darvor zu hüten. Paulus zu den Corin[thern] mit scharpffen worten, darzu an vil anderen orten. Da lise in mit rechtem verstand, so wirt dir uffgethon das band, darmit du des gebunden bist unnd lebst hie wie ein böser christ darzu auch als ein böser sun, der sein[e]r muter nit ist unde[r]thon, so sie im verbeut unbillicheit, das er dadurch nit kum in leit. Dein müter, die kirch, hat verbotten fleisch, zu vermeiden, das dich der todt nit heisch. Das achtstu nun alles gar nicht. Du sagst, es sey ein menschen gdicht. Ist nit Paulus ein mensch gewesen als die andern, die du hast gelesen, die dir erlauben, fleisch zu essen, als du thust dich hie vermessen? Glaubstu in meer dann der muter dein, so magstu wol ein bastart sein.845

845 Felbaum, Nützliche Rede (wie Anm. 641), S. 824 f.



4.1 Sakramente und Liturgie 

 233

Felbaum konstruiert hier einen komplexen Unterschied, der sich aus der Haltung zum Fastengebot ergibt. Auf die Frage des Wurstbubs, ob die Aufgabe des Fastens nicht doch biblisch begründbar ist, widerspricht ihm der Altvater. Das Problem liege nicht in den Speisen an sich, sondern daran, dass die Nächsten am Essverhalten Anstoß nehmen könnten. Er bezieht sich damit auf eine strittige Interpretation der Aussagen des Apostels Paulus im ersten Korintherbrief. Darin geht es um Streitigkeiten in der frühchristlichen Missionsgemeinde, ob Christen das Fleisch von Tieren essen dürfen, die in heidnischen Kulten geopfert wurden. Paulus gibt dafür eine flexible Lösung vor. Generell dürfe alles, was es auf dem Fleischmarkt gibt, gegessen werden. Wenn ein Christ von einem Heiden eingeladen werde, solle er ohne zu fragen essen. Mache ihn allerdings jemand darauf aufmerksam, dass es sich um Opferfleisch handle, solle der Christ nicht essen aus Rücksicht auf das Gewissen dessen, der gewarnt hat (1 Kor 10, 14–33). Wer das aber als Lizenz zur Abschaffung der Speisegebote sieht, werde zu einem bösen Sohn der Mutter Kirche, schreibt Felbaum. Diese habe nämlich, um des Besten für ihre Kinder willen, das Fleischverbot in der Fastenzeit erlassen. Und auch Paulus verbiete das Fleischessen, wenn daraus Zwietracht erwachsen könne. Die Kirche wolle die Gläubigen vor dem Sündentod bewahren. Die Lutherischen achteten auf all dies nicht mehr und glaubten der Mutter Kirche nicht. Deshalb werden sie ausgestoßen und zu illegitimen und falschen Bastarden erklärt. Die Fastenfrage ist also nicht mehr nur Teil eines guten, enthaltsamen und christlichen Lebens, sondern wird zudem zu einem Merkmal für die wahren oder falschen Kinder der Kirche. An einem Schweizer Beispiel lässt sich zeigen, dass die Debatte um das Fastengebot auch exemplarisch für die Frage nach einer ganzen Reihe von anderen kirchlichen Geboten steht, die in der Reformationszeit den Unterschied zwischen den Religionsgemeinschaften ausmachen können. Dies verdeutlicht die Reaktion des Johannes Cochlaeus auf die Berner Reformation von 1528. Einer der vielen Punkte, die Cochlaeus, der seit kurzem in Diensten Herzog Georgs von Sachsen steht, aufgreift, ist die Abschaffung der Fastengebote als menschliche Erfindung. Er fragt die Berner Ratsherren, wer ihnen die Macht zur Veränderung der religiösen Verordnungen gegeben habe. Erheben sie sich damit nicht über Kaiser und Obrigkeit? Die Berner Argumentation, dass nur bürgerliche, aber keine kirchlichen Ge- und Verbote zu halten seien, erscheint Cochlaeus abwegig. Denn die Letzteren kommen vom Heiligen Geist und von Christus, über die sich die Berner mit ihrer Annullierung der kirchlichen Gesetze erheben. Damit errichteten sie eine Tyrannei und könnten als Antichristen gelten.846 Darüber hinaus ist das Fasten integriert in einen allgemeineren Diskurs über moralische und sittliche Verhaltensweisen, die durch die Reformation direkt oder indirekt unterminiert würden. Diese Diskussion wird in einer Flugschrift von Simon

846 Cochlaeus, Johannes: An die Herren Schultheiß und Rat zu Bern wider ihre vermeinte Reformation. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 717–743, hier S. 732.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Blick aufgegriffen, die sich mit den gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Folgen der lutherischen Bewegung befasst und diese in einem Sittengemälde des gesellschaftlichen Niedergangs zusammenfasst.847 Blick hat ein Gedicht an das Ende des Pamphlets gestellt, in dem er die christliche mit der lutherischen Lehre vergleicht. Darin heißt es über das Fasten: Christus hat gelt und die welt gehast Luther hat die leut mit gelt und der welt bewegkt und angetast Christus heist sein scheflein gelt und welt fliehen Luther heist alle geistliche in die welt zihen Christus lernt bethen, fasten und messigkeit Luther lernt schelten, in der fasten und freitags fressigkeit Christus lernt und ist seins hertzen demutig Luther muß sein ein wenig hoffertig.848

Für den aus dem mitteldeutschen Kontext stammenden Blick ist das lutherische Fastenbrechen ein Ausdruck allgemeiner Verweltlichung im Zuge der Reformation. Diese stehe mit ihrer Lehre und deren kulturellen Folgen der Lehre Christi entgegen. Fasten in der Vorosterzeit und an Freitagen symbolisiere hingegen die Anhänglichkeit der Gläubigen an die von Christus vorgegebenen Grundsätze eines guten, sündenfreien Lebens. Christus wird als enthaltsam und fromm, ja nachgerade mit monastischen Attributen beschrieben  – Luther hingegen sei fleischlich, unmäßig und undiszipliniert. Auch in oberdeutschen Kontexten wird die Fastenfrage allgemeiner in die Unterscheidung zwischen einem guten Leben in der Nachfolge Christi einerseits und dem unchristlichen und sündigen Leben der Evangelischen andererseits eingeordnet. Eine Schrift von Johann Fabri gegen Ulrich Zwingli im Jahr 1526 verdeutlicht dies. Fabri, der mit der entstehenden evangelischen Kultur spätestens seit 1523 durch seine Teilnahme an der Zürcher Disputation bestens vertraut ist, wirft Zwingli vor, dieser habe unter dem Schein des Evangeliums begonnen, die christliche Einigkeit zu zerstören und eine eigene Kirche zu errichten. Zwinglis Auslegung stehe gegen jene der alten Lehrer und diene der Freiheit des Fleisches und der Zerstörung des Bewährten. Man solle die Heilige Schrift erforschen, doch daraus keine falschen Schlüsse ziehen, um nicht zu Fleischpredigern und Ohrenschmeichlern zu werden. Schon seit der Missionarszeit der Apostel sei die Auslegung des Evangeliums umkämpft und Fehlinterpretationen häufig gewesen. Das sei auch jetzt wieder so,

847 Als tatsächlicher Autor galt schon den Zeitgenossen nicht der Pegauer Benendiktinerabt Simon, sondern dessen Bruder Wolfgang Blick, Stadtsyndikus in Erfurt. Vgl. den Kommentar der Hrsg. bei Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 681 f. 848 Blick, Verderben und Schaden (wie Anm. 400), S. 680 f.



4.1 Sakramente und Liturgie 

 235

als wir an diser newen leer sehent, das ein grosse gnad geacht würdet, wann man zu verbotnen zeitten fleisch isset und keinen abbruch haltet, sonder stetz sitzet über die fleischhäfen in Egypten und tantzet umb das guldin kalb, thund gleich wie zu der zeit Noe, da sie bey vor dem sindtfluß assendt, tranckent, mannetent unnd weibtent, biß auch Noe in die arch gieng. Die sollichs fürdrent, warlich sind auch die falschen propheten oder außleger der geschrifft, die von Christo von seinen heiligen botten weißgesagt sind, daz deren vil auffersteen und kommen werdent. Darauß volget, daz Zwinglins leer, dieweil sie auff den fleischlichen sandboden gebawt, keinen bestand haben mag.849

Erneut wird die Fastenzeit im Zusammenhang mit einer sittlichen Lebensführung aufgeführt, deren Zerstörung Zwingli durch seine fleischliche Auslegung der Heiligen Schrift befördere. Typisch für den eidgenössischen Kontext ist die Zuspitzung der Missachtung der Speisegebote auf das Essen von Fleisch an Tagen, an denen dies gemäß der alten Norm verboten ist. Der Vergleich mit dem Tanz des Volkes Israel um das goldene Kalb unterstreicht die Deutung, es handle sich um eine Abkehr von Gott (vgl. 2 Mose 32). Wie viele andere sittliche und gesellschaftliche Missstände wird auch das Fastenbrechen als ein apokalyptisches Zeichen repräsentiert. Das evangelische Volk benimmt sich laut Fabri wie die sündigen Menschen vor der biblischen Sintflut, ehe Noah die Arche bestieg. Aus dieser Perspektive erweist sich der Zürcher Reformator als der angekündigte falsche Prophet der letzten Tage.850 Die Ketzerei werde aber keinen Bestand haben, da Zwingli nicht auf den Felsen Petri, sondern auf den Sand der Fleischlichkeit baue. In Frankreich ist das Fastengebot letztlich kein Thema. Fälle des dokumentierten Fastenbrechens sind vergleichsweise selten. 1532 werden in Paris sechs Personen aus dem Umfeld des königlichen Hofs wegen der Anschuldigung festgenommen, sie hätten in der Fastenzeit Fleisch konsumiert. Unter den Gefangenen befindet sich auch Clément Marot, der als Lutherischer verdächtigt wird. Bald stellt sich jedoch heraus, dass die Vorwürfe nur als Vorwand für eine Intrige dienten, weshalb zumindest Marot schnell wieder auf freien Fuß kommt.851 Eine Ausnahme dieses im Vergleich mit dem Alten Reich auffällig geringen Distinktionspotentials des Fastens stellt wiederum der altgläubige Anonymus dar, der 1532 die Apologie gegen Halewijn schreibt. Auch er widmet der Frage nach den Speiseordnungen nur wenige Seiten im Anschluss an die Besprechung der Beichte. Der Erasmianer Halewijn hielt die Fastenpflichten für im Evangelium nicht belegt sowie für eine menschliche Erfindung. Der Altgläubige widerspricht dieser Ansicht und verweist auf alttestamentarische Speisegebote und auf einige Worte Christi, welche die Einsetzung der „ieusnes“ durch Jesus selbst

849 Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 271. 850 Zu dieser gängigen Repräsentation der protestantischen Führung vgl. Kap. I. 3.1.2. 851 Vgl. Wursten, Reassessment (wie Anm. 313).

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

beweisen. Die konkreten Regeln hingegen gehen auf bewährte menschliche Ordnungen seit dem Frühchristentum zurück, schreibt der Altgläubige.852 Mit der Taufe gerät ein weiteres Sakrament des spätmittelalterlichen Christentums in den Strudel der religiösen Kontroversen der frühen Reformationszeit. Doch besonders hier sind die Fronten komplex und die Distinktionen äußerst nuanciert. Denn mit den Täufern tritt ab Mitte der 1520er-Jahre eine Gruppe der Reformation auf, die sowohl die Altgläubigen als auch Lutherische und Zwinglianer vor bisher ungekannte Herausforderungen stellt.

4.1.3 Taufe und Wiedertaufe: die Verantwortung Luthers und Zwinglis Martin Luther, der die Taufe und die Eucharistie seit etwa 1523 als einzige Sakramente aus der Heiligen Schrift beibehält, nimmt am konkreten Taufritual nur eingeschränkte Veränderungen vor. Übliche sakramentale Handlungen wie das Auftragen von Spucke, geweihtem Salz und Chrisam erklärt er für weitgehend überflüssig. Er reduziert auch die im Spätmittelalter äußerst wichtigen exorzistischen Elemente des Ritus. Durch diese sollten die Neugeborenen vor dem Teufel und bösen Geistern geschützt werden. Die frühen Reformatoren, zumal in lutherischen Gebieten, schaffen den Exorzismus meist jedoch nicht gänzlich ab. Bis weit ins 17. Jahrhundert wird er selbst in calvinistischen Gebieten von den Gläubigen als Schutzritus gefordert. Für Luther ist die Kindertaufe ein heilsnotwendiges Reinigungsritual. Während die Taufe nach den Vorstellungen der alten Kirche möglichst rasch nach der Geburt durchzuführen ist, um das Seelenheil des Kindes in Anbetracht der hohen Säuglingssterblichkeit zu gewährleisten, plädieren viele Reformatoren in diesem Punkt für ein wenig mehr zeitliche Flexibilität, ohne jedoch von der Forderung einer zeitigen Taufe abzurücken. Noch vor den Bauernkriegen ist in Oberdeutschland die Revision des Rituals deutlicher ausgeprägt, etwa bei Martin Bucer in Straßburg, der die Taufe zu einer öffentlichen Handlung macht, bei der alte Bestandteile wie die Exorzismen und das Kreuzzeichen gestrichen werden.853 Insbesondere zu den Lutherischen sind die Differenzen der Altgläubigen in der Praxis also eher graduell und taugen an sich wenig als kontroverses Flaggschiff im Glaubensstreit.854 Das ändert sich ein Stück weit, je häufiger die Texte aus dem Süden des Alten Reichs werden, wo die evangelischen Taufrituale stärker verändert werden und sakramentale Handlungen und Gesten konsequenter eingeschränkt werden  – doch auch die Differenz mit den Zwinglischen ist vergleichsweise überschaubar. Denn

852 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), S. C5v–C6r. 853 Vgl. Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 43–71; Halvorson, Michael J.: Baptismal Ritual and the Early Reformation in Braunschweig. In: ARG 102 (2011). S. 59–86. 854 Vgl. zu den konkreten Konflikten Kap. II. 3.1.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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es ist der Konflikt um die Täufer, der im Alten Reich bezüglich der Taufe dominiert und zu einhelliger Ablehnung sowohl bei evangelischen als auch bei altgläubigen Obrigkeiten und Theologen führt. 1534/35 sollte sich dies bei der gemeinsamen Belagerung der Stadt Münster durch Bischof Franz von Waldeck, den Kölner Erzbischof Hermann von Wied und den lutherischen Landgrafen Philipp von Hessen zeigen. Zumindest in der altgläubigen Textkultur stellt sich gemeinhin weniger die Frage nach großen rituellen und theologischen Differenz zu den protestantischen Mehrheitsströmungen, sondern die Frage nach der Schuld an der „Täufersekte“. Im April 1526 lässt Johann Fabri in Tübingen seinen Sendbrief an Ulrich Zwingli drucken. Der Angriff auf den Zürcher Reformator steht im Zusammenhang mit den stockenden Vorbereitungen für ein allgemeines Religionsgespräch in der Eidgenossenschaft. Bei der geplanten Disputation will Fabri nicht nur Zwinglis Eucharistieverständnis und Kommunionspraxis widerlegen, sondern auch das du ein ursach bist des widertauffs, den deine gesellen fürgenommen habent. Darumb wie wol du gesagt, auch wider mich gehalten, das man keinen umb des glauben willen straffen solle, sonder es müg ein yeder glauben, was er wölle, so besich auff dem wasserthurn die gefengknuß, die man nennet den Wellenberg, wie du deine eydgesellen, deine brüder und brüderin in Christo mit dem widertauff habest, also mit harter marter und gefencknuß, als ob du Decius, Maxencius, Maximinus oder Valerianus werest, geplaget allein, daz sie deiner meynung werent.855

In dieser Passage aus dem Sendbrief spielt der altgläubige Fabri auf die in seiner Wahrnehmung widersprüchliche Haltung Zwinglis zu den Täufern an. Er unterstellt ihm Nähe und spricht von den Gesellen Zwinglis, Brüdern und Schwestern, die eine Folge von dessen Lehren und Handeln seien. Andererseits bekämpft Zwingli die Täufer wegen ihres Glaubens. Zur Illustration dieses Umstands zieht Fabri ein konkretes Beispiel aus Zürich heran und verweist auf die im Wasserturm, dem sogenannten Wellenberg-Gefängnis, festgehaltenen Täufer. Am 7. März 1526 waren durch einen Ratsbeschluss 18 Täufer zur Haft verurteilt worden. Für Fabri ist das ein gleich doppelter Widerspruch. Nicht nur richte sich Zwingli damit gegen seine eigenen Eidgesellen, sondern verstoße auch gegen seine zuvor gegenüber den Altgläubigen vorgebrachte Prämisse, dass der Glaube frei sein solle und niemand dazu mit Gewalt gedrängt werden dürfe. Im Gegensatz zu dieser Forderung habe Zwingli die Täufer nun in der Art der römischen Kaiser aus der Zeit der antiken Christenverfolgungen verhaften und foltern lassen. Fabri verwendet die einst gegen ihn vorgebrachte Forderung nach Glaubensfreiheit gegen den Zürcher Reformator, um dessen janusköpfiges Verhalten

855 Fabri, Sendbrief an Zwingli (wie Anm. 804), S. 242. Zum Kontext der beschriebenen Vorkommnisse vgl. den Kommentar der Hrsg. ebd. in Fußnote 44, S. 246.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

zu repräsentieren. Die Deutung, dass Zwingli der Auslöser der Wiedertaufe gewesen sei, teilen andere Autoren mit Bezug zur Eidgenossenschaft.856 Johann Fabri ist mit den Täuferbewegungen in seinem Wirken als Geistlicher und Politiker in zwei Regionen konfrontiert. Er bleibt als ehemaliger Konstanzer Generalvikar während der 1520er-Jahre in die Vorgänge der Schweizer Reformation involviert. Als Koadjutor des Bischofs von Wiener-Neustadt, später als Bischof von Wien (ab 1530) und enger Berater von König Ferdinand ist er beteiligt am Vorgehen gegen die sich in der zweiten Hälfte der 1520er-Jahre in Österreich und Mähren erfolgreich ausbreitenden Täufergemeinden.857 Nach der altgläubigen Badener Disputation von 1526, an der Zwingli nicht teilnimmt, arbeitet Fabri die schon im Sendbrief enthaltenen sechs Artikel gegen den Zürcher Reformator aus und bringt sie im Herbst 1526 in den Druck. In dem Text erklärt er außergewöhnlich detailliert seine Sicht der im April eher angeprangerten als belegten Zusammenhänge zwischen den Täufern und Zwingli: Es hatt auch sonderlichen sich zutragen ein treffenlicher span mit den kinder und widertauff, wie wol nun Zwinglin des selben ein anfenger gewesen, wie man klarlich in seinen conclusionem findet, auch seine brieff derhalb biß gen Regenspurg, als man sagt, kommen. So aber ander das zum ersten angriffen hett es in verdrossen, und ist von der selben gefallen, hatt also mit dem kindertauff von der gemeinen kirchen (darumb ich ine lob) nit weichen wöllen und hatt sich also wider die widertauff, welche er nach evangelischen bescheydenheit nennet bader und bäderin, gesetzt, sie gescholtten, verachtet, durchächt, wie dann hernach volgen wirdt. Unnd als sie nun zu disputieren kommen syend, auch wie man weißt, Doctor Balthassar von Freyberg (den Zwinglius vom filtzhut nennet) ain buch geschriben, und als er damals vermeint, er habe nichts dann daz helle gotswort herfürgebracht, hatt er dennost müssen die von Zürich zu richter leiden und dermassen, das er seine beystendt, die von des Zwinglins zucht unnd pflantzung syend, habent den Wöllenberg (ist der straffbaren gefencknuß ein) lange zeit inhaben, da selbs wie Johannes und Petrus im kercker leiden, und als der auffrichter der schönen Marien zu Regenspurg solt zum ersten widerrüffen, hat er es nit künden finden, noch dennost la[ß]t das zürichesch urteil geben, sie die widertauff sollent darvon ston, es sey ein ketzerey, ein irrung, on zweyffel, dann Zwingli ist bey seinen jungern so gwaltig wie Pythagoras, von dem wir leesent, wann seine junger disputierendt und einer sagt, ipse dixit, er verstand, Pytharogras hat es gesagt, so was es gnug, dorfft nit mer.858

Das Verhältnis Zwinglis zu den Täufern wird hier noch komplexer dargestellt als in der ersten Einlassung Fabris. Der Zürcher Reformator steht da als der Auslöser und Stichwortgeber der Erwachsenentaufe, zumal wegen der Uslegen und der darin gezo-

856 Thomas Murner prangert Zwingli als den ersten Täufer an, der dann aber von dieser „Irrlehre“ abgefallen sei. Vgl. Hier wird angezeigt (wie Anm. 586), S. 844. 857 Immenkötter, Fabri (wie Anm. 507); Tüchle, Fabri (wie Anm. 514). Vor Ort in Mähren predigte er 1528 gegen die Täufer. Vgl. Fabri, Johann: Etliche Sermone wider die gottlosen Wiedertäufer. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 671–700. 858 Fabri, Christliche Beweisung (wie Anm. 544), S. 276. Zum in der Folge diskutierten Kontext vgl. auch den Kommentar des Hrsg. in Fußnote Fußnote 44–49, S. 283.



4.1 Sakramente und Liturgie 

 239

genen Schlüsse über die Seligkeit ungetaufter Kinder. Als manche Theologen diese ersten Vorstöße angriffen, wurde Zwingli zum Beharren auf der traditionellen Kindertaufe bewogen. Dafür erhält er sogar ein Lob von Fabri, was den Aufbau eines gemeinsamen Feindbildes unterstreicht. Doch die frühen Lehren Zwinglis waren schon bis nach Regensburg gelangt, wo sie Balthasar Hubmaier, Domprediger und Förderer des Baus der rasch erfolgreichen Wallfahrtskapelle zur „Schönen Maria“, aufnahm und weiterentwickelt habe. Hubmaier wird in der Folge bekanntermaßen zur Führungsfigur der süddeutschen Täufer. Im Frühjahr 1525 hatte er in Waldshut die „Glaubenstaufe“ empfangen und weitergegeben, musste in Zürich aber widerrufen, nur um dann, wieder in Freiheit, in Mähren erneut eine Täufergemeinde zu errichten. 1527 wird er verhaftet und wenig später in Wien verbrannt.859 Hubmaier wird mit seinen Glaubensgenossen in Zürich verhaftet und eingesperrt. Bei der Auseinandersetzung mit der zwinglischen Lehre muss er widerwillig den Rat als Richter anerkennen, der letztlich das Täufertum als Irrtum und Ketzerei brandmarkt. Erneut betont Fabri die Härte der Haftstrafe im Wellenberg-Gefängnis und vergleicht diese mit der von Johannes dem Täufer. Zwingli ist in Zürich zur gewissermaßen unfehlbaren Figur geworden, die dem sonst von den Evangelischen kritisierten Wahrheitsansprüchen des Papstes keinesfalls nachsteht. Die Gleichsetzung mit dem antiken Philosophen Pythagoras spiegelt die Bedeutung Zwinglis und dessen Urteil in der Auseinandersetzung mit den Täufern wider. Diese werden weiterhin als die Folge Zwinglis beschrieben. Während die Wiedertaufe in Frankreich in den 1520er- und 1530er-Jahre letztlich keine Rolle in der altgläubigen Repräsentationskultur spielt, unterscheidet sich die Wahrnehmung der mitteldeutschen Autoren von jener ihrer süddeutschen Glaubensgenossen. Anders als in Oberdeutschland wird Luther dort weiterhin als übergroße Verkörperung des Anderen dargestellt. Als solche erhält er eine zentrale Bedeutung in der Chronologie der Täufersekte. So bei Johannes Cochlaeus, der 1529 in Diensten von Herzog Georg dem Bärtigen die Schrift Martin Luther Siebenkopf veröffentlicht. In deren dritten Teil, Sieben Köpfe Luthers von sieben Sachen, behandelt er eine Reihe wichtiger, aber nicht absolut essenzieller Differenzthemen zwischen Luther und den Altgläubigen.860 Verschiedene Lutherzitate, deren Aneinanderreihung die Lehrwidersprüche offenlegen sollen, werden anschließend von Cochlaeus kommentiert und verbessert. Kapitel sechs behandelt allgemein das Sakrament der Taufe, wobei das lutherische Ritual nicht konkret wiedergegeben wird. Vielmehr ist es das Priestertum aller Gläubigen und Getauften, das Cochlaeus ins Visier nimmt und zum Auslöser

859 Moeller, Bernd: Hubmaier, Balthasar. In: NDB 9 (1972). S. 703. 860 Diskutiert werden die Priesterehe, das Gehorsamkeitsgebot, das kaiserliche Recht, die sieben Sakramente und die Sakramentalien, sowie Taufe und Kindertaufe. Das Altarsakrament wird hingegen in einer eigenen Flugschrift behandelt, was die Brisanz der verschiedenen Themen verdeutlicht.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

von Unruhen und Bauernkriegen erklärt.861 Konkreter wird er in Kapitel sieben, das von der Kindertaufe handelt. Doch auch hier sind die Fronten verschoben. Cochlaeus kommentiert in einer längeren Passage Luthers Äußerungen zur Kindertaufe und zu den Täufern: Wiewol der münch yetzund hefftig widder die newen se[ct] der widdertauffer schreyt und schreibt, ßo kan doch ein yeglich vorstendig mensch aus dißem capittel wol mercken und erkennen, das er auch zu dißer tewfflischen sect den ersten steyn gelegt und die ersten wege, weyß und ursach gegeben hat, wie er denn selbs bekent, Doctor Balthassar Hiebmair hab yhn auch mit namen eingefüret in seinem lesterlichen büchlein von der widertauffe, als sey er seines synnes. Nu ist derselbig Balthassar zu Wien verbrennt worden, das sich Luther vor yhm nicht weyther besorgen darff, was er dorauff antworte adder antzeige.862

Es folgt eine Auseinandersetzung mit Luthers Behauptung, dass in Kursachsen vom „geschmeiß“ der täuferischen Prediger nichts zu sehen wäre, sondern nur in papistischen Gegenden. Beides weist Cochlaeus zurück. Nirgendwo seien mehr Täufer als in den Orten, wo die Menschen lutherisch und neuevangelisch sind. Der Grund dafür sei, dass Luther alles auf den Glauben und das Wort Gottes gesetzt habe und nicht auf die korrekte Taufe und andere Sakramente.863 Luther wird in einen kausalen und zugleich widersprüchlichen Bezug zu den Täufergruppen gesetzt. Zum einen sei er durch seine Theologie, die Predigten und Reformen eindeutig deren Auslöser. Diese Verbindung zeige sich in der geographischen Präsenz der Täufer in reformierten Gebieten sowie in der Luther-Rezeption Hubmaiers. Der habe den Wittenberger als Kronzeugen für seine Theologie herangezogen. Dagegen wehre sich Luther zwar durch harsche Worte und totale Distanzierung gegenüber den Täufern, aber für Cochlaeus ist, wie für Zwingli, der Bezug eindeutig. Luther habe nun Glück, dass Hubmaier nach seiner Festnahme in Wien verbrannt wurde und ihn somit nicht weiter in Schwierigkeiten bringen kann. Ähnlich sieht 1533 der Altzeller Abt Paul Bachmann die Entstehung der Täufer. Er argumentiert, dass Luther für die „Auswüchse“ in anderen evangelischen Gruppen verantwortlich sei. Seine Sakramentslehre habe etwa zum Symbolismus Zwinglis geführt und Luthers Schüler Hubmaier habe dann die Taufe umgestoßen.864 Diese Ableitung findet sich in der oberdeutschen Textkultur wieder, nur gilt dort Zwingli als der Anstifter der Täufer. In beiden Fällen ist die Differenz zwischen Altgläubigen und Evangelischen weniger die Bedeutung der Taufe und deren Rituale an sich. Viel

861 Cochlaeus, Johannes: Sieben Köpfe Martin Luthers von sieben Sachen des christlichen Glaubens. In: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd. 2. Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 2000. S. 1051–1075, hier S. 1065–1068. 862 Cochlaeus, Sieben Köpfe von sieben Sachen (wie Anm. 861), S. 1069. 863 Cochlaeus, Sieben Köpfe von sieben Sachen (wie Anm. 861), S. 1069–1070. 864 Auf diese Weise seien alle sieben Sakramente zerstört worden. Bachmann, Paul: Auff Luthers verantwortung // vnd Trostbrieff an ettliche zu // Leyptzigk/ Ein kurtzer bericht/ des Erwir=//digen herrn Paulus Abts zur // Alten Czellen. Dresden: Wolfgang Stöckel 1533. VD16 B 14. Bl. B1v.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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effektiver im Kampf der Repräsentationen ist es, der Gegenseite die Schuld an der Täufersekte zuzuweisen und diese dadurch zu diskreditieren. Klarer werden die Repräsentationen der Sakramente und Sakramentalien, mit denen das Leben des idealen Altgläubigen beschlossen werden soll.

4.1.4 Der letzte Unterschied: Sterben und Tod Sterben galt im Spätmittelalter als für das Seelenheil entscheidender Vorgang, der als ars moriendi genau vorbereitet sein musst und auch immanente Aussagen und Zeichen für die Beiwohnenden bereithalten konnte. Gleich drei Sakramente waren für den guten Tot vonnöten: die Beichte, die Kommunion und die Krankensalbung. Aber auch eine große Bandbreite an sakramentalen Praktiken, Gesten, Berührungen und Gegenständen sollte die Sterbenden vor den letzten Verführungen und Angriffen der Teufel schützen. Dem Tod folgte ein ritualreiches Begräbnis mit diversen kulturellen Bedeutungen sowohl für den Verstorbenen als auch für die Angehörigen und die ganze Gemeinde. Die Interaktion mit den Toten und mitunter sogar deren irdische Präsenz waren feste Bestandteile nicht nur der Volkskultur, sondern auch der kirchlichen Lehre. Begraben auf dem Kirchhof, blieben die Toten ein Teil der Gemeinde.865 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass bereits in der lutherischen Reformation eine starke Trennung der Lebenden von den Toten forciert wird: Interaktionswege wie Ablässe, Fürbitten oder Zwischenräume wie das Fegefeuer wurden abgeschafft

865 Die Historiographie zu diesen Themen ist überaus reich und kann hier nur in den für mich wichtigsten Titeln gespiegelt werden. Vgl. Chiffoleau, Religion flamboyante (wie Anm. 818); Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht. In: HZ 295 (2012). S. 625–659. Zu den Vortellungen über den Vorgang des Sterbens und die begleitenden Rituale vgl. Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 51–76; Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 138–145; Avril, Joseph: La paroisse médiévale et la prière pour les morts. In: L’Église et la mémoire des morts dans la France médiévale. Communications présentées à la table Ronde du C.N.R.S., le 14 juin 1982. Hrsg. von Jean-Loup Lemaître. Paris 1986. S. 53–68; Polo de Beaulieu, Marie Anne: Le ‘lundi des Trépassés’. Création, diffusion et réception d’un rituel. In: Annales HSS 53 (1998). S. 191–217. Zum Begräbnis und dessen Ort vgl. u. a. Reitemeier, Arnd: Die Kirchhöfe der Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. In: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. v. Jan Brademann u. Werner Freitag. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19). S. 129–144; Daxelmüller, Christoph: Der Friedhof als Kommunikationsraum, der Tote als Familienmitglied. Historische Stratigraphien des Umgangs mit dem Tod. In: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Jan Brademann u. Werner Freitag. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19). S. 157–172; Cartron, Isabelle: Le cimetière de Saint-Seurin de Bordeaux. Mémoire et sacralisation de l’espace. In: Lieux sacrés et espace ecclésial, IXe-XVe siècle. Toulouse 2011 (Cahiers de Fanjeaux 46). S. 313–330; Lauwers, Michel: Le cimetière dans le Moyen Âge latin. Lieu sacré, saint et religieux. In: Annales HSS 54 (1999). S. 1047–1072.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

bzw. theologisch dekonstruiert. Sterben wird für die Evangelischen – zumindest der Norm nach – zu einem psychologisch leichteren Akt, da das Heil gewiss ist bzw. in den Händen der göttlichen Vorsehung liegt. Denis Crouzet spricht in diesem Zusammenhang von einem „système de désangoissement“, das die Unsicherheit des Todes beseitigen sollte. Leichenpredigten, deren Popularität im Luthertum erst nach dem Tod des Wittenberger Reformators einsetzt, verlieren von ihrem emotionalisierendaufrüttelnden Charakter, um zu religiösen und sittlichen Mahnungen an die Lebenden zu werden.866 Die unterschiedliche Totenkultur schlägt sich auch im Raum wieder, wenn in Teilen des Alten Reichs lutherische Friedhöfe vom Kirchhof vor die Tore der Städte ausgelagert werden.867 Tod und Begräbnis werden zu Merkmalen des Unterschieds. Wie repräsentieren diesen die Altgläubigen? Neben den drei zum guten Tod notwendigen Sakramenten, allen voran dem Viatikum, rückt das rituelle und materiale Brauchtum in den Mittelpunkt der Differenz und erhält im Rahmen der Kontroversen eine große Bedeutung. Hieronymus Emser geht darauf in seiner 1522 erschienen Antwort auf Karlstadts Buch ein. Mit dieser Schrift reagiert er auf Karlstadts Begründungen für das Abhängen der Bilder in den Kirchen, allen voran in Wittenberg.868 Dies zeigt auch, dass der Tod ein ganzes Bündel unterschiedlicher distinktiver Themenbereiche berührt und die Kombinationsmöglichkeiten für die Darstellung der Unterschiede groß sind. Der Dresdner Hofkaplan Emser argumentiert anhand vieler konkreter Beispiele für die Bedeutung visueller und haptischer Anreize, durch welche die Frömmigkeit der Laien befördert werden soll. Karlstadt hatte davon abgeraten, dass sich Sterbende und Todkranke an geschnitzte oder gemalte Kreuze halten, denn das sei nutzlos. Emser verdammt diese Einlassung als närrischen und ketzerischen Rat, der dem alten Brauch in der ganzen Christenheit entgegenstehe. Das Kreuz gilt ihm als äußerer, materialer Anreiz zur inneren Frömmigkeit und Erbauung. Emser zitiert Augustinus, der sich für den spirituellen Mehr-

866 Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 76–79; Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73) S. 150–189; Karant-Nunn, Reformation of Feeling (wie Anm. 354), S. 189–214; Koslofsky, Reformation of the Dead (wie Anm. 22). 867 Koslofsky, Craig M.: ‚Pest‘ – ‚Gift‘ – ‚Ketzerei‘. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536). In: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400–1600. Hrsg. von Bernhard Jussen u. Craig M. Koslofsky. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145). S. 193–208; Luebke, David M.: Churchyard and confession. Grave desecration, burial practice and the social order during the Confessional Age – The case of Warendorf. In: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne. Hrsg. von Jan Brademann u. Werner Freitag. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19). S. 193–211; Luria, Keith P.: Les frontières du sacré. In: Chrétiens et Sociétés 15 (2008). http://chretienssocietes.revues.org/562 (04.02.2013). 868 Für eine theologogische Analyse vgl. Smolinsky, Heribert: Reformation und Bildersturm. Hieronymus Emsers Schrift gegen Karlstadt über die Bilderverehrung. In: Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Hrsg. von Remigius Bäumer. Paderborn [u. a.] 1980. S. 427–440.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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wert der Betrachtung und Anbetung geschnitzter Kreuze ausgesprochen hat. Dann fährt er fort: Secht ir werden Tewtschen, wie es nit ein nawe sonder gar ein alte christenliche ubung und ordenung ist, das man den sterbenden menschen das crucifix in die hand gibt oder furhelt, damit sie des leyden Christi nit vorgessen. Dann es sint nit allwegen lewt vorhanden, die eym das ewangelium furlesen konnen, und ob man eynem schon alle vier ewangelia furleße, ßo sagen sie doch ouch alle vier aleyn vonn dem fleischlichen leyden Christi, wie Christus verraten, gefangen, furgefurt, verspot, verurteilt, an das crewtz geschlagen ist und fur uns armen sunder seyn geyst daran auffgegeben hat, was blawdert dann der arme mensch Carolstat, oder wer hat im disen rat eyngegeben anderst dann der boße geist, tzu vorhinderung der menschen selikeyt? Die sust in iren letsten noten so vil anfechtung und gedancken haben, von wegen irer kranckheyt, von wegen irer sund, von wegen der frund, von wegen der tzeytlichen guter und ander sachen, das nit ein wunder wer, das sie Gotes und aller seyner heiligen vorgessen, wo sie nit durch außwendig tzeichen unnd annder ermanungen an Got erinnert wurden.869

Hier handelt es sich um eine in der altgläubigen Repräsentationskultur wiederkehrende Darstellung der Unterstützungsmechanismen für den guten Tod und um eine typische Anklage gegen die Ritualänderungen auf evangelischer Seite. Das Kreuz helfe bei der Konzentration auf das Leiden Christi, auf Gott und die Heiligen. Es erfüllt damit dieselbe Funktion wie andere äußere, d. h. materiale Zeichen und Ermahnungen oder das Vorlesen des Evangeliums. Emser glaubt, dass es den Sterbenden in ihrem unruhigen und sorgenvollen Zustand und in Anbetracht des gefährlichen Vorgangs leichter fällt, zur Andacht ein Holzkreuz oder ein Bild zu verwenden. Der unerwartete oder unvorbereitete Tod ohne geistlichen Beistand und Sakramente ist im Spätmittelalter eine Schreckensvorstellung. In einem solchen Moment scheint das Holzkreuz als Hilfestellung am effizientesten zu sein. Der sakrale Gegenstand unterstützt den Sterbenden darin, auf der guten Bahn des Seelenheils zu bleiben, sich auf die ars moriendi zu konzentrieren und den Ablenkungsversuchen des Teufels zu widerstehen. Die materialen Hilfsmittel abzuschaffen kann deshalb nur eine Eingebung des Teufels im Kampf um die Seelen sein. Die altgläubigen Repräsentationen des guten Todes während der Reformationszeit entsprechen vielfach den Traditionen des Spätmittelalters, setzen aber je nach Autor und Region unterschiedliche Schwerpunkte. Auch hier zeigt sich eine v. a. regional begründete Binnendifferenzierung der altgläubigen Distinktionsmerkmale. Bestimmte Elemente der alten Kulturformen werden, da sie unter evangelischem Angriff stehen, besonders herausgehoben, in ihrer Bedeutung und mitunter in der Ausübungsnorm weiterentwickelt. Diese Entwicklung während der 1530er-Jahre soll anhand der Texte zweier Autoren beispielhaft skizziert werden: Matthias Kretz, Domprediger in Augsburg, und Georg Witzel.

869 Emser, Antwort auf Karlstadts Buch (wie Anm. 768), S. 317 f.

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Matthias Kretz veröffentlicht 1529 zwei Predigten in einer Flugschrift. Die erste Predigt, gehalten in der zurückliegenden Fastenzeit, behandelt die Frage, was der Mensch für ein seliges Ende tun müsse. Der Text richtet sich an den einzelnen Gläubigen und schlägt ihm 27 Maßnahmen vor, die im Hinblick auf das irdische Ende zu beachten seien. Die ersten elf Artikel beziehen sich auf die Notwendigkeit eines frommen, bußhaften und zurückhaltenden Lebens, für das Kretz besonders den Eintritt in den Klosterstand empfiehlt. Gleich zu Beginn führt er einige Vorkehrungen an, die zu Lebzeiten durchgeführt werden könnten, nämlich die regelmäßige Beichte und die jährliche Kommunion des wahren Leibs Christi in der Hostie, zudem die Anfertigung eines Testamens, Gebete und die Erforschung des Gewissens sowie die Auswahl eines treuen Freundes, der einen im Sterben begleitet. Die Punkte 16 bis 27 sind auf die Praktiken des guten, altgläubigen Sterbens fokussiert. Schon bei Beginn einer Krankheit („als bald dich der gebrest anstoßt“) müssen ohne Verzögerung die drei von der Kirche vorgeschriebenen Sakramente empfangen werden, d. h. die Beichte, die Kommunion und die letzte Ölung. Erst danach dürfe der Kranke von einem Arzt Medizin erhalten. Weiterhin soll der Kranke Sündenablass erlangen. Innerlich soll er auf dem Sterbebett alle weltlichen Sorgen fallen lassen und Grübeleien unterdrücken, denn die seien ein Angriff des Teufels. Weiterhin müsse man an seinen eigenen Sünden verzweifeln und sich ganz Gottes Gnade anvertrauen. Dann kommen die letzten Augenblicke des Lebens, dessen Ende der Mensch willig annehmen soll. In diesen Stunden ist für Kretz der Glaube am wichtigsten, denn diesen ficht der Teufel auf der Jagd nach der Seele an. Der Glaube müsse innerlich im Herzen bedacht, mündlich ausgesprochen und durch äußere Zeichen wie eine brennende Kerze bekundet werden. Eine wichtige Rolle kommt kurz vor der Agonie den Umstehenden zu, denn diese müssen gemeinsam mit dem Sterbenden beten. Der Grund dafür ist evident und zeigt die Vorstellung altgläubiger Zeitgenossen vom Theater des Todes: Die „bösen feynd“ kommen mit großem Ungestüm, bedrängen den Sterbenden und wollen ihn zu sich ziehen. Dies wiederum würde die ewige Verdammnis bedeuten.870 Neben dem Glauben, den Sakramenten und dem betenden Zuspruch der Nächsten legt Kretz großen Wert auf weitere, von den Reformatoren reduzierte oder ganz abgeschaffte Elemente der ars moriendi: Bey den sterbenden sollen in kain weg veracht werden dye sacramentalia oder gebreuch der kirchen. Die kirch hat siben sacrament, aber vil mer sacramentalia, als bildtnussen des leydens Christi, zaychnung des kreütz, geweycht wasser, saltz, kertzen etc. Fast heylig und gelert Christen haben solchs gebraucht unnd nit veracht, ire nutzbarkayt mag auch anzaygt werden auß schrifften unnd alten hystorien. Ich laß von kürtz wegen fallen. Was aber unnutzer, eytler und aberglaubischer breuch seind, deren ganng müssig  – ich red von den alten lang herkomnen sacramentalien der kirchen.871

870 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. A2r–B4v. 871 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. B4v.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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Die aufgezählten Praktiken sollen also beim Prozess der Sterbebegleitung keineswegs verachtet werden. Deren Betonung und die eindringliche Ermahnung zeigen, dass sich Kretz in Augsburg aktiv von den Zwinglischen, die die genannten Praktiken und die dahinter stehenden Sterbe- und Jenseitsvorstellungen ablehnen, differenzieren muss. Die Rituale, die der altgläubige Prediger aufzählt, stammen aus dem Bereich der Sakramentalien. Darunter sind Objekte und Handlungen zu verstehen, die am Rande der offiziellen Liturgien und der Sakramente stehen und mit diesen verbunden sind, besonders wenn Priester sie ausführen. Sakramentalien reichen aber auch in den magischen Bereich der Volkskultur hinein. Sakramente unterscheiden sich von den Sakramentalien in Natur und Wirkung: Sie funktionieren ex opere operato und sind in ihrer Anwendung auf den Priester beschränkt. Dies ist bei Sakramentalien anders: Sie sind in ihrer Funktion, Praxis und Sinnzuschreibung vielfältiger und finden häufiger außerhalb sakraler Orte statt. Geweihtes Wasser, Salz und andere sakralisierte Artefakte spielen dabei eine große Rolle. Vielfach werden ihnen Schutzund Heilfunktionen zugeschrieben. Obwohl die Amtskirche Wert darauf legt, dass Sakramentalien nicht aus sich selbst heraus wirken, nähern sie sich in der Volkskultur genau diesem Sinngehalt an. Robert Scribner unterteilt diese Ritualwelt des Spätmittelalters in drei Kategorien, die in der religiösen Realität freilich verschwimmen und verbundenen sind: in Sakramente, Sakramentalien und para-liturgische Rituale mit Sakramentalien und magisch-volkstümlicher Verwendungen.872 Entsprechend diesem Schema sanktioniert Kretz auch den zweiten Bereich der Sakramentalien, während er den dritten Bereich der „abergläubischen“ Schutz- und Heilrituale ausschließt. Die Evangelischen schränken den zweiten Bereich stark ein. Dann kommt in den Beschreibungen von Kretz der letzte Augenblick. Wenn der Teufel dann auf dem Totenbett über Glaubensartikel disputieren will, soll der Gläubige schweigen oder nur knapp antworten. Wer aber unter diesem Druck fürchtet schwach zu werden, solle früh bei einem Notar oder einem frommen Zeugen deutlich machen, dass man im Glauben der gemeinen christlichen Kirche – und nicht etwa in der Irrlehre der Zwinglischen – sterben wolle. Das solle man auch ins Testament schreiben lassen. Wenn man sich dann kurz vor dem Tod doch noch anders äußere, sei das null und nichtig. So solle der Gläubige dann duldsam und ruhig wie Christus sterben.873 Hier wird die jüngst von Hillard von Thiessen herausgestellte normative Bedeutung der letzten Zeichen und Äußerungen von Sterbenden sowohl als Andeutung auf deren weiteres Schicksal als auch als Sinngebung und Handlungsanleitung für die Hinterbliebenen ersichtlich.874 Die plötzliche Konversion auf dem Sterbebett taucht in der Quelle erstmals als neuartiges Phänomen auf, dem Kretz versucht, mit bürokratischen Maßnahmen beizukommen. Denn eine Fehlentscheidung auf dem Sterbebett

872 Scribner, Ritual (wie Anm. 23). 873 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. B4v–C2v. 874 Thiessen, Sterbebett (wie Anm. 865).

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

ist nicht mehr zu korrigieren und hätte katastrophale Auswirkungen auf das Seelenheil, aber auch auf das öffentliche Ansehen des Verstobenen und dessen Familie. Die Äußerungen von Kretz könnten also auch einen pragmatischen Hintergrund haben. Sie könnten als Vorbeugung gegen immanente Folgen einer Konversion in extremis gedeutet werden. Der Umgang mit derartigen letzten Willensäußerungen und Konversionen von Sterbenden ist für die Zeitgenossen noch unklar. Juristische Verfahrensweisen und garantierte Rechte etwa in Fragen der Beerdigungszeremonien und -orte oder erbrechtlicher Konsequenzen gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Deshalb kommt jenen, die den Sterbeprozess begleiten, eine noch größere Bedeutung zu. Ihnen widmet Kretz den zweiten Teil seiner Flugschrift, eine Predigt aus der Fastenzeit 1525 mit dem Titel Christliche Unterrichtung, wie man sich bei einem Sterbenden halten soll. Die Gläubigen sollen ihre sterbenden Freunde demnach durch Zureden und rituell unterstützen. Erstens schlägt Kretz eine Reihe von Tröstungen und Ermahnungen vor. Darauf folgen elf Fragen, die der Freund stellt und der Sterbende immer mit ja beantworten oder durch Zeichen bestätigen soll. Dann gilt er als gerettet. Die ersten drei Fragen zielen eindeutig auf die Überprüfung der religionsgemeinschaftlichen Zugehörigkeit ab.875 Die Fragen lauten folgendermaßen: 1. Glaubst du all artickel des christlichen glaubens unnd der gantzen heiligen schrifft, nach auslegung der christlichen kirchen und doctorn von der selben angenommen? Er antwurt: Ja. 2. Hassest du auch all ketzereyen, irrsal und aberglauben, von der christlichen kirchen verworffen? Er antwurt: Ja. 3. Wilt du also sterben in ainem waren, vesten, christenlichen glauben und in der ainigkayt und gehorsame der heyligen mutter der christenlichen kirchen, als ein guter christ unnd gehorsamer son der selben mutter? Frewest du dich auch, das du also sterben solt? Er antwurt: Ja.876

Was hier abgefragt wird, ist nicht nur der Glaube eines Totgeweihten, sondern der rechte Glaube in Zeiten der Häresie in Augsburg. Mit dem letzten Atemzug werden klare Positionierungen gefordert. Die Todesstunde wird zum besonderen Wahrheitsmoment, in dem der Sterbende seine Orthodoxie bekennen soll. Daher rührt auch die besondere Tiefe der Erforschung der inneren Meinungen und die Nachfrage, ob der Kranke sich denn wirklich freue, in der Einigkeit und im Glauben der Kirche zu sterben. In Mitteldeutschland macht sich der altgläubige Reformer Georg Witzel in seiner ausführlichen Flugschrift Von den Toten und ihrem Begräbnis von 1536 Gedanken zur selben Problematik. Viele Punkte seiner Repräsentationen des Eigenen und der Differenzen zum Anderen gleichen den Darstellungen von Kretz, doch zeigt sich auch

875 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. C2v–C4r. 876 Kretz, Drei Ding (wie Anm. 825), Bl. C3r–v.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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manche Akzentverschiebung bei der Bruchlinie mit den lutherischen Protestanten. Im ersten Teil der Flugschrift geht es um die Akzeptanz der Endlichkeit des Lebens und die verschiedenen Schritte hin zu einem guten Tod. Vor allem in der Trennung von Familie, Freunden und zeitlichen Gütern liege ein großes Problem, glaubt Witzel. Er hat Verständnis für die Todesangst: „On alle affect zu sein auff dem todt bette, ist ein seltzame ubernatürliche gabe Gottes.“ In dieser Situation des Abschiedsschmerzes und der Angst vor dem Kommenden  – nach altgläubiger Vorstellung hält Gott sofort nach dem Tod Gericht – braucht es Tröstung und Rat. Dafür gebe es die Sakramente der alten Kirche. Sie seien ein gutes, heilbringendes Mittel, anders als die Evangelischen meinen. Der Sterbende müsse glauben und dabei die Sakramente der Beichte, der Kommunion und der letzten Ölung empfangen, wobei Witzel bei letzterer einschränkend hinzufügt, dass man sie zumindest nicht so sehr verachten solle. Besonders beim Reichen der Kommunion müsse der Priester Vorsicht walten lassen, um Missbräuche zu verhindern.877 Auch die Art, wie das Viatikum transportiert und gereicht wird, sowie die sakramentalen Praktiken rücken ins Zentrum der Unterschiede und werden in ihrer Funktion für den Tod gestärkt. Witzel schreibt dazu: Wie wol itzt durch ursach der newen predigt nichts verachtlicher ist, denn das heilig sacrament mit öffentlicher, gebürlicher procession zun krancken tragen. Dargegen ists wol gethan und gefelt der welt, das sie es im ermel odder unterm rock hinbringen, deshalb sie von dem taschenhergot hören müssen. Wolt Gott es gieng recht zu. Auch kan es on abbruch des glaubens sein, das man bey dem sterbenden ein brennendt kertz und ein crucifix bildlein hat, zur anreitzung gottseliger dinge.878

Der Versehgang, mit dem der Priester, oft begleitet von Angehörigen, Bruderschaften oder Klageweibern, die Hostie zum Haus des Sterbenden bringen, wird zur distinktiven Handlung. Während dieser Darstellung zufolge die Lutherischen spotten oder den Ritus verachten, ist er für die Altgläubigen Teil der traditionellen, gebührenden Sterbebegleitung  – in einer Zeit, in der der Tod ein Gemeinschaftsereignis ist. Der Versehgang macht die Differenzen sichtbar. Die Lutherischen verachten zwar das Ritual, bringen aber das Sakrament trotzdem weiterhin zu den Kranken – jedoch in Witzels Repräsentation nur verschämt, im Ärmel oder unter dem Rock. Die Altgläubigen machen sich wiederum über diese lutherische Art der Sterbebegleitung lustig und sprechen vom „Taschenherrgott“. Vorsichtiger als Kretz formuliert der Reformer Witzel mit Blick auf die Sakramentalien und heiligen Gegenständen. Sie erscheinen im Zitat als weniger zentral, verglichen mit Kretz, aber sie schaden auch nicht. Im Gegenteil, denn dank ihnen könne der Gläubige friedlich entschlafen. Bleibt die Frage, wie genau der Sterbende getröstet werden soll – denn für Witzel reichen Objekte und Sakramentalien alleine nicht aus. Deshalb geht er stark auf die

877 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. A3r–D4v. 878 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D4v-D5r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

affektive Ebene ein. Es sei unklar, was die alten Theologen als Tröstung vorgeschlagen haben. Anders die „neue Sekte“: Sie wolle die Sterbenden nur mit der Vergebung der Sünden und der Aussicht auf das ewige Leben trösten. Vor allem beschränkten sich die Protestanten eben nur auf das Trösten, die übrigen Elemente der traditionellen ars moriendi lehnten sie ab. Dazu äußerst sich Witzel nuanciert, denn auch er wolle seinen Nächsten stützen und ermutigen. Doch steht diese Art der emotionalen Sterbebegleitung irgendwo festgeschrieben? Wie können die neuen Prediger allen öffentlichen Sündern den direkten Aufstieg in den Himmel und das Bestehen im Jüngsten Gericht zusagen? Für Witzel bleibt die Frage der Heilsungewissheit für die Menschen ungelöst. Er kann und will den Sterbenden keine feste Zusage für das Himmelreich geben, nur um sie zu trösten. Schlimmstenfalls müsse er sie dann nämlich belügen. Die Irrlehre, dass Gott gute Werke nicht belohne sowie der angebliche Umstand, dass die Lutherischen das Jüngste Gericht vergessen, haben laut Witzel auf die lebenslange Todesvorbereitung und auf den Sterbeprozess bedenkliche Auswirkungen.879 Diese karikiert er wie folgt: „Ha, gedencket mancher, sind wir so bald unnd gewislich im himel, wenn wir absterben, so las einen hundt sorgen. Da verlassen sich auf alle schinder, reuber, wucherer, finantzer, ebrecher, seuffer, stoltzirer, flucher, mörder etc.: Was kans thun. Wenn ich sterbe, so kömpt der prediger zu mir und macht mich selig, spricht: Gleube allein. So gleube ich alles, was ehr wil etc.“880 Die Sorge um das Seelenheil werden die Leute im Luthertum zuletzt den Hunden überlassen, ironisiert Witzel. In die Annahme, dass allein der Glaube selig mache, könnten sich auch die widerwärtigsten Sünder jener Zeit flüchten. Sola fides wird hier als beliebiger Freischein in den Himmel repräsentiert. Gegen diese Praxis stellt Georg Witzel seine eigene Sicht einer guten Tröstung: Es ist zweierley, trösten und heücheln. Ist der sterbendt from gewesen unnd hat anfechtung vom teüffel, so tröst nicht allein, sondern sterck ihn auch mit dem wort Gottes gegen alle pfeil des bösen. Hat ehr etwa einen scrupel im gewissen, so bericht ihn auffs gütigst und gelindest. Ist ehr aber seine tage weis nicht was gewesen, Gott unnd seine gepot mit den thaten verleücknet und were er nicht todtkranck, er thet noch wie vor etc.? Was ist denn hie tröstes nott? Was heilestu an solchem, der nie wundt worden ist? Verwunde ihn erst, und darnach verbinde ihn.881

Witzel schlägt also verschiedene Begleitungsformen vor, ja nachdem, ob die Sterbenden sündig oder fromm gelebt haben. Die Frommen sollen bekräftigt und erbaut werden. Die uneinsichtigen Sünder hingegen sollten zuerst verletzt werden, d. h. in ihnen müssen Reue und Bußfertigkeit geweckt werden. Dem trügerischen evangelischen Freibrief stellt Witzel also eine differenzierte und stark an den Werken sowie

879 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D5r–D7v. 880 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D7v. 881 Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D8r.



4.1 Sakramente und Liturgie 

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dem Sündenregister der Einzelnen orientierte emotionale Sterbebegleitung entgegen. Buße wird, mit dem Glauben, zum zentralen Moment der ars moriendi.882 Auch in Frankreich stellt sich die Frage nach den Ritualen und der guten Vorbereitung auf den Tod. Dass der Empfang der Hostie, die nicht nach christlichem Gebrauch konsekriert wurde, zum Heil nichts beiträgt, sondern im Gegenteil eher schadet, versteht sich für die altgläubigen Autoren von selbst. Auch in Frankreich geht es, wenn die Kontroversisten explizit auf das Sterben zu sprechen kommen, eher um die begleitenden Rituale und Sakramentalien. Zwei Altgläubige mögen dafür als Beispiel dienen: der anonyme Verfasser der anti-erasmischen Schrift Apologie pour la foi und Pierre Doré mit seinem Dialogue instructoire des chrétiens von 1538, einer Antwort auf den Berner Katechismus von Kaspar Megander. Zwei Stoßrichtungen, zwei Konfliktlagen und das Verhalten zu zwei unterschiedlichen Gegnern können anhand dieser beiden altgläubigen Schriften verglichen werden. Der Anonymus beschäftigt sich mit dem Vorgang des Sterbens und der guten, altgläubigen Praxis dabei v. a. auf Basis der Sakramente. Der Grund dafür liegt weniger bei ihm, sondern bei Georges de Halewijn, dem zufolge die letzte Ölung nicht durch Jesus in der Schrift angeordnet worden sei. Dem widerspricht der Anonymus selbstverständlich und belegt den Sakramentscharakter der genannten Praktiken mit allerlei Bibelstellen. Anders als Halewijn behauptet, ist demnach die letzte Ölung also viel mehr als eine schlichte Aufmunterung. Sie diene nicht dazu, dass sich der Klerus die Taschen durch Zahlungen für die Sakramente vollstopfe. Ein kleiner Obolus hingegen sei gerechtfertigt, denn Fürsten oder Soldaten werden schließlich auch durch das Volk für ihre Funktionen und Dienste finanziert.883 Umso mehr müsse dies für Priester gelten, „en tant qu’ilz ont la charge des ames & administration des sacremens & choses spirituelles. Et selon leur qualité & la grace que Dieu leur a donnée et distribuée, par bonnes meurs & sciences deffendent le peuple chrestien contre les ennemys de tenebres, faulx apostres, meschans heretiques, scismatiques & et autres mal conditionnez.“884 Die soziale Stellung des Priesters als Verwalter und Hüter der Sakramente sowie als guter Hirte bei den Lebensetappen der Firmung und der entscheidenden Schnittstelle des Tods wird gestärkt. Diese traditionelle Rolle des Klerus erweitert der Altgläubige nun durch die Aufgabe, die Gläubigen vor Ketzern und den Feinden aus dem Schatten zu schützen. Die Geistlichkeit wird zum Hüter der mit einem zusätzlichen, distinktiven Sinn aufgeladenen letzten Ölung. Die Differenz bleibt meist auf der Ebene der von Hallewijn geäußerten biblistischen Kritik an einer nicht auf Christus zurückgehenden und missbrauchsanfälligen Praxis sowie an der fraglichen Effektivität für das Seelenheil.

882 Vgl. Witzel, Von den Toten (wie Anm. 585), Bl. D8v–E1v. 883 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. D3r–D4r. 884 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. D4r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Welche Repräsentation findet sich schließlich in Dorés Schrift, die immerhin direkt die Unterschiede zum zwinglischen Katechismus aus Bern herausarbeiten will? Pierre Doré lässt in seinem Text zwei Figuren auftreten: den heiligen Petrus und dessen Schüler, den Hauptmann Kornelius, der in der Apostelgeschichte als erster nicht-jüdischer Christ genannt wird. Beide diskutieren über die Grundlagen des Glaubens und die Merkmale, die den Unterschied zu den aktuellen Häresien ausmachen. Nachdem Petrus erklärt hat, was zum Seelenheil nötig sei, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe, d. h. gute Werke, fragt Kornelius nach der guten Art zu sterben: Cornelien: Vous m’avez instruict de ce qu’il me fault faire en ma vie. Enseignez moy a bien mourir, comme avez faict a bien vivre. Sainct Pierre: Le cantique du bon et iuste, Symeon, te apprendra a bien mourir.

Petrus zitiert nun, zuerst auf Latein, dann auf Französisch, die entsprechende Stelle aus dem Lukasevangelium: den Lobgesang des Simeon.885 Diesen legt er in der Folge für seinen Schüler aus: Cornelien: Que apprendray ie par cela? Sainct Pierre: Par le premier verset, tu apprendras pour bien mourir te mettre en paix de conscience par pure confession de tes pechez, satisfaction entiere, et pardonnant a tous qui t’ont offencé. Ainsi pourras en mourant dire: Sire, tu laisse maintenant ton serviteur en paix. Par le second auras memoire de demander la salutaire hostie, ton salut, Jesus ton redempteur, pour la recepvoir sacramentellement et en la foy spirituellement. Ainsi pourras dire: Mes yeulx on veu ton salut. Item mettras devant tes yeulx la croix d’icelluy, qui est le baston des aveugles et la defence du chevalier chrestien, laquelle est eslevée en l’eglise devant la face de tout le peuple, comme dit le tiers verset du cantique. Finablement auras la lumiere en la main – c’est le cierge benit – en signe de la foy vive que auras en Dieu, comme dict le quatriesme verset du cantique.886

Die eindeutig im Spätmittelalter verwurzelte Sterbekultur, die Doré gegen Kaspar Megander stark macht, gleicht jener aus den analysierten deutschen Flugschriften. Beichte und Hostie tauchen in genau derselben Reihenfolge als zentrale Sakramente auf. Allerdings fehlt die letzte Ölung, die jedoch auch beim deutschen Reformer Georg Witzel hintangestellt wird. Zudem werden zwei sakramentale Objekte aufgeführt. Zum einen ist da das Kreuz, das im Zusammenhang mit der Kommunion aufgeführt wird. Die Hostie steht für das Heil, das Christus, der in der Hostie wirklich präsent ist, den Gläubigen bringe. Dieses christologische Moment der Kommunion wird durch die Kreuzesbetrachtung als äußeres Zeichen kombiniert. Beinahe wie die Hostie steht das Kreuz für eine Erlösungshoffnung und die Vorbildfunktion, die das Leiden Christi

885 „Nun läßt du, Herr, deinen Knecht, / wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, / das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, / und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lk 2,29–32). 886 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. M8r–v.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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für den Kranken haben kann. Darüber hinaus empfiehlt Doré den Gebrauch einer geweihten Kerze, die der Sterbende als Zeichen seines Glaubens und der christlichen Wahrheit in der Hand halten solle. Den altgläubigen religionspraktischen Zugehörigkeitsmerkmalen jenseits der Sakramente soll im letzten Unterkapitel nachgegangen werden. Auch und insbesondere bei den zum Seelenheil nicht essentiell nötigen Ritualen, Gesten, Bildern und Gegenstände tut sich den Zeitgenossen der frühen Reformationszeit ein schier unerschöpfliches Feld der Distinktion und möglichen Auseinandersetzungen auf. Die textuellen Repräsentationen der wichtigsten unter diesen sollen in der Folge untersucht werden. Es geht auch hier nicht um Vollständigkeit, sondern um das Verständnis der Differenzpotentiale und deren Funktion in der altgläubigen Flugschriftenpolemik.

4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 4.2.1 Maria und die Heiligen: Kulte, Bilder und Figuren Auch die Bilder- und Heiligenverehrungen sind im altgläubigen Lager Bestätigung und Veränderung gleichzeitig unterworfen. Sie sind in den Flugschriften meist eng nicht nur mit bestimmten Gesten und Worten der Devotion, sondern insbesondere mit der materialen Kultur verbunden. Bilder, Holz- und Steinfiguren, Blumenschmuck und andere Zierden, wie der zeitgenössische Ausdruck lautet, waren in den spätmittelalterlichen Kirchen und Kapellen, an Wegesrändern oder Stadttoren, in Gassen und an Häuserwänden angebracht.887 Viele dieser Kulturformen rufen die Kritik der Reformatoren hervor. Das Potenzial für Distinktionen und Auseinandersetzungen ist also groß. V. a. Mariendarstellungen und -kulte werden während der frühen Reformationszeit im Alten Reich und insbesondere Frankreich zu einem wichtigen Kristallisationsmoment des Unterschieds. In Frankreich findet zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert eine breit angelegte Verstärkung der Marienfrömmigkeit statt, nicht zuletzt als Absetzbewegung gegen die lutherischen und später insbesondere gegen die calvinistischen Kritiker und Ikonoklasten.888 Im Alten Reich entwickelt sich die lutherische Kritik ebenfalls vor dem Hintergrund einer blühenden Marienverehrung, deren eindrücklichstes Beispiel sicherlich die Wallfahrt zur erst 1519 errichteten „Schönen Maria“ in Regensburg ist – die Teilnahme an der rasch sehr populären und von Reformern als missbrauchsbehaftet kritisierten Verehrung bricht jedoch zur

887 Vgl. Wood, Defense of Images (wie Anm. 451); Schilling, Albert: Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach vor Einführung der Reformation. Geschildert von einem Zeitgenossen. In: Freiburger Diöcesan-Archiv 19 (1887). S. 1–191. 888 Amalou, Concorde urbaine (wie Anm. 682), S. 233–237; Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 177–285.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Mitte der 1520er-Jahre wieder ein. Dieses Schicksal teilt die „Schöne Maria“ mit einer großen Zahl anderer Pietas- und Heiligen-Kultorte im Alten Reich. In Frankreich ist ein vergleichbarer Erdrutsch nicht zu beobachten. Dort bleiben Wallfahrten und Prozessionen zu heiligen Städten, trotz gewisser Schwankungen allgemein konstanter.889 Dabei geht es den Reformatoren mit ihren Angriffen auf den Kult nicht um die Entehrung der Gottesmutter. Die Devotion sollte nur in Übereinstimmung mit der Schrift sein, was freilich größere Modifikationen der rituellen und materialen Kultur nach sich ziehen sollte. Diese fallen je nach Stadt oder Territorium unterschiedlich aus, wie Bridget Heal am Beispiel von Nürnberg, Augsburg und Köln gezeigt hat. Die altgläubige Verhaltensweise entspricht dieser evangelischen Heterogenität. In der religiösen Praxis ist nach dem materialen tabula rasa in Augsburg der Weg frei für eine spezifisch gegenreformatorische und affirmative Marienkultur, wohingegen in Köln – ohne längere reformatorische Brüche – alte Strukturen und Formen der Devotion tendenziell erhalten bleiben und in ihrer Bedeutung nur leicht distinktiv aktualisiert wird.890 Darüber hinaus bleiben die religiösen Funktionen Marias im Reformationszeitalter bei den Altgläubigen erhalten, etwa als mater dolorosa der Passionspredigten, die das Volk emotionalisieren und an die alte Kirche binden sollen.891 Die Heiligen werden in all ihren kultischen Formen zu einem altgläubigen Unterscheidungsmerk-

889 Creasman, Virgin Mary (wie Anm. 105); Kühne, Hartmut: Zwischen Bankrott und Zerstörung. Vom Ende der Wallfahrten in protestantischen Territorien. In: Wallfahrt und Territorien  – Pout‘ a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Kühne [u. a.], Frankfurt am Main 2007 (Europäische Wallfahrtsstudien 3). S. 201–220; Nelson, Eric: The Parish in its Landscapes. Pilgrimage Processions in the Archdeaconry of Blois, 1500–1700. In: FH 24 (2010). S. 318–340. 890 Heal, Bridget: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Protestant and Catholic Piety, 1500–1648. Cambridge 2007 (Past and Present Publications); Heal, Bridget: Mary „Triumphant over Demons and Also Heretics“. Religious Symbols and Confessional Uniformity in Catholic Germany. In: Diversity and Dissent. Negotiating Religious Difference in Central Europe, 1500–1800. Hrsg. Von Howard Louthan [u. a.]. New York 2011 (Austrian and Habsburg Studies 11). S. 153–172. Zur Kölner Religionsgeschichte während der Reformationszeit vgl. insbesondere Chaix, Gérald: Réforme et contre-réforme catholiques. Recherches sur la Chartreuse de Cologne au XVIe siècle, Bd. 1. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 80); Chaix, Gérald: Cologne entre traditions et modernité, 1500–1648. In: État, marine et société. Hrgs. von Martine Acerra [u. a.]. Paris 1995. S. 101–109. 891 Karant-Nunn, Reformation of feeling (wie Anm. 354), S. 159– 187; Karant-Nunn, Susan C.: Catholic Intensity in Post-Reformation Germany. Preaching on the Passion and Catholic Identity in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Politics and Reformations: Histories and Reformations. Essays in Honor of Thomas A. Brady, Jr. Hrsg. von Christopher Ocker [u. a.]. Leiden/Boston 2007 (Studies in Mdieval and Reformations Traditions 27). S. 373–396. Zur distinktiven Mariendarstellung in der Kunst vgl. Suckale, Robert: Themen und Stil altgläubiger Bilder 1517–1547. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Hrsg. von Andras Tacke. Regensburg 2008. S. 34–70.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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mal, was sich auch auf die Namensgebung bei Neugeborenen auswirkt.892 Heiltumsschauen und Feierlichkeiten im Rahmen von Kanonisierungen wie jener Bennos von Meißen im Herzogtum Sachsen 1524 sind Auslöser und Spiegelbilder der entstehenden Konflikte.893 Lokale Initiativen spielen für die Fortdauer bzw. die Wiederbelebung von Kulten eine weitaus größere Rolle, als lange angenommen wurde.894 Wie bei den Marienwallfahrten, so ist der Einbruch der Teilnehmerzahlen und der Durchführungsfrequenz im Alten Reich zu Beginn der Reformationszeit deutlich ausgeprägter als in Frankreich, wo am ehesten die Religionskriege für Unterbrechungen sorgen sollten.895 Die volkssprachlichen Flugschriften greifen diese Distinktionen auf und stärken den Heiligen- und Marienkult sowie insbesondere dessen Objekte. Die Argumentationen über Sinn und Wirksamkeit der Devotionen werden der neuen Zeit angepasst und alte Bedeutungen der Gegenstände aktualisiert. Aufschlussreich dazu ist der Traktat Hieronymus Emsers vom April 1522 gegen den Wittenberger Reformator Andreas Karlstadt. Dieser hatte in Von Abtuung der Bilder und dass kein Bettler unter den Christen sein solle unter Bezug auf das alttestamentarische Bilderverbot die Abschaffung aller „Götzen“ aus den Sakralräumen gefordert. Der Dresdner Hofkaplan verteidigt die alte Heiligenfrömmigkeit, da diese ein alter und legitimer Brauch sei.896 Die Sakralräume sind aber laut Karlstadt allein für den Dienst an Gott vorgesehen. Damit findet er Emsers Zuspruch, doch dieser fügt hinzu: Daneben mag man aber ouch inn und außserhalb der kirchen eheren und anruffen die aller heiligisten junckfrawen Mariam in dem hochsten grad nach Got, tzu lateyn: cultu hiperdulie, darumb das sie under allen creaturen die aller ehrwirdigist und die aller hochste ist unnd derhalben von dem engel voller genaden, vonn der christenlichenn kirchen, ein muter Gotes, ein konigin der hymel unnd ein fraw der welt genent wirt. Zum dritten mogen und sollen wir ouch anbeten

892 Sargent, Naming Patterns (wie Anm. 142); Balbach, Anna-Maria: Jakob, Johann oder Joseph? Frühneuzeitliche Vornamen im Streit der Konfessionen. In: Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Jürgen Macha [u. a.]. Münster [u. a.] 2012 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 18). S. 11–30. 893 Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 535); Diedrichs, Christof L.: Ereignis Heiltum. Die Heiltumsweisung in Halle. In: „Ich armer sundiger mensch“. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Andreas Tacke. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg 2). S. 314–360; Heming, Carol Piper: Protestants and the Cult of the Saints in Germanspeaking Europe, 1517–1531. Kirksville 2003 (Sixteenth Century Essays & Studies 65). 894 Copeland, Clare: Sanctity. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 225–241. 895 Rossiaud, Jacques: Processions de l’Ascension et paysage religieux à Lyon, à l’aube des Temps Modernes. In: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hrsg. von Gerd Schwerhoff u. Susanne Rau. München/Hamburg 2008. S. 72–86. 896 Vgl. auch Smolinsky, Reformation und Bildersturm (wie Anm. 868).

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

und ehren die lieben heiligen nit alß Got, sonder als frunde Gotes, nit als schopfer, sonder als creaturen, nit als geber oder nhemer, sonder als patron und furbitter, tzu lateyn: cultu dulie.897

Für den altgläubigen Emser haben zwei weitere Ebenen der Frömmigkeit ihren Platz in den Kirchen. Die Gottesmutter soll im cultus hypderdulia, also der nach Gott zweithöchsten Verehrungsstufe angebetet werden. Gott selbst wird im am höchsten stehenden cultus latria verehrt. An dritter Stelle kommen im cultus dulia die Engel und Heiligen. Für Emser handelt es sich also nicht um eine ausschließende Wahl, sondern um eine graduell in ihrer Intensität abgestufte, aber integrative Verehrung von Gott, Maria und den Heiligen. Somit sei es völlig legitim, diese Bilder in den Kirchen zu haben, da Maria und die Heiligen nicht als Gott angebetet werden, sondern neben und unter diesem. Abgesehen davon sei der Bilderkult unproblematisch, da die Anbetung nicht den Objekten, sondern den Abgebildeten zukommt. Die alten Christen könnten von den Bildern gar nicht betrogen werden, wie Karlstadt unterstellt, da sie diesen ja niemals „getrawt“ hätten, also niemals materiale Abbildungen als an sich heilig oder gar göttlich verehrt hätten, sondern nur die, die sie darstellen. Deshalb gelte: Wir christen seyn nit außfellig, das wir die byld auß lieb und nit auß veyntschafft da her gestelt haben, wir lieben sie, aber nit von irentwegen, sonder umb der jhenen willen, an die sie uns mit irer gestalt weysen und erinnern… Carolstat hat aber noch nit beweyßt, das solche lieb sund sey, gleych wie er ouch nit beweyßt, das man inen an Gotes und der lieben heiligen stat nit ehr ertzeigen soll mit kappenn oder hut abzwtzihen und knye biegen, die mann doch offt eym schlechten menschen ertzeigt, oder das man sie nit mit samat, silber, gold oder edeln gesteyn tzierenn soll, die man ouch offt eynem ubeln weyb anhenget.898

Auch an dieser Stelle argumentiert Hieronymus Emser wie viele altgläubige Autoren jener Jahre. Die Liebe gilt nicht den Artefakten, sondern denen, die sie darstellen. Diese Liebe sei keine Sünde, im Gegenteil. Vor Abbildungen Gottes und der Heiligen sollten Gesten wie das Abnehmen der Kopfbedeckung und das Beugen der Knie die Verehrung zum Ausdruck bringen. Demselben Ziel dienen demnach der Schmuck und die Verzierung der Objekte. Bemerkenswert ist, dass Emser diese Haltungen, Gesten und Kunstarbeiten summarisch als Proprium von „uns Christen“ zusammenfasst, die er damit begrifflich auf der Grundlage einer Praxis in Gegensatz zu den lutherischen Ketzern setzt.899 Doch die Kritik Karlstadts geht noch weiter: Carolstat: Du tzindest in ein liechtleyn an, du bringest inen wichsszen opffer in gestalt deyner kranckenn beyn, arm, ougen etc. Also bekennet ir fromde göter.

897 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 309. 898 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 311. 899 Vgl. zur Begriffsgeschichte Kap. I. 2.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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Emßer: Wir bekennen hiemit keyn frombden Got, dann ab wir gleych gen Rom oder gen Ach loffen, so beten wir doch gleych den Got an, den wir doheymen anbeten, unnd an welchem ort uns Got erhöret, bekennen und dancken wir ime seyner genaden. Das wir aber dieselbigen von Got empfangenn wolthat mher der lieben heiligen furbit, dann unserm vordinst tzutzelen und sie daneben ouch darumb ehren unnd wirdigen, ist von Jeronimo wider Vigilantium, von Augustino wider Faustum und von Ambrosio wier die arrianischen ketzer gnungsam entschuldigt worden, wie ich von dieser sach in meynem orsten buch wider Luters reformation articulo von den walfarten etwas weyter geschriben, dahyn ich den leßer geweyst haben will.900

An dieser Stelle geht es um einen verbreiteten Brauch der spätmittelalterlichen Wallfahrten und Pilgerreisen, die aus gesundheitlichen Gründen für einen selbst oder andere unternommen wurden. Am Heiligenschrein oder am Mariensanktuar angekommen, opferten die Gläubigen vor den Bildern oder Reliquien kleine Wachsgebilde, um damit für ihre Genesung zu bitten oder zu danken. Dieser Brauch wird, ebenso wie das Anzünden von Kerzen vor den Heiligtümern, von Karlstadt als Götzendienst und Abgötterei gebrandmarkt. Emser verteidigt diese Übungen nicht direkt, was sich durch das Wissen um seine reformerischen Grundüberzeugungen und seinen kritischen Blick auf derlei Praktiken der Volkskultur erklärt. Deshalb holt der Autor weiter aus und verteidigt die Wallfahrten zu Heiligen- und Marienorten mit dem Hinweis, dass die Altgläubigen auf den Reisen immer zu dem einen Gott beten, den sie auch zuhause verehren. Wenn Gott dann die Bitten der Gläubigen erhört, liege das weniger am einfachen Gebet der Menschen, sondern an den Fürbitten der Heiligen. Neben der Verehrungspflicht im Rahmen des cultus dulia gebühre ihnen auch wegen ihres fürbittenden Einsatzes bei Gott Dank und Ehre. Wie allgemein die eigene Kultur, so setzt Emser auch diese konkrete Praxis in die lange Dauer der Kirchengeschichte und der Anfechtungen durch die Ketzer, aus denen die Rituale aus dem Feld der Heiligenfürbitte stets gestärkt hervorgegangen seien. Die Heiligen gelten den Altgläubigen nicht nur auf den regelmäßigen oder aus besonderen Gründen abgehaltenen Wallfahrten und Pilgerreisen, sondern auch im Alltag als unentbehrliche Helfer, Unterstützer und Mittler zu Gott. Ihre Verehrung wird deshalb zu einer Form der Kontingenzbewältigung und zu einem Weg, um das Seelenheil zu erlangen. Die pyramidale Hierarchisierung des Himmelreichs mit seinen Beziehungssystemen zwischen „unten“ und „oben“ spiegelt die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen des 16. Jahrhunderts wieder.901 Doch einige Kultpraktiken deutet auch Hieronymus Emer als abergläubisch und missbrauchsbehaftet. Er fordert Reformanstrengungen und mahnt die Abschaffung der „Übertreibungen“ sowie größere Zurückhaltung bei der rituellen Verwendung von Bildern an.902

900 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 311 f. 901 Vgl. Gould, Ecclesiastical Hierarchy (wie Anm. 779). 902 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 332 f.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Die Befürwortung der Heiligen- und Bilderkulte wird in den Repräsentationen der Flugschriften zum vielgesichtigen Alleinstellungsmerkmal der Altgläubigen.903 Die Beschäftigung mit dieser Frage beginnt im Alten Reich bereits vor den bilderfeindlichen Veränderungen der Sakralräume in der Schweiz und Oberdeutschland und geht zurück auf die Liturgie- und Bildreformen sowie den von Natalie Krentz jüngst hinsichtlich der Ausmaße und der unmittelbaren Bedeutung für die Zeitgenossen relativierten „Bildersturm“ in Wittenberg Anfang 1522. In dessen Zusammenhang verfasst Karlstadt seine Schrift Von Abtuung der Bilder.904 Bis zur Mitte der 1520er-Jahre, also vor den systematischen Reformationen, Reformationsordnungen und dem obrigkeitlichen Einzug der Kultgegenstände, belassen es die altgläubigen Autoren vielfach bei allgemeineren Erörterungen der Tradition, der biblischen Begründung und der ihrer Ansicht nach korrekten Form der Bilder- und Statuenverehrung. So etwa der Konstanzer Bischof Hugo von Hohenlandenberg, der im Juni 1524 ein mahnendes Gutachten zur Messe und den Bildern an den Rat der Stadt Zürich schickt. Dort hatte man sich im Oktober 1523 bei der zweiten Disputation gegen die Messe und die Bilder ausgesprochen. Die endgültige Entscheidung sollte bei einer weiteren Disputation um Pfingsten 1524 fallen, in deren Vorfeld Hugo von Hohenlandenberg seinen Generalvikar Johann Fabri mit der Ausarbeitung des besagten Gutachtens beauftragt.905 In der Beschlussrede des ersten Teils über die Bilder bringt er den Unterschied zwischen Altgläubigen und Evangelischen auf den Punkt, indem er den mutmaßlichen Frevel der Lutherischen bei ihrer Ablehnung der Heiligenbilder-Kulte herausstreicht: „dann wie die vererung vor dem bild dem geschicht, der durch das bild bedeüt wirt, also auch die enterung, spott und schmach gegen inen ist von Gott nit minder geachtet, dann ob sie im oder seinen heiligen selbs geschehe, wie die historien gnugsam anzeygen, auch die mirackel der bild an vil orten teütscher nation offenlich zeügknüß geben.“906 So wie die Verehrung des Bildes nicht diesem, sondern den Abgebildeten gelte, so werde auch die Verspottung oder Schmähung der Bilder von Gott so gewertet, als ob sie ihm oder seinen Heiligen direkt wiederfahren. Kritik oder Ablehnung der materialen Repräsentationen wird dadurch zur Blasphemie. Die Bilder hätten als wehrhafte

903 Vgl. dazu theologiegeschichtlich Kapustka, Mateusz: Bilder als bezeugende Körper. Zur scholastischen Bilderverteidigung ex authoritate im frühen 16. Jahrhundert. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Hrsg. von Andras Tacke. Regensburg 2008. S. 97–115. 904 Krentz, Natalie: Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg, 1500–1533. Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus und Reformation 74). S. 143–214. 905 Zum Kontext der Schrift vgl. den Kommentar des Hrsg. bei Hohenlandenberg, Hugo von: Christliche Unterrichtung, die Bildnisse und das Opfer in der Messe betreffend. In: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Hrsg. von Adolf Laube. Berlin 1997. S. 685–691, hier S. 690 f. Die Version bei Laube/Weiß ist stark gekürzt. 906 Hohenlandenberg, Christliche Unterrichtung (wie Anm. 905), S. 687.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

 257

Heilige durch Wundertaten ihre transzendente Verbindung bewiesen. Wer sich mit einem sakralen Bild anlegt, lege sich in letzter Instanz mit Gott an. Diese Vorstellung sollte in der Folge wichtig werden für die mitunter testenden, zögerlich agierenden oder stark auf den Beweis der Leblosigkeit von Bildartefakten abzielenden Ikonoklasmen der Protestanten.907 1523/24 kommt es im Herzogtum Sachsen zur lange geplanten Heiligenerhebung des mittelalterlichen Bischofs Benno von Meißen, die aufwändig gefeiert wird. Sie soll ein Signal an die benachbarten Lutherischen sein, dass der Heiligenkult nach wie vor mobilisiert und Rezeption im Volk findet.908 Luther schreibt gegen diesen Vorgang eine flammende Flugschrift Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden. Eine der altgläubigen Reaktionen darauf ist das Büchlein des Zisterzienserabts Paul Bachmann Wider das wild geifernde Eberschwein. Bachmann argumentiert darin für den Schmuck in den Kirchen sowie die Heiligenrepräsentationen und bringt biblische Beweise für den umstrittenen Kult. Dann geht er auf den Vorschlag Luthers ein, man solle sich lieber den Heiligen auf Erden zuwenden, anstatt den verstorbenen Heiligen im Himmel. Dies sei eine ketzerische Ansicht, denn obwohl die Ehrerweisung gegenüber frommen Christen richtig ist, so sei die Abkehr von den Heiligen im Himmel verderblich. Luthers Einlassungen seien eine Erfindung des Teufels. Zudem wird das Argument des alten Herkommens mit der Gewissheit der ewigen Dauer verbunden: Durch den Wittenberger Mönch werde die Heiligenverehrung sicher nicht zugrunde gehen. Die zeitliche Verortung der eigenen Praxis wird hier auf eine Art repräsentiert, die sich auch in allgemeineren Darstellung der eigenen Kultur wiederfindet. Auch die Erbauung und das Lob Gottes vermittels der Heiligen in sakralen Orten hält Bachmann für selbstverständlich legitim und angebracht.909 So beschreibt der Autor dann die richtige Verehrung, wie sie die altgläubigen Christen den Heiligen entgegenbringen:

907 Vgl. dazu u. a. Burg, Christian von: „Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen“. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle [u. a.]. München 2002 (Historische Zeitschrift Beihefte 33). S. 117–141; Christin, Olivier: Les images qui parlent. In: Annales de l’Est 54 (2004). S. 71–86; Christin, Olivier: Quand les idoles avouent leurs crimes. L’iconoclasme en Europe (1520–1620). In: Les affrontements religieux en Europe. Du début du XVIe siècle au milieu du XVIIe siècle. Hrsg. von Véronique Castagnet [u. a.]. Villeneuve-d’Ascq 2008 (Histoire et civilisations). S. 21– 32; Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 123–175; Poorthuis, Marcel: Idolatry and the Mirror. Iconoclasm as a Prerequisite for Interhuman Relations. In: Iconoclasm and Iconoclash. Struggle for Religious Identity. Second Conference of Church Historians Utrecht. Hrsg. von Willem J. van Asselt. Leiden 2007 (Jewish and Christian Perspectives 14). S. 125–140. 908 Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 535). 909 Bachmann, Wider das Eberschwein Luther (wie Anm. 656), S. 745–748.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

[W]iewol Got seyne lieben heiligen ym hymmel mher den reichlich und uberflussig belonet, eret und mit selikeit cronet, so das sie unsers lobs unnd preyses gar nichts bedorffen, dennoch wil Got seyne gaben und gnaden, szo er an die heyligen gelegt hat, von uns auch in dancksamkeit, mit freude und frolockunge geeret und gewiridiget haben, und wil daz wir in dem, so wyr bey Gotte suchen und von Gote begeren, uns demütigen, auch bis under seyne glidmassen, die heyligen, die selben anruffen und zu yhn schreyen umb hulffe, furderung, vorbit, gleich als die, so aus bewöster und erkanter durfftikeit blöde [= schwach, M. M.] sich unwirdig erkennen vor Got, in bitte zu erscheynen, und sollen also yn demut neben uns zyhen die lieben heyligen als geliebte freunde Gottis, ja als glydmasse Christi. Solcher meynung werden von den gleubigen die heiligen angerufft, und das Christo dem herren angenem und beheglich, und mit nichte nicht ist die ere den heiligen gethan, so sunderlich und eygen den heyligen, das sie Christo entzogen wörde ader das die heyligen ane Christum geeret worden, sunder in Christo und Christus in yhnen.910

Der Autor stellt ein göttliches Gebot der Heiligenverehrung auf. Wer von Gott etwas erbitten will, soll sich dafür einen heiligen Patron suchen und diesem demütig das Anliegen vortragen. Denn der Mensch sei zu schwach und unwürdig, direkt bei Gott eine Bitte vorzutragen. Dieses Ritual von Gabe und Gegengabe bedarf dann freilich der Untertänigkeit und der Dankbarkeit gegenüber den Mittlern. Im Grunde würden auch nicht die Heiligen, sondern letztinstanzlich Gott durch diese verehrt werden, womit Bachmann reformatorische Kritik an angeblicher Abgötterei zurückweist. Die Effizienz der Heiligenfürbitte wird von den Altgläubigen in ihren Flugschriften zu einem wichtigen Argument aufgebaut. Die Heiligen als Helfer im Alltag und in der Not sind eine lebensnahe, von allen Zeitgenossen – auch späteren Protestanten, man denke nur an Martin Luthers Gewitter-Schwur – einstmals verwendete Kulturtechnik. In einer Zeit wiederkehrender Hungerperioden, Seuchen und hoher Kindersterblichkeit ist dies ein starkes Argument und erfüllt eine wichtige Funktion bei der Kontingenzbewältigung. Aussagekräftig in diesem Zusammenhang ist eine Passage aus Thomas Murners Großem lutherischen Narren. Als darin Luthers Bundschuh der Narren und Söldner zusammenkommt, tritt Bruder Veit auf, ein deutscher Landsknecht, der in Frankreich gekämpft und dort von Luther gehört hat, woraufhin er in seine Heimat zurückkehrt. In Deutschland sieht er dann, dass Luthers Bund nur Betrug und Verschleierung ist. Er identifiziert den Bund zudem als Feind des Reichs und bezieht sich dabei auf das Wormser Edikt. Veit zählt eine Reihe angeblicher religiöser und gesellschaftlicher Verfehlungen auf, wegen derer er den Beitritt zur lutherischen Truppe ablehnt und diese sogar bekämpfen will. Sein wichtigster Grund dafür ist die bewährte Nützlichkeit der Heiligen in alltäglichen Notsituationen. Kein frommer Mann würde die Heiligenfiguren und -bilder aus den Kirchen werfen und deren Anrufung verhindern. Dieser Hilfs- und Zufluchtsmöglichkeit in schlimmen Stunden will Veit auf keinen Fall ermangeln.911 Die kultische und materiale Abschaf-

910 Bachmann, Wider das Eberschwein Luther (wie Anm. 656), S. 750 f. 911 Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 162–165.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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fung der Heiligen wird zu einer verweigerten Rettungsmöglichkeit im Alltag und in Gefahrenzeiten, mit denen nicht nur Söldner bestens vertraut sind. Genau diese Funktion der Heiligen sei in der alten Kirche zu finden, für die Veit nun aktiv werden will. Kann sich der Altgläubige auf die Wirksamkeit des Heiligenkultes verlassen? Johannes Cochlaeus sieht sich 1529 in eine sehr konkrete Auseinandersetzung u. a. zu diesem Thema verwickelt. Der altgläubige Autor greift in den Glaubenskonflikt ein, der seit 1525 in Köln zwischen Graf Wilhelm von Isenburg und den Kölner Dominikanern schwelt. Isenburg ist der Verfasser mehrerer evangelischer Flugschriften und wird von den Dominikanern in Predigten angegriffen, weshalb er die Angelegenheit auf dem Speyrer Reichstag vorbringt. Dagegen schreibt Cochlaeus, der selbst kurze Zeit zuvor in Köln lebte, seine Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit.912 Diese Flugschrift behandelt verschiedene Punkte der zeitgenössischen Auseinandersetzungen, kommt aber ausführlich auf die Frage des Heiligenkults zu sprechen. Cochlaeus zeigt sich überrascht von der Glaubenswende Isenburgs, da ihm dieser als eifrig betender und fastender Marienverehrer in Erinnerung war. Nun nehme dieser auf seine alten Tage längst verurteilte Ketzereien an und vertrete sie sogar noch auf dem Reichstag, wo er allerdings kein Gehör finde. Isenburgs Auffassung, dass es zwischen Gott und den Menschen außer Christus keine Mittler gebe und Heiligenfürbitten deshalb überflüssig seien, weist Cochlaeus zurück. Denn schon auf Erden hätten die Heiligen für ihre Mitmenschen bei Gott Fürsprache eingelegt. Jetzt seien sie noch näher bei Gott und könnten umso besser für die Gläubigen intervenieren. Um seine Argumentation zu stützen, bezieht sich Cochlaeus auf den Kirchenvater Hieronymus und dessen Kampf gegen ähnliche Häresien der Spätantike.913 Deshalb sollten die Gläubigen auch einen genaueren Blick auf die Personen werfen, die ihnen so unterschiedliche Ansichten unterbreiten: Nun last uns duncken, ob schon die heilig geschrifft fur uns nit wer, ob die heilig kirch still swig, ob kein ander heilig lerer uns sagt, das die heiligen bey Got vur uns Got betten, dan allein Hierony[mus]. So stelt nun Hieronymum, den großheyligen und allergelertsten man, in allen kunsten und in so manigfaltigen sprachen lateynisch, kriechisch, chaldaisch etc., in ein seytten, und den unkeuschen Luthern mit syner unerberen nonnen oder den ungelerten Isenburg (der weder latyn noch kriechisch noch hebreisch, sonder allein breyt thewtsch kan, wie in seyn mutter gelert hat, allein die tewtsch bibel und teutsch Martyn Luters bucher gelesen hat) uff die ander seyten, wem wer mer zu glauben, dem allerheiligstenn Hieronymo oder dem nonnenswecher Luth[er]? dem allergelertsten lerer Hierony[mus] oder eim ungelerten leyen Isenburgio?914

912 Zum Kontext vgl. den Kommentar des Hrsg. bei Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1090. 913 Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1078 f. 914 Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1079.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Cochlaeus geht an dieser Stelle nicht auf theologische Argumente ein, sondern stellt den vermeintlich gelehrten und tugendhaften Kirchenvater Hieronymus dem vermeintlich ungelehrten und unehrbaren Isenburg gegenüber. Die Ehrhaftigkeit der Personen soll dabei die Glaubwürdigkeit der Lehren bestimmen. Einige Aspekte der Lutherrepräsentationen, die die Altgläubigen in ihren Flugschriften vorbringen,915 werden hier in die Argumentation für eine religiöse Praxis eingebaut. Luther wird wegen seiner Heirat mit Katharina von Bora als moralisch verwerflicher Nonnenverführer beschrieben. Isenburg hingegen stellt Cochlaeus als ungelehrten Laien dar, der von den großen theologischen Fragen nichts verstehen könne, da er bestenfalls die deutsche Bibelübersetzung und lutherische Bücher gelesen habe. Auch dieses Bild des von den Reformatoren verführten, ungelehrten und etwas tölpelhaften Laien ist eine gängige Darstellung in den altgläubigen Flugschriften. Diese Repräsentationen werden nun in Bezug auf die religiöse Praxis zum Argument – und zwar gegen die Kritiker an der Heiligenverehrung. Cochlaeus fährt dann fort mit den offenbar schon standardisierten Repräsentationsmustern der altgläubigen Flugschriften. Die Verehrung der Heiligen bedeute die Verehrung Gottes. Wer hingegen den Heiligen Unehre zuteilwerden lässt, lasse diese auch Gott zu teil werden. In Anbetracht der protestantischen Unterschiedlichkeit streicht der Autor die mutmaßlich unveränderte Tradition des Kultes heraus und verortet diesen fest in der langen Dauer. Schon im Urchristentum hielten die Gläubigen Wache und beteten bei den Gräbern oder Todesorten der Märtyrer. Zwar habe der Apostel Paulus die Heiligenverehrung nicht explizit gelehrt, doch jede Zeit habe dank der Eingebungen des Heiligen Geistes ihre eigenen Glaubensformen, die durch Wunder gestützt werde. Wer gegen die Litaneien redet, widerstrebe der heiligen Kirche und mache sich den Ketzern gleich.916 Auch in Frankreich werden die Heiligen in der altgläubigen Textkultur schnell zu einem wichtigen Unterscheidungsfaktor, sowohl in der Auseinandersetzung mit den biblisch-evangelischen, als auch mit den „lutherischen“ Gruppen. Die Trennlinien lassen sich anhand der anonymen Apologie pour la foi gegen den Erasmus-Übersetzer Halewijn untersuchen. Ganz am Ende seiner Schrift antwortet der unbekannte Autor auf das bei Halewijn angeschnittene Thema der Bilder. Die Position des Themas in der Textstruktur deutet auf eine eher geringe Dringlichkeit des Konflikts zwischen biblischen Reformern und Orthodoxen hin. Er finde in diesem Kapitel nicht sehr viel, was nochmal aufgegriffen werden müsse, schreibt der Anonymus.917 Ikonoklasmen oder Bildbeschimpfungen, wie sie von luthériens etwa in Paris und Rouen bereits in die Praxis umgesetzt worden sind und sich vom mittelalterlichen Frevel laut Olivier

915 Vgl. Kap. I. 3.1.1. 916 Cochlaeus, Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1079–1081. 917 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. E3r.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

 261

Christin durch die gezielte Provokation eines öffentlichen Skandals unterscheiden,918 werden nicht aufgegriffen. Statt eines Grundsatzkonflikts kommt es zu Form- und leichter Funktionskritik. Halewijn schrieb, dass Bilder in den Kirchen einst erlaubt worden seien, um in der Frühphase des Christentums die heidnischen Götzenkulte zu substituieren. Der Altgläubige hält dagegen, dass die Bilder in den Gotteshäusern stehen „affin de esmouvoir & inciter le simple peuple de avoir souvenence de Dieu le createur & Iesu Christ nommé Redempteur, des sainctz estans en paradis, de leurs bonne vie & conversation, affin de mettre paine les ensuivir & gaigner paradis.“919 Die Darstellungen Gottes und Christi sowie der Heiligen wird also mit einem sehr klassischen Argument verteidigt: Die Bilder dienen dazu, das einfache Volk anzureizen, an Gott und die Heiligen zu denken und sich an den guten Beispielen der Letzteren zu orientieren. Gelingt das, rückt das Paradies in greifbare Nähe. Der Wert der Bilder bemisst sich an ihrer Funktion, indem sie die Gläubigen zu Devotion und Umkehr anhalten. Pierre Doré hat 1538 einen anderen Gegner: den Berner Protestanten Megander und dessen reformierten Katechismus. Auch bei Doré geht es im Dialogue instructoire zwischen Petrus und dessen Schüler Kornelius um die Marien- und Heiligenverehrung. Im Unterschied zum Anonymus stellt Doré die Heiligenfürbitte in den Kontext der drei für das Seelenheil notwendigen Kategorien Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Heiligenfürbitte bespricht er im Kapitel über die Hoffnung. Nachdem Petrus die Bedeutung des Gebets, insbesondere des Vater Unsers, als Ausdruck der Hoffnung des Menschen auf Gottes Wirken dargestellt hat, fragt der Schüler Kornelius, ob die Christen auch zu jemand anderem als Gott beten dürften. Es ist die Frage nach der Abgötterei, die die Evangelischen gegen die Altgläubigen und deren Heiligenverehrung ins Feld führen. Petrus bejaht die Frage, denn in der Heiligen Schrifte lese man „des oraisons faictes aux sainctz et amys de Dieu, et pareillement des prieres qu’ont faict les sainctz a Dieu pour aultruy.“920 Die biblischen Heiligen beteten zu ihren Lebzeiten für andere Menschen, und das sehr wirksam, wie Petrus seinem Schüler an einer Reihe von Beispielen demonstriert. Wenn sie im Paradies bei Gott sind, würden sie dies umso mehr tun, versichert er und führt für diese Behauptung wiederum eine große Zahl biblischer Belege an. Zwar müssten die Menschen v. a. zu Gott beten, doch bestehe auch die Pflicht zur Heiligenverehrung, wenngleich auch graduell abgestuft, entsprechend der auch von Hieronymus Emser angeführten Unterscheidung zwischen cultus latria (Verehrung Gottes) und cultus dulia (Verehrung der Heiligen). Beides sei jedoch eine Verordnung wie die Anweisung des Arztes, Medizin zu nehmen.921

918 Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 18–31. Vgl. zu den präzisen Vorfällen Kap. II. 4. 919 Apologie pour la foy (wie Anm. 479), Bl. E3r. 920 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. L3v. 921 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. L3v–L6r.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

Das sieht Megander in seinem Katechismus anders, weshalb Doré in seinem Text den Schüler Kornelius die Frage nach der Devianz bezüglich des Heiligenkultes stellen lässt: Cornelius: Et qui ne le croit ainsi? Sainct Pierre : Il est blasphemateur et suscitateur des ensepvelies et vieilles heresies. Car tout homme est tenu croire ce qu’est expres en l’escripture et aussi ce que s’ensuyt en bonne consequence et infallible d’icelle.922

Doré richtet den Blasphemie-Vorwurf an alle, die im Glauben an die Funktionen und Wirkungen der Heiligenverehrung und -repräsentationen abweichen. Zudem holen die Protestanten durch ihren „Irrglauben“ in diesem Punkt die bereits begrabenen, d. h. von Papst und Konzilen verurteilten Häresien wieder hervor. In der altgläubigen Textkultur sowohl Frankreichs als auch des Alten Reichs wird somit nicht nur die eigene Heiligenpraxis durch die Rückbindung in die Zeit zur Konstante erklärt, sondern auch die Einsprüche der Protestanten. Zudem lässt sich der Heiligenkult laut Doré auf die Bibel zurückführen und jedermann müsse glauben, was im Evangelium steht. Bisher war v. a. von den Verehrungspraktiken und deren Bedeutung die Rede. Wie aber werden die materialen Aspekte des Heiligenglaubens dargestellt? Präzise Fälle des Ikonoklasmus werden in der altgläubigen Textkultur des Alten Reichs sehr sparsam aufgegriffen, vielfach bleibt es bei allgemeineren Erörterungen der Entfernung, „Abtuung“ und Zerstörung von rituellen oder sakramentalen Bildern, Figuren, Objekten, der Kirchenausstattung, Büchern oder Glocken. Wie Christopher Ocker gezeigt hat, vergiften die politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen um den „Kirchenraub“ der protestantischen Obrigkeiten das Klima zwischen den Religionsgemeinschaften und den verschiedenen Territorien über Jahrzehnte hinaus.923 Es muss jedoch nicht immer zu Zerstörung oder Entfernung kommen. Vor allem in lutherischen Gebieten werden die mobilen und immobilen Sakralobjekte auch einfach außer Gebrauch gesetzt, wodurch sie ihre alte Funktion verlieren. Auf einen besonders komplexen Fall der Ikonoklasmusdarstellungen, der in der Forschung noch nicht genauer analysiert worden ist, gehe ich abschließend ein. Es handelt sich um einen Text mit einer Holzschnitt-Illustration aus dem Großen lutherischen Narr von Thomas Murner, veröffentlicht im Jahr 1522. Ein Bild sticht darin sofort ins Auge: Auf diesem ist der 14. von 15 Bundesgenossen zu sehen, die aus dem dicken Bauch des großen lutherischen Narren kommen. Die lutherischen Bundesgenossen

922 Doré, Dyalogue instructoire (wie Anm. 483), Bl. L6r. 923 Ocker, Christopher: Church Robbers and Reformers in Germany 1525–1547. Confiscation and Religious Purpose in the Holy Roman Empire (Studies in Medieval and Reformation Traditions 114), Leiden, Brill, 2006.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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verkörpern verschiedene Eigenschaften, die Murner den Evangelischen unterstellt. Der Holzschnitt zeigt eine Figur im Narrenkostüm mit den typischen Narrenschellen am Kopf (Abb. 5). In einem Ofen verbrennt der Bundesgenosse eine Heiligenfigur, wahrscheinlich Maria. Mit der rechten Hand und einem Grinsen im Gesicht schürt der Narr den Ofen und schiebt die Figur, die zur Hälfte schon verbrannt ist, weiter ins Feuer. In der linken Hand hält er einen Gegenstand, der allerdings nicht genau zu erkennen ist. Womöglich handelt es ich um einen weiteren Sakralgegenstand oder den Teil einer Heiligendarstellung.

Abb. 5: „Ein Bundesgenosse Luthers zerstört eine Heiligenfigur“, Holzschnitt in der Flugschrift „Vom großen lutherischen Narren“ (1522) von Thomas Murner. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. 870, fol. L2 verso.

Leicht wäre man versucht, in dieser Darstellung eine klassische ikonoklastische Handlung zu sehen. Doch ist die aus einem zwinglisch-bilderfeindlichen Impetus erfol-

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

gende Zerstörung von Figuren zu diesem Zeitpunkt in der Forschung nicht bekannt. Der erste Ikonoklasmus ist für Straßburg am 2. Februar 1524 belegt. Der Blick in die nicht allzu weit von Straßburg entfernten eidgenössischen Städte Zürich und Basel ist nicht viel erhellender. Die meisten Züricher Bilderfrevel finden zwischen September und November 1523 statt, wohingegen der spektakuläre Bildersturm von Basel erst am 9. Februar 1529 stattfinden sollte.924 Natürlich könnte sich der Holzschnitt auf die im Übrigen äußert raren Desakralisierungen von Bildern und die kommunalen und von keinen „Unruhen“ begleiteten Liturgiereformen in Wittenberg zu Beginn des Jahres 1522 beziehen.925 Die verbreitete Schrift Karlstadts Von Abtuung der Bilder und die altgläubige Entgegnung von Hieronymus Emser, deren Widmung an Herzog Georg den Bärtigen auf den 2. April 1522 datiert ist,926 hätte Murner also durchaus kennen können. Allerdings findet darin die v. a. theologische Beschäftigung mit Karlstadts Text statt, nur spärlich und nicht sonderlich konkret fließen Informationen zu den tatsächlichen Geschehnissen in Wittenberg ein. Dass Murner bzw. der Illustrator daraus die Repräsentation des Holzschnitts entwickelt haben, erscheint mir abwegig. Ein weiterer gesicherter Ikonoklasmus, der in die Chronologie passen würde, ist der Bildersturm im pommerschen Treptow vom Frühsommer 1521, als einige Einwohner die Ausstattung der Heilig-Geist-Kapelle zerstören und in den Brunnen werfen.927 Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass hier das Vorbild für die Repräsentation bei Murner zu suchen ist – nicht nur wegen der mangelnden Übereinstimmung des Vorgangs, sondern auch wegen der großen Entfernung. Die Reime der Flugschrift liefern Aufklärung, nur deren Lektüre oder Hören ermöglichen eine genauere Einschätzung der Deutung durch die Zeitgenossen. Der lutherische Bundesgenosse will in dem Text den gemeinen Christen die richtige Verehrung der Heiligen lehren. Er beginnt damit, dass die Heiligenfiguren aus Kupfer nicht zu ehren seien. Sie seien nur teuer und unbrauchbar – unbrauchbar in einem Sinne, den er gleich darauf erläutert: Doch hültzne heiligen ert ich gern, Wan ir zwölff tusent fuder wern,

924 Wandel, Lee Palmer: Voracious Idols and Violent Hands. Iconoclasm in Reformation Zurich, Strasbourg, and Basel. Cambridge 1994. S. 59 f., 111 f., 149 f. 925 Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit (wie Anm. 904), S. 143–214. 926 Emser, Von Abtuung der Bilder (wie Anm. 768), S. 305. 927 Michalski, Sergiusz: Bilderstürme im Ostseeraum. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle [u. a.]. München 2002 (Historische Zeitschrift Beihefte 33). 223–237, hier S. 223. Für einen chronologischen Überblick der Ikonoklasmen im Alten Reich vgl. Schnitzler, Norbert: Ikonoklasmus  – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1996. S. 145–149



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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So nem ich sie für brenholtz an Vn ließ die steinen heiligen stan.928

Während der Narr die Figuren aus festen Materialien ablehnt, kann er von jenen aus Holz gar nicht genug bekommen. Denn diese will er verbrennen. So erklärt sich auch die Illustration. Es handelt sich um die Repräsentation eines selektiven Ikonoklasmus, der nicht aus religiösen Gründen durchgeführt wird, sondern wegen materieller und lebensweltlicher Begierde. Damit entspricht die Darstellung insgesamt einer wiederkehrenden altgläubigen Repräsentation der Motive der Bilderzerstörung und v. a. der Konfiszierung und „Abtuung“. Dass demnach nicht der Heiligenkult oder die Effizienz der Heiligen an sich infrage steht, sondern die utilitaristische, selbstverliebte und letztlich blasphematorische Verhaltensweise der Lutherischen angeprangert werden soll, wird im weiteren Verlauf der Ansprache des Bundesgenossen deutlich. Sie passt in eine Zeit, als Luthers Kritik an den Heiligen erst vorsichtig beginnt. Die Heiligen, die unangenehme Praktiken wie das Fasten verlangen und „unß cristen we“ tun, solle man vernachlässigen, denn die Heiligen würden diese Rituale sicher nicht benötigen, um heilig zu sein. Andererseits lobt der lutherische Bundesgenosse etwa St. Martin, „[d]er gibt unß feißte genß zum wyn.“ Die Martinsgans findet Anklang und der Kult darf weiterbestehen. Auch die Feiertage mancher Heiliger hält der Lutherische für problematisch und hat sie, wenn sie in den Winter fallen, in den Sommer verlegt. Auch die heiligen Nothelfer will er nicht verwerfen, denn sie helfen in schwierigen Zeiten, wenn man ihre goldenen und silbernen Figuren einschmelzen und sie bei Bedarf zu Geld machen könne. Schließlich will er auch die Heiligen behalten, die den Menschen Arbeit abnehmen. St. Wendelin solle ruhig weiter die Schafe hüten und St. Antonius die Schweine.929 Figuren und Bilder von Christus, Maria und den Heiligen erfüllen aus altgläubiger Perspektive nicht nur traditionelle religiöse Rollen und sind mit spezifischen Kulturformen verbunden, sondern zeigen im praktischen Umgang auf verschiedene Arten distinktive Zugehörigkeiten und Wissensordnungen. Die Frage der Präsenz oder der Nicht-Präsenz der Marien- und Heiligenfiguren ist darüber hinaus verbunden mit dem Kampf um sakrale Räume und deren Ausstattung.

4.2.2 Distinktion und Materialität im Raum Sakrale Gebäude sind die Bühnen, auf denen religiöse Praktiken durchgeführt werden. Durch die materiale Ausstattung werden aber nicht nur Grundlagen für gemeinschaftliche oder distinktive Rituale gelegt, sondern der Raum auch allgemein

928 Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 157 f. 929 Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 158 f.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

in Besitz genommen und von den Zeitgenossen der frühen Reformation jeweils verschieden gedeutet. Dabei sind nicht nur die mobilen, sondern auch die immobilen Gegenstände und die architektonische Gestaltung von Bedeutung. Dieser Zusammenhang wird in der 1532 erschienenen Flugschrift Wie Gott und seine Heiligen sollen geehrt werden des Dominikaners Michael Vehe deutlich. Vehe ist geistlicher Rat des Kurfürsten von Mainz in Halle und baut dort als Propst, in einer religiös zunehmend gespaltenen Stadt in unmittelbarer Nähe zum lutherischen Kursachsen, ein neues Stift auf.930 In der Widmung an Georg von Anhalt spricht Vehe davon, dass der Stiftsgründer Albrecht von Brandenburg „aus christenlichem gemüt und fürstlilicher [sic] freiheit den tempel des gnanten stiffs [sic] der massen gebauet, geziret, geschmücket und mit unzelichem heilthumb so reichlich begabet hat, das ynn deutschen landen (alle andere ungescholten) nicht viel gottesheuser diesem mögen vergleicht werden.“931 Dieses neue Stift sieht sich lutherischer Kritik und Spott ausgesetzt, auf die Vehe in den 1530er-Jahren mehrmals schriftlich reagiert. Vehe bekennt gleich zu Beginn, dass sich einige Missstände in den Heiligendienst geschlichen hätten. Abschaffen müsse man diesen aber nicht, da die wahren Christen die Heiligen niemals zu Götzen gemacht hätten. Dienst an den Heiligen sei nämlich Dienst an Gott. Der könne auf eine innere und eine äußere Art, die den inneren Dienst öffentlich anzeigt, durchgeführt werden.932 Den äußeren Gottesdienst in seiner Materialität und Performanz beschreibt Vehe in großer Detailliertheit. Er versammelt dabei die wichtigsten Gesten, Objekte, Worte und Rituale, die in vielen anderen deutschen Flugschriften aus dem Süden und dem Norden ebenfalls vorkommen, meist jedoch nicht in dieser Konzentration. Dieser Umstand rechtfertigt ein längeres Zitat, um einen Einblick in die materiale Religionskultur zu bekommen, die der altgläubige Autor im Angesicht der Reformation als Proprium besonders herausstellt: Gegen Gott sollen wir diesen eusserlichen dienst uben mancherley weiss. Zum ersten ynn bekennung des glaubens, der warheit und verkündigung des heiligen Evangelii. Das erste erfordert er von uns allen… Das ander sind schuldig zuthun die hyrten der kirchen durch sich selbest odder andere geschickten… Zum andern mit dancksagung, lobgesang und mit mündlichem gebette… Zum dritten mit rauchopffer, kniebeugung, heubt neygung, auffhebung der henden, liechte brennen und vielen anderen deren gleichen ceremonien, welche alle uber das sie zu reverentz göttlicher maiestat geschehen, haben auch ihre geistliche bedeutunge… Auch sind noch viel andere ceremonien, die von der heiligen kirchen zu zier des eusserlichen gottsdienst, zur anreytzung der andacht, zur erynnerung göttlicher gutthat, auch des heiligen

930 Zur Person vgl. Bäumker, Wilhelm: Vehe, Michael. In: ADB 39 (1895). S. 529 f. 931 Vehe, Michael: Wie/ underschydlicher // weiss/ Gott vnd seine aus=//erwelten Heiligen/ von vns Christen sollen geehrt werden […]. Leipzig: Michael Blum 1532. VD16 V 490. Bl. A3r. Vgl. zum Stift und der Lage in Halle ferner Schrader, Querhamer (wie Anm. 417), S. 371–373. 932 Vehe, Gott und seine Heiligen (wie Anm. 931), Bl. A3v-B3r.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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lebens und leydens Christi und seiner heiligen verordnet, von welchen wir ytzund nicht wollen reden umb kürtze willen. Als da ist der gebrauch der fanen, der geweichten kleider, der gemalten und geschnitzten byldern Gottes, Christi, Marie, des heiliges [sic] creutzs und der abgestorben heyligen und anderer mehr der gleichen. Zum vierden mit leyblichen opffer und bawsteur zu auffrichtung und erhaltung der gottesheuser, der diener Gottes und auch der armen… Zum fünfften mit dem teglichen opffer des heiligen, hochwirdigen sacraments ym ampt der heiligen mess für die lebendigen und todten. Aber von diesem wir itzund nicht wollen reden, denn dis mit wenigen worten nicht mag ausgericht, wollens zur andern zeit sparen.933

Vehe beginnt seine Aufführung mit dem Hinweis auf die Pflicht eines jeden Gläubigen, den wahren (alten) Glauben zu bekennen. Diese Aufforderung zur öffentlichen Manifestierung der eigenen Haltung unterstreicht den distinktiven Gehalt, den das Folgende im sozialen Feld der Reformationszeit erhält. Gebete und Gesänge kommen an zweiter Stelle und deuten darauf hin, dass auch die erlaubten oder verbotenen Gebete und Frömmigkeitsformen zu einem Unterscheidungs- und Bekenntnismerkmal werden können. Dann zählt Vehe Zeremonien auf, welche die Sinne der Gläubigen ansprechen sollen oder ihnen zur Ehre Gottes körperliche Gesten abverlangen: der Duft von Weihrauch, Kniebeugen und Heben der Hände, womöglich zum Gebet, sowie das Anzünden von Kerzen. Einer eigenen Kategorie werden zugerechnet die Bilder, die Fahnen sowie die Gewänder, auf denen Abbildungen der Heiligen, Marias oder ein Kreuz zu sehen sind. Vehe spricht dabei nicht nur von der Präsenz, sondern vom Gebrauch dieser Gegenstände, also von ihrem liturgischen Einsatz durch die Priester oder die Laien. Durchaus ungewöhnlich ist die Erwähnung der Bausteuer. Abgaben, mit denen klerikale Einrichtungen oder Artefakte finanziert werden sollten, waren durch die Reformation stark in die Kritik geraten. Hier betont Vehe hingegen die Notwendigkeit dieser Steuern, um einen würdigen altgläubigen Sakralraum schaffen zu können. Das beschriebene materiale und rituelle Ensemble gipfelt schließlich im täglichen Messopfer. Auch in der Eidgenossenschaft wird das Repertoire an materialen und praktischen Distinktionen in seiner Vielfalt aufgegriffen. Doch es gibt auch kleine Verschiebungen im Vergleich zu mitteldeutschen Texten. Dies lässt sich gut anhand einer 1527 mutmaßlich in Straßburg gedruckten Flugschrift des Schweizer Priesters Johannes Buchstab belegen.934 Der Titel dieser Schrift führt bereits die ganze Fülle des inhaltlichen Programms vor Augen: Von Bekleidung der Priester, Lichter, Weihwasser, geweih-

933 Punkt sechs bezieht sich darauf, dass Gelübde und Eide zu halten seien. Schließlich seien auch gute Werke eine Form des äußerlichen Gottesdienstes. Vehe, Gott und seine Heiligen (wie Anm. 931), Bl. B3v–C3v. 934 Vgl. zum Folgenden Buchstab, Johannes: Uon becleidung // der Priester liechter weiwas//ser/ geweichtem saltz und eschen/ meßfrümen (so man nempt opffren) gesang/ vnd bildnissen/ so in der // Cristenlichen kilchen got zum lob vnd ze eer ge//brucht werden. Ein kurtze vnderrichtung uß götlicher geschrifft. [Straßburg] 1527. VD16 B 9055.

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tem Salz und Asche, Messfrommen, Gesang und Bilder eine kurze Unterrichtung aus göttlicher Schrift. Buchstab beginnt mit den Gewändern der Kleriker und begründet diese mit alttestamentarischen Traditionen sowie als Symbole für die Passion Christi. Er hebt dabei hervor: das Humerale, ein rechteckiges Leinentuch mit zwei Bändern, das über die Schultern gelegt und vor der Brust gekreuzt wird, wonach die über den Rücken geführten Bänder vorne zusammengebunden werden; die Albe, das liturgische Untergewand der Kleriker; das Manipel, ein Stoffstreifen, der am linken Unterarm angebunden wird; die Stola, ein streifenförmiges Tuch, das die Priester bei der Verwaltung der Sakramente und Sakramentalien überwerfen; die Kasel, das Messgewand der Zelebranten.935 Die Priester, die diese Kleidungsstücke weiterhin tragen, machen sich laut Buchstab bedauerlicherweise zum Gespött der Evangelischen – alte Kleidungstraditionen werden also distinktiv. Weiterhin betont der Autor das alte Herkommen und die Richtigkeit des Anzündens von Kerzen in den Kirchen. Dabei verweist er auf den Gegensatz zwischen Licht, Christus und Erkenntnis auf der einen und Finsternis und Sünde auf der anderen Seite. Hier handelt es sich um eine wiederkehrende, allgemeine Metapher für das Eigene und das Andere, das sich in diesem Fall mit einer konkreten Praxis verbinden lässt.936 In seiner Flugschrift kommt Buchstab auch auf einige Sakramentalien zu sprechen, nämlich geweihtes Wasser, Salz und Asche, die Schutz- und Reinigungsfunktionen hätten. Besonders vor dem Teufel könnten sich die Gläubigen damit schützen. Die geweihte Asche wird als Zeichen der Buße von einem Priester aufgetragen. Vor allem das Weihwasser und dessen vielfältige Anwendungen, sowie die geweihte Asche werden zu wichtigen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Altgläubigen und Protestanten. Diese Sakramentalien bergen ein großes Konfliktpotenzial, da sie tief und allgegenwärtig in der spätmittelalterlichen Volkskultur verwurzelt sind. Deshalb ist Buchstab nicht der einzige, der sich mit ihnen befasst. Auch der Frankfurter Dominikaner-Prior Johannes Dietenberger937 widmet diesen Sakramentalien einen großen Teil seiner Flugschrift Grund und Ursache, die er im Jahr 1526 veröffentlicht. Dietenberger verfasst den Text als Reaktion auf die Flugschrift zweier Nürnberger Pröpste, die gegen die Messe, das Altarsakrament, geweihtes Salz und Wasser und die alten Zeremonien angeschrieben haben. Diese Flugschrift widerlegt Dietenberger, wobei er

935 Vgl. zur Erklärung der Gewänder Hofhansl, Ernst: Gewänder, Liturgische. In: TRE 13 (1985). S. 159–167. 936 Vgl. Kap. I. 3. 937 Zur Biographie vgl. Trusen, Winfried, Dietenberger, Johannes. In: NDB 3 (1957). S. 667; Fabisch, Peter: Johannes Dietenberger (1475–1537). In: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1. Hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1984 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44). S. 82–89.



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ausführlich auf die geweihten Objekte eingeht.938 Diese dienen laut ihm dem äußerlichen Schutz der Gläubigen vor dem Teufel, dessen Wirken wiederum die lutherischen Pröpste durch ihre „Lästereien“ erleichtern wollen. Da bereits bei der Weihe der Name Gottes gegen Teufel, Gespenster und Fantastereien angerufen werde, dürfe aber kein guter Christ an der Wirksamkeit zweifeln. Zudem werden die Menschen und das Vieh durch den Einsatz von geweihtem Salz und Wasser vor Schadenzauber geschützt. Auch zur Vergebung der Sünden seien diese nützlich, denn zwar sind sie keine Sakramente, aber durch ihren Empfang und ihren alltäglichen Einsatz, etwa das Versprühen von Weihwasser, werden die Herzen der Menschen erhoben, zu Gott gelenkt und bekehrt. Ebenso sei das Wasser förderlich für gute Gebete.939 Dietenberger erläutert, dass Weihwasser zur geschickteren Verwaltung der Sakramente durch die Priester und zu einem besseren Empfang der Sakramente durch die Laien förderlich sei. Dann führt der Autor eine Reihe von Schutz- und Heilfunktionen gegen Krankheiten, pestilenzhaltige Luft und Unfruchtbarkeit von Land und Wasser auf. Um die Wirkmächtigkeit im Stile der mittelalterlichen Wunderbeweise zu untermauern, berichtet Dietenberger von einem Ereignis in der Dresdner Pfarrei des Hieronymus Emser, dem bedeutendsten volkssprachlichen Autor jener Jahre: In seyner pfar zu Dreßda in Myßner landt gelegen, ist eyn eyniger bron, der alle iare mit eynem geschwurm gifftiger wurm verunreynet wirt. Dan eß kommen der wurm als viel in den brunnen, des keyn mensch sich des wassers geprauchen durff aber mög, laessen sich auch mit nicht vertreyben als lang, biß man geweicht wasser uber sie sprenget, mit dem vertreybt man sie alleyn, und wert das wasser von stonden an gereyniget, von allen wormen entlediget und ieder man unschedlich zu trincken und zu geniessen… Welches wunder alleyn gnugsam ist, zu schweygen alle ketzer, so wider das geweicht saltz und wasser schreiben und reden, daß selbig als unnutz und untoeglich verspotten und unchristlich vewerffen.940

Wie es scheint, handelt es sich dabei um ein Wunder, das bis in vorreformatorische Zeiten zurückgeht. Die Einwohner kennen das Problem der Würmer, die alljährlich das Wasser des einzigen Brunnens verseuchen. Und sie wissen, wie man dem Unge-

938 Dietenberger, Johann: GRundt vnd vr=//sach/ auß der heyligen schrifft/ // wie vnbillich vnd vnredlich/ // das heylig lobsangk Marie // Salue regina/ Geweycht saltz vnd was=//ser/ Metten vnd Complet/ in etlichen Stet=//ten wirt vnderlassen/ verspott // vnd abgestellt. [Köln: Hero Fuchs] 1526. VD16 D 1483. Bl. D2r–F4v. 939 Die hier von Dietenberger propagierte Effizienz der Alltagsanwendung der Sakramentalien stützt nicht zuletzt die These von Danièle Alexandre-Bidon, der zufolge die Internalisierung des Christentums im Mittelalter weniger über Bilder in Kirchen, sondern mindestens ebenso so sehr über christianisierte Gegenstände und Gesten aus der Lebenswelt erreicht und verstetigt wurde. Alexandre-Bidon, Danièle: Une foi en deux ou trois dimensions? Images et objets du faire croire à l’usage des laïcs. In: Annales HSS 53 (1998). S. 1155–1190. Vgl. ferner Martin, Hervé: Croix rurales et sacralisation de l’espace. Le cas de la Bretagne au Moyen Âge. In: Archives de sciences sociales des religions (ASSR) 43 (1977). S. 23–38. 940 Dietenberger, Grund und Ursache (wie Anm. 938), Bl. E3v.

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ziefer durch Besprengen mit Weihwasser Herr wird: Sofort wird das Wasser klar und rein und kann von den Menschen der Gemeinde bedenkenlos getrunken werden. Das Weihwasser erfüllt seine in der spätmittelalterlichen Volkskultur eigentümliche Schutz- und Reinigungsfunktion. Im Jahr 1526 erhält das Wunder aber eine zusätzliche Sinnebene und argumentative Funktion: Die Wirksamkeit des Weihwassers wird zum Argument gegen die Lutherischen, die an der Kraft der Sakramentalien zweifeln. In Anbetracht dieses Wunders ist es für Dietenberger ein Leichtes, nochmal auf die Einsprüche der lutherischen Pröpste einzugehen. Denn deren Taktik bestehe darin, die Menschen schutzlos den Angriffen des Teufels zu überlassen. Auch das Argument, dass das Weihwasser von den Laien zu Zauberei und Missbräuchen verwendet würde, lässt der Dominikaner-Prior nicht gelten. Wenn Hundertausende Christen Weihwasser und Salz regelmäßig gut einsetzen, so fallen ein paar Missbräuche nicht ins Gewicht. Wegen dieser dürfe der nützliche und erprobte Brauch nicht abgeschafft werden. Im Gegenteil: Und darumb soll das geweicht saltz und wasser furter an in christlicher kirchen unverletz pleyben. Ich verhoff auch, keyn frommer Christ werd dyser untöglichen, betröglichen ursachen halb, durch die probst angezeygt, sie undter wegen lassen, sonder sich hochlicher flyssen, daz er sie beide offter und dicker dan byß her prauchen werd, damit er fur dem teuffel, seyner fantasey, gespenst und verfurung, des do sicherer und fur andern, droben angezeichten schaden des do meer behutet pleyb.941

Salz und Wasser sollen weiter in der Kirche bleiben, meint Dietenberger. Doch es handelt sich dabei nicht um eine einfache Kontinuität. Wie unter einem Brennglas wird sichtbar, wie sich eine im Spätmittelalter schlicht „normale“ Praktiken im frühen Reformationszeitalter auf altgläubiger Seite verändert. Die Sakramentalien stehen in der Kritik der Pröpste, die versuchten, die Christen davon abzubringen bzw. alternative Sinngebungen vorschlagen. Bei einem Teil der Christen funktioniere das, bei einem anderen Teil nicht. In Anbetracht der Differenz um Weihwasser und Salz eignen sich Zeitgenossen wie Dietenberger, die vordergründig beim alten Brauch bleiben, die Gegenstände und Praktiken doch neu an, da diese partikular werden und laut Dietenberger nun noch fester und kräftiger durchgeführt werden sollen. Im Zuge der Kritik und der distinktiven Funktion kommt es zu einer Verstärkung – und somit notwendigerweise zu einer (leichten) Veränderung – der Performanz: Die kritisierten Sakramentalien sollen „offter und dicker“ angewendet werden. Sinn und Praxis der religiösen Kulturformen werden aktualisiert und im sozialen Feld der frühen Reformationszeit neu platziert. Sakralräume wiederum werden über die Einrichtung, die liturgischen Objekte und deren Rezeption sowie über den Schmuck zu distinktiven Räumen. In seiner Verteidigungsschrift für die Stillmesse, veröffentlicht kurz nach dem Ende der Bauern-

941 Dietenberger, Grund und Ursache (wie Anm. 938), Bl. F4v.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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kriege, weist der Dresdner Hofkaplan Emser auf die räumliche Dimension der Kommunion und Eucharistiefeier bzw. deren aus seiner Sicht unehrenhafte Abschaffung hin. Der Grund für die Strafe in Form der vergangenen Aufstände liege im Abfall vom Glauben und vom Dienst an Gott. V. a. die Aufgabe des Messopfers und der entsprechenden liturgischen Handlungen am Altar hätten Gottes Zorn heraufbeschworen. Diese ideale Messe erhält in der Folge des Textes ihr Gegenstück: Das aber wir tewtschen, und sonderlich die luterische sect, von disem unserm alten glouben, so von den aposteln bis auff uns herkommen, schentlich abgefallen, alle cerimonien und gotsdinste, in sonderheit die heyligen mesß veracht, tzurstuckt und den alten brauch der christlichen kirchen gar abgethan und verendert haben, darff keyner beweysung, sonder beweyst sich selber, wann man alleyn ansicht ire kirchen und Gotes hewßer, wie unehrlich, wye schnöd und oed sie stehen, wie die altarien zurborchen, die crucifix und heiligen bilder tzerhawen, und aller geschmuck hinweg genommen, also das es ouch ym Theyn zu Prag vil christlicher dann bey den luterischen gehalten wirt.942

Für Emser bedarf es letztlich gar keiner rituellen Handlungen oder vieler Worte, um zu erkennen, wenn in einem Kirchengebäude das alte Messopfer nicht mehr durchgeführt wird. Der Blick auf die Gegenstände und die Aura eines Sakralraums ist ihm Beweis genug. Die lutherischen Kirchen repräsentiert Emser als schnöd und öd, d. h. viele Bilder, der Schmuck, die Figuren und alte rituelle Gegenstände seien verschwunden. Die Kirche erscheint schon auf den ersten Blick als ungeeignet, um darin das Messopfer zu zelebrieren. Der Raum wird somit zu mehr als nur zur Bühne des Unterschieds. Er repräsentiert denselben und produziert ihn. Das Bild scheint sich zu verfestigen. Johannes Cochlaeus äußert sich 1529 in seiner auf ein überregionales Publikum abzielenden Vermahnung an alle Christen und die Obrigkeit über die Früchte, die das neue Evangelium hervorbringe. Jeder, der nicht von dieser Sekte sei, könne mit Händen greifen, dass die Lutherischen nicht christlich, sondern türkisch und muslimisch seien. U. a. werde das dadurch bewiesen, „das sy die kyrchen tzerbrechen, berauben, oed machenn odder wie in ein hewschuyren wendenn“.943 Die Leere bzw. die zerbrochene und fehlende Sakralausstattung ist für Cochlaeus ein Charakteristikum der protestantischen Kirchen. Die Zuordnung von Sakralräumen erfolgt über haptische und visuelle Paradigmen. Die Kirchen der Anderen werden in altgläubiger Deutung desakralisiert und verlieren ihre Funktion als Ort, in dem Kontakt zur Transzendenz hergestellt werden kann. Sie werden zu gewöhnlichen Räumen wie ein Heuschuppen.944

942 Emser, Auf Luthers Greuel (wie Anm. 644), Bl. E1v. 943 Cochlaeus, Vemahnung an alle Christen und die Obrigkeit (wie Anm. 470), S. 1086. 944 Mit dieser Wahrnehmung steht Cochlaeus nicht allein da. Die opitische Differenzierung der Kirchenräume und der Konflikt darum ist in Europa ein bekanntes Phänomen in der Reformationszeit und darüber hinaus. Vgl. dazu in Auswahl Christin, Olivier: Le temple disputé. Les Réformes et l’espace liturgique au XVIe siècle, in: Revue de l’histoire des religions (RHR) 222 (2005). S. 491–508;

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Bemerkenswert ist, dass in der altgläubigen Textkultur stets eine ganze Reihe von distinktiven Praktiken, Gegenständen und Räumen aufgeführt wird und in der Präsentation zunehmend repetitiven Charakter erhält. Auch lassen sich bestimmte regionale Schwerpunktsetzungen und Alleinstellungsmerkmale erkennen. Doch selbst auf dieser Ebene werden nur sehr selten präzise Beispiel oder spezifische Details aufgeführt. Wie ist diese Homogenität bei gleichzeitiger Offenheit zu erklären?

4.2.3 Das weite Feld der Unterschiede: Fokussierung und Heterogenität Die Analyse der altgläubigen Flugschriften hat immer wieder ein Paradox aufscheinen lassen, das hier abschließend problematisiert werden soll. Die Autoren sind beim Schreiben ihrer Texte, bei der Wahl bestimmter Schwerpunktsetzungen und Tonlagen von den Orten und Regionen beeinflusst, in denen sie leben. So nicht alle Streitpunkte überall gleich und gleichzeitig bedeutsam. Dies hat sich etwa bei den Diskussionen der Kommunion und Transsubstantiation gezeigt: Der Laienkelch ist für sächsische Autoren der wichtigste Konflikt- und Differenzierungsmoment, für Autoren aus dem Süden des Alten Reichs und aus Frankreich wiederum die rituelle Inszenierung der Eucharistie und die Transsubstantiation.945 Doch Schwerpunktsetzungen sind nie exklusiv, oft wird die ganze Vielfalt der Differenzmöglichkeiten in diesem oder jenem Themenfeld einbezogen oder zumindest gestreift. Zudem neigen die altgläubigen Autoren kaum dazu, präzise Vorfälle der rituellen Praxis in einem bestimmten Ort oder religionspolitische Details der Mikroebene ausführlich zu diskutieren. Tendenziell bleiben sie auf einer allgemeinen Ebene. Auch die Persönlichkeit der Autoren spielt eine Rolle bei der Konstruktion der Bruchlinien in ihren Texten. Humanistische Reformer argumentieren anders als scholastische Traditionalisten, Lutherische werden anders angegangen als Sakramentarier und Zwinglische. Die altgläubigen Autoren streben dennoch eine überregionale Verstehbarkeit ihrer Texte an, womit die Nennung unterschiedlicher Distinktionsmerkmale bei gleichzeitiger Vagheit im Detail verbunden ist, um alle spezifischen Fälle vor Ort bei den potenziellen Rezipienten abzudecken. Auch die Leser und Hörer altgläubiger Flugschriften in Ulm oder Biberach sollen sich und ihre Kultur mit den spezifischen Herausforderungen grundsätzlich in Drucken aus Leipzig oder Dresden wiedererkennen können.

Krumenacker, Yves: Les temples protestants français, XVIe-XVIIe siècles, in: Chrétiens et Sociétés. Numéro spécial I (2011). http://chretienssocietes.revues.org/2736 (30.6.2013); Hacke, Daniela: Kommunikation über Räume. Religiöse Koexistenz in eidgenössischen Dorfkirchen der Frühen Neuzeit. In: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hrsg. von Gerd Schwerhoff u. Susanne Rau. München/Hamburg 2008. S. 280–305. 945 Vgl. Kap. I. 4.1.1.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

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Zudem unterscheiden sich die Felder der Repräsentationskämpfe im Alten Reich und Frankreich. Im Alten Reich wird eine große Anzahl an Kulturen und Objekten zu distinktiven und umstrittenen Kulturformen, etwa das heilsökonomisch belanglose Weihwasser, Wachsfiguren als Opfergaben für Heilige, das Aufstellen von Bildstöcken oder einzelne Stundengebete, aber auch die Messe oder die Bräuche rund um den Tod. In Frankreich hingegen ist die Fokussierung auf einige wenige Aspekte stärker, insbesondere auf Maria und die Frage nach der Substanz der Hostie. Andere Themenbereiche, v. a. die klassischen adiaphora, werden von den altgläubigen Autoren kaum aufgegriffen. Während Maria und die Heiligen sowie die Angriffe auf die Verbreitung lutherischer Schriften und der allgemeine Hinweis auf die „neue Häresie“ in den 1520er-Jahren dominieren, werden ab dem zweiten Drittel der 1530er-Jahre Debatten und distinktive Repräsentationen aus dem Themenbereiche der Transsubstantiation häufiger und wichtiger. Thematische Zuspitzung und chronologische Stringenz zeichnen die altgläubige französische Textkultur der Frühreformation aus. Die Brandherde im Alten Reich sind den Flugschriften nach zu urteilen vielfältiger und regional spezifischer. Auch tauchen sie in wechselnden Verbindungen und – im Vergleich zu Frankreich – früh, d. h. schon ganz zu Beginn der 1520er-Jahre auf. Eine große Zahl der Texte dürfte auch außerhalb der Produktionsorte gut verständlich sein. Was ich als Praktiken bezeichne, besprechen die Autoren als „Übungen“, „Bräuche“, „Gewohnheiten“ oder  – wenn der normativ-obrigkeitliche Charakter betont werden soll – als „Ordnungen“ und „Satzungen“. Eine auszugsweise und v. a. exemplarische Zusammenstellung aus Zitaten von unterschiedlichen Autoren mag die auffällige Repetitivität und Allgemeinheit dieses Kanons, auch über regionale Spezifika hinaus, veranschaulichen. Johannes Cochlaeus schreibt 1530 gegen einen ihm unbekannten lutherischen Autor, der Aussagen aus dem päpstlichen Recht zusammengestellt hat, um die Kongruenz der alten Rechte mit der neuen Lehre zu verdeutlichen. Dabei kommt Cochlaeus auf die Gewohnheiten der Kirche zu sprechen, die im Text zu Differenzmerkmalen mit den Lutherischen werden. Darunter fallen die Messe, das Tagzeitengebet der Kleriker, die Heiligen-Feiertage und die Fastentage. Cochlaeus nuanciert auch, dass überall in der Christenheit die allgemeinen Satzungen der Kirche gehalten werden müssten, lokale Übungen und Bräuche aber nicht überall verbindlich für alle seien.946 Der sächsische Prediger Michael Hillebrandt wiederum präsentiert in seiner 1535 erschienen Flugschrift 20 heilsame Lehren. Neben den Sakramenten und Gebeten führt er unter Punkt fünf die Zeremonien der Kirche auf, die unbedingt zu halten seien: Ein christliche lehr ists, das die cerimonien, gebreuche, ordnung und satzung der heyligen kirchen von einem itzlichen Christen sollen gehalten werden. Alle, die solche regeln christli-

946 Cochlaeus, Auf den Auszug übers Dekret (wie Anm. 670), S. 1193 f.

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cher zucht aus mutwillen und frevel ubertretten und für einen grewl (wie denn heute geschiet) achten, die sundigen tödtlich und erlangen yhnen selbs das ewig verdamnüs. Dorumb feyertag, fasten, procession oder creutzgeng, sampt andern seligen ubungen, so von gemeiner kirchen Gott zu lob und preyß und dem menschen zu anreitzung der andacht instituirt, zuhalten.947

Die Unterlassung dessen, was andere als adiaphora bezeichnen, die gemeinhin von den Theologen als nicht essenziell zur Erlangung des Seelenheils angesehen werden, erklärt Hillebrandt zur Todsünde, die geradewegs ins Verderben führe. Gleiches gilt für die Einhaltung der gebannten Feiertage.948 Dies ist nicht zuletzt Ausdruck der Bedeutungssteigerung dieser Praktiken für die jeweiligen Religionskulturen und deren Wiedererkennbarkeit. In der Beschlussrede einer weiteren, 1535 veröffentlichten Flugschrift zeigt Michael Hillebrandt, warum Gottes Zorn und Strafen, insbesondere der Einzug der Türken, die Menschheit ausgerechnet jetzt heimsuchen. Er wird bei den allgemeinen Gebrechen der Christenheit und bei der Ketzerei fündig. König Ferdinand habe kürzlich sogar ein Mandat ausgehen lassen, in dem er zu einem bußfertigen Leben aufforderte. Die richtigen Mittel dazu sind laut Hillebrandt das Gebet, Kreuzwege mit verschiedenen Stationen zur Verehrung und Andacht, Prozessionen und das Messopfer. Bei beständiger Ausübung dieses Ensembles an Praktiken sei die Linderung des göttlichen Zorns zu erwarten. Diesem Weg stellt Hillebrandt eine Aneinanderreihung evangelischer bzw. nachlässiger Praktiken entgegen, die das gute Vorhaben durchkreuzen. Der Autor klagt, dass Unterlassungen oder Abschaffungen etwa der Kreuzwege und Prozessionen, des Messelesens und der Sakramentsfrömmigkeit stattfänden. Zwei Motivationen macht Hillebrandt dafür bei den Evangelischen aus: Sie stehen mit ihrem Handeln außerhalb der Kirche – und richten sich gegen die Kirche.949 Er unterstellt den Protestanten bewusst abgrenzendes Handeln, verschweigt dabei aber, dass die Betonung und Affirmation der genannten Rituale als positive und gottgefällige Werke durch die Altgläubige ebenso instrumentalisiert werden, um die Zugehörigkeit zur alten, „wahren“ Kirche zu demonstrieren – und zu überprüfen. Johannes Cochlaeus äußert sich mit einer vergleichbaren Methodik 1529 in Verteidigung des bischöflichen Mandats zu Meißen. Das Mandat hält zur Einhaltung der altgläubigen Abendmahls- und Beichtregeln an. Luther reagiert gegen den Meißener Bischof mit einer Flugschrift, die nun wiederum Cochlaeus beantwortet. Dieser greift einen bunten Strauß an Unterscheidungskriterien auf, als er die Übereinstimmung

947 Hillebrandt, Letzte ferliche Zeiten (wie Anm. 549), Bl. A4v. 948 Zum Umgang mit der Nichteinhaltung von Feiertagsregelungen im Spätmittelalter vgl. Léauté, François: Le respect des jours chômés au XVe siècle. L’exemple de la Champagne. In: Revue d’histoire de l’Église de France (RHEF) 98 (2012). S. 5–23. 949 Hillebrandt, Michael: Wahrhafftige vrsach aller straffen vnd // vbels/ So vns in diesem Jamertal wi//derfaren/ Vnd wardurch wir demselbigen entfliehen // können. Dresden: Wolfgang Stöckel [1535]. VD16 ZV 22315. Bl. C2r–v.



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der Gebote des Papstes und der Kirche mit dem Gebot der Liebe zu Gott und den nächsten nachweist. Darunter führt er, jeweils kurz und allgemein gehalten, die 40 Tage Fastenzeit vor Ostern, das Fleischverbot an Freitagen und Samstagen, die Feier der Sonntage und Feiertage Christi, Marias und der Heiligen, das jährliche Beichten und Kommunizieren sub una specie zu Ostern ebenso an wie die Pflicht der Gläubigen, einmal pro Woche das Wort Gottes zu hören – was wiederum die von der neueren Forschung immer wieder herausgehobene Bedeutung der Predigt für die altgläubige Kultur unterstreicht.950 Weiterhin erwähnt Cochlaeus die Keuschheit der Priester,951 den Gehorsam der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten und die Pflicht, Gelübde zu halten.952 Johannes Eck fasst bereits 1526 in einer Schrift gegen die evangelische Bewegung in Konstanz die Differenzrituale nach der gescheiterten Disputation in der Stadt am Bodensee zusammen. Der Konstanzer Rat hatte von allen Prädikanten gefordert, nur das wahre Evangelium, ohne menschliche Zusätze, zu predigen. Dann müsste, hält Eck dagegen, in Konstanz aber auch die Feier des Sonntags und die Jungfrauengeburt abgeschafft werden. Beides sei in der Heiligen Schrift nicht wörtlich enthalten. Was dann folgt, ist eine Aufzählung der distinktiven Kristallisationspunkte, wie sie laut Eck in den Predigten in Konstanz zu Tage treten. Sie geben einen Einblick in die Vielfalt der Themen und lassen Rückschlüsse auf die Pluralität und Repetitivität der Nennung distinktiver Praktiken in den altgläubigen Flugschriften zu. Eck beginnt mit dem Hinweis, dass sich die evangelischen Prädikanten nicht an die genannte Ratsregel halten, denn sie verbreiteten nicht das reine, sondern das waldensische, hussitische, lutherische und zwinglische Evangelium. Blarer predige gegen die Realpräsenz im Sakrament und sei, gemeinsam mit anderen Reformatoren in Konstanz, gegen das Messopfer und gegen die Verehrung Marias und der Heiligen.953 Der Rat habe zudem angeordnet, alle Fabeln und „unnuützen Tant“  – gemeinhin eine evangelische Bezeichnung für eine undefinierte Reihe altgläubiger Rituale, Gegenstände oder Sakramentalien – sowie Verführungen zum Irrtum in den Predigten zu unterlassen. Für Eck ist dies blanker Hohn. Wie könne dann der Rat die ketzerischen Prediger, die er namentlich aufzählt, so offenlich und töglich darwider thund, stets wider die hailsame beicht, firmung, olung, wider fasten, feiern etc der heyligen christenlichen sacrament und satzung pillent wie die hundt,

950 Vgl. Frymire, Postils (wie Anm. 42); Taylor, Soldiers of Christ (wie Anm. 454); Taylor, Good Sheperd (wie Anm. 313). 951 Auch dieses Thema wurde in der aktuellen Forschung interkonfessionell beleuchtet, wobei besonders Antje Flüchter die lange Zeit auseinanderklaffenden Wertesysteme der Gemeinden und der Obrigkeit sowie die starke Verwurzelung der Pfarrer in den dörflichen Kontexten und Kulturen unterstrich. Vgl. Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44); Buckwalter, Priesterehe (wie Anm. 44). 952 Cochlaeus, Verteidigung des Mandats (wie Anm. 895), S. 918–921. 953 Eck, Ablehnung der Verantwortung (wie Anm. 556), S. 23–25.

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 4 Repräsentationen der rituellen Differenz

darmit die leut jämerlich von christenlicher zucht verfierent mit irem toben und wieten… das ist ewer predicanten ewangelium, das sy under dem banck herfirzogen haben; es stünd bas umb teütsche land, es leg noch hundert klafftern under der erden.954

Für Eck verlaufen die Unterschiede in Konstanz also neben der Eucharistie entlang von drei weiteren Sakramenten: Beichte, Firmung und Sterbesakrament sowie deren Vorbereitung durch Fasten und die Feiertagsregelungen. Es ist kaum zu überprüfen, inwiefern die genannten Themen den tatsächlich gehaltenen reformatorischen Predigten in Konstanz entsprechen. Deutlich wird aber: Sie sind selbst bezüglich des konkreten Falls der Reichsstadt am Bodensee recht allgemein gehalten. Es finden sich keine Spezifizierungen bezüglich präziser Probleme in den Sakralräumen, Auseinandersetzungen um die detaillierte Performanz bestimmter Praktiken oder konkrete Beispiele aus der gemeindlichen Praxis. Der Text wäre auch von Altgläubigen in Dresden oder München verstanden und mutmaßlich positiv bewertet worden. *** In diesem Kapitel wurden die Repräsentationen der rituellen und materialen Unterschiede und die Entstehung distinktiver altgläubiger Praktiken und Artefakte untersucht. Dabei wurde deutlich, dass insbesondere im Alten Reich eine Vielzahl von Kulturformen dem Differenzierungsprozess in Bedeutungszuschreibung und Performanz unterliegt, wohingegen in Frankreich eine stärkere Fokussierung auf einzelne Elemente der spätmittelalterlichen Theologie und Kultur stattfindet. Die Autoren müssen dabei die transregionale Allgemeinverständlichkeit ihrer Darstellungen mit den allerdings nur schwach ausgeprägten lokalen Spezifizierungen verbinden. Der evangelische Laienkelch bzw. dessen Ablehnung werden v. a. in den Flugschriften aus mitteldeutschem Kontext stark gemacht, während die Texte aus süddeutschem und französischem Kontext auch gesteigerten Wert auf die rituelle Inszenierung der Eucharistie legen. Der Hintergrund dieses inneraltgläubigen Schwerpunktunterschieds hängt mit der Ausprägung der jeweiligen Reformationsbewegungen zusammen. Luther lehnt den reformierten Symbolismus ab, macht dafür aber den Laienkelch besonders stark. Darauf reagieren die altgläubigen Autoren mit ihrem Abgrenzungsverhalten und machen jeweils graduell unterschiedliche Trennlinien stark. Vergleichbares ließ sich auch in den weiteren untersuchten Ritualrepräsentationen feststellen, darunter der Beichte, dem Fasten sowie den Praktiken in Verbindung mit dem „guten Tod“. Traditionelle religiöse Bedeutungen der Brauchtümer werden ergänzt durch distinktive Sinngehalte, da die in Frage stehenden Rituale nicht mehr von allen, sondern nur noch von einem Teil der Zeitgenossen durchgeführt und von vielen unterschied-

954 Eck, Ablehnung der Verantwortung (wie Anm. 556), S. 25.



4.2 Materiale Kultur und praktische Distinktion 

 277

lich gedeutet werden. So entstehen partikulare Deutungsgemeinschaften, an die sich die Autoren mit ihren Veröffentlichungen wenden. Für die Durchführung der alten Rituale sind Artefakte vonnöten, die vielfach die Kritik der Protestanten auf sich ziehen und teilweise zerstört bzw. im Zuge der Reformation ausgeräumt und weggeschafft werden. Die Altgläubigen bekräftigen die Bedeutung von Marien- und Heiligendarstellungen sowie die diesen angeblich gebührenden Devotionen, erläutern aber zugleich immer detaillierter, wie die Verehrungen zu erfolgen haben. Der „Schmuck“ in den Kirchen, die liturgischen Gegenstände und andere sakrale Objekte im Kirchenraum, aber auch an Wegesrändern und Häuserwänden bieten ein großes Konfliktpotenzial. Dabei betonen die Autoren, dass nicht nur die praktische Rezeption, sondern schon die Präsenz distinktiv und unterschiedlich gedeuteter Gegenstände in Sakralräumen deren Zugehörigkeit erkennen lässt. So unterscheidet sich laut Johannes Cochlaeus allein beim Betrachten der sakrale Wert der Kulträume: Handelt es sich um eine wahre Kirche – oder um einen lutherischen „Heuschuppen“

Fazit Altgläubige volkssprachliche Flugschriften sind eine wertvolle repräsentationsgeschichtliche Quelle, um an die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der frühen Reformationszeit und den damit zusammenhängenden kulturellen Praktiken heranzukommen. Die überregionale Verstehbarkeit der in der volkssprachlichen Flugschriftenliteratur aufgeführten Praktiken kongruiert mit den Netzwerkstrukturen der Altgläubigen. Im Alten Reich richten sich die Texte insbesondere der großen, viel schreibenden Autoren wie Eck, Cochlaeus, Emser oder Fabri an ein überregionales Publikum. Doch auch Texte von Autoren wie Buchstab, Dietenberger, Sylvius und Schatzgeyer folgen einem ähnlichen Verbreitungsmuster. Sie zirkulieren innerhalb des altgläubigen Lagers, sei es durch Verschicken, Kauf oder Vorlesen. Die Begriffe, Metaphern, Repräsentationen, Praktiken und Holzschnitte erreichen also ein Publikum, das vielfach bereits bestimmte Zugehörigkeiten hat. Freilich befinden wir uns noch ganz am Anfang der Konstruktion distinktiver Religionsgemeinschaften. Die Unterschiede sind vielschichtig, regional und zeitlich verschieden und unstet. Dennoch zielen die Texte auf ein spezifisches, altgläubiges Publikum  – und greifen deshalb Darstellungsformen und Haltungen auf, die in diesem Lager bereits präsent sind – andernfalls würden die polemischen Traktate nicht gekauft, vorgelesen und weiter verschickt werden. Um aber diesen zumindest nicht nur lokal rückgebundenen, sondern den vielfach regionalen und oft überregionalen Verbreitungen gerecht zu werden, dürfen die Autoren nicht allzu sehr in die rituellen und materialen Details gehen. Wie ich in den beiden folgenden Teilen dieser Arbeit zeigen werde, ist die tatsächliche Ebene der Distinktion und Konfrontationen im Alten Reich sehr viel präziser und kleinteiliger, aber auch äußerst heterogen. Dies versuchen die Autoren in den Flugschriften durch einen bestimmten Grad an Allgemeinheit auszugleichen, zumal die Argumentationen in den konkreten, im Anschluss zu untersuchenden Fällen den Argumentationen der Textkulturen häufig gleichen. Autoren und Akteure beziehen sich gleichermaßen auf das alte Recht, altes Herkommen, Gewohnheiten und deren heilsökonomische bzw. lebensweltliche Effizienz. Durch den Abgleich mit der sozial-religiösen „Realität“ in der Folge wird deutlich werden: Die altgläubigen Rezipienten in den Städten und Dörfern finden sich in der Weite und Vagheit eines Großteils der Flugschriften wieder. Auch in Frankreich passen die Struktur der Buchverbreitung und deren Inhalte bei den Altgläubigen zusammen und dürften sich, wie im Alten Reich, wechselseitig bedingen. Passend zur evangelischen Verbreitungs- und Erscheinungsform kontroverser Literatur sind die Textformate oft traditionelle Frömmigkeitsbücher mit punktuellen distinktiven Zuspitzungen und Reminiszenzen an die aktuelle Lage. Klassische Flugschriften sind rarer als im Alten Reich, dafür aber oft fokussierter auf bestimmte Streitpunkte. Dies betrifft v. a. die Heiligen- und Marienverehrung, gele-

DOI 10.1515/9783110492460-007

Fazit 

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gentlich das Fasten und die Beichte sowie die Eucharistie.955 Das Publikum wird medial und inhaltlich dort abgeholt, wo es durch evangelische Schriften und deren spezifische Formen als gefährdet angesehen wird. Dennoch würde auch in Frankreich ein zumindest in gewisser Weise dem Alten Reich vergleichbarer Effekt nicht überraschen: Lutherische lesen eher lutherische Literatur – Altgläubige eher altgläubige Literatur. Eine Artikulationsform wie im Alten Reich zwischen Allgemeinem und Präzisem in der Textkultur gibt es in Frankreich in durchaus vergleichbarer Art, denn auch dort greifen die Autoren äußerst selten spezifische Fälle heraus. Die Plakataffäre 1534/35 ist hierbei wohl eine  – wenngleich äußerst wichtige  – Ausnahme. Thematisch und chronologisch sind die Differenzmerkmale viel zugespitzter als im Alten Reich: Die 1520er- und frühen 1530er-Jahre sind besonders durch Fragen rund um den Marien- und Heiligenkult geprägt, dann kommen die Transsubstantiation und die Eucharistie als Streitpunkt hinzu. Die Begriffe und Bilder der Wahrnehmung des Eigenen und insbesondere der Deutungen des Anderen werden sich rasch in das kulturelle Gedächtnis der späteren Konfessionsgruppen einbrennen. Die Studie von Bernard Dompnier über katholische Polemiken und Geschichtswerke in Frankreich nach dem Toleranzedikt von Nantes beweist dies eindrucksvoll.956 Die Repräsentationen Luthers und anderer Reformatoren, allen voran natürlich von Calvin, sowie die Darstellungen der protestantischen Laien weisen dabei zahlreiche Metaphern, Deutungen und kontroversistische Verfemungen auf, die sich bereits in den 1520er- und 1530er-Jahren entwickelt haben – oder, genauer gesagt, weiterentwickelt haben. Denn die altgläubigen Autoren der Frühzeit der Reformation wenden häufig mittelalterliche Ketzerdeutungen, volkstümliche Kulturelemente und biblische Darstellungen an, die bereits vorhanden sind. Neben authentischen neuen Repräsentationen haben wir es also mit einer umfassenden Aktualisierung antiker und mittelalterlicher Darstellungskulturen des lateinischen Westeuropas zu tun, die in neuen sozialen Konfigurationen vielseitig angepasst, umkämpft und mit neuen Sinngehalten versehen werden.

955 Ein Sonderfall stellt dabei sicherlich die Diözese Meaux in der Mitte der 1520er-Jahre dar. Vgl. Veissière, Michel: Croyances et pratique religieuse à Meaux au temps de Guillaume Briçonnet (1525). In: RHEF 67 (1981). S. 55–59; Veissière, Michel: La vie chrétienne dans le diocèse de Meaux entre 1493 et 1526, d’après les synodes diocésains. Continuités et innovations. In: RHEF 77 (1991). S. 71–81. 956 Dompnier, Bernard: Le venin de l’hérésie. Image du protestantisme et combat catholique au XVIIe siècle. Paris 1985 (Chrétiens dans l’histoire).

Teil II: Praktiken der Unterschiede

Der Landsknecht Bruder Veit aus Thomas Murners Großem lutherischen Narren von 1522 kehrt als Kämpfer gegen die Not und für den vielversprechenden Martin Luther aus Frankreich ins Alte Reich zurück. Dort findet er indes einen lutherischen Bund vor, der seinen wahren Namen nicht sagen will und eine Reihe von Praktiken durchführt, die Veit seinerseits ablehnt. Andere Rituale und Glaubensinhalte wiederum, die der Bund abschafft, sind dem Landsknecht sehr wichtig. Dass er nicht zu den Lutherischen gehört, wird ihm anhand des Priesterzölibats, des Fastens, des Chorgesangs, der Flugschriften, des Glockenläutens und des Heiligenkults gewahr.957 In dieser literarischen Beschreibung Murners kristallisieren sich die religiösen Unterschiede um distinktive Rituale und die damit verbundenen Glaubenshaltungen. Die Praxis schafft und spiegelt gegensätzliche religiöse Überzeugungen und ist dabei mit divergierenden Zugehörigkeiten verbunden. Die Repräsentationen des Eigenen und des Anderen, wie sie in den Flugschriften der altgläubigen Autoren dargelegt werden, müssen von den potenziellen Lesern nicht nur verstanden, sondern auch im Großen und Ganzen angenommen und unterstützt werden. In der Natur von Kontroversliteratur liegt es zudem, dass die Rezipienten die Praktiken, Lebensweisen und Konfliktlinien, von denen sie in den Texten lesen und hören, wiedererkennen sollten. Sie erhalten Argumentationshilfen für ihre Glaubenskultur und sind mit den Begründungen aus den Pamphleten, die sie selbst in den Auseinandersetzungen vor Ort mit den Protestanten anwenden, gleichzeitig auch schon vertraut. Diese Funktionen und Inhalte der Flugschriften wurden im ersten Teil der Arbeit untersucht. Doch wie sieht die sozial-religiöse Realität der altgläubigen Christen aus – und wie korrespondiert sie mit den Repräsentationen? Im zweiten Teil dieser Studie untersuche ich anhand von fünf Fallstudien die tatsächlichen Bruchlinien und Konflikte sowie die daraus sich ergebenden Zugehörigkeiten der Altgläubigen im sozioreligiösen Feld der ersten beiden Reformationsjahrzehnte. Welche Praxis-Entwicklungen führen die Gläubigen zum Bewusstsein, nicht mehr nur Christen, sondern „alte“ oder „gute“, kurz: spezifische und näher zu definierende Christen zu sein? Mit welchen Wissensordnungen provozieren und deuten sie die praktischen Unterschiede? Wie heterogen oder fokussiert sind diese Entwicklungen und die kulturellen Konfliktfelder, die aus manchen mittelalterlichen Christen altgläubige Christen machen? Der vergleichende Ansatz zwischen der Reichsstadt Ulm, Ostwestfalen, dem östlichen Bayern mit Passau und Regensburg, Rouen sowie Paris wird dabei auf der Grundlage lokaler Tiefenbohrungen die beeindruckende Heterogenität der Kulturformen deutlich machen, die diesen Identitätswandel verursachen und spiegeln. Die Rituale, die etwa in Ulm zu Auseinandersetzungen und religiösen Spaltungen führen, stellen mitunter in Paris oder Bayern kein Problem dar. Was in Rouen die Partikularität der „alten Christen“ sichtbar macht, ist in Westfalen teilweise belang-

957 Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 162–165. DOI 10.1515/9783110492460-008

284 

 Teil II: Praktiken der Unterschiede

los für die altgläubige Distinktion. Darüber hinaus lassen sich frappierende Unterschiede bezüglich der Intensität und des Selbst-Bewusstseins der Altgläubigen in den verschiedenen Städten und Regionen ausmachen: Reaktion und Aktion sind nicht überall gleich gewichtet. Schließlich offenbaren sich mitunter stark auseinanderklaffende Chronologien der Unterschiedskonstruktion. Dennoch: Sie fühlen sich allesamt zugehörig zur in ihren Augen einen, alten und wahren Kirche. So zeigen sich auch Gemeinsamkeiten der Altgläubigen in den fünf Fallstudien, insbesondere was die Deutungen und argumentativen Begründungen ihres Handelns und Seins anbelangt. E pluribus unum? Ich greife über die konkreten Streit- und Differenzfälle auf die mit diesen in Verbindung stehenden allgemeineren und tieferliegenden altgläubigen Gemeinschaftsbildungsprozesse zu. Unterschiedliche Zugehörigkeiten entstehen über die Durchführung distinktiver Praktiken bzw. deren Ablehnung. Die Zugehörigkeit zu einer präzisen Gemeinschaft führt aber auch zur Ausübung der dazugehörigen Rituale, die somit nicht nur Grund, sondern auch Folge distinktiver Positionen im sozialen Feld der frühen Reformationszeit sein können. Die hier infrage stehenden Zugehörigkeitsbildungen sind noch äußerst situativ und fluide. Dauerhaft gefestigte Gruppen tauchen selten auf. Neben den Artikulationsebenen zwischen konkreter Praxis und allgemeiner Zugehörigkeit wird schließlich auch die Verbindung zwischen präzisen Kulturformen und deren Deutung einerseits und den Repräsentationsmustern in den altgläubigen Flugschriften andererseits thematisiert. Meine Untersuchungen konzentrieren sich auf den Gemeinen Mann unter starker Berücksichtigung des niederen Klerus, der auf dem Land von den Laien soziologisch und kulturell bei Weitem nicht so strikt getrennt ist wie zu Zeiten der Gegenreformation. Pfarrer und Prediger sind für die Bereitstellung eines Großteils des religiösen Angebots vor Ort zuständig. Deshalb untersuche ich im ersten Kapitel das religiöse Verhalten und das Angebot der altgläubigen Priester. Im zweiten Kapitel behandle ich die zentralen Sakramente des Spätmittelalters und die im Zusammenhang mit diesen stehenden adiaphoren, aber nichtsdestotrotz konfliktträchtigen Kulturformen wie Fasten oder die Verwendung von Sakramentalien. Kapitel drei befasst sich mit den Übergangsriten des christlichen Lebenszyklus. Der Anfang und das Ende des menschlichen Lebens zeigen sich dabei nicht nur als existenzielle Erfahrungen, sondern auch als Schnittstellen der religiösen Integration und Desintegration. Das gilt in gleich mehrerlei Hinsicht auch für Hinrichtung von Protestanten, die als Bühne für altgläubige Rituale und als letzte Chance für die verurteilten Ketzer zur Konversion von großer Bedeutung sind. Im vierten Kapitel untersuche ich schließlich die im Spätmittelalter tief verwurzelte Marien- und Heiligenfrömmigkeit im Hinblick auf die Konfliktformen, die sich diesbezüglich ergeben. Dabei werde ich zeigen, warum in manchen Regionen die Gottesmutter zu einem frühen und zentralen Symbol der altgläubigen Laienidentität wird.

1 Priester im Differenzierungsprozess Die Forschung der vergangenen 20 Jahre hat das Bild, das wir uns von den Pfarrern des 16. Jahrhunderts zu machen haben, gründlich revidiert und nuanciert. Für die Frühzeit der Reformation scheinen mir einige Studien besonders interessant zu sein. Mark R. Forster hat mit seiner 1992 veröffentlichten Untersuchung des religiösen Wandels im Hochstift Speyer gezeigt, dass sich die Gegenreformation auch anhand und vermittels des katholischen Klerus vollzog. War der spätmittelalterliche Pfarrer fest in die Dorfgemeinschaft integriert, folgte deren Normen und rekrutierte sich mitunter sogar aus dem Dorf, so ist der gegenreformatorische Klerus theologisch geschulter und achtet auf Distanz zu den Laien.958 Antje Flüchter hat sich in ihrer 2006 veröffentlichten Dissertation mit dem Zölibat der Kleriker in Jülich-Kleve-Berg befasst. Die Ergebnisse spiegeln allgemeinere Entwicklungen der Stellung des Klerus wider. Auch Flüchter betont die soziologische und kulturelle Integration der Priester in ihren Kirchspielen zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Kleriker teilen mit den Bauern gleiche Wertevorstellungen und müssen Erwartungen erfüllen, die sie v. a. als sakrale Dienstleister erscheinen lassen. In diesem Kultursystem stellen das Zusammenleben des Pfarrers mit seiner „Magd“ und selbst Kinder, die aus dieser Beziehung hervorgehen, für die Dorfbewohner kein Problem dar, solange sich der Geistliche an die allgemeinen Erwartungen der Gemeinde an einen Vater und Ehemann hält. Jedoch spielen nicht nur in der kirchlichen Norm Fragen der kultischen Reinheit eine nicht zu vernachlässigende Rolle.959 Werner Freitag hat bei seinen Untersuchungen über die Priester im Dekanat Vechta (Hochstift Münster) deren soziologische Zusammensetzung in der Frühzeit der Reformation analysiert. Freitag konnte zeigen, dass sich die Priester in einem komplexen Netzwerk aus dörflichen Honoratioren, Pfarrherren und eigener Familienherkunft orientieren müssen. Dabei entstehen im 16.  Jahrhundert regelrechte katholische Pfarrerdynastien. Ähnlich wie in der Arbeit von Forster wird deutlich, dass die altgläubigen Laien zumal vor der Reformation einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Besetzung der Pfarrstellen haben.960 Wie u. a. David Mayes in seiner

958 Forster, Counter-Reformation in the Villages (wie Anm. 32). Ähnlich Holzem, Andreas: Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800. Paderborn 2000 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33). S. 155–224. 959 Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44). Stephen E. Buckwalter hat in evangelischen Flugschriften die Priesterehe als offensiven und durchaus wagemutigen Bekenntnisakt herausgearbeitet. Vgl. Buckwalter, Priesterehe (wie Anm. 44); Buckwalter, Stephen E.: Konkubinat und Pfarrerehe in den Flugschriften der frühen Reformation. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996. Hrsg. von Bernd Moeller. Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199). S. 167–180. 960 Freitag, Dekanat Vechta (wie Anm. 232). Darüber hinaus existieren lokale Studien zum (altgläubigen) Klerus in der Reformationszeit auch aus anderen Regionen. Vgl. z. B. Scholz, Günter: Aspekte DOI 10.1515/9783110492460-009

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Studie über Landgemeinden in Nordhessen nachweisen konnte, bewegen sich Priester in Zeiten der Konfessionsbildung in einem besonderen Spannungsfeld zwischen Gemeinde und Obrigkeit. Für erstere müssen sie sakraler Dienstleister entlang eines vor 1650 laut Mayes keinesfalls konfessionalisierten Normensystems sein und auf religiöse Forderungen eingehen. Für zweitere fungieren sie als Vermittler neuer Kirchenordnungen vor Ort. Dabei bilden sich komplexe und variable Allianzen und Gegnerschaften, in denen Priester nicht zuletzt auch vermittelnd und überparteilich wirken können.961 Schließlich können sie zum Akteur in der religionsgemeinschaftlichen Differenzierung innerhalb der Städte und Dörfer werden, sich auf die eine oder andere Seite schlagen und diese mit oder gegen die Obrigkeit oder andere Teile der Gemeinde unterstützen.962 Für Frankreich nehmen Studien zu Priestern vielfach längerfristige Entwicklungen in den Blick. Prägend dafür ist sicherlich die von Gabriel Le Bras mitbegründete religiöse Soziologie, mit deren serieller Methodik etwa Pierre Chaunu die Umbildung des Klerus und dessen zunehmende soziologische und kulturelle Trennung von den Laien im Zeitalter der Reformen analysiert hat.963 Nicole Lemaître hat sich mit der Suche nach einer neuen Aufgabenbeschreibung der Priester als Reaktion auf den Antiklerikalismus des frühen 16. Jahrhunderts befasst. Die Gelehrten und Theologen diskutieren demnach über die Funktion des Pfarrers als volksnahem Prediger oder als sakralem Amtsträger, der sich durch Lebensstil, Bildung und die sakrale Aura dessen, der die Eucharistie feiert, von den Laien absetzen müsse.964 Darüber hinaus existieren lokale Studien, etwa von Michel Veissière, zur humanistischen Klerusreform in der Diözese Meaux,965 oder die Dissertation von Anne Bonzon zum Wandel des Priesterbilds, der priesterlichen Funktion und der sozialen Integration der Pfarrer in den Gemeinden in der Diözese Beauvais während des 16. und 17. Jahrhunderts.966

zur Situation des niederen Klerus in Innerösterreich während der Reformationszeit. In: Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Hrsg von Remigius Bäumer. Paderborn 1980. S. 629–640. 961 Mayes, David: Communal Christianity. The Life and Loss of a Peasant Vision in Early Modern Germany. Boston 2004 (Studies in Central European histories 35). 962 Vgl. von Greyerz, Religion und Kultur (wie Anm. 61), S. 69–71. 963 Chaunu, Temps des réformes (wie Anm. 10). 964 Lemaître, Nicole: Le prêtre mis à part ou Le triomphe d’une idéologie sacerdotale au XVIe siècle. In: RHEF 85 (1999). S. 275–289. 965 Veissière, Michel: Guillaume Briçonnet, évèque de Meaux, et la Réforme de son clergé. In: RHE 84 (1989). S. 657–672. 966 Bonzon, Anne: L’esprit de clocher. Prêtres et paroisses dans le Diocèse de Beauvais, 1535–1650. Paris 1999 (Histoire religieuse de la France).



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

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1.1 Pfründen und Obrigkeiten 1.1.1 Interaktionen mit der Obrigkeit Wenn wir altgläubige Priester bzw. Priester, die altgläubige Praktiken befürworten und anbieten, näher untersuchen wollen, gilt es zunächst, deren Verhältnis zur Obrigkeit in Betracht zu ziehen. Denn je nachdem, welche religiösen Überzeugen diese vorschreibt und durchzusetzen versucht, zeigen sich in den Fallstudien verschiedene Verhaltensmuster, die altgläubige Priester an den Tag legen. Die ersten hier behandelten Beispiele stammen aus der Grafschaft Lippe im Nordwesten des Alten Reichs und werfen ein bezeichnendes Licht auf konfrontatives Blockadeverhalten von Geistlichen gegen reformatorische Veränderungen. Nach dem Tod des altgläubigen Grafen Simon V. im Jahr 1536 folgt in Lippe ein längerer Prozess, der 1538 in den Reformationsbeschluss der Stände mündet. Auf dem zweiten, entscheidenden Landtag zu Cappel am 28. August beschließen die Ritterschaft und die Städte, „dat de pastoren alle to Dethmolde verschreven werdenn, vann den predicanten underricht to nemande, wo eth inn denn kerckenn geholden sall werden.“967 Die ins Auge gefasste Unterweisung sollen die Prädikanten Johann Tiemann und Adrian Buxschut, der Autor der neuen Kirchenordnung, vornehmen. Am 11. Oktober präzisiert der ständische Regierungsausschuss, dass nun erste Schritte zur Umsetzung der Kirchenordnung anstehen. Dafür sollen die Priester, wie vorgesehen, angeschrieben werden, um zum Regierungssitz nach Detmold zu kommen, wo ihr Glaube und ihre Predigten examiniert und ihnen die Kirchenordnung verlesen werden sollen. Im Anschluss würde man ihnen mitteilen, „wo se sych henforder myt ceremonien unnd anderen christlichen ordnungenn holdenn sollen“. Geleitet wird die Synode schließlich von Adrian Buxschut und einigen weltlichen Beigeordneten aus dem Adel und der Regierung.968 Die Ausgangslage für die lippische Priesterschaft ist damit klar: Wer der Vorladung Folge leistet, wird kaum umhinkommen, vor der evangelischen Obrigkeit und dem Prädikanten Buxschut zumindest äußerlich Zustimmung zur lutherischen Lehre und Glaubenspraxis zu signalisieren und in deren Umsetzung einzuwilligen. Die Präsenz bedeutet also auch eine symbolische Annahme des Luthertums. Deshalb wird ein Teil der Pfarrer aktiv und versucht, sich der Teilnahme an der Veranstaltung zu entziehen. Einige Kleriker entschuldigen sich persönlich bei den lippischen Befehlshabern. Hermann von der Wopper schreibt in einem Brief, er könne aus gesundheitlichen Gründe nicht selbst kommen, aber er werde seinen Kaplan schicken.969 Der Wahrheitsgehalt der Entschuldigung ist nicht zu überprüfen. Womöglich entzieht sich von der Wopper der direkten Konfrontation mit ihm missliebigen Normen und deren

967 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 43v. 968 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 47r. 969 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 64r.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Trägern, indem er einen untergeordneten Kleriker aus seinem Kirchspiel schickt. Dass die kurzfristige Absage religiöse Gründe haben könnte, legt nämlich eine ganze Serie gleichzeitiger Boykottbemühungen nahe. So entschuldigt sich Eberhard Holweye, Pfarrer von Ostschlangen, einem Kirchspiel im Süden Lippes, schriftlich am 24. Oktober mit dem Hinweis auf einen Brief, den er mitgeschickt habe.970 Zur Beurteilung derartiger Fälle bieten die Protokolle der ersten lutherischen Visitation durch Anton Corvinus im Jahr 1542 manchmal die Möglichkeit, Namen und die damit verbundenen Haltungen der Geistlichen ex post abzugleichen. Anders als von der Wopper findet sich Eberhard Holweye mit einer aufschlussreichen Bemerkung in diesem Protokoll: „Fuit insignis papista estque amotus, cum a papatu divelli nollet, functione“.971 Der Pfarrer wurde also als beständiger und uneinsichtiger Papist seines Amtes enthoben. Es darf angenommen werden, dass Holweye auch 1538 eine Haltung vertrat, die die Lutherischen als papistisch kategorisierten. Das macht das Fehlen bei der Detmolder Synode als gezielten Boykott eines altgläubigen Priesters erklärbar. Eine weitere Möglichkeit für die Geistlichen in Lippe, die entscheidende Reformationssynode zu umgehen, besteht im Verweis auf widersprüchliche kirchenrechtliche Einbindungen und der Appellation an die Instanzen der Diözese Paderborn. Am 22. Oktober schicken der Dompropst Philipp Spiegel, der Archidiakon von Steinheim, Rembert von Kersenbroick, und der Domküster Philipp von Twiste einen alarmierenden Brief an Dekan und Kapitel des Hochstifts Paderborn. Darin heißt es: Uns haven itliche der pastoren dusses stifftes, ock der herschup van der Lippe, in unser und der kercken Paderborn iurisdiction gesetten, ersocht und vorgeholden, welcher gestalt se von den verordenten befelhebbern tho Dethmolde erfordert sin, neistfolgende fridage in eigener personen tho Dethmolde tho erschynen, eyner niggen evangelisschen ordenunge halven, wo hen fort in oren parkercken myt ceremonien und andern goddesdensten geholden sulle werden, anthohoren. Des se dan nycht wal witten, wo se sick eren verwantnissen nach, dar in schicken sullen. Und darume uns als ore archidiaken und overicheit ersocht.972

Die Pfarrer wenden sich an den Domprobst, den Archidiakon und den Domküster als Besitzer der Patrozinien ihrer Pfarreien oder schlichtweg als Instanzen der geistlichen Autorität, der sie sich rechtlich zugehörig fühlen. Dabei argumentieren die Pfarrer mit einem Gewissenskonflikt zwischen den Bindungen an Lippe und die Diözese, die nun nicht nur rechtliche, sondern zusätzlich auch religionsgemeinschaftliche Unterschiede bedeuten. Spiegel, Kersenbroick und von Twiste urteilen, dass die lippische Kirchenordnung entgegengesetzt sei zu den Ordnungen der Kirche sowie zu den Edikten des Kaisers und des Reiches. Sie haben den Geistlichen deshalb von der Teil-

970 Holweye bittet darum, seine Abwesenheit und die Entschuldigung nicht ungünstig aufzunehmen. Auf den Brief wird gleich noch näher einzugehen sein. LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 63r. 971 Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 122. 972 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 61r.



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

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nahme abgeraten, schalten nun aber zusätzlich das Domkapitel ein und bitten dieses um Unterstützung und Vermittlung.973 Genau darauf dürften die Priester gehofft haben. Das Kapitel kommt dem Ansuchen in einem Brief nach Detmold tags darauf nach und bittet unter Hinweis auf die verzwickte Lage der Pastoren, mit diesen vorsichtig zu verfahren und sie nicht durch die neue Kirchenordnung gegen ihre Paderborner Obrigkeit und die Ordnungen des Reichs und der Kirche zu beschweren.974 Dieses rasche Eingreifen kommt auch Eberhard Holweye, dem altgläubigen Pfarrer von Ostschlangen, zugute. Er kann in seinem Entschuldigungsschreiben an die Befehlshaber in Detmold einen Brief beilegen, den er kurz zuvor von Dompropst Philipp Spiegel erhalten hat. Spiegel verbietet darin dem Pastor, den Forderungen der lippischen Obrigkeit nachzukommen.975 Der Boykott geht indes nicht immer von den Dorfpfarrern selbst aus, die dabei vom Domkapitel, dem Archidiakon oder ihren Patronatsherren unterstützt werden. Von außerhalb kann auch Druck auf die lippischen Geistlichen ausgeübt werden. Dies betrifft etwa das kleine Kirchspiel Hillentrup, das im Spätmittelalter Zentrum einer Bluthostien-Wallfahrt gewesen ist. Die dortigen Pfarrer werden vom Johanniter-Komtur aus Wietersheim im Hochstift Minden eingesetzt.976 Der Komtur Mathäus Brandt hat das Patronat über die Kirche inne und leitet daraus den Anspruch ab, über das Verhalten des von ihm bestellten Pfarrers zu entscheiden. Deshalb schreibt er am 30. Oktober 1538 an den Koadjutor des Erzbistums Köln, Adolf von Schaumburg. Der neue Gottesdienst, heißt es in dem Schreiben, entspreche nicht dem, was von der Kirche bestätigt wurde. Deshalb gebühre es den Pfarrer nicht, an der Versammlung in Detmold teilzunehmen  – und er, der Komtur, dürfe dies auch gar nicht dulden. Deshalb bittet er Adolf um Intervention, damit der Hillentrupper Pfarrer, Johann Kathemann, „bey denn altenn ceremonien und Gottis dienst,… auch bey der kirchen bleibenn mag.“ Auch er wolle mit seinem Orden bei den alten Zeremonien und Gottesdiensten sowie der alten Kirche bleiben.977 Unter Ausnutzung der fraktalen Strukturen des Alten Reichs – die explizit hinsichtlich ihrer Bedingungen und Folgen für die religiöse Auseinandersetzung an späterer Stelle untersucht werden978 – wird die direkte Konfrontation mit den Obrigkeiten gesucht und die Differenz durch das Nichterscheinen ausgedrückt.

973 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 61r. 974 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1., Bl. 62r. 975 Als Grund gibt Spiegel an, dass die evangelische Kirchenordnung der Ordnung der gemeinen christlichen – d. h. der alten – Kirche nicht entspreche. Zudem verweist er auf das Konzil, auf dem über Religionsfragen noch genug beraten werde sowie auf die Reichsgesetzgebung. Das Paderborner Kapitel werde Holweye bei den Befehlshabern entschuldigen. LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 68r. 976 Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 172; Angermann, Volksleben im Nordosten (wie Anm. 4), S. 170. 977 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 70r. 978 Vgl. Kap. III. 1.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Wie erfolgreich solche Boykottversuche in der Grafschaft Lippe mittelfristig sind, ist schwer zu sagen. Die Visitation von 1542 hat im Fall des Pfarrers Eberhard Holweye von Ostschlangen gezeigt, dass dieser die alten Praktiken auch vier Jahre nach der Reformation mehr oder weniger ungehindert bis zu seiner Absetzung ausüben konnte. Im Fall von Hillentrup ist die Beurteilung schwieriger. 1542 ist Kathemann immer noch im Amt und scheint die lutherische Lehre angenommen zu haben.979 Entweder hat er in den zurückliegenden vier Jahren seine religiöse Haltung geändert bzw. sich der lutherischen Kultur zumindest ein Stück weit angepasst, um seinen Posten behalten zu können. Oder der Komtur wollte den bereits 1538 lutherischen Geistlichen durch den Kölner Koadjutor zwingen lassen, weiterhin die alten Praktiken durchzuführen. Wie die folgenden Korrespondenzen u. a. zwischen Lippe, Paderborn und dem Kölner Koadjutor, zeigen, kehren die Probleme um Postenbesetzungen und die damit verbundenen Versuche, auf die religiöse Praxis der Stelleninhaber Einfluss zu nehmen, ständig wieder. Bis in die 1570er-Jahre bleibt das formelle Kirchsatzrecht in Lippe durch den Bischof von Paderborn bestehen. Zwar wird die Fortdauer altgläubiger Praktiken mit der zweiten Reformation zu Beginn des 17. Jahrhunderts erschwert bzw. endgültig unmöglich gemacht. Doch in manchen Ämtern mit besonders komplexen politischen und rechtlichen Strukturen und einem starken Einfluss des Hochstifts Paderborn halten sich altgläubige Kulturen langfristig.980 Der Boykott protestantischer Synoden sowie von deren Umsetzung zu Beginn reformatorischer Prozesse ist nur möglich, wenn Überlappungen und Vernetzungen von verschiedener Herrschaften vorhanden sind. Auch in Ulm ist das der Fall, wo sich die Stadtherren nach dem Reformationsbeschluss vom November 1530 zügig um Verhandlungen und Kompromisse mit auswärtigen Kirchherren bemühen. Vor allem Klöster aus der Nachbarschaft werden dabei zum Problem, da diese durch ihre Personalpolitik und häufigen Interventionen im altgläubigen Sinne bremsend auf den Prozess der evangelischen Kulturentwicklung im Ulmer Landgebiet einwirken.981 In Ulm finden seit 1531 regelmäßige Visitationen und Synoden zur Umsetzung der Kirchenordnung und zur Kontrolle der Sitten statt. Für eine Synode werden am 20. Februar 1532 aus jedem Ort des Territoriums mindestens der Pfarrer, ein Vertreter des

979 Corvinus zeigt sich zufrieden mit den Aussagen der Dorfbewohner über ihren Geistlichen, der kürzlich heimlich geheiratet hat. Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 120. 980 Prieur, Jutta: Beiträge zur Reformationsgeschichte Schwalenbergs im 16. und 17. Jahrhundert. In: Lippische Mitteilungen 50 (1981). S. 158–193; Sagebiel, Katholischer Gemeinden in Schwalenberg (wie Anm. 206); Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 130–137. 981 Es finden gleich nach Beginn der Reformation strukturierte Bemühungen statt, auswärtige Patronatsrechte abzulösen  – der Erfolg lässt jedoch oft länger auf sich warten, in den 1530er-Jahren dominieren Arrangements und Kompromisslösungen, sowohl bezüglich der rituellen Pflichten, als auch bezüglich der Einsetzung der Pfarrer. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 24–32, 104–118.



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

 291

Gerichts und einer der Gemeinde ins Ulmer Barfüßerkloster geladen.982 Als die Angehörigen des Dorfes Setzingen an der Reihe sind, fehlt der Pfarrer. Im Protokoll heißt es, er sei einer von denen, die sich am nächsten Montagnachmittag beim Bürgermeister melden sollen. Zudem wird ein gewisses Erstaunen über die Absenz deutlich, denn der Pfarrer habe eigentlich zugesagt, sich an die Kirchenordnung zu halten und hätte sogar die Neigung gezeigt, zu studieren, womit wahrscheinlich das evangelische Studium der Heiligen Schrift gemeint ist. Doch dann folgt die Erklärung des Vorfalls: Lehensherr des Pfarrers ist der Propst des Augustiner-Chorherrenstifts Herbrechtingen.983 Damit verfügen wir über ausreichende Indikatoren, um auf ein Ausbleiben aufgrund von religiöser Differenz zu schließen. Der Pfarrer könnte tatsächlich zwinglische Haltungen gezeigt haben, muss aber unter dem Druck des Augustiner-Propstes von der Teilnahme an der Synode absehen. Möglich ist auch, dass er den Ulmer Obrigkeiten nur formell die Einhaltung der neuen Ordnung zugesagt hat, um Schwierigkeiten zu vermeiden, ansonsten aber die alten Praktiken beibehält. Ein Vergleich mit den vorhergehenden und nachfolgenden Examen könnte weitere Aufklärung bringen, allerdings sind deren Protokolle für Setzingen nicht erhalten. Bei der Synode in Ulm im Juli 1537 ist der (unauffällige) Pfarrer dann anwesend, wobei nicht klar ist, ob es sich um denselben wie 1532 handelt.984 Doch in Ulm ist Boykott für renitente Pfarrer nicht der einzige denkbare Umgang mit der Vorladung zu Synoden. So kommt es auch während der Synoden zu oppositionellem Verhalten altgläubiger Priester im Angesicht der Vertreter der Obrigkeit. Das sicherlich beste Beispiel dafür ist Georg Oßwald, Pfarrer der in der Folge immer wieder für unsere Untersuchung bedeutsamen Stadt Geislingen, einer altgläubigen

982 Es findet für jede Pfarrei eine gemeinsame Befragung aller Geladenen und danach eine gesonderte Befragung statt, die oft brisantere Ergebnisse zeitigt. Die geladenen Vertreter der Gemeinde sollen nach den Anforderungen des Rats Evangelische sein, was bei der Analyse berücksichtigt werden muss. Vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 11–16. Zu den Beschlüssen und Entscheiden, die in der Folge von den Verordneten, dem Rat und den Herrschaftspflegern gefasst werden, vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 19–21. 983 Im Ulmer Entscheid zur offenen Befragung heißt es, dass „davon“ weiter geredet werden solle, wenn die Sache mit der Messe, die offenbar weiterhin in Setzingen gelesen wird, vor den Rat gebracht worden ist. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 77 f. Das Kloster Herbrechtingen hatte das Recht der Kirchensatzung außer in Setzingen auch in Weiler ob Helfenstein. Vgl. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 25. 984 Allerdings ist der neue Kollator der Pfarrstelle nach der Reformation in Württemberg Herzog Ulrich, der das Stift in ein Klosteramt mit einem protestantischen Propst an der Spitze umgewandelt hat. Das schloss freilich Konflikte nicht aus. Mitunter können sogar unter dem Verweis auf den auswärtigen Kollator in Süssen, einem weiteren ehemaligen Patrozinium Herbrechtingens, eine Reihe altgläubiger Objekte im Kirchenraum erhalten werden. Endriss, Synoden und Visitationen, 122–123; Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 109 f. Zum Kloster Herbrechtingen vgl. Zimmermann, Wolfgang: Augustiner-Chorherrenstift Herbrechtingen. In: Klöster in Baden-Württemberg. http://www.kloester-bw.de/kloster1.php?nr=744 (19.7.2014).

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Hochburg im Ulmer Territorium. Oßwald wurde um 1474 in Ulm geboren, studierte in Heidelberg und Tübingen und wurde in den Rechten promoviert. Ab 1509 ist er Pfarrer in Geislingen und unterstützt seine Gemeinde 1513/14 während deren Aufbegehren gegen die Ulmer Herrschaft, wodurch er in der Pfarrei solide verankert und anerkannt gewesen sein dürfte. Nach längerem Vorlauf und innergemeindlichen Spannungen setzt der Ulmer Rat in Geislingen 1527 einen zwinglischen Prediger ein, mit dem Oßwald fortan in dauerndem Streit liegt. Das Reformationsjahr 1531 sollte auch das Ende von Georg Oßwalds Tätigkeit in Geislingen bedeuten: Im Juli wird der Druck auf ihn so groß, dass er seine Pfarrei resigniert und nach Überlingen wechselt. Zuvor hat der altgläubige Pfarrer aber noch seinen großen Auftritt beim Priesterexamen in Ulm, für das am 7. Juni 1531 alle Geistlichen des Territoriums in die Reichsstadt berufen werden. Dort sollen die 18 reformatorischen Artikel verlesen und die Priester dazu befragt werden. Der Geislinger Pfarrer wählt nicht den Boykott, um seiner Ablehnung der evangelischen Lehre Ausdruck zu verleihen, sondern reist nach Ulm, um dort direkt seine altgläubigen Positionen vorzutragen und somit die Differenz auf der Synode selbst deutlich zu machen, wo er lange gegen die evangelischen Artikel argumentiert. Nach der Veranstaltung reicht er eine schriftliche Gegendarstellung von 72 Seiten ein. Der Ulmer Rat reagiert mit der Organisation eines weiteren Streitgesprächs am 27. Juni, das jedoch keine Einigung erbringt. Überhaupt spricht Oßwald dem Rat die Kompetenz ab, über seine theologischen Schriften und die Auseinandersetzung mit den reformatorischen Predigern zu urteilen.985 Rouen und besonders Paris liegen bezüglich der Rahmenbedingungen in einer Art Mittelfeld. In Frankreich, wo König Franz I. lange Zeit humanistisch-reformerische Perspektiven offen zu halten versucht und wo sich mehr oder weniger evangelische Gruppierungen etwa unter der Protektion von Margarete von Navarra halten können, geraten antievangelische Priester und Theologen mitunter in Schwierigkeiten, wenn sie ihre Haltungen öffentlich in Schriften und in Predigten ausdrücken und die Unterschiede forcieren. Denn damit manövrieren sie sich an den Rand dessen, was von der Monarchie an polemischer Schärfe geduldet wird. Ausnahmen gibt es nur etwa während der spanischen Gefangenschaft des Königs 1525/26 oder nach der Plakataffäre. Auch die Frage, ob der Hof in Paris weilt oder anderswo, ist von Bedeutung. Vielfach werden altgläubige Angriffe auf „lutherische“ Prediger auch als Angriff auf deren Schutzherren gewertet, etwa auf die Schwester des Königs oder deren Mann, den König von Navarra. Dabei kann es zu Vorfällen wie in der Fastenzeit 1533 kommen, als Margarete von Navarra einen evangelischen Schüler von Lefèvre d’Étaples, Gérard Roussel, im Louvre predigen lässt. Dazu strömen bis zu 5.000 Gläubige. Franz I. ist zu diesem Zeitpunkt in der Picardie, während in der Hauptstadt der König und die Königin von

985 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 205–210. Zur Ablehnung der Ulmer Obrigkeit als Richter im Glaubensstreit vgl. u. a. Stadtarchiv Ulm (StAU), A [8985], Bl. 39r.



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

 293

Navarra Hof halten. Auch andere evangelische Fastenprediger sind in der Stadt aktiv. Veranlasst durch die Theologische Fakultät starten deshalb sechs altgläubige Bakkalaureaten, darunter der Prediger François Le Picart, eine Kommunikationsinitiative, die auch auf Margarete abzielt. Le Picart soll Heinrich II. von Navarra als „Ketzer“ bezeichnet haben. Auch rituell gehen die Altgläubigen in die Offensive. Eine Novene wird organisiert, deren Teilnehmer lautstark ihre Anhängerschaft an das Papsttum demonstrieren. Noël Beda, der nach Ostern von Heinrich unter Hausarrest gestellt worden ist, bricht den Arrest und predigt in den Straßen von Paris, durch die er auf einem Esel reitet. Es entstehen Ansätze einer altgläubigen Volksbewegung. Die Reaktionen der Monarchie sind scharf, zumal die altgläubigen Prediger am Hof als Aufrührer und als gefährlich beliebt beim Volk gelten. Le Picart wird, wie die übrigen Prediger, mit Sprechverboten belegt und mit zwei weiteren altgläubigen Prädikanten aus Paris verbannt. Diese sind ein Bruder Mathurin und Noël Beda, der jedoch nicht wegen der Predigtstreitigkeiten exiliert wird, sondern da er in der Fakultät gegen die Scheidung des englischen Königs Heinrich VIII. Stellung bezogen hat. Kurz nach diesen Maßnahmen sind die Wände der Pariser Universität übersät mit polarisierenden Flugblättern. Als Le Picart die Stadt in Richtung Reims verlässt, begleitet ihn eine große Menschenmenge bis zum Stadttor.986 Andererseits kommt es auch zu Kooperationen zwischen altgläubigen Priestern und dem Hof sowie dem Pariser Parlament. Die Mutter des Königs, Luise von Savoyen, und der Kanzler Antoine Duprat stehen für eine orthodoxe Linie.987 Zum einen werden altgläubige Prediger gezielt eingesetzt, um an bestimmten Orten gegen die evangelische Kultur zu sprechen. So schickt Luise am 6. Oktober 1523 ihren Kaplan mit zwei Fragen in die Theologische Fakultät: Wie kann Luthers Doktrin in Frankreich eliminiert werden? Und wie können hochrangige Verdächtige ihre Namen reinwaschen? Noël Beda, der einflussreiche syndic der Fakultät, stellt Luise in Bezug darauf die Arbeit seiner Institution gegen das Luthertum vor und unterbreitet ihr Vorschläge für weitere Maßnahmen. Außerdem bestätigt er Vorwürfe gegen prominente Evangelische wie Louis de Berquin und den Reformer von Meaux, Lefèvre d’Étaples. Daraufhin setzt Luise die Pläne um, Prediger gegen lutherische Ideen und Kulturformen in die Provinzen Frankreichs auszusenden.988 Der anonyme Pariser Bürger berichtet in seinem Notizbuch wie folgt über die Entsendung: L’an 1523, en ce temps, le Roi et madame la régente, sa mère, par délibération de conseil, envoyèrent douze docteurs religieux des quatre ordres mandiennes par toutes les contrées de France et d’ailleurs, pour prêcher la foi catholique, pour abattre et annihiler les hérésies de Luther. Et,

986 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 406 f.; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 102 f.; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 201–203; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 46–52; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 258. 987 Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 234 f.; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 132. 988 Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 130 f.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

pour ce faire, furent pris des docteurs à Paris et ailleurs qui furent envoyés, les uns en Normandie, les autres en Champaigne, les autres en Picardie, les autres en Guyenne, les autres en Bourdeloys et Auvergne, autres en Lyonnois, autres en Languedoc et Daulphiné, et plusieurs autres lieux et leur fut baillé certaine somme d’argent pour aider à faire leur dépense et partirent en novembre.989

Es handelt sich also um eine zentral in Paris geplante Aktion, deren Initiative hier auch Franz I. zugeschrieben wird. Die Prediger sind Franziskaner, Dominikaner, Karmeliten und Augustiner-Eremiten, die finanziell für ihre Mission ausgestattet werden. Diese erstreckt sich auf alle Provinzen Frankreichs, was in dieser Form im Alten Reich kaum möglich wäre. Die Zahl 12 könnte die zu den 12 Aposteln analoge Rolle der Prediger versinnbildlichen. Die Bettelmönche haben eine affirmative und eine konfrontative Aufgabe, die miteinander verbunden sind: Sie sollen das Eigene herausstellen und das Andere bekämpfen. Vergleichbare Vorgehensweisen zur Bekämpfung der Häresie finden sich auch in der Kirchenprovinz Rouen. Dort werden Prediger in die Städte und Dörfer geschickt, in denen evangelische Kulturformen vorgefunden oder Predigten gehalten worden waren, um für die altgläubige Kultur und Lehre zu werben und gleichzeitig dem Volk die Grenzen der Orthodoxie deutlich zu machen.990 In vielen der beschriebenen Fälle geht es auch um die Besetzung oder den Verlust von Pfründen und Posten. Diese spielen insbesondere im Alten Reich während der frühen Reformation eine große Rolle und sollen deshalb in der Folge näher untersucht werden.

1.1.2 Posten und Pfründen Die Besetzung von Pfarr- und Prädikantenstellen ist bereits im Spätmittelalter ein wiederkehrender Konflikt. Territoriale oder städtische Obrigkeiten und Laien konkurrieren mit geistlichen Obrigkeiten, allen voran den Bischöfen und Prälaten, um Präsentations- und Einsetzungsrechte sowie um die Einkünfte aus den Stellen. Die Gemeinden oder Kirchspiele streben zusehends nach Einfluss bei Pfarrer- und Priesterwahlen, kommunale Institutionen stiften eigene Prädikaturen. Daneben steht ein Heer von Kaplänen und Vikaren, die als klerikales Proletariat schlecht bezahlt um ihren Lebensunterhalt kämpfen, gleichzeitig aber auch die kirchliche Infrastruktur vor Ort repräsentieren. In der Reformationszeit bekommen die traditionellen Streitigkeiten um Posten und Pfründen eine neue Bedeutung und werden vielfältig im Streit der Religionsgemeinschaften instrumentalisiert.

989 Bourgeois de Paris, Bd. 1 (wie Anm. 347), S. 135. 990 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268).



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

 295

Die Auseinandersetzungen spielen sich in einem variablen Kräftefeld zwischen Laien und Klerikern sowie Bürgern bzw. Bauern, kirchlichen Instanzen und Obrigkeiten ab. Um diese Zusammenhänge und das altgläubige Agieren darin zu untersuchen, beginne ich mit der Ulmer Fallstudie und ziehe erneut die Stadt Geislingen, in der mit Georg Oßwald ein profilierter Pfarrer zugange ist, als Beispiel heran. Trotz Oßwalds Wirken entstehen auch in Geislingen Differenzen innerhalb der Einwohnerschaft sowie evangelische Gruppen, die im Zusammenhang stehen mit dem Auftauchen eines mysteriösen „hinckenden luterischen predigers“ im Frühjahr 1526. Alarmiert von altgläubigen Bewohnern, schreibt der Vogt Kaspar von Freiberg den Herrschaftspflegern Heinrich Krafft und Sebastian Rentz, dass wegen des Predigers Aufruhr unter Auseinandersetzungen im Volk drohten. Der Evangelische trete in Wirtshäusern und im Bad auf und schüre Unruhe. Deshalb habe das Volk – d. h. diejenigen, die mit den Lehren des Neuen nicht einverstanden sind – den Vogt gebeten, in dieser Sache zu handeln und dafür zu sorgen, dass der Prediger wieder abziehe. Schon einmal war er vor Ort, zwischenzeitlich aber verschwunden. Ansonsten hätten die altgläubigen Geislinger den Vogt schon früher eingeschaltet, behaupten sie. Dann aber wurde der mysteriöse Prediger von Sigmund Berger, einem offenbar evangelischen Bewohner, wieder in die Stadt zurückgeholt. Es deutet sich an, dass die Geislinger zuerst selbst versucht haben, den Konflikt zu lösen. Erst als dies nicht gelingt und der Prediger erneut länger im Ort ist, wenden sich die Altgläubigen an den lokalen Repräsentanten der Obrigkeit. Dieser Schritt ist durchaus erfolgreich, denn der Vogt fordert den Prediger zum Verlassen der Stadt auf. Vorerst triumphiert also der altgläubige Gemeindeteile, der sich der lokalen Herrschaftsstrukturen bedient.991 Doch die Evangelischen in Geislingen lassen nicht locker. Nachdem sie beim Vogt kaum Unterstützung zu erwarten haben, supplizieren sie im Dezember 1526 und erneut im April 1527 an den Ulmer Magistrat.992 Dieser Schritt erscheint konsequent, da der Rat bereits zwei Jahre zuvor einen evangelischen Prädikanten in Ulm eingesetzt hat und sich gegenüber zwinglischen Ideen zunehmend öffnet. Eine solche Supplik – wie sie übrigens Gruppierungen auch anderer Gemeinden organisieren, etwa in Leipheim 1528993 – bleibt natürlich nicht geheim. In Geislingen wird deshalb nach der von 39 Personen (und sieben aus dem Nachbarort Kuchen) unterstützten Supplik auch die altgläubige Seite aktiv. Am 8. Januar 1527 schreibt Pfarrer Oßwald an den Ulmer Rat und bittet, „mir solliche untregliche bürde, darauss mer widerwertigkait dan frucht, frid und ainigkait meiner fursorg nauchvolgen wurd, nit aufflegen.“994

991 StAU, A [5421], Bl. 61r. Ob der hinkende Prediger dann sofort ausgewiesen wird, ist unklar. Zur Klärung dieser Frage müsste der vorgängige Brief der Herrschaftspfleger an den Vogt erhalten geblieben sein. Denn dieser schließt seinen Bericht mit den Worten: „Aber uff ewer schreyben will ich dem selbigen gleych furderlich mitt im [dem Prediger, M. M.] hanndlen.“ 992 Quellen ediert bei Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 211 f. 993 Vgl. StAU, A [5440], Bl. 49r–50v. 994 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 212.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Auch die kommunale Vertretung aus Bürgermeister und Gericht ergreift die Initiative und beschwert sich bei Vogt und Pfleger über die Supplik der Evangelischen. Die altgläubigen Geislinger wollen mit der Rückendeckung der lokalen Herrschaftsvertreter ein Bittschreiben gegen die Entsendung eines evangelischen Predigers verfassen. Dafür werden zwei Gesandte des Gerichts nach Ulm geschickt.995 Die Eingabe, die den Rat schließlich erreicht, ist datiert auf den 26. Januar 1527 und warnt eindringlich und mit ähnlichen Argumenten wie Oßwald vor der Entsendung eines neuen Predigers.996 Bittschriften an die Obrigkeit werden zu einem wichtigen Instrument für die Austragung religionsgemeinschaftlicher Differenzen. Allerdings nutzt dieses Instrument den Altgläubigen in diesem Fall nichts. Bestenfalls verzögern ihre Suppliken die Entscheidung des Ulmer Rats, der im April 1527 mit Paul Beck einen evangelischen Prädikanten in Geislingen einsetzt.997 Nach der Reformation in Ulm 1531 müssen sich deviante Priester auf Durchhalten bzw. wahlweise Dissimulieren verlegen  – oder von ihren Posten zurücktreten. Die Umsetzung der neuen Kirchenordnung wird durch die Synoden und Visitationen stärker kontrolliert als etwa in der Grafschaft Lippe. Der bekannteste Fall einer Resignation ist sicherlich Pfarrer Oßwald, der sich mit seiner offen kontroversen Haltung im Sommer 1531, zumal nach zwei Disputationen vor und mit der Ulmer Obrigkeit, nicht mehr im Amt halten kann. Er resigniert, ohne Zweifel aufgrund des Drucks der Herrschaftspfleger oder der Religionsverordneten.998 In Überkingen, einem kleinen Nachbardorf von Geislingen, kommt es ebenfalls zu einem Amtsverzicht aus Gründen abweichender Glaubensüberzeugungen. Pfarrer Jörg Eichelin bittet den Ulmer Rat am 24. August 1531 um einen neuen Pfarrer für seine Gemeinde. Seine Begründung lautet: Dann ich mich allters halben mit touffen och dem nachtmal des herren nit waiß in das new wesen zu richten. Da mit nun nichts versumpt werde, bitt und beger ich um Christus willen meine, ja ewer weyshait underthon diß orts mit einem tougenlichen pfarrer und mich daneben als ainen betagten gelepten mann mit zimlicher leibsnarung, die weyl ich sunst nichts hab noch weiß zu gewinnen, gnedicklich zu bedencken.999

Das Alter ist womöglich nicht der Auslöser für den Rücktritt von Pfarrer Eichelin, sondern nur der vorgebliche Grund, warum er sich den neuen Praktiken der Taufe und des zwinglischen Abendmahls nicht anpassen könne und um eine Pension nach seinem Rücktritt bittet. Auch sprachlich verdienen die Formulierungen nähere Beachtung. Denn während ein protestantischer Supplikant einen „evangelischen Prediger“ als Nachfolger gefordert hätte, wünscht sich Jörg Eichelin einen guten, geschickten

995 StAU, A [5421], Bl. 68r. 996 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 213. 997 Vgl. Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 207. 998 Vgl. dazu Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 208 f. 999 StAU, A [8985], Bl. 95r.



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

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und tugendhaften Pfarrer. Hier handelt es sich um einen weiteren, freilich in der Supplik an Ulm dissimulierten Hinweis auf die altgläubige Zugehörigkeit des Pfarrers, für den – wie im Fall von Oßwald – der Raum der Möglichkeiten zu klein geworden scheint. Auch in der Grafschaft Lippe finden nicht nur Absetzungen nach der protestantischen Visitation durch Anton Corvinus 1542 statt. Es kommt darüber hinaus auch zu Resignationen, die dem Unwillen der betroffenen Kleriker geschuldet sind, sich den Bedingungen der neuen Kirchenordnung und der lutherischen Lehre anzupassen. So hält es etwa Liborius Schmidt, dessen Fall aus dem Konzept einer Urkunde vom 25. März 1539 hervorgeht. Schmidt ist Pfarrer der Kirche St. Martin in Blomberg, wo er allerdings nicht residiert, da er gleichzeitig Kanoniker an der Busdorfkirche in Paderborn ist. Das wird zum Problem, denn die neue lippische Kirchenordnung verlangt die Präsenz der Pastoren in den von ihnen betreuten Gemeinden. Schmidt resigniert von seiner Stelle und übergibt sie Johann Meyer, dem Sekretär der bereits reformierten Hansestadt Lemgo. Für den Verzicht handelt er immerhin eine jährliche Zahlung von zehn Goldgulden bis an sein Lebensende heraus. Die Landstände Lippes stimmen dieser Vereinbarung im Namen der minderjährigen Grafen und der Patronatsherren zu, „darmede dan Godes erhe gefordert unnd de inwonner thom Blomberge myth dem Evangelio gotlicher warheit und anderer christlicher nottrufft [sic] versorget.“1000 Liborius Schmidt zeigt sich hier als ein Pfarrer, der sich offen gegen die Bestimmungen der lutherischen Kirchenordnung stellt, allerdings nur, was die Residenzpflicht anbelangt. Seinen Rücktritt lässt er sich dank seines Verhandlungsgeschicks vergolden. Die wiederkehrenden Hinweise der Ständeverordneten auf die evangelische Haltung Meiers und die Zuversicht, dieser würde das Volk ausreichend im Wort Gottes unterrichten, können jedoch Anzeichen für eine tiefer liegende Differenz sein, zumal vergleichbare Qualifizierungen Schmidts als dem Wort Gottes zugeneigter Prädikant fehlen. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass Blomberg eine der zögernden Städte beim Reformationsbeschluss der Stände 1538 gewesen ist. Mithin dürften dort altgläubige Neigungen zumindest in der bürgerlichen Führungsschicht durchaus vorhanden gewesen sein. Womöglich ist die Nichtresidenz des Paderborner Kanonikers für die lutherischen Obrigkeiten der Grafschaft nur ein Hebel, um den altgläubiger Priester von seiner Pfründe zu entfernen. Johann Meier ist zudem nicht irgendein evangelischer Seelsorger: Er wird innerhalb kürzester Zeit zu einem der Vorzeigepastoren der lutherischen Grafschaft werden.1001 Aber nicht überall gelingen derartige

1000 LAV NRW OWL, L 66, Nr. 52, Bl. 2r-4v. 1001 Bei der Visitation von 1542 wird er in Blomberg mit dem Vornamen Konrad aufgeführt. Das Zeugnis, das der lutherische Corvinus nach dem Examen über den verheirateten Pfarrer und Vater mehrerer Kinder ausstellt, gehört mit zu den besten der Visitationsreise: „Vir doctus, facundus, flagrans amore promovendae pietatis concrediatarum omnium, pastor egregie diligens.“ Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 123. Nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg wiedersetzte sich Meier dem Interim und wurde nach einer Visitation durch den neuen Pader-

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Arrangements. In Detmold und Horn werden die altgläubigen Pfarrer fürs erste nicht ersetzt, sondern bekommen lutherische Prediger – Hermann und Gerhard Cotius – als Kapläne zur Seite gestellt.1002 In der Reichsstadt Regensburg stellt sich die Lage anders dar als in Ulm. Die Stadt liegt in erdrückender Nachbarschaft zum altgläubigen Bayern und hat einen habsburgischen Reichshauptmann vor Ort, weshalb die Möglichkeiten des Rats, offen die lutherische Bewegung zu fördern, lange Zeit begrenzt sind. Dennoch sind die zunehmende Differenzierung der Zugehörigkeiten in der Bürgerschaft und das Anwachsen der lutherischen Kulturformen in den 1530er-Jahren unübersehbar. Einer der Ausgangspunkte reformatorischer Bestrebungen ist das Kloster der Augustinereremiten. Zwei Mönche des Konvents, Prior Georg Teschel und Leonhard Kallmünzer, halten 1534 lutherische Predigten und setzen damit das politische Räderwerk der Altgläubigen in Bewegung.1003 Die bischöfliche Verwaltung ist rasch auf die unerlaubte Predigt aufmerksam geworden. Am Dienstag nach Ostern 1534 wird Teschel von Johann Granigl, dem Vikar des Administrators Johann III. von Regensburg, aufgesucht und aufgefordert, die Verkündigung einzustellen. Der Augustiner-Prior verfasst daraufhin eine Supplik an den Rat mit der Bitte, diese an den Administrator weiterzuleiten. In dem Schreiben verteidigt sich Teschel, seine Predigten seien nur zur Ehre Gottes und zur christlichen Unterweisung der Bürgerschaft geschehen. Um Gottes Wort und die Wahrheit weiterhin gegen die Irrtümer verkündigen zu können, bittet Teschel um die Förderung seiner Predigt.1004 Johann III. erklärt daraufhin dem Regensburger Rat, dass sich die beiden Augustiner des Ungehorsams schuldig gemacht hätten und gegen den alten christlichen Glauben, dessen Zeremonien und Gebräuche sowie gegen den Reichstagsabschied gepredigt hätten. Ihre Worte seien vergiftet und würden zu Ärgernis führen. Deshalb solle der Rat die Supplik ablehnen und die Predigten künftig verhindern.1005 Drei Wochen später antwortet der Rat und beteuert, er wolle keinesfalls, dass in Regensburg gegen den wahren Glauben und die Gebräuche geredet werde. Die Ratsherren geben zwar zu, dass „nitt aller ding mitt allen maynungen etlichen alten bißhere beschehen leren vergleichen“. Doch diese Meinungsverschiedenheiten seien auch schon auf den Reichstagen erfolglos diskutiert worden. Gegen die Ausbreitung ketzerischer Sekten helfe nur die Predigt des unverfälschten Evangeliums.1006 Damit dürfte der Rat versucht haben, Teschel zu decken. Johann III. wendet sich in dieser Situation

borner Bischof Rembert von Kerssenbrock als einer der wenigen Pfarrer aus dem Dienst entlassen. Vgl. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 134. 1002 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 132. 1003 Vgl. dazu besonders Kap. III. 1.1. 1004 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR), Ordinariatsarchiv Gen., 2472, Bl. 3r-v. 1005 BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 4r-v. 1006 Die Schlussformel des Schreibens stellt vage ein Handeln gegen diejenigen in Aussicht, die sich gegen die Belehrung der Obrigkeit sperren. BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 5r-6v.



1.1 Pfründen und Obrigkeiten 

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an den Herzog von Bayern und den Erzherzog von Österreich, König Ferdinand, die erfolgreich Druck auf den Rat ausüben, damit die lutherische Predigt in Regensburg beendet wird. Bis Dezember werden die beiden Augustiner der Stadt verwiesen.1007 Der ausgewiesene Georg Teschel hatte in seiner Supplik betont, dass er zu der Predigt von mehreren Bürgern aufgefordert worden sei. Offenbar entspricht dies der Wahrheit. Denn 1535 formiert sich eine Gruppe lutherischer Bürger, die in einer Bittschrift an den Rat einen evangelischen Prädikanten fordert.1008 Der Rat wendet sich am 28. Juni an Ferdinand und trägt ihm die Bitte um einen evangelischen Prediger vor.1009 Der Habsburger reagiert abschlägig und verweist auf den zuständigen Bischof sowie auf das Wormser Edikt.1010 Rhetorisch geschickt wird im Folgenden Regensburger Bittschreiben an den Bistumsadministrator eingangs über die Irrtümer bezüglich der Taufe und der Substanz des eucharistischen Sakraments geklagt. Durch diese Abgrenzung von den Täufern und dem symbolischen Abendmahlsverständnis versucht der Rat, voreiligen Ketzereivorwürfen vorzubeugen. Schuld an den genannten Irrlehren sei der Mangel an christlicher Predigt, die sich aber nicht allein auf die Verteidigung des Alten beschränken dürfe. Nunmehr wollen sich in Deutschland nur noch wenige „mit fürwendung einichens langen ader alten gebrauchs unnd herkhommens, wider die hellen unnd lauttern wort deß heiligen Evangelii, zu richten, bereden oder weißen lassen“. Deshalb bittet der Rat den Administrator, einen oder mehrere erfahrene Prediger auszuwählen, die das Wort Gottes und die christliche Wahrheit predigen, das Volk vor falschen Übungen bewahren und das Altarsakrament gemäß der Einsetzung Christi, d. h. sub utraque specie, austeilen.1011 Wie im Vorjahr wendet sich Bistumsadministrator Johann an die Bayernherzöge und nun außerdem an den Bischof von Freising, den Administrator von Passau und den Erzbischof von Salzburg. Nach einer langwierigen politischen Kommunikation ist das Ergebnis allerdings vorerst unverändert: Die Einrichtung einer lutherischen Prädikatur in Regensburg wird verboten. In altgläubigen Gebieten ist die Lage orthodoxer Priester ungleich komfortabler. Die Performanz ihrer Rituale und der Inhalt ihrer Predigten entsprechen zumin-

1007 BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 7r. In ihrer Antwort belobigen die Bayernherzöge das Handeln des Rats und fügen mahnend hinzu: „Ir werdet der gleichen neurung und eindringen neuer predicanten und leren hinfür mit zeitlicher fürsehung enthalten.“ Vgl. Bl. 8r. 1008 In der Eingabe wird die Forderung damit begründet, dass die Menschen wieder dem wahren Evangelium folgen müssten, um Gottes Zorn abzuwenden. Und dafür brauche man einen entsprechenden Prediger, den es in Regensburg bisher nicht gebe. Deshalb fordern die Bürger den Rat auf, sich nach einem geeigneten Mann umzusehen. Unverhohlen drohen die Supplizierenden damit, dass die städtische Obrigkeit andernfalls beim Jüngsten Gericht wegen ihrer Untätigkeit Rechenschaft ablegen müsse. Stadtarchiv Regensburg (StAR), Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 335–344. 1009 StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 353–360. 1010 StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 367–370. Brief vom 28. Juli 1535. 1011 BZAR, OA, Gen., 2515, Bl. 1r-3v. Die Abschriften aus dem Stadtarchiv Regensburg geben irrtümlich den 30.8. als Datum des Schreibens an.

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dest im Grundsatz den obrigkeitlichen Normen. Deshalb ist ihre Sichtbarkeit in den Quellen, in denen der Fokus auf der Suche nach protestantischen Geistlichen liegt, eher gering. Das muss jedoch nicht gleichbedeutend sein mit einem weniger entwickelten Zugehörigkeitsbewusstsein. Denn zu den Klerikern in diesen Regionen gelangen Berichte und Gerüchte über „Priesterverfolgungen“ und Vorgehen gegen Pfarrer und Mönche im Rahmen der evangelischen Bewegung – Berichte, die insbesondere in den Flugschriften zu finden sind. Manche altgläubigen Priester erlangen darüber hinaus überregionale Bekanntheit, etwa der bereits mehrfach erwähnte Geislinger Pfarrer Georg Oßwald. Die Nachricht von Oßwalds erzwungener Resignation im Jahr 1531 erreicht sogar Kilian Leib, den Prior des Augustinerklosters Rebdorf im Hochstift Eichstätt. Er erfährt von dem Vorgang durch seinen Freund, den Eichstätter Domherrn Kaspar von Hirnheim. Dieser habe folgendes berichtet: „[Q]uendam rusticum senatui Ulmensium, qui furia haeretica perciti imagines sanctorum exturbaverant, dixisse: Vos nobis rusticis nostros libros et litteras abstulistis, imagines et picturas dicens, quod etiam „De consecratione“ dist. 3. cap. „Perlatum“ docetur. Et haec forsitan rusticus a catholico viro pastore Geyslingensi audierat, quem iidem Ulmenses haeretici hac aestate civitate Geyslingensi exegerant.“1012 Altgläubige Gruppen kommunizieren demnach miteinander über konkrete Vorkommnisse in anderen Gegenden sowie über das Schicksal der dortigen Reformationsgegner. Allerding ist die Quelle Hirnheims unbekannt. Der Bauer, der dem Ulmer Rat wegen des Ausräumens der Heiligenbilder die Stirn geboten habe, greift auf eine Begründung für den Heiligenkult zurück, der sich auch im kanonischen Recht wiederfindet: Der Rat nehme den illiteraten Bauern ihre Bücher und Buchstaben, wenn er ihnen die Bilder nimmt. Dieses Argument führt Hirnheim auf den Pfarrer von Geislingen zurück. In dessen Predigten habe der Bauer vielleicht dergleichen gehört und dann gegen die ketzerische Obrigkeit angewendet. Dass Hirnheim die Geschichte des Ulmer Bauern mit dem Geislinger Pfarrer Oßwald in Verbindung bringt, zeugt von dessen überregionaler Bekanntheit. Diese dürfte er insbesondere seiner Vertreibung zu verdanken haben, die Hirnheim in seinem Bericht ebenfalls erwähnt. Derlei Berichte vermischen sich im kulturellen Wissen auch der Gruppen und v. a. der Priesterschaft in altgläubigen Territorien zu einer Gemengelage der Bedrohung, die für ein diffuses Gefühl der Unsicherheit sorgt und den Klerikern zeigen dürfte, dass ihr religiöses Denken und Handeln nicht mehr allgemein akzeptiert ist. Doch wie genau entstehen bei Klerikern altgläubige Zugehörigkeiten und wie äußern sich diese in der sozialen Interaktion?

1012 Schlecht, Briefwechsel und Diarien (wie Anm. 179), S. 110.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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1.2 Zugehörigkeiten der Priester 1.2.1 Distinktives Verhalten und Erkennen Das Entwickeln und Bezeigen partikularer Zugehörigkeiten sowie deren Wiedererkennen sind Vorgänge, die auf konkrete Situationen und soziale Konfigurationen bezogen sind. Es handelt sich um im Detail einmalige Figuren in Raum und Zeit, die auf repetitiven Praxismodellen und deren unterschiedliche Deutungen in bestimmten Gruppen rekurrieren. Deshalb bietet es sich in einem ersten Schritt an, Erlebnisse von Zusammengehörigkeit und von Ausgrenzung sowie von Entsprechung und von Abweichung aus Selbstzeugnissen altgläubiger Priester und Mönche zu rekonstruieren. Dazu ziehe ich das Tagebuch des Laienbruders Göbel Schickenberge aus dem im Hochstift Paderborn gelegenen Augustiner-Chorherrenstift Böddeken heran und zudem die Berichte des Messpriesters Heinrich von Pflummern aus der Reichsstadt Biberach, südlich von Ulm gelegen. Bruder Göbel ist als Vogt seines Klosters viel auf Reisen und erlebt die Reaktionen der Lutherischen in anderen Städten auf seine Erscheinung – Reaktionen, auf die er reagiert und sein eigenes Verhalten auf mehrerlei Arten anpasst. Auch liefert Göbel aufschlussreiche Wahrnehmungen der Reformation. So berichtet er von einer Reise in die Bischofsstadt Paderborn am 19. Juni 1525: Item ick geynck uit Paderborn des maindaghes nach sant Vitus dage unde wolde tho huiss gain, als ick vacken ghedain hatte in XXIIII jaren. So saten lude in dem portehuisse unde droncken. Off se de porten warden off nich, ist my unbekant. Do se my sagen, so reppen se alle gelik an: „O, o, o, monick, wolff, wolff!“, wat se roppen mochten. Ick hebbe maniche stat unde dorper bewantert, et en ist my nicht mer gheschein, aver eyns hirbevoren in der vasten quam ick van Bruinswick; aldus steydet nu leyder in der werelt. Ick vrochte, et si allet unsser sonden scholt. Got de helpe uns, dat wy vorduldich sin unde bliven went an unssen ende, dat wi salich werden. Amen.1013

In der Stadt Paderborn ist die evangelische Bewegung zu diesem Zeitpunkt noch vergleichsweise jung. Flugschriften sowie der 1524 veröffentlichte westfälische Katechismus von Johannes Westermann führen zur Verbreitung lutherischer Ideen. Der Minoriten-Konvent entwickelt sich zum personellen und intellektuellen Zentrum der neuen Bewegung. Göbels Besuch liegt allerdings noch vor der gewaltsamen Eskalation der religiösen Differenzen im Jahr 1528, bei der sich traditionelle Spannungen zwischen Angehörigen des Hochstifts und der städtischen Bevölkerung vermischen sollten.1014

1013 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 234 f. 1014 Allerdings notiert Göbel bereits kurz vor seiner Reise Gottesdienst- und Chorgesangsstörungen in Paderborner Konventen. Vgl. Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 233.

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Bei dem Zwischenfall vor den Stadttoren handelt es sich für Göbel um den ersten derartigen Vorfall, der ihn entsprechend schockiert. Nie sei ihm Schlimmeres passiert, abgesehen von seiner Rückreise aus Braunschweig im April desselben Jahres, bei der er sich vor nicht näher spezifizierten bösen Leuten gefürchtet habe.1015 Die Beschimpfungen in Paderborn erfolgen in dem Augenblick, als Göbel im Ordensgewand und somit als Mönch kenntlich das Stadttor passiert. Die womöglich betrunkenen Wächter wenden mit der Beschimpfung als Wolf eine gängige Repräsentation altgläubiger Kleriker an, wie sie etwa in evangelischen Flugschriften zu finden sind. Derartige Tierbezeichnungen werden in der Vormoderne und besonders in religiösen Konflikten häufig eingesetzt, um den Gegenüber aus der Gemeinschaft der Christenmenschen auszuschließen. Sie stellen als Entmenschlichung des Gegenübers immer wieder die Vorstufe und Vorbereitung von religiöser Gewalt dar und werden in der Flugschriftenliteratur von allen Seiten eingesetzt.1016 So wird die Bedrohungslage evident, die Göbel andeutet, selbst wenn es sich für die Männer am Tor nur um einen harmlosen Scherz gehandelt hätte. Deshalb klagt Göbel über die Sünden der Menschen und die schlimmen Zustände in der Welt, für die er Gott um Beistand und für sich um die Gabe der Geduld bittet. Derartige Vorkommnisse häufen sich unterdessen. Das nächste Mal trifft es Göbel Schickenberge Anfang April 1527 bei einem Ritt nach Braunschweig: Item dat stont up der strate noch nicht wol, war wy armen geistliken herkomen; leyder in allen landen sint wy vorachtet unde vorsmaet unde dat leider, vurochte ick, um unsser sonden wyllen; want we my thomoete quam up dem wege off in den steden, bespottede, belachede my, off ick eyn dor wer gewest, unde worppen my myt steynnen unde myt drecke. Item tho Bruinswick aitten de lude meystlick butter unde eygher. Unde wan ick up der straten geinck, reppen de schelke: „Monick, her monick, hick, hick!“ etc. My dencket wol, dat et so nicht en was. Got sis gelovet, et ist allet unsser sunden schult.1017

Besonders auf den Straßen kommt es für den Mönch in Kutte und mit Tonsur zu Zwischenfällen. Das ist – anders als noch zwei Jahre zuvor in Paderborn – kein erstaunlicher und neuer Einschnitt, sondern wird von Göbel als überregionales Phänomen beschrieben, das sowohl in Städten als auch auf dem Land anzutreffen sei. Während er nach Braunschweig reitet, wird er von Spott und Gelächter begleitet, als ob er ein Narr sei. Das Äußere der Mönche, das ihr Leben und ihren Stand widerspiegeln soll, ist zu einem distinktiven Kennzeichen geworden, das bei den Umstehenden dieselbe Reaktion wie bei der Betrachtung eines Narren hervorruft. Doch es kommt offenbar auch zu Gewaltakten, denn Bruder Göbel wird auf seinem Pferd mit Steinen und Dreck beworfen. Die in spätmittelalterlichen Idealvorstellungen das sakrale und

1015 Vgl. dazu Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 230. 1016 Vgl Kap. I. 3. 1017 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 264.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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asketische Leben darstellenden Äußerlichkeiten werden desakralisiert und die respektvolle Trennung des Klerus von den Laien durch den Spott aufgehoben. Göbel schiebt die Schuld dafür aber nicht automatisch auf die Predigten und Schriften der Reformatoren, sondern gerät erneut ins Grübeln, ob nicht die vielen Missstände für diese Ausbrüche verantwortlich sind. Deshalb muss der Klostervogt aus Böddeken bei den folgenden Reisen modische Kompromisse eingehen. Er verzichtet unterwegs in manche Städte, etwa nach Hildesheim 1529, auf das Tragen des Mönchshabits und zieht sich stattdessen weltliche Kleider an, um auf der Straße unbehelligt zu bleiben. Auch im Kontext der Hildesheim-Reise benennt Göbel die Sünden des Klerus als tieferen Grund für die Schmähungen und Bedrängung der Geistlichen.1018 In Göttingen, das der Laienbruder im April 1530 besucht und dessen Einwohner er allesamt als „martinisch“ kategorisiert, zieht er seine Mönchskappe aus.1019 Mit diesem Schritt nimmt er seiner Ordenszugehörigkeit und seiner Haltungen im Glaubensstreit die Sichtbarkeit. Dieselbe Taktik wendet er erneut bei einem Aufenthalt in Braunschweig wenige Tage später an. Dort muss er seine Kleidung „vorwandelen“, um sicher in der Stadt tätig sein zu können.1020 Auf der einen Seite können altgläubige Kleriker also den Weg der optischen Anpassung und der äußeren Dissimulierung ihrer Zugehörigkeit wählen, um auf offener Straße oder in protestantischen Gegenden nicht aus dem Rahmen zu fallen, um nicht angepöbelt oder ausgeschlossen zu werden. Auf der anderen Seite finden sich Priester, die diese religiösen Differenzen noch zusätzlich forcieren. So handelt der Weltgeistliche Heinrich von Pflummern aus der schwäbischen Reichsstadt Biberach, die sich religionspolitisch eng am 35 Kilometer entfernten Ulm orientiert. Pflummern muss zu Ostern 1531 aus Biberach ins Exil nach Waldsee fliehen. In seinen Erinnerungen notiert er die religiösen Kulturveränderungen in seiner Heimatstadt während der 1520er- und zu Beginn der 1530er-Jahre. In Kapitel 27 führt er aus, wie er sich zu dieser Zeit verhalten hat. Dabei setzt Pflummern auf nachdrückliche Bestätigung und Durchführung der alten priesterlichen Dienste und Rituale. So wollen etwa immer weniger Kleriker am Altar dienen, d. h. dem zelebrierenden Priester während dessen liturgischer Handlungen assistieren. Pflummern füllt diese Lücken, so gut er kann. Seine eigene Messe, die er in der Stube des Spitals liest (und sich der wohlhabende Bürgersohn übrigens einst selbst gestiftet hatte), muss er ab 1529 in der Stiftskirche halten, da ihm in der Stube offenbar zwinglische Prediger das Zelebrieren unmöglich machen. Auch das Stundengebet wird von immer weniger Priestern frequentiert. Am Ende ist Pflummern allein mit dem Pfarrer in der Pfarrkirche, um die Vesper zu beten. Als dies der Rat verbietet, betet Pflummern die Vesper um drei Uhr nachmit-

1018 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 305. 1019 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 326. 1020 Erneut bekräftigt er, dass es die Sünden der Mönche seien, die zu dieser misslichen Lage geführt hätten. Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), 327.

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tags, wobei er sich hinter den Pfarrer in den Chorraum stellt. Dadurch drückt er seine Unterstützung des Tagzeitengebets im sakralen Zentrum des Kirchenraums aus.1021 Interessant ist auch Pflummerns Aussage bezüglich seines Umgangs mit der Priesterkleidung. Er verfährt dabei ganz anders als Bruder Göbel: „Item ich bin am firtag mit flis gangen in das ampt in mim korhemet, capen zipfel etc., wan die lit von ir Lutersche bredig giengen vor unserm ampt, das man seche, das ich die Lutersche bredig fluche und in min ampt gieng.“1022 Die evangelische Predigt erfreut sich demnach großer Beliebtheit und übertrifft, was die Präsenz der Gläubigen anbelangt, das darauf folgende traditionelle Messamt an Feiertagen. Pflummern betritt die Kirche genau in dem Augenblick, als die evangelischen Gläubigen diese nach dem Ende der Predigt verlassen. Es kommt zur direkten Konfrontation, nicht nur in der Bewegung, sondern auch optisch. Pflummern trägt die traditionellen Gewänder mit dem expliziten Ziel, den Unterschied herauszukehren und seine Haltung im Glaubensstreit zu manifestieren. Im Fortgang seiner Schilderungen kommt er ein weiteres Mal darauf zu sprechen, warum er sich für einen prononciert altgläubigen Priester-Kleidungsstil entscheidet und wie dieser aussieht: „Item ich hun min pater noster, corhemt, capen zipfel, lang reck, und was zuo aim alten priester haut gehert, mit barreten us den alten erbern siten, schuochen etc. nie kain stund zuo Bibrach under wegen gelun, das mich noch nit haut geruit“.1023 Von Kopf bis Fuß trägt Pflummern die spätmittelalterliche Priesterkleidung, die damit einen zusätzlichen Sinn und Zweck erhält. Der Paternoster, also der Rosenkranz, gehört ebenso dazu wie das Chorhemd, die traditionellen Kopfbedeckungen, die Soutane und nicht näher spezifizierte Schuhe. Dieser Stil entspreche den alten Sitten, die er nicht aufgeben oder ändern wolle. Kleidung wird für ihn zum Zugehörigkeitsmerkmal, das er immer wieder bewusst einsetzt. Die Präzisierung, dass er diesen Habit keine einzige Stunde abgelegt habe, unterstreicht die affirmative Bedeutung sowie Pflummerns Konfrontationsbereitschaft, die ihn in diesem Punkt von Bruder Göbel Schickenberge unterscheidet. Ähnlich verfährt Heinrich von Pflummern mit den Kreuzgängen und Wallfahrten, etwa nach Warthausen zu einem Marienheiligtum. Die Herrschaft Warthausen gehört seit 1529 nicht mehr zur Reichsstadt Biberach. Der neue Besitzer, Hans Schad von Mittelbiberach, steht in einem ständigen politischen und juristischen Konflikt mit den früheren Herren und verhindert rituelle Veränderungen. Damit wird Warthausen nach dem Verbot der Messe in Biberach zum Zielort altgläubiger Biberacher, die zu Ostern die „wahre“ Kommunion empfangen wollen.1024 Pflummern behauptet, die Kreuzgänge und Wallfahrten keinen Tag unterlassen zu haben, außer wenn er krank war. Am Ende habe er viele Kreuzgänge allein bestritten. Dabei sei er mitten

1021 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 173 f. 1022 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 174. 1023 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 174. 1024 Zum Auslaufen am Beispiel Ulm vgl. Kap. III. 4.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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durch Gruppen von Lutherischen gegangen, obwohl er dafür verspottet worden sei. Auch der alten eucharistischen Devotion geht er ostentativ in der Pfarrkirche nach.1025 Evangelische Angriffe beklagt Pflummern zwar, nimmt sie aber in Kauf und provoziert sie nachgerade. Er berichtet ausführlich über die Verspottung durch Bewohner Biberachs und des bäuerlichen Umlands während seiner samstaglichen Wallfahrten zur Marienkirche in Warthausen: „Ich bin zuo Bibrach me dan 30 iar all samstag, un ander tag, gen Warthusen zuo unser frowen gangen, in der Lutery by 7 iaren; in der Lutery verspot und geschent worden von madern und heern uff dem eschspach, am bach bim weg, das ainer lut iber mich schruy: pfaff, nim kain nunen. Er maint die von Warthusen, so er schon west, das ich der cierchen naich gieng.“1026 In Warthausen gibt es ein Franziskanerinnen-Konvent, dessen Insassinnen die Marienkirche mitbenutzen.1027 Schon mehr als 20 Jahre vor Beginn der evangelischen Bewegung führte Pflummern diese Wallfahrt durch. Ob es sich dabei um eine individuelle Praxis oder um einen lokalen Gemeinschaftsbrauch handelt, ist unklar. Ab Mitte der 1520er-Jahre wird dieser Brauch jedoch umstritten und zu einem Merkmal der distinktiven Religionskultur des Messpriesters. Wie eingespielt die Wahrnehmungen der Wallfahrt um 1530 sind, zeigt sich daran, dass der Spötter offenbar genau weiß, wohin Pflummern geht. Der Vorfall findet zudem an einem markanten Ort auf seinem Weg statt, nämlich am Espan, dem gemeindlichen Weideland, das an einem Bach gelegen ist. Männer und Frauen führen geschlechterübergreifend die Verspottung durch. Präzise erinnert sich Pflummern an den satirischen Ausruf einer Person, er solle in Warthausen keine Nonne nehmen. Diese Bemerkung dürfte nicht nur reformatorische Kritik an den Lebensverhältnissen von Priestern, sondern auch spätmittelalterliche Formen des antiklerikalen Spotts aufgreifen. Dass der Ausruf von Gemeindegrund aus erfolgt, verstärkt die antiklerikale Bedeutung und trägt gleichzeitig zur Desakralisierung der priesterlichen Funktion und Person bei, insbesondere im Lichte der auch in der Region zunehmenden Priesterheiraten aller Gläubigen. Aber Pflummern ändert die Route nicht und läuft im Priesterhabit mit Rosenkranz nach Warthausen zur Mariendevotion. Die vorgebliche Konstanz des Alten bekommt hier einen neuen, d. h. demonstrativen und auch auf Kontroverse ausgerichteten Sinn.1028 Solches Verhalten kann im Zweifelsfall zu Auseinandersetzungen mit dem evangelischen Klerus führen.

1025 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 174 f. Zu Warthausen vgl. Rüth, Biberach (wie Anm. 451), S. 272 f. 1026 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 178. 1027 Wekenmann, Josef: Franziskanerinnenkloster Warthausen. In: Klöster in Baden-Württemberg. http://www.kloester-bw.de/kloster1.php?nr=164 (25.7.2014). 1028 Zu weiteren volkstümlichen Verspottungen Pflummerns vgl. Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 178 f.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

1.2.2 Konflikte mit dem evangelischen Klerus Altgläubige Priester und Mönche stehen nicht nur in Beziehungen und möglichen Konflikten mit den Obrigkeiten und ihren Gemeinden, sondern müssen sich auch gegenüber evangelischen Klerikern verhalten. Differenzen zwischen Priestern sind allerdings nichts Neues: Bereits im Spätmittelalter werden teils heftige Streitigkeiten zwischen Bettelorden und dem Säkularklerus ausgetragen, wobei es v. a. um pastorale und sakramentale Rechte ging. Den Gegner als heterodox zu bezeichnen ist vor allem ein rhetorisches bzw. juristisches Mittel, denn die Priester in Frankreich und dem Alten Reich, mit Ausnahme jener aus böhmischen Grenzgebieten oder waldensischen Gegenden in Südfrankreich, haben zu Beginn des 16.  Jahrhunderts keine eigene Erfahrung im Umgang mit verurteilten Ketzern.1029 In der Reformationszeit sind offene Streitigkeiten zwischen Seelsorgern verschiedener Religionsgemeinschaften am selben Ort nicht immer und überall möglich. In dieser Untersuchung stechen in diesem Punkt erneut jene Fallstudien mit aussagekräftigen Quellen heraus, in denen entweder eine gewisse religiöse Offenheit etwa im Zuge einer via-media-Politik vorherrscht, oder in denen es zu einem raschen reformatorischen Wechsel kommt. Im ersten Fall ist zu vermuten, dass Unterschiede ungefährdeter ausgelebt werden können, im zweiten Fall dürfte es immer Priester geben, die den Wechsel nicht mitmachen. Deshalb werden insbesondere Vorkommnisse aus der Reichsstadt Ulm und der Grafschaft Lippe im Mittelpunkt stehen. Im Ulmer Landgebiet finden sich während der späten 1520er-Jahre und der 1530er-Jahre zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen Geistlichen, die teilweise unter großem Aufsehen, teilweise, vor allem nach 1531, subtiler ausgetragen werden. Ich beginne mit dem prominentesten Fall, nämlich der Stadt Geislingen. Bekanntermaßen stellt der Ulmer Rat dem altgläubigen Pfarrer Georg Oßwald auf Bitten von 39 Bewohnern mit Paul Beck aus Heidelberg einen zwinglischen Prediger zur Seite. Konflikte sind vorprogrammiert, da sich nun zwei gebildete, redegewandte und selbstbewusste Geistliche gegenüberstehen. Der Rat versucht zwar, der absehbaren Konfrontation vorzubauen, indem er beide Protagonisten zur selben Zeit und an verschiedenen Orten predigen lässt, Oßwald in der Stadtkirche, Beck in der Spitalkirche.1030 Doch dies nützt wenig. Der altgläubige Stadtpfarrer geht von der Kanzel aus zügig in die Offensive. Er stellt den Unterschied der altgläubigen zu den zwinglischen Lehren heraus und zementiert den alleinigen Wahrheitsanspruch der orthodoxen Theologie und Praxis. Bald hat Paul Beck genug und er beschwert sich in einer Supplik beim Ulmer Rat über das Vorgehen und die Predigten seines Kontrahenten.

1029 Vgl. Taylor, Soldiers of Christ (wie Anm. 454), S. 182–188. 1030 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 207.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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Er betont, er habe alles „aus dem Mund“ des Pfarrers aufgeschrieben.1031 So lässt sich das spannungsgeladene Panorama während Oßwalds Predigten im Frühsommer 1527 in der Pfarrkirche erahnen. Der evangelische Geistliche steht persönlich unter der Kanzel, notiert die Worte Oßwalds, der wiederum alle Register der Polemik zieht. In seinem Anschreiben fasst Beck die Angriffe des Altgläubigen folgendermaßen zusammen: Er hatt auch zum öfftern mall gepregigett [sic], wie vor ethlicher zeytt vill ketzerey erwassen [sic] und alweg von den frommen keysern mit dem schwertt ausgereytt und abgethon worden. Hatt aber dem volck nie gesagt, was der gemelter ketzereyen falsche leer und irtumb gewest sey, sonder das volck der massen geleert, das es nit anderst glaubt, dan das ietz zu unser zeytt alle treue diener göttlichs worts, auch ich, der aller geringst, nicht anders dan obgemelt unangezeygt ketzereyenn leerend und weysend, da mit er das heylig wortt Gottes dem volck also verhast gemacht hatt, das es ia mit gwalt nit hören will etc. Des gleichen hatt auch ietzt gemelter pfarrer offt gesagt, es standend ietz die newen leerer auff, seyend ir lebenlang auff kein hohe schul nie kommen, haben nur aus den teutschen buchlin ethlich sprüch gelernt und wellen ietzt me wissen, dan die ir lebenlang nichs anders gethon haben dan studiertt, sye wulen in der schrifft ummb, wie ein saw in eim rüben acker. Nun acht ich, er rede sollichs allein auff mich, dan ich allein zu Geyslingen von dem volck, von seiner red wegen, fur ein solchen gehalten würd.1032

Georg Oßwald argumentiert laut dem Bericht Becks auf zwei Ebenen. Erstens stellt er Analogien zwischen den historischen Ketzereien und den evangelischen Predigern seiner Zeit her. Deren Vorgänger seien stets von den Kaisern niedergeschlagen worden. Die Lehre, die Paul Beck den Geislingern nahezubringen versucht, werde daraufhin von der Mehrzahl der Gläubigen abgelehnt. Zweitens greift Oßwald die evangelischen Lehrer persönlich an und spricht ihnen die geistige Fähigkeit ab, über das Wort Gottes zu urteilen. Vielmehr wühlten die Evangelischen wie Schweine im Rübenacker. Wer damit gemeint ist, sei den Zuhörern klar gewesen: der eifrig mitschreibende Prädikant Beck. Dieses Deutungsangebot scheint das Volk mehrheitlich anzunehmen und überträgt die Bilder, die Oßwald liefert, auf den evangelischen Prädikanten. Der Vergleich dieses Predigtinhalts mit den Inhalten altgläubiger Flugschriften zeigt zahlreiche Übereinstimmungen. Dies beginnt mit den Repräsentationen der Anderen, die ähnlich u. a. vom sächsischen Abt Paul Bachmann auf Martin Luther angewendet werden, wenn er den Wittenberger Reformator als wild geiferndes Eberschwein im Weinberg des Herrn tituliert. Insgesamt ist die Schweinemetapher häufig, die auch von Oßwald gebraucht und von den Geislingern rezipiert wird.1033 Die zeitliche Verortung der reformatorischen Lehren in der Kontinuität mittelalterlicher Häre-

1031 Was dieser von sich gebe, führe das Volk nicht zum Seelenheil. Zudem werde er von Oßwald auf der Kanzel geschmäht, was dem Befehl des Rats zuwiderlaufe. Als Beweis hängt Beck Mitschriebe von neun Predigten Oßwalds zwischen dem 26. Mai und dem 24. Juni 1527 an. StAU, A [5421], Bl. 64r-66v. 1032 StAU, A [5421], Bl. 64r. 1033 Vgl. Bachmann, Wider das Eberschwein (wie Anm. 656), S. 742.

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sien ist in den Flugschriften ebenso gängig wie die historische Siegesgewissheit, dass alle Ketzereien immer niedergeschlagen wurden.1034 Paul Becks Bitte an den Rat, gegen Oßwald einzuschreiten, bleibt zuerst folgenlos. Deshalb schreibt er am 17. Juli an die Herrschaftspfleger Heinrich Krafft und Daniel Schleicher, die ihn während ihres letzten Aufenthalts in Geislingen zu der Supplik ermutigt hatten, und bittet sie, seine Eingabe endlich an den Rat weiterzuleiten.1035 Das geschieht auch, denn bereits am 25. Juli muss sich Georg Oßwald in einem Brief an den Rat rechtfertigen. Er zeigt sich empört, derart „rucklingen“ von seinen Missgönnern beschuldigt worden zu sein. Er weist die Vorwürfe zurück und beharrt auf der Rechtschaffenheit seiner Predigten, die er allesamt schriftlich vorliegen habe und über die er vor Kaiser, König, Universitäten oder dem Schwäbischen Bundestag jederzeit disputieren würde.1036 Die Fronten zwischen den beiden Priestern sind verhärtet und die Dynamik des Polemischen setzt sich fort. Ein knappes Jahr später, am 22. April 1528, suppliziert Paul Beck erneut an die Ulmer Herrschaftspfleger Jörg Besserer und Daniel Schleicher und klagt, dass der Pfarrer und dessen Helfer seine Lehre angreifen und vernichten wollten. Dies gelinge ihnen sogar, denn das Volk, das nur Oßwalds Predigten höre, halte Becks Lehren für Ketzerei.1037 Darauf reagiert der Ulmer Rat, indem er beide Kontrahenten am 7. September vor sich zitiert und verhört, wobei sich Oßwald weigert, inhaltlich über seine Predigten Auskunft zu geben. Der Rat bläut den beiden ein, sich künftig friedlich zu verhalten und gemäß der göttlichen Schrift zu lehren.1038 Diese Vorgabe ist natürlich offen für Interpretationen, denn auch Oßwald würde über sich ohne Frage behaupten, das Wort Gottes unverfälscht zu verkünden. Gelöst wird der Konflikt deshalb erst durch die Resignation des Altgläubigen auf Druck der Ulmer Obrigkeit im Sommer 1531. Bis dahin sind zwar keine weiteren Eingaben beim Rat oder den Herrschaftspflegern überliefert, doch dass die Auseinandersetzungen weitergehen, darf angenommen werden. Ab der zweiten Jahreshälfte 1531, nach der ersten Untersuchung der religiösen Zustände im Ulmer Territorium durch die Obrigkeit, wird es allgemein schwieriger

1034 Vgl. Kap. I. 3.1.4. und 3.2.1. 1035 StAU, A [5421], Bl. 69r. 1036 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 213 f. 1037 Oßwald habe sich und seine Thesen ja auch immer wieder für eine Disputation angeboten. Das wollte Beck nun in die Tat umsetzen und hat den Pfarrer mit Wissen des Rats zur Berner Disputation im Januar 1528 einladen lassen. Geplant war tatsächlich ein Religionsgespräch zwischen Huldrych Zwingli, dem Ulmer Prediger Konrad Sam und Beck auf der einen, Johannes Eck und Georg Oßwald auf der anderen Seite. Die beiden Altgläubigen sind aber nicht erschienen. Stattdessen, moniert Beck, fährt der Geislinger Pfarrer mit seinen mutmaßlichen Lästerpredigten fort, derer er wieder einige detailliert in Zusammenfassung mitschickt. Er bittet inständig darum, das Wort Gottes und die Unterrichtung des gemeinen Mannes zu fördern. Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 214 f. 1038 Schuhholz, Georg Oßwald (wie Anm. 193), S. 215.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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für die verbliebenen altgläubigen Priester, einen öffentlichen Konflikt mit evangelischen Klerikern zu riskieren. Die Phase der relativen Offenheit ist vorbei. Im Rahmen der Suche nach Differenzen zwischen Geistlichen haben sich bei meinen Recherchen v. a. die Visitations- und Synodalprotokolle als ergiebig erwiesen. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle Konflikte bei den Verordneten der Stadtobrigkeit angezeigt werden. Kleinere Differenzen dürften eher innerhalb der Gemeinden, gemäß deren Wertesystem und politischen Strukturen geregelt worden sein. Wird ein Streit angezeigt, bedeutet die Anzeige an sich schon immer eine weitere Eskalationsstufe. Auseinandersetzungen konnten aber auch von einer oder mehreren Seiten dissimuliert oder verborgen werden. So erklären sich Befragungsergebnisse wie die aus der Landstadt Langenau, wo sich Pfarrer und Prädikant die Aufgaben in Gottesdienst und Seelsorge teilen. Während der Pfarrer lobt, „sein Mitgesell predige das Evangelion“, gibt sich der Prädikant Hans Mayer reservierter: Der Pfarrer predige das Wort Gottes erst seit der Examinierung und verurteile die Menschensatzungen zwar als unnütz, greife aber die Missbräuche nicht an.1039 Wenn derartiges vor die Obrigkeit gebracht wird, selbst in jener nuancierten und eher Distanz und Misstrauen als veritablen Konflikt ausdrückenden Form, muss das in Langenau ein größeres Thema gewesen sein. Dieser Verdacht erhärtet sich 1532, als der Konflikt bei der Synode offener zutage tritt. Der Prädikant Hans Mayer denunziert den Pfarrer, da dieser noch mit geweihtem Wasser taufe und das Psalmensingen ablehne. Diese Vorwürfe bestätigt auch der Amtmann, der ansonsten aber nichts Schlechtes über den Ortsgeistlichen zu berichten weiß. Ganz am Ende des Einzelverhörs spricht der Prediger die Auseinandersetzung klar an: „Der Pfarrer hab kein Freundschaft zu ihm, item er predige noch im Chorrock.“ Der Pfarrer seinerseits beschwichtigt. Er predige das Wort Gottes, ebenso wie Hans Mayer. Dass er keine Psalmen singen lässt, hänge schlichtweg damit zusammen, dass er dazu keinen Befehl erhalten habe. Und die Beziehung zum Prädikanten? Dessen Predigten gefallen ihm und er wolle gut mit ihm auskommen – was indirekt ein Eingeständnis ist, dass die Beziehung eben nicht einvernehmlich ist. Die beiden Geistlichen taufen verschieden und lassen unterschiedliche Lieder singen. Der Pfarrer hat zwar keine Konkubine mehr, ist aber auch nicht verheiratet. Zudem trägt er alte liturgische Gewänder und bringt den Sterbenden auf Verlangen das Viatikum. Die beiden Langenauer Richter, d. h. die gewählten Gemeindevertreter, sehen in den Predigten des Pfarrers an Feiertagen ein Problem, denn damit ärgere er viele Leute, zumal er keine Psalmen singen lasse. Noch härter nimmt sich der erste Richter allerdings den Prediger Hans Mayer vor: „Es seien viel Leut zu Nau, die sagen, wenn ein Fremder käm, der ihnen solche Ding predigte, so wollten sie es glauben, aber dem Prädikanten nit, dieweil er das Alt vormals so heftig gelobt.“ Befeuert wird der Konflikt durch den offenbar nicht lange zurückliegenden Gesinnungswandel des Prädikanten, der die Menschen misstrauisch macht. Im Entscheid über die Ergebnisse

1039 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 51.

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der Befragung wird der altgläubige Pfarrer gemaßregelt und bekommt einen protestantischen Kurswechsel verordnet. Er solle nur noch ungeweihtes Wasser zur Taufe verwenden und seine Predigt ohne Chorrock, aber mit Psalmensingen halten.1040 Bei der Visitation drei Jahre später ist der Prädikant ausgetauscht worden. Ein Konflikt mit dem Pfarrer geht aus den Akten nicht mehr hervor.1041 Im Gegenteil, 1537 kämpfen beide Geistliche – unklar ist, ob es dieselben sind wie noch zwei Jahre zuvor – gemeinsam gegen die „Päpstler“.1042 In der Grafschaft Lippe kommt es vor und nach der Einführung der Reformation im Jahr 1538 zu Konflikten zwischen altgläubigen und lutherischen Klerikern. Aus der Hansestadt Lemgo sowie aus der benachbarten Reichsstadt Herford gerät das Städtchen Salzuflen frühzeitig unter evangelischen Einfluss.1043 Dort kommt es 1531 zu einem Vorfall, von dem Graf Simon V. Kenntnis erhält und Auskunft vom örtlichen Pfarrer, Anton Giesenbier, verlangt. Es geht um einen Lemgoer Prediger, der in Salzuflen zum Missfallen Simons gepredigt hat. Am 12. September antwortet Giesenbier, dass er weder wisse, wer den Prediger beauftragt, noch was genau dieser von sich gegeben hat. Zum fraglichen Zeitpunkt war Giesenbier nämlich in seiner anderen Pfarrkirche in Schötmar, gleich neben Salzuflen. Es sei ihm nur zugetragen worden, dass der Prediger über Zachäus und die Reichtümer („van Sacheo und van den rikedagen“) gesprochen habe, „ock van den armen pastoribus, de moten doch leder de vorachtunge lyden“.1044 Der Predigtinhalt erscheint nicht über die Maßen polemisch oder heterodox. Zachäus, der reiche Zöllner aus dem Lukasevangelium, der am Ende bekehrt wird und Jesus bei sich zuhause aufnimmt (Lk 19, 1–10), dient als Vorlage zu Erörterungen über den Reichtum. Unklarer ist die Stoßrichtung der Aussagen über die armen Priester, die nun verachtet würden. Welche Priester sind damit gemeint? Und welche Zugehörigkeit haben diese? Eine Hypothese wäre, dass sich der Prediger auf die in der Grafschaft nicht geduldeten lutherischen Priester bezieht. Die Predigt hat indes gravierende Folgen für Pfarrer Giesenbier, denn die Ansprachen des neuen Priesters führten dazu, „dat ick lider nu myne egen kercken myden moet“. Das Volk in Salzuflen hänge nicht ihm, sondern dem Lemgoer Prediger an.1045 Der Name des Prädikanten wird nicht genannt, doch könnte es sich um jenen Johan-

1040 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 70–72. 1041 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 109 f. 1042 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 120–122. Wegen ihrer offenen Kritik am Amtmann werden beide ermahnt. Der Prädikant Jakob soll versetzt werden, es wird über eine Rückkehr des früheren Prädikanten Hans Mayer nachgedacht. Bei der Synode 1539 ist der dann im Amt, Differenzen mit dem Pfarrer Philipp werden nicht sichtbar. Vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 154 f. 1043 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 119–121; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 158 f. 1044 LAV NRW OWL, L 71, Nr. 135, Bl. 1r. 1045 LAV NRW OWL, L 71, Nr. 135, Bl. 1r–v.



1.2 Zugehörigkeiten der Priester 

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nes Gronewolt handeln, der in einem undatierten, aber wohl deutlich vor 1538 von Bürgermeister und Rat der Stadt Salzuflen verfassten Schreiben als der vom Rat bestellte Prädikant firmiert.1046 Eine genaue Datierung ist leider nicht möglich, allerdings würde eine Prädikatur vor 1536 ein vielsagendes Licht auf die Inkonsequenz bzw. die Ohnmacht des Herzogs werfen, reformatorische Kulturen und Predigten selbst in einem Städtchen wie Salzuflen zu unterbinden. Offenbar resigniert Giesenbier in Schötmar schließlich im Jahr 1539 zugunsten seines lutherischen Neffen und wird Ackerbauer in der Nähe von Salzuflen.1047 Auffällig ist, dass in vielen der beschriebenen Fälle der Ortspfarrer die altgläubige Seite einnimmt bzw. deren Praktiken durchführt, während die evangelischen Prediger oft seit kürzerer Zeit in den Gemeinden sind. Der vortridentinische Säkularklerus vor Ort fühlt sich für die sakramentalen Handlungen zuständig, als Dienstleister und oft genug als Mitglied der Gemeinden. Der altgläubige Ortsgeistliche hat in vielen Fällen womöglich das Ohr näher an der Gemeinde und deren Wünschen, die zu befriedigen er letztlich auch gezwungen ist. Dadurch wird u. a. der spätmittelalterliche Konflikt zwischen Säkularklerus und den Predigerorden in veränderter Form weitergeführt. Beide Seiten hatten im 15. Jahrhundert verschiedene Funktionen, die in Konflikt geraten konnten. In der frühen Reformationszeit wird dieses Muster im Alten Reich weitergesponnen.1048 Doch wie sieht das Angebot konkret aus, das die altgläubigen Priester ihren Gemeinden unterbreiten können und wegen dem sie mit Amtskollegen und Obrigkeiten mitunter Schwierigkeiten bekommen? Wie werden die Angebote im Raum des jeweils kulturell Möglichen aufgebaut und angepasst? Und wie treten sie dem Gemeinen Mann gegenüber?

1046 Zwischen Rat und Prädikanten kommt es da zur Auseinandersetzung. Inhaltlich geht es u. a. um Bezahlungen und die für den Geschmack des Rats etwas forschen Predigten. Auch liturgische Verabredungen werden getroffen bzw. präzisiert. LAV NRW OWL, L 71, Nr. 136, Bl. 2r–6r. 1047 Vgl. dazu Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 159. 1048 Die französischen Fälle unterscheiden sich in diesen Mustern. Das beginnt schon damit, dass es Prediger mit lutherischen Inhalten nicht oder zumindest nicht sehr lange gibt. Dennoch kommt es zu offenen Konflikten zwischen Klerikern, aber in anderen Konfigurationen, etwa in Paris während und nach der Fastenzeit 1533. Dabei scheinen Gemeindepriester weniger involviert zu sein, zumindest ist deren Handeln in den Quellen nicht fassbar. Dort werden evangelische Prediger wie Gérard Roussel für Sonderpredigten beauftragt – in diesem Fall von der Königin von Navarra. Die Theologische Fakultät schickt u. a. die Altgläubigen Beda und Le Picart. In Rouen finden sich im Gebiet der Kirchenprovinz immer wieder evangelische Priester und Prediger in Städten und Dörfern. Werden diese aufgespürt und verhaftet, schickt das Domkapitel spezielle Prediger in die Gegend, in denen zuvor die „lutherische“ Lehre verkündet worden war.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot Judith Pollmann hat in ihren Studien zum niederländischen Katholizismus des 16. Jahrhunderts wiederholt die elementare Rolle der Priester hervorgehoben. Diese hätten sich anfangs auf innere Reformanstrengungen und den Aufruf zu Umkehr und Buße beschränkt, anstatt den gemeinen Mann zu Widerstand aufzufordern und gegen die protestantischen Bewegungen anzuführen. Im Umstand, dass der Klerus bis ans Ende des 16. Jahrhunderts den Laien eine aktive Rolle im Glaubenskampf verwehrt, auf vernakulare Schriften verzichtet und eher zurückhaltend predigt, hat Pollmann auch einen Unterschied zu Frankreich ausgemacht, wo es während der Religionskriege zu katholischer Gewalt und militärischem Aktivismus auch und insbesondere durch Laien kommt – angestachelt durch katholische Priester. In Frankreich habe der Klerus dem Volk schon in den 1560er-Jahren eine größere Rolle im Kampf gegen die Calvinisten zuerkannt und entsprechend gepredigt und publiziert.1049 In der Folge greife ich den Ansatz Pollmanns auf und untersuche das rituelle Angebot und die Einwirkungsversuche der altgläubigen Priester in Bezug auf die Laien. Im Unterschied zu Judith Pollmann setze ich den Schwerpunkt aber auf die erste Hälfte des 16.  Jahrhunderts  – also auf eine Zeit, in der die Unterschiede erst entstehen und noch nicht kompakt gegeneinander ins Feld geführt werden können. Außerdem beschränke mich nicht auf militärisches Handeln, Aggression oder Gewaltanwendung, sondern beziehe die gesamte Ritual- und Kulturwelt, die zu Formen des Widerstands und der Zugehörigkeitsbezeugung eingesetzt werden können, in meine Untersuchung mit ein. Ich frage danach, wie altgläubige Kleriker versuchen, ihr seelsorgerisches Angebot in Zeiten der reformatorischen Veränderung neu zu justieren. Es interessieren mich also die Konflikte um die Schaffung des religiösen Angebots durch die Geistlichen. Deshalb werden in einem ersten Schritt vorwiegend die Fallstudien von Interesse sein, in denen protestantische Bewegungen zur kulturellen Mehrheit oder zur staatlichen Norm werden, also Lippe, Regensburg und Ulm. Im Herzogtum Bayern sind die herkömmlichen klerikalen Praktiken schlichtweg konform mit den Erwartungen der Obrigkeit und der altgläubigen Bevölkerungsmehrheit. Zumindest sind Anpassungen in der Ausführung eher selten. Ähnlich verhält es sich in Paris und Rouen. Gerade diese beiden Fallstudien werden jedoch besonders aussagekräftig, wenn es um eines der seelsorgerischen Kerngeschäfte der Priester geht: die Predigt. Ich beginne mit einem Blick in die Grafschaft Lippe nach dem Erlass der evangelischen Kirchenordnung im Jahr 1538. In Lippe kommt es schon im Zusammenhang mit der Synode desselben Jahres zu Initiativen von Priestern, die an ihre Paderborner Obrigkeiten und Patronatsherren supplizieren, um nicht an der lutherischen Synode teilnehmen zu müssen. Daraufhin intervenieren Paderborner Instanzen bis hinauf zum Domkapitel bei den lippischen Befehlshabern in Detmold, damit diese

1049 Pollmann, Countering the Reformation (wie Anm. 753).



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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„gemach“ mit den altgläubigen Priestern verfahren und diese zu nichts drängen, was gegen deren Gewissen, die Ordnung der alten Kirche, die Tradition und die Gesetze des Reichs verstößt. Altgläubige Kleriker können dadurch alte Rituale, die durch die neue Kirchenordnung eigentlich verändert werden müssten oder verboten sind, für einige Zeit beibehalten. Doch die Droste, Amtmänner der Grafschaft, versuchen, die alten Praktiken zu unterbinden und drängen auf die Einhaltung der lutherischen Kirchenordnung. Deshalb wendet sich der Pfarrer von Stapelage 1539 mehrmals an den Domküster von Paderborn, Philipp von Twist, der sich wiederum mit einem eindringlichen Schreiben an Domdekan und Kapitel zu Paderborn wendet. In dem Schreiben vom 23. Dezember 1539 heißt es: Eth haidt her bevorn de pastor tho Stapelage offter unnd tho velle malen my angetzeigt, wo dath er um eynen niggen gebruyck (den man evangeliesch nennet) in syner kercken an tho nemmen unnd olt lobbiche christliche ordenunge der hilgenn kercken tho verwerpen angelanget worden sy. Doch up myn verbott sick des bys anher geveydet unnd na oldem chrystlichenn gebruyck geholdenn. Szo haidt in kort vorruckten dagen de droste tho Dethmolde sampt dem predicanten dar sulvest enne vor sick gehatt unnd (syns berichts) dar hen bedrowen unnd dryngen willenn, upberurten niggen gebruyck odder handelunge an tho nemmen. Des he sick in synem gemoithe unnd hoich beswereth folhett unnd my als synen geistlichen ordinarium und beschutt troist unnd raidt by iwer wirden emme tho erlangen itzo wedder angesoicht haidt.

Deshalb bittet Philipp von Twiste die Adressaten, das an gemelten drosten tho Detmolde eyn fruntliche vorschrifft doen willen, de gemelten pastor keyne gewalt durch sick oider ander wille an leggen noch thom ubberurten niggen handell (dwile de durch pawestliche hillicheit unnd keyserliche maiestatt und dat Ryech nicht thogelaten odder bostedigett) nicht drangen, sunder in oltloblicher christlichenn ordennunge der hiligen khercken unbemoiget blyven lathen.1050

Stapelage ist eine der Pfarreien in der Grafschaft Lippe, in der auswärtige Herren oder Institutionen bei Stellenbesetzungen eingreifen können. Diese nehmen für sich nun auch das Recht in Anspruch, ihren Pfarrern die Rituale vorzuschreiben bzw. ihre Geistlichen bei der Ausübung der bisherigen Praktiken zu unterstützen. In Stapelage ist durch Philipp von Twiste ein Gebot zur Beibehaltung der alten Bräuche erfolgt und auch für den Pfarrer würde eine Ritualveränderung eine Gewissensbelastung bedeuten. Im postreformatorischen Kontext ist das ein klares Bekenntnis zur alten Kirche. Nachdem der Pfarrer von Stapelage durch den Drosten und den Prediger nach Detmold einbestellt und zur Beachtung der Kirchenordnung aufgefordert worden war, wendet er sich erneut an seinen geistlichen Ordinarius, der wiederum an die

1050 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 83r.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Paderborner Zentrale schreibt. Davon verspricht er sich Schutz und vielleicht auch Zeitgewinn. Interessant ist der Vergleich der Argumentation des Domküsters mit der altgläubigen Flugschriftenliteratur. Argumente, die in den polemischen Texten gängig sind, finden sich auch im Schreiben Philipp von Twistes wieder. Der Verweis auf die alten Praktiken der christlichen Kirche und die lange Tradition sollen die altgläubigen Kulturformen legitimieren. Diesen stehen die wiederholt als „neu“ beschriebenen Vorschriften der evangelischen Seite entgegen. Die protestantische Bezeichnung des eigenen Handelns als „evangelisch“, die früh auch in den antilutherischen Flugschriften angegriffen wird, macht sich Philipp von Twiste nicht zu eigen, was er die Klammern verdeutlicht. Domkapitel und Domdekan von Paderborn reagieren sofort und schreiben einen Brief an den Droste von Detmold, Christoph von Donep, in dem sie ihn auffordern, den Pfarrer von Stapellage nicht weiter zu behelligen, sondern ihn bei der alten Religion der christlichen Kirche bleiben zu lassen.1051 Bei der Visitation von 1542 wird der Pfarrer von Corvinus nur mittelmäßig beurteilt. Der Reformator schildert ihn als jemanden, der der evangelischen Wahrheit nicht in wünschenswerter Weise anhänge. Der Geistliche verspricht sich innerhalb einer Frist zu bessern. Ansonsten droht ihm die Absetzung.1052 Im Ulmer Landgebiet ist die Fort- bzw. Durchführung vieler altgläubiger Praktiken für die Priester ab 1531 ein schwierigeres Unterfangen als in der Grafschaft Lippe. Regelmäßig finden Visitationen und Synoden statt, die der Durchsetzung und der Kontrolle der evangelischen Kirchenordnung dienen. Bei der ersten, durch die Herrschaftspfleger vorgenommenen Befragung im Oktober 1531 gibt es eine Aussage aus dem Dorf Bermaringen, wobei nicht klar ist, ob sie vom Pfarrer, dem Amtmann oder einem Richter stammt. Da es um den Pfarrer geht und auch über die Untertanen gesprochen wird, dürfte die Aussage vom lokalen Amtmann stammen. Der berichtet, „sein Pfarrer sei von der Frau von Urspring belehnt und hör der Pfarrer noch zu Beicht und halt sonst mit Taufen und Läuten die alten Zeremonien außer Meßlesen. Aber nichts destoweniger gangen seine Untertanen gen Lauterach (Lautern) und hören Meß. Ist ihm keine ‚Ordnung‘ aus gehörter Ursach gegeben.“1053 In Bermaringen verfügt das Benediktinerinnenkloster Urspring, das ebenfalls im Ulmer Territorium liegt, über den Kirchsatz und den Zehnten. Diese Rechte bleiben noch bis 1573 zwischen dem Ulmer Rat und der Äbtissin umstritten. Das Kloster jedenfalls wird nicht

1051 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 291, Bl. 1r-v. 1052 Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 119 f. 1053 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 44.



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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aufgelöst.1054 Der Pfarrer von Bermaringen geht offenbar einen Kompromiss ein: Er verzichtet auf die Messe, d. h. er verändert die Rituale des Gottesdienstes so, dass das eucharistische Sakrament nicht mehr als der wahre Leib Christi inszeniert wird, sondern als ein Symbol. So kommt er einer zentralen Forderung der zwinglischen Kultur nach. Andererseits: Bermaringen liegt an der Grenze des Ulmer Territoriums, weshalb die Untertanen leicht in eine auswärtige Kirche, nach Lautern, gehen können, um dort die Messe zu hören und das Sakrament anzubeten. Andere alte Zeremonien behält der Pfarrer bei, insbesondere die Beicht- und Taufsakramente, und das sicherlich nach traditionellem Ritus, d. h. mit Absolution (Beichte) und Weihwasser sowie Exorzismus (Taufe). 1535 findet die erste Visitation im Landgebiet statt. Die evangelischen Visitatoren  – die Pfarrkirchenbaupfleger Jos Schad, Christian Harder und Ulrich Kalhart sowie der Ratsprädikant Martin Frecht – werden erneut fündig. In Bermaringen etwa ist Pfarrer Zimprecht immer noch im Amt, nur die evangelischen Prädikanten, mit denen er im Konflikt liegt, wechseln. Schon bei der ersten Befragung war bekannt geworden, dass die altgläubigen Bermaringer über die Grenze ins benachbarte Lautern laufen, um dort die Messe zu hören. 1535 hat sich diese Vorgehensweise verfestigt, und zwar unter tätiger Mithilfe des Pfarrers, der seine religiöse Dienstleistung einfach auf der anderen Seite der Grenze anbietet. Dort liest er die Messe und lässt sich dafür extra bezahlen.1055 Es handelt sich also um ein Angebot, das von vielen Gemeindemitgliedern begrüßt und nachgefragt, vielleicht sogar gefordert wird. Da der Priester durch die Äbtissin von Urspring eingesetzt wird, ist das Drohpotenzial des Ulmer Rats gering. Das nutzt der Pfarrer, um in Bermaringen traditionelle Rituale und sakrale Dienstleistungen anzubieten. Dazu zählen möglicherweise die Sterbesakramente, denn ein Befragter berichtet, dass der Pfarrer von einer Frau nach dem Tod ihres Mannes Geld erhalten habe. Diese Stolgebühren könnten, da sie so explizit in diesem Zusammenhang genannt werden, auf die zunehmend verdeckte Durchführung entsprechender Rituale hindeuten, die nur gelegentlich öffentlich werden. Neben dem Ausweichen für seelsorgerische Angebote kommt es in evangelischen Territorien also auch zu Dissimulation und heimlichen Praktiken der Kleriker, die aus evangelischer Sicht als papistische Devianz und Aberglaube gewertet werden und Konflikte verursachen.1056

1054 Der Deutsche Orden zu Ulm präsentierte den Frühmesser in Bermaringen. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 24, 107; Eberl, Immo: Benediktinerinnenkloster Urspring. In: Klöster in Baden-Württemberg. http://www.kloester-bw.de/kloster1.php?nr=617 (29.7.2014). 1055 Auch der Frühmesser aus Altheim wird in der Visitation 1535 angeklagt, dass er andernorts Messen lese. Vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 101 f. 1056 Laut Aussage eines Richters ist dem Dorf noch nicht einmal die neue Kirchenordnung ausgehändigt worden, d. h. auch der symbolische Veränderungsdruck, der von der Kommunikation der Gesetzgebung in der Vormoderne ausgeht, ist in Bermaringen bisher ausgeblieben. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 110 f.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Die nähere Betrachtung der Synode von 1537 verdeutlicht die Persistenz, aber auch die Anpassung und Flexibilisierung devianter priesterlicher Religionspraxis im Ulmer Landgebiet. Dazu gehören u. a. Sakramentalien wie das Weihen von Weihwasser, das in den protestantischen Kirchenordnungen verboten ist. Genau das führt aber ein Geistlicher in Geislingen durch, der Wasser geweiht haben soll und damit sicherlich auf die Nachfrage in seiner Gemeinde reagierte. Über die Zugehörigkeit oder Einstellung dieses Priesters geht aus dem Protokoll nichts hervor. Die Herrschaftspfleger sollen eine Untersuchung einleiten und den Pfarrer gegebenenfalls verjagen.1057 Neben der Seelsorge und der Sakramentsverwaltung sind Predigten in der Reformationszeit ein zentrales Mittel, durch das Priester Kulturen trennen, Differenzen aufzeigen und Bilder des Eigenen und des Anderen prägen. Die Menschen sind es zu Beginn des 16. Jahrhunderts gewohnt, sehr langen Predigten zuzuhören und sich daraus viel zu merken.1058 Distinktion funktioniert also auch über akustische Praxis.1059 Wie sieht die Forschung die antiprotestantische Predigt im frühen 16. Jahrhundert? Deren Bedeutung für das Lager der Reformationsgegner im Alten Reich wurde lange Zeit unterschätzt. Erst durch die Studie von John M. Frymire über Predigtsammlungen, sogenannte Postillen, die zuvor als protestantisches Phänomen galten, hat sich diese Auffassung geändert. Die Predigt war um 1500 selbst in Dörfern zunehmend verbreitet. Die spätmittelalterliche Predigt war an präzise Themen gebunden und legte ihren Schwerpunkt vielfach auf Moral und Sitte, Reue und Umkehr, aber auch auf Doktrin und Frömmigkeit. Deshalb richtet sich Luthers Kritik auch nicht gegen das angebliche Fehlen von Predigten, sondern gegen deren herkömmliche Inhalte. Altgläubige Postillen erscheinen im Alten Reich insbesondere ab der zweiten Hälfte der 1520er-Jahre – mit vielen Bibelbelegen, Rekursen auf die Kirchenväter und einem sicheren Gespür der Autoren für die Wirkung in der Zuhörerschaft. Wichtige Autoren sind Johannes Eck und Friedrich Nausea. Die Postillen tragen in allen entstehenden Konfessionen über das ganze Jahr hinweg zur Konsolidierung der Glaubensüberzeugungen bei. Sammlungen von im Spätmittelalter populären Predigern wie Geiler von Kaysersberg verschwinden rasch aus den Druckprogrammen und werden ersetzt durch ihre hochmittelalterlichen Vorgänger. Die altgläubige Gesamtproduktion holt die Martin Luthers bis 1535 ein und überholt ihn sogar um das doppelte, wenn man die mittelalterlichen Neueditionen mitrechnet. Danach gehen die Lutherischen mit neuen Druckanstrengungen und Gattungen wieder in die Offensive.1060 Sermone sind eine ergiebige Quelle für diverse Themen. Susan Karant-Nunn hat sich bei ihrer

1057 Endriss, Visitationen und Synoden (wie Anm. 177), S. 124 f. 1058 Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 195. 1059 Zu deren Bedeutung vgl. Müller, Jürgen: „The sound of silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens. In: HZ 292 (2011). S. 1–29. 1060 Frymire, Postils (wie Anm. 42), S. 11–25, 50–125. Vgl. auch Worcester, Thomas: The Catholic Sermon. In: Preachers and People in the Reformations and Early Modern Period. Hrsg. von Larissa Taylor. Leiden 2001 (A new history of the sermon). S. 3–34.



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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Untersuchung der Emotionalisierung im 16. Jahrhundert auf verschiedene Predigttypen verschiedener Konfessionen gestützt, insbesondere auf die Passionspredigten.1061 Für Frankreich wiederum sind die altgläubigen Predigtkulturen der frühen Reformationszeit nicht zuletzt dank biographischer Studien recht bekannt, etwa durch die Arbeiten von Larissa Taylor über François Le Picart.1062 Taylor hat darüber hinaus eine detaillierte Studie über die Voraussetzungen, Strukturen, Inhalte und die Durchführung der Predigt in der Reformationszeit vorgelegt. Besonders interessant ist dabei die Beschreibung der Kontinuitäten und Brüche der Predigersoziologie und -kultur zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Autorin liefert dabei eine qualitative Neueinschätzung der Frequenz, Bedeutung und Qualität vorreformatorischer Sermone. Für die ersten antievangelischen Predigten konzentriert sie sich in Soldiers of Christ erneut auf die emblematische Figur Le Picart.1063Allgemein galten Predigten in der Forschung oft als Akt der Wissensvermittlung und der klerikalen Anreizung zu Handlungen bzw. Beschwichtigungen. Doch darin erschöpfen sie sich nicht. Ihre soziale Bedeutung ist vielseitiger und komplexer. In der Folge stehen weniger die inhaltlichen Analysen der Predigten im Vordergrund, sondern deren Durchführung und distinktiven Funktion. Im Landgebiet der Reichsstadt Ulm nach der Reformation 1531 hängt wie bei der Fortdauer bestimmter Rituale auch die Predigt allein vom individuellen Angebot der Priester sowie von der Nachfrage in den Gemeinden ab. Dabei kommt es zu einem bisher nur für Sakramente und Liturgien bekannten Verhalten, dem Auslaufen zur altgläubigen Predigt. Die Teilnahme an dieser wird ebenso wie deren Durchführung zu einer wichtigen distinktiven Praktik. Sie produziert Unterschiede nicht nur zwischen den Priestern, sondern auch innerhalb der Gemeinden. Denn auch Protestanten laufen zur Predigt in andere Orte. Aus den Pfarreien Lonsee und Urspring etwa berichtet der Amtmann beim Examen im Herbst 1531, dass die Untertanen in die Orte zur Predigt laufen, in denen ein evangelischer Priester spreche. Der Lonseer Richter Matthäus Schmid nennt Ettlinschieß als eines der Ziele und präzisiert, dass etwa die Hälfte der Bauern dorthin laufe. Im Rahmen desselben Examens bestätigt der Amtmann von Ettlinschieß, dass viele Auswärtige zur den Predigten ihres Pfarrers kommen. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings: Die andere Hälfte bleibt in ihren Heimatgemeinden, da sie offenbar die dortige Predigt oder das zur evangelischen Predigt alternative Gottesdienstangebot vorziehen – oder schlichtweg zuhause bleiben.1064

1061 Karant-Nunn, Reformation of Feeling (wie Anm. 354). 1062 Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313); Taylor, Good Sheperd (wie Anm. 313). 1063 Taylor, Soldiers of Christ (wie Anm. 454). 1064 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 45, 51. Die Pfarrer von Lonsee und Urspring werden vom Abt von Blaubeuren eingesetzt, der auf altgläubiger Praxis und Stellenbesetzung in seinen Gemeinden im Ulmer Landgebiet achtet und wiederholt entsprechend interveniert. Diese und andere Rechte des Abtes fallen am 8. Januar 1534 durch einen Vertrag an den Ulmer Rat, der dafür

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

Anders ist die Haltung des Volkes in der Gemeinde Merklingen, deren Pfarrer von den Chorherren aus Wiesensteig eingesetzt und gegen die „Veränderungen“ der Ulmer Obrigkeit protegiert wird. 1533 überlässt Wiesensteig gegen hohe Geldzahlungen die Pfarrrechte dem Ulmer Rat bis 1549. Noch 1531 berichtet der Amtmann aus Merklingen über den Ortspriester: „wiewohl meine Herrn [der Ulmer Rat, M. M.] verboten (geboten) allein den Text zu lesen aus dem Buch, so gang er doch davon und sag weiter, die Heiligen mögen (können) für uns bitten, halt die alten Zeremonien.“ Der Richter Marx Lauer sagt, dass die Sache des Evangeliums in der Gemeinde zwar nicht hart bestritten werde, doch dass sie die rechte Bahn des Glaubens aufgrund mangelnder Unterrichtung noch nicht kennen. Dabei begehre das Volk, das Wort Gottes zu hören. Zudem gebe es Differenzen zwischen dem Amtmann und dem Prädikanten. Ersterer gehe zwar in die Predigt und rede gegen die Messe, doch bleibe er damit erfolglos. Der Seelsorger handle weiterhin gegen die neue Kirchenordnung.1065 Die altgläubige Predigt scheint auf ein verhaltenes Echo zu stoßen und weitgehend abgelehnt zu werden. Sie sorgt für Spannungen und wird vom Amtmann wegen der inhaltlichen Stärkung der Heiligenfürbitte als deviant angezeigt. Ein weiterer Fall ist von der Synode in Ulm im Februar 1532 überliefert. In Langenau fallen der altgläubige Pfarrer und der evangelische Prädikant nicht nur durch rituelle Differenzen, sondern auch durch Wortduelle auf der Kanzel auf. Der Pfarrer lässt in seiner Predigt keine Psalmen singen und tritt nach wie vor im traditionellen Chorrock auf. Die Form und die Inhalte dieser Auftritte scheint das Volk aber durchaus zu goutieren. Die Einwohner stimmen mit den Füßen ab und sind laut dem Amtmann bei der altgläubigen Predigt deutlich zahlreicher als bei der evangelischen. Auch einer der befragten Richter äußert sich skeptisch über die Ansprachen des Prädikanten, der erst vor kurzem zur evangelischen Lehre konvertiert sei.1066 Im Ulmer Landgebiet liegt kurz nach Einführung der evangelischen Kirchenordnung die Initiative zur altgläubigen Predigt v. a. bei den Pfarrern, die sich besonders dann entsprechend hervortun, wenn sie durch auswärtige Patronatsherren geschützt werden. Die Gläubigen können noch verhältnismäßig frei wählen und machen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Dies unterstreicht die präzise Kenntnis der theologischen Inhalte und die durchaus entwickelten Zugehörigkeitsempfindungen des Gemeinen Manns. Darauf aufbauend können altgläubige Predigtangebote unterschiedliche Glaubenseinstellungen in den Gemeinden sichtbar machen und provozieren. Allerdings werden in der zweiten Hälfte der 1530er-Jahre derlei Predigten bzw.

Gebiete am Rand des Ulmer Territoriums an Blaubeuren abtritt und 500 Gulden bezahlt. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 26 f., 115. 1065 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 44 f.; Konflikte um Besetzungsrechte sind zwischen Ulm und dem Stift nicht neu. Bereits 1523 kam es zu Auseinandersetzungen um die turnusgemäße Präsentation des Pfarrers von Bernstadt. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 24 f., 108 f. 1066 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 70–72.



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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die dezidierte Darlegung altgläubiger Inhalt unter dem Druck der obrigkeitlichen Kontrolle deutlich seltener. Vergleichsweise offen und normativ unklar ist die religiöse Lage lange in vielen Teilen Ostwestfalens. Dort scheint die Predigtoffensive, anders als im Ulmischen, allein von den Protestanten auszugehen. Die Altgläubigen bedienen sich eher weniger dieses Mittels, wie es etwa Georg Oßwald in Geislingen tut, zumindest ist derlei in den Quellen kaum fassbar. Auch nach reformatorischen Wenden oder in Gebieten der religionspolitischen via media wie in Ravensberg sind mir keine einschlägigen altgläubigen Predigtoffensiven aufgefallen. Den Thesen der neueren Forschung von Larissa Taylor und John M. Frymire folgend, ist jedoch nicht von einem flächendeckenden Einbruch oder einem längeren Ausfall inhaltlich konventioneller Predigten auszugehen – doch herkömmliche Predigtinhalte oder Performanzen, die in Ulm ab 1531 für Streit sorgen, tauchen in den Quellen kaum auf, da vergleichbare Konfliktkontexte lange Zeit fehlen, selbst, wenn die Dorfgeistlichen die neuen altgläubigen Postillen predigen. Der fehlende Quellenniederschlag könnte, zumindest auf dem Land, also nicht zuletzt mit der seltenen und unregelmäßigen Präsenz profilierter lutherischer Redner zu tun haben. Es mangelt an direkten Konfrontationen. Doch auch in den Städten lassen sich engagierte und systematische Anstrengungen der Luthergegner auf der Kanzel quellenmäßig nur selten belegen. Eine Ausnahme ist der Pfarrer der Neustadtkirche von Warburg im Grenzgebiet Paderborns zu Hessen. Von dort dringen lutherische Einflüsse, zumal Schriften, nach Warburg. Dessen Pfarrer, Otto Beckmann, steigt auf die Kanzel und predigt kontinuierlich gegen Luther und evangelische Veränderungsbestrebungen in seiner Gemeinde. Von ihm liegt eine gemäß der Übung jener Zeit auf Latein veröffentlichte, aber von den rezipierenden Pfarrern sicherlich auf Deutsch gehaltene Sonntagspredigt vor.1067 Überraschenderweise fehlen auch im altgläubigen Herzogtum Bayern obrigkeitliche Ermutigungen und Initiativen zur antilutherischen Predigt. Zumindest ist entsprechendes in den hier untersuchten Quellen sowie in der Forschung kaum bekannt. Eine Ausnahme stellt Johannes Eck dar, der lange nur als Autor reaktionärer Pamphlete wahrgenommen wurde. Dabei geht er einer intensiven Prediger- und Seelsorgetätigkeit in Ingolstadt in St. Moritz und Unserer Lieben Frauen nach. Auch in der Münchner Frauenkirche steigt er auf die Kanzel. Nach 1526 publiziert er sogar mehr Predigten als Flugschriften. Insgesamt 456 Predigten sind bis 1532 in seiner Pfarrkirche überliefert, die er bald als Postillen drucken lässt. Gezielt versucht Eck damit, der weiten Verbreitung lutherischer Predigtsammlungen, die er scharf angreift, etwas entgegenzusetzen. Dies macht sich bei Eck am Gebrauch des Vernakularen sowie an

1067 Schröer, Reformation in Westfalen 2 (wie Anm. 252), S. 45–49; Beckmann, Otto: PRECATIO // DOMINICA, CONTRA IMPI=//os & seditiosos Lutheranorum errores. Köln: Peter Quetnel 1525. VD16 B 1409.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

theologischen und rhetorischen Aspekten bemerkbar, etwa den sehr häufigen Bibelzitaten.1068 Sehr früh und effizient nehmen die orthodoxen Obrigkeiten in Rouen und Paris die Möglichkeit wahr, die Laien mit Predigten zu beeinflussen oder zu bestimmten Handlungen zu motivieren. Evangelische Predigten wiederum werden unterbunden, durch obrigkeitliche Anordnung konterkariert oder durch altgläubige Laien gestört. In der Stadt Rouen etwa finden nach einer Reihe offener Manifestationen der „Häresie“, etwa nach Ikonoklasmen, groß angelegte Wiedergutmachungs- und Vergeltungsrituale statt. Darunter fallen insbesondere Reparationsprozessionen, teilweise sogar mit den Verurteilten, sowie Ketzerverbrennungen.1069 In diese Praktiken mit ihren komplexen Bedeutungs- und Bezugssystemen sind vielfach Predigten integriert, die damit eine einzigartige Funktion für und in der altgläubigen Kultur erhalten. Darüber sind wir etwa dank der Beratungsprotokolle des Domkapitels von Rouen gut informiert, wenngleich auch v. a. aus der Sicht der klerikalen Führung der Kirchenprovinz. So im Jahr 1528, als Pierre Bart wegen Blasphemie verbrannt wird. Er soll öffentlich Maria mit ketzerischen Irrtümern gelästert haben. Die Richter des Parlaments von Rouen beschließen „bonum esset facere processiones generales et sollemnes, in qua fiet predicatio ad instructionem populi ut abstineant ab erroribus et lectura librorum sacre scripture in linguam vernaculam translatorum“.1070 Die für den 23. Juli angesetzte Prozession folgt einem genau festgelegten Ablauf und Itinerar, die ebenso wie die zuvor in der Kathedrale gefeierten Messen reichliche Marienbezüge aufweisen. Die Predigt soll am Endpunkt der Prozession, dem Karmeliterkloster, gehalten werden.1071 Sie soll der Unterrichtung des Volkes dienen, das bei dem Umgang nicht aktiv eingebunden ist, sondern auf die Zuschauerrolle beschränkt wird. Den Laien soll nachdrücklich erklärt werden, dass sie von den ketzerischen Irrtümern sowie von der Lektüre volkssprachlicher Übersetzungen der Heiligen Schrift Abstand nehmen müssen. Dadurch soll die Sinnzuschreibung zur Prozession präzisiert und gelenkt werden: Die Gläubigen sollen sie als Warnung sowie als Aufforderung verstehen. Affirmative Marienrituale werden ergänzt durch die Darlegung dessen, was abzulehnen ist. Die Predigt wird somit zum performativen Akt der Unterschiedskonstruktion und -erklärung. In Anbetracht der sich in der ganzen Kirchenprovinz stark häufenden Ketzerprozesse beschließt das Domkapitel 1534, zwei Prozessionen abzuhalten, bei denen Gott um die Beendigung der Häresie gebeten wird. Der erste Umgang findet im Juni, der zweite im Dezember statt. In beiden Fällen ordnet das Domkapitel Predigten für das beiwohnende Volk an. Die Prozession selbst führt allein der Domklerus durch. Die Juni-Prozession endet in der Kathedrale „in qua fiet predicatio per dominum peni-

1068 Frymire, Postils (wie Anm. 42), S. 4–6, 52–68. 1069 Vgl. Kap. II. 3.3.1. und Kap. III. 3.1. 1070 ADSM, G 2153, Bl. 114v. 1071 ADSM, G 2153, Bl. 115v.



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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tenciarum ad exhortandum populum ad preces apud altissimum ut ipse dignetur dictos errores cessari facere.“1072 Anders als nach der Reparationsprozession 1528, als den Gläubigen nur gesagt wurde, was sie nicht tun dürfen, wird das Volk 1534 in der Predigt direkt in den Kampf gegen die protestantische Ketzerei eingebunden. Als Mittel dazu soll das Gebet dienen. Die Differenz soll so weiter internalisiert und in die persönliche Devotion eingeführt werden. Ähnlich verhält es sich bei der Dezemberprozession des Kapitels, die sich auf die Kathedrale von Rouen beschränkt und in der erneut eine Predigt gehalten wird „ad incitandum populum ad fidem catholicam et tollendum errores.“1073 Ziel der Predigt ist es, für den gemeinen christlichen Glauben und gegen die ketzerischen Irrtümer zu werben und das Volk dabei aktiv einzubeziehen und zu bewegen. Der Prediger soll die Laien also einerseits für und andererseits gegen bestimmte Kulturformen vereinnahmen. Eine weitere Prozession im Juni 1539 kommt aufgrund aktuell verbreiteter „Irrtümer“ zustande und führt von der Kathedrale zum Kloster Saint-Ouen „in quo fiet predicatio per dominum penitenciarum ad incitandum populum ad preces et orationes erga altissimum ut cessari facere dignetur tales errores.“1074 Die rituelle Einbettung der Predigt, wie wir sie schon in den Vorjahren kennengelernt haben, wird hier erneut wiederholt: Nach der Prozession des Domklerus durch die Stadt werden die Gläubigen in den Kampf gegen die Häresie eingebunden, indem sie zu Fürbitten aufgefordert werden. Schließlich findet im Juni 1542 eine allerdings im Umfang und bezüglich der Beteiligung der Laien deutlich umfangreichere Prozession statt, nach deren Rückkehr auf dem Kirchhof der Kathedrale eine Predigt gehalten wird.1075 Da die (altgläubige) Gemeinde bereits als Teilnehmer des Umgangs involviert ist, dürfte die abschließende Predigt zu einem besonders gemeinschaftsbildenden und eindrücklichen Erlebnis geworden sein. Die Prozession wird dadurch in ihrem Sinngehalt für die Laien abschließend gedeutet und sowohl zu einem affirmativen als auch kontrovers-distinktiven Ereignis. In Rouen finden darüber hinaus Verurteilungen und öffentliche Bestrafungen von Ketzern statt, bei denen Predigten einen präzisen Platz und eine spezifische Funktion erhalten. So etwa am 8. September 1531, als Marguerite Hurier aus Grainville-surFleury als Ketzerin verurteilt wird.1076 Das Register des Domkapitels hält dazu fest: „Facta advertencia de officiariis reverendissimi domini archeipiscopis de quindam muliere suspecta de heresi que debet publice predicari. Placuit prefatis dominis die dominica proxima fieri processiones generales in quarum redditu fiat dicta predi-

1072 ADSM, G 2154, Bl. 213v. 1073 ADSM, G 2154, Bl. 253r. 1074 ADSM, G 2155, Bl. 211v. 1075 ADSM, G 2157, Bl. 85v. 1076 Vgl. dazu Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 17; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193, der von einer „unnamed woman“ spricht.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

cacio in cimiterio ecclesie, et fient processiones post missam.“1077 Bei dieser Quelle handelt es sich um den Plan eines Schauspiels, bei dem alle Ritual- und Wortregister zur Demonstration und Deutung der überführten Ketzerin gezogen werden. Das Kapitel wird von den Beamten des Erzbischofs über das Urteil informiert, ebenso wie über den Plan der erzbischöflichen Justiz, der Frau eine öffentliche Predigt halten zu lassen. Diese Aufgabe dürfte einem Kleriker des nun eingeschalteten Kapitels zugefallen sein. Es handelt sich um eine publikumswirksame Schaupredigt, die nur formell an die Ketzerin, tatsächlich aber mindestens genauso an die dem Ritual beiwohnenden Bürger Rouens gerichtet ist. Die Predigt ist in eine ganze Reihe bereits erprobter altgläubiger Distinktionen integriert, welche die Aussagekraft der Predigt stärken und die Unterschiede noch deutlicher machen sollen. Zuerst wird die Sonntagsmesse gelesen. Danach führt der Domklerus eine Prozession durch, nach deren Rückkehr auf dem Kirchhof vor der Kathedrale die besagte Predigt stattfindet. Leider ist deren Inhalt nicht bekannt. In Paris wird das Mittel der Prozession gegen die Ketzer ebenfalls eingesetzt, gegebenenfalls unter Beteiligung der Bürgerschaft und mit variablen rituellen Ergänzungen.1078 Auch in der Hauptstadt finden dabei Predigten statt, jedoch seltener als in Rouen. Diese Feststellung kann natürlich dem vorzugsweise verwendeten Quellentyp der Selbstzeugnisse geschuldet sein. Womöglich sind die Predigten für die Laien schlichtweg von keiner so großen Bedeutung, dass sie festgehalten werden. Doch so detailliert, wie die Dokumente auf viele andere, ähnliche Ereignisse eingehen, wäre das Ignorieren von Anti-Ketzer-Predigten durchaus merkwürdig. Immerhin eine wird erwähnt von Pierre Driart, dem Kämmerer des direkt vor Paris gelegenen Stifts SaintVictor, der zu einer im Januar 1534 abgehaltenen Prozession Folgendes festhält: Le dimenche quatriesme jour de ce moys, fut faicte procession du recteur en la grand eglise de Paris, pour rendre grâces à Dieu et à la vierge Marye et tous les sainctz du bon vouloir du Roy, touchant la foy catholique, et y prescha monsr de Carnibus, cordellier, lequel declara bien au long au peuple assemblé l’intencion dudict seigneur, et comment on avoit faict beaucoup d’injustices, desquelles il n’avoit rien sceu, et luy en faisoit bien mal.1079

Die beschriebene Prozession findet in entscheidenden Wendemonaten für die französische Religionspolitik statt. Nach offen evangelischen Predigten in Paris im Jahr 1533, protegiert von Margarete von Navarra in Abwesenheit des Königs, nach der außenpolitischen Annäherungen an die deutschen Lutheraner und einer mitunter euphorischen Phase der diversen französischen Reformbewegungen, kommt es Ende 1533, Anfang 1534 zu einem einschneidenden Politikwechsel der Monarchie gegenüber den Evangelischen und Lutherischen in Frankreich. Franz I. trifft sich im

1077 ADSM, G 2154, Bl. 19r. 1078 Vgl. Kap. III. 3.2. 1079 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 166. Kursiv und Hochstellung in der Edition.



1.3 Seelsorge, Aktivismus und rituelles Angebot 

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November 1533 mit dem Papst in Marseille, zwei anti-ketzerische Bullen werden in Frankreich publiziert, die noch zuvor verbannten altgläubigen Prediger Beda und Le Picart dürfen zurückkehren und sprechen erneut öffentlich gegen die Evangelischen. Die Theologische Fakultät und das Parlament sollen und dürfen stärker zur Repression übergehen.1080 Die Prozession der Universität und des Rektors zur Kathedrale Notre-Dame stellt für den Chronisten Driart ein Symbol und zugleich ein Dankesritual für den Politikwechsel dar: Der König setze sich nun für den gemeinen christlichen Glauben ein. Die anschließende Predigt hält der Pariser Franziskanerguardian und Doktor der Theologie Pierre de Cornibus, dessen Ansprache zwei Elemente beinhaltet. Zum einen kommuniziert Cornibus ausführlich die aus seiner Sicht konsequentere Haltung des Königs in Religionsfragen. Die Wende erscheint also als erklärungsbedürftig, zumal – und das ist das zweite Element der Predigt – diese mit dem bisher offenen Raum der Möglichkeiten für Priester und Strömungen kollidiert, die Pierre Driart als Ketzer und Aufrührer wahrnimmt. Diese Offenheit der frühen 1530er-Jahre stellt Cornibus als Ungerechtigkeiten dar, wobei er sich sicherlich auf die Verbannung der altgläubigen Prediger bezieht. Diese Ungerechtigkeiten seien hinter dem Rücken des abwesenden Königs vorgenommen worden. Der daraus entstandene Schaden werde nun durch Franz I. ausgeglichen. Das Predigtangebot in Paris ist in diesem Fall funktional und inhaltlich unterschieden von dem, was wir in Rouen beobachten konnten. Die Prozession und die Predigt dienen nicht explizit, wie in Rouen, dem Kampf gegen die Ketzerei, der Fürbitte gegen die Lutherischen oder der Reparation, sondern der Kommunikation königlicher Politik, für welche die Gläubigen dankbar sein sollen. Allgemein lassen sich drei Kontexte und Funktionen altgläubiger Predigt herausarbeiten. In den bayerischen Räumen gibt es, trotz der altgläubigen Obrigkeit, keine breitere Predigtoffensive. Vielleicht ist sie auch schlichtweg nicht nötig. Im kulturell vielfach weniger stark festgelegten Westfalen darf ebenfalls von relativer Kontinuität der spätmittelalterlichen Predigt ausgegangen werden, die sich quellenmäßig nicht niederschlagen. Anders in Ulm: Dort finden Sermone statt, die in den evangelischen Quellen hinsichtlich der Inhalte und der Performanz von den Obrigkeiten klar als „papistisch“ oder „nach alter Art“ abqualifiziert werden. Doch die Initiative dafür muss, durchaus unter Gefahr, von den einzelnen Pfarrern oder den Untertanen ausgehen, die das Angebot frequentieren oder sogar einfordern. Unter dem Druck der Obrigkeit verlieren sich die Spuren dieses Angebots zusehends, sei es wegen der fortschreitenden Akzeptanz der Reformation, sei es wegen Anpassung oder schlichtweg durch Dissimulieren und eingeübte Formen der Verheimlichung im dörflichen Kontext. In Paris und Rouen zeigt sich ein nochmals anderes Bild. In lange v. a. in der Hauptstadt offenen, sich dann aber zur Mitte der 1530er-Jahre schließenden Räumen

1080 Dupèbe, Document sur les persécutions (wie Anm. 312), S. 405–411.

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 1 Priester im Differenzierungsprozess

der religiösen Möglichkeiten für evangelisch-reformerische Strömungen wird die orthodoxe Predigt von den Obrigkeiten rasch als ein Mittel erkannt, um eigene Inhalte bei den Laien zu festigen, Deutungen für bestimmte Ereignisse wie Hinrichtungen zu liefern oder gegen evangelische Kulturen und Priester vorzugehen. Dabei wird das Volk durchaus mit einbezogen. Die Predigten warnen und affirmieren nicht nur, sondern sie halten auch zum Gebet gegen die „Ketzer“ an oder runden Prozessionen ab, an denen die corpora der städtischen Bürgergemeinschaft beteiligt sind. *** Priester stellen für sich selbst, aber insbesondere im Zusammenhang mit anderen sozialen Entitäten ein lohnenswertes und für die Frage nach den ersten altgläubigen Distinktionen aussagekräftiges Studienobjekt dar. Dass altgläubige Priester sich auch in evangelischen Territorien über längere Zeit halten können und somit ein entsprechendes religiöses Praxis- und Predigtangebot machen, ist im Alten Reich dank der fraktalen Staatsstrukturen und der Beschaffenheit der Klerikerstellen durchaus keine Seltenheit. Diese Strukturen sorgen auch dafür, dass altgläubige Akteure auf vielfältigen Schutz und Hilfe hoffen können. Posten und Pfründen werden so zu einem harten Faktor bei der Entwicklung distinktiver Religionskulturen. Altgläubige Identitätsmerkmale entwickeln sich in den Fallstudien auf stark verschiedene Weise. Auch der Umgang und die bewusste Bezeigung oder das Kaschieren dieser Zugehörigkeit, insbesondere in Konfliktfällen, ist unterschiedlich. Klar wurde, dass der Klerus besonders über bestimmte Praktiken distinktive Positionen im sozialen Feld einnimmt und seinen Glauben bezeugt. Auch bei den Priestern macht und zeigt die Praxis den Unterschied, wobei das Bewusstsein einer fundierteren partikularen Zugehörigkeit vielfach noch eher gering ausgeprägt ist. Die Zugehörigkeiten entstehen langsam, sehr situationsgebunden und flukturierend entlang bestimmter Ritualangebote und Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit oder mit evangelischen Geistlichen, für oder gegen die mit bestimmten Repräsentationen und Konzepten argumentiert wird. Doch auf längere Sicht formen sich daraus – jedoch äußerst heterogene und nur sehr allgemein in einer überregionalen altgläubigen Argumentationsgemeinschaft verbundene – Ansätze zu Zugehörigkeiten und religiösen Angeboten an die Laien, die Jahrzehnte später als „katholisch“ zusammengefasst werden sollten. Im nächsten Schritt werden einzelne Rituale herausgegriffen und auf ihre Rolle in der religiösen Differenzierung für die Altgläubigen exemplarisch untersucht.

2 Praktiken des Heils und der Heiligung 2.1 Eucharistie und Messe 2.1.1 Eine lange Geschichte von Heterogenität und Devianz Die spätmittelalterliche Messe ist ein Fest für die Sinne. Der Altar ist, zumal wenn es sich um den Hochaltar handelt, mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf ihm steht das liturgische Gerät, das für die Durchführung der Rituale nötig ist und von Arnd Reitemeier in seiner ganzen Vielfalt aus den Rechnungsbüchern der Kirchenfabriken herausgearbeitet worden ist. Kelche, Ziborien und andere eucharistische Gefäße sowie Tücher, Bilder oder Retabeln sind je nach Ort, Reichtum und Alter der Pfarrei, sozialem Status etwa der Stifter und Ausgestaltung des Kirchenraums unterschiedlich. Orgeln verschiedener Bauart sorgen ebenso wie die Wandlungs- und Kirchenglocken für die akustische Begleitung. Die Bekleidung der Priester und die komplexen liturgischen Gewänder variieren in der Ausschmückung, den Stoffen sowie der Qualität der Verarbeitung. Die materiale Kultur der Messe war somit auch eine Erfahrung von Zugehörigkeit zur eigenen Gemeinde, der eigenen Familie oder Bruderschaft, sowie von sozialen und kulturellen Unterschieden.1081 Die Feier der Eucharistie, die Messe und die Austeilung des Abendmahls gelten als zentrale heilsbringende Praktiken. Laien sind seit dem vierten Laterankonzil (1215) verpflichtet, mindestens einmal jährlich den Leib Christi zu empfangen. Doch zuvor müssen sie eine Reihe von Vorbereitungs- und Reinigungsritualen durchführen, insbesondere die Beichte und das Fasten am Tag des Kommunionsempfangs – bzw. während der 40 Tage vor Ostern. Die Laien partizipieren aber nicht direkt an den eucharistischen Ritualen während der Messe. Die Wandlung wird still vollzogen und bietet den Gläubigen vielfach nur im Augenblick der Elevation der Hostie einen direkten Handlungsanreiz. Häufig betreten sie die Kirche auch nur kurz für diesen zentralen Augenblick. Ansonsten findet das Ritual auf Latein statt und wird gesungen, wobei der Priester die eucharistische Feier zwischen Gemeinde und Altar stehend feiert, mit dem Rücken zum Volk, und dadurch seine Mittlerfunktion und sakrale Macht im Presbyterium verdeutlicht. Viele Stillmessen werden ohne Publikum durchgeführt. Die konkreten Formen der Messfeier unterscheiden sich graduell in der lateinischen Christenheit je nach den regionalen und lokalen Traditionen, den Gegebenheiten und den vorhandenen Messbüchern. Für das Messritual ist die Präsenz der Laien also nicht nötig – doch diese partizipieren auf ihre eigene Weise daran. Die spirituelle Kommunion bei der Anbetung

1081 Reitemeier, Arnd: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Stuttgart 2005 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 177). S. 219– 293. DOI 10.1515/9783110492460-010

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

der elevierten Hostie und die im Spätmittelalter intensivierte Sakramentsfrömmigkeit überwinden einen Teil der Distanz zwischen dem Geschehen am Altar und dem Kirchenschiff, in dem die Gläubigen stehen. Diese hoffen auf die vielen Früchte der Messe und des Messehörens: Gesundheit, Schutz, Vergebung der Sünden und das Tun eines guten Werks. Eigene Deutungen der Abläufe führen dazu, dass die Messe zu einem multiperspektivischen und aus mehreren Sinnschichten konstruierten Vorgang wird, den Priester und Gläubige mitunter verschieden wahrnehmen. So wecken das Brotbrechen und das „Mahl“ am Altar Assoziationen aus der Lebenswelt der Gläubigen. Die Kommunion wird nur einmal jährlich empfangen, wobei die Laien vielfach den sogenannten Ablutionswein erhalten, also nicht konsekrierten Wein zum Herunterspülen der nach der Kommunion im Mund verbliebenen Hostienpartikel. Oft wird am Ausgang der Kirchen geweihtes Brot an die Kirchgänger verteilt. Dies sowie die zahlreichen sozialen Ausgleichs- und Friedensmechanismen der Eucharistie und der Messe machen diese zu einem gesellschaftlichen Ereignis.1082 Unterschiede in der Ausübung religiöser Rituale oder gelegentliche Abweichungen von der Orthopraxie sind im Spätmittelalter nicht unbekannt. Genuin „häretische“ Hintergründe liegen dabei, abgesehen von den Hussiten in Böhmen oder Waldensergruppen in Südfrankreich, jedoch nicht vor. Die Heterogenität und Widersprüchlichkeit in Fragen der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit wurden in der Forschung immer wieder hervorgehoben und dabei unterschiedlich bewertet. Josef Lortz machte sie 1962 verantwortlich für das Aufkommen und den Erfolg der Reformation, denn wegen der „Unklarheit“ seien die altgläubigen Theologen nicht in der Lage gewesen, Luther etwas Eigenes entgegenzusetzen, sondern hätten sich nur auf den Angriff beschränkt. Erst mit dem Konzil von Trient sei diese Unklarheit endgültig überwunden worden.1083 David V. N. Bagchi nuancierte dieses Urteil in seiner Theologiegeschichte der ersten Luthergegner, ohne es grundsätzlich zu revidieren. Er hielt das Fehlen zahlreicher doktrinärer Definitionen für die Ursache der Vielstimmigkeit der altgläubigen Antworten auf Luther. Von einer schädlichen Verwirrung spricht er allerdings nicht, sondern vielmehr von einer Diversität theologischer Meinungen, in deren Rahmen auch Luther zu Beginn agiert.1084

1082 Die Literatur zu diesem Themenkomplex kann hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Ich beziehe mich v. a. auf Karant-Nunn, Reformation of ritual (wie Anm. 73), S. 107–114; Bossy, Sociographie (wie Anm. 788); Rubin, Miri: Popular Attitudes to the Eucharist. In: A Companion to the Eucharist in the Middle Ages. Hrsg. Von Ian Christopher Levy [u. a.]. Leiden/Boston 2012 (Bill’s Companions to the Christian Tradition 26). S. 447468; Reinburg, Virginia: Liturgy and the Laity in Late Medieval and Reformation France. In: SCJ 23 (1992). S. 526–547; Wandel, Eucharist (wie Anm. 788), S. 14–45; Lebigue, Jean-Baptiste: Mors orandi. La législation des usages liturgiques au Moyen Âge (XIIe-XVe s.). In: RHR 229 (2012). S. 349–373. 1083 Lortz, Wert und Grenzen (wie Anm. 353), S. 10, 31 1084 Bagchi, Earliest Opponents (wie Anm. 43), S. 241–243.



2.1 Eucharistie und Messe 

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Dabei wurden die unterschiedlichen, mitunter auch widersprüchlichen Entwicklungen der spätmittelalterlichen Religionskulturen als Ausgangspunkt für die Herausbildung konfessioneller Differenzen herangezogen, die auf jeweils unterschiedlichen Bestandteilen der alten Frömmigkeit und Theologie beruhen. Dieses Konzept der normativen Zentrierung, ausgehend von der spätmittelalterlichen Pluralität, hat Berndt Hamm stark gemacht.1085 Andere Autoren gehen auch noch für weite Teile des 16. Jahrhunderts wahlweise von fehlender konfessioneller Distinktion oder von ritueller und glaubensmäßiger Vermischung der konfessionsspezifischen Elemente aus. Besonders lokale Fallstudien scheinen dies zu bestätigen, wenn sie auf eine chronologische Entwicklung hin angelegt sind. Dabei müssen im Vergleich mit dem frühen 18. Jahrhundert die „Konfessionen“ der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als „unzureichend“ oder „mangelnd entwickelt“ erscheinen.1086 In der französischen Forschung wurde über weite Strecken von einer langen Dauer der Reform bzw. der Christianisierung gesprochen, für die das Spätmittelalter und das frühe 16. Jahrhundert mit ihrer angeblich uneinheitlichen und missbrauchsanfälligen religiösen Kultur den Ausgangspunkt darstellen. Die unbestreitbaren Erfolge der Gegenreformation nach dem Ende der Religionskriege seien jedoch von Nachlässigkeiten, Inkonsequenzen und den bis zur Revokation des Toleranzedikts von Nantes 1685 präsenten Hugenotten getrübt.1087 Vielfach wurden die „Katholiken“ auch einfach separat betrachtet, d. h. weniger unter der Prämisse einer Partikularkirche, die aus der Differenz heraus lebt, sondern als mehr oder weniger unveränderte Entität. Konfessionelle Differenzen in der Praxis und Auseinandersetzungen mit dem evangelischen Anderen spielen im frühneuzeitlichen Frankreich, verglichen mit dem Alten Reich, tatsächlich eine insgesamt geringere Rolle. Dies prägte auch die Forschungstradition, bei der innerkatholische Entwicklungen meist mehr Interesse wecken als das interkonfessionelle Zusammenleben oder Abgrenzen. Nach dem beschriebenen Muster verfahren sowohl Marc Venard in seiner maßgeblichen Studie

1085 Vgl. Hamm, Normative Zentrierung (wie Anm. 11); zuletzt auch Hamm, Berndt: Reform, Reformation, Confession. The Development of New Forms of Religious Meaning from the Manifold Tensions of the Middle Ages. In: The Reformation as Christianization. Essays on Scott Hendrix’s Christianization Thesis. Hrsg. von Anna Marie Johnson u. John A. Maxfield. Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 66). S. 285–303. Mit vorgelagerten Konflikten, die im Kern schon im Spätmittelalter enthalten waren und sich in der Reformationszeit in zwei verschiedene Richtungen entwickeln, argumentieren u. a. auch Lentes, Thomas: ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten. In: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400–1600. Hrsg. von Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145). S. 29–67; Venard, Marc: Unité et décalages culturels et religieux en Europe (1470–1520). In: RHMC 49 (2002). S. 38–51. 1086 Z. B. Mayes, Communal Christianity (wie Anm. 961); Holzem, Katholische Konfessionskultur (wie Anm. 31); Forster, Counter-Reformation in the Villages (wie Anm. 32). 1087 Vgl. das Band mit gesammelten Aufsätzen von Sauzet, Robert: Religion et société à l’époque moderne. Itinéraire de Chartres au val de Loire. Tours 2012 (Perspectives historiques).

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

über die Kirchenprovinz Avignon als auch die Dissertation von Emmanuelle Friant über die materiale Kultur der französischen Katholiken im 16. Jahrhundert.1088 Dabei legen neuere Studien wie die v. a. theologie- und spiritualitätsgeschichtliche Arbeit von Thierry Wanegffelen über die „moyenneurs“ sowie die Arbeit von Thierry Amalou über Einheit und Differenz in Senlis zwischen 1520 und 1580 ein größeres Augenmerk auf die Entstehung und die teilweise sehr subtile Artikulation der religiösen Unterschiede.1089 Wann genau und wie in der Osterzeit bei den Altgläubigen die Hostie und eventuell der Ablutionswein ausgeteilt werden, ist recht verschieden. Meist ist die Laienkommunion im Spätmittelalter jedoch nicht Bestandteil der Ostermesse, sondern dieser zeitlich vor- oder nachgelagert. Während der Messe nimmt nur der Priester Leib und Blut Christ zu sich. Aus der schwäbischen Reichsstadt Biberach verfügen wir über detaillierte Beschreibungen des kirchlichen und rituellen Lebens kurz vor der Reformationszeit. Es handelt sich um die Aufzeichnungen eines anonymen Autors (nicht zu verwechseln mit Heinrich von Pflummern!), der es sich zum Ziel gesetzt hat, für die Nachwelt die mit der zwinglischen Reformation untergegangenen Brauchtümer festzuhalten. Die Karwoche mit ihren Ritualen nimmt in der Dokumentation viel Raum ein. Dazu heißt es: „Hat auch ein Jiglichs, das zue seinen tag ist kommen, das Jahr sollen einmahl zue dem Sacramendt gohn, das ist der Fassten oder Carwochen, als vff den grüenen Donnerstag, Charfreytag oder osstertag.“1090 Am Gründonnerstag findet die Austeilung der Hostie im Anschluss an die Frühmesse statt. Die Männer erhalten beim Choraltar oder dem mittleren Altar, die Frauen in der St.-Katharina-Kapelle oder beim mittleren Altar zuerst die Hostie, danach den Ablutionswein. Davor spricht der Priester am Altar einige Gebete. Während der Austeilung des Sakraments singt der Schülerchor. Weitere Kommunionsmöglichkeiten gibt es am Gründonnerstag vor oder nach der Hauptmesse, am Karfreitag und am Ostersonntag jeweils nach der Messe. Das „junge Volk“ hingegen empfängt das Sakrament bereits am Palmsonntag.1091 Schon die Formen der vorreformatorischen Abweichung von der Orthopraxie sind so brisant wie vielfältig. Um 1500 geht zum einen die Angst vor Hostienfrevel um, wie wir aus den Aufzeichnungen von Bruder Göbel, dem Laienvogt des westfälischen Augustinerklosters Böddeken, gleich mehrmals entnehmen können. Exemplarisch dafür ist ein angeblicher Vorfall bei der Osterkommunion 1521 in Volkmarsen, acht Kilometer südlich von Warburg gelegen, in einer Exklave des Herzogtums Westfalen. Eine Frau steckt bei der Austeilung des Sakraments dieses heimlich in ihren Mantel. Als sie dann mit den anderen Gläubigen zum Empfang des Ablutionsweins schreitet,

1088 Venard, Marc: Réforme protestante, Réforme catholique dans la province d’Avignon au XVIe siècle. Paris 1993 (Histoire religieuse de la France 1); Friant, Catholicisme matériel (wie Anm. 48). 1089 Wanegffelen, Ni Rome, ni Genève (wie Anm. 39); Amalou, Concorde urbaine (wie Anm. 682). 1090 Schilling, Zustände (wie Anm. 887), S. 120. 1091 Schilling, Zustände (wie Anm. 887), S. 118, 122–131.



2.1 Eucharistie und Messe 

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fällt die Hostie zu Boden. Die übrigen Kirchgänger kriegen die Frau zu fassen und zwingen sie zum Geständnis, dass sie die Hostie in vier Teile zerbrechen wollte. Sie wird kurz darauf wegen des angeblichen Frevels verbrannt.1092 Besonders die Priester stehen im Fokus des spätmittelalterlichen Devianz- und Missbrauchsverdachts. Zwar wirken die Sakramente nach allgemeinem theologischen Konsens ex opero operato, doch als Verwalter des eucharistischen Sakraments und als sakrale Dienstleister werden an den Klerus besondere Anforderungen gestellt, nicht zuletzt von den Gemeinden. Dies verdeutlicht eine Reihe vorreformatorischer Fälle aus der Kirchenprovinz Rouen. 1522 etwa vernachlässigen mehrere Kapläne der Kathedrale von Rouen ihre Osterpflicht. Die unerlaubte Abwesenheit vom Ostergottesdienst sorgt für einen Skandal und bringt den Säumigen eine Zitation vor das Kapitel ein.1093 Auch auf der Ebene der Pfarrgemeinden kommt es zu Nachlässigkeiten. 1519 wird Thomas Doynel, Pfarrer der Gemeinde St. Bartholomäus im exemten Gebiet des Klosters Montivilliers, der Prozess gemacht, da er zu Ostern die Sakramente der Beichte und der Eucharistie nicht gespendet haben soll.1094 1521–1522 ist ein Prozess aus dem Vikariat Pontoise überliefert. Der Pfarrer der Gemeinde Saint-Maclou, Robert Machart, muss eine Geldstrafe für folgendes Delikt bezahlen: „Eo quod celebrando missam non levavit hostiam consecratam nec calicem et propterea nonnulli asistantes dubitantes murmurarunt dictum Machart non ne consecrasse, unde maximum ortum fuit scandallum.“1095 Machart unterlässt mit der Elevation der Hostie und des Kelchs einen wichtigen Bestandteil des Konsekrationsritus. Wichtig ist dieser v. a. für die Laien, denn die Lektüre des Messkanons und der Vollzug der Wandlung erfolgen im Stillen. Somit ist die Elevation insbesondere des Leibs Christi für die Laien der Schlüsselmoment der Messe. Deren Unterlassung und damit die Unmöglichkeit der spirituellen Kommunion der Laien lösen Murren und Zweifel unter vielen Messebesuchern aus, die ohne die Elevation davon ausgehen, dass ihr Pfarrer Brot und Wein nicht konsekriert und somit seine sakrale Dienstpflicht grob verletzt hat. Im Rückblick lässt sich also feststellen, dass bestimmte Riten der Devianz für die Gläubigen nicht völlig neu sind, als sie in der Reformationszeit mit verändertem Sinngehalt und sozialen Auswirkungen wieder auftauchen. Der Umgang mit den Sakramenten im Gottesdienst ist für die frühe lutherische Kultur in Wittenberg ein brennendes und konfliktträchtiges Problem. Doch auch mögliche Verhaltensmuster in Anbetracht der Veränderungen sind schon erprobt, als es zu Beginn der 1520er-Jahre zuerst im Alten Reich zu – aus altgläubiger Perspektive – „Neuerungen“ in der Kommunionspraxis kommt. Dabei gibt es auch noch in der

1092 Da sie zuvor noch weitere ‚böse Frauen‘ denunzierte, womöglich unter Folter, muss noch eine weitere Frau ihr Leben lassen. Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 176. 1093 ADSM, G 2151, Bl. 23r. 1094 ADSM, G 5274, Bl. 16v. 1095 ADSM, G 378, Bl. 42r.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Reformationszeit Bestrebungen in der alten Kirche bezüglich der Reform der Messe. So hat kürzlich Nicholas J. Thompson die altgläubigen Debatten um die Abschaffung, Reduzierung oder zumindest Modifizierung der zahllosen Stillmessen rekonstruiert.1096 Doch derartige innerkirchliche Auseinandersetzungen sind mir in der religiösen Praxis nicht aufgefallen. Auffällig ist indes, dass sich die konkreten altgläubigen Distinktionsmomente in Messe und Eucharistie unterscheiden, je nachdem, ob die Altgläubigen mit Lutherischen oder mit Zwinglischen bzw. sacramentaires konfrontiert sind.

2.1.2 Abendmahlspraxis: sub una oder sub utraque specie? Messe und Eucharistiefeier geraten spätestens nach Martin Luthers reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520 ins Kreuzfeuer der evangelischen Kritik. Zumindest im Alten Reich bleibt es jedoch in den nächsten Jahren nicht bei theologischen Einlassungen und Ankündigungen, sondern es folgen rasch rituelle Veränderungen. Der Laienkelch wird erstmals 1521 in Wittenberg in der privaten Runde eines Freundeskreises von Melanchthon gereicht. Kurz darauf erfolgt die Austeilung in der „evangelischen Messe“ Karlstadts. Schon in Wittenberg wird der Kelch Teil eines neuen und distinktiven Gemeinschaftsbildungsprozesses, drückt aber zu dieser Zeit aus der Perspektive der Laien noch eine dingliche Sakramentsfrömmigkeit aus.1097 Bereits in seinen reformatorischen Schriften kritisiert Luther Formen und Theologie der herkömmlichen Messe, so etwa deren Opfer- und Werkecharakter in der Babylonischen Gefangenschaft. Äußerliche Zeremonien und Symbole treten für Luther in der Bedeutung hinter die für ihn wirklich wichtige innere Andacht und die Verkündigung des Evangeliums zurück. So lässt er den Ortsgeistlichen viel Freiheit, was die materiale Ausstattung der Kirchen anbelangt. So lange etwa Kerzen oder außer Betrieb gesetzte Sakramentshäuschen nicht stören oder die Laien ablenken, können sie in den Kirchen bleiben. Was zählt, ist das Wort Gottes. Doch als die ersten evangelischen Kirchenordnungen und präzisen Agenden erscheinen, ist diese Flexibilität freilich auf Dauer nicht haltbar. Die Diversität der konkreten lutherischen Gottesdienstgestaltungen bleibt jedoch bestehen. Besonders deutlich ist die Änderung der Liturgie freilich bei den Zwinglischen wegen deren symbolistischen Abendmahlsverständnisses. Sie brechen noch klarer mit den alten Messen. In der Formula missae et communionis von 1523 legt Luther die in der Folge immer wieder überarbeiteten Grundlagen für den neuen Gottesdienst fest, wobei sich die konkreten Änderungen an der Messliturgie bis hin zur Elevation der Hostie nach altem Brauch v. a. im ersten Teil der Messe in Grenzen halten. Wichtigste Änderung

1096 Thompson, Going Public (wie Anm. 788). 1097 Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit (wie Anm. 904), S. 154–169.



2.1 Eucharistie und Messe 

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ist die Abschaffung des Messkanons und  – nach einigem Zögern  – die Einführung der Volkssprache. Für Luther besteht letztlich kein Zweifel: Die Hostie ist für ihn der wahre Leib und der Wein das wahre Blut Christi. 1526 erscheint schließlich Luthers Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts. Die Kommunionspraxis der Laien in der Formula missae wird von Luthers eigener Erfahrung als Priester beeinflusst. Das Sakrament soll den innerlichen und persönlichen Bezug zu Gott herstellen und zudem häufiger stattfinden als zuvor, wie Amy Nelson Burnett herausgearbeitet hat. Der Gläubige soll sich und seine Sünden Gott anvertrauen und auf dessen Gnade in der Kommunion bauen. Entsprechend ist die Kommunion in Illustrationen als vereinzelter Glaubensakt abgebildet. Als solcher wird er zum zentralen Erkennungs- und Abgrenzungszeichen der lutherischen Protestanten. Auch in der zwinglisch-reformierten Kultur wird der Laienkelch gewährt. Doch der Unterschied zu den Lutherischen ist frappierend, denn die Sakramente werden von Zwingli und dessen Anhängern 1524 nur mehr als Symbole aufgefasst. Dies schlägt sich, wie Burnett analysiert hat, auch in der Kommunionspraxis nieder. Die Kommunion wird seltener als in der lutherischen Kultur angeboten und erfolgt in Form von normalem Brot, in dem Gott nicht gesucht und keine Verbindung zur Transzendenz hergestellt werden kann. Die Kommunion wird vielmehr zum Gemeinschaftserlebnis, das sich – wie Joel Van Amberg kürzlich für die reformatorische Gemeindebewegung Augsburgs herausgearbeitet hat  – leichter mit sozialen Emanzipationsbewegungen verbinden lässt. Während Luther demnach den spätmittelalterlichen Ablutionswein sakralisiert, desakralisiert Zwingli das gesamte Sakrament im symbolischen Abendmahl. Der innerreformatorische Bruch ist auch im Gottesdienst nachzuvollziehen. Während Luther die mittelalterliche Struktur der Messliturgie in vielen Aspekten beibehält, unternehmen Zwingli und mit ihm viele oberdeutsche Reformatoren eine klarere Verschlankung und Umorganisation des Gottesdienstes.1098 Ich beginne meine Suche nach den Auseinandersetzungen, durch die manche spätmittelalterliche Christen sukzessive zu Altgläubigen werden bzw. ihre spezifische Haltung zum Ausdruck bringen, bei der österlichen Kommunion und deren ritueller Inszenierung. In der Fallgruppe Niederbayern-Passau-Regensburg werden die Altgläubigen mit dem lutherischen Eucharistie- und Kommunionsverständnis konfrontiert. Wie verhalten sich jene, die mit der „neuen“ Kultur nicht konformgehen? Zuerst untersuche ich die politischen Rahmenbedingungen, die durch die Stoßrichtung der Ver- und Gebote bereits erste Hinweise auf die Art der Differenzentwicklung geben.

1098 Die Literatur zur reformatorischen Veränderung der Messe, der Eucharistiefeier und des Abendmahls ist äußerst umfangreich. Ich beziehe mich hier insbesondere auf neuere Arbeiten aus der angelsächsischen Ritualforschung von Burnett, Amy Nelson: The Social History of the Communion and the Reformation of the Eucharist. In: Past and Present 211 (2011). S. 77–119, hier S. 96–113; KarantNunn, Reformation of ritual (wie Anm. 73), S. 114–124; Wandel, Eucharist (wie Anm. 788), S. 98–138; Van Amberg, Joel: A Real Presence. Religious and Social Dynamics of the Eucharistic Conflicts in Early Modern Augsburg 1520–1530. Leiden/Boston 2012 (Studies in the History of Christian Traditions 158).

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Im Herzogtum Bayern schwenken Wilhelm IV. und Ludwig X. im Frühjahr 1522 innenpolitisch auf eine klare und vergleichsweise konsequent durchgehaltene antilutherische Linie ein. In deren Folge erlassen sie mehrere Mandate gegen die evangelische Bewegung. Dabei ist bereits der Publikationsmoment des ersten Mandats aussagekräftig für die Zielrichtung und die frühen distinktiven Kristallisationsmomente, die in Bayern zumindest von der Obrigkeit ausgemacht werden.1099 Die Datierung fällt auf den Aschermittwoch 1522 und somit auf den ersten Tag der Fastenzeit, zu deren Beginn das Mandat dann verbreitet wird. Darin weisen die Herzöge auf die Bulle des Papstes und das Wormser Edikt hin und bekunden ihren Willen, die lutherischen Lehren und Rituale nicht in ihrem Territorium einwurzeln zu lassen, wobei sie der Reihe nach besonders auf das Altarsakrament und die Messe, die Beichte, die Marienund Heiligenverehrung sowie die Gelübde und Eide des Regularklerus hinweisen.1100 Die Publikation des Mandats zu Beginn der Fastenzeit weist auf die Ostertage und die dann anstehende Beichte und die Laienkommunion voraus. Diese beiden Praktiken werden während der 1520er-Jahre in Bayern zu einem untrennbar zusammengehörenden Distinktionsmerkmal. Das verdeutlicht die Eidesurkunde eines lutherischen Ehepaars, Jörg und Anna Vogel, vom 24. September 1524. Sie wurden offenbar auf Befehl der Herzöge in München gefangen gesetzt, „sachenhalb, das wir in der fasten und andern verpotten tagen mit fleischessen, deßgleichen das hochwirdigist sacrament unnder paiderlay gestallt entpfanngen und allso wider den gemeinen prauch christenlicher aufsatzung unns vergessen.“1101 Zudem verstießen sie damit gegen die Papstbulle, das Wormser Edikt und das bayerische Religionsmandat. Von weiteren Strafen sehen die Herzöge zwar ab, doch dafür wird den Eheleuten Vogel im Beisein des Landhofmeisters und der Räte ein Eid abverlangt: Wir wollen auch samtlich oder sonnderlich hinfur der lutterischen oder anndern newen verfuerischen leren, weder offennlichen noch haimlichen nit anhanngen, dieselben nit verfechten noch außpraiten, sonnder mit empfahung des aller hochwirdigisten sacraments nach lanng hergeprachtem geprauch und aufsatzung der cristenlichen kirchen, messen, das heilig ewangelium unnd gotzwort nach auslegung der heiligen und von der cristenlichen kirchen angenomen lerern, auch all annder ordnung der cristnlichen kirchen, wie die bisher ob vil hundert jarn gepraucht worden, getreulich hallten und volziehen, unnd unns von derselben nit abwerffen, sonndern, noch entziehen.1102

1099 Das zweite antilutherische Mandat wird am 2. Oktober 1524 im Gefolge des Regensburger Treffens auf der Grundlage der Regensburger Einung erlassen und in einem Libell zusammen mit dem Wormser Edikt und der der Regensburger Reformordnung publiziert. Die Mandate von 1527 und 1530 richten sich gegen die Täufer. Das dritte bayerische Religionsmandat geht auf die Präsenz einiger Täufergemeinden im Herzogtum sowie auf den antievangelischen Abschied des Augsburger Reichstags von 1530 zurück – es wird im Mai 1531 erlassen. 1100 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 55–59. 1101 Hauptstaatsarchiv München (HStAM), Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 121r. 1102 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 121r.



2.1 Eucharistie und Messe 

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Die Vorfälle dürften in der Vorosterzeit und den Ostertagen geschehen sein. Jörg und Anna Vogel, deren genauer Wohnort aus dem Dokument nicht hervorgeht, brechen das Fasten und kommunizieren zu Ostern 1524 nach lutherischer Art, sub utraque specie. Davon müssen sie sich distanzieren und auf ihre Konversion in Glauben und Ritualen einen Eid ablegen. Die Kommunion unter einer Gestalt wird zum zentralen Differenzmerkmal für die Altgläubigen in Bayern: Sie symbolisiert das Gegenteil der lutherischen Kultur. Im Herzogtum ist es während dieser Jahre wohl nicht möglich, längere Zeit öffentlich und ungestraft den Laienkelch zu empfangen oder auszuteilen. Sogar das bloße Reden bzw. Predigen über die sub-utraque-Kommunion wird den Lutheranhängern zum Verhängnis. So etwa dem Guardian des Ingolstädter Franziskanerklosters. In einem Brief aus Ingolstadt vom 13. Mai 1522 an die Herzöge Wilhelm und Ludwig1103 wird von den verordneten Räten mitsamt Bürgermeister und Stadtrat der Eingang des Religionsmandats bestätigt. Dieses sei in der Stadt und namentlich mit den Pfarrern und dem Guardian des Klosters verkündet worden. Doch deren Zustimmung währt nicht lange: „Gleichwoll sein wir under anderm bericht worden, daz gedachte vatter gardian inner khurz um zeitt aines artickels halben, nämlich das daz hochwirdig sacrament in zwaierlei gestalt zeniessen on sundliche verbrechung sein mochte, mit etlichen layen red gehallten haben solle.“1104 Der Guardian muss sich für seine Unterredung mit den Laien, die womöglich bei ihm Rat oder Meinungsaustausch über die 1522 noch sehr neue Praxis gesucht haben, vor den Amtleuten rechtfertigen. Dabei waren die Worte, die er geäußert haben soll, noch zurückhaltend: Es scheint, als ob er nicht aktiv für den Laienkelch wirbt, sondern vielmehr nur dessen legale Austeilung unterstützt. Diese Forderungen werden in dem Schreiben an die Herzöge als lutherischer Irrtum angesehen. Schon die Verteidigung derartiger Lehren ist gemäß dem kurz zuvor erlassenen herzoglichen Mandat verboten. Nach dem Verhör lenkt der Guardian rasch ein und bekräftigt, sich künftig an die alte Lehre und Ordnung der Kirche halten zu wollen. Von der tatsächlichen Durchführung der Laienkelch-Kommunion in Ingolstadt ist nichts überliefert. Die Norm und das Mehrheitsritual ist weiterhin die Hostienkommunion im Rahmen der Ostermesse nach vorhergehendem Fasten und Beichten. Das wiederum bedeutet, dass die exakte Unterscheidungslinie weniger zwischen der Annahme oder der Ablehnung des Laienkelchs verläuft, sondern zwischen der traditionellen Hostienkommunion bei der Ostermesse und dem nicht-Empfangen der Osterkommunion bzw. der Absenz während der Messe. Die altgläubigen Mehrheitsnormen sollen von den herzoglichen Amtleuten sowie dem Klerus überwacht werden. Wer sich an diese wendet und einen Verstoß gegen die altgläubigen Mandate meldet, gibt dadurch seine antilutherische Haltung zu erken-

1103 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 26r–27v 1104 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 26r.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

nen. Die Denunziation wird zum Instrument der bayerischen Altgläubigen in der frühen Reformationszeit. So berichtet 1523 der Burghausener Pfarrer in einem Brief an Alban von Closen zu Haidenburg, den herzoglichen Hauptmann in Burghausen, von mehreren lutherischen Devianzen in seiner Stadt. Über einige Beschwernisse, die ihn und seine Mitpriester plagen, habe er sich bereits beklagt: die Winkelprediger sowie etliche Personen, die in diesem Jahr noch nicht kommuniziert hätten. Diese seien ihrer Osterpflicht auch nun, gut drei Wochen nach Ostern, noch nicht nachgekommen, weshalb der Pfarrer den Hauptmann zum Einschreiten auffordert, um die religiöse Einheit in Burghausen zu bewahren. Anschließend nennt er die auffälligsten Delinquenten und deren Vergehen beim Namen, darunter einige Kommunionsboykotteure. Unter denen befindet sich auch der Bürgermeister.1105 In der Diözese Regensburg ist die Lage hingegen komplexer, denn die geistliche Autorität des Bistumsadministrators ist schon vor der Reformationszeit beständig kleiner geworden. Besonders in der Oberpfalz ist der Raum der Möglichkeiten für verschiedene entstehende Religionskulturen vergleichsweise offen. Doch auch dort entsteht eine Trennlinie zwischen Altgläubigen und Lutherischen um die Kommunion in der für diese Gegend während der Frühzeit der Reformation spezifischen Form: Spendung bzw. Teilnahme an der traditionellen Praxis  – oder deren Boykott. In diesem Sinn wenden sich am 4. September 1531 sechs Kapläne aus Weiden in der Oberpfalz an den Regensburger Bistumsadministrator Johann und bitten ihn um Befreiung von Messfeiern, bei denen nicht die Kommunion unter beiderlei Gestalt gereicht werden darf.1106 In der Stadt und dem Hochstift Passau fällt, ähnlich wie im Herzogtum Bayern, eine ganze Reihe antilutherischer Mandate mit der Osterzeit und somit mit der Kommunions- und Beichtzeit schlechthin zusammen. Diese chronologische Konkordanz deutet darauf hin, dass die Obrigkeiten zu diesem Zeitpunkt besonderen Regelungsbedarf erkennen und zentrale Kulturformen der Christenheit in Gefahr glauben. Das erste Mandat vom 29. Juli 1522 wendet sich nur gegen lutherische Schriften, ist also ritualgeschichtlich unbedeutend.1107 Das zweite Passauer Mandat vom 23. Mai 1523 verkündet im Wesentlichen das kaiserliche Mandat nach dem Nürnberger Reichstag. Zu Messe, Kommunion und anderen religiösen Praktiken findet sich darin nichts.1108 1526 erlässt Administrator Ernst ein sehr ausführliches Mandat an die Stadt Passau gegen die Lutherischen.1109 Dieses ist datiert auf den 10. März und fällt damit in die Fastenzeit vor Ostern (1. April). Administrator Ernst befielt, „das in der heyligen meß,

1105 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 43r–v. 1106 In ihrer Begründung heißt es, man dürfe nichts aus der Heiligen Schrift weglassen. BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 12r–15v. 1107 ABP, OA Gen., 1113, Bl. 5r. 1108 ABP, OA Gen., 4884, S. 35–38. 1109 ABP, OA Gen., 4884, S. 39–50.



2.1 Eucharistie und Messe 

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raichung der hochwirdigen sacrament, auch andren christenlichen ordnungen und gebreuchen mit vasten, beten, beichten und anderm, nichts verändert werde“1110. Wer in der Fastenzeit Fleisch isst und nicht beichtet sowie zum hochwürdigen Sakrament nicht nach altem Herkommen oder gar nicht geht, dazu noch lutherische Schriften verbreitet, dem drohen schwere Strafen. Inhaltlich wird dieses Mandat ein Jahr später, am 23. März 1527, erneuert1111 – Ostern fällt auf den 21. April. Nochmal ein Jahr später erlässt Ernst ein weiteres Mandat an die Stadt Passau, in dem er zentrale Elemente der Vorjahre aufgreift, sich jedoch insbesondere gegen die Täufer wendet.1112 Diese Ordnung ist auf den 28. März 1528 datiert, obwohl die Passauer Täufergruppe bereits im Januar entdeckt worden ist. So wird es zwei Wochen vor Ostern erlassen und lenkt den Blick wieder auf den zentralen Kristallisationsmoment der Unterschiede. Die Art der Osterkommunion wird somit auch in Passau zum wichtigen Differenzmerkmal entlang der Variablen Teilnahme bzw. Anbieten der sub-una-Kommunion – oder Kommunionsverweigerung. Der Laienkelch als Unterscheidungskriterium ist in altgläubiger Sicht ein bekanntes und womöglich tatsächlich ab und an durchgeführtes Ritual der Evangelischen. Die obrigkeitliche Politik in Passau lässt diesen aber nicht zu und Ausweichen in mögliche lutherische Nachbarterritorien ist nicht möglich, da Passau zwischen Bayern und habsburgischen Territorien liegt. Die Mandate sollen die altgläubige Übung stärken und verleihen dieser einen distinktiven Sinn, da in den Mandatstexten die Orthopraxie immer mit den entsprechenden ketzerischen Praktiken gegenübergestellt wird. Anders als bisher angenommen, zeigen die bischöfliche Verwaltung und Justiz in Passau einen gewissen Ehrgeiz bei der Überwachung ihrer Ordnungen. Zweimal, 1526 und 1528, laufen Verfahren gegen Laien, welche die österliche Beichte und Kommunion unterlassen haben. Am 1. August 1526 werden deshalb einige Passauer vor die Amtleute des Administrators zitiert.1113 Zwei Männer sagen aus, sie hätten mittlerweile ihre Beicht- und Kommunionspflicht erfüllt. Andere Gläubige geben an, „wie sy etlicher iar irriger sachen und feintschaften halben verhindert syen. Wellen sich aber darzu schicken.“1114 Ob es sich bei diesen vagen Andeutungen um Ausflüsse fundierter Glaubensdifferenzen handelt, ist ungewiss. Natürlich gibt sich bei der Befragung niemand leichtfertig als Lutheranhänger zu erkennen. Doch ihr mangelhaftes Verhalten hat sie verdächtig gemacht. Das unterstreicht erneut den Bedeutungswechsel, den die schon im Spätmittelalter bekannte und strafbare Absenz von der jährlichen Kommunion aus altgläubiger Perspektive im Jahr 1526 erfahren hat. Umgekehrt gelten nun jene, die nur die Hostie empfangen, nicht mehr nur als Christen, sondern als

1110 ABP, OA Gen., 4884, S. 43. 1111 ABP, OA Gen., 2107, S. 7–14. 1112 ABP, OA Gen., 4884, S. 67–74. 1113 ABP, OA Gen., 2107, S. 1 f. 1114 ABP, OA Gen., 2107, S. 1.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

wahre oder alte Christen. Den Säumigen wird befohlen, innerhalb von zwei Wochen die Kommunion nachzuholen. Damit müssen sie sich vor der kontrollierenden Instanz des Pfarrers in die Ritualgemeinschaft der alten Kirche eingliedern. Am 7. Januar 1528 werden erneut Bewohner Passaus vor die bischöflichen Räte zitiert.1115 Ihnen wird zur Last gelegt, dass sie, anders als die christliche Ordnung verlangt, zur Osterzeit nicht gebeichtet und das hochwürdige Sakrament empfangen hätten. Die Entschuldigungen sind wiederum vielfältig, ein lutherisches Bekenntnis legt freilich niemand ab. Der Weber Rab etwa gibt an, dass er zur Osterzeit auswärts und danach krank gewesen sei. Zudem klagt er, dass man den Priestern wegen der Beichte stets nachlaufen müsse.1116 In der folgenden Aussage gibt der Schuster Schnappenwalder zu Protokoll, er habe die Kommunion nicht empfangen, da er nur einmal beichten wollte und nicht, wie vorgeschrieben, zweimal.1117 Viele andere entschuldigen sich mit Abwesenheit in der Osterzeit, schützen auswärtige Beichte vor oder sprechen von Widerwärtigkeiten und Feindschaften, die sie am Gang zur Kirche gehindert hätten. Sie alle geraten unter den Verdacht der Heterodoxie, denn die altgläubigen Klassifizierungsschemata für die beschriebenen Vorfälle verändern und verhärten sich, wonach es sich bei den Säumigen um Anhänger der Ketzerei handeln könnte. Sie müssen die beiden Rituale innerhalb einer Woche nachholen. Der Großteil sagt dies zu, „dann nur allein Rab weber und Schnappenwalder schuster haben sich etwas stuzig und ungehorsam erzaigt, doch solhes zethun nit anstenckhenlich widersprochen. Dergleichen hat Achatz Fleyschhacker datzu stillgeschwigen, weder ja noch nein gesagt.“1118 Rab und Schnappenwalder akzeptieren nur nach Widerstand die altgläubigen Rituale, was ein Hinweis auf ihre lutherische Glaubensüberzeugung sein kann. Fleischhacker äußert sich erst gar nicht. Offenbar kann er als Lutherischer dem von ihm abgelehnten Ritual nicht zustimmen. In Corvey in Ostwestfalen ist die spätmittelalterliche Messkultur um 1520 unverändert und, wie es scheint, unangefochten im Schwange.1119 Die obrigkeitliche Kirchenpolitik ist in den ostwestfälischen Kleinterritorien, wie wir schon mehrmals beobachten konnten, vergleichsweise schwach entwickelt. Selbst in Lippe unter dem altgläubigen Grafen Simon V. sind evangelische Kulturveränderungen nicht nur in der Hansestadt Lemgo, sondern auch in der Landstadt Salzuflen kaum zu verhindern. Im Vergleich zu Bayern ist der Raum der Möglichkeiten für unterschiedliche Religionsgemeinschaften also weit offen. Das gilt auch umgekehrt nach der Reformation

1115 ABP, OA Gen., 2107, S. 46–49. 1116 ABP, OA Gen., 2107, S. 46. 1117 ABP, OA Gen., 2107, S. 46. Vgl. zu Schnappenwalder ausführlicher in Kap. II. 2.2. 1118 ABP, OA Gen., 2107, S. 48. 1119 Vgl. etwa die Messstiftung von Rat und Gemeinde Obermarsberg für die örtliche, der Fürstabtei Corvey unterstellte St.-Nikolaus-Kapelle 1518. Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Münster (LAV NRW W), Fürstabtei Corvey, Nr. 564, fol. 7rv.



2.1 Eucharistie und Messe 

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1538. Dieses ostwestfälische Phänomen relativer Offenheit ist besonders gut in der Grafschaft Ravensberg zu beobachten, wo die Rahmenbedingungen der Religionsausübung durch die via-media-Kirchenpolitik des Herzogs Johann III. von JülichKleve-Berg bestimmt sind. Ab 1523 lassen sich evangelische Lehren und Handlungen in Ravensberg nachweisen. Die Kirchenordnung und die ergänzende Declaratio von 1532 und 1533 sollen v. a. der Entwicklung starker Differenzen vorbeugen und stellen kontroverse Fragen hintan.1120 Eine zentrale Differenz zwischen den Altgläubigen und dem lutherisch geprägten Protestantismus entsteht in diesem Territorium um die Frage des Laienkelchs. Anders als in Bayern und Passau, wo dieser verboten und für die Laien schwer zu bekommen ist, scheint die Kommunion sub utraque specie in Ravensberg hier und da möglich zu sein. Dafür müssen die Gläubigen nicht mal in die lutherischen Städte Herford oder Lemgo gehen. Gemäß der Kirchenordnung findet 1533 in Ravensberg eine Visitation statt, in der nach der Ausstattung und der rechtlichen Lage der Kirchen, nach den Priestern, der Haltung des Volks sowie lebensweltlichen und religiösen Streitfällen gefragt wird. Welche Rolle spielen die Messe und die Kommunion für die Altgläubigen und wie groß ist deren Konfliktpotential? Bei der Analyse bezüglich dieser Frage lässt sich allgemein festhalten, dass Differenzen ab und an von den Examinierten angesprochen werden. Der Laienkelch ist eine so auffällige und für die Protagonisten bedeutsame Praxis, dass er bis in die Visitationsprotokolle gelangt. Dies wird in Bielefeld deutlich, wo die Examinierung der beiden Pfarrkirchen in der Alt- und der Neustadt und die Befragung der Priester in dieser Hinsicht zwar wenig ergiebig ist, ebenso wie die Befragung von Bürgermeister und Rat. Aber der Dekan des Bielefelder Stifts liefert einen Hinweis. Er klagt über die Predigten der Kapläne in der Stadt und bekundet „daß er ouch gehoirt  – weiß aver nit fur war – wie daß der capellan in der alden statt etliche under bider gestalt communicirt sult haven; doch das sie sunst ein jeder erbarn wandels sin und nimantz ineptus.“1121 Offenbar ist der Dekan bei der Kommunionspraxis mit den Kaplänen nicht einer Meinung. Doch damit steht er zumindest nach den übrigen Aussagen in der Visitation allein. Der Altstadtkaplan, der etlichen das Sakrament unter beiderlei Gestalt ausgeteilt haben soll, wird von seinem Pfarrer sogar als „ziemlich geschickt“ gelobt.1122 Die Laienkelchkommunion wird offenbar mit pragmatischer Zurückhaltung gereicht, um traditionelle Gläubige damit nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Gemeindevertreter haben jedenfalls nichts zu bemängeln. Es scheint sogar so, dass sie die Regelung begrüßen: Beide Kommunionsformen werden an verschiedenen Orten

1120 So erfolgen keine Festlegungen bei der Frage des Laienkelchs und dem Klerikerzölibat. Explizit untersagt werden nur die Wiedertaufe und das symbolistische Abendmahl. 1121 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250). 1122 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250), S. 138 f.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

angeboten, woraufhin die Laien selbst wählen können, wohin sie gehen. Dieses Arrangement sorgt für ein eher niedriges Konfliktpotential. Anders verhält es sich im Kirchspiel Wallenbrück im Amt Sparrenberg. Der dortige Kaplan, Johann Rasche, der gleichzeitig die Dreikönigs-Vikarie versieht, bezieht in der Befragung eine klare Position: „Er halte ouch alle communion in der kirchen wie van alders.“1123 Rasche hat eine Frau mit mehreren Kindern bei sich, was unter den Laien im Kirchspiel allerdings keinen großen Anstoß zu erregen scheint. Das Volk weiß nicht einmal, ob Rasche mit der Frau verheiratet ist, oder ob er konkubinär lebt. Missstimmung zwischen Pfarrer und Laien wird von keiner Seite angedeutet, auch nicht bezüglich der Kommunionsfrage. Umso ungewöhnlicher ist es bei dieser Visitation, dass sich der Kleriker derart nachdrücklich zur eigenen Sakramentsverwaltung äußert. Dieses Bekenntnis mag also durchaus affirmativen Charakter haben. Immerhin scheint Johann Rasche das Bedürfnis zu haben, vor den Vertretern des Herzogs seine Haltung in der Kelchfrage explizit auszudrücken. Im kleinen Kirchspiel Roinkhusen im Amt Limberg ist die Lage nochmals anders, aber wiederum durchaus typisch für den offenen Ravensberger Kulturraum und dessen Auswirkungen. Während in Wallenbrück der Kaplan gleichzeitig noch eine Stiftung innehat und der Pfarrer absent zu sein scheint, ist die Zahl der Kleriker in Roinkhusen größer. Pastor Heinrich Halemeier hat einen Kaplan, Jost Dirterdink, der die Pfarrei betreut, in der es noch einen Vikar namens Jakob Hacke gibt. Alle leben mit Frauen zusammen und haben Kinder. Die Gemeindemitglieder heben hervor, „das der capellan, genannt herr Jost Dirterdink etlichen so er da im kirspel von ime begern das hochwirdig sacrament in bider gestalt gericht haf.“1124 Der Kaplan richtet sich also an der Nachfrage der Laien aus. Während die einen nur die Hostie empfangen, nehmen die anderen die Hostie und den Kelch. Diese kulturelle Offenheit der jülichkleve-bergischen via media ermöglicht in Roinkhusen eine recht friedliche Koexistenz der beiden Gruppen, die sich um das Abendmahl herum konstituieren. Die Form der Kommunion geht also jeweils auf reflektierte Entscheidungen der Bauern zurück. Die offene Entwicklung wird auf der Dorfebene aber pragmatisch gelöst und moderiert. Zwar sind Differenzen sichtbar, die jedoch ohne den dirigierenden Eingriff der Obrigkeiten nicht allzu sehr an Schärfe und Tiefe gewinnen. Auch der ostwestfälische Mönch Göbel Schickenberge berichtet nach seinen Reisen über die Messe und den Laienkelch in den Nachbarregionen. Die deutsche Messe der Lutherischen ist für ihn ebenso ein Merkmal für die Zugehörigkeit der Bevölkerung wie der Laienkelch. Dieses Deutungsraster legt er auf eine ganze Reihe von Städten außerhalb Westfalens an. So berichtet Bruder Göbel aus Braunschweig über die Auseinandersetzungen um die Abendmahlsform:

1123 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250), S. 151. 1124 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250), S. 160.



2.1 Eucharistie und Messe 

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Item by Bruinsswich lach eyn dorp, dar was de pastor ouck in den erdum gekomen, also dat he ouck synen kirspelsluden gaff dat hillighe sacrament in beiden ghestalt als in brode unde winne etc. Unde der borger van Bruinsswick was vil, de ouck darhen gegen unde leiten sic ouck also berichten up de nyen wisse. Unde de rait van Brunsswich worden de ghewar unde vorboden dat eren borgeren. Unde als ick dar was, so was erer eyn styge off II styge, hatten sick thosamen geworppen unde wolden sampliken gain vor den rait unde wolden sprecken, dat se dat also bestelden, dat en up dit Paissen binnen Bruinsswick ouck worde gegeven dat hillighe sacrament in beider ghestalt off se wolden na dem pastor darbuten gain unde wolden seyn, we en dat werde; unde dar mochte wol grot unwille van komen, den Got de almechtighe wille tho den besten vogen, want se waren gans angesteken bynnen Bruinsswick myt der nygher kettereyghe. Got behode uns. Amen.1125

Der Westfale Göbel Schickenberge berichtet von zwei Optionen, über die die lutherischen Bürger Braunschweigs verfügen, um die Kommunion unter beiderlei Gestalt beim anstehenden Osterfest zu erhalten. Entweder sie laufen in das Nachbardorf, in dem der Pfarrer den Kelch austeilt, oder sie versuchen, auch in ihrer Heimatstadt die Austeilung des Bluts Christi an die Laien zu erwirken. Die erste Variante ist ihnen jedoch verboten worden. Deshalb haben sich 20 bis 40 Männer zusammengeschlossen, die nun Druck auf den Rat bzw. die altgläubigen Ratsherren ausüben. Anders als in Bayern entsteht der Unterschied also nicht zwischen Partizipation oder Absenz bei der ausschließlich möglichen Hostienkommunion. Vielmehr können die Gläubigen wählen, wenngleich auch unter prekären Umständen, ob sie nur die Hostie oder Hostie und Kelch empfangen. Beide Entscheidungen sind öffentlich sichtbar, sei es durch das Auslaufen oder das Sitzenbleiben in der Kirche, wenn der Priester den Laienkelch austeilt. Der Blick von Göbel Schickenberge richtet sich gelegentlich, für bedeutende Ereignisse, die ihn in Böddeken oder auf seinen Reisen erreichen, auch auf weiter entfernte Gegenden. So berichtet er über die Schweizer Reformation im Zusammenhang mit dem zweiten Kappelerkrieg 1531, in dem Zürich gegen fünf altgläubige Orte am 11. Oktober in der Schlacht bei Kappel eine vorentscheidende Niederlage erleidet und Huldrych Zwingli getötet wird.1126 Die Schilderung Göbels ist aufschlussreich über dessen Wahrnehmung der Konfliktkonfiguration in der Eidgenossenschaft und allgemeiner in Oberdeutschland – im Unterschied zu dem, was er aus seiner Heimat kennt: Item um de tijt sant Mychgelis [29.10.1531, M. M.] so waren boven in Swiczenlande twe stede; de eyne wort vorleit van eynen ketter genant Swingelus. De sprack, dat dat hillige sacrament nicht en were unde hatte dat folck also vorleit, dat se des geloften. Unde de eyne stat de heit Bernnen; de wort unneyns myt eyner ander stat, de heit Lucernen. Dar hebbe ick wol in gewest; licht X millen boven Bassel. Also de se thosamen wolden striden unde quamen tho velde, de stat van Bernen myt eren vorleyder Swingelus wol myt XXm man unde de stat Lucernen, de bleven bi eren

1125 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 264. 1126 Vgl. u. a. Meyer, Helmut: Kappelerkriege. In: Historisches Lexikon der Schweiz. http://www.hlsdhs-dss.ch/textes/d/D8903.php (15.08.2014).

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

alden geloven unde bi dem hilligen sacrament; de quamen myt Xm man tho velde. Unde dar wort eyn grote slacht: XXm tegen Xm; unde de Xm behelden dat velt. Unde den vorleider, den de XXm dussent hatten, de heven se an kline stucke. Also halp em Got unde dat hillige sacrament, dat de gelovegen dat velt unde den strit behelden unde wonnen. Aver dar bleven doden van beiden siden mer dan V dussen. Got helpe uns. Wy armen cristen moitten nu leider vil liden.1127

Es ist unklar, wie Göbel an die Informationen über die Ereignisse in der Eidgenossenschaft gekommen ist. Dennoch lassen sich über seine Darstellung Rückschlüsse auf sein Wahrnehmungsraster gewinnen. Zuerst bleibt festzuhalten, dass die konkreten Konfliktlinien Göbel fremd und erklärungsbedürftig erscheinen. Laut Göbel verneint der Verführer Zwingli, dass die Eucharistie ein Sakrament ist. Damit umschreibt er die Zürcher Lehre, die nicht nur den Laienkelch impliziert, sondern auch die symbolische Abendmahlsauffassung. Anders als in Ostwestfalen stehen in der Eidgenossenschaft also die Hostie und deren Substanz im Mittelpunkt des Konflikts. Als Hauptstadt der Ketzer führt Bruder Göbel Bern an, das am Kappelerkrieg zwar teilnimmt, in besagter Schlacht aber keine Rolle spielt und erst in der Folge militärisch eingreift. Die Beschreibungen beziehen sich sicher auf Zürich, dessen altgläubigen Kontrahenten Luzern Göbel richtig identifiziert: Luzern sei beim alten Glauben und beim heiligen Sakrament geblieben, d. h. bei der Transsubstantiation und der Realpräsenz. Auch die Stärke der beiden Truppen gibt Göbel falsch wieder: Tatsächlich kämpften auf altgläubiger Seite 7.000 und auf Zürcher Seite 2.000 Männer.1128 So erscheint bei Göbel der Schlachtenausgang als ein Wunder oder zumindest als bemerkenswert. Der Laienbruder kennt die Eidgenossenschaft aus eigenem Ansehen: 1515/16 hatte er sich auf seinem Weg nach Rom in Luzern aufgehalten. Göbel bezieht im beschriebenen Konflikt klar Stellung, wobei dem Text anzumerken ist, dass der Autor nicht von identischen, sondern bestenfalls von vergleichbaren Lagerbildungen ausgeht. Die Schlussformel von „uns armen Christen“, die nun viel leiden müssen, bezieht die Luzerner jedoch mit ein. Diese bleiben, wie Göbel in seiner Selbstsicht, beim alten Glauben und sind demnach alte Christen, wenngleich sich deren Herausforderungen von denen Göbels unterscheiden. So entstehen Ansätze eines überregionalen und die präzisen örtlichen Konfliktsituationen transzendierenden Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühls. Zusammengefasst zeigen sich bezüglich der Kommunionsformen verschiedene und regionalspezifische Ausbildungen der altgläubigen Distinktion. In Bayern und Passau konstituiert sich der Konflikt um die Annahme der Hostienkommunion oder deren Verweigerung bzw. die Absenz bei der österlichen Messe. In Ostwestfalen hingegen scheinen vielfach, zumal in Ravensberg, beide Formen möglich zu sein. Die Auseinandersetzung verschiebt sich also auf die Frage der Annahme oder der Ableh-

1127 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 368 f. 1128 Vgl. dazu Meyer, Kappelerkriege (wie Anm. 1126).



2.1 Eucharistie und Messe 

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nung des Laienkelchs, wobei die Härte des Konflikts durch Arrangements und die Offenheit des Raums der rituellen Möglichkeiten abgemildert wird. Beide Gegenden haben, abgesehen von diesen Unterschieden, eine Gemeinsamkeit: Die Differenz der Altgläubigen entsteht gegenüber lutherischen Gruppen und Kulturen. Auch dies prägt die Bruchlinie der Zugehörigkeiten, wie die Folgebeispiele aus Ulm, Rouen und Paris deutlich machen: Konfrontiert mit symbolistischen Eucharistieverständnissen, verschieben sich dort die Momente der Unterschiede.

2.1.3 Der Leib des Herren in Szene gesetzt Wie zu zeigen sein wird, spielt der Laienkelch als Differenzmerkmal in Oberdeutschland und Frankreich während der 1520er- und 1530er-Jahr eine eher untergeordnete Rolle. Die Unterscheidungslinien verlaufen entlang der Sakramentsauffassungen und der rituellen Inszenierung des Abendmahls sowie der Sakramente. Die Inszenierung insbesondere der Hostie in der Messe und in der eucharistischen Verehrung wird zu einem zentralen Streitpunkt zwischen den entstehenden Religionsgemeinschaften, was sich auch in der Themensetzung der Flugschriftenliteratur ausdrückt. Diese entspricht hinsichtlich der geographisch unterschiedlichen Bruchlinien zwischen Altgläubigen und Protestanten dem, was in der religiösen Praxis dann im Detail ebenfalls herausgearbeitet werden kann.1129 Der Gottesdienstritus und der Umgang mit der Hostie bzw. dem symbolisch verstandenen Brot des Abendmahls werden in Ulm ab der Mitte der 1520er-Jahre zu Kernfragen. Dies wird deutlich bei der Befragung der Leipheimer Priester, die im Januar 1529, also zwei Jahre vor der Ulmer Reformation, im Auftrag des Rats gegenüber den Herrschaftspflegern über ihre Haltung zur Messe Auskunft geben müssen. Ein Herr Diepold gibt dabei an, er wolle seine Messe, die ihm durch den Ulmer Rat und die von Leipheim verliehen wurde, auch weiterhin wie bisher lesen. Genauso wolle er es mit den Jahrtagsmessen halten. Sollte der Rat die Messe für Unrecht erachten, so wolle er auch das Geld der Messstipendien nicht mehr haben. Ein Herr Matthäus äußert sich noch unmissverständlicher. Er wolle aus Gewissensgründen seine Messe und die Jahrtage weiterhin so ausüben, wie es in den Stiftungen festgeschrieben ist und von ihm bisher treu durchgeführt wurde. Ebenso äußern sich die Priester Christian Zimprecht und ein Herr Jörg. Nur was die Jahrtage anbelangt, würden diese beiden möglichen neuen Anordnungen des Rats Folge leisten.1130 In dieser Gemengelage zeigt sich die Leipheimer Priesterschaft bezüglich der Messe geschlossen traditionell und mit nur graduellen Unterschieden bezüglich ihrer künftigen Handlungsabsichten.

1129 Vgl. Kap. I. 4.1.1. 1130 StAU, A [8983/I], Bl. 91r.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Manche Priester versuchen, die Messe auch nach 1531 weiterhin anzubieten. Berichte über die Kirchensachen auf dem Land aus dem Jahr 1532 führen auf, dass z. B. der Pfarrer von Bermaringen weiterhin die Messe liest. Johann Wegelein, der Frühmesser in Merklingen, hält die Messe mit allen päpstlichen Zeremonien nach dem Brauch der alten Kirche.1131 Weitere derartige Fälle sind belegt für das Jahr 1537 in der Pfarrei Altenstadt, dem nordwestlichen Nachbarort der altgläubigen Hochburg Geislingen. Der Altenstadter Prädikant wird auf der Synode durch den Amtmann schwer belastet: „[H]ält vom Prädikanten, daß er nit viel allda bauen werde, hanget den Päpstlern an. Es geht nur 1 Mann zum Nachtmal; denn es stoßen sich viel am Prädikanten, dieweil er das Brot und den Wein selber nimmt.“1132 Der Amtmann kritisiert damit die Selbstkommunion des Priesters und stellt diesen unter den Verdacht der altgläubigen Zugehörigkeit, die auch die rituelle Abweichung von der zwinglischen Gottesdienstordnung erklären würde. Diese sieht vor, wie der Richter bekräftigt, dass ein Co-Zelebrant, in diesem Fall der Schulmeister, dem Priester das Nachtmahl reicht. Viele vom Gericht gehen laut dem Amtmann aus Abscheu vor ihrem „papistischen“ Pfarrer nach Geislingen in die protestantische Predigt von Paul Beck. Interessant ist dabei allerdings, dass der befragte Laie aus der Gemeinde aussagt, dass ihm der Geistliche hinsichtlich der Lehre und Lebensweise gefalle. Offenbar ist die Haltung zum Ortsgeistlichen nicht einhellig. Die Vermutung, dass es sich bei der Selbstreichung der Kommunion um einen Ritualteil aus der von Teilen der Bevölkerung abgelehnten „papistischen“ eucharistischen Kultur handelt, wird im Entscheid der Visitatoren gestärkt. Diese beschließen, dass die Ulmer Prädikanten den Altenstadter Geistlichen vorladen und ihm nicht nur seine Kommunionspraxis untersagen sollen, sondern darüber hinaus auch, dass er sich „auf den Altar leg und ein sondere Weis darin gebrauch“. Wenn er den Anordnungen nicht Folge leisten sollte, müsse er bei anderen, d. h. bei gut evangelischen Prädikanten Unterricht nehmen. Es wäre indes abwegig zu vermuten, dass es sich hierbei um einen unfähigen Pfarrer handelt, der unbeabsichtigt in eine deviante Rolle rutscht. Vielmehr dürfte es sich um recht bewusste Entscheidungen für alte Rituale handeln. Dass der Pfarrer als „Päpstler“ verschrien ist, macht eine recht klare Haltung und bewusste Distinktion sehr wahrscheinlich.1133 Schließlich wird die Konfiguration der Konflikte im Kommunions- und Sakramentsbereich nochmals deutlich: Die Trennlinien zwischen zwinglischer Orthodoxie und mutmaßlicher „papistischer“ Devianz verlaufen entlang der rituellen Inszenierung des Sakraments als Leib Christi in der Messe oder als einfaches Symbol in der Abendmahlsfeier, weniger um die Frage des Laienkelchs, die auch schon vor 1531 kaum eine ersichtliche Rolle als Konfliktmotor gespielt hat. Da die Hostienfrömmig-

1131 StAU, A [8984/I], Bl. 280r–281v. 1132 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 116. 1133 Endriss, Synode und Visitationen (wie Anm. 177), S. 116 f.



2.1 Eucharistie und Messe 

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keit im Spätmittelalter omnipräsent ist und Messen in großer Zahl selbst in Dorfkirchen gesungen werden, ist das Konfliktpotenzial deutlich größer und über die Jahreszeit verteilter als in Ostwestfalen und den wittelsbachischen Gebieten im Südosten des Reichs. Ein besonders eindrückliches Beispiel dieser Fokussierung auf die Substanz der Hostie und deren rituelle Inszenierung findet sich im Jahr 1529 in der Reichsstadt, als einige Evangelische einen Versehgang stören. Die bislang in der Forschung unbekannten Protokolle der anschließenden Verhöre bieten eine einzigartige Möglichkeit, aus den Schilderungen der verhörten Männer und Frauen deren Wahrnehmungen des eigenen und des fremden Handelns und deren Deutung des Konflikts um das Artefakt „Hostie“ zu analysieren. Die Prozessionsstörung findet am 29. September statt und wird von Priester Hans Löffler, der das Sakrament zu einer kranken Frau trägt, später im Verhör folgendermaßen beschrieben: Hanns Loffler gepriester iuravit unnd sagt: an sannt Michels tag nechstvergangen were er mit dem hohwirdigen sacrament gangen. Unnd als er bey dem Newenthor zu dem hauß, darin die krannck person gelegen, komen, daselbst weren ir zwen, sein unbekannt, gestannden unnd einer gegen den anndern gesagt: aldo kompt der fawl Gott unnd Hergot, den man tragen muß. Darauff er, sager, gegen in geredt: ir seyent gotloß leut, das ir euch mit solchen wortten lassent heren bey dem haligen sacrament. Weiter hab er von solchen zwayen nichts geheret. Nun wie er die krancken person versehen unnd widerumb auß dem hauß ganngen, dazumall weren seins achtens ungeverlich bey zwannzig personen zu nechst am andern hauß gestanden unnd geschrihen, er solte denn essel hir lassen. Auff das er, sager, sich umbgchert unnd gesagt, was sy der nott angang, das sy also unzichtig seyen, er hab dafur, ein ersamer burgermaister und rat werde kain gefallen darob haben unnd er welle solchs selbs anzaigen. Unnd damit furgangen und sy in lengere mer geschrihen. Deßmals hab er sich widerumb umbkert unnd gegenn dem volck, so dem hohwirdgigen sacrament nachgangen gesagt, sy solten zufriden unnd des ingedenck sein der grossen unzucht, die man aldo dem hohwirdigen sacrament erzaigen thet. Uber solchs ener geschrihen, wir reden nit mit euch unnd mainen euch nit. Wir mainen den göttzen, den ir tragen.1134

Der Vorfall an sich offenbart eine soziale Differenzierungsdynamik, die in dieser dokumentarischen Dichte für jene Jahre nur selten überliefert ist. Der Priester Hans Löffler hält dabei die Rolle des Konfliktbeschleunigers. Die Anwohner, die sich über die Hostie lustig machen und deren Zahl auf dem Rückweg der Prozession deutlich ansteigt, erscheinen als Auslöser und als Beschleuniger der Auseinandersetzung. Eher blass bleiben in den Schilderungen des Geistlichen die Laien, die hinter ihm und dem Sakrament herlaufen. Hans Löffler beruhigt die Frauen einerseits, schärft ihnen andererseits aber auch ein, sich die Verachtung gegenüber der Hostie zu merken. Die Kluft zwischen denen, die an die im Sterben Heil bringende Macht sowie an die göttliche Substanz des Sakraments glauben und jenen, die diesen Glauben und die dazu-

1134 StAU, A [5441], Bl. 61r–v.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

gehörigen Praktiken ablehnen, ist groß. Sie erweitert sich während des Zwischenfalls. Dabei betonen die Spötter, dass sie mit ihren Scherzen nicht den Priester meinen, der ihnen mit einer Anzeige droht. Die Scherze richteten sich vielmehr gegen den „Götzen“ und „Brotgott“ – eine Verballhornung der konsekrierten Hostie – und nicht gegen denjenigen, der diesen trägt. Die Laienteilnehmer der Prozession und deren Verhalten werden erstmals in der Aussage des Messmers Jörg Hermann genauer umrissen: „[E]rstlich wie er dem sacrament verher klinglet unnd zu der kranncken personn hauß kommen, deßmals hetten darneben die eehalten auß Hannßin Widenmans hauß geschrihen, man solte den essel ruhen lassen. Darnach als sy widerumb hinweg ganngen, hetten sy abermals geschrihen, sy solten gemach thun, das in der essel nit entlüff. Aber er keine der person, also geschrihen, kenne.“1135 Der kleine Prozessionszug, der am 29. September durch die Straßen Ulms zieht, erscheint hier klarer gezeichnet. Vornweg läuft der Messmer und läutet, um z. B. Passanten oder Anwohner auf das nahende Sakrament hinzuweisen und deren ehrfurchtsvolles Verhalten vor dem Leib Christi einzufordern. Dahinter kommt der Priester mit dem corpus Christi, gefolgt von den Laien. Jörg Hermann scheint die Gegend zu kennen und kann das Haus der ersten Spötter identifizieren. Auch hier fallen die Worte vom Esel. Dabei könnte es sich um eine Bezugnahme auf den Einzug Christi in Jerusalem am Palmsonntag auf einem Esel handeln. Womöglich ist mit dem Esel der Priester gemeint, der die Hostie trägt. Darüber hinaus werden sechs Frauen befragt, die an der Prozession teilgenommen haben und die mit diversen Ritualen aus der altgläubigen Kultur eine wichtige Funktion im Zusammenhang mit dem Versehgang innehaben. Sie berichten übereinstimmend von ihren Erlebnissen bei der Ankunft und dem Abzug ihrer Gruppe und über die Geschehnisse vor dem Haus, während drinnen die Kranke die Sterbesakramente empfängt. Ihren Aussagen zufolge knien die Gläubigen vor dem Haus nieder und beten, wobei sie immer wieder vom Spott und der Ironie der Umstehenden unterbrochen werden. Anna Haller beschreibt dies wie folgt: [E]rstlich wie sy mit dem sacrament fur der krancken person hauß komen, deßmals hete ein magt derneben uß einem hauß geschrihen, was sy Got aldo derfften anpetten, er were nit hie sonnder im himel. Darnach wie sy widerumb mit dem sacrament hinweg gangen, weren ir vier under dem selben hauß gestanden und geschrihen unnd spetlis getriben. Wer aber die personen ader was sy geschrihen, davon wiß sy nit zusagen.1136

Die evangelische Magd wählt nicht den Spott, sondern eine theologische Begründung gegen die Verehrung und den Einsatz der Hostie bei der Krankenkommunion. Sie spricht den Frauen, die vor dem Haus knien, das Recht ab, Christus in der Hostie anzubeten. Davon berichten auch andere der verhörten Frauen. Es handelt sich um

1135 StAU, A [5441], Bl. 61v. 1136 StAU, A [5441], Bl. 62r.



2.1 Eucharistie und Messe 

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eine Absage an die Realpräsenz und somit auch an die heilbringende Wirksamkeit der Hostie, deren Verehrung sinnlos sei, da sich Christus allein im Himmel befinde. Unterschiedliche Deutungen derselben Praxis und kontroverse Äußerungen dazu stellen in diesem Fall ganz real Distanz zwischen den Teilnehmern des Versehgangs und den zwinglischen Anwohnern her. Beide Seiten werden in diesem Augenblick zu partikularen Gruppen.1137 Doch in jenen Jahren greifen auch altgläubige Laien Protestanten wegen deren Sakramentsverständnis und -praxis an. Aus Gingen, im Norden des Ulmer Landgebiets gelegen, berichtet der Amtmann anlässlich der Synode von 1539, dass der Prädikant bisher einmal bzw. nach der Aussage des Richters zweimal das zwinglische Abendmahl gehalten habe. Die Bauern, die dieses akzeptierten und somit öffentlich ihre Akzeptanz der symbolisch verstandenen Sakramente bekunden, werden von jenen als Huren und Taugenichtse beschimpft, die sich im Umkehrschluss wohl für die Realpräsenz oder zumindest die lutherische Konsubstantiation stark machen.1138 Beide Lehren werden von den Ulmer Obrigkeiten und Religionsautoritäten bei ihren Examen vielfach in einen Topf geworfen. Zwei Jahre zuvor beklagt sich bei der Synode ein Mann aus Langenau, dass er in seiner Stadt die Predigten über das Abendmahl anstößig findet. Denn der Priester habe geäußert, dass Brot und Wein auch nach der Wandlung unverändert bleiben. Diese Aussage entspricht zwar den Grundsätzen des reformierten Abendmahlsverständnisses und der Ulmer Kirchenordnung, aber deckt sich nicht mit der Wissensordnung des Laien aus Langenau. Die Beschwerde, deren Aussichtslosigkeit vor der Synode ihm durchaus bewusst gewesen sein dürfte, lässt auf eine gewisse Bekenntnisabsicht und auf die Inkaufnahme von Auseinandersetzungen oder Schwierigkeiten in der Folge schließen. Die beiden evangelischen Geistlichen aus Langenau wiederum beklagen, dass der Amtmann sowie die Mehrheit der Richter und der Gemeinde Papisten seien. So gehe von zwölf Richtern nur einer zum Abendmahl.1139 Der altgläubige Boykott richtet sich vermutlich u. a. gegen Sinn und Ritus des symbolischen Abendmahls. Auch Jahre nach der Reformation schaffen das Sakrament und dessen Bedeutungsinszenierung durch die Priester Streit und divergierende Wahrnehmungen im Ulmer Landgebiet. Wenn man den Fall Langenau weiterverfolgt, zeigt sich, wie viel Vorsicht und Subtilität bei der historischen Zuordnung zu historischen Kategorien

1137 In einer zweiten Befragungsrunde werden dann die Anwohner des Tatorts vorgeladen, mitunter auch die Besitzer der Häuser, aus denen die Spötter, die in der überwiegenden Mehrzahl Knechte, Mägde und Kinder waren, herausliefen oder riefen. Die Befragten bekennen fast durchweg, dass sie von dem Vorfall Kenntnis erhalten haben: Sie hätten Gelächter und Rufe gehört und teilweise einen Blick aus dem Fenster geworfen. An Details, präzise Beschimpfungen oder die Namen der Beteiligten will sich aber niemand erinnern, von einer Ausnahme abgesehen: Die Frau, die für die Kranke den Priester gerufen hat. StAU, A [5441], Bl. 63r–65v. Siehe zu diesem Fall ferner Kap. II. 3.2. 1138 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 150. 1139 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 121.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

angebracht ist  – und zwar für alle Religionsgemeinschaften. Bei der Synode von 1539 klagt der zwinglische Prädikant Langenaus, dass der Amtmann zur Synode fast nur papistische Laien zur Befragung nach Ulm geschickt habe. Kurz darauf weist er auf Auseinandersetzungen rund um das Sakrament hin: „Sagt von etlichen, so das Nachtmal auf lutherische Weis haben wollen, als daß der Leib und das Blut räumlich und wesentlich im Brot und Wein sei.“1140 Diese Aussage wird im Ganzen von den Richtern bestätigt. Amtmann, Richter und Gemeindeleute berichten zudem übereinstimmend von einem Wolf Jörg, der zur Kommunion nach Amstetten auslaufe, da der dortige Pfarrer das Sakrament auf lutherische Art austeile. Es gibt demnach einen erheblichen und womöglich in Zeiten der Wittenberger Konkordie (1536) wachsenden Graubereich, was die zeitgenössischen Einordnungen bestimmter Rituale anbelangt. Es geht um die Substanz des Sakraments, die Gottesdienstrituale und die dabei erfolgende Inszenierung der Sakramente. Dies sind allesamt Themen, die auch ein Zankapfel zwischen Zwinglischen und Lutherischen sind. Für das Ulmer Gebiet darf dennoch in vielen Fällen von einer Zugehörigkeitsdifferenz entlang der historischen Variablen Altgläubige und Evangelische ausgegangen werden. Nicht nur sprechen viele Protestanten im Hinblick auf Devianzen von „Papisten“. Auch altgläubige Priester argumentieren auf eine Art mit der Tradition, wie wir sie in der altgläubigen Flugschriftenliteratur kennengelernt haben. Schließlich machen auswärtige Patronatsinhaber, v. a. aus den Klöstern und Stiften, keinen lutherischen, sondern altgläubigen Einfluss geltend, ebenso wie traditionalistische Priester bis 1531 innerhalb des reichsstädtischen Territoriums. Aufschlussreich sind dabei die Predigten des Geislinger Pfarrers Georg Oßwald. Diese werden durch dessen evangelischen Konkurrenten, den Prädikanten Paul Beck, im Mai und Juni 1527 aufgeschrieben und mit einem Beschwerdebrief an die Obrigkeiten geschickt. Aus diesen Aufzeichnungen geht hervor: In Oßwalds Predigten nehmen die Substanz des Sakraments sowie die Messe viel Raum ein.1141 Gleich in der ersten Predigt am fünften Sonntag nach Ostern, in der Oßwald von der Notwendigkeit des ständigen Gebets spricht, betont er gegen Ende, dass dass Gebete heute noch notwendiger sei, da übel über die Sakramente gesprochen und die Hostie als Götzenbrot bezeichnet werde. Am Pfingstdienstag 1527 spricht der altgläubige Pfarrer erneut über die Evangelischen und vergleicht sie mit Dieben, die in den Schafstall eindringen wollen. Er führt aus: „Die schaff stell synd die ortt, do die hyrten synd, do die pfarrer do heym synd, als do synd stett und dörffer. Das synd fremdling, die nit meßlesen, die ihre syben zeytt nit beten und hatt doch die meß gewertt tauset [sic] und dreu hunder iar… Der teuffel gybt dir ein, das du die meß verachtest.“1142 Das Unterlassen des Messelesens – ein Vorwurf, den die Zuhörer auf den evangelischen Prädikanten

1140 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 155. 1141 StAU, A [5421], Bl. 65r–66v. 1142 StAU, A [5421], Bl. 65v.



2.1 Eucharistie und Messe 

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beziehen dürften – wird ebenso wie die Abschaffung der Tagzeiten als Merkmal des ketzerischen Anderen dargestellt. Oßwald arbeitet die Differenz zum Eigenen, dessen Messritual seit 1300 Jahren unverändert sei, klar heraus. Wer die Messe unterlässt, muss demzufolge vom Teufel besessen sein. Die Schafstallmetapher ist uns aus den altgläubigen Flugschriften als Bild für die alte, von Papst und Prälaten geführte und bewachte Kirche, bereits bekannt.1143 Allerdings nuanciert Oßwald die Metapher: Laut ihm ist der Schafstall dort, wo die Priester sind, in den Städten und Dörfern, d. h. vor Ort in den Gemeinden. Die Geistlichen lesen die Messe und sorgen damit für die Heilssicherheit der Gläubigen. Bemerkenswert ist, dass die Bezüge zum Papst, den Bischöfen und Prälaten als den Hirten im Schafstall fehlen. Denn der Schafstall sei bei den Pfarrern und in Verbindung mit diesen in den Städten und Gemeinden. Hierbei dürfte es sich um die kommunalistische Referenz eines Priesters handeln, der bereits vor der Reformation einen Aufstand Geislingens gegen die Ulmer Obrigkeit unterstützt hat und der in einer Stadt wirkt, in der, wie später zu zeigen sein wird, der oberdeutsche Kommunalismus tatsächlich eine starke Verbindung mit der altgläubigen Gemeindebewegung eingeht.1144 Am Dreifaltigkeitssonntag 1527 lobt Georg Oßwald erneut die Vorzüge der Messe und verteidigt insbesondere die Realpräsenz, eine Aussage, die er am drauffolgenden Sonntag wiederholt. Am Fest Johannes des Täufers unterstreicht er diese Wissensordnung nochmals und besonders ausführlich. Seine Gemeinde müsse fest glauben: „Der leyb Christi, der im hymel ist, der ist auch in der getalt des brotts“.1145 Eher sollten sie sterben, als dass sie sich von der Messe und dem Sakrament abbringen lassen. Der in Ostwestfalen und in Bayern, in Regensburg und in Passau ständig im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehende Laienkelch bzw. dessen explizite Ablehnung werden, obwohl es sich thematisch mehr als angeboten hätte, mit keinem Wort erwähnt. Das ändert sich auch in den Folgejahren nicht, wie die Aufzeichnungen der Predigten Oßwalds vom Pfingstsonntag und Pfingstmontag 1531 zeigen. Am Montag hat er seinen letzten großen Auftritt auf der Kanzel der Geislinger Stadtkirche. Oßwald fasst zusammen, was er der Gemeinde nun über lange Jahre gepredigt hat und hofft, das Volk werde auch nach seiner Ablösung dabei bleiben. Am wichtigsten scheint ihm der gleich zu Beginn genannte Punkt zu sein, den er mit viel Nachdruck angeht: das heilige Sakrament, in dem der Leib Christi mit Blut und Fleisch sei. Das sei wahr, und wer nicht daran glaubt, könne niemals selig werden.1146 Damit benennt Oßwald das zentrale Unterscheidungsmerkmal der Ulmer Altgläubigen, die ihre Deutung der Hostie in distinktiven Praktiken zum Ausdruck bringen.

1143 Vgl. Kap. I. 3.2.2. 1144 Vgl. Kap. III. 5.2.4. 1145 StAU, A [5421], Bl. 66r–v. 1146 StAU, A [8984/I], Bl. 96r.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

In Ulm entsteht also eine zentrale altgläubige Distinktion mit Blick auf die Substanz des Altarsakraments und dessen rituelle Inszenierung in Messen und Gottesdiensten, bei Sakramentsprozessionen und in eucharistischen Ritualen. Sehr ähnlich gestalten sich die altgläubigen Distinktionen in Rouen und Paris, die in der Folge untersucht werden.

2.1.4 Frankreich und die Eucharistie: eine aktive Ritualkultur Angriffe auf Hostien sind in Frankreich nicht neu, als Sakramentarier 1534 in Paris und Rouen die messkritischen Plakate verteilen. Nur die Art und die Intention der Angriffe verändern sich. Auch die Altgläubigen können für ihre Reaktionen auf Erfahrungen zurückgreifen und diese weiterentwickeln. Der unbekannte Pariser Bürger berichtet in seiner tagebuchartigen Chronik über einen Kirchendieb im Pariser Umland. Am 23. September 1522 wird der Täter namens Pierre Piéfort in Saint-Germain-en-Laye lebendig verbrannt. Der Hintergrund: [E]t fut ce parce qu’un peu auparavant il avait pris et dérobé la coupe d’argent doré qui était en l’église du lieu, auquel reposait le précieux corpus Domini, et porta le corpus Domini entre des pierres, où anciennement madame Sainte Geneviefve, en son vivant, gardait les brebis à Nanterre; et apporta la coupe à Paris et en fut trouvé saisi en une taverne, puis mené prisonnier en Chastelet; et de là fut envoyé quérir par le prévôt de l’hôtel du Roi, auquel il confessa le cas et le lieu auquel était le corpus Domini. Tôt après et incontinent, le Roi avec grand nombre de seigneurs y allèrent, chacun une torche de cire ardente en la main; et le ciel fut porté par quatre seigneurs et le Roi portait lui-même sa torche, la tête nue; et fut apporté par le cardinal de Bourbon, en grande révérence, sous le ciel, et remis en sa place, en l’église de Sainct-Germain, le corpus Domini. Et le malheureux fut grièvement puni.1147

Pierre Piéfort hatte es nicht auf die Hostie abgesehen, sondern auf den silbernen Kelch, das Ziborium, in dem sich der Leib Christi befand. Obwohl er in der zeitgenössischen Wahrnehmung die Hostie schändet und Gott blasphemiert, trifft der Täter die Wahl des neuen Orts für das corpus Christi nicht zufällig. Er sucht auf dem Weg nach Paris eine besondere Stelle, um die Hostie unterzubringen, und entscheidet sich für den Ort, an dem die Pariser Stadtpatronin Genovefa im 5.  Jahrhundert als junges Mädchen ihre Schafe geweidet haben soll: in oder bei Nanterre. Dass Piéfort die Hostie zwischen Steine legt, kann zum Ziel haben, das Sakrament an einer unauffälligen Stelle verschwinden zu lassen. Die Wahl des Orts kann aber auch den Versuch ausdrücken, der Hostie einen geschützten Raum zu geben, um sie in Anbetracht des Diebstahls nicht mehr als nötig zu entehren. Die Handlung drückt eine gewissen Ehrfrucht vor dem Gegentand aus.

1147 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 1 (wie Anm. 347), S. 113 f.



2.1 Eucharistie und Messe 

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Nachdem Pierre Piéfort verhaftet und im Châtelet, der Pariser Polizei- und Gefängnisfestung, eingesperrt worden ist, wird er vom prévot de l’hôtel du Roi, dem obersten Justiz- und Polizeibeamten am Hof des Königs, befragt. Die Hostie wird wiedergefunden und bald darauf in einer Prozession zurück nach Saint-Germain-enLaye gebracht. Sowohl Wiedergutmachung als auch Ehrerweisung werden in der Prozession ausgedrückt, nicht nur durch die Teilnahme des französischen Hochadels, sondern auch durch den als Büßer auftretenden Franz I., der mit seinem Hof gerade in Saint-Germain-en-Laye residiert. Das corpus Christi wird dann wieder an genau die Stelle zurückgebracht, an der es sich auch vor dem Vorfall befand. Objekt und Raum sollen so resakralisiert und der alte Bedeutungszusammenhang wiederhergestellt werden. Ein ähnlicher Vorfall ereignet sich in der Nacht des 28. Mai 1528 in der Kirche des Augustinerstifts Saint-Victor vor den Toren von Paris. Der Kämmerer des Klosters, Pierre Driart, notiert das Ereignis in seinem Tagebuch: [A]ucuns malfaicteurs larrons vindrent, après matines dictes de la feste sainct Germain, evesque de Paris, par dessus les murailles du pré, avec eschelles en nostre eglise par l’une des chappelles[s] du costé du clocher, laquelle n’estoit encores victrée, et prindrent le tabernacle et couppe là où estoit le precieulx corps de Nostre Seigneur sur l’austel, derrière la nouvelle eglise, au cueur, là où on faisoit le service pour le temps. Lequel tabernacle, pour ce qu’il n’estoit que de cuivre, fut laissé au pré, et au matin retrouvé, partie rompu; mais la couppe d’argent doré ne fut recouverte. En prenant lesquelz tabernacle et couppe, ilz misdrent les hostiez, lesquelles estoient en une petite boitte d’argent, sur les nappes de l’austel, envelopéez dedans les draps des corporaulx, et emportèrent ladite boitte.1148

Die bewaffneten Täter warten ab, bis die Kanoniker die Matutin beendet haben, also den Chorgesang zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen. Die Diebe gelangen über eine Seitenkapelle in die Kirche, die in jenen Jahren neu erbaut wird. Ihr Ziel ist der Chorraum von St. Victor, das sakrale Zentrum der Kirche, zu dem im frühen 16. Jahrhundert ausschließlich Kleriker Zutritt haben. Auf dem Altar steht ein Ziborium, das für Gewöhnlich im Tabernakel untergebracht ist. Die Hostien befinden sich in einem silbernen Ziborium. Als sich die Kirchendiebe die Wertgegenstände aneignen, sorgen sie nicht für völlige Verwüstung oder stehlen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Vielmehr gehen sie gezielt und differenziert vor. Der blecherne Tabernakel ist für sie wertlos, weshalb sie ihn zerstören und dann wegwerfen, wohingegen sie den Kelch und das kleine Kästchen mitnehmen. Diese lassen sich gut bei Zwischenhändlern oder Goldschmieden verkaufen. In deutlichem Gegensatz dazu steht der Umgang mit den Hostien, deren materiale Zusammensetzung und Sakralität nicht angetastet werden. Die Diebe wickeln sie in ein Korporal, ein Leinentuch, das der Priester bei der eucharistischen Wandlung unter Brot und Wein legt um zu verhin-

1148 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 132.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

dern, dass Partikel der konsekrierten Hostie herunterfallen. Die Kirchendiebe differenzieren also zwischen materiellen und sakralen Werten der Gegenstände im Chor des Augustinerstifts. Dieses Vorgehen deutet darauf hin, dass sie eine Desakralisierung des Sakraments vermeiden wollen. Bewertungsraster und Handlungsmöglichkeiten für Hostienfrevel liegen somit bereits vor, als in Paris und Rouen zu Beginn der 1530er-Jahre das eucharistische Sakrament in den Mittelpunkt der religiösen Auseinandersetzungen rückt. Bereits bei der Analyse der französischsprachigen Flugschriftenpolemik konnte im Vergleich zum Alten Reich nicht nur ein deutlich reduzierterer Umfang und eine leichte zeitliche Verschiebung festgestellt werden, sondern bisweilen auch eine stärkere thematische Fokussierung: Ab dem zweiten Drittel der 1530er-Jahre tauchen mit Wucht die Transsubstantiation und die eucharistischen Rituale als zentrale Themen auf.1149 Wie ich in der Folge zeigen werde, entspricht diese Repräsentation der tatsächlichen Entwicklung der Distinktionen. Die Hostie, oder präziser, die Frage nach deren Substanz, der Realpräsenz und der rituellen Inszenierung, wird vor allem mit Beginn der 1530erJahre in Paris zu einem, vielfach auch zu dem zentralen und umkämpften Unterscheidungsmerkmal der Altgläubigen von den Evangelischen, unter denen die symbolistischen Sakramentsvorstellungen größeren Einfluss erhalten. Die Untersuchungen zu Paris und Rouen weisen neben Übereinstimmungen insbesondere mit der Ulmer Fallstudie einige deutliche Unterschiede bezüglich der Voraussetzungen für praktische Konflikte um das Altarsakrament und die Kommunion auf. Der wichtigste Unterschied gegenüber Ulm liegt darin, dass weder für Rouen noch für Paris eindeutig belegbar ist, dass die Kommunion von Evangelischen tatsächlich sub utraque specie ausgeteilt oder die Gottesdienstordnung so verändert wird, dass sie den Beobachtern bei der Wandlung von Wein und Brot ein anderes Deutungsangebot als die Transsubstantiation liefert. Alle evangelischen und späteren sakramentarischen Angriffe auf die Messe und die Realpräsenz Christi in der Hostie – der Laienkelch spielt de facto keine Rolle – stehen einstweilen nur auf dem Papier oder tauchen in Predigten auf. Ein zentrales Mittel der Reaktion gegen die „Blasphemierung“ – so der zeitgenössische Terminus – der Hostie sind Prozessionen, in deren Mittelpunkt der Leib Christi besonders verehrt und in Szene gesetzt wird. Allgemein haben Umgänge zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits eine lange Tradition und finden vielerlei Anwendungsmöglichkeiten im Kirchenjahr, aber auch bei Unwettern, Seuchen oder Kriegen. Nach reformatorischen Angriffen auf den eucharistischen Kult dienen Prozessionen der Wiedergutmachung, der Reinigung, der rituellen Affirmation sowie der kontroversen Einschreibung der in der Prozession inszenierten Glaubensgegenstände und -inhalte in die städtische Topographie. Während in Ulm der Versehgang 1529 unbeabsichtigt von den altgläubigen Teilnehmern zu einem Moment der Unterschiedskonstruktion

1149 Vgl. Kap. II. 2.1.4.



2.1 Eucharistie und Messe 

 351

wird, werden Prozessionen in Frankreich mit einer offensiven und klar gegen die „Ketzer“ gerichteten Intention eingesetzt. Diese Aspekte der französischen Prozessionen werde ich später ausführlich analysieren.1150 Einstweilen konzentriere ich mich auf die Punkte, die direkt mit den Auseinandersetzungen um die Hostie zu tun haben. Schon in den 1520er-Jahren finden sich erste Anzeichen für die spätere zentrale Differenzfunktion des Altarsakraments. Der Anwalt im Pariser Parlament, Nicolas Versoris, berichtet 1526 von einer Hinrichtung auf der place de Grève vor dem Rathaus am rechten Seineufer.1151 Verbrannt wird ein junger Mann, der als Ketzer überführt worden sei und der skandalöser Weise die traditionelle Beichte vor der Exekution verweigert habe. Versoris beschreibt den Übeltäter als „disciple et immitateur de la doctrine de Lutheur“. Zudem habe der mutmaßliche Lutherische „mal senti des sacremens de l’ostel.“1152 Welcher Art die Kritik am Altarsakrament gewesen ist, führt Versoris nicht aus. Der Vorfall ist auch im Tagebuch von Pierre Driart aus dem Kloster Saint-Victor festgehalten. Er nennt den Namen des Verurteilten, Jacques, sowie dessen Herkunftsort, die kleine Gemeinde Bohan(?) bei Thérouanne in der habsburgischen Grafschaft Artois. Zudem präzisiert er die häretischen Äußerungen, die zur Verurteilung geführt haben. Diese seien gegen das Altarsakrament gerichtet gewesen sowie gegen die heilige Hostie.1153 Damit verfügen wir über einen wichtigen Hinweis, um die Devianz auf ein tendenziell symbolistisches Eucharistieverständnis einzugrenzen: Der Konflikt scheint sich nicht um die Kommunionsform, sondern um die Substanz und die Sinnzuschreibung zur Hostie zu drehen. Schließlich erinnert sich auch der unbekannte Pariser Bürger in seinen Aufzeichnungen an die Hinrichtung des jungen Mannes aus Thérouanne „en Picardie“, den er als Schüler und jungen Magister auf dem Weg in den Priesterstand beschreibt. Der Verurteilte habe den Marienkult kritisiert und sei Lutheraner, was er auch trotz mehrmaliger Bekehrungsversuche bis zu seinem Tod geblieben sei.1154 Zu Beginn der 1530er-Jahre gewinnt in Paris die Frage nach der Substanz der Hostie dann schlagartig an Bedeutung. Die vorläufige Zuspitzung führt 1534/35 bekanntermaßen zur Plakataffäre. Die ersten Flugblätter werden im Oktober 1534 und somit zu einer Zeit verbreitet, als sich König Franz I. zu einem innenpolitischen Wechsel entschieden hatte, der weg von der relativen Offenheit und partiellen Unterstützung evangelischer Gruppen durch den Hof, hin zu einer orthodoxeren und stärker auf Repression ausgerichteten Religionspolitik führt. Ein zweites Flugblatt von Antoine

1150 Vgl. Kap. III. 3. 1151 Vgl. Fagniez, Livre de raison den Versoris (wie Anm. 348), S. 94. 1152 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 94. 1153 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 120. 1154 Bereits zuvor sei der Schüler wegen der Äußerung diverser, nicht näher genannter Irrtümer verhaftet und am Abend vor Weihnachten 1525 zu einer öffentlichen Buße vor Notre-Dame verurteilt worden. Im Gefängnis sei er danach wieder rückfällig geworden und noch fester in seine Irrtümer verstrickt gewesen. Vgl. Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 56 f.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Marcourt, das ab November verbreitet wird, spitzt die Thesen weiter zu. Die placards entsprechen in Größe und Form einem deutschen Flugblatt, bis auf den Unterschied, dass die „Plakate“ ohne Bild sind.1155 Die folgende schriftliche Auseinandersetzung lässt die entstehenden religionsgemeinschaftlichen Lager offener zutage treten und die Differenzen sichtbarer werden.1156 Die Plakate stehen in der Forschung für die sakramentarische Wende der französischen Reformation, die damit eine neue, „radikalere“ Qualität gewonnen habe: Lutherische Einflüsse verlieren sich zusehends, wohingegen schweizerische und kurz darauf calvinistische Ideen an Bedeutung gewinnen. Die französische Forschung, die stark auf die Zeit der Religionskriege fokussiert ist, erkennt in dieser Phase oft das zum ersten Mal wieder, was dann später auf evangelischer Seite die Regel wird. Diese Blickrichtung hat mitunter zur Vernachlässigung und Relativierung der frühevangelischen Bewegungen geführt.1157 Im Text der Plakate greift der Autor Marcourt die „papistische“ Messe, die Theologie des Messopfers sowie die Realpräsenz mit heftigen Worten an. Wie Thierry Wanegffelen unterstrichen hat, sind es v. a. die Angriffe auf die Transsubstantiation und die Realpräsenz Christi in der Hostie, die zu einem veritablen Trennungspunkt werden sollten, anders als zuvor die Streitigkeiten um die Rechtfertigungslehre.1158 Pierre Driart, der Kämmerer von Saint-Victor, beschreibt den Inhalt der Plakate als „faisans mencion du Sainct Sacrement de l’autel en mauvaise sorte et contre la verité evangelicque.“1159 Das Sakrament und dessen Substanz stehen also im Mittelpunkt. Auch der anonyme Bürger bezeichnet die Traktate als gegen das Altarsakrament und zudem gegen die Heiligenverehrung gerichtet.1160 Damit gleicht die Grundkonfiguration dieses Konflikts in Paris stark jener in Ulm, wo konkrete Unterschiede nicht um den Laienkelch entstehen, sondern um die Frage, was die von den Altgläubigen ver-

1155 Marcourt, Antoine: Articles veritables sur les horribles/ grandz et importables abuz de la Messe papale : // inuentee directement contre la saincte Cene de Jesus Christus. [Neuchâtel: Pierre de Vingle] 1534. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8626365b (17.03.2014). BNF Paris, cote: Rés. D2-453. Die Größe des Dokuments beläuft sich nach Angaben der Nationalbibliothek auf 27,6 x 23,7 cm. David Nicholls hält diese Texte für die erste größere und effektvolle Schriftpropaganda der französischen evangelischen Bewegung. Vgl. Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 197 f. 1156 Für einen theologiegeschichtlichen Überblick vgl. La Garanderie, Réponse catholique (wie Anm. 297). 1157 Vgl. allgemein Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 265–278; Foisil, Époque moderne (wie Anm. 309), S. 218; Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 410 f.; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 106–108; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 60–63; Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 69–73; Dupèbe, Document sur les persécutions (wie Anm. 312); Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 200–208. 1158 Marcourt, Articles véritables (wie Anm. 1155); Wanegffelen, Ni Rome, ni Genève (wie Anm. 39), S. 19. 1159 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172. 1160 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 172.



2.1 Eucharistie und Messe 

 353

ehrte Hostie zu bedeuten habe und welche Rituale in Bezug auf diese durchgeführt werden dürfen. Doch der Aktivismus der Altgläubigen in Paris unterscheidet sich von der Reaktion ihrer Ulmer Glaubensgenossen, die keinen Staatsapparat oder mächtige Institutionen an ihrer Seite wissen. In Paris kommt es nach der Plakataffäre zu harten Repressionen, deren Umfang und Brutalität nicht nur die politische Wende der Monarchie, sondern auch die Bedeutung ausdrücken, welche die Eucharistiefrage für den König und dessen Umfeld zwischenzeitlich erreicht hat. In Paris zeigt dies besonders die große Prozession vom 21. Januar 1535, an der selbst der König teilnimmt. Doch schon zuvor, gleich nach dem Auftauchen der ersten Plakate am 18. Oktober, nutzen antiprotestantische Institutionen und Gruppen das Mittel der Prozession. Damit wollen sie ihre Anhänglichkeit an die traditionellen Sakramentsrituale und die Realpräsenz manifestieren, den städtischen Raum reinigen und gleichzeitig mit der eigenen Sakramentskultur besetzen.1161 Die Prozessionen werden laut Pierre Driart in allen Kirchen der Stadt am Sonntag nach der Tat durchgeführt. Zuvor findet eine feierliche Messe statt. Die Prozessionen sollen in ihrem Aufbau und Ablauf so gestaltet sein wie an Fronleichnam, dem wichtigsten eucharistischen Devotionsfest des Spätmittelalters mit den traditionellen Corpus-ChristiUmgängen.1162 Auch der Pariser Anonymus erwähnt die Prozessionen, die sofort nach der ersten Plakataffäre stattfinden und in denen ostentativ der Leib Christi durch Paris getragen wird.1163 Vor der genaueren Analyse der Prozessionen in Paris an späterer Stelle bleibt vorerst festzuhalten, dass bei diesen nicht nur der von der Forschung bisher immer herausgestrichene „monumentale Charakter“ bedeutsam ist. Sie instrumentalisieren fein abgestimmte und in Bezug auf die neue Konfrontationslage aktualisierte Rituale, bei denen gerade das Sakrament besonders in Szene gesetzt wird. Die Prozessionen gewinnen somit einen distinktiven Charakter und transportieren eine offensive Bestätigung und kontroversistische Bedeutungsveränderung der traditionellen Eucharistie und Sakramentsverehrung. Beinahe analog – sowohl in der Chronologie als auch in der rituellen Form – verläuft die bedeutungsmäßige Aktualisierung des Sakraments und der eucharistischen Frömmigkeit als zentrale altgläubige Unterscheidungsmerkmale in Rouen. Dort lässt sich während der 1530er-Jahre eine Zunahme der Anti-Ketzer-Prozessionen feststellen, in deren Zentrum die Hostie steht. Der Unterschied zu Paris liegt in der vielfach fehlenden persönlichen und institutionellen Einbindung der Monarchie  – Franz I. oder der Hochadel des Königreichs nehmen in Rouen etwa bei den Prozessionen nicht selbst teil – sowie im Fehlen einer Instanz mit den Kompetenzen und der meinungsbildenden Durchschlagskraft der Theologische Fakultät der Universität Paris.

1161 Vgl. für eine Detailanalyse Kap. III. 3.2. 1162 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172. 1163 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 172.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

In Rouen ist, wie später zu zeigen sein wird, das Kapitel der Kathedrale eine treibende Kraft hinter den Prozessionen. Ebenso eingebunden ist das Parlament von Rouen.1164 Die affaire des placards erreicht die Hauptstadt der Normandie am 27. Januar 1535. Das Parlament ordnet für den 4. Februar eine große Prozession an, in deren Ablauf neben dem Kapitel und dem obersten Gerichtshof alle corpora der Stadt eingebunden werden.1165 Noch am 27. Januar wird das Domkapitel von Payen le Sueur d’Esquetot, Domherr und garde des sceaux in der Kanzlei des Parlaments, über das Prozessionsvorhaben des Parlaments benachrichtigt, denn „hodie maneficerunt reperti in pluribus locis huius civitatis eciam infra aulam dicte curie plures libri seu codices de heresi per nonnullos hereticos publicati et promulgati in maximum scandalum tocius christianitatum et fidei catholici.“1166 Die Entscheidung scheint rasch und ohne Rücksprache mit Paris, sondern bestenfalls mit königlichen Amtleuten vor Ort, gefallen zu sein. Das Domkapitel berät über die Lage und beschließt, vollumfänglich mit dem Parlament zusammenzuarbeiten und dafür dessen Erwartungen einzuholen. Die Prozession selbst steht, wie in Paris, völlig im Zeichen der Hostie. Auch die städtische Führung ist in die Vorbereitungen involviert. Zwei Räte erscheinen am 28. Januar im Domkapitel und stellen ihre Pläne für den Teil der Prozession vor, den die Bürger der Stadt gestalten sollen. Ziel des prächtigen Umgangs ist es, Gott um den Erhalt des heiligen gemeinen Glaubens zu bitten und die Stadt gegen die lutherischen Ketzer zu schützen. Zudem soll das Volk zur Devotion angeregt werden.1167 Welche Devotion damit gemeint ist, dürfte allen Beteiligten in Anbetracht der Flugblätter Marcourts und des auf die Hostie konzentrierten Umgangs klar gewesen sein: die Verehrung des corpus Christi. Diese Verehrung und deren Umsetzung in der Prozession vom Januar 1535 richten sich demnach sowohl an Gott als auch gegen die protestantischen „Häretiker“. Das Altarsakrament ist aber nicht das einzige mittelalterliche Sakrament, das europaweit während der Reformationszeit infrage gestellt wird. Mindestens ebenso wichtig war in der Religionskultur des beginnenden 16. Jahrhunderts die Suche nach Erlösung und Rechtfertigung für die Sünden.

1164 Vgl. Kap. III. 3.1. 1165 Vgl. allgemein Riviale, Vitrail (wie Anm. 270), S. 27; Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 50; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), 59–63; Oursel, Placards à Rouen (wie Anm. 266); Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. Zur Schuldfrage von Huchon vgl. Nicholls, Heresy (wie Anm. 19), S. 197. 1166 ADSM, G 2154, Bl. 268v. 1167 ADSM, G 2154, Bl. 268v–269r.



2.2 Beichte und Rechtfertigung 

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2.2 Beichte und Rechtfertigung Vor der Osterkommunion kommt in der spätmittelalterlichen Kultur die Beichte. Wie das eucharistische Sakrament, so soll auch diese einmal im Jahr empfangen werden. Das Bußsakrament besteht allgemein aus drei Teilen: der individuellen Beichte der Sünden bei einem bestimmten Priester (confessio), der Reue (contritio) und der Wiedergutmachung. Nach der Beichte kann der Priester dem reuigen Gläubigen die Absolution erteilen und ihm eine entsprechende Bestrafung als Bußstrafe auferlegen. Diese bestehen je nach der Schwere der Sünde aus Gebeten und Fasten, aber auch aus Pilgerreisen, Wallfahrten und Geldzahlungen. Damit verbunden ist die steigende Bedeutung des Beichtvaters im Mittelalter. Die Beichte erfolgt einzeln, meist in der Pfarrkirche. Bei Krankheit des Pönitenten oder im Fall des nahenden Todes wird die Beichte am Sterbebett abgenommen. Das Bußsakrament als Reinigungsritual ist die Grundbedingung, um den Leib des Herrn an Ostern empfangen zu können.1168 Auch in diesem Bereich zeigt sich die Pluralität der spätmittelalterlichen Religionskultur, was die genaue Performanz, den exakten Zeitpunkt und die Zahl der Beichtgänge anbelangt. In der schwäbischen Reichsstadt Biberach etwa müssen um 1500 alle Volljährigen vor Ostern zweimal beichten und noch ein drittes Mal, wenn sie die Kommunion empfangen wollen. Dafür sitzen während der Fastenzeit täglich Kleriker in den Kapellen der Pfarrkirche.1169 Bezüglich der Veränderungen, welche die Protestanten an der Beichte vornehmen, ist wiederum auf die Chronologie und die evangelische Binnendifferenzierung zu achten. Nachdem Martin Luther anfangs das Bußsakrament noch als eines von drei gültigen Sakramenten bekräftigt hatte, erkennt er ihm diesen Status bald darauf ab. Der Themenkomplex ist ähnlich heikel wie die Eucharistiefrage, da an diesem Sakrament eine Reihe theologischer Fragen hängt, die im Spätmittelalter von großer Bedeutung waren, darunter die Schlüsselgewalt des Papstes, das Fegefeuer und die Ablässe. Die alte Praxis stößt sich zudem an Luthers Rechtfertigungslehre, der zufolge für das Seelenheil nicht die Anzahl der Beichten, sondern der Glaube an Gottes Gnade entscheidend ist. Die Debatte und die zeitweilige Unschlüssigkeit Luthers selbst, ob die private Ohrenbeichte für die Gläubigen verpflichtend ist, führt tendenziell zu einer Bejahung der herkömmlichen Form. Laut der Confessio Augustana solle die Beichte als Mittel der Gewissenserleichterung und des Kontakts mit Gott weiter durchgeführt werden, sogar mit anschließender Absolution. Im Mittelpunkt des Rituals steht bei den Lutherischen fortan der Glaube. In der Folge der ersten lutherischen Visitationen, insbesondere jener in Kursachsen 1528/29, wird die Beichte darüber hinaus genutzt, um die Laien auf ihr religiöses Wissen hin zu prüfen und zu befragen. Wer dabei nicht zur Zufriedenheit des Priesters und gemäß den Richtlinien, die dieser erhalten hat,

1168 Vgl. u. a. Karant-Nunn, Reformation of ritual (wie Anm. 73), S. 92–94. 1169 Schilling, Zustände (wie Anm. 887), S. 115–120.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

abschneidet, wird von der Kommunion ausgeschlossen. Laut Susan Karant-Nunn ist die Beichte in lutherischen Gebieten weiterhin sehr gefragt, da sie in Zusammenhang mit der Zulassung zum Altarsakrament steht und als nützlich etwa in Zeiten der Schwangerschaft und als gute Vorbereitung auf den Tod gilt. Anders ist dies im zwinglischen Oberdeutschland. Dort wird die Ohrenbeichte in der Form einer pastoralen Beratung zwar weiterhin angeboten, ist aber offenbar weniger gefragt. Vielmehr wird die kollektive Beichte als Teil der eucharistischen Praxis befördert, was vielfach – wie bei den Kommunionsritualen – mit den kommunalistischen Tendenzen des Südens in Verbindung gebracht worden ist. Meist bleibt es bei strengen Ermahnungen der Gemeinde, etwa im Rahmen der Samstagnachmittagsvesper, und bei Aufrufen zu Umkehr und Reue. Laut Karant-Nunn entwickelt sich die Ohrenbeichte in der Folge zu einer der herausragenden strukturellen und theologischen Trennlinien zwischen Lutherischen und Reformierten.1170 Ich beginne meine Untersuchung der altgläubigen Abgrenzungsversuche gegenüber diesen entstehenden Kulturformen im Ulmer Territorium, genauer gesagt in der Stadt Geislingen. Dort geht der wortgewaltige altgläubige Pfarrer Georg Oßwald in seinen Predigten vor der Einführung der Reformation immer wieder auf das Beichtsakrament ein, dem jedoch in seinen Erörterungen nicht der gleiche Stellenwert wie der Eucharistie zukommt. Dies zeigt sich in seinen Predigten des Frühsommers 1527, die der empörte evangelische Geistliche Paul Beck aufgezeichnet und beim Ulmer Magistrat eingereicht hat. Besonders am Sonntag nach Christi Himmelfahrt prangert Oßwald jene an, die nicht daran glauben, dass man die Sünden, die man nicht im Diesseits büße, im Jenseits büßen müsse.1171 Dadurch verteidigt der Pfarrer den von den Evangelischen angegriffenen dritten Teil des für ihn nur vollständig gültigen Bußsakraments, die Wiedergutmachung. 1531 zu Pfingsten hält Georg Oßwald die beiden letzten Predigten vor seiner Resignation. Auch darüber verfügen wir über Mitschriebe von dritter Hand. Am Pfingstsonntag erklärt Oßwald, wo die Gläubigen heute den Heiligen Geist empfangen könnten. Dies geschehe in der Taufe sowie im Bußsakrament, wenn der Priester den Pönitenten nach abgelegter Konfession absolviert. Am nachfolgenden Montag setzt Oßwald dann zu einer Art Zusammenfassung seiner Lehren für die Geislinger an. Diese sollten v. a. den Glauben an die Realpräsenz Christi in der Hostie, an die Messe und die Beichte beibehalten.1172 Die Position des Bußsakraments an dritter Stelle drückt dessen Stellenwert innerhalb des Kanons der distinktiven und heilsnotwendigen Glaubens- und Praxisformen aus, die Oßwald

1170 Vgl. Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 94–101; Myers, David: Ritual, Confession, and Religion in Sixteenth-Century Germany. In: ARG 89 (1998). S. 125–143. Zur Problematik der Beichte bei den Lutheranern Norddeutschlands im 18. Jahrhundert vgl. Dürr, Ohrenbeichte (wie Anm. 831). 1171 StAU, A [5421], Bl. 65v. 1172 StAU, A [8984/I], Bl. 96r.



2.2 Beichte und Rechtfertigung 

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den Gläubigen nochmals einschärfen will: „Item wer ein tod sind thon hat, und nit kumpt und sagts dem priester in die orn zu bequemer zeit, der kan und mag nit salig werden.“1173 Die Ohrenbeichte wird in Ulm mit der evangelischen Kirchenordnung von 1531 abgeschafft. Doch sie ist nicht aus der Welt, wie die Synodal- und Visitationsprotokolle der Folgejahre zeigen. Über Radelstetten wird bei der offenen Befragung im Rahmen der Synode vom Februar 1532 recht frei geäußert, dass etliche Dorfbewohner sagen, im Papsttum sei das Volk frommer gewesen. Einige wollen sogar wieder beichten, denn man sehe, dass die Neuerungen keinen Bestand hätten.1174 Den gleichen Beichtwunsch realisieren die Bewohner von Aufhausen im nordwestlichen Grenzgebiet des Territoriums auf eine flexible Weise: Sie können die sakralen Dienstleistungen im benachbarten Deggingen, außerhalb des reichsstädtischen Gebiets, in Anspruch nehmen. Offenbar bestehen pfarrliche Verbindungen zwischen den beiden Gemeinden. Im Protokoll wird angegeben, dass der Kaplan von Deggingen vor Kurzem, nach dem Ende der protestantischen Predigt, in Aufhausen die Messe gelesen habe und danach in seiner Predigt „die Leut geladen, wer beichten woll, soll zu ihm kommen.“1175 In der geheimen Befragung bestätigt der Kaplan von Aufhausen, dass der Pfarrer in Deggingen die Gläubigen zur Beichte dränge und sie mit den Sakramenten versehe. Wie bei der Messe, so zeigen sich auch bei der Beichte im Ulmer Raum kontroverse Aktualisierungen der spätmittelalterlichen Kultur. Wer dem Angebot des Pfarrers nachgeht nimmt, bewusst oder unbewusst, eine partikulare Position ein, die etwa von den Ulmer Obrigkeiten als „papistisch“ bezeichnet wird, aber gemäß den Kategorien der altgläubigen Flugschriften der Haltung der wahren alten Kirche entspricht. Doch klar sind die Unterschiede deswegen nicht bzw. werden auch für die Zeitgenossen nicht immer eindeutig erkennbar. Die Vierer, d. h. die Gemeindevertreter, beschreiben die Rezeption dieser Parallelkultur folgendermaßen: [E]s wär ein seltsams Ding zu Aufhausen. Wann der Prädikant von Türkheim komm, so gang jedermann an sein Predigt; wann dann der Pfaff von Deggingen komm, so bleiben viel Leut auch an seiner Predigt. Der sag dann, man soll beichten und Meß hören, er woll niemand Lug strafen, aber das Sein sei wahr. Aber der Mehrteil hang dem Prädikanten von Türkheim an und möchten leiden, daß man die Götzen abtäte.1176

Die Laien wohnen also sowohl der evangelischen als auch der altgläubigen Predigt bei. Wenn die Präsenz bei Predigten auch Interesse und in gewissem Maße Zustimmung ausdrückt – was in einem kleinen Dorf mit vergleichsweise geringem obrigkeitlichem Druck, weit entfernt von der Reichsstadt, durchaus plausibel erscheint – dann

1173 StAU, A [8984/I], Bl. 96r. 1174 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 63. 1175 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 69. 1176 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 69.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

sind die Trennlinien zwischen den Gläubigen entweder nicht sonderlich ausgeprägt oder schlichtweg unproblematisch. Andererseits scheint den Bewohnern die Existenz von Unterschieden bezüglich der Beichte und der Messe durchaus vor Augen zu stehen, da sie laut der Quelle eher den Lehren des evangelischen Geistlichen anhängen. Das Bußsakrament ist vielfach mit Rechtsansprüchen von Pfarrern verbunden. Denn die Beichte abnehmen und die Absolution erteilen kann im Spätmittelalter grundsätzlich nur der zuständige Gemeindepriester oder ein dauerhafter Beichtvater. Im Ulmer Territorium mit seinen zahlreichen Kirchsatzstreitigkeiten zwischen Rat und auswärtigen Patronatsherren kollidiert damit auch die neue Beichtordnung mit alten klerikalen Rechten und Bräuchen. Darüber gibt Martin Frecht, der auf den 1533 verstorbenen Konrad Sam als Ulmer Ratsprädikant folgte, in einer Notiz Auskunft. In dieser klagt er über die Äbtissin des Klarissenklosters St. Klara in Söflingen, das vor den Toren der Reichsstadt liegt. Das Kloster ist eine Enklave im Ulmer Territorium, wobei die Rechtsverhältnisse im 16. Jahrhundert umstritten sind. Der Rat versucht, seine Schirmherrschaft über das Kloster geltend zu machen und ist bestrebt, einen Vogt oder neuen Prädikanten zu installieren. In diesem Konfliktfeld übt Frecht 1537 Kritik an der Äbtissin. Denn diese bestelle in der Fastenzeit einen Priester, der den Gläubigen die Beichte abnehme. Damit aber verstoße sie gegen die Pfarrrechte, die für Söflingen bei Ulm lägen.1177 Ebenso wie die alte Beichtpraxis zusätzlich eine kontroverse und unterschiedlich gedeutete Sinnzuschreibung erfährt, so erhält auch das Recht, die Beichte abzunehmen, eine weitere Funktion: Es dient der Aufrechterhaltung einer alten Ritualtradition mit neuer Bedeutung. In Bayern und Passau – Territorien mit Obrigkeiten, die ihre antilutherische Politik konsequent umsetzen und in der die Altgläubigen die Mehrheit bilden  – wurden bereits die Teilnahme an der Osterkommunion und der Empfang des Sakraments sub una specie sowie die Präsenz bei der traditionellen Messe als distinktive Merkmale altgläubiger Zugehörigkeit herausgearbeitet. Die Lutherischen verfügen meist nicht über die Möglichkeit, andernorts oder außerhalb des Territoriums den evangelischen Gottesdienst zu besuchen und den Laienkelch zu empfangen. Sie können vielfach nur die altgläubigen Praktiken boykottieren. Mit dem jährlichen identitären Kristallisationsmoment der österlichen Kommunion sind in Bayern und Passau das Bußsakrament und dessen orthodoxe Durchführung untrennbar verwoben. Dies zeigt bereits ein Blick auf die antilutherischen Mandate der Obrigkeiten. In Bayern ist das erste auf den 5. März 1522 datiert, einen Aschermittwoch, obwohl die Endfassung tatsächlich ein wenig später fertiggestellt wird. In dem Mandat werden die Irrlehren Luthers und dessen Helfer aufgezählt, wobei namentlich nach dem Altarsakrament und der Messe an dritter Stelle die Beichte genannt wird, die zu ver-

1177 Auch der Sakramentsempfang nach altgläubigen Vorgaben sei in Söflingen möglich. StAU, A [9000], Bl. 151r. Mehr zu den fraktalen Staatlichkeiten und dem Beispiel Söflingen vgl. Kap. III. 4.2.



2.2 Beichte und Rechtfertigung 

 359

ändern die Bayernherzöge untersagen.1178 Die explizite Nennung lässt auf den Stellenwert in der religiösen Auseinandersetzung schließen und legt die Verknüpfung mit den zuvor aufgeführten Praktiken – Kommunion und Messe – nahe. Die Rückdatierung des Mandats soll rechtzeitig vor der Osterzeit die lutherischen Praktiken als häretisch einschärfen und die altgläubige Kultur bestätigen. Im zweiten antilutherischen Mandat von 1524 wird diese Linie, basierend auf den Beschlüssen der Regensburger Zusammenkunft, grundsätzlich beibehalten.1179 Im Hochstift Passau entwickelt sich die Osterzeit ebenfalls zum distinktiven Kristallisationsmoment, was sich an den obrigkeitlichen Mandaten, die sich dezidiert gegen die Lutherischen richten, sowie an der Umsetzung der fürstbischöflichen Religionspolitik ablesen lässt. Im dritten Religionsmandat, das in der Fastenzeit 1526 erlassen wird, heißt es gleich an erster Stelle, dass Gläubigen, die zum Sakrament „on vorgeende beicht und sonderliche erzelung und beclagung irer sunde und absolucion, wider den [sic] form der kirchen und alten loblichen gebrauch zugeen… sich understehen“, die Strafen der päpstlichen und kaiserlichen Mandate drohen.1180 Rechtzeitig vor der traditionellen Hochkonjunktur im Beichtstuhl wird das Bußsakrament nochmal eigens hervorgehoben und somit zu einem im Kirchenjahr singulären Differenzmerkmal. Ein weiteres Mandat im Folgejahr erneuert die Vorschriften von 1526. Es ist auf den 23. März datiert, also wiederum inmitten der Fastenzeit, wobei sich der zeitlich-rituelle Verdichtungseffekt wiederholt und verstärkt. Neu ist allerdings die verschärfte Betonung der Beichtpflicht am Ende des Mandats: Unnd nachdem mit ainem loblichen und langerhaltnem gebrauch herkhomen, das ain yeder christglaubiger mensch in der heyligen vasten zway mall gebeicht hat  – welches dann nit on hochbeweglich christenlich gut ursachen beschehen, und furnemlich aus denen, das ain yeder mit zwayen beychten sein begangen sunde und gewissen ye aigentlicher erforschen und sich zu emphahung des hochwirdigen sacraments des altars christenlicher schicken mag, dann mit ainer peicht, item das auch von menig wegen des volcks den pharrern und selsorgern nit woll moglich ist, ire beichtkinder, wann dieselben zu geburlicher zeit der emphahung des hochwirdigen sacraments nur mit der ainen beicht erst furkhomen wollten, dermassen statlich und mit vleis zehorn, alls die notdurft hochlich ervordert – so vermanen wir ainen yeden burger, ynwoner und gest alhie, auch gemainglich all unsere underthanen genediglich, das sy in bedencken der oberzelten und anderer guten ursachen und auch in ansehung, das ain gemainer alter und sonderlich ain so loblicher gebrauch, wie ain gesatz woll zehallten ist, zu zwayen maln wie von allter herkhomen, irem geordenten pharrer und selsorger beychten. Daran thut ain yeder on zweyfel Got dem almechtigen ain gefellig und ime selbs zu hayll seiner seeln ain nutzlich gut werck.1181

1178 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 55–59. 1179 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 67–86. Das dritte bayerische Mandat von 1530, das sich v. a. gegen die Protestanten, aber auch gegen die Täufer richtet, besteht vornehmlich aus der Verkündigung des Augsburger Reichsabschieds aus dem Jahr 1530. Vgl. S. 113–126. 1180 ABP, OA Gen., 4884, S. 43–44. Das erste antilutherische Mandat beinhaltete nur ein Bücherverbot, das zweite verkündete recht allgemein einen Reichstagsabschied. 1181 ABP, OA Gen., 2107, S. 12 f.

360 

 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

In Passau verlangte die Tradition das zweimalige Beichten vor der Osterkommunion, während im schwäbischen Biberach zusätzlich ein dritter Gang zum zuständigen Priester erforderlich war. Die zweimalige Beichte fördere dem Mandat zufolge die Erforschung des Gewissens und ermögliche damit eine bessere spirituelle Reinigung vor dem Empfang des Altarsakraments. Zudem sei den Klerikern so die gebührende Genauigkeit bei der Führung ihrer Beichtkinder möglich. Zuletzt betont Administrator Ernst in dem Mandat, dass der alte Beichtbrauch wegen seiner langen Existenz an sich schon wie ein Gesetz zu halten sei. Dahinter verbirgt sich eine klassische Argumentation, die auch in der Flugschriftenliteratur zur Legitimierung der altgläubigen Religionspraxis gegen die mutmaßlichen protestantischen Neuerungen herangezogen wird.1182 Die Beichte als Reinigungs- und Vorbereitungsritual vor der heilbringenden Kommunion an Ostern wird in Passau somit zu einem normativen Kernbestandteil der distinktiven Kristallisationszeit im Frühjahr. Zweimal, 1526 und 1528, gehen die bischöflichen Behörden gegen Männer und Frauen vor, die die Osterpflichten versäumt haben. Während sich 1526 die Vergehen und die Strafverfolgung ausschließlich auf die verpasste Kommunion beziehen und die Säumigen diese nachholen müssen,1183 erweitert sich das Spektrum 1528 um das Bußsakrament. Nun wird den verhörten Bürgern und Einwohnern vorgeworfen, „das sy nach christenlicher ordnung und aufsetzung zu osterlicher zeyt nit gebeicht, noch das hochwirdig sacrament emphangen“.1184 Die Entschuldigungen, die die Räte des Administrators in der Befragung zu hören bekommen, sind sehr unterschiedlich und natürlich niemals offen lutherisch. Ein verdächtigter Weber namens Rabe begründet das Fehlen in der Heimatpfarrei mit seiner Abwesenheit zur Osterzeit und späteren Widerwärtigkeiten, wegen derer er die Rituale nicht nachholen konnte. Darüber hinaus gibt er eine Beschwerde zu Protokoll: „Daneben die priester beschuldigt, alls ob man ine mermaln der peicht halb nachlauffen muss etc.“1185 Zwei Interpretationsmöglichkeiten bieten sich für diese Aussage an. Zum einen könnte es sich um eine vorsichtige, latent lutherisch beeinflusste Kritik an der doppelten Beichte und des Aufwandes handeln, den man für diese betreiben müsse. Zum anderen, und dies erscheint mir wahrscheinlicher, zielt der Weber auf die mangelnde Verfügbarkeit der Kleriker für die Abnahme der Beichte. Womöglich spiegelt sich in der Aussage also eine Überlastung der Beichtväter in der Osterzeit, so dass Gläubige unverrichteter Dinge wieder gehen müssen und damit unter zeitlichen Zugzwang für die zwei Sitzungen mit dem Gemeindepriester kommen. Ähnliches wird ja auch in den Mandaten angedeutet. In Bezug dazu ist die

1182 Vgl. Kap. I. 3.2.1. und 3.2.2. Dass das Alter und der lange Brauch Recht setzen, entspricht den Rechtsnormen der Vormoderne. 1183 ABP, OA Gen., 2107, S. 1. 1184 ABP, OA Gen., 2107, S. 46. 1185 ABP, OA Gen., 2107, S. 46.



2.2 Beichte und Rechtfertigung 

 361

Aussage des Schusters Schnappenwalder äußerst aufschlussreich: „[Er] hab aus der ursach das peichten und hochwirdig sacrament zuemphahen underlassen, diweyll man ime auff ain peicht das hochwirdig sacrament nit geben wollen, welhes doch ime vormaln, auch andern, woll geschehen.“1186 1527 hatte Administrator Ernst in seinem Mandat ausführlich die doppelte Beichte als Bedingung für die Kommunionserlaubnis genannt und begründet. Wiewohl dies ein im spätmittelalterlichen Christentum bekannter Brauch ist, scheint es sich in der Praxis nicht um die Regel gehandelt zu haben, zumindest in Passau. Früher hätte nämlich eine Beichte völlig ausgereicht, verteidigt sich Schnappenwalder. Mit der normativen Stärkung der Beichte in Anbetracht der lutherischen Kritik sowie ihrer steigenden Bedeutung als Bekenntnispraxis der altgläubigen Orthodoxie wird die doppelte Beichte strenger kontrolliert und den Gläubigen zusätzlich eingeschärft. In der altgläubigen Kultur findet also eine Aktualisierung der eigenen Praxis in Bedeutung und Performanz statt. Wie allen Verhörten, so wird auch dem Weber Rabe und dem Schuster Schnappenwalder befohlen, innerhalb von acht Tagen die Beichte sowie die Kommunion vollständig nachzuholen und sich von nun an keine derartigen Versäumnisse mehr zu leisten. Beide hätten sich, wie es im Protokoll heißt, „etwas stutzig und ungehorsam erzaigt“, aber am Ende keinen Widerstand geleistet. Unklar bleibt, ob sich dahinter nur Uneinsichtigkeit in die neue Strenge oder eine lutherische Motivation verbirgt. Auch bei anderen Verhörten scheiterte die Kommunionsteilnahme 1527  – auf diese dürfte sich die Befragung Anfang 1528 noch beziehen – nicht am verweigerten Laienkelch, sondern an Problemen mit der Beichte. Der Maurer Krus erklärt, er sei während der Fastenzeit nicht in Passau gewesen und erst am Osterabend zurückgekehrt. Da habe ihn der Pfarrer nicht mehr zur Beichte zulassen wollen.1187 Somit konnte er auch nicht die Hostie empfangen. Ähnlich ist es bei einem Gläubigen namens Kashauer, der nur einmal in der ersten Fastenwoche gebeichtet hat, danach aber nicht in der Stadt war und somit den zweiten Besuch bei seinem Beichtvater ausfallen lässt. Erasmus Kaser wiederum hat Glück. Er kann mit einem schriftlichen Beleg seine in Regensburg abgeleistete Beichte nachweisen und gilt den bischöflichen Räten damit als entlastet.1188 Der Prozess zeigt, dass nicht nur die Ausführung des Rituals angepasst und genauer kontrolliert wird, sondern auch der Zeitplan strenger überwacht wird. Die vor einigen Jahren noch gängige Flexibilität ist jetzt nicht mehr möglich. Auch in den Landgebieten des Hochstifts stellen die Obrigkeiten Abweichungen von der verschärften altgläubigen Norm fest. Wie in Passau kommt den Pfarrern die Funktion zu, die aktualisierten Anforderungen zu überprüfen und gegebenenfalls Abweichungen zu melden bzw. den straffälligen Laien das Altarsakrament zu verweigern. In diesem Zusammenhang schicken die Hofrichter und Räte des Bistums-

1186 ABP, OA Gen., 2107, S. 46. 1187 ABP, OA Gen., 2107, S. 46. 1188 ABP, OA Gen., 2107, S. 46–48.

362 

 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

administrators Ermahnungen an die Pfarrer von Obernzell und dem benachbarten Griesbach. Das Schreiben ist datiert auf den 17. März 1529. Es handelt sich um eine dringende Warnung und um eine Einschärfung der aktualisierten Beichtpraxis anderthalb Wochen vor Ostern. Das Schreiben bietet darüber hinaus einen seltenen Einblick in die Kommunikation religiöser Mandate auf dem Land sowie in die Strukturen, die zur Erkennung und Verfolgung ritueller Devianz aufgebaut worden sind: Alls unser genediger herr zu Passau etc. verschiner zeit ettlich mandat vermoge bapstlicher hailigkhait und romischer kayserlicher maiestät edicten, unserm heyligen cristenlichen glauben betreffend, ausgeen hat lassen, darinnen dann under anderm sonderlich anstenckht und begriffen ist, das ain yeder christglaubiger mensch aus guten und hochbeweglichen cristenlichen ursachen… in der heiligen vasten zway mall beichten soll etc., und aber wir gedenckhen, das auch in ewer pharmenig ettlich personen, die sich solches allten loblichen und christenlichen gebrauchs zeverwidern understeen, mochten gefunden werden. Demnach in namen unsers gnädigen herrn unser bevelch an euch, das ir solich mandat auf der cantzl verleset und wie ir am pesten wist und gegen Got verantwurten mogt, die leut zu solihem loblichen gebrauch und cristenlicher zucht ermanet, inen die furhalltet und mit allem vleys erindert, damit sich ain yeder cristen mensch diser heiligen zeyt nach alltem loblichen gebrauch und herkhomen mit der beicht und anderen cristenlichen werkhen in christenlicher gehorsam erzaige etc. Und wo ir daruber ainen oder mer in eur pharmenig erfuret, der sich solchem gebrauch verachtlicher weys widersässig und ungehorsam erzaigen wurde und dem nit nachkhomen wollt, den oder dieselben sollet ir mit vleys aufzaichen und alsdann unserm gnädigen herrn oder uns seiner fürstlichen gnaden hofrichter und rathen furderlich anzaigen. Darauf anzweifel gegen ainen yeden mit geburlicher straff und handlung verfaren werden sollt.1189

Richter und Räte schärfen den Pfarrern ein, auf das Ableisten der zweimaligen Beichte mit Absolution zu achten und Verfehlungen sofort anzuzeigen. Offenbar gehen die bischöflichen Beamten davon aus, dass selbst in den zwei kleinen Pfarreien Obernzell und Griesbach Devianzen auftreten können. Der Zwang zur Einhaltung dieser religiösen Übung wird mit der langen Tradition und der Gehorsamspflicht begründet. Die Durchsetzung der Tradition kommt unter den veränderten Bedingungen mehr denn je den Pfarrern zu. Sie sollen die Bestimmungen von der Kanzel verlesen und angemessene Mittel einsetzen, um die Gläubigen zur Beichte zu bringen. Die Hofbeamten schicken den beiden Pfarrern Kopien der entsprechenden Abschnitte aus dem Mandat von 1528. Die Mehrheitspraxis erhält angesichts dieser Regelungen und der zumindest potenziellen Abweichungen eine distinktive Bedeutung. Wer zweimal zur Beichte geht und somit die verschärften Rituale befolgt, drückt im konkreten Fall durch die Sakramentspraxis öffentlich, womöglich aber unter Druck, die Zugehörigkeit zur alten Religionskultur aus. In Rouen konnte ich in den mir zur Verfügung stehenden Quellen keinen Konflikt um die Beichtpraxis während der 1520er- und 1530er-Jahre ausmachen. Anders sieht

1189 ABP, OA Gen., S. 50 f.



2.2 Beichte und Rechtfertigung 

 363

es hingegen in Paris aus. In der französischen Hauptstadt lässt sich das Konfliktpotenzial des Bußsakraments sowie das Verhalten der Pariser Bevölkerung dazu in den Selbstzeugnissen der drei altgläubigen Zeitgenossen auf zwei Arten untersuchen. Erstens durch die Beichtpraktiken, die mit den regelmäßigen päpstlichen Generalablässen verbunden sind und die den Evangelischen einen Anlass geben könnten, gleich eine Reihe von Konflikten und Kritiken verknüpft vorzubringen. Zweitens die Deutung der Hinrichtung einiger „Lutherischer“ und deren Verhalten vor dem Tod durch die altgläubigen Chronisten. Päpstliche Generalablässe sind im Paris der 1520er- und 1530er-Jahre ein wiederkehrendes Phänomen. Durch bestimmte Praktiken können die Gläubigen dank des Ablasses ihre zeitlichen Sündenstrafen vollständig erlassen bekommen. Der unbekannte Pariser berichtet von derlei Gnadengeschenken aus Rom u. a. für das Jahr 1524: Cette année, le dimanche onzième de décembre, fut le grand pardon du Jubilé que le pape Clément, septième de ce nom, donna et octroya tant en Italie qu’en France, et fut publié à Paris en un sermon qui fut fait ce jour aux Jacobins, en faisant une procession générale qui fut le dimanche de devant, qui était le quatrième de décembre. Et lequel pardon contenait que le mercredi, vendredi et samedi d’après la publication, l’on devait jeûner les trois jours; et le dimanche d’après, qui était le douzième jour de décembre, comme il est dit, on devait recevoir le Corpus Domini après avoir été confessé et dit ses patenôtres; et peut chacune personne élire tels confesseurs qu’ils veulent… Ce fut le plus beau pardon et plus dévotieux qui fut jamais octroyé.1190

Es handelt sich hier, anders als in den Beispielen aus Passau oder Ulm, um keine gewöhnliche Jahresbeichte vor Ostern. Es ist vielmehr eine rituelle Ausnahmesituation, bedingt durch den von Papst Klemens VII. gespendeten Jubelablass. Der Parlamentsanwalt Nicolas Versoris schildert das Ereignis ähnlich wie der Anonymus. Doch Versoris erläutert den Grund für den Ablass: Der Papst wolle damit den Frieden in der Christenheit befördern. In österlicher Manier sei die Kommunion am Sonntag ausgeteilt worden.1191 Schließlich notiert auch Pierre Driart, der Kämmerer im Augustinerkloster Saint-Victor, das Geschehen rund um den Jubelablass. Er nennt noch einen weiteren Grund für dessen Verbreitung, nämlich die Pestwelle in Italien. Auch Driart stellt den großen Erfolg der Aktion heraus.1192 Um den Ablass, der im Rahmen einer großen Prozession verkündet wird, zu erhalten, sollen die Gläubigen drei Tage lang fasten und Vaterunser (laut Pierre Driart präziser: fünf Vaterunser und fünf Ave Maria) beten. Dies sei ein gutes Werk und eine Strafe für die begangenen Sünden, die einem Priester gebeichtet werden müssen. Besonders bei derlei außergewöhnlichen Ablässen ist die freie Wahl des Beichtvaters.

1190 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 1 (wie Anm. 347), S. 153. 1191 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 65. 1192 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 100 f.

364 

 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Nach den vollbrachten Buß- und Reinigungsritualen empfangen die Teilnehmer die Kommunion. Die Zeremonie, in deren Mittelpunkt die Buße und die Rechtfertigung der Sünden stehen, scheint bei den Parisern im Jahr 1524 hervorragend anzukommen. Der Ablass als Sonderform des Bußwesens wird in den drei Selbstzeugnissen als ein nicht hinterfragter, selbstverständlicher Teil der städtischen Religionskultur beschrieben. Um in Paris Differenzen in Bezug auf das Bußsakrament und insbesondere die Ohrenbeichte mit der anschließenden Absolution zu finden, müssen wir bereits an dieser Stelle einen Blick auf eine Reihe von Hinrichtungen während des Untersuchungszeitraums werfen. Diese sind in beiden französischen Fallstudien ein wichtiger Kristallisationsmoment für distinktive religiöser Praktiken. Die Altgläubigen nutzen die Exekutionen zur Affirmation und Zuspitzung ihrer Rituale und Glaubensinhalte, wohingegen die Verurteilten nicht immer widerrufen und sich den Befehlen der Priester vor der Exekution beugen, sondern mitunter auf ihrer Meinung beharren und dies in ihrem Handeln zum Ausdruck bringen. Aussagekräftig sind an dieser Stelle die Berichte der Chronisten über die Sterbevorbereitung der Evangelischen.1193 Nicolas Versoris, der Anwalt im Pariser Parlament, beschreibt am 28. August 1526 die Hinrichtung eines jungen Lutherischen, der das Altarsakrament gelästert haben soll. Normalerweise werden bei Exekutionen, auch von Häretikern, die Regeln des „guten Todes“ berücksichtigt. Demnach soll der Totgeweihte nach der Bekennung seiner Sünden das Beichtsakrament gespendet bekommen und die Kommunion empfangen. An jenem Dienstag aber verweigert der Lutherische die Beichte, „dissant qu’il ne convenoit se confesser que à Dieu seullement et non [à] homme prebstre, qui est pecheur comme luy.“1194 Der Verurteilte lehnt mit der Ohrenbeichte und der Absolutionsgewalt des Priesters als Mittler zwischen Gott und den Menschen zentrale Elemente des altgläubigen Bußsakraments ab. Die Hinrichtungsstätte wird zur wirksamen Bühne für eine dann sicherlich besonders eindrückliche Handlung. Pierre Driart, der Augustiner-Kämmerer, deutet dies als fehlende Reue und notiert, dass der Lutherische noch im Tod in seinem Irrtum verharrte.1195 Schließlich berichtet auch der anonyme Chronist, ausführlicher als die beiden anderen Autoren, von dem Vorfall und der Person des Schülers. Der sei zwar vom grand pénitencier der Stadt Paris, Jean Merlin, mehrfach belehrt worden. Doch er habe sich nicht bekehren lassen. Es mangle ihm an Reue und damit an einem wichtigen Bestandteil des Bußsakraments. Diese Haltung schlägt sich auch im Widerstand gegen die ansonsten gängige öffentliche Bußaktion vor Notre-Dame auf dem Weg zur Hinrichtung nieder.1196

1193 Für eine detailliertere Analyse der Hinrichtungen vgl. Kap. II. 3.3. 1194 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 94. 1195 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 120. 1196 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 56.

2.3 Fastenzeit(en) 

 365

Von einem vergleichbaren Vorgang in Paris berichtet Pierre Driart am 19. März 1534. Ein wegen Blasphemie zum Tod durch lebendiges Verbrennen verurteilter Ketzer, dem vor der Exekution auf der place de Grève die Zunge abgeschnitten wird, sei in seinem Irrglauben gestorben. Dies will Driart daran erkannt haben, dass der Verurteilte weder konvertieren, noch beichten wollte.1197 Für den Lutherischen dürfte es sich um einen wahren Bekenntnisakt handeln, der altgläubige Beobachter deutet das Vorgehen in seinen Aufzeichnungen als Ketzerei und „Halsstarrigkeit“, mithin also als Abweichung von der eigenen Bußpraxis. Die tritt aber in diesem Zusammenhang ebenfalls als partikulare, als in dem neuen Kontext anders darzustellende Tradition hervor. Kommt es in der Frühreformation zum Konflikt um die Beichttradition, werden deren Theologie und Performanz von den Altgläubigen gestärkt, die Einhaltung der Normen nachdrücklicher eingefordert, mitunter alte Bräuche leicht verändert und die Durchführung überwacht. Die Beichte als Vorbereitungs- und Reinigungsritual steht dabei vielfach in Verbindung mit einer weiteren vorösterlichen Praxis: dem Fasten

2.3 Fastenzeit(en) Fasten dient im Spätmittelalter – wie die Beichte – als Vorbereitung zur Osterkommunion, ist aber kein Sakrament. Wenngleich die 40 Tage von Aschermittwoch bis Ostern die längste und bedeutendste Fastenzeit sind, gibt es im Kirchenjahr doch eine weitere Zahl von Feiertagen, an denen oder vor denen die Gläubigen fasten müssen. An Freitagen gilt generell ein Fleischverbot. Die genaue Zahl und die Ausgestaltung der Karenztage außerhalb der Fastenzeit hängen nicht zuletzt von den örtlichen Traditionen ab. Im Herzogtum Bayern und dem Hochstift Passau bildet in der frühen Reformationszeit die Osterzeit mit der Beichte und der Kommunion der schlechthinnige Kristallisationsmoment der religionsgemeinschaftlichen Unterschiede. Daneben wird auch das Fastengebot für die Altgläubigen zu einer wichtigen Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu zeigen und ihre Kultur zu leben. Der distinktive Stellenwert ist allerdings begrenzter, wahrscheinlich auch, da es sich beim Fasten nicht um einen einzigen, präzisen Ritualmoment, sondern um eine längere Zeitstrecke handelt und das Seelenheil durch ein Nein zum Verzicht nicht prinzipiell infrage gestellt ist. Im bayerischen Religionsmandat von 1522 nennen die Herzöge in ihrer Aufzählung der erschreckenden lutherischen Lehren und Gebräuche das Fasten nicht explizit.1198 1524 verkünden die Herzöge dann die Einung des Regensburger Konvents, eines Treffens altgläubiger Fürsten und Fürstbischöfe der Salzburger Kirchenprovinz. Der Beschluss wurde nicht gezielt auf das Herzogtum zugeschnitten, kam aber unter gewichtigem

1197 Vgl. Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 167. 1198 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 55–59.

366 

 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

bayerischem Einfluss zustande.1199 In dem Text werden die unter Strafe stehenden Praktiken aufgeführt. Demzufolge müssen die Laien vor der Kommunion sub una specie beichten und absolviert werden. Alles solle weiter so gehalten werden, wie es von den Vätern bis auf die heutige Zeit gekommen ist. Gleich im Anschluss heißt es: Dieweyl auch der allt brauch mit fleyschessen vnd anndern verpotten speysen jnn der Vassten vnnd anndern tägen, aus guten, vernünfftigen vnd Christenlichen vrsachen durch die heyligen Vätter vnnsere Vorfarn auffgesetzt, vnnd nach yedes Lanndes gebrauch bis an vnns löblich herkomen ist, So wöllen wir die ergernuss, so aus übertrettung derselbigen aufsatzen vnnd gebreüch entsteet, in vnnsern Lannden vnd Gepieten wieuorsteet nit einfüeren lassen, sonnder die Vbertretter ernnstlich darumb straffen.1200

Das Fleischverbot als prominentestes der Fastengesetze im Süden des Alten Reichs wird in eine historische Kontinuität gesetzt, die zur Legitimierung und Verteidigung gegen die mutmaßlichen Neuerer beitragen soll. Gleichzeitig offenbart sich im Hinweis auf die verschiedenen Ausgestaltungen der Fastenzeit die typische Heterogenität der spätmittelalterlichen Religionskultur, die bei den Altgläubigen auch in der Reformationszeit fortdauert. Die Nichteinhaltung der Speisegebote war auch im Spätmittelalter für die kirchlichen Obrigkeiten ein leidiges Thema. Doch das Phänomen erhält nun eine völlig neue Bedeutung, da es in altgläubiger Wahrnehmung die Zugehörigkeit zum evangelischen Anderen repräsentiert. Das altgläubige Eigene findet seinen Ausdruck wiederum in der nunmehr kontroversen Berücksichtigung der Fastengebote, je nach dem örtlichen Brauch.1201 So wird im Herzogtum Bayern auch gegen Fastenbrecher vorgegangen. Ein bereits zitiertes Beispiel sind die 1524 verhafteten Eheleute Jörg und Anna Vogel. In der Eidesurkunde, in der sie dem lutherischen Glauben und dessen Ritualen abschwören und sich verpflichten, künftig nach dem alten Ritus zu leben, werden zwei Vergehen aufgeführt: Jörg und Anna Vogel aßen Fleisch in der Fastenzeit und an anderen verbotenen Tagen und sie kommunizierten sub utraque specie. Das Fastengebot steht, wie auch die Beichtpraxis, in Zusammenhang mit jenem distinktiven Verdichtungsmoment vor und während der Osterzeit, der diese Region bei der Entwicklung religionsgemeinschaftlicher Zugehörigkeiten prägt. Das Fasten machte die Eheleute Vogel demnach, ganz wie es das Mandat von 1524 impliziert, als nicht-Altgläubige kenntlich.1202

1199 Vgl. Winkler, Regensburger Konvent (wie Anm. 107). 1200 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 77. 1201 Im dritten Religionsmandat von 1531 übernehmen die Herzöge die entsprechenden Artikel des Augsburger Reichsabschieds von 1530. Vgl. Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 113–126. 1202 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 121r.

2.3 Fastenzeit(en) 

 367

Bereits 1523 werden aus Altötting, dem berühmten Marienwallfahrtsort, Verstöße gegen die Speisegebote an einem Heiligenfeiertag gemeldet. Bei einem Aufenthalt im Rahmen einer Amtshandlung in herzoglichem Auftrag hält sich der Rentmeister von Burghausen in Altötting auf. Dabei werden ihm nicht nur ein Fall von Marienlästerung und Messstörung sowie „Disputationen“ im Ort angezeigt, sondern auch auf Fleischessen an einem verbotenen Tag hingewiesen. Der Rentmeister berichtet über seinen Kenntnisstand in einem Brief an Herzog Wilhelm: „[M]ir wird auch anzaigt an sannd Johanns Gottes dauffer vasstnacht, haben ettlich burger zu Oting trawenlich rindern praden gessen. Das ich aber noch nit enntlich wissen. Hab den, so mir solhes anzaigt, bevolhen, vleiss zehabn, ob solhe mutwilligung bezeugt mocht werden.“1203 Vor dem Fest Johannes des Täufers ist in Altötting eine kurze, wahrscheinlich eintägige Fastenzeit vorgesehen. An diese halten sich einige Bürger nicht mehr und treffen sich zum gemeinsamen Rinderbraten-Essen. Ein klarer gemeinschaftlicher Verstoß gegen das Fastengebot, das – wie auch im Fall der denunzierten anderen Vergehen – offenbar andere Bewohner der Stadt so sehr verärgert, dass sie es beim Rentmeister zur Anzeige bringen. So wird deutlich, dass sich auch bezüglich des Fastengebots die Überzeugungen und Ansprüche der Gläubigen auseinanderentwickeln und es in präzisen Momenten wie diesem zu Zuspitzungen kommen kann, die Aufsehen erregen und eine traditionell orientierte Mehrheit in Altötting zu Reaktionen treibt. Im Hochstift Passau gleicht die Gesetzgebung des Administrators Ernst jener seiner Brüder im Herzogtum Bayern. Allerdings wird in Passau der Zusammenhang der drei österlichen Kernpraktiken noch deutlicher. Erstmals geht das Religionsmandat vom 10. März 1526 auf diese Fragen ein. Darin weist Administrator Ernst auch auf die Beschlüsse des Regensburger Konvents hin, ohne diese so wortgetreu wie die Bayernherzöge zu übernehmen. In dem Mandat ordnet Ernst an, dass bezüglich der heiligen Messe, der Kommunion sowie des Fastens, des Betens und der Beichte nichts verändert werden dürfe. Unter die Strafe des kaiserlichen Mandats fallen diejenigen, die vor der Osterkommunion nicht beichten, den Laienkelch empfangen und in der Fastenzeit sowie an anderen verbotenen Tagen Fleisch essen.1204 Im antilutherischen Mandat vom 23. März 1527  – es fällt somit wie auch im Vorjahr in die Fastenzeit  – werden die zentralen Befehle von 1526 erneuert, wobei die zweimalige Beichtpflicht gesondert herausgestellt wird. Die Wiederholung sei notwendig geworden, da sich einige Passauer nicht an die Vorschriften des Administrators, der Kirche und an die gute alte Ordnung gehalten und u. a. in der Fastenzeit Fleisch gegessen hätten.1205 Allerdings sind keine Verfolgungen von Fastenbrechern überliefert, denn die Kontrolle der Speisegebote ist natürlich schwerer als die der Beichte und der Kommunion. So spielt das Fastengebot 1526 und 1528 bei den Prozessen gegen säumige Pönitenten

1203 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 5v. 1204 ABP, OA Gen., 4884, S. 40 f., 43 f. 1205 ABP, OA Gen., 2107, S. 7–14.

368 

 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

und Kommunikanten keine Rolle.1206 Auch in den Ermahnungen an die Pfarrer von Obernzell und Griesbach, die Mandate des Fürstbischofs zu verkünden und deren Einhaltung zu überwachen, fehlt jeder Hinweis auf die Speisegebote.1207 Das vorösterliche Fasten führt in Bayern und Passau gleichsam wie ein rituelles Crescendo auf die distinktiven Praktiken der Beichte und der Kommunion hin. Die Unterschiedskonstruktion ist in Ulm weniger stark auf die Osterzeit fokussiert. Dabei ist das Fastengebot natürlich auch in der zwinglischen Reichsstadt durch die Kirchenordnung von 1531 abgeschafft. Ein Quellenproblem für die Rekonstruktion etwaiger Auseinandersetzungen in dieser Frage entsteht dadurch, dass die evangelische Obrigkeit im Rahmen der Visitationen und Synoden die Nicht-Einhaltung des Fastengebots nicht kontrolliert. Streit um das Fleischessen bzw. die Enthaltsamkeit während der von der alten Kirche vorgeschriebenen Fastenzeiten ist deshalb auf die Mikroebene beschränkt und bleibt in der Regel auch dort. So sorgt nicht das Fasten an sich, sondern gelegentlich überhand nehmender Streit zwischen altgläubigen und protestantischen Laien dafür, dass die Instanzen der Obrigkeit aktiv werden müssen. Ein seltenes Beispiel hierzu stammt aus den Akten des Ulmer Stadtarchivs zur Reformation in Geislingen. Dort berichtet in einer nicht datierten Notiz vermutlich der Vogt an die Herrschaftspfleger oder an die Religionsverordneten über eine Reihe devianter Verhaltensweisen und Unruhe im Volk.1208 In der Quelle heißt es: „Weyter tregt sich zu, das die sich zu dem Evangelio beflyssen, von den bäpstischen beredt und angelangt werden, als die unrecht thuen und sonderlich von der feyrtag wegen, der predig

1206 Vgl. ABP, OA Gen., 2107, S. 1 f., 46–49. 1207 Vgl. ABP, OA Gen., 2107, S. 50–53. 1208 Bezieht sich die Notiz wirklich auf die Stadt Geislingen oder auf eine andere Gemeinde im Oberamt? Für Geislingen spricht, dass dort der Vogt direkten Zugriff auf Geschehnisse hat und es in Geislingen mit seiner altgläubigen Mehrheit zu zahlreichen Konflikten kommt. Diese Annahme wird durch eine Notiz infrage gestellt, in der es heißt, dass den Untertanen schon kürzlich das Auslaufen nach Lautern, einem Weiler kurz hinter der Ulmer Grenze, verboten worden sei. Dennoch kam es zum Auslaufen einiger Untertanen dorthin, um ein Kind nach altem Ritus taufen zu lassen. Da es in Lautern keinen Pfarrer mehr gebe, habe ein Pfarrer Zimprecht das Kind getauft. Zimprecht ist bis mindestens 1535 Pfarrer von Bermaringen. Bei der ersten Befragung von Klerus, Amtleuten und Gemeindevertretern in Ulm im Oktober 1531 ist in den Protokollen zu der Gemeinde notiert, dass der Pfarrer alle Zeremonien wie zuvor weiter praktiziere. Das hat sich auch bei der Visitation im Juli 1535 nicht geändert. Pfarrer Zimbrecht geht nun sogar so weit, dass er selbst die Grenze überschreitet und in Lautern für diejenigen, die sie wollen, die Messe liest. Der zur Diskussion stehende Brief könnte also im Zeitraum kurz nach Oktober 1531 oder nach Juli 1535 geschrieben worden sein. Die Frage, in welchem Ort sich der Streit um das Fasten abspielt, muss vorerst unbeantwortet bleiben. Einiges spricht jedoch für Geislingen, von wo aus womöglich die Hebamme den indes langen Weg durch das ganze Oberamt Helfenstein bis nach Lautern mit dem Neugeborenen unternommen hat. Möglicherweise ist der Ort des Geschehens aber auch Bermaringen, wo der Streit Pfarrer Zimprechts und dessen prononciert altgläubiges Ritualangebot Früchte getragen hat. StAU, A [5421], Einlage zwischen 86v und 87r; Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 44, 110 f. Zur Herrschaftsstruktur der Ulmer Landgebiete vgl. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 22 f.

2.3 Fastenzeit(en) 

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und flaysch essens halben. Daraus dann unrat entsteet und auch sonst vil unnütz geschwetz, widerbellens und auch rechtfertigen die verthedinger götlichs worts in offnen zehen.“1209 Am Ende der Notiz steht eine Liste mit den Namen von 14 Männern und dem Hinweis auf einige Frauen, die zu den größten Widersachern des göttlichen Worts gehören. Festzuhalten ist laut dieser Quelle, dass die altgläubigen Gemeindemitglieder den Streit hervorrufen, indem sie die Evangelischen wegen deren Nichtbeachtung der Feiertage, der reformierten Predigt sowie dem Fastenbrechen heftig angreifen. Letzteres ist auf der Ebene des Gemeinen Mannes in Geislingen offenbar eines von mehreren konfliktträchtigen Themen zwischen den Bewohnern. Darüber hinaus wird die bereits weit entwickelte Bildung verschiedener Deutungs- und Praxisgemeinschaften in Geislingen deutlich, die von den unbekannten Berichterstattern besonders in den Wirtshäusern vermutet werden. Unter den Praktiken, die den Unterschied machen, befinden sich überraschenderweise nicht die Messe oder das Sakrament, sondern Kulturformen, die unabhängig von den Priestern den religiösen Alltag der Gläubigen prägen und ihnen somit Stoff für Auseinandersetzungen liefern. Ein profilierter altgläubiger Priester, Heinrich von Pflummern aus der nicht weit von Ulm entfernten Reichsstadt Biberach, gibt in seinen Aufzeichnungen ein bewegendes Zeugnis der distinktiven Funktion des Fastens bzw. des Fastenbrechens wieder. Die Aufzeichnungen beginnen mit einer allgemeinen, dann aber immer stärker auf Biberach hinführenden Geschichte der evangelischen Bewegung sowie der alten Praktiken und Gegenstände, die durch die Reformation „abgegangen“ seien. Darüber hinaus beschreibt Pflummern seine eigenen Deutungen und Positionen in der mehrheitlich zwinglischen Stadt. Dabei kommt er auch auf das Fasten bzw. das Fastenbrechen zu sprechen. Dieses habe 1522 oder 1523 in Nürnberg begonnen, als dort die Bewohner ihren Metzgern vor Beginn der Fastenzeit angekündigt hätten, dass sie nun Fleisch essen wollten. Dabei seien der alte Brauch und die christliche Ordnung, für einige Tage auf Fleisch und Eier zu verzichten, beendet worden. Zudem habe die Zunahme des Fleischessens die Preise nach oben getrieben: Zwischenzeitlich essen Menschen, die sonntags nicht mal eine Wassersuppe auf dem Tisch hätten, an verbotenen Tagen Fleisch. Die reichen Lutherischen wiederum könnten ihre Bäuche nicht voll genug bekommen.1210 Pflummern stellt die Fastenbrecher nicht nur als Verächter der christlichen Ordnung dar, sondern auch als Genusssüchtige, die sich den mäßigenden Regeln der Kirche entzögen, um sich ganz der Völlerei hinzugeben. Wie in der altgläubigen Flugschriftenpolemik wird der Ketzer zum gesellschaftlichen Revolutionär und zum notorischen Sünder, der sich von der alten Kirche abwendet, um ein lasterhaftes Leben frei von Regeln führen zu können. Aber wozu dienen in dieser altgläubigen Sicht die Speiseregeln und wann kommen sie zum Tragen? Darauf gibt

1209 StAU, A [5421], Einlage zwischen 86v und 87r. 1210 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 163.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Pflummern eine ausgefeilte Antwort, die auch den neuen Begründungs- und Kontextualisierungsdruck spiegelt. Er argumentiert: Als die gaistlichen obern hund geboten, am fritag und samstag nit flaisch zuo essen, das der mensch sich dester geschickter sich berait uff den sunentag, so er sich uff fritag und samstag enthelt vom flaisch, welcher sunentag nit ain clain fest ist, sich mit got all wochen zuo versienen. Des glichen uff ander tag ouch, als al boten fastag in der fasten, sich dester bas zuo beraiten uff das esterlich zit etc.; uff die fest der hailigen och also, das boten fastag vor gangen, in der mainung, wie oben; es send ouch ander ursachen der gebot, die hie zuo lang wurden.1211

Die Fleischverbote an Freitagen und Samstagen sind demnach ein Reinigungs- und Vorbereitungsritual vor dem Sonntag und den dazugehörigen Traditionen. Dazu zählen insbesondere das Messehören und die damit verbundene spirituelle Kommunion während der Elevation der Hostie. Dieser Moment muss also ebenfalls, wie die österliche Kommunion, vorbereitet werden, um ihn im Zustand der inneren Läuterung und Reinheit andächtig begehen zu können. Nachdem Heinrich von Pflummern die verschiedenen Fastentage in Biberach aufgezählt und begründet hat, blickt er auf die Praxis der Gegenseite, über die er ein vernichtendes Urteil fällt, in dem er den distinktiven Charakter des Fasten- und Feiertagsgebots explizit herausstellt: „Item we, we uns! Luog, wie es unsere forderen habent gehalten mit firen und vasten! Waist du es nit, so frag im naich. Die nui Cristen wends ietz nur in globen setzen und im gaist leben, si tuond irm flaisch nit we, got erbarms! Also sichst du wol lieber Cristen, wie sich die nuien Cristen gen den alten Cristen halten, so du der nuien Cristen firen und vasten ansichst.“1212 Die Gruppendifferenz könnte kaum deutlicher sein. Pflummern schreibt den Fastenbrauch in die lange Dauer der Religionskultur der alten Christen ein. Die neuen Christen brechen mit dieser Tradition und vertrauen auf die Rechtfertigung aus dem Glauben allein. Ziel des Fastens ist die Selbstkasteiung als Buß- und Reinigungsakt, der ein verdienstvolles Werk und darüber hinaus eine Art der Imitatio Christi darstellt: Jesus verbrachte 40 Tage fastend in der Wüste und widerstand den Versuchungen des Teufels. Die Ablehnung der Werkegerechtigkeit und der „menschlichen Gebote“, zu denen die Evangelischen auch die Speiseverordnungen zählen, machen diese in Pflummerns Wahrnehmung als die Anderen kenntlich. Der Unterschied zwischen den alten und den neuen Christen wird im Moment der divergierenden Praktiken ersichtlich, die gleichzeitig die übergeordnete Differenz zwischen den beiden Kategorien spiegeln. In den ostwestfälischen Territorien hingegen wurde ich zur Fastenfrage kaum fündig. Dort muss man offenbar ein sehr militanter Luthergegner sein, um sich mit den Speisegeboten als Zugehörigkeitsmerkmal zu befassen bzw. daraus gewichtige Unterschiede abzuleiten. Dies hängt auch mit dem vergleichsweise offenen Raum der

1211 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 163. 1212 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 167.

2.3 Fastenzeit(en) 

 371

kulturellen Möglichkeiten zusammen. Ähnlich wie bei der Kommunionspraxis stehen Flexibilität und Arrangements im Vordergrund und verhindern den Niederschlag des Fastenthemas durch größere Auseinandersetzungen in den Quellen. Bruder Göbel Schickenberge, Laienbruder und Vogt der Augustiner in Böddeken, kommt in den Tagebuchnotizen über seine Reisen dennoch mehrmals auf die Speisegebote zu sprechen. Eine lange Reise im Jahr 1532 eignet sich sehr gut, um das Verhalten Göbels hinsichtlich der Fastenpraxis bzw. deren Bruch in evangelischen Gebieten anhand eines kohärenten Beispiels zu untersuchen. Der Fall ermöglicht zudem eine genauere Analyse der sozial-religiösen Funktion der Speisegebote im frühreformatorischen Westfalen und den angrenzenden Niederlanden, wohin die Reise den Mönch führt. Er bricht am 27. Februar 1532 auf nach Dalfsen und Deventer, wo er Geldforderungen eintreiben soll. Die Reise findet mitten in der Fastenzeit statt. Bruder Göbel kommt deshalb mit seinen altgläubigen Fastengeboten auf verschiedenen Stationen seiner Reise in Konflikt mit Einheimischen, Wirtsleuten oder anderen Reisenden. Die Frage, ob die Menschen fasten oder nicht, was es zu essen gibt und wie sich die Bevölkerung verhält, zeigt dem Mönch gemäß seinen Deutungsrastern, ob die Betreffenden beim alten Glauben und dessen Traditionen verblieben sind oder nicht. Bruder Göbel beginnt seine Reise in Richtung Nordwesten und macht zum ersten Mal halt in Salzkotten, zehn Kilometer von Böddeken entfernt, gelegen im Westen des Hochstifts Paderborn. Dort hört er, dass die Gläubigen trotz der Fastenzeit Butter essen. Nochmal 50 Kilometer weiter befindet sich der Klostervogt in Warendorf im Osten des Hochstifts Münster. In Warendorf kommt er mit einer Wirtin ins Gespräch, das er in seinem Notizbuch wiedergibt. Es handelt sich um ein einzigartiges und von der Forschung bisher überraschenderweise ignoriertes Dokument: Do ick tho Warendorp quam, sprack de werdinde: ‚Leve broder, war kome gi her, war hore gi tho kloster?‘ Ick sprack: ‚Leve frauwe, ick hor tho Bodeken tho huiss.‘ ‚Leve broder‘, sprack de frauwe, ‚wat do gi dar? Vaste gi ouck noch, bede gi ouck noch dar?‘ ‚Ja‘, sprack ick, ‚solden wy nicht? Wy vasten, wi beden noch gelick wy suss lange.‘ ‚Och, leve broder‘, sprack de frauwe, ‚dat ist hyr allet gedain. De lude etten butter unde wat se hebben etc.‘1213

Die Wirtin sucht das Gespräch mit dem Mönch, um Neuigkeiten über die religiösen Verhältnisse in dessen Heimat zu erfahren. Ihre Fragen heben sehr präzise auf das Fasten und das Gebet ab. Göbel zeigt sich überrascht von diesen Fragen, denn sowohl Fasten als auch Gebete – gemeint sind wahrscheinlich die Tagzeitengebete – stellen für ihn schlicht Normalität dar, die keiner weiteren abgrenzenden oder verteidigenden Reflexion bedürfen. Es handelt sich für Göbel um Praktiken, die seit Langem in Übung sind und nicht verändert werden dürfen. Damit wird der Mönch aber auch für die Wirtin zuordenbar und sie kann ihm offenbaren, dass sie das Ende des Gebets und des Fastens in ihrer Stadt bedauert.

1213 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 372 f.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

In Greven, 15 Kilometer nördlich von Münster, legt Göbel erneut Rast ein, um etwas zu essen. Einige Fuhrleute gesellen sich für eine Mahlzeit dazu. Was dem Mönch gleich auffällt: Die Fuhrleute haben Behältnisse („bussen“) mit Butter bei sich und bedienen sich daraus so selbstverständlich, als sei das Butteressen fester Bestandteil der Fastenzeit. Die nächste Station ist die Stadt Rheine, immer noch im Münsteraner Stiftsland, aber mittlerweile 115 Kilometer vom heimatlichen Böddeken entfernt. In Rheine betritt Bruder Göbel eine Herberge und es kommt zu folgender Szene: Do ick affgesetten was, solde ick eyns drincken. Sprack de wert tho der frauwen: ‚Langet dem broder butter unde broit, dar he up drincke!‘ Dachte ick: ‚Leve here, wuo wuolt du dit anslain?‘ Ick at der butter nicht. Ick sprack tho der werdinnen: Frauwe, ick will geyn butter etten.‘ Se kockede my ollie. Den avent quamen koplude van Oissenbrughe unde van Hervorde, de etten butter myt dem werde unde nemant sede tho my: ‚Warum ette gi geyn butter?‘“1214

In dieser Quelle zeigt sich eine bemerkenswerte kulturelle Flexibilität, deren Grundlage wohl auch ist, dass sich Göbel in der sozialen Interaktion weniger martialisch gibt als in seinen Aufzeichnungen und insgeheimen Urteilen über die Fastenbrecher. Für die Wirtin scheint es mittlerweile normal zu sein, dass auch Mönche in der Fastenzeit Butter zu sich nehmen. Göbel muss sichtlich überlegen, wie er aus dieser Situation in der Herberge herauskommt, ohne für einen Eklat zu sorgen, den er sich mit zunehmender Entfernung von Böddeken wohl weniger leisten zu können glaubt. Andererseits will der Mönch sein Fastengebot und somit sein kulturelles Verhalten keinesfalls aufgeben. Die am Abend hinzugekommenen Kaufleute aus den Städten Osnabrück und Herford wiederum essen Butter mit dem Wirt. Göbel hält erstaunt fest, dass sie ihn nicht danach fragen, warum er keine Butter isst. Offenbar hat er mit Diskussionen oder Anwürfen gerechnet, weil sein Verhalten auffällt. Doch wird dieses von den Kaufleuten entweder nicht bemerkt, oder sie gehen darüber stillschweigend hinweg. In der Herberge ist man vielleicht auch daran gewöhnt, dass sich die Gäste diesbezüglich mittlerweile einfach unterschiedlich verhalten. Dies würde die rasche Alternativlösung erklären, die die Wirtin vorbringen kann, als sich ihr Gast aus Böddeken weigert, Butter zu essen. Unter den Reisenden scheint sich der Konsens gebildet zu haben, für die friedliche Koexistenz den Abend über keine kritischen Themen aufzuwerfen, zumal es sich um ein für Göbel zwar wichtige, aber insgesamt betrachtet doch eher adiaphore Praxis handelt. Dass sich die verschiedenen Speisekulturen auf der Reise meistens pragmatisch verhandeln lassen, zeigt sich auch nach Göbels Ankunft in den Niederlanden, genauer gesagt in Dalfsen, 200 Kilometer von Böddeken entfernt. Dort kommt es zu einem Gespräch mit dem Wirt, das der Augustinermönch in seinem Tagebuch folgendermaßen festhält:

1214 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 273.

2.3 Fastenzeit(en) 

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Onder anderen worden sprack de wert: ‚Broder Gobbel, gi etten ja butter?‘ Ick sprack: ‚Leve her wert, kan ick dat gekeren, so en wyl ick der butter nicht etten.‘ ‚Ja‘, sprack de wert, ‚wille gi nicht, so sollen gi ouck nicht‘ etc. Ick was dar XVII dage lanck unde alle dage quamen dar nye geste. War dat se ouck herquamen, allet brachte se bussen myt butteren myt sic off de wert moste en butter vorkoppen. Unde de wert myt alle sinen gesten unde gesinde behalver ick de aitten alle butter, also dat ick alle mailtijt moste butter up der taffelen seyn unde dessolven geliken, do ick weder tho huiss reyssede.1215

Die Frage des Wirts in Dalfsen lässt vermuten, dass dieser bereits – wie die Wirtin in Rheine – Erfahrungen mit unterschiedlichen Essensansprüchen seiner Gäste während der Fastenzeit gemacht hat. Göbel zeigt sich erneut zurückhaltend mit der allzu deutlichen Herausstellung seiner Ansichten. Seine angebliche Aussage, er wolle keine Butter essen, wenn sich das vermeiden lasse, zeugt von Kompromissbereitschaft in einem ihm unbekannten und heterogenen sozioreligiösen Umfeld. Der Wirt besteht freilich nicht auf der Butter und serviert Göbel währenddessen 17 Tage dauernden Aufenthalts keine. Der Mönch berichtet, er sei in der Herberge der einzige gewesen, der sich dieser Nahrung verweigerte, selbst wenn er mit anderen Reisenden an einem Tisch saß. Der Anblick der Butter wiegt für Göbel schwer, doch auch hier verschweigt er offenbar seine Missbilligung, wohl weil er den Hausfrieden nicht gefährden will. Die Butter wird unter den Reisenden zu einem Gegenstand der sozialen Aushandlung, die aber 1532 bereits mit einer erstaunlichen Routine durchgeführt wird. Die Wirte wissen von den verschiedenen Ansprüchen ihrer Gäste, wohingegen diese sich kompromissbereit zeigen und die Konflikte, die sich um das Nahrungsmittel ergeben könnten, möglichst klein halten. Die Verhandlungen werden explizit auf die Butter beschränkt, d. h. ausgehend von ihr werden keine komplexeren religiösen Streitigkeiten ausgefochten. Zu Frankreich: Wie bei der Untersuchung der Kontroversliteratur festgehalten werden konnte, ist in Paris und Rouen das Feld der Distinktionen begrenzter und stärker auf einige wenige Kulturformen konzentriert. Darunter fallen ab Beginn der 1530er-Jahre insbesondere die Messe und die eucharistische Praxis. Dies wurde bei der Analyse der tatsächlich relevanten Praktiken des Unterschieds herausgearbeitet. Bezüglich des Fastens taucht in Rouen während des Untersuchungszeitraums kein einschlägiger Fall in den zeitgenössischen Quellen auf. Für die späten 1530er- oder die frühen 1540er-Jahre – eine genaue Datierung ist nicht möglich – weist allein der unbekannte katholische Chronist der Religionskriege in Rouen auf ein Fastenbrechen durch die Evangelischen hin, nicht ohne diese deshalb hart zu verurteilen: „En ce temps là, il en fut trouvé quelques uns qui mangeoient, le jour du vendredi saint, un chevreau. Il y avoit des vielles, et faisoient vie de volupté, avec chanteurs. Il en fut brulé une partie d’iceux.“1216 Das Werk des unbekannten Bürgers stammt aus der Spät-

1215 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 373. 1216 Pottier, Relation des troubles (wie Anm. 307), 5.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

phase der Religionskriege. Dennoch behauptet er, die Ereignisse, über die er berichtet, selbst gehört oder gesehen zu haben. Womöglich handelt es sich bei dem beschriebenen Geschehen um Kindheitserinnerungen oder um Erzählungen aus einer nahen Vergangenheit. Das Essen einer kleinen Ziege an Karfreitag scheint jedoch kein Massenphänomen gewesen zu sein, denn nur einige Evangelische seien dabei erwischt worden. Der Chronist beschreibt ein protestantisches Fest, bei dem Musik gespielt und gesungen worden sei, bei dem sich die „Ketzer“ den sinnlichen Genüssen hingeben hätten. Zwar steht über diesen Vorfall und insbesondere über die Verbrennungen nichts in den von mir untersuchten Quellen der erzbischöflichen Verwaltung sowie des Domkapitels. Doch die hohe Zahl der ab der Mitte der 1530er-Jahre verhafteten „Lutherischen“, über die das Domkapitel von Rouen immer wieder klagt, lassen den obigen Vorfall zu Beginn der 1540er-Jahre als nicht unwahrscheinlich erscheinen. In Paris sind Konflikte um die Speisegebote bereits vor 1540 besser greifbar als in der Hauptstadt der Normandie. Über einen prominenten Fall kurz vor dem Ausbruch der Plakataffäre berichtet der unbekannte Bürger. Es handelt sich um die Urteilsvollstreckung gegen den angeblichen Fastenbrecher Laurent Meigret, einen reichen Höfling des Königs: L’an 1534, pénultième jour d’août, le magnifique Meigret, par sentence des commissaires de la Tour quarrée, fit amende honorable, la torche ardente au poing, et en chemise, au parquet civil de la cour, et sur la pierre de marbre et devant la grande église Nostre-Dame, parce qu’il était luthérien et mangeait de la chair en carême et aux vendredis et samedis. Et furent ses biens au Roi confisqués et fut banni pour cinq ans du royaume.1217

Laurent Meigret, der den Beinamen „le Magnifique“ trägt, muss wegen eines angeblichen Fastenbrechens eine öffentliche Bußstrafe ableisten und wird aus Frankreich verbannt. Der unbekannte Pariser nennt als Grund für die Bestrafungen den lutherischen Glauben Meigrets und den damit zusammenhängenden Fastenbruch während carême, an Freitagen und Samstagen. Das Urteil bezieht sich auf einen lang anhaltenden Justizskandal aus dem Jahr 1532, als während der Fastenzeit sechs Mitglieder des königlichen Hofs verhaftet wurden. Unter ihnen befindet sich neben Meigret auch der Dichter und bereits zuvor verhaftete Clément Marot, der sich in der Folge in seinem berühmten Brief an Nicolas Bouchart für alle angeblichen Ketzer stark macht, die den seit Ende 1533 intensivierten Verfolgungswellen in Paris zum Opfer gefallen sind. Bouchart ist Theologe und Mitglied einer Untersuchungskommission, die sich mit den „Häresien“ des evangelischen Predigers und Lefèvre-Schülers Gérard Roussel auseinandersetzt. Die Verhaftungen wegen des angeblichen Fastenbrechens von 1532 werden schnell aufgehoben, außer für Meigret, dessen Prozess eher den Charakter einer Intrige hat. Der altgläubige anonyme Chronist weiß davon aber nichts. Für

1217 Journal d’un bourgeois de Paris, Bd. 2 (wie Anm. 347), S. 169.

2.3 Fastenzeit(en) 

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ihn ist, auch zwei Jahre nach der Verhaftung, der Grund für die Bestrafung evident: Meigret hat Fleisch an verbotenen Tagen gegessen.1218 Die Fastenzeit ist nicht nur wegen der besonderen Speiseregeln eine Zeit erhöhter Differenzpotenziale. Besonders tragen dazu die traditionellen Fastenpredigten bei. In der Fastenzeit 1533 lässt die Schwester des Königs, Margarete von Navarre, Gérard Roussel im Louvre predigen. Dazu strömen bis zu 5000 Zuhörer. Franz I. ist zu diesem Zeitpunkt in der Picardie, während in Paris der König und die Königin von Navarra, die von vielen Zeitgenossen eher der evangelischen Seite zugeschrieben werden, Hof halten. Auch andere evangelische Prediger sind in der Stadt aktiv. Veranlasst durch die Theologische Fakultät, starten daraufhin sechs altgläubige Bakkalaureaten, darunter François Le Picart, der den König von Navarra als „Ketzer“ bezeichnet haben soll, eine Kommunikationsoffensive, die auch auf die Königin von Navarra abzielt. Es entstehen Ansätze einer altgläubigen Volksbewegung. Eine Novene wird organisiert, deren Teilnehmer lautstark ihre Anhängerschaft an das Papsttum manifestieren. Die Reaktionen sind scharf, da die altgläubigen Prediger am Hof als Aufrührer gelten und bei den Laien große Popularität genießen. Le Picart wird verhaftet, mit Predigtverbot belegt und mit zwei weiteren Predigern aus Paris verbannt. Kurz darauf sind die Wände der Universität übersät mit Flugblättern.1219 Die Lage spitzt sich weiter zu, die sozial-religiösen Differenzen werden deutlicher und pointierter. Roussel soll 1534 erneut, protegiert von Margareta von Navarra, die Fastenpredigte halten  – diesmal aber in der Kathedrale Notre-Dame. Dagegen setzt eine erfolgreiche Flugschriftenkampagne gegen den „Ketzer“ ein. Das altgläubige Volk strömt in die Kirche und hindert Roussel durch Rufe und Steinwürfe an der Predigt.1220 Die Fastenzeit erscheint in der Zeit sakramentarischer Angriffe ab der Mitte der 1530er Jahre auch in Paris zu einem bevorzugten Moment der Auseinandersetzung zu werden. Die Unterschiede verdichten sich und der 40-tägige carême bietet dazu mit seinen spirituellen und rituellen Vorbereitungsübungen auf Ostern, das Hochfest der Eucharistie, eine ideale Bühne. An Ostern geht es indes, anders als in Bayern und Passau, nicht um den Laienkelch, sondern um die Frage nach der Substanz der Hostie und deren Inszenierung in der österlichen Liturgie, der Sakramentsverehrung und den Messen. Sakramente und deren Vorbereitungs- und Begleitrituale behalten in der frühen Reformationszeit in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in allen Fallstudien – und auf allen Seiten  – ihre Bedeutung als Hochzeiten religiöser Gemeinschaftlich-

1218 Vgl. zum Kontext die Studie von Wursten, Reassessment (wie Anm. 313); Mayer, Claude Albert: La religion de Marot. Genf 1960. S. 17 f. 1219 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 406f; Higman, Diffusion (wie Anm. 314), S. 52; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 102 f.; Farge, Orthodoxy and Reform (wie Anm. 293), S. 201–203; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 46–52; Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 259. 1220 Babelon, Paris (wie Anm. 309), S. 408; Lécrivain, Ignace de Loyola (wie Anm. 309), S. 105 f.; Taylor, Heresy and Orthodoxy (wie Anm. 313), S. 59 f.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

keit. Die Altgläubigen spitzen diese zu und aktualisieren sie in Performanz, Ort und Bedeutung, wohingegen die Lutherischen und mehr noch die Zwinglischen sie in Zahl und Bedeutung reduzieren und verändern („reformieren“). Es handelt sich um Momente, in denen Gemeinschaft durch Abgrenzung nach außen und Integration nach innen geschaffen wird. Funktional sind die Sakramente somit auf derselben Ebene wie Sakramentalien und jene Rituale der Volkskultur, die von Protestanten als „Magie“ gedeutet werden.

2.4 Seitenblick: Sakramentalien Sakramentalien sind religiöse Rituale und Gegenstände, die nicht zu den sieben Sakramenten gezählt werden, aber diesen in ihrer Wirkung und Positionen in der Liturgie durchaus nahekommen und viel Raum für Teilhabe der Laien zulassen.1221 Die Sakramentalien und die mit ihnen betriebenen „magischen“ Praktiken der spätmittelalterlichen Volkskultur werden von den Reformatoren als Aberglaube und teuflische Verführung verurteilt und sollten eingestellt werden. Diese Haltung gilt für die Zwinglischen noch mehr als für die Lutherischen.1222 Die Altgläubigen hingegen sehen Sakramentalien, im Unterschied zu den Sakramenten, zwar nicht als heilsnotwendig an. Aber wie die Flugschriften-Autoren immer wieder betonen, sind sakramentale Gegenstände und die mit ihnen verbundenen Übungen hilfreich im Alltag. Sie schützen vor dem Bösen, Unheil und den Anfechtungen des Teufels und stärken den Glauben. Freilich ist auch hier zu nuancieren, denn altgläubige Reformer stehen vielen volkstümlichen Ritualen skeptisch gegenüber. Andere Autoren wiederum versteifen sich im Zuge der Kontroverse zunehmend auf die Beibehaltung und großzügige Akzeptanz der Sakramentalien.1223 In der Debatte um „success and failure of the Reformation“ haben Historiker wie Gerald Strauss die Fortdauer bzw. das Verschwinden der „volkstümlichen“ Praktiken zum Gradmesser für das Durchdringen der Reformation gemacht.1224 In der französischen Historiographie galten derlei Kulturformen, etwa bei Jean Delumeau und Pierre Chaunu, als magisch-heidnische Relikte einer nur oberflächlich christianisierten Bevölkerung, die im Zeitalter der Reformen abgeschafft werden.1225 Ich untersuche in der Folge die Bruchstellen und Konflikte, die durch die Ausübung sakramentaler Praktiken und deren widersprüchliche Deutung durch die Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften entstehen. Dabei bieten

1221 Vgl. Meßner, Reihard: Sakramentalien. In: TRE 29 (1998). S. 648–663, hier v. a. S. 648. 1222 Vgl. Scribner, Ritual (wie Anm. 23). 1223 Vgl. allgemein Kap. I. 4. 1224 Vgl. Strauss, Success and failure (wie Anm. 29). 1225 Chaunu, Temps des réformes (wie Anm. 10); Delumeau, Catholicisme (wie Anm. 25); Delumeau, Naissance et affirmation (wie Anm. 25).



2.4 Seitenblick: Sakramentalien 

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sich v. a. die Territorien als Studienfelder an, in denen es effektiv zu reformatorischen Veränderungen kommt. Zu beachten ist, dass die sozialen Kategorisierungen dabei besonders vorsichtig und zurückhaltend angewendet werden müssen. Denn tatsächlich reicht der Gebrauch von Weihwasser, Segnungen oder geweihten Gegenständen weit in den lebensweltlichen Bereich der vormodernen Menschen hinein. Nicht jedes Festhalten an der einen oder anderen dieser Praktiken ist als entwickelte religiöse Differenz zu bewerten oder als solche von den Protagonisten beabsichtigt. Dennoch versuche ich, anhand einer keinesfalls exhaustiven Auswahl von Beispielen exemplarisch zu zeigen, wie um sakramentale Artefakte und Praktiken Differenzen auf und zwischen verschiedenen sozialen, religiösen und politischen Ebenen entstehen können. Es bietet sich erneut an, mit der Fallgruppe zu beginnen, in der ab 1531 die zwinglische Kultur eingeführt bzw. perfektioniert werden soll: Ulm und dessen Territorium. Dort predigt der altgläubige Geislinger Pfarrer Georg Oßwald im Frühsommer 1527 gegen den protestantischen Kleriker, der seit kurzem im Ort ist. Dieser verfasst Mitschriebe dieser Predigten und schickt sie zusammen mit einem Beschwerdebrief an die Ulmer Obrigkeit. Der altgläubige Pfarrer spricht an Pfingstsonntag von der Kanzel über zwei Sakramentalien, nämlich Weihwasser und geweihtes Salz. Oßwald warnt seine Zuhörer: „Wan du die kleinen ding al weyhwasser und saltz verachtest, so reytzt dich der teufel, das du noch grössere verlachst.“1226 Diese Argumentation entspricht jener, die etwa Johannes Dietenberger in seiner Flugschrift Grund und Ursache 1526 liefert: Wer entsprechend der evangelischen Aufforderung geweihtes Wasser und Salz nicht mehr benutzt, sondern verachtet, verliere wichtige alltägliche Schutzfunktionen gegen die Angriffe des Dämons.1227 Es handelt sich freilich nur um kleine Dinge, wie sich Oßwald ausdrückt, eben um die für das Seelenheil nicht essenziellen adiaphora. Doch diese Devianzen sind wie eine Art Einstieg in die Ketzerei: Wer derart alltägliche und bewährte Heiligungs- und Protektionsrituale wegnimmt, der werde unter dem Einfluss des Teufels auch bald zentrale Glaubensinhalte angreifen. So ist die Verwendung von geweihten oder gesegneten Artefakten auch nach 1531 im Ulmer Landgebiet durchaus gängig. Sie werden als „Abweichungen“ oder „papistische Relikte“ v. a. von den evangelischen Pfarrern sowie manchen Amtleuten und protestantischen Gemeindevertretern bei den Visitationen und Synoden häufig angezeigt. Eine besondere Verwendung des Weihwassers, das offiziell weder gebraucht noch hergestellt werden darf, aber über komplexe Netzwerke von außerhalb oder dank manch einem Priester innerhalb des Landgebiets nach wie vor verfügbar ist, stellt die Viehsegnung dar. Diese taucht regelmäßig und bis zum Ende der 1530erJahre in den Protokollen auf. 1537 heißt es im Entscheid über die Orte Neenstetten und Holzkirchen, die im Protokoll der Synode zusammengefasst sind, dass der Amtmann

1226 StAU, A [5421], Bl. 65v. 1227 Dietenberger, Grund und Ursache (wie Anm. 938), F4v.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

dem Bauer, der das Vieh segnet, diese Praxis untersagen solle. Ansonsten müssten die Religionsverordneten in Ulm eingeschaltet werden. Darüber hinaus berichten die Prädikanten von einem Mann namens Hans Wick, der die Menschen durch Segnung gesund machen wolle.1228 Es bleibt unklar, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Bauer und Wick gibt, oder ob es ich um dieselbe Person handelt. In dem sonst unauffälligen Weiler Bräunisheim wird der Viehsegen ebenfalls durchgeführt, sehr zum Missfallen der examinierenden Protestanten: „Soll der Amtmann von Stubersheim dem Weib des Pfeifers zu Breinisheim mit Ernst anzeigen, daß sie von ihrem vermeinten Segensprechen, dadurch sie die Leut bered, ihr krank Vieh gesund zu machen, gänzlich abstand.“1229 Das Segensprechen, durchgeführt womöglich mit Weihwasser oder anderen geweihten Gegenständen, wird von den Bauern demnach nicht selbst gefordert, sondern sei v. a. auf die Überredungskünste der Frau des Pfeifers von Breinisheim zurückzuführen. Sie und nicht die Bedürfnisse der Bauern, die um ihr Vieh fürchten und in Ermangelung anderer medizinischer Mittel auf die Kunst der Frau zurückgreifen, müssten angegriffen werden. 1539 wiederum heißt es im Synodalprotokoll über das bei Stubersheim gelegene Dorf Hofstett: „So find man auch wohl etlich unter der Gemeind, die ihr Vieh segnen lassen, wiewohl der Prädikant fest dawider geschrieen und solches zum guten Teil abgetrieben hab.“1230 Hier wird besonders deutlich, dass es zu sozial-religiösen Differenzen rund um das Viehsegnen kommt, die in ihrer rhetorischen Darstellung in den Akten der Ulmer Obrigkeit durchaus vergleichbar ist mit Darstellungen von „Relikten“ der Messe und der Heiligenverehrung, aber auch mit dem Auslaufen. Freilich sind Segnungen von Tieren auch im Bewusstsein der Zeitgenossen eine andere sakral-religiöse Kategorie als die Verehrung des corpus Christi. De facto bilden sich jedoch Differenzen um eine bestimmte Praxis, die mit zwei verschiedenen religiösen Kultursystemen in Verbindung stehen und zwischen zwei politisch-sozialen Ebenen  – den Dörfern und der Obrigkeit  – unterschiedlich bewertet werden. Die Bauern oder die Frau, die das Vieh mit Weihwasser segnen und damit versuchen, dieses gegen Krankheit oder Zauberei immun zu machen, hätten sich in der Schrift des altgläubigen Johannes Dietenberger zumindest sehr gut vertreten gesehen. Aus der Grafschaft Lippe besitzen wir nahezu keine belastbaren Aussagen über Konflikte um Sakramentalien nach 1538. Das mag der generell im Vergleich zu Ulm dünneren Quellenlage geschuldet sein oder der in den Anfangsjahren fehlenden systematischen Kontrolle durch die Obrigkeit – die Umsetzung der Kirchenordnung bleibt lange den einzelnen Pfarrern und der Überwachung der Droste überlassen. Der Befund könnte aber auch die Hypothese Robert Scribners stärken, der eine Binnendifferenz auf protestantischer Seite annimmt was die Reduktion von nicht auf

1228 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 122. 1229 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 129. 1230 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 160.



2.4 Seitenblick: Sakramentalien 

 379

die Sakramente fokussierten Kulturformen anbelangt.1231 Einzig Bruder Göbel Schickenberge berichtet in seinem Tagebuch am 26. Februar 1524 davon, dass Graf Simon V. zur Lippe im Franziskanerkloster in Lemgo die Messe lesen und sich Wasser und Salz weihen lässt.1232 Eine offensive antilutherische Affirmation dieser Praktiken ist zu diesem Zeitpunkt selbst in der bald lutherischen Hansestadt jedoch unwahrscheinlich. Die Forschung geht davon aus, dass die Ideen Luthers in Lemgo zwar seit den frühen 1520er-Jahren rezipiert werden, größere Verbreitung aber erst durch die um 1525 einsetzende evangelische Predigt erlangen.1233 Ein distinktiver Bekenntnisakt, der wegen eines Angriffs auf Weihwasser und Salz nötig gewesen wäre, liegt wahrscheinlich nicht vor. Umso interessanter ist es, dass die Visitation in Ravensberg 1533 hier und da Streitigkeiten um einige Sakramentalien und um den Einsatz geweihter Gegenstände ans Tageslicht bringt. Das geschieht z. B. gleich bei der ersten Station der Visitation, in Bielefeld. Lange scheint es im Protokoll, als ob es in Bielefeld keinerlei religiöse Differenzen gebe, die wichtig genug sind, damit sie einer der Befragten vor die Vertreter der Obrigkeit bringt. Wie beim Laienkelch, der von einem Kaplan ausgeteilt wird, so ist es auch bezüglich der lutherischen Predigten der Dekan des Stifts, dessen Aussagen Einblicke in die durchaus konfliktträchtige Stimmung in der Stadt ermöglichen. Der Dekan lässt die Visitatoren wissen, dass sich die Bielefelder Kapläne in ihren Predigten, was den Papst und das Chrisam anbelangt, verirren würden. Damit verstießen sie gegen die jülich-kleve-bergische Kirchenordnung.1234 Das Salböl wird gemeinhin für eine Reihe liturgischer Akte gebraucht und bleibt in Klerikerhand, anders als das Weihwasser. Chrisam wird so etwa für Sakramente wie die Taufe, die Firmung und die letzte Ölung eingesetzt, darüber hinaus für Weihen und Segnungen. Die Kritik der Kapläne daran hält der Dekan für nicht angebracht und gesetzeswidrig. Doch die Klage des Geistlichen weitet sich mit Blick auf die beiden Bielefelder Pfarrkirchen noch aus: „Die ceremonien in der kirspelskirchen vergain etlicher maßen, dan es werden chein palmen, kertzen und kreuz zu geburlicher zit nach alder gewonheit gewiet oder gesegnet.“1235 Hier verweist der Dekan auf traditionelle Weihen im Verlaufe des Kirchenjahrs, die er zwar gerne  – nach alter Ordnung  – weiterhin durchgeführt sähe, die aber nicht mehr stattfinden. Es offenbart sich ein größeres, über das Kirchenjahr verteiltes und somit dauerhaft konfliktträchtiges Differenzfeld in Bielefeld. Die Palmenweihe findet während der ausgedehnten Palmsonntagsliturgie statt. Die Palmbuschen symbolisieren das Leiden Christi, haben aber darüber hinaus auch

1231 Scribner, Ritual (wie Anm. 23). 1232 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 227. 1233 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 74–77; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 345–347; Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 158. 1234 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250), S. 140. 1235 Schmidt, Protokoll (wie Anm. 250), S. 140.

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 2 Praktiken des Heils und der Heiligung

Schutzfunktionen für das Haus und bei Unwettern. Auch außerhalb Westfalens sorgen diese Bräuche und die dabei zum Einsatz kommenden Holzrepräsentation des in Jerusalem auf einem Esel einreitenden Jesus ab den 1520er-Jahre für Unruhe. Die Inszenierungen und deren Gegenstände werden in Oberdeutschland und der Eidgenossenschaft von den zwinglischen Laien teilweise verkehrt und instrumentalisiert, um ihre Ablehnung auszudrücken. Die Kerzen wiederum werden traditionell an Mariä Lichtmess (2. Februar) geweiht. Ihnen wurde in der Volkskultur eine heilende Wirkung zugeschrieben. In einer Messe weiht der Priester die Vielzahl der von Laien herangebrachten Kerzen, die ein Symbol für die Reinheit der Jungfrau sind. Große Kerzen, die den Segen erhalten hatten, werden Sterbenden ans Totenbett gestellt oder vor dem Sarg hergetragen als ein Symbol für Christus und die Hoffnung auf Auferstehung. Die Kerzen hatten eine ganze Reihe weiterer Schutzfunktionen. Aus ihrem Wachs wurden etwa Kreuze geformt, die über den Haustüren oder in den Ställen angebracht wurden. Der Rauch sollte gegen böse Geister helfen.1236 Diese Brauchtümer lösen sich in Bielefeld ganz oder teilweise auf, entweder da sie nicht mehr von den Laien gefordert oder von den Priestern angeboten werden. Der Dekan nimmt dies genau war und stellt sich gegen diese Entwicklung. Das Eigene, d. h. die Gewohnheit an die oben skizzierte Verwendung und Präsenz von Kerzen und Palmbuschen, ist nicht mehr allgemein. Sie werden zu distinktiven Artefakten, da ihr Fehlen verstört und verärgert und das Bedürfnis nach ihnen stärkt. Gleichzeitig deutet sie der Dekan in dem neuen Kontext als alte Tradition und entwickelt eine neue, nun notwendige Begründung für die Sakramentalien im kontroversen Kontext der Frühreformation. *** Während Sakramente der Erlangung des Seelenheils dienen, helfen die zahlreichen Sakramentalien den Gläubigen, ihr Leben zu meistern, sich vor Hunger und Krankheit zu schützen und das Vieh gesund zu erhalten. Auf vielfältige Weise, entlang regionaler und lokaler Spezifika, aber zugleich im übergeordneten Deutungszusammenhang, der sich auch in der Flugschriftenliteratur wiederfindet, entstehen Unterschiede und Auseinandersetzungen zwischen den Religionsgemeinschaften. Je nachdem, mit welcher evangelischen Kultur  – Lutherische, Zwinglische, sacramentaires  – sich die Altgläubigen konfrontiert sehen, verändern sich die Konflikt- und Distinktionsschwerpunkte. Deutlich wurde dies insbesondere bei der Eucharistie. So erhalten die jeweiligen Sakramente oder Sakramentalien zusätzlich zu ihren herkömmlichen Bedeutungen und Performanzen Sinn- und Ausübungsnuancierungen und weitere Bedeutungen, wenn sie von allgemein christlichen zu altgläubigen Praktiken werden.

1236 Scribner, Ritual (wie Anm. 23), 62; Burg, Palmesel (wie Anm. 907).



2.4 Seitenblick: Sakramentalien 

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Diese Entwicklung verläuft jedoch noch sehr situativ, gruppenmäßige Aneignungen und Verstetigungen spezifischer Rituale sind eher selten. Auch im Sterbe- und Totenkult finden sich einige der hier diskutierten Rituale wieder. Zudem sind diese bei der Geburt und dem christlichen Initiationsritus der Taufe anzutreffen: Sie begleiten die zentralen rites de passage und sind dadurch integriert in ein weiteres großes und hoch emotionales Feld der Unterscheidungen.

3 Leben und Tod In der Vormoderne begleiten religiöse Rituale die Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen. Diese Riten prägen im Mittelalter den christlichen Lebenszyklus, in dem altersspezifisches Wissen, soziale und familiäre Zugehörigkeit sowie Rollenverteilungen vermittelt werden. In Zeiten der Glaubensspaltung haben die rites de passage eine Gemeinschaft schaffende und zugleich abgrenzende Wirkung: Sie bringen den Gläubigen von Klein auf eine partikulare Identität bei. Die Unterschiede werden je nach Alter auf verschiedene Arten erfahren und eingeübt.1237 Die Ursprünge des späteren distinktiv-katholischen Lebenszyklus liegen in der frühen Reformationszeit. Von da an erhalten die betreffenden Rituale neue Sinnzusammenhänge und werden mitunter in der konkreten Ausübung verändert. Zudem wächst eine erste Generation in dieser aktualisierten Kultur auf. Was steht in den volkssprachlichen Flugschriften zu diesen Übergangsriten? Zum einen konnte die Schwerpunktsetzung auf den guten Tod festgestellt werden. Die Taufe ist bei allen Religionsgemeinschaften nicht nur ein religiöser, sondern auch ein sozialer Akt, mit dem die Neugeborenen in die Gemeinde aufgenommen werden und von da an zu einem guten Christen erzogen werden sollen. Das Sakrament der Firmung spielt hingegen in den altgläubigen Flugschriften keine nennenswerte Rolle. Dieser Befund wird bei der Analyse der fünf Fallstudien bestätigt, in denen die confirmatio kaum oder gar kein Konfliktpotenzial birgt bzw. schlichtweg in den Quellen nicht auftaucht. Dieser Befund ist vor allem dadurch zu erklären, dass das Firmsakrament um 1500 nicht flächendeckend und nur unregelmäßig von den Bischöfen oder den bischöflichen Vikaren gespendet wurde. Wenn die Zeremonie stattfand, wurde die eigentlich geforderte Prüfung des religiösen Wissens der Kinder oft unterlassen oder nur oberflächlich durchgeführt. Stattdessen waren Geldzahlungen für die sakrale Dienstleistung fällig.1238 Auch das Sakrament der Ehe erscheint in den hier untersuchten Fallgruppen nicht als Auslöser für Zwistigkeiten. Die Diskussion konzentriert sich fast ausschließlich auf das Für und Wider der Priesterheirat. Der Vorwurf der Fleischlichkeit an die Protestanten sowie die Aussage, diese wollten das Ehesakrament ruinieren, bleibt auf die Flugschriften beschränkt. Darüber hinaus stellen sich die im 17. und 18. Jahrhundert häufigen Fragen und Schwierigkeiten bei gemischtkonfessionellen Ehen und Eheschließungen während der 1520er- und 1530er-Jahre in Ermangelung fester Konfessionen mit spezifischen Rechten noch nicht. Von den wichtigen Übergangsriten des späteren tridentinischen Katholizismus bleiben für die Zeit bis 1540 somit v. a. zwei zu untersuchen: die Taufe und der Tod. Bei letzterem werde ich nicht nur den

1237 Vgl. Bamji, Alexandra: The Catholic Life Cycle. In: The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation. Hrsg. von Alexandra Bamji [u. a.]. Farnham 2013. S. 183–201. 1238 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 66. DOI 10.1515/9783110492460-011



3.1 Geburt und Taufe 

 383

„guten“ altgläubigen Tod, sondern auch Ketzerhinrichtungen als erzwungene Inszenierungen der orthodoxen ars moriendi am Beispiel von Rouen und Paris analysieren.

3.1 Geburt und Taufe Im Frühchristentum fanden Taufen meist zu Ostern statt und wurden von erwachsenen Katechumenen empfangen. Zentrale Bestandteile der ursprünglichen Praxis haben sich auch in Zeiten der vorwiegenden Kindertaufe seit dem Frühmittelalter erhalten. Dazu zählen der Exorzismus und die Examinierung zur Vorbereitung des Täuflings auf die Aufnahme in die christliche Gemeinde ebenso wie das Taufritual selbst. Die Fragen an den Katechumenen beantworten die Paten, die das Kind in den Glauben einführen und für die Glaubenstreue des Neugeborenen einstehen müssen. Die Taufe soll den Weg in die christliche Gemeinde und zu Gott ebnen – doch dafür muss zuerst der Teufel besiegt werden. Deshalb nahmen Exorzismusgesten und -formeln während des Taufvorgangs breiten Raum ein. Dafür wurden sogar die Artefakte vor deren Einsatz nochmals exorziert und geweiht. Der Priester legt ein wenig Salz auf die Zunge des Neugeborenen und verteilt Spucke auf dessen Ohren und Nase. Die eigentliche Taufe beginnt mit dem Kreuzzeichen auf der Stirn des Kindes unter Verwendung des Chrisams. Der Säugling wird dann dreimal in das Weihwasser im Taufbecken eingetaucht und der Priester spricht die Worte „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Noch gängiger war es, das Wasser über den Kopf des Säuglings zu gießen oder zu sprenkeln (superfusio und aspersio). Abschließend erfolgte nochmal ein Kreuzzeichen mit dem heiligen Öl.1239 Bereits im Mittelalter gab es graduelle Variationen, lokale Traditionen und individuelle Umsetzungen der beschriebenen Taufpraxis. In der Reformationszeit kommen dazu religionsgemeinschaftliche Unterschiede. Allerdings wird die Täuferbewegung von allen großen Kirchen abgelehnt und brutal verfolgt. Die Täufer werfen ihren Schatten auf die altgläubige Beurteilung der protestantischen Taufrituale: Reformationsgegner bedienen sich ihrer als effizientes Argument gegen die Evangelischen. In den Flugschriften wird die protestantische Gegenseite in eine kausale und chronologische Beziehung zu den Täufern gesetzt, ohne jedoch völlig mit ihnen gleichgesetzt zu werden.1240 Zudem ist die Veränderung der spätmittelalterlichen Rituale in zwinglischen Gebieten deutlich größer als in lutherischen Städten und Territorien, wie Michael J. Halvorson in seiner Studie über Braunschweig herausgearbeitet hat. Dies lässt besonders prononcierte und deutliche Differenzerscheinungen erwarten.1241

1239 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 43–50, 57 f. 1240 Vgl. Kap. I. 4.1.3. 1241 Halvorson, Baptismal Ritual (wie Anm. 853). Vgl. ferner Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 50–65.

384 

 3 Leben und Tod

Dass Taufrituale den Unterschied zwischen den Religionsgemeinschaften ausmachen, hat u. a. Heinrich von Pflummern in seinen Erinnerungen an die kulturell, personell und politisch stark von Ulm geprägte Reformation in Biberach dargelegt. In der Quelle nennt Pflummern die eingangs erwähnten zentralen Artefakte und Gesten der spätmittelalterlichen Taufpraxis, die nun in einigen Aspekten zu distinktiven Merkmalen geworden sind: Item das ander sackerment ist der toff, der nempt hin die erbsind und in gewachsnen liten, die nit Cristen send, niempt er hin erplich und wircklich sinden. Wier crisment ouch die kind, da von nach ler getlicher lerer das kind ain besunder gnad enpfacht und im himel ain besundere fred. Wier teffen ouch in latin, usgenomen in der not; so mag ain hebam titsch tefen. Wier tuntzs ouch mit ander Cristelicher ordnung, als so ain priester ain corhemt an haut und ain stol dar ob und des gelichen. Lougent ouch da zuo die Luterschen, wie si ire geveter im toff da versetzen, das sy von dem rechten, Cristelichen globen abwichen, den die geveter vir sy verhaisen hund, da by zuo beliben; ouch vom tuifel und sim gespinst und alem ungloben ab zuo wichen. Da lun ich ouch ston, wie die Luterschen teffen; dan ich wais ir mainung nit.1242

Pflummern äußert sich nicht zur neuen lutherischen Taufpraxis, sondern behandelt die Bedeutung, die der angebliche Glaubensabfall für das Taufgelübde der Protestanten habe. Auffällig ist die starke Polarisierung, die der Autor in seine Beschreibung bringt. Auf der einen Seite stehen „wir“, die dem alten, erprobten und Rettung bringenden Brauch folgen. Auf der anderen Seite stehen die „Lutherischen“, die das Taufgelübde, das die Paten an ihrer Stelle gegeben haben, brechen und damit auch den Paten Schaden zufügen. Zudem gelten durch den „ketzerischen“ Glauben der Exorzismus und das Gelübde, Teufel und Dämonen zu widersagen, als aufgehoben. Der Abfall von der wahren Lehre geht hier einher mit der fehlenden Abgrenzung zum Teufel. Diese Darstellung Pflummerns korreliert mit der in der Flugschriftenliteratur gängigen Verknüpfung zwischen der Ketzerei und dem Dämon. Aus altgläubiger Sicht muss es sich bei Pflummerns Beschreibungen um ein praktisches Indiz für die aus der polemischen Literatur sattsam bekannte Kollaboration der Protestanten mit Luzifer handeln. Darüber hinaus deutet Pflummern, nach der Erläuterung der orthodoxen Praxis, mit seinem Ausruf, man solle im Gegenteil dazu die Lutherischen ansehen („lougen“), die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Unterschiede in der Taufe an. Pflummern verfasst seine Erinnerungen 1545 im Exil in Waldsee, also zu einem Zeitpunkt, da die Veränderungen der Reformatoren an den Taufritualen bereits vielfach festgeschrieben und der Umgang mit diesen Differenzen schon eingeübter ist. 15 Jahre zuvor sind diese Unterschiede jedoch noch frisch und führen zu situativen Neuordnungen des religiösen Feldes. Martin Luther entscheidet 1523, dass für ihn die Taufe eines von zwei gültigen Sakramenten ist. Zu Beginn will er am Ritus allerdings nur wenig ändern, um die schwachen Gewissen nicht zu überfordern. Luther fordert

1242 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 220.



3.1 Geburt und Taufe 

 385

einen deutschsprachigen Ritus, der jedoch schon im Spätmittelalter zumindest in Teilen der Liturgie die Regel gewesen sein dürfte. Außerdem beschränkt er den Exorzismus. 1526 verstärkt Luther in seinem „Taufbüchlein aufs Neue zugerichtet“ diese Ritualanpassungen, kürzt die Zeremonie, streicht u. a. das Auftragen von Spucke und einige Exorzismen. Schutzriten gegen den Dämon bleiben indes erhalten. Luther sieht die Taufe v. a. als inneren Reinigungsakt im Hinblick auf den zukünftigen Glauben der Kinder und weniger als Integrationsritus. In der Eidgenossenschaft und in Oberdeutschland hingegen entstehen parallel dazu Taufformen, die klarer von der spätmittelalterlichen Praxis abweichen. Martin Bucer fordert in Straßburg 1524 eine reine, mit keinerlei „Zusätzen“ wie Chrisam, Öl, Salz, Staub oder Kerzen versehene Taufe. Auch die sofortige Spendung des Sakraments an die Neugeborenen sei nicht nötig, sondern sollte am folgenden Sonntag vor der ganzen Gemeinde vorgenommen werden. Neuere Forschungen haben den großen Einfluss des Bucer-Ritus unterstrichen, in dem die Exorzismen abgeschafft sind. Auch die materialen Grundlagen des Ritus, also Taufsteine und Taufbecken, werden zu langanhaltenden Symbolen der Differenz im Kirchenraum.1243 In der Reichsstadt Ulm erfolgt am 18. Juni 1531 ein Ratsbeschluss u. a. mit Bestimmungen zur Taufe. Demnach sollen alle Kinder in den Pfarrkirchen über einem Taufstein, nur mit reinem Brunnenwasser und den biblisch begründeten Worten (vgl. Mt 28,19 und Apg 2,38) getauft werden.1244 In der Kirchenordnung vom 6. August wird den Geistlichen aufgetragen, bei der Taufe eine an das Volk gerichtete Belehrung zu halten und die Gemeinde zur Besserung und zum Gebet aufzufordern. Nach der Ermahnung der Eltern, der Taufpaten und der ganzen Gemeinde ist das Kind mit „schlecht, gmaynem wasser“ zu taufen. Die Priester sollen das Ritual einfach halten und dem Aberglauben in ihren Predigten entgegenwirken. Unter Aberglaube fallen die Verwendung von und der Glaube an Weihwasser, Chrisam, geweihtes Öl und Salz sowie das Beschwören, d. h. der Exorzismus. Die Eltern sollen ihre Neugeborenen nicht sofort, sondern an Sonntagen zur Taufe bringen, wenn die gesamte Gemeinde versammelt ist. Allerdings sollen die Pfarrer auch außerhalb dieser Zeit den Eltern die Taufe nicht abschlagen.1245 Die Lage in Geislingen ein halbes Jahr nach dem Ende des Wirkens von Pfarrer Georg Oßwald im Frühsommer 1531 gibt Aufschlüsse über die an vielen Orten festgestellten Abweichungen und Widerstände gegeben die neue Kirchenordnung sowie über die Bedeutung dieser Devianzen. Die Stadt kristallisiert sich spätestens

1243 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 50–61; Hacke, Kommunikation über Räume (wie Anm. 944), S. 289–295. 1244 Ratsbeschlüsse zu Taufe und Eheeinsegnungen, in: Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 123. 1245 Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 142 f. Die genaue Durchführung wird den Priestern dann in der Agende vom 27. September 1531 vorgeschrieben. Vgl. Das „Handbüchlein“ – Die Ulmer Agende, in: Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 168–170.

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 3 Leben und Tod

seit der ersten großen Synode vom 20. Februar 1532 als „papistischer Problemfall“ für die Ulmer Obrigkeiten heraus. Der Prädikant Paul Beck trägt eine lange Liste von Mängeln, altgläubigen Praktiken und „Relikten“ vor. Er beklagt, dass die Hebammen noch nach altem Brauch selbst taufen würden.1246 In der Tat kommt den Geburtshelferinnen im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit bei denen, die Paul Beck als „Papisten“ kategorisieren würde, eine zentrale Stellung in der Taufkultur zu. Hebammen sind unersetzliche Fachkräfte bei der Entbindung und verfügen somit über ein sozial anerkanntes Wissen über den Eintritt ins Leben. Nach der Geburt tragen sie das Kind zur Taufe und fungieren vielfach als Patin. Darüber hinaus führen Hebammen bei kranken oder sterbenden Neugeborenen die Nottaufe durch.1247 Der protestantische Geislinger Prädikant erkennt darin eine Gefahr, denn die Taufen der Hebammen nach dem alten Ritual, d. h. mit den eigentlich abgeschafften Segnungen, den Exorzismen und möglicherweise einigen Sakramentalien bietet den Gläubigen eine Alternative zur evangelischen Taufe.1248 Die Hebamme ist bei der Geburt schon vor Ort und kann, wenn es die Lage erfordert oder die Eltern es wünschen, die alte Taufe in Form der Nottaufe sofort vornehmen. Dahingegen wartet z. B. der Merklinger Pfarrer gemäß den Vorschriften, bis die Kinder zu ihm gebracht werden. Dabei befindet er sich in Konkurrenz mit der Hebamme, die er als „Päpstlerin“ denunziert. Über sie gibt der Pfarrer auf einem separaten Befragungszettel weitere Auskünfte. Die Hebamme wird unverhohlen der Prostitution beschuldigt, zu der sie aber zu alt und zu hässlich geworden sei. Deshalb verkupple sie jetzt ihre Tochter.1249 Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Geistliche sich seiner mutmaßlich altgläubigen Konkurrentin durch die religiös und sittlich begründete Anzeige auf diesem Weg entledigen will. In Geislingen werden noch bei der Synode von 1537 deutliche Abweichungen von der evangelischen Orthopraxie aufgedeckt. Die Aussagen der Befragten sind nicht erhalten, dafür aber der Entscheid der Ratsverordneten. Einer der Geistlichen vor Ort habe verbotenerweise Weihwasser hergestellt. Die Tochter des Spitalpflegers Bauknecht soll (ihre eigenen?) Kinder nur dann taufen lassen, wenn dazu Weihwasser verwendet wird. Laut dem Entscheid sollen die Herrschaftspfleger die Anzeigen überprüfen. Falls sich die Verdachtsmomente erhärten, sollen der Pfarrer verjagt und der Tochter des Spitalpflegers ihre Handlung untersagt werden. Die Religionsherren greifen noch weitere Devianzen auf, die erneut mit der Hebamme zu tun haben: „Item die lang Hebamm zu Geislingen, dieweil sie bei den gebärenden Weibern etlich Segen

1246 Vogt und Amtleute, heißt es im Entscheid, sollen sich weiter über die Sache erkundigen. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 55 f. 1247 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 63. 1248 Die gleichen Beobachtungen wurden auch für das 1536 von Bern eroberte und reformierte Waadtland gemacht. Vgl. Blakeley, James: Confronting the Reformation. Popular Reaction to Religious Change in the Pays de Vaud. In: Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. Hrsg. von Thomas Kaufmann [u. a.]. Gütersloh 2008 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 207). S. 101–117, hier S. 108 f. 1249 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 94 f.



3.1 Geburt und Taufe 

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und andere ungebührliche Abgöttereien treibt, so soll sie geurlaubt werden.“1250 Das Adjektiv „lang“ kann hier entweder ein körperliches Merkmal der Hebamme oder den Umstand beschreiben, dass sie sehr lange im Dienst ist. Die Segenssprüche und Abgöttereien dürften insbesondere exorzistische Formeln implizieren, die die Hebamme direkt nach der Geburt durchführt. Sie substituiert bei den traditionell denkenden Geislingern offenbar die Priesterfunktion während der Taufe und erhält durch die Performanz von Riten, welche die Protestanten in Geislingen und die Obrigkeit als abgöttisch einstufen und die wohl noch vor der „eigentlichen“ Taufe durch den Prädikanten erfolgen, eine größere soziale und religiöse Funktion. Andere Geistliche wiederum versuchen, den Kulturwandel in der Taufe auf andere Weise zu blockieren, so in der Gemeinde Altheim, deren Prädikant sich 1531 über das Verhalten seines Frühmessers beschwert. Als der Prädikant die Ulmer Anweisungen über die evangelische Taufe umsetzt und die „papistischen“ Versatzstücke einstellt, rät der Frühmesser den Frauen, die ihre Kinder zur Taufe bringen wollen, diese nicht mehr in Altheim durchführen zu lassen. Einer Frau aus Zähringen habe er als Begründung angegeben, dass in Altheim das zur Taufe nötige Chrisam nicht mehr verfügbar sei.1251 Das Fehlen dieses Bausteins der alten Taufe macht für den Frühmesser das Ritual so unmöglich wie unnötig. Mitunter werden die Laien selbst aktiv. Davon berichtet ein nicht genauer datiertes Schreiben über religiöse Devianzen im Ulmer Landgebiet. Der Vermerk liegt in einer Akte zur Geislinger Reformation im Stadtarchiv Ulm. In dem Akt befinden sich v. a. Korrespondenzen der lokalen Amtleute und Priester mit den Obrigkeiten in der Reichsstadt. Es liegt nahe, dass es sich bei dem undatierten und unsignierten Papier um ein Informationsschreiben des Geislinger Vogts an die Herrschaftspfleger in Ulm handelt. In dem Schreiben wird auf die Verkündigung des Auslaufverbots hingewiesen: Kein Untertan dürfe fortan nach Lautern, Bollingen und Temmenausen zu „unevangelischen“ Praktiken ausweichen. Lautern liegt direkt hinter der östlichen Grenze des Ulmer Landgebiets, ebenso wie Bollingen.1252 In Temmenhausen wird der Frühmesser vom Deutschen Orden in Ulm bestellt, was sich erst 1539 ändern sollte.1253 Lautern ist ein bekannter Ort für altgläubige Ausläufer aus Ulm.1254 Doch halten sich offenbar einige nicht an das Verbot des Rats: „Hat sich Hans Pader am sampstag darnach understanden und sein kynd zu Lautern teüffen lassen. Dieweil aber kain pfarrer mer zu Lautern, hat pfaff Zimbrecht das kynd teüfft, und die hebam hinabtra-

1250 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 125. 1251 StAU, A [8985], Bl. 29r. 1252 Vgl. die Karte bei Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), Einlage zwischen S. 22 und 23. 1253 Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 24, 106, 116. 1254 Vgl. Kap. III. 4.2.2.

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 3 Leben und Tod

gen und sonst auch ein fraw.“1255 Die Datierung des Textes fällt schwer. Ein Anhaltspunkt kann der Verweis auf das Verbot des Auslaufens sein. Ein solches erfolgt natürlich immer wieder in Sonderfällen und bezogen auf einzelne Personen oder Gemeinden, etwa im Nachgang von Synoden und Visitationen oder nach Anzeigen der Prädikanten und der Amtleute. 1537 erlassen Bürgermeister und Rat ein Mandat, demzufolge es allen Ulmer Untertanen verboten ist, päpstliche Zeremonien wie Predigten, Messen und Vespern an anderen Orten aufzusuchen.1256 Unklar ist zudem der exakte geographische Ausgangspunkt der Ausläufer. Die Quelle befindet sich im Akt des Ulmer Stadtarchivs zur Reformation in Geislingen, das sich bekanntermaßen zur Hochburg der Altgläubigen entwickelte. Eventuell bezieht sich die Notiz auch auf einen anderen Ort der Herrschaft Helfenstein, für die der Vogt zu Geislingen als oberster Amtmann verantwortlich zeichnet. Die genannten Orte, die Ziel des Auslaufens sind, liegen recht weit von Geislingen entfernt. Dessen altgläubige Bewohner steuern gemeinhin andere Kirchen außerhalb des Ulmer Landgebiets an.1257 Hans Bader lässt also sein Kind von der Hebamme auf traditionelle Art nach Lautern tragen. Er will für das Neugeborene das Ritualangebot nutzen, das der altgläubige Pfarrer Zimbrecht ihm dort bereithält. Zimbrecht ist bis mindestens 1535 Priester in Bermaringen, auf der Ulmer Seite der Grenze, gegenüber von Lautern. Es ist bekannt, dass er die Grenze überschreitet und gegen Geld die Messe in Lautern liest. Dorthin folgen ihm viele Gläubige aus Bermaringen.1258 Womöglich hat sich dies weiter herumgesprochen, da er offenbar auch Taufen nach einem Ritus durchführt, die innerhalb des Ulmer Gebiets seit 1531 offiziell nicht mehr möglich sind. Über den Taufvorgang steht in dem genannten Bericht nichts Näheres, doch ist anzunehmen, dass er einen Exorzismus und den Gebrauch von Sakramentalien beinhaltet. Nun stellt sich Frage, wie diese Praktiken bezüglich ihrer distinktiven Bedeutung und der Einordnung durch die Protagonisten im religiösen Feld der Frühreformation zu bewerten sind. Denn die Selbstwahrnehmung der agierenden Laien und Priester ist in der Quelle nicht explizit ersichtlich. Susan Karant-Nunn hat darauf aufmerksam gemacht, dass für die Laien im 16. Jahrhundert zwei Aspekte der Taufe wichtig sind: Einerseits die religiöse Funktion als Schutzritus gegen den Teufel und als Grundlage des Seelenheils, andererseits die gesellschaftliche Funktion des Patensystems und der damit verbundenen Feierlichkeiten. Karant-Nunn bewertet die religiöse Devianz

1255 StAU, A [5421], Einlage zwischen Bl. 86v und Bl. 87r. In dem Bericht werden noch andere Spuren von altgläubigem Aktivismus der Laien genannt. Die „bäpstischen“ streiten sich demnach wegen des Fastens, der Feiertage und der Predigten. 1256 Mandat zum Verbot des Messbesuchs außerhalb von Ulm, in: Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 191. Im selben Jahr notiert der Ratsprädikant Martin Frecht, dass gerüchteweise Kinder in die Enklave Kloster Söflingen zur Taufe getragen würden, die dort wohl nach altem Ritus mit Sakramentalien und Exorzismus erfolgt. Vgl. StAU, A [9000], Bl. 151r. 1257 Vgl. dazu Kap. III. 4.3. 1258 Vgl. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 101 f.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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als simples Festhalten des ungelehrten Volks, das von der Notwendigkeit des Exorzismus und der Schutz- und Heiligungsriten, die mit den Sakramentalien verbunden sind, weiterhin überzeugt ist.1259 Die von mir untersuchten Quellen stammen aus der obrigkeitlichen Religionsverwaltung der Reichsstadt Ulm. Die in diesen Dokumenten vorgenommenen Bewertungen von Praktiken und Personen als „papistisch“ stehen dabei vielfach neben einer Beurteilung als schlichte „Abweichung“ und „Beharren“. Diese Kategorisierungen müssen natürlich nicht jenen entsprechen, die die betreffenden Personen sich selbst und ihren Handlungen zugeschrieben hätten, würde man sie gefragt haben. Ich plädiere jedoch dafür, beide Beurteilungen der Ulmer Obrigkeit ernst zu nehmen. Denn die Abweichung von der Orthopraxie der Kirchenordnung nehmen die Laien und Dorfpfarrer sicher nicht unreflektiert vor. Ihnen dürfte zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt klar gewesen sein, dass sie aus evangelischer Sicht durch ihre Praktiken und die damit verbundenen Vorstellungen zum Anderen gehören, also eine partikulare und zugleich prekäre Rolle einnehmen. Die Devianz führt damit zu einer distinktiven Erkennbarkeit. Darüber hinaus ist die Selbstauffassung von Pfarrern und Laien, die der evangelischen Orthopraxie folgen, als automatisch „bewusst“ evangelisch, ebenso schwierig. Doch nicht nur Veränderung, sondern auch selbst so gedeutetes „Beharren“ schafft explizite Zugehörigkeit. Wichtig ist es also festzuhalten, dass es zu religiösen Unterschieden kommt, die sich in ersten, differenzierten Kategorisierungsversuchen niederschlagen. Durchaus ähnlich verhält es sich im letzten Augenblick des menschlichen Lebenszyklus, dem Tod, jedoch mit einem gravierenden Unterschied: Der Gläubige hat einen Weg der religiösen Vorbereitung hinter sich und entscheidet, anders als der Täufling, im Rahmen der Möglichkeiten selbst, welcher Rituale und Vorstellungen er sich bedient.

3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult Der spätmittelalterliche Tod findet statt in einem Spannungsfeld aus Angst und Ungewissheit einerseits, aus sozialen und religiösen Sicherheitsritualen andererseits. Wie zu allen Zeiten und in allen Kulturen, so ist der Tod auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein letztlich unerklärliches, vorab nicht zu bestimmendes und in Zeiten von Hunger, Krieg und Seuchen zudem omnipräsentes Phänomen. Die meisten Christen rechnen damit, eine bestimmte Zeit im Fegefeuer für ihre Sünden büßen zu müssen, wenn ihnen nicht gar die ewige Verdammnis droht. Umso entscheidender sind die letzten Augenblicke der menschlichen Existenz, für die sich der gute Christ ein Leben lang vorbereiten muss. Bücher und Anleitungen zur ars moriendi finden deshalb

1259 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm.73), S. 61–65.

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 3 Leben und Tod

weite Verbreitung. Auf dem Totenbett spielt sich ein dramatischer und nur für den Kranken sichtbarer Kampf zwischen Gut und Böse, Christus und Teufel, Heiligen und Dämonen ab. Der Teufel versucht, der Seele des Sterbenden durch Verführungen und Einflüsterungen habhaft zu werden. Um diesen Gefahren zu entgehen und einen möglichst ruhigen und frommen Übergang vom Leben zum Tod zu finden, bedarf es der richtigen inneren, auf die Gnade Gottes vertrauenden Haltung des Sterbenden sowie äußerer Unterstützung. Beides ist miteinander verwoben und stellt auch für die altgläubigen Flugschriftenautoren die Grundbedingung für einen seligen Tod dar. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Priester. Er bringt die beiden nun nötigen Sakramente – das geweihte Öl der Krankensalbung sowie die Hostie – zu den Sterbenden als Viatikum. Der Einsatz von Sakramentalien wie Weihwasser, geweihten Kerzen oder Gegenständen wie dem Kreuz sollen, ebenso wie die Sakramente, die geistliche und körperliche Not lindern und den Kranken bei der Konzentration auf den Abwehrkampf gegen den Teufel unterstützen. Die Äußerungen und letzten Zeichen der Sterbenden deuten auf ihr Schicksal im Jenseits hin, haben aber auch immanentes Aussagepotential. Nach dem Tod wird die Seele zum ersten Mal gerichtet und gelangt in den Himmel, die Hölle oder das Fegefeuer, um dort für die Sünden zu büßen. Diesen Prozess und das Schicksal der eigenen Seele sowie das von verstorbenen Bruderschaftsangehörigen, Freunden oder Familienmitgliedern kann um 1500 aktiv beeinflusst werden. Die spirituellen und physischen Übergänge zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten, die zusammen die christliche Gemeinschaft bilden, ist fließend. Bereits während des Sterbens werden Fürbitten gesprochen, ebenso nach dem Tod. Der Leichnam wird nach der Totenwache in einem Zug zur Kirche gebracht, wo das Totengedenken dann u. a. mit Vigilien weitergeht. Die Toten werden auf dem Kirchhof, direkt bei der Kirche und inmitten der Gemeinde beerdigt. Messen werden gesungen und gestiftet, Jahrtage werden zu fixen Momenten im Kirchenjahr der Gläubigen, ebenso wie die regelmäßigen Prozessionen und Umgänge bei den Gräbern. Durch gute Werke und Gebete soll etwa die Zeit im Fegefeuer verkürzt werden, was bekanntermaßen im Ablasshandel teils seltsame Blüten treibt.1260 In der Reformation wird diese Sterbekultur infrage gestellt und rituell sowie mental neu geordnet. Denis Crouzet spricht im Hinblick auf diese Prozesse von einem „désangoissement“, das die Gläubigen durch die sichere Aussicht auf das Seelenheil dank Christi Kreuzestod und Gottes Gnade erfahren hätten. Der Tod verliere seinen Schrecken und seine dramatische Unsicherheit.1261 Rituale werden verschlankt und etwa der Gebrauch äußerer Frömmigkeitsgegenstände und Sakramentalien ganz

1260 Thiessen, Sterbebett (wie Anm. 865); Crouzet, Genèse (wie Anm. 309), S. 51–60, 76–82; KarantNunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 140–144; Koslofsky, Reformation of the Dead (wie Anm. 22), S. 22–27; Avril, Paroisse médiévale (wie Anm. 865). 1261 Crouzet, Genèse (wie Anm. 309), S. 76–79.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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abgeschafft. Aus dem umkämpften und dramatischen Tod wird in der evangelischen Norm und frühen Sterbebeschreibungen ein ruhiger, friedlicher Tod. Martin Luther spricht sich gegen die Existenz des Fegefeuers aus. Vielmehr gehen die Reformatoren davon aus, dass die Seele nach dem Tod in eine Art Schlaf fällt. Nach dem Tod werden in der protestantischen Kultur die Einwirkungsmöglichkeiten auf das Wohl und Wehe des Verstorbenen im Jenseits und die im Spätmittelalter durchaus gängige Kommunikation mit den Toten theologisch unmöglich und rituell obsolet. Diesen Prozess hat Craig M. Koslofsky, wie zuvor schon Susan Karant-Nunn, als Trennung der Lebenden von den Toten beschrieben und als ein Kernmerkmal der Reformation beurteilt. Diese Vorstellungen sowie das Distinktionsbedürfnis führen schon in der frühen Reformationszeit zur Verlegung von Friedhöfen aus dem Kirchhof und somit aus der sakralen und sozialen Mitte der Gemeinschaft vor die Tore der Städte. Etwa in Leipzig kommt es darüber zu Konflikten, aber auch in Frankreich zur Zeit des Edikts von Nantes. Friedhöfe, die in den letzten Jahren intensiv erforscht worden sind, werden zu einem Zankapfel der entstehenden Konfessionen. Ihre Ausgestaltung verrät viel über die Zugehörigkeit derer, die dort begraben liegen.1262 Stirbt ein altgläubiger Christ, bittet er darum, dass ihn ein Priester mit den Sterbesakramenten versehen möge und hofft auf die eingangs beschriebene Sterbebegleitungen. Der Beginn dieses Ritualensembles ist der Versehgang, in dem öffentlich sichtbar das Sakrament im Rahmen einer kleinen Prozession bis vor das Haus des Kranken und das Totenbett getragen wird. Die Frage, welche Form des Sakraments dabei gereicht wird, also sub una oder sub utraque specie, erregt in der Reformationszeit im Alten Reich früh die Gemüter und ist Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Folgekonflikten. Über einen solchen Fall berichtet Heinrich von Pflummern in seinen 1544 verfassten Erinnerungen an die Reformation in der Reichsstadt Biberach. Dabei befasst sich Pflummern auch mit Ulm: Item zitlich erhuob sich ain Lutersche sach, fieng hoben im land zuo Ulm fast an. Die menschen in sterbenden neten woltent nur, das man sy verseche mit baiden gestalten des sackermentzs, des brotzs und des wins; das wolt der pfarer zuo Ulm, Leschenbrand also genant, nit tuon. Also sturbent die lit hin un versechen. Da wolt sy der pfarer nit in das gewicht legen. Der pfarer was noch in der regierung, also koft man zuo Ulm ain crutgarten, da let man die toten hin. Und gieng ain clain zit us, das die lit gar nuotz uf das sackerment me woltent halten, weder uff ain gestalt oder uff bede gestalten.1263

1262 Koslofsky, Reformation of the Dead (wie Anm. 22), S. 17–114; Karant-Nunn, Susan C.: Tod, wo ist Dein Stachel? Kontinuität und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche. In: Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Hrsg. von Christine Magin [u. a.]. Wiesbaden 2008. S. 193–204; Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 145–189. 1263 Schilling, Pflummern (wie Anm. 451), S. 158.

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 3 Leben und Tod

Der Anfang der evangelischen Bewegung wird von Pflummern eng mit der Sakramentsfrage verbunden. Manche Gläubige fordern als Viatikum nicht mehr nur die Hostie, sondern darüber hinaus auch den Laienkelch. Offenbar kommen manche Priester der Aufforderung nach, nur Pfarrer Löschenbrand verweigert sich. Sebastian Löschenbrand, Doktor der Theologie und seit 1519 Plebanus in Ulm, taucht in den von mir untersuchten Quellen des Ulmer Stadtarchivs nicht auf. Auch ist er meines Wissens in der neueren Ulmer Reformationsforschung unbekannt, obwohl er offenbar in der frühen Reformation ein profilierter altgläubiger Protagonist war. Ausführlichere Hinweise zu seiner Person finden sich in dem fast 200 Jahre alten zweiten Band der Denkwürdigkeiten der Würtembergischen und Schwäbischen Reformationsgeschichte des Ulmer Generalsuperintendenten und Prälaten Johann Christoph Schmid. Darin wird über Löschenbrand im Zusammenhang mit hitzigen Predigten zwischen altgläubigen und evangelischen Geistlichen in Ulm berichtet. Der Rat ruft die betreffenden Priester zu sich und ermahnt sie, nur das Evangelium und die Apostelbriefe zu predigen und dabei friedlich zu bleiben. Löschenbrand beharrt auf seinem angeblichen Recht, gegen falsche Auslegungen zu protestieren und die Bibeltexte auf seine Weise zu interpretieren. Der Ratsprediger Konrad Sam, seit 1524 im Amt, ist bei der Belehrung nicht zugegen, was Löschenbrand zu der Forderung verleitet, dass Sam nicht mehr Freiheit in seinen Predigten haben dürfe als er. Der Rat bemühte sich, den Pfarrer von seiner Stelle zu drängen und bietet ihm eine Entschädigung für seine Resignation an, was Löschenbrand jedoch ablehnt.1264 Der Pfarrer stirbt entweder 1525 oder 1526.1265 Der Vorfall, den Heinrich von Pflummern schildert, lässt sich zeitlich etwa auf das zweite Drittel der 1520er-Jahre eingrenzen. Vor dem innerreformatorischen Abendmahlsstreit bzw. bevor sich dieser in den Städten und Gemeinden Oberdeutschlands niederschlägt, ist auch dort der Laienkelch eines der wichtigsten Differenzmerkmale der entstehenden altgläubigen gegenüber der entstehenden lutherischen Kultur. Von einer verbreiteten Ablehnung der Realpräsenz und der Anbetung des Sakraments ist hingegen nicht die Rede.1266 Die Lutherischen fordern laut Pflummern in ihrem letzten Augenblick den Laienkelch, den Löschenbrand ihnen aber verwehrt. Deshalb bleibt ihnen der gesamte Sakramentsbeistand versagt und sie sterben, in altgläubiger Wahrnehmung, ohne die rettende Kommunion. Da sie sich durch ihr Verhalten im Tod als Ketzer zu erkennen geben, verweigert ihnen der Pfarrer darüber hinaus das Begräbnis auf dem Kirchhof. Die Stadt muss sich deshalb um eine Alternative bemühen und kauft einen Acker.

1264 Schmid, Johann Christoph: Denkwürdigkeiten der Würtembergischen und Schwäbischen Reformationsgeschichte, als Beitrag zur dritten Jubelfeier der Reformation, Bd. 2. Tübingen 1817. S. 55 f. 1265 Vgl. Löschenbrand, Sebastian. In: Weyermann, Albrecht: Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und Künstlern auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichstadt Ulm. Ulm 1829. S. 288; Specker, Hans Eugen: Sam, Konrad. In: NDB 22 (2005). S. 403 f., hier S. 404. 1266 Zur Eucharstie und der Messe in der Ulmer Religionsgeschichte vgl. Kap. II. 2.1.3.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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Die beginnende Verlegung des Friedhofs geht demnach weniger auf einen evangelischen Impetus zur Trennung der Toten von den Lebenden, als auf eine schiere Notwendigkeit zurück. Dass es sich bei dem beschriebenen Fall um eine frühe und lutherische Form der evangelischen Sterbekultur gehandelt haben muss, zeigt auch Pflummerns Ausführung, dass wenig später das Sakrament weder in Form der Hostie noch des Kelchs mehr Ansehen haben wird – ein Hinweis auf die zwinglisch-oberdeutsche Wende in der Ulmer Reformation, die bei Löschenbrands Tod unmittelbar bevorstand. Die Distinktion für die Altgläubige ist zu diesem Zeitpunkt indes noch die traditionelle Hostienkommunion und die Ablehnung des lutherischen Abendmahlskelchs im Tod. Am 29. September 1529 findet in der Reichsstadt Ulm der bereits in Bezug auf das eucharistische Sakrament angesprochene Versehgang statt, in dessen Rahmen es zu Streit zwischen den Teilnehmern und zwinglischen Anwohnern kommt. Die Hostie und deren Inszenierung als Leib Christi, den der Priester in der Prozession zum Haus der Kranken trägt, werden von den benachbarten Protestanten abgelehnt. Deren Spott bezieht sich auf die Hostie, die u. a. als Bäckerbrot bezeichnet wird. Priester Hans Löffler wiederum wendet sich an die Teilnehmer des Umzugs und fordert sie auf, sich die Unehre, die dem heiligen Sakrament geschehen sei, zu merken und zufrieden zu sein, d. h. mit ihrer Praxis ruhig weiter so zu verfahren wie bisher. Nachdem der Vorfall bezüglich des eucharistischen Sakraments bereits analysiert worden ist,1267 verbleibt nun noch die Untersuchung hinsichtlich der Sterberituale. Bei diesen ist, aus altgläubiger Sicht, die Hostienkommunion zusammen mit der Beichte und der Absolution sowie der letzten Ölung elementar. Hinter dem Messmer mit der Glocke und dem Priester mit dem Sakrament läuft ein Zug trauernder und betender Frauen. Als Pfarrer Löffler an das Totenbett tritt, ist die Stimmung vor der Tür aufgeheizt. Der Auflauf vor dem Haus der Sterbenden ist den Bewohnern sowie den Nahestehenden und der Familie, die traditionell um das Totenbett versammelt sind, sicher nicht verborgen geblieben. Der Pfarrer betritt, begleitet vom Mesmer, das Haus und versieht die Sterbende mit dem Sakrament.1268 Es darf angenommen werden, dass Löffler der Frau zuvor auch die Beichte abnimmt. In seiner Aussage beschränkt sich der Pfarrer also auf die wichtigste priesterliche Dienstleistung, die er Sterbenden erweisen kann: die heilige Kommunion des Leibs Christi, wie die Altgläubigen sagen würden. Oder einen „papistischen“ und unnützen Missbrauch, nach protestantischer Lesart. Wie nehmen die Laien die Vorgänge war? Die Zeugenaussage der Elisabeth Kneprun bringt etwas mehr Licht in die Vorgehensweise der Sterbendenbegleitung. Sie setzt erkennbar andere Schwerpunkte als der Priester, benennt als einzige der Befragten die kranke Person und bestätigt, dass auch im Haus die kontroverse

1267 Vgl. Kap. II. 2.1.3. 1268 StAU, A [5441], Bl. 61r–v.

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 3 Leben und Tod

Atmosphäre wahrgenommen wurde: „Erstlich die Federlerin hab sy gepetten, ir lassen das hohwirdig sacrament zupringen. Nun wie der priester damit in ir hauß komen unnd das empfangen unnd widerumb herauß gangen, desmals wern Michel Binders drey knecht und des Talfuß sun under gedachts Binders thur gestanden unnd spetlis getriben unnd geschrihen. Hab aber des schreihens auß grosser forcht nit war genomen.“1269 Die kranke Frau des Kaspar Federlin hat Elisabeth Kneprun gebeten, den Pfarrer zu rufen, der ihr das Sakrament bringen soll. Der Versehgang mit dem Viatikum geht also auf die Initiative der Kranken zurück, die in dieser Form – Sterbesakrament nur mit der Hostie, dargestellt und rezipiert als Leib Christi  – in Ulm im Jahr 1529 keineswegs mehr Gemeingut ist. In diesem Kontext, ein gutes Jahr vor der Reformationsentscheidung der Bürgerschaft, bedeutet die Bitte der Frau eine klare religionsgemeinschaftliche Positionierung. Dabei strahlt die Verschiebung des Konflikts in Ulm, der sich in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre weg vom Laienkelch und hin zur Substanz und Inszenierung des Sakraments entwickelt hat, bis in die Todesstunde aus. Die Schärfe dieser Auseinandersetzung kommt an jenem 29. September 1529 klar zum Ausdruck: bewusste Affirmation steht gegen Spott und Kritik. Diese seien laut Elisabeth Kneprun so stark gewesen, dass sie sich sehr gefürchtet habe. Den verbalen Angriff auf das Sakrament wertet sie also auch als Angriff auf sich selbst, was das Identifikationspotential der altgläubigen Sakramentspraxis in Ulm unterstreicht. Die Teilnehmerinnen des Versehgangs knien laut der Aussage von Barbara Fennd und Elisabeth Kern vor dem Haus nieder und beten, während der Priester drinnen seinen Dienst verrichtet.1270 Bei den Gebeten der Frauen könnte es sich um Fürbitten für die Sterbende gehandelt haben. Die Anfeindungen und der Spott, denen die betenden Frauen ausgesetzt sind, beziehen sich mitunter direkt auf das Ritual, das zeitgleich im Haus passiert. Wie Apolonia Schnierlein im Verhör berichtet, habe eine Person aus dem Nachbarhaus gerufen, man solle der Kranken lieber eine „pretwurst“ auflegen. Barbara Fennd, eine andere der fürbittenden Frauen, bestätigt diese Aussage.1271 Ein präzises Ritual ruft also zwei konträre Deutungen hervor und schafft, das wird in den Verhören klar, zwei antagonistische Deutungsgemeinschaften, die zudem in die Geschehnisse direkt involviert sind. In den Ulmer Visitations- und Synodalberichten finden sich in den 1530er-Jahren häufig Spuren „papistischer“ oder „alter“ Sterbekulturen, um die es zum Konflikt innerhalb der Gemeinden oder zwischen den betreffenden Gläubigen und der Obrigkeit kommt. Dass entsprechende Devianzen immer wieder gemeldet werden, und zwar verteilt über das Jahrzehnt, zeugt davon, dass es sich hier um einen wichtigen Kristallisationsmoment der religiösen Differenz handelt. Neben der Form der Ausei-

1269 StAU, A [5441], Bl. 65r. 1270 StAU, A [5441], Bl. 62v, 65r. 1271 StAU, A [5441], Bl. 61v, 62v.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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nandersetzung und der Rituale muss dabei erneut die Frage nach deren Bewertung und Bedeutung für die Protagonisten gestellt werden. So tauchen bei der Synode vom 20. Februar 1532 Hinweise auf Sterbepraktiken auf, die Analogien zum diskutierten Vorfall in der Reichsstadt vom 29. September 1529 aufweisen und von den Ulmer Religionsautoritäten mal als papistische, mal als abergläubische, aber immer als der neuen Orthopraxie widersprechende Bräuche eingeordnet werden. So berichtet der Prädikant in Nellingen, seine Gemeindemitglieder begehrten, dass er eine Glocke läuten lasse „damit sie einander zu Ehren gehen mögen.“1272 Die Laien in Nellingen wollen offenbar weiterhin bestimmte Elemente der spätmittelalterlichen Totenkultur durchführen, obwohl ihr Pfarrer dagegen predigt. Was genau sich hinter der eher allgemeinen und für die zwinglischen Religionsautoritäten kaum angreifbaren Formulierung „zu Ehren gehen“ verbirgt, ist unklar. Wahrscheinlich handelt es sich um die traditionelle Begleitung des Leichenzugs zur Kirche oder um die Teilnahme an den Gebeten und Referenzen der Gemeindemitglieder für den in der Kirche aufgebahrten Toten. In Scharenstetten wiederum ist seit der Einführung der neuen Kirchenordnung und der Agende bis zur Synode im Februar 1532 erst eine Person gestorben, berichtet der dortige Pfarrer. Da habe man geläutet und das Volk habe den Leichenzug begleitet, wohl vom Zuhause des Verstorbenen bis zur Kirche. Der Pfarrer sei dazu gelaufen und habe die Teilnehmer „erfordert und ein Ermahnung getan.“1273 Aus der Stadt Langenau berichtet der evangelische Prädikant, dass man für die Toten läute.1274 Auch in Leipheim gibt es noch das Totengeläut.1275 Bewertungen dieser Devianzen durch die Pfarrer, von denen die Angaben stammen, sind indes nicht überliefert. Die Geistlichen beschränken sich auf die kurze Nennung der Praxis, die „noch“ stattfindet und offenbar größtenteils in der Verantwortung des Gemeinen Mannes liegt. Das veränderte priesterliche Angebot führt dazu, dass Teile der Gemeinde in Geislingen die Kleriker gar nicht mehr ans Sterbebett rufen lassen. Davon berichtet der Geislinger Pfleger auf der Synode im Jahr 1539: „So erbieten sie [die Prädikanten, M. M.] sich an der Kanzel zu den Kranken gutwillig zu kommen, er vermeint aber, ihrer werde nit viel begehrt.“1276 Es handelt sich womöglich um die bewusste Ablehnung eines evangelischen Angebots, wobei sich daraus auch 1539 keine veritable Auseinandersetzung entwickelt – und wenn, dann hat sich diese nicht in den Quellen niedergeschlagen. Im Entscheid gehen die Religionsherren jedenfalls nicht auf die Berichte zu den kollektiven Todesritualen der Gemeinde ein.

1272 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 62. 1273 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 68. 1274 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 71. Es gibt keine weiteren Erwähnungen des Brauchs. 1275 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 79. Leipheim ist 1532 deutlich sichtbar für die Verantwortlichen gespalten in Altgläubige, Lutherische und Zwinglische. 1276 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 137.

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 3 Leben und Tod

Während in Territorien mit einer obrigkeitlich durchgeführten evangelischen Reformation Stiftungsmessen untersagt werden  – was jedoch nicht heißt, dass die Seelmessen immer und überall sofort danach eingestellt werden – verläuft für die Altgläubigen in altgläubigen Territorien die Trennlinie zum lutherischen Anderen über die kontinuierliche Teilnahme und Anteilnahme an den Jahrtagen und Totenfürbitten. Diese stellen für die Evangelischen ein lohnendes, aber auch riskantes Ziel für Gottesdienststörungen dar. Es gibt in diesen Regionen also kein protestantisches Parallelangebot, sondern erneut nur die Möglichkeit zu Partizipation oder Boykott. Ein Fall aus dem Herzogtum Bayern und ein Fall aus der vorreformatorischen Grafschaft Lippe sollen dies veranschaulichen. Der Rentmeister aus dem bayerischen Burghausen berichtet in einem Brief an Herzog Wilhelm von Bayern am 21. August 1523 aus Altötting von einem nicht namentlich genannten Mann, der ihm angezeigt worden ist. Dieser Mann habe in dem berühmten Marienwallfahrtsort nicht nur die Muttergottes gelästert, sondern auch eine Seelmesse gestört: Vener hat ain briester in der pfarkirchen ain selambt gesungen. Also er sich vor dem alltar umbkert unnd fur all glaubig seln gepeten, hat diser burger gegen seinen mitburger, ainem so neben sein gestannden, gered: Sich an den narn, was dreibt er fur kleifft, es ist pueberey, kumbt den sellen nit zu hilf. Mit den unnd dergestallt worten sich grob gehallten. Als ich ine fur mich beschiden, hat er alhes umbschnitten, auf ain anndere maynung ziehen wollen. Die mich aber des hanndls berichten, zaigen mir an, es mog wol auf in gewisen werden. Dise hanndlung hab ich an den haubtmann lanngen lassen. War sein unnd mein maynung, den in die schergenstuben zelegen.1277

Seelenmessen gehen auf Stiftungen der Verstorbenen, der Angehörigen oder einer Bruderschaft zurück und sollen die Leidenszeit der Toten im Fegefeuer verkürzen. Die Seelenmesse in Altötting wird zum Auslöser eines Konflikts mit drei involvierten Parteien und einer präzisen Choreografie. Messen werden von den Priestern in der alten Kirche bekanntermaßen mit dem Rücken zu den Laien gesungen. Der Dialog des mutmaßlichen Lutherischen mit seinem Nachbarn, der im Kirchenschiff neben ihm steht und der Messe folgt, beginnt in dem Augenblick, als sich der Priester zum Volk dreht. Die Laien können das Gesicht des Zelebranten sehen, und offenbar ist dies der passende, womöglich sogar der auslösende Moment für die spöttischen Bemerkungen. Als dummes Zeug und Betrügerei bezeichnet der Unbekannte die Fürbitte des Priesters für die Seelen im Fegefeuer, denn die Gebete kämen ebenso wenig wie die Messen den Verstorbenen im Jenseits zu Hilfe. Diese Deutung der Seelmesse entspricht der gängigen lutherischen Kritik an der altgläubigen Totenkultur und der Werkegerechtigkeit. Demnach sind Einwirkungen nach dem Ableben nicht mehr möglich und Seelgerät, Stiftungen und Messelesen unnütz, Verschwendung oder Betrug des

1277 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 5r–v.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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Klerus. Offenbar teilen aber Umstehende oder womöglich der Nebenmann, zu dem der Lutherische seine Bemerkungen macht, diese Deutungen nicht. Sie halten vielmehr an der Effizienz des Rituals fest und bewerten die lutherischen Äußerungen als Blasphemie oder Irrglaube. Die Ablehnung geht so weit, dass der Fall zur Anzeige gebracht wird. In dieser Situation wird also aus einer traditionellen, einstmals „normalen“ Wissensordnung eine distinktive Wissensordnung, die manche teilen und andere lächerlich machen. Der Angezeigte versucht sich zwar mit Ausflüchten zu retten, scheitert damit aber an der Bewertung des Sachverhalts durch den Rentmeister von Burghausen und den Hauptmann.1278 Sie setzen den Messestörer gefangen. Ähnlich wie bei der Differenz um den Laienkelch und um die Messe entscheidet und offenbart sich die Zugehörigkeit der Laien in diesem Teil des Alten Reichs im präzisen Fall entlang der Variablen „Partizipation“ und „Affirmation“ oder „Ablehnung“, „Boykott“ und mitunter „Störung“. In Lippe beginnt 1536 mit dem Tod des altgläubigen Grafen Simon V. eine zwei Jahre dauernde Übergangszeit bis zur lutherischen Reformation, die unter hessischem Einfluss stattfindet. In der Ständeregierung, den Landtagen, bei den Vormündern und den Beamten stehen auseinanderstrebende Kräfte gegeneinander. Der Raum der kulturellen Möglichkeiten wird größer, doch völlig gefahrlos und offen sind die religiöse Praxis und das Agieren der Protestanten dennoch nicht. In diesem Kontext kommt es 1537 zu einem bemerkenswerten Vorfall. Zwei evangelische Frauen werden von den Befehlshabern der Ständeregierung wegen einer Predigt- und Gottesdienststörung festgesetzt. Die Verwandten und Freunde der Inhaftierten wenden sich in einer Supplik an Landgraf Philipp von Hessen. Sie beschreiben den Vorfall, der zu der Verhaftung geführt hat und diplomatische Auseinandersetzungen zwischen Lippe und Hessen nach sich ziehen wird, die an späterer Stelle analysiert werden.1279 Dabei erläutern sie, dass ein Observantenmönch aus Lemgo am Feiertag der Hl. Katharina (25. November) in das Dorf Heiligenkirchen gekommen sei, das er offenbar als Pfarrer versieht, und dort gepredigt habe. Auf der Kanzel lobte er die heilige Katharina als Fürsprecherin bei Gott, woraufhin eine der später verhafteten Frauen dazwischenruft und den Mönch nach der Schriftgrundlage für dessen Aussage fragt. Und weiter: Do nu de monick sine mordeschen logen lange up der cantzel geford hadde, heft he ock catalogum mortuorum hervor gebracht und vor de verstorven gebeden, dat se mochten uth dem vegefuyr verloset werdenn. Darup deselve vrouwesperson antwort gegeven unnd gesprocken also: Wat byddestu vor de verstorvenn, secht doch Christus unse here sulvest: wol in my gelovet, de

1278 Das Herzogtum ist aufgeteilt in vier Verwaltungsbezirke, die Rentmeisterämter München und Burghausen (Oberbayern) sowie Landshut und Straubing (Niederbayern). An deren Spitze steht ein adeliger Viztum, dem ein Regierungskanzler zur Seite gestellt ist. Das Regierungskollegium, zuständig für die Verwaltung der Rentämter, wird durch den Rentmeister und die Regierungsräte vervollständigt. 1279 Vgl. dazu Kap. III. 1.3.

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 3 Leben und Tod

hefft dat ewige lebent, woll overst nicht gelovet, de is alrede gerichtet. Wat biddestu dan vor de doden. Is derhalvenn gedachte monick uth grym unnd torne gelopen an de bevelhebber der graveschap tor Lyppe, und hefft desolven vrouwesperson ernstlick verklaget. Und is also derwegen gedachte vrouwesbelde myt eyner anderen olden vrouwen, de ock denn Christus bekennt, int vencknysse geworpen tho Dethmolde.1280

Die Gottesdienststörung im Kirchspiel Heiligenkirchen, drei Kilometer südlich von Detmold gelegen, weist einige Besonderheiten auf, die aus den gängigen Bildern der frühreformatorischen Gottesdienststörungen ausbrechen bzw. über diese hinausweisen. Erstens handelt es sich um eine lutherische Frau, die den Prediger auf der Kanzel stört. Dieser wiederum ist ein Franziskanerobservant, der mit Positionen auftritt, die von der Frau und von Landgraf Philipp als „papistisch“ gedeutet werden dürften. Der altgläubige Franziskaner kommt zudem überraschenderweise aus einem Konvent der seit Jahren lutherischen Stadt Lemgo. Dort sind bereits ab Ende 1530 auf Druck aus der Bürgerschaft die Messe und einige altgläubige Praktiken abgeschafft worden. Neue Prädikanten kommen nach Lemgo und 1533 wird eine lutherische Kirchenordnung erlassen. Insofern kann es erstaunen, dass ausgerechnet von dort noch im Jahr 1537 ein altgläubiger Franziskaner im lippischen Landgebiet mit einer kontroversen Predigt auftritt. Die mutmaßliche Evangelische stört den Gottesdienst, als der Prediger den catalogus mortuorum verliest, womit er bei der lutherischen Frau auf Ablehnung stößt und sie zu einer weiteren Intervention herausfordert. Dieser Grund für eine Gottesdienststörung taucht in der Forschung eher selten auf, gelten doch die Messe und altgläubige Predigt als die bevorzugten Momente, um Kritik am Zelebranten und dem Ritual effektvoll vorzubringen. Der catalogus mortuorum oder Anniversar verzeichnet die Namen und Todesdaten der Verstorbenen, die zur Abhaltung der Jahrtagsfürbitten oder -messen wichtig sind. Darüber hinaus sind in dem Katalog Messstiftungen festgehalten, v. a. in den großen Kirchen der Städte. Auch der Franziskaner in Heiligenkirchen betet für die Erlösung der Seelen aus dem Fegefeuer. Das regelmäßige Vorlesen aus dem Verzeichnis, etwa in der Fastenzeit, im Advent oder nach Messen, findet meist außerhalb der Liturgie statt. Die Lektüre erfüllt laut Joseph Avril mehrere Funktionen. Zum einen demonstriert die Gemeinde dadurch, dass sie ihre Pflicht des Totengedenkens erfüllt. Das Verlesen konkreter Namen soll die Gläubigen animieren, exemplarisch einzelne Tote dem Vergessen zu entreißen. Schließlich verbinden sich in dem Ritual kollektive und individuelle Formen der Fürbitte.1281 Das Hervorziehen des Katalogs scheint Signalwirkung auf die lutherische Frau zu haben. Sie demonstriert durch ihren Zwischenruf ihre Ablehnung der Intervention der Lebenden für die

1280 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 4v. 1281 Avril, Paroisse médiévale (wie Anm. 865), S. 62–64. Vgl. ferner auch Schuler, Peter-Johannes: Das Anniversar. Zu Mentalitäten und Familienbewußtsein im Spätmittelalter. In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Hrsg. von Peter-Johannes Schuler. Sigmaringen 1987. S. 67–117, hier S. 86–89.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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Toten sowie insbesondere ihren Glauben an die Rechtfertigung sola fide. Das auf der Lektüre aus dem Anniversar basierenden Jahrtaggedenken wird in dieser Situation zu einer partikularen Form der Kontingenzbewältigung und des pastoralen Angebots. Nach dem Tod, der Aufbewahrung des Sargs in der Kirche und ersten Gebeten folgt die Beisetzung der Christen in geweihter Erde, d. h. in oder meist um die Kirche auf dem Kirchhof, wie die Bezeichnung im Deutschen lautet.1282 Die Beisetzung wird dabei in der Wahrnehmung altgläubiger Priester schwierig bis unmöglich, wenn der oder die Verstorbene zuvor nicht das Viatikum empfangen hat. Der Konflikt, der sich daraus ergibt, wurde für Ulm bereits in der Mitte der 1520er-Jahre virulent, als der altgläubige Pfarrer Löschenmann jenen, die die Kommunion sub una specie nicht empfangen haben, das Begräbnis verweigert. Derartige Konflikte sind häufig und betreffen die Organisation des Friedhofs in Zeiten, in denen zwei oder mehr christliche Glaubensrichtungen ihre Toten nicht mit denen der Gegenseite in einem gemeinsamen Grund beerdigen wollen. Zu genau einer solchen Auseinandersetzung kommt es in der Reichsstadt Regensburg, wo im Ende Dezember 1538 der mutmaßliche Lutheraner Hans Leißner stirbt. Um mit dem Dompfarrer die Beerdigungsmodalitäten zu klären, wird dieser am Abend des 1. Januar 1539 von Hans Pferinger mit einem der Söhne Leißners und Wolf Haberl aufgesucht. Möglicherweise ist Leißners Sohn noch minderjährig, weshalb Pferinger die folgenden Verhandlungen als Vormund oder Stellvertreter leitet. Über Hans Pferingers Identität geht aus dem Akt nichts weiter hervor, ebenso wenig über Wolf Haberl, der von Beruf Sailer ist. Pferinger bezeichnet den Toten als seinen Gevatter, was auf ein enges freundschaftliches, womöglich familiäres Verhältnis hindeutet. Nach einer Routinefrage des Pfarrers wird schnell klar, dass die Beerdigung eine schwierige Verhandlungssache werden würde, die politische und rechtliche Folgen haben sollte. Das Gespräch hebt an mit der Bitte des Hans Pferinger, der Dompfarrer möge den Toten beerdigen. Daraufhin kommt es zu folgendem Wortwechsel: Item auff gethane bitt der pfarer gefragt, ob er zu osterlicher zeit communiciert und gepeicht etc. Pferinger geantwort: Alßvil ich wiß und mit ime als meinem lieben gevatternn im lebenn kuntschafft gehabt, so hab er sich hier inn cristlicher freihait in seinem gewissen gebraucht mit peicht und niessung des hochwirdigen sacraments leibs und pluts Christi nach desselben bevelh und einsatzung im evangelio ausgedruckt. Pfarer gesagt: Dieweil er wider den alten geprauch christlicher kirchen hiemit gehandelt etc., item es sey also von der kirchen geordent deßgleichen ime durch sein obrickait gepoten und geschafft, das solch leut zur cristlichen sepultur nit sollen gelassen werden.1283

1282 Vgl. Schütte, Leopold: Cimeterium – Kirchhof – Friedhof. Wörter und Sachen. Sprachgeschichtliche Überlegungen zu Bedeutung und Wahrnehmung von Kirchhöfen. In: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Jan Brademann u. Werner Freitag. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19). S. 117–125. 1283 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 740.

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 3 Leben und Tod

Die Frage des Pfarrers nach dem Vollzug der Osterkommunion und der Beichte in der Fastenzeit deutet darauf hin, dass der Geistliche in Regensburg mittlerweile mit solchen Fällen rechnet und dass der Laienkelch zum klaren Ausschlusskriterium aus der alten Kirche und von geweihtem Boden geworden ist. Die Anordnung, das Begräbnis in solchen Fällen zu verweigern, kommt von der bischöflichen Obrigkeit. Regensburg ist indes während der späten 1530erJahre durch eine stark anwachsende lutherische Bewegung geprägt, die sich zwar nur eingeschränkt öffentlich ausdrücken kann, aber auch nicht verfolgt wird. Zunehmend geht der Magistrat zu einer verdeckten und dann offenen Unterstützung der Bewegung und deren Bestrebungen über.1284 Die Antwort von Hans Pferinger auf die Frage des Pfarrers nach der Sakramentspraxis des Verstorbenen zeigt, dass bereits 1538 der Laienkelch in Regensburg ausgeteilt wird, freilich in einer prekären religionspolitischen Grauzone. Leißner habe sich dafür der christlichen Freiheit bedient und sei seinem Gewissen gefolgt. Deshalb habe er das neutestamentarische Abendmahl mit der Reichung des Kelchs nachvollzogen. Beim Pfarrer wird durch diese Aussagen gleich die altgläubige Wissensordnung mobilisiert, mit der er die Sakramentspraxis des Verstorbenen als Abweichung vom Eigenen und den bischöflichen Vorschriften beurteilt. Dieses Eigene, also die Hostienkommunion mit vorhergehender Beichte und Absolution in der Fastenzeit, ordnet der Pfarrer im Unterschied zu den Praktiken der Gegenseite in eine zeitliche Kontinuität ein. Es handle sich um den alten Brauch der christlichen Kirche und Leißner habe sich mit seinen Handlungen außerhalb von dieser positioniert. Diese Argumentation ist in den altgläubigen Flugschriften nicht nur bezüglich des guten Todes Standard.1285 Darüber hinaus, sagt der Dompfarrer, verbieten die Kirche und seine Obrigkeit die Beisetzung von Menschen, die gegen den alten Brauch verstoßen. Als evidente „Ketzer“ sind sie dem päpstlichen Bann verfallen, der sich auch über das Leben hinaus auswirkt: Er verhindert das Seelenheil der Gebannten und schließt sie wie zu Lebzeiten aus der christlichen Gemeinschaft aus. „Wahre“, „alte“ Christen werden hingegen auf dem Kirchhof in geweihter Erde bestattet, direkt beim sakralen Zentrum der Gemeinde, der Kirche. Anders als vielerorts einige Jahrzehnte später, gibt es in Regensburg 1539 aber noch keine Erfahrung im Umgang mit den Auseinandersetzun-

1284 1534 und 1535 fordern evangelische Bürger die Einsetzung lutherischer Prädikanten, ein Ansinnen, das der Bistumsadministrator nur durch die Intervention der Bayernherzöge und König Ferdinands verhindern kann. Bis zu Beginn der 1540er-Jahre betreibt der Rat eine möglichst offene Innenpolitik, wobei reformatorische Maßnahmen vorerst nicht möglich sind, insbesondere aufgrund des bayerischen Drucks. Im Dezember 1541 setzt der Rat einen evangelischen Prediger, Erasmus Zoller, in der ehemaligen Wallfahrtskirche zur Schönen Maria ein. Am 13. Oktober 1542 fällt die städtische Obrigkeit den Beschluss zur Durchführung lutherischer Reformmaßnahmen, wobei der kulturnormative Bruch mit den spätmittelalterlichen Religionsformen sehr unvollständig ist. Zwei Tage später findet die erste offizielle Abendmahlsfeier sub utraque specie statt. 1285 Vgl. dazu Kap. I. 4.1.4.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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gen um die Beerdigung. Es fehlt der modus vivendi, mit dem im späten 16. und im 17. Jahrhundert Friedhöfe in mehrkonfessionellen Kontexten geteilt, vermischt oder reorganisiert werden.1286 Deshalb kommt es in Regensburg 1539 zu einer Blockadesituation, in deren Rahmen die Beteiligten ihre Auseinandersetzung um die Bestattung des „Ketzers“ auf dem Domfriedhof durch alle politischen Instanzen tragen.1287 So stellt sich in Regensburg die Frage des Begräbnisorts auf eine neue Weise. Während etwa in Leipzig 1536 die Lutherischen die Initiative ergreifen und, auch im Zusammenspiel mit innerstädtischen Konfliktlagen, die Verlegung der Begräbnisstätten vor die Stadt verlangen und dabei formell auf die Seuchengefahr verweisen,1288 verläuft die Konfrontationslinie diesbezüglich im ebenfalls mehrheitlich lutherischen Regensburg anders: Dort sind die Protestanten eher gezwungen, sich einen neuen Begräbnisplatz zu suchen. Dass damit auch theologische Abwägungen im Sinne einer stärkeren Trennung der Lebenden von den Toten verbunden sein können, ist natürlich möglich. So schreiben im Dezember 1539 die Ratsmitglieder Karl Bartner und Heinrich Portner an den Kanzler des seit einem Jahr im Amt befindlichen Regensburger Bischofs Pankraz von Sinzenhofen, um über die Friedhofsfrage zu diskutieren. Der Bischof stimmt in seiner Antwort dem vorgeschlagenen Treffen zu, das er für den 13. Januar im Augustinerkloster zu Regensburg ansetzt.1289 Es ist unwahrscheinlich, dass der Gräberstreit dort zu einer Lösung gelangt, denn der Konflikt geht weiter. 1541 finden die Religionsgespräche in Regensburg auf Initiative von Kaiser Karl V. statt. Beteiligt daran ist eine große Anzahl evangelischer sowie altgläubiger Theologen, wodurch die lutherische Bewegung in Regensburg den entscheidenden Schub erhält. Bereits 1540 wurde das Religionsgespräch kurzfristig von Speyer nach Hagenau verlegt, da in Speyer die Pest ausgebrochen war. Es scheint sich dabei um eine größere Pestwelle zu handeln, weshalb Kaiser Karl V. an die Regensburger Ratsherren vor Beginn der Gespräche einen Brief schickt. Darin fordert er den Rat auf, Vorsorgemaßnahmen gegen die Seuche zu ergreifen, da er beabsichtige, seinen Hof mit Frau und Kindern für einige Zeit in die Reichsstadt zu verlegen. Der Rat diskutiert über die Forderung und hat rasch eine mögliche Gefahrenzone für die Auslösung von Seuchen ausgemacht: die Friedhöfe in der Stadt. Für den Fall, dass die Seuche ausbricht, hat sich eine Gruppe Ratsverordneter alternative Begräbnisstätten vor den Toren der Stadt ausersehen und bitten den Bischof um Zustimmung zu dieser Wahl.1290

1286 Vgl. dazu u. a. Luria, Frontières (wie Anm. 867); Luebke, David M.: Customs of Confession. Managing Religious Diversity in Late Sixteenth- and Early Seventeenth-Century Westphalia. In: Diversity and Dissent. Negotiating Religious Difference in Central Europe, 1500–1800. Hrsg. von Howard Louthan [u. a.]. New York 2011 (Austrian and Habsburg Studies 11). S. 53–72. 1287 Dieser Prozess wird näher erläutert als Beispiel für die Funktionsweise der fraktalen Staatlichkeit des Alten Reichs bei religiösen Konflikten in Kap. III. 1.1. 1288 Vgl. Koslofsky, Konkurrierende Konzepte (wie Anm. 867). 1289 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1., S. 750. 1290 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1., S. 794 f.

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 3 Leben und Tod

Bischof Pankratz signalisiert in seiner Antwort allgemein Zustimmung, doch macht er zugleich deutlich, dass es sich dabei um eine Ausnahme in einer Sondersituation handle. Zwar habe er gute Gründe, die Verlegung der städtischen Beerdigungen in die Vorkirchen zu untersagen. Doch da die Ratsherren den Kaiser für ihre Argumentation anführen können, will Pankraz das Vorhaben dulden. Einschränkend fügt er jedoch hinzu, dass „damit weder unns noch dem stifft, auch yemants annders an unnser unnd seinen ober unnd gerechtigkait, auch herkomenlicher habennder begrebnus, was damit begebenn habenn.“1291 Der Bischof will ausschließen, dass mit der Erlaubnis, die Toten nicht wie zuvor auf dem Kirchhof, sondern außerhalb der Stadt zu begraben, irgendeine neue Tradition begründet oder ein Rechtsanspruch geschaffen wird, auf die sich die Protestanten dann berufen könnten. Es handelt sich – typisch für die Frühzeit der Reformation – um ein Provisorium, das aber gleichzeitig eines deutlich macht: Die Ratsherren bedienen sich offenbar der Gelegenheit, aus allgemein nachvollziehbaren Gründen die bereits zuvor angestrebte Verlegung der Friedhöfe mit dem Hintergedanken der lutherischen Trennung der Lebenden von den Toten und einer unproblematischen Bestattung der Gläubigen voranzutreiben. Kaiser und Pest entfalten zusammen eine argumentative Wucht, der Bischof Pankraz nicht standhalten kann. Wie in Leipzig 1536 wird auch hier die Seuchengefahr zu einem willkommenen Stellvertreterargument der Lutherischen. Der Bischof beruft sich dagegen auf alte Rechts- und Ritualtraditionen, die in der frühreformatorischen Konfliktlage als agonales Argument nicht mehr nur Konstanz, sondern auch Differenz zum Ausdruck bringen. Damit entstehen drei Konflikte um den Tod, durch die die Altgläubigen von den Evangelischen im Alten Reich in der Praxis getrennt und unterscheidbar werden. Erstens vor dem Tod: Die individuelle Kommunionspraxis an Ostern, die an sich schon eine eigene Auseinandersetzung provoziert, hat Folgewirken sogar über den Tod hinaus. Zweitens während des Sterbens: Die Formen der Sterbebegleitung und die Sakramente, die der Kranke empfängt bzw. empfangen will, demonstrieren dessen innere Glaubensüberzeugungen im entscheidenden letzten Moment des Lebens. Drittens nach dem Tod: Neben der Problematik des Beerdigungsorts stellt sich insbesondere die Frage nach den postmortalen Ritualen. Die Erwartungen und Anforderungen diesbezüglich streben zunehmend auseinander. *** Tauf- und Sterbebräuche sind in der Vormoderne wichtige Übergangsriten, die soziale Zugehörigkeiten implizieren und deutlich machen. Auseinandersetzungen um das Taufritual sind v. a. aus Ulm überliefert, wo die Altgläubigen sich einem gesellschaftlichen und obrigkeitlichen Veränderungsdruck hin zu einer zwinglischen Taufkultur

1291 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1., S. 799.



3.2 Bis dass der Tod euch scheidet: Sterberituale und Totenkult 

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ausgesetzt sehen. Die Kluft zwischen den beiden Praktiken ist hier besonders groß. Differenzen entstehen um die Artefakte, die zur Taufe verwendet werden sollen. Altgläubige Priester führen zeitweilig die herkömmlichen Rituale mehr oder weniger verdeckt durch. Vor allem Weihwasser und der Exorzismus erhalten zu ihren angestammten sakralen, auch kontroverse Bedeutungen zugeschrieben. Die altgläubigen Laien und Kleriker weichen mitunter sogar in benachbarte Gebiete aus oder passen sich in der Performanz an: Hebammen stehen in Verdacht, eine Nottaufe nach altem Brauch durchzuführen. Der Tod impliziert eine Reihe potenzieller Konfliktfelder, die sich situativ und je nach Region und politisch-gesellschaftlichem Kontext unterschiedlich entwickeln. Da ist zum einen die Frage nach der guten Art zu sterben. Darin unterscheiden sich die Regensburger Altgläubigen von den Lutherischen hinsichtlich der Kommunion sub una specie, wohingegen für die Ulmer Altgläubigen der Empfang der Hostie explizit als heilbringender wahrer Leib Christi den Unterschied ausmacht. Diese Distinktionen werden zu kontrovers aufgeladenen Merkmalen des Eigenen im sozialen Feld. Aus diesen letzten religiösen Handlungen ergeben sich Folgen für die Beerdigung. Mal sind es die Altgläubigen, die den Evangelischen nach aus ihrer Sicht devianten Praktiken die Beerdigung auf dem Kirchhof verweigern. Mal sind es die Protestanten, die sich im Geiste einer konsequenteren Trennung der Lebenden von den Toten neue, separierte Bestattungsorte vor den Toren der Städte suchen oder darum kämpfen. In diesem Fall beharren die Altgläubigen auf der Beerdigung auf dem Kirchhof und schließen die „Ketzer“ gleichzeitig davon aus. Außerdem erhalten manche Formen des traditionellen Totengedenkens zusätzlich distinktive Bedeutungen. In diesen Fällen sehen sich die Altgläubigen gleich in einer doppelten zeitlichen Einbindung. Erstens glauben sie sich ihren Vorfahren verbunden und ihren Kindern verpflichtet, die angeblich ewige religiöse Praxis weiterzugeben bzw. diese für das Seelenheil der Toten anzuwenden. Zweitens stellen sie das Senioritätsargument und die Bewährtheit des Alten in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Dabei müssen sie dieses Alte jedoch gleich doppelt weiterentwickeln, nämlich sowohl in der Bedeutung als auch mitunter in der konkreten rituellen und örtlichen Ausübung. Erneut zeigen sich hier die Situativität und die lokale sowie soziale Gebundenheit der Auseinandersetzungen, die nur manchmal zu Verdichtung und Verstetigung altgläubiger Praxis- und Deutungsgemeinschaften führen.

4 Maria und die Heiligen 4.1 Heilige: Kult und Materialität In der Flugschriftenliteratur werden die Heiligen durch ihre Mittler- und Fürbitterfunktion zu einem offensiv eingesetzten und kontrovers diskutierten Argument der Altgläubigen für ihre Religionskultur. Dies kommt etwa in Thomas Murners Flugschrift Vom großen lutherischen Narren zum Ausdruck. Darin kehrt der Landsknecht Bruder Veit aus Frankreich, wo er von Luther gehört hat, nach Deutschland zurück. Nach der Ankunft muss er aber feststellen, dass hinter Luthers Lehre und dem Bund, den der Reformator aufbaut, nur Lug und Trug stehen. Sein wichtigster Grund für die Ablehnung sowie für seinen Vorsatz, künftig den lutherischen Bund sogar zu bekämpfen, ist der Heiligenkult. Denn niemals würde ein frommer Mann die Figuren und Bilder aus den Kirchen werfen und die Anrufung der Heiligen in Notsituationen unterbinden.1292 Deckt sich diese Repräsentation aus der polemischen Literatur mit den tatsächlichen Erfahrungen und Haltungen der altgläubigen Protagonisten? Wie viel Zugehörigkeitsbewusstsein vermittelt und schafft der Streit um Maria und die Heiligen? Die Literatur zu den Heiligen in der Reformation ist Legion und kann an dieser Stelle nur schlaglichtartig mit einem Schwerpunkt auf den altgläubigen Kulturelementen überblickt werden. Denn bisher lag der Fokus auf den Veränderungen und neuen Bezügen der protestantischen Kulturen.1293 Hinzu kommt die überaus reiche Forschung zum Phänomen des Ikonoklasmus. Für die altgläubige Seite liegen neben den üblichen theologiegeschichtlichen Studien1294 Fallstudien zu bestimmten Ereignissen oder Orten vor.1295 Schließlich finden sich gewinnbringende Arbeiten zu präzisen Praktiken oder den Taufnamen.1296

1292 Murner, Vom lutherischen Narren (wie Anm. 351), S. 162–165. 1293 Vgl. zuletzt u. a. Heming, Protestants and the Saints (wie Anm. 893); Collins, David J.: Reforming Saints. Saint’s Lives and Their Authors in Germany, 1470–1530. Oxford 2008 (Oxford studies in historical theology); Maissen, Thomas: La persistance des patrons. La représentation de Zurich avant et après la Réforme. In: La ville à la Renaissance. Espaces, représentations, pouvoirs. Actes XXXIXe Colloque International d’Étude Humanistes. Hrsg. von Gérald Chaix. Paris 2008 (Le savoir de Mantice 16). S. 329–350. 1294 Hier v. a. Smolinsky, Reformation und Bildersturm (wie Anm. 868). 1295 Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 535). 1296 Rupprecht, Friederike (Hrsg.): Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen. Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Reformation. Berli 2005; Kühne, Bankrott und Zerstörung (wie Anm. 889); Tacke, Andreas (Hrsg.): „Ich armer sundiger mensch“: Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt 2); Diedrichs, Ereignis Heiltum (wie Anm. 893); Sargent, Naming Patterns (wie Anm. 142). DOI 10.1515/9783110492460-012



4.1 Heilige: Kult und Materialität 

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Für diesen Studienteil interessant sind abermals v. a. evangelische Städte und Territorien, die den Heiligenkult durch Verbote aus seiner spätmittelalterlichen Normalität und Funktion herauslösen und zu einer partikularen, in den Augen der protestantischen Obrigkeiten mitunter sogar gesellschaftlich destabilisierenden Praxis machen. Dies lässt sich am Beispiel der Reichsstadt Ulm erläutern. In deren Territorium kommt es vor der Reformation 1531 nur sehr vereinzelt zu Kontroversen um die Heiligen, denn ab Ende der 1520er-Jahre kann de facto jeder Gläubige in einem diesbezüglich für kurze Zeit unreglementierten Raum der Möglichkeiten selbst entscheiden, ob er zu den Heiligen betet oder nicht. Auseinandersetzungen entstehen, als die Ulmer Obrigkeit darangeht, die materialen Grundlagen für den Heiligenkult abzuschaffen und die Kulte zu verbieten, die sie als Abgötterei und Missbrauch beurteilt. In Geislingen fasst der altgläubige Pfarrer Georg Oßwald in seiner Pfingstmontagspredigt die in seiner Sicht wichtigsten Propria des alten Glaubens zusammen, wobei er besonders die kontroversen Aspekte herausstellt. Darunter fällt auch die Heiligenfürbitte.1297 Kurze Zeit später muss er wegen solcher Aussagen seine Stelle resignieren. Die neuen Richtlinien der Kirchenordnung tragen den Streit auch in die Gemeinden. In Geislingen, der Landstadt mit einer starken altgläubigen Mehrheit und dem nachwirkenden Einfluss des altgläubigen Pfarrers Oßwald, kommt es eines Abends im Jahr 1532 zu einem Streit zwischen zwei Bewohnern, dem altgläubigen Wolfgang Türk und dem evangelischen Leonhard Heckel. Heckel behauptet, Türks Frau habe über ihn in der Stadt schlecht gesprochen, weshalb er vor Wolfgang Türks Haus kommt und diesen für das Verhalten seiner Frau zur Rede stellen will. Türk beschimpft daraufhin Heckel wegen dessen lutherischen Glaubens. Vermutlich zeigt der evangelische Heckel seinen uneinsichtigen Kontrahenten daraufhin beim Vogt an. Am 30. Mai 1532 kommt es zum Verhör der Beteiligten, worüber wir durch das Protokoll unterrichtet sind.1298 In einem Schreiben an die Ulmer Herrschaftspfleger, denen er von dem Vorfall berichtet, skizziert der Vogt Rudolph von Westerstetten ein düsteres Bild von Wolfgang Türk. Dieser habe schon in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit den reformatorischen Autoritäten gehabt, stehe dem Wort Gottes feindselig gegenüber und sei der Stadt Geislingen eine Beschwernis. Der Vogt macht die Herrschaftspfleger in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Vorfall aufmerksam. Demnach gerät Türk in einem Wirtshaus in Rorgensteig, dem Nachbarort von Geislingen, mit einem Seldner der Herrschaft Ulm, genannt Stöcklin, in Konflikt. Der Bericht des Vogts ist stark gerafft und beschränkt sich auf die Aussage, „das er ime zu Rorgenstaig im wirtzhaus ain vergullten hayligen ab der kappen gezwagkt“.1299 Die Formulierung ist nicht ganz eindeutig, zumal die Syntax die handelnde Person nicht zweifelsfrei erkennen

1297 StAU, A [8984/I], Bl. 96v. 1298 StAU, A [5421], Bl. 73r–v. 1299 StAU, A [5421], Bl. 75r.

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 4 Maria und die Heiligen

lässt. Jedoch dürfte es sich um den Seldner Stöcklin handeln, der in Wolfgang Türks Mantel eine goldene Heiligenfigur findet. Stöcklin muss dies als Zeichen gewertet haben, dass Türk weiter zu den Heiligen betet und diese sogar, eventuell wegen deren Schutzfunktion, bei sich trägt. Deshalb zeigt er ihn bei Rudolph von Westerstetten an. Der Vogt lässt Türk festnehmen und wartet auf weitere Instruktionen der Herrschaftspfleger. Nirgendwo treten die zwinglischen Normen und die religiöse Resistenz eines Teils der Gläubigen im Ulmer Herrschaftsgebiet deutlicher zutage als in den Visitationsund Synodalprotokollen. Am 20. Februar 1532 findet eine Synode statt, bei der Geistliche, Amtleute und Gemeindevertreter zuerst gemeinsam und dann einzeln befragt werden. Skandalöses wird den Obrigkeiten aus Geislingen zugetragen. Der Vogt Rudolph von Westerstetten erklärt, dass die „Götzen“, d. h. die Bilder und Figuren der Heiligen und Marias, zwar entfernt seien. Allerdings hat dies nicht zu einem Wandel der Religionskultur im evangelischen Sinn geführt, sondern vielmehr Konflikte produziert und eine beeindruckende Anpassungsfähigkeit einer Gruppe von Gläubigen gefördert, über die in der offenen Befragung Folgendes berichtet wird: Haben kein Genügen, sondern suchen noch Stock und Stumpen, darauf die Götzen gestanden seien, knieen vor die nieder und beten die an, dadurch denn öffentlich der Rat verkleinert werde. Sie geben auch mit ihrer Götzerei dem jungen unehrbaren Volk auf dem Land ein bös Exempel, führen auch mit ihrer Handlung viel frommer Leut dahin, daß sie ob der Lehr und dem Wort Gottes nit ein eine kleine Scheu tragen. Bewegen auch die Armen auf dem Land bei dem Wein und sonst und trösten sie, diese neue Lehr werde in der Läng kein Bestand haben. Hoffen auf den Reichstag, da man das Papsttum restituieren und was in der Kirche zerbrochen und abgetan sei, wiederaufrichten werde.1300

Was hier beschrieben wird, ist nichts weniger als eine Gruppendynamik gegen die Maßnahmen der Ulmer Obrigkeit und deren Amtleute und Prädikanten in Geislingen. Da die Heiligenfiguren abgebaut wurden, wenden sich manche Gläubige zu den verwaisten Säulen und früheren Stellplätze und verehren diese. Womöglich haben die Torsi in der Wahrnehmung der Geislinger weiterhin eine sakrale Aufladung, so dass sie typische Devotionsgesten wie das Niederknien vor diesen durchführen. Diese Bedeutungsübertragung und die Flexibilität bezüglich der materialen Ziele der Verehrung bedeuten nicht zuletzt, dass die betreffenden Gläubigen in einen Gegensatz zur Ulmer Kirchenordnung geraten und den Rat brüskieren. Sie erhalten damit auch in der Beschreibung des Vogts einen klaren Platz im religiösen Feld auf Seiten der „Papstkirche“. Ihre Praxis drückt somit mehr aus als nur nur „Beharren“ oder volkstümlichen Aberglauben, wie in der teleologischen reformatorischen Geschichtsschreibung gerne angenommen wurde.

1300 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 54.



4.1 Heilige: Kult und Materialität 

 407

Diese Positionswahrnehmung wird noch weiter verfestigt, indem die betreffenden Gläubigen großen Einfluss auf die benachbarten Bewohner haben und diese von der evangelischen Kultur abzubringen versuchen. Mit der Verehrung der „Stock und Stumpen“ lösen sie offenbar eine Dynamik aus und bedienen ihre angebliche Vorbildfunktion für die Bewohner der umliegenden Dörfer, die den Heiligenkult weiter forcieren. Diese Devotion hat nun freilich eine kontroverse Bedeutung: Wer Heilige, deren Torsi oder ehemaligen Stellplätze anbetet, vollzieht eine eigentlich verbotene Handlung und stellt sich gegen die Anordnung des evangelischen Rats. Dies geschieht bei Festivitäten oder in Wirtshäusern beim Wein, also bei traditionellen und in der Reformationszeit von den Obrigkeiten besonders misstrauisch beobachteten Zusammenkünften des Gemeinen Mannes.1301 Es offenbart sich also eine effiziente und große Gruppe selbst-bewusster Altgläubigen, die sich als „alte“ Christen begriffen haben dürften, davon ausgehend, nur das Altbewährte weiter zu betreiben. Dies kommt auch in ihrer Hoffnung zum Ausdruck, dass der Reichstag die alte Ausstattung der Kirchen wiederherstellen werde. An eine Verfestigung der Revision der Sakralumgebung glauben sie nicht. Ganz ähnlich verorteten auch die altgläubigen Flugschriftenautoren die altgläubige Kultur: Diese werde Bestand haben und über das zeitlich begrenzte Phänomen der lutherischen Häresie triumphieren.1302 Doch im Ulmer Gebiet lässt die Wiederherstellung der alten Sakralausstattung dauerhaft auf sich warten, trotz vieler Rechtsstreitigkeiten und dauernder politischer Auseinandersetzungen um die Kirchengüter und -schätze.1303 Wie die weiteren Visitations- und Synodalprotokolle zeigen, verfestigt sich deshalb die an die neuen Gegebenheiten angepasste Heiligenpraxis, die von den evangelischen Religionsherren als „alter“ Brauch oder „papistisches“ Wesen gebrandmarkt wird. So etwa bei der Synode vom Juni 1539. Der Befund zu Geislingen ist außergewöhnlich lang, was die Tiefe und Dichte der Konflikte und devianten Praktiken verdeutlicht. Die Prädikanten klagen: „So laufen auch sonst die Leut für und für der Götzerei nach, nämlich zu dem Kruzifix am Berg und an andere Ort, da Bildsäulen gestanden, beten dasselb alles an und lassen auch zu Eybach noch Wachs und Palmen weihen.“1304 Die fortdauernde Anbetung der früheren Standorte oder der Sockel weggebrachter Heiligenfiguren wird von den Ulmer Religionsverordneten in Zusammenhang mit der verbotenen Weihepraxis in der Enklave Eybach gebracht. Damit wird deutlich, dass es sich für die zwinglische Obrigkeit um ein Gesamtphänomen handelt, das auf einen Ursprung zurückzufüh-

1301 Vgl. u. a. Kümin, Beat: Wirtshaus und Gemeinde. Politisches Profil einer kommunalen Grundinstitution im alten Europa. In: Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Susanne Rau u. Gerd Schwerhoff. Köln/Weimar/Wien 2004 (Norm und Struktur 21). S. 75–98. 1302 Vgl. dazu auch Kap. I. 3.2.1. 1303 Vgl. Trostel, Kirchengut im Ulmer Territorium (wie Anm. 178). Allgemeiner Ocker, Church Robbers (wie Anmm. 923). 1304 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 138.

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 4 Maria und die Heiligen

ren ist: Das mutmaßliche Festhalten am Alten, das nun allerdings als unevangelische Abweichung gilt.1305 Nach Ostwestfalen: Aus der Grafschaft Lippe ist ein Fall von Predigt- und Gottesdienststörung im Jahr 1537 überliefert, der mit einer Auseinandersetzung zwischen einer lutherischen Frau und einem altgläubigen Franziskaner um die Heiligenfürbitte beginnt und schließlich zur Verhaftung zweier Frauen führt. Deren Freunde und Verwandte wenden sich in einer Supplik an den lutherischen Landgrafen von Hessen. Die politischen Folgen des Vorfalls sowie die ebenfalls gestörte Totenandacht sind an anderer Stelle Gegenstand der Analyse.1306 Hier soll es um den kulturellen Konflikt hinsichtlich des Heiligenkults gehen. Die Supplikanten legen den Vorfall zwischen dem Franziskaner, der offenbar das Kirchspiel Heiligenkirchen versieht, und einer der beiden inhaftierten Frauen aus ihrer Sicht dar. Sie beschreiben, wathmaten der observanter monche, eyner uth Lemgo, im dorpe tor hilligen kerckenn genompt, in der herschap Lippe, up sunthe Katharina dath ungeferlich geprediget und met sinen logen reden de armen lude verfort und under anderen… dat de hillige junckfrow Catherina unnse vorsprekersche sy heysschen Godt unnd uns. Welcher eyn vrouwesperson, uns verwandt, gehort und uth gotlichem yver up sulche verforische lere dem monche antwordt gegeven unnd gesprocken: War dat geschrivenn sta.1307

Nach einem weiteren Zwischenruf bei der Totenfürbitte zeigt der Geistliche die Frau bei den Befehlshabern in Lippe an, die dann die Festnahmen durchführen lassen. Die Gottesdienststörung im Kirchspiel Heiligenkirchen, drei Kilometer südlich von Detmold gelegen, offenbart zwei divergierende Haltungen bezüglich der Fähigkeit von Heiligen, Fürsprache bei Gott für die bittenden Menschen einzulegen. Der Franziskaner lobt den Heiligenkult vor der Gemeinde am Fest der heiligen Katharina (25. November), die er gleich als Beispiel heranzieht. Die Supplikanten beurteilen diese Predigt, sicherlich in Übereinstimmung mit der Zwischenruferin, als Verführung und Lügenrede. Die Frau fordert den Pfarrer auf, seine Aussagen aus der Schrift zu belegen. Die Heiligenverehrung, wie sie der Franziskaner offensiv auf der Kanzel fordert, stellt sie also bezüglich der biblischen Grundlage infrage. Der Priester hingegen stellt die Sinnhaftigkeit und Effektivität der Fürbitten gezielt heraus. In den Territorien mit altgläubigen Mehrheiten und einer antilutherischen Religionspolitik der Obrigkeiten sind Zwischenfälle hinsichtlich der Heiligenverehrung seltener. Dafür zirkulieren in diesen Gegenden Geschichten von außerhalb, die den Gläubigen deutlich machen, dass die Verehrung der Heiligen keinesfalls mehr schlicht Normalität bedeutet, sondern sich zu einer umstrittenen Partikularkultur in

1305 Im Entscheid der Religionsverordneten heißt es, dass man über Geldstrafen „auf die alte Götzerei“ nachdenke. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 140. 1306 Vgl. zu diesem Fall auch Kap. II. 3.2. und Kap. III. 1.3. 1307 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 4r–v.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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der westlichen Christenheit entwickelt. Der Augustiner-Prior des Konvents Rebdorf, Kilian Leib, hält in seinen tagebuchartigen Notizen ein angebliches Wunder aus der Nähe von Mainz fest, über das er von seinem Bischof im November 1524 brieflich unterrichtet wurde: „Quidam civis Lutherana peste venenoque infectus imagini divi Francisci caput absciderat. Cuius uxor tunc gravida paulo post enixa et sobolem. Infantis caput, cum lotum esset et patri deferretur, a corpusculo decidit, ut nunquam adhaesisse putaretur.“1308 Für das Abschlagen des Kopfes einer Franziskusfigur durch einen lutherischen Untertan erfolgt die Bestrafung nicht etwa durch eine obrigkeitliche Instanz, sondern in Form eines göttlichen Wunderzeichens. Das Kopfabhacken in der Art einer Hinrichtung ist auch aus den französischen Religionskriegen bekannt. Laut Olivier Christin verüben Hugenotten an Heiligenstatuen und -bildern gängige Hinrichtungsmethoden und Ehrenstrafen. Zudem werden durch derartige Ikonoklasmen die heiligen Figuren und die Interventionsmacht derer, die sie darstellen, auf die Probe gestellt. Zugleich stellen sie einen Bruch mit der eigenen, abgöttischen Vergangenheit sowie mit den Altgläubigen dar.1309 Doch in diesem Fall bleibt Angriff auf den sakralen Gegenstand nicht ungesühnt. Es scheint beinahe so, als ob sich der profanierte Heilige wehrte und seine eigene Hinrichtung am Kind des Täters nachvollzieht. Das Rache-Wunder von Mainz egalisiert also nicht nur die Tat, sondern soll auch zur Resakralisierung beitragen: Das Bild bzw. der, den es darstellte, hat gezeigt, dass es als Kontakt- und Interaktionspunkt mit der Transzendenz dienen kann und Einfluss auf irdisches Geschehen hat. Die Effizienz der Bilder und der diesen entgegengebrachten Ehrerweisungen sollen durch das Wunder wiederhergestellt, untermauert und verstärkt werden. Mit ähnlichen kulturellen Funktionen ausgestattet ist im Spätmittelalter auch Maria. Deren Person und Kult, um die es vorerst mehr gehen soll als um die Figuren und Bilder in ihrer materialen Dimension, erlangen in der frühen Reformationszeit eine große Bedeutung – besonders in der französischen Reformation.

4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? Eine der wichtigsten Studien über die altgläubige Marienkultur unter den Bedingungen der Reformation hat kürzlich Bridget Heal vorgelegt. Die Autorin unternimmt in ihrer Monographie eine vergleichende Studie u. a. zweier Städte aus dem Alten Reich, deren Religionsgeschichte denkbar unterschiedlich ist: Augsburg und Köln. Bei der Entstehung der katholischen Glaubensgruppen vor Ort lassen sich deutliche Unterschiede bezüglich des Jungfrauenkults herausarbeiten. In Augsburg erfolgt in Zeiten

1308 Schlecht, Briefwechsel und Diarien (wie Anm. 179), S. 95. 1309 Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 123–138; Vgl. auch Burg, Palmesel (wie Anm. 907).

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 4 Maria und die Heiligen

der evangelischen Bewegung und der oberdeutschen Reformation eine tabula-rasaPolitik, welche die materialen Grundlagen der mittelalterlichen Marienfrömmigkeit  – Statuen, Bilder und Devotionsartikel  – weitgehend zerstört oder entfernt. In der bikonfessionellen Stadt der Gegenreformation machen die Katholiken aus Maria dann eine offensive und gezielt antiprotestantisch aufgeladene Symbolfigur ihrer Identität, die mit klar distinktiven Zielsetzungen zum Einsatz kommt. In Köln hingegen dauern spätmittelalterliche Bräuche, Prozessionen und Bruderschaften fort und werden nur leicht angepasst. Der populäre Kult und dessen vielfach aus dem Spätmittelalter tradierte Figuren erhalten zwar auch eine distinktive Schärfung, die aber weit hinter den Augsburger Verhältnissen zurücksteht.1310 Finden sich derartige geographisch und ereignisgeschichtlich unterschiedliche Marienverehrungen auch in den hier analysierten Fallgruppen?

4.2.1 Ulm und Ostbayern Dass der Kult um die Gottesmutter für Streit sorgt, wenn er offensiv von den Altgläubigen vorgetragen wird, zeigt ein Ereignis aus der Reichsstadt Ulm im Jahr 1524. In diesem Jahr wird der erste evangelische Prädikant in der Stadt eingesetzt, doch die reformatorische Bewegung ist noch weitgehend lutherisch geprägt. Da wird ein Pfarrer bei seiner Predigt auf der Kanzel von evangelischen Bürgern gestört, körperlich angegriffen und verfolgt. Auslöser war seine provokative Bemerkung zum Marienkult. Im anschließenden Verhör gibt Pfarrer Melchior Gienger folgenden Tathergang zu Protokoll: Nun am Samstag verganngen, als er auf den bredigstull ganngen unnd erstlich ein bitt an das volck gethann, die mutter Gots mit einem Ave Maria zubegriessen, indem were das volck aufwegig worden unnd durch einander geschrihen. Auff das er das volck gepetten, stil zuschweigenn, er wel inen nur das clar, pur, lawter wort Gots bredigen. Aber solchs het nit megen helffen, sonder das geschray were so groß worden, das man in nit het mogen horenn. Auf das er ab dem bredigerstul ganngen, dazumal kemenn ir etliche, aber er kenne kainen, umbstannden unnd in hin unnd hergestossen, auch etlich in der sancristein an der wer gassen, unnd im viel besser smachlich wort geben.1311

Gienger hatte erst seit Kurzem eine Prädikatur im Münster. Er steigt auf die Kanzel und will mit der Predigt beginnen, doch zuvor fordert er die Zuhörer auf, ein Ave Maria zu beten. Ob es sich hier um einen älteren Brauch oder um eine spontane Provokation handelt, ist unklar. Auf Letzteres könnte die Reaktion des Volks hindeuten, das mit Zwischenrufen und Unruhe im Kirchenschiff seiner Empörung Ausdruck verleiht.

1310 Heal, Cult of the Virgin (wie Anm. 890). Vgl. ferner Heal, Religious Symbols (wie Anm. 890). 1311 StAU, A [5435], Bl. 19r.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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Gienger will daraufhin die Gemeinde beschwichtigen – offenbar hat er mit einer so heftigen Reaktion nicht gerechnet. Um die Lage zu beruhigen, eignet er sich Versatzstücke der Rhetorik evangelischer Predigten an und sagt, dass er nur das klare und lautere Wort Gottes predigen wolle. Doch die Strategie verfängt nicht. Nach der provokativen Eröffnung durch das Mariengebet ist das Bild, das die Zwischenrufer von ihrem Prediger haben, so fest geprägt, dass der Verweis auf das Evangelium zu nur noch mehr Tumult führt. Gienger muss die Kanzel verlassen und wird, unten angekommen, von den Umstehenden herumgestoßen und bis in die Sakristei verfolgt und beleidigt. Das Ave Maria hat demnach als Verherrlichungs- und Fürbittengebet zur Muttergottes eine enorme Signalwirkung, die unterschiedliche Glaubenshaltungen sichtbar macht und rasch Fronten aufbaut, die in Gewalt münden können. Das wohl mehrheitlich evangelische Publikum in der Kirche lehnt die Anrufung ab, die ja auch einen Deutungsrahmen für die folgende Predigt und eine Art inhaltlichen Vorgriff darstellt. Der Kaplan Veit Müller bestätigt im Großen und Ganzen die Vorgänge in der Kirche, wie sie Gienger beschrieben hat. In dem Moment, in dem der Prediger die Gläubigen zum Mariengebet auffordert, beginnen demnach das Geschrei und der Tumult. Erneut werden in dieser Aussage die bezüglich der Gottesmutter schon recht festen, distinktiven Wissensordnungen deutlich, mit denen der Priester und die Gläubigen in die Kirche kommen und die zu Beginn der Predigt in der Auseinandersetzung weiter verstärkt werden. Für Gienger handelt es sich um eine notwendige und hilfreiche Fürbitte, die er womöglich in Anbetracht der anwachsenden evangelischen Bewegung in Ulm besonders herausstellt. Die Tumulte hingegen will Kaplan Müller nicht gesehen haben, da er zu diesem Zeitpunkt in seinem Gemach gewesen sei. Auch Veit Müller berichtet vom Spott des Volks. Er habe von einem Wirt gehört, dass der Prädikant unter dem Volk Aufruhr schüren wollte.1312 Damit wird die Hypothese gestützt, dass Gienger sehr genau weiß was er tut, als er die Gemeinde auffordert, das Avia Maria zu beten. Es dürfte sich um eine bewusste und vom exponierten Platz der Kanzel aus besonders eindrückliche und zugleich angreifbare Herausforderung der Evangelischen unter den Zuhörern handeln. Gienger will die Distinktion und forciert als Altgläubiger bewusst den Unterschied entlang der reiz- und signalbehafteten Marienfrömmigkeit. Ein weiterer Priester, Jörg Eberlin, ist Zeuge des Vorfalls geworden und wird darüber befragt. Er bestätigt größtenteils die Schilderungen des Kaplans und des Predigers, der sich laut Eberlin von einer Frau mit groben Worten beschimpfen lassen musste. Eberlin fügt hinzu, dass junge Männer auf die Kanzel gestiegen seien und den Pfarrer nach unten gedrängt hätten, wo er dann herumgestoßen und in die Sakristei gedrängt wird. Von dort aus gelangt Gienger in die Messmerstube.1313 Zudem werden

1312 StAU, A [5435], Bl. 19v–20r. 1313 StAU, A [5435], Bl. 20r–v.

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 4 Maria und die Heiligen

der Messmer und dessen Frau befragt. Der Messmer bestätigt die bisherigen Schilderungen des Tathergangs. Seine Frau war während der Vorfälle in ihrer Stube, in die sich Gienger flüchtet. Vor der Stube habe sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die Beschimpfungen ausstößt und spottet. Schließlich wird ein weiterer Laie, Wolfgang Neukramer, befragt. Er sei erst in die Kirche gekommen, als die Unruhe bereits in vollem Gang war. Außerdem sagt er aus, dass mit dem Beginn des Tumults und dem faktischen Ende der Predigt ein Teil des Volks die Kirche verlassen habe.1314 Dies kann Ausdruck von Desinteresse oder eine Flucht vor den eskalierenden Übergriffen sein, mit denen diese Gläubigen nichts zu tun haben wollen. Demzufolge wäre das Verlassen des Münsters, in dem sich der Zorn der Evangelischen Bahn bricht, auch als Distanzierung von den Geschehnissen zu werten. Im Ulmer Landgebiet scheint die Lage währenddessen weniger spannungsgeladen zu sein. Konkrete Streitfälle sind noch selten. In Geislingen behandelt der altgläubige Pfarrer Georg Oßwald in seinen Predigten vom Frühsommer 1527 auch den Marienkult. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass Oßwald das ganze Ensemble der aus seiner Perspektive kontroversen Themen zur Sprache bringt. Da sich seine Predigten an eine vornehmlich altgläubige Zuhörerschaft sowie gegen die evangelische Predigt in Geislingen richten, dürften die angesprochenen Inhalte vor Ort wichtige Themen gewesen sein. So geht der Geislinger Pfarrer am fünften Sonntag nach Ostern auf die Gebete ein, welche die Evangelischen bezüglich der Wirkung sowie der nötigen Häufigkeit angreifen würden. Die Mahnungen beziehen sich insbesondere auf das Tagzeitengebet. Oßwald unterstreicht, dass die Gläubigen unentwegt beten müssten, vor allem in Anbetracht der zeitgenössischen Häresien. Er stellt das Ave Maria heraus, da dieses besonders bei Anfechtungen durch den Teufel nützlich sei.1315 In den nachreformatorischen Visitationsberichten ist häufig von Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden, zwischen Gemeinde und Prädikanten, oder von Mahnungen der Visitatoren bezüglich der „Götzen“ und „Abgötterei“ in den Kirchen die Rede. Tatsächlich sind damit auch die materialen Grundlagen des Marienkults, d. h. Figuren oder Bilder gemeint. Einzelne Analysen derartiger Aussagen fallen indes schwer, da nicht klar ist, um welche Art von „Götzen“ es sich handelt. Schließlich könnten sich hinter dem Begriff auch Heiligenfiguren verbergen. Die materialen Grundlagen des Marienkults werden später explizit untersucht.1316 Während aus Ostwestfalen, zumal aus den ländlichen und kleinstädtischen Gebieten, keine handfesten Auseinandersetzungen speziell um die Marienverehrung überliefert sind, ist im Herzogtum Bayern, aber auch in Regensburg während der 1530er-Jahre die Kristallisation von Differenz und Zugehörigkeit um den Jungfrauenkult durchaus häufiger. Die Bedeutung Marias für das altgläubige Selbstbewusstsein

1314 StAU, A [5434], Bl. 20v–21v. 1315 StAU, A [5421], Bl. 65r. 1316 Vgl. dazu speziell Kap. III. 2.3.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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lässt sich etwa aus ihrer prominenten Platzierung in den Religionsmandaten der Bayernherzöge ablesen. Diese Quellen dienten bereits zu einer Erstbewertung der normativen Stellung der Kommunions-, Fasten- und Beichtrituale für die altgläubige Kultur. In diesen Mandaten werden nur die wichtigsten Streitpunkte explizit aufgeführt, die übrigen aber unter „alte Ordnungen“ oder „christliche Bräuche“ subsummiert. Taucht eine Praktik namentlich auf, kann damit auf deren distinktive Bedeutung für die altgläubigen Obrigkeiten geschlossen werden. Bereits im Religionsmandat von 1522 zählen die Herzöge unter die explizit genannten Bräuche und Lehren, die Luther angreife, auch die „Eer erpiettung vnd anrüeffen, so bißher der můeter gotes, Vnnser aller gůetigisten fürpitterin, Auch anndern lieben heiligen, erzaigt vnd cristenlich gepraucht worden sein.“1317 Im Mandat von 1524 werden eingangs die wichtigsten Irrtümer aufgeführt, mit denen Glaube und Kirche angegriffen werden. Besonders beklagt wird die „enntziehung der eere vnd fürpittung der hochloblichen gepererin gottes, vnnsers seligmachers Hiesu Christi, der vnuermailigten junckfrawen Marie, vnd aller heiligen“.1318 Das dritte bayerische Religionsmandat aus dem Jahr 1531 orientiert sich stark am antilutherischen Reichsabschied vom Vorjahr. Unter den Punkten, welche die religiöse Praxis und den Glauben betreffen, befindet sich auch das Gebot des Marienkults. Anders als noch in der ersten Hälfte der 1520er-Jahre stehen die Verordnungen auf der Reichsebene nun allerdings unter dem Eindruck der Ikonoklasmen und insbesondere der „Abtuung“ von Heiligen- und Marienbildern aus den Kirchen in evangelischen Städten und Territorien. Deshalb konzentriert sich das Mandat v. a. auf die materiale Präsenz der Marien- und Heiligendarstellungen.1319 Darüber hinaus zeigt eine Reihe von Auseinandersetzungen aus der religiösen Praxis, wie sich unterschiedliche Zugehörigkeiten um Marienkulte konstruieren. Für eine kursorische Analyse beginne ich nochmals in Altötting im Jahr 1523. Der Rentmeister von Burghausen, in dessen Amtsbereich der berühmte Marien-Wallfahrtsort liegt, berichtet Herzog Wilhelm in einem Brief vom 21. August 1523 über eine Reihe von Devianzen, auf die er während seines Aufenthalts in Altötting gestoßen ist. Dort werden dem Rentmeister nicht nur Fastenbrecher und Disputationen im Ort angezeigt,1320 sondern auch ein Mann, der eine Seelmesse gestört habe und zudem Marias Mittler- und Fürbitterfunktion öffentlich bezweifelt. In dem Bericht des Rentmeisters heißt es dazu: „Allda ist ain burger von Oting anzaigt worden, wie er die mueter Gotz in ainem offenn failpad unnd sonnst vor den leuten gering geacht unnd mit den worten ausgeschrien: sy mueg niemannt nichts erpitn noch hellfen. Die zaichen, so zu Oting beschehen, hab sy nit than. Es hab der deuffel than.“1321

1317 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 57. 1318 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 71. 1319 Kopfmann, Religionsmandate des Herzogtums (wie Anm. 155), S. 116 f. 1320 Vgl. dazu Kap. II. 2.3. 1321 HStAM, Kurbayern, Äußeres Archiv, 4262, Bl. 5r.

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 4 Maria und die Heiligen

Zusammen mit der Messstörung führen diese Reden zur Verhaftung, zum Verhör und zur längeren Internierung des mutmaßlichen Lutherischen. Dieser äußert seine „häretischen“ Meinungen u. a. im öffentlichen Bad. Dort macht sich der unbekannte Evangelische daran, die Mittlerfunktion Marias und deren Wundertätigkeit zu verneinen. Dabei kommt es womöglich zu Widerworten: Mitbadende verweisen – ähnlich übrigens wie die altgläubigen Autoren in ihren Flugschriften – auf die Wunder und Erfolge der Anrufungen, wie sie für Altötting aus dem Spätmittelalter mehrfach überliefert sind. So kann sich der Unbekannte nicht darauf beschränken, die außergewöhnlichen Ereignisse, die einige als Wunder preisen, einfach in Abrede zu stellen. Er zweifelt nicht an der historischen Faktizität der Wunder, sondern an deren Ursache. In klassisch lutherischer Argumentationsweise behauptet er, die Zeichen habe der Teufel getan, um die Gläubigen in die Irre zu führen.1322 In Ausnahmefällen kommt es in Bayern sogar zu Hinrichtungen mutmaßlicher Lutherischer wegen Marienlästerungen. Einen solchen Fall hält der für gewöhnlich gut unterrichtete Augustinerprior Kilian Leib aus Rebdorf in seinem Diarium fest: „Mense Julio quidam artis pistoriae ob temeritatem sermonum, quos Lutheranorum more de gloriosa beataque Dei genitrice evomuerat, Monachii capite plexus est iussu Wilhelmi ducis Bavarorum, qui Lutheranam mire execrabatur haeresim et insaniam.“1323 Der Bäcker hat laut Kilian Leib „nach der Sitte der Lutheraner“ die Gottesmutter gelästert. Dies dürfte eine Kritik an der Interzession und der Fürbitte implizieren. Dafür wird der Bäcker in München enthauptet. Weitere Details zum Hergang der Exekution berichtet Kilian Leib nicht. Jedoch ist die Todesstrafe auf Marienlästerungen in der religiösen Rechtsordnung im Südosten des Reichs durchaus weit verbreitet und untermauert die vergleichsweise große Bedeutung der Jungfrau in der religiösen Auseinandersetzung in dieser Region. Ein Blick nach Österreich zeigt, dass dort in einem Mandat König Ferdinands aus dem Jahr 1527 auf Marienlästerungen die Todesstrafe steht, wohingegen andere Verstöße nur Gefängnis oder Exil nach sich ziehen.1324 In Frankreich ist derlei keine Ausnahme. In Rouen und mehr noch in Paris wird die Jungfrau zu einem der wichtigsten Symbole altgläubiger Zugehörigkeit und zu einem zentralen Kristallisationsmoment der Unterschiede während der 1520er-Jahre.

1322 Auf diese Weise argumentierten die Reformatoren, darunter Bucer, gegen die Wallfahrt und die Verehrung der Schönen Maria in Regensburg. Vgl. Creasman, Virgin Mary (wie Anm. 105), S. 976–978. 1323 Schlecht, Briefwechsel und Diarien (wie Anm. 179), S. 94. 1324 Zum Fall des Münchner Bäckers und dem Mandat vgl. Riezler, Sigmund: Geschichte Baierns. Bd. 4, Von 1508 bis 1597. Gotha 1899 (Geschichte der europäischen Staaten). S. 109 f.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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4.2.2 Rouen Spätestens 1528 werden in der Stadt Rouen die Präsenz und die Taten von Evangelischen oder gar „Lutheranhängern“ vor aller Augen in der Person von Pierre Bart sichtbar. Dieser begeht eine öffentliche Marienlästerung, die für ihn brutale Konsequenzen haben sollte: Er wird hingerichtet. Im Rahmen der Exekution bietet das Domkapitel eine theatralische Inszenierung der Marienfrömmigkeit, die bisher ihresgleichen sucht. Dadurch wird die Bedeutung der Gottesmutter als Differenzmerkmal nicht nur durch Repression, wie etwa zeitgleich in Bayern, sondern darüber hinaus durch eine gesteigerte Form des Aktivismus, der sakralen Reparation und der Aktualisierung traditioneller Bestandteile der Marienfrömmigkeit weiterentwickelt. Nachdem Pierre Bart aus der Haft des Klosters l’Isle-Dieu in die Gefängnisse des Erzbischofs von Rouen gebracht worden war,1325 wird ihm dort der Prozess gemacht.1326 In einer Sitzung des Domkapitels vom 20. Juli 1528 berichtet der Domdekan Näheres über den Fall und dessen Fortgang in der Rechtsprechung: „Eadie dictus dominus decanus retulit de quoddam blaphematore seu heretico qui propter gravitatem blaphematorum per eum de gloriosa virgine prolatarum et conclusionum erroneatum quam publicavit et sustinuit fuit condempnatus ad incendium.“1327 Die Tat ist eindeutig, die Bewertung ist aber noch ein wenig unsicher. Über die Person Barts ist wenig bekannt. Offenbar handelt es sich um einen Laien, denn von einer Degradierung, die bei einem Priester nötig gewesen wäre, ist im Vorfeld der Hinrichtung nichts bekannt. Pierre Bart hat laut dem Domdekan schwer gegen die Gottesmutter blasphemiert und öffentlich Irrlehren über die sie verbreitet. Bei der Wortwahl im Protokoll des Kapitels ist davon auszugehen, dass Bart mündlich seine Haltung kundtat (publicare) und gegen Widerspruch aufrechterhielt (sustinere). Auf jeden Fall muss er damit in der oberen Normandie so viel Aufsehen und Ablehnung unter dem bezüglich des Marienkults andersdenkenden Bevölkerungsteil hervorgerufen haben, dass er vom Abt des Zisterzienserklosters l’Isle-Dieu festgenommen wird. Die Marienfrömmigkeit deutet sich als populäres Differenzthema an. Pierre Bart wird auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Doch anders als im Alten Reich verfügen wir für Rouen über Quellen, die auf eine vergleichsweise ausgedehnte und entwickelte rituelle Gegenreaktion der Altgläubigen oder zumindest der kirchlichen Obrigkeit verweisen. Im Zusammenhang mit der Exekution berät das Domkapitel auch über die vom Parlament angeregte Reparationsprozession sowie über eine Predigt beim Konvent der Karmeliten, in der das Volk vor Irrtümern und der Lektüre

1325 Vgl. ADSM, G 113, s. p. 1326 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 13, benennt das Parlament von Rouen als Intanz, die das Urteil fällt. Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), weiß davon hingegen nichts. 1327 ADSM, G 2153, Bl. 114v.

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 4 Maria und die Heiligen

heiliger Schriften in der Vernakularsprache gewarnt werden soll. Die Domherren setzen die besagte Prozession auf den 23. Juli fest. Tags zuvor kommt das Kapitel nochmals zu Beratungen über den konkreten Verlauf der Prozession zusammen. Es handelt sich dabei um den ersten, aber nicht den einzigen Umgang im Kontext der „lutherischen“ Häresie in der normannischen Hauptstadt. Diese Prozessionen werden später Gegenstand eingehender Analysen sein.1328 Doch schon an dieser Stelle unterziehe ich einige Aspekte des Umgangs vom 23. Juli 1528 einer genaueren Untersuchung, da er hinsichtlich der aktualisierten Marienkultur der Altgläubigen in Rouen äußerst aufschlussreich ist. Der Umgang wird nur vom Domklerus gestaltet, was in bisherigen Analysen vernachlässigt wurde, aber von großer Bedeutung für die Aussagekraft des Rituals ist. Wie die Domherren betonen, wollen sie die Prozession zu Ehren und aus Ehrfurcht gegenüber der Jungfrau abhalten. Dies ist dem gesamten Ritual, wie es in den Beratungen vom 22. Juli entworfen wird, anzumerken. Nach der Profanierung und möglichen Diskussionen um den Kult innerhalb der Stadt, soll nun die Wiedergutmachung gegenüber Gott und der Jungfrau betrieben werden. Darüber hinaus wollen die Domherren mit ihrer Prozession ein offensives Zeichen setzen, die Marienfrömmigkeit öffentlich darstellen und als obrigkeitliche Norm für die gesamte Gemeinde bekräftigen. Die Prozession beginnt nach der Hauptmesse des Domkapitels, die diesmal in die Marienkapelle verlegt wird, den zentralen Ort der Marienverehrung in der Kathedrale. Dort findet für gewöhnlich eine tägliche Marienmesse statt, die nun in den Chor verlegt wird. Der Domklerus feiert sie in festlichem Ornat und begleitet von Orgelmusik. Der Gottesdienst wird durch diese örtlichen Verschiebungen und die besondere Inszenierung aus der Masse der 90 Messen herausgehoben, die im 15.  Jahrhundert täglich in der Kathedrale gesungen wurden.1329 All dies geschieht, laut dem Protokoll des Domkapitels „ob reverenciam gloriose virginis Marie, in cuius honorem dicte processiones debent fieri.“1330 Auch bei der Prozession stehen die Reparation der Marienlästerung und die Bekräftigung des Jungfrauenkults im Zentrum. Im Verlauf des Umgangs singen die Domherren das Antiphon Gaude Maria Virgo. Einen Zwischenhalt legen sie vor der Residenz des Erzbischofs ein, bei der sich eine Marienabbildung befindet. Bei der Prozession wird auch ein Reliquiar mit einer der kostbarsten Reliquie der Kathedrale mitgeführt, dem Schuh der Gottesmutter. Dieser kommt im liturgischen Jahr selten zum Einsatz, außer an Marienfesten und deren Oktaven, ansonsten nur zu außergewöhnlichen Gelegenheiten wie eben der Prozession von 1528.1331 Damit wird deren

1328 Vgl. Kap. III. 3.1. 1329 Zur Messzahl und dem Marienkult in der Kathedrale von Rouen vgl. Tabbagh, Espaces (wie Anm. 265), S. 161, 168. 1330 ADSM, G 2153, Bl. 115v. 1331 Vgl. Tabbagh, Espaces (wie Anm. 265), S. 162–164.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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Bedeutung unterstrichen und die Marienreliquie in einen neuen kulturellen Kontext gesetzt: Sie soll zur Affirmation und Verteidigung gegen die ketzerischen Angriffe dienen. Bei der zweiten Beratung legt der Domklerus fest, dass das Reliquiar vor dem Marienbild am erzbischöflichen Palais abgestellt und nach Beendigung des Antiphons mit besonderen Gebeten bedacht werden soll.1332 Auch im Dezember 1534 lassen die Domherren die Schuhreliquie noch einmal für eine Prozession herausholen. Es handelt sich um einen Umgang, der jedoch  – wohl auch angesichts der Jahreszeit – auf den Innenraum der Kathedrale beschränkt bleibt. Grund für die Prozession ist allgemein die Ausbreitung der Häresie an verschiedenen Orten der Provinz, so dass es keinen konkreten Vorfall gibt, auf den bei der rituellen Gestaltung näher eingegangen werden müsste. Als Datum wird der 1. Dezember festgelegt. Die in ihrem Ablauf nicht näher erläuterte Prozession soll wiederum mit einer Predigt abgeschlossen werden, in der das Volk ermahnt wird „ad fidem catholicam et tollendum errores.“ Bei dieser Prozession kommt auch die besagte Reliquie zum Einsatz, jedoch finden sich in den Protokollen diesbezüglich keine weiteren Details.1333 Die eher beiläufige Erwähnung Marias macht deutlich, dass sie für das Domkapitel zwar auch Mitte der 1530er-Jahre eine starke Schutz- und Identifikationsrolle gegen die Bedrängnisse der neuen „Ketzerei“ darstellt und diese den beiwohnenden Laien repräsentieren soll. Jedoch ist die Inszenierung bescheidener als noch 1528. Dies hängt mit der Ausweitung des Differenzierungsspektrums in jenen Jahren im Hinblick auf die Eucharistie zusammen. In Paris setzt der nachweisbare Konflikt um die Gottesmutter ein wenig früher ein als in Rouen. Doch auch in der Hauptstadt des Königreichs kommt es im Sommer 1528 zu einem protestantischen Angriff auf den Marienkult mit ebenso beeindruckenden und im Alten Reich in dieser Form unbekannten rituellen Reaktionen der Altgläubigen.

4.2.3 Paris Das erste Todesurteil gegen einen mutmaßlich lutherischen Ketzer wird in Paris am 8. August 1523 gegen den aus der Normandie stammenden Augustinerbruder Jean Vallière vollstreckt. Die Hinrichtungsrituale in diesem und anderen Fällen wurden bereits besprochen, an dieser Stelle geht es v. a. um die Gründe der Verurteilung.1334 Diese fasst der anonyme Pariser Chronist, der bourgeois inconnu, folgendermaßen zusammen: „Cette exécution faite, parce qu’il disait que Notre Seigneur Jésus-Christ

1332 Zum Itinerar und den Bestimmungen über den Ablauf vgl. ADSM, G 2153, Bl. 115v. 1333 ADSM, G 2154, Bl. 253r–254v. Vgl. dazu auch Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. 1334 Vgl. dazu Kap. II. 3.3.

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 4 Maria und die Heiligen

avait été de Joseph et de Notre Dame conçu, comme nous autres humains.“1335 Der Parlamentsanwalt Nicolas Versoris bestätigt dies in seinen Notizen. Er schreibt, dass es der Verurteile unter dem Einfluss von Lutherischen und dem Teufel gewagt habe, öffentlich und in großer Gesellschaft („publicquement et en grant compaigniee“) sowie selbst in den Städten um Paris zu verbreiten, dass die Jungfrau Maria bei der Empfängnis nicht unbefleckt geblieben sei und ihre Unschuld an Josef verloren habe. Von Josef allein habe sie Jesus empfangen, wie alle anderen Frauen auch ihre Kinder bekommen. Auf diese Worte hin zeigt sich Versoris empört und beurteilt dieses Reden als falsch, schlecht und böswillig. Er fügt wie zur Bekräftigung des Gegenteils hinzu, dass die Jungfrau durch ihre Vermittlung für die Menschen Gnade und Vergebung erwirken könne.1336 Der Augustinereremit dürfte mit seinen Reden Diskussionen ausgelöst haben, diese aber vielleicht auch spiegeln und aufgreifen. Er ist demnach kein Einzeltäter, sondern eher ein Exempel von quellenmäßig sonst kaum fassbaren lutherischen Ideen und Kulturformen, die in Paris rezipiert und weiterentwickelt werden. Darauf reagiert das Parlament, als es Vallière verurteilt. Die Differenzen drehen sich um den Marienkult und müssen so präsent gewesen sein, dass sich die Obrigkeit zu einer drastischen Reaktion gezwungen sieht. Einfach ist indes die Einordnung Vallières nicht, denn lutherischen Vorstellungen entsprechen seine Äußerungen keineswegs. Der Streit über die immaculata conceptio Marias wurde im Spätmittelalter zwischen dem Dominikaner- und dem Franziskanerorden ausgefochten. Vallières Beschreibungen spiegeln diesen spätmittelalterlichen Konflikt, der nun aber in einem neuen Licht gesehen wird. Dies kostet Vallière das Leben.1337 Für jene, die seine theologischen Darlegungen ablehnen, ist der Fall jedoch klar: Der Eremit ist ein „Lutherischer“. Dagegen positioniert sich das Parlament mit seinem Urteil. Am 28. August 1526 wird ein junger Student auf der place de Grève verbrannt, da er „luthérien“ gewesen sei und u. a. gesagt habe, dass Maria genauso wenig Macht habe wie alle anderen Heiligen. Eindeutig hat sich die Konfliktlinie seit 1523 verlagert, weg von der Natur Marias hin zur Frage nach ihrer Effizienz und der rituellen Praxis. Vor der Hinrichtung soll dem Studenten dessen „Irrglaube“ noch ausgetrieben werden, wie der unbekannte Bürger notiert. Der Angeklagte habe mehrmals von Jean Merlin, dem obersten Beichtvater (grand pénitencier) von Paris, Belehrungen und Ratschläge erhalten, die jedoch nicht fruchteten. Der Student sei in seinen Irrtümern

1335 Journal d’un bourgeois de Paris 1 (wie Anm. 347), S. 104. Pierre Driart äußert sich zu den Gründen ähnlich, doch noch allgemeiner. Jean Vallière sei verbrannt worden „pour les blasphèmes et enormes parolles par luy dictes à l’encontre de nostre createur Jhesus et sa digne mère la vierge Marie“. Vgl. Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 78. 1336 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 33 f. 1337 Zu diesem Fall vgl. auch Monter, Judging the Reformation (wie Anm. 293), S. 58 f. Luther hätte laut Monter selbst viel Holz für den Scheiterhaufen herbeigetragen, hätte er von den Äußerungen Vallières gewusst.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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gestorben. Konsequenterweise verweigert er auch die rituelle Abschwörung und das Schuldbekenntnis im Rahmen der amende honorable vor Notre-Dame. Er sperrt sich mit der Begründung, dass er nichts Unrechtes getan habe.1338 1528 kommt es zum bis dahin spektakulärsten Angriff der Evangelischen auf die Gottesmutter.1339 Der Vorfall, bei dem unbekannte Täter eine Marienfigur zerschlagen, ereignet sich in der Nacht zum 2. Juni, nach Pfingstmontag.1340 Der anonyme Bürger berichtet darüber: C’est qu’il y eût quelques hérétiques qui, de nuit, entre le lundi et le mardi des féries, vinrent à une image de Nostre-Dame, de pierre, tenant son enfant, qui est contre une muraille de la maison monsieur maître Loys de Harlay, seigneur de Beaumont, qui est à un coin de rue, à l’endroit et vis-à-vis du petit huis de derrière de l’église du petit Sainct-Anthoine; à laquelle image donnèrent plusieurs coups de couteau, lui ôtèrent la tête et celle de son petit enfant, Notre Seigneur, mais on ne sut oncques qui furent ces rompeurs d’images.1341

Die Tat ist in den Augen der altgläubigen Zeitgenossen ungeheuerlich. Der Augustiner Driart bekennt in seinen Notizen, dass es ihm schwerfalle, den Vorgang festzuhalten („une chose piteuse à reciter“).1342 Er und der dritte Chronist Versoris bestätigen den geschilderten Ablauf. Der oder die Täter bleiben unerkannt. Doch die Quellen greifen die Verdachtsstimmung in der Stadt auf, der zufolge der Täter „lutherien“ gewesen sein muss.1343 Pierre Driart bringt die allgemeinen Mutmaßung auf den Punkt: „On ne faisoit doubte que ce n’eust esté quelzque lutheriens, lesquelz, pour ce temps, regnoient fort et faisoient beaucoup de mal et peine aux gens de bien tenant la vraye foy de saincte Eglise.“1344 Driart ordnet in seiner Deutung des Vorfalls diesen sofort in den größeren Kontext der Glaubenskämpfe ein. Demnach ist der Ikonoklasmus, anders als von der Forschung gerne angenommen, kein erstes Auftreten eines bis dahin unbekannten lutherischen Aktivismus, der in Paris auf verdutzte Gläubige trifft. Vielmehr handelt es sich um eine weitere Eskalationsstufe in einem sozial-religiösen Feld, das nicht nur, aber besonders in Fragen des Marien- und Heiligenkults bereits recht klare

1338 Auffällig an diesem Vorgang ist, dass der junge Mann bereits am Vorabend von Weihnachten 1525 zu einer drastischen öffentlichen Buße vor Notre-Dame gezwungen worden war. Dabei war er bis auf sein Hemd unbekleidet und bat mit einer brennenden Fackel in seiner Hand um Gnade. Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 56. Die übrigen beiden Quellen Driart und Versoris wissen hingegen nichts von Marienblasphemien. 1339 In der Forschung ist der Fall bereits bekannt, jedoch kaum kulturgeschichtlich erschlossen. Eingehender befasst sich damit unter dem Gesichtspunkt der Reparation und sakralen Wiederaufladung Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 179–185. 1340 Nicolas Versoris datiert die Tat auf die Nacht von Mittwoch, 3. Juni, auf Donnerstag, 4. Juni. 1341 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 99. 1342 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133. 1343 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 112. 1344 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133.

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 4 Maria und die Heiligen

Unterschiede aufweist. So ist auch der Hinweis von Driart auf die starke Präsenz der Lutherischen zu verstehen, die ähnlich auch Versoris wiedergibt.1345 Laut den Beschreibungen der drei Zeitzeugen zeigen sich sowohl das Volk als auch der König, der sich laut Versoris gerade in Fontainebleau, laut dem unbekannten Bürger in Paris aufhält, tief berührt und verärgert. Der Anonymus berichtet sogar, dass Franz I. bitter geweint habe, als er von dem Vorfall erfährt. Der König ordnet sofort umfangreiche Untersuchungen an. Der lieutenant criminel geht, begleitet von einem Trupp Bogen- und Armbrustschützen, von Haus zu Haus und befragt die Bewohner von Paris nach Verdächtigen. Auf den großen Plätzen wird die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen und eine Belohnung von 1000 écus für Denunzianten ausgesetzt.1346 Was dann einsetzt, ist ein einmaliger Prozess und eine beeindruckende Form von altgläubigem Aktivismus, der nicht zuletzt die in den 1520er-Jahren zentrale Stellung der Jungfrau im Differenzierungsprozess deutlich macht. Doch die Gegenreaktion reflektiert nicht nur die distinktive Bedeutung des Marienkults und dessen materialer Repräsentationen, sondern schafft diesen Sinngehalt mitunter erst. Die folgenden Reparations- und Affirmationspraktiken machen die Gottesmutter vor aller Augen und unter großer Anteilnahme der Stadtbevölkerung zum Zugehörigkeits- und Abgrenzungsmerkmal der Altgläubigen von der „lutherischen Häresie“. Die erste Stufe der Gegenreaktion setzt bereits am Tag nach der Tatnacht ein: Viele offenbar nicht angeordnete, sondern spontan aus den Pariser Pfarreien heraus entstehende Prozessionen finden ihren Weg zum Tatort in der rue des Juifs sowie in die nahe gelegenen Kirche Saint-Gervais. Darin kommt die Bestürzung der Teilnehmer über die Marienschändung zum Ausdruck sowie die Anhänglichkeit an den Kult. Solidaritätsziele vermischen sich mit Wiedergutmachungs-Bestrebungen. Schon kurz darauf versucht die Pariser Universität mit einer eigenen Prozession, das Handlungsund Deutungsmonopol bezüglich des Vorfalls für sich zu erobern. An Fronleichnam wird die traditionelle corpus-Christi-Prozession auf Befehl und unter der Teilnahme von Franz I. umgeleitet und führt am Ort des zerstörten Bildes vorbei. Tags darauf findet dann die monumentale Reparationsprozession statt. An dieser sind neben dem König und dem Adel sämtliche Pfarreien der Hauptstadt sowie deren Regularund Säkularklerus beteiligt. Details zu diesen Prozessionen werden in einem eigenen Kapitel analysiert.1347 An dieser Stelle steht ein kulturell hochkomplexes Ritual im Mittelpunkt: Die zerstörte Statue wird durch eine neue ersetzt, die der König anfertigen ließ. Die

1345 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 112 f. Er spricht von eher geheimen und schwer greifbaren lutherischen Strömungen, die hart bestraft wurden, sobald sie ans Licht kamen. 1346 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113; Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 99. Pierre Driart liefert dazu keine detaillierten Hinweise. 1347 Zu dieser Serie von Prozession vgl. Kap. III. 3.2.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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genauen Praktiken der Substitution überliefert der anonyme Bürger. Er zählt zudem die Akteure auf und beschreibt die neue Figur: [E]t y était monsieur l’évêque de Lisieux, qui est grand aumônier du Roi, habillé en son pontificat, portant une belle image d’argent, que le Roi avait fait faire neuve d’environ deux pieds de long, qui était de semblable longueur que l’autre et qui pesait, comme on disait, huit marcs d’argent; lequel évêque était devant le Roi, et porta l’image jusqu’au lieu, et posa sur le plus haut degré de bois qui avait été fait, puis le Roi et lui la prirent humblement au chapiteau, où avait été l’autre, en faisant par trois fois la révérence, en disant par le dit évêque de belles oraisons et louanges à la glorieuse Vierge Marie et à son image. Puis, ce fait, les trompettes, clairons et hautbois commencèrent à sonner fort mélodieusement, puis le Roi et monsieur le cardinal de Lorraine présentèrent leurs cierges à la dite image, et après ainsi firent généralement tous les autres seigneurs et gentilshommes de sa maison; lesquels cierges furent pris par le curé ou vicaire de l’église Sainct-Gervais et emportés et pareillement l’image Nostre-Dame de pierre fut mise en l’église paroissiale à l’œuvre. Et est à noter que les rues étaient tendues fort honorablement et y avait sur la dite image un beau grand ciel de soie rouge, que l’on y avait mis de la maison, mais néanmoins (le Roi) y envoya encore mettre le sien de drap d’or et d’argent dessous l’autre qui y était, et y fit mettre à la muraille au droit de l’image son beau parement d’autel de drap d’or et broderie, et y était saint François. Et à la procession y était la cour de Parlement, les prévôt et échevins de la ville, avec les archers et arbalétriers ; dont après les choses parfaites et les processions faites, l’on désempara tout, et y fut laissé la dite image et y fut mis un treillis de fer, de peur qu’elle ne fut dérobée, et y demeura le cierge du Roi et celui de monsieur le cardinal, ces deux mis contre la muraille, chacun une chandelle de cire, qui brûlaient.1348

Die alte und die neue Statue sind demnach gleich groß, allerdings vom Material her verschieden: Die eine ist aus Stein, die andere aus Silber. Nicht zuletzt dadurch soll die Kontinuität des Kultes repräsentiert werden. Die Inszenierung der neuen Statue wird von einer großen Reihe aufeinander abgestimmter Rituale begleitet, die bestimmte Wissensordnungen vermitteln sollen. Bei der Analyse dieses Vorgangs soll zuerst die Untersuchung der Raumordnung stehen, denn die direkte Umgebung am Boden der Mauer, wo der Ikonoklasmus geschehen ist, wurde für die Substitution speziell vorbereitet. Der anonyme Bürger spricht von einer Holztreppe unterhalb der Wand, auf deren höchster Stufe der Bischof von Lisieux, Jean Le Veneur, die neue Silberfigur abstellt. Der Parlamentsanwalt Nicolas Versoris berichtet Näheres über die Ausstattung im direkten Umfeld des zerstörten Bildes „au desoubz de laquelle y avoit ung riche austel paré, auprès duquel y avoit ung triumphant oratoire, pour auquel parvenir y avoit cinq desgrez à monter“1349. Die fünfstufige Treppe führt also zu einer kleinen Plattform, auf der ein reich geschmückter Altar und ein schönes Oratorium stehen. Wie schon bei der Prozession der Universität und sicherlich auch an Fronleichnam, sind die Häuserwände geschmückt und ein Baldachin über dem zerstörten Bild bzw. dessen Stellplatz aufgespannt. Der Umstand, dass Franz I. dazu noch

1348 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 101 f. 1349 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113.

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 4 Maria und die Heiligen

seinen eigenen Baldachin und sein Gewand bringen lässt, verleiht dem Geschehen noch größere Bedeutung, konzentriert die Blicke der Umstehenden an der fraglichen Stelle und unterstützt die folgenden Substitutionskulte mit Artefakten der königlichen Macht. Der Bischof von Lisieux stellt dann die Statue auf der obersten Treppenstufe ab, ergreift sie gemeinsam mit Franz I. und stellt sie in die Ausbuchtung in der Mauer, dorthin, wo zuvor die zerstörte Plastik stand. Die folgenden Devotionen des Bischofs, des Königs und anderer hoher Prozessionsteilnehmer sollen die Validität der neuen Silberplastik zum Ausdruck bringen. Genauere Einsichten in die Szenerie liefert eine Darstellung aus der heute in der Bibliothek des Schlosses Chantilly aufbewahrten Handschrift Renati Bombelli[?] jurisconsulti blesiensis panegyricus christianissimo Francisco Francorum regi dictus aus dem Jahr 1531. Die Lobrede des Rechtsbeamten aus Blois, der Franz I. 1530 persönlich vorgestellt wurde, behandelt auf 97 Folioseiten den Kampf des Königs gegen die die Lutherischen sowie die Person des Monarchen, dessen Familie und den Hof.1350 Ein eigenes Kapitel befasst sich mit dem Vorfall aus dem Jahr 1528. Eine Miniatur repräsentiert die Vorgänge. Zu sehen ist der König, der auf einem Polster kniend der neuen Marienfigur die Ehre erweist. Die Figur wird gehalten vom Bischof von Lisieux. Interessanterweise liegt die zerbrochene Statue noch auf dem kerzengeschmückten Altar auf einem Kissen. Vor Beginn der Zeremonie wurde sie aus dem oratoire, also der runden Einbuchtung im Mauerwerk, entfernt. Sie scheint Gott als eine Art Opfergabe auf dem Altar dargebracht zu werden. Dadurch wird ihr Märtyrerstatus unterstrichen und der bald aufkommenden Wundertätigkeit der zerbrochenen Figur rückblickend Rechnung getragen. Dass das beschriebene Ritual und somit die neue Statue eine weitere, nämlich eine klar antilutherische Stoßrichtung haben, wird aus den Aufzeichnungen von Pierre Driart deutlich. Er notiert die mutmaßliche Deutung, die das Volk dem Ritual und dem Auftritt seines Monarchen beigemessen habe: „[E]stoit le peuple joyeulx de veoir la devocion du Roy, en congnoissant par l’affaire qu’il ne aideroit aux lutheriens et ennemys de la foy catholique.“1351 Offenbar hatte es im Vorfeld diesbezüglich Unsicherheiten unter den Pariser Laien gegeben. Für das Volk sind die Deutungsmuster klar: Die Resakralisierungspraxis und die Devotion, die der Monarch der Jungfrau erweist, werten sie als Zeichen der Unterstützung für die gemeine Kirche und als Positionierung gegen die Lutherischen. Wiederum wird ersichtlich, dass die Frontlinien zwischen den Gläubigen in Paris klarer gewesen sein müssen, als von der Forschung oft angenommen. Laut dem unbekannten Bürger finden am folgenden Tag Prozessionen von den Pfarr- und Klosterkirchen zu Notre-Dame statt, stets vorbei am neu installierten Marienbild. Während Paris für mehr als zehn Tage im Prozessionsfieber liegt, geschehen

1350 Bibliothèque et Archives du Château de Chantilly, ms. 0892 (1485). 1351 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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bei der alten, kaputten Statue einige Wunder. Wundererzählungen haben auch im Alten Reich zur Bekräftigung der Handlungsfähigkeit der Heiligen beigetragen. Das Gerücht aus dem Mainzer Umland, wonach dem Kind eines lutherischen Ikonoklasten der Kopf abfällt, hat dies verdeutlicht. Auch in Paris kommt es eine Woche nach der monumentalen Prozession zu einem Wunder, das die zerstörte und daraufhin wieder zusammengesetzte Steinfigur, die in der nahe gelegenen Kirche Saint-Gervais ihre neue Heimstatt gefunden hat, vollbracht haben soll. Wiederum berichten alle drei Chronisten von dem Ereignis, und wiederum ist es der unbekannte Bürger, der sich am detailfreudigsten gibt: „Item, il est assavoir que, par plusieurs jours après, la dite image de pierre, qui fut portée en l’église Sainct-Gervais, faisait souvent de beaux miracles et ressuscita deux enfants de mort à vie et y portait le peuple plusieurs offrandes et veuz [ex voto] et semblablement à l’image d’argent, qui était au lieu où avait été l’autre de pierre, au coin de la dessus dite maison.“1352 Das wieder zusammengesetzte und ausgebesserte Steinbildnis muss an seinem neuen Standort in Saint-Gervais sofort zum Ziel intensiver Frömmigkeit der Pariser Bevölkerung geworden sein. Die Menschen, darunter offenbar Frauen mit tot geborenen oder kurz nach der Geburt gestorbenen Kindern, kommen zur Marienabbildung, von der sie sich effiziente und schnelle Hilfe erhoffen. Ein ungetauft verstorbenes Kind hat keine Chance, in den Himmel zu kommen. Die zerstörte Statue demonstriert ihre sakrale Macht und Wirkungsfreudigkeit und erweckt zwei Kinder wieder zum Leben. Zum Dank bringt die Bevölkerung der Marienfigur Votivgaben dar – jedoch nicht nur dem eigentlich wundertätigen Bild in Saint-Gervais, sondern auch der neuen Silberstatue. Dadurch wird die Verbindung der beiden in der Wahrnehmung der Pariser Gläubigen sichtbar. Die Kontinuität des Kults und der Funktion der Bilder in den Kulten, die durch die Substitutionsrituale gezeigt werden sollte, entsprechen der herrschenden Ansicht zumindest unter den altgläubigen Parisern. Das neue Bild wird in die Bräuche der klassischen Marienfrömmigkeit, insbesondere die Gelübde, einbezogen und profitiert somit von den Wundern in Saint-Gervais. Zudem findet sich in der französischen Nationalbibliothek in Paris eine dünne Flugschrift, in der diese Wunder erklärt und gedeutet werden. Das Büchlein mit dem Titel S’ensuit le miracle notable, fait en la ville de Paris, qui est une chose sans fable, comme verrez en ces écrits dokumentiert die Vorgänge in 25 Versen. Vers eins bis vier behandeln auf einer sehr allgemeinen Ebene die Wundertätigkeit und die Größe Gottes. Die Verse fünf bis acht loben das vorbildliche Verhalten des Königs im Rahmen der Prozession. In den Versen neun und zehn folgt eine allgemeine Verklärung Marias und deren Wundertätigkeit. In Vers elf wird der Text dann konkret. Maria habe ihre Funktion als Helferin in der Not in Paris gezeigt, als sie bei Christus die Wiederbelebung eines toten Kindes am 16. Juni 1528 erwirkt. Der Text fügt hinzu, dies sei vor neun oder zehn Tagen gewesen. Diese Bemerkung legt eine äußerst schnelle

1352 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 102. Klammern und Kursive in der Edition.

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 4 Maria und die Heiligen

Drucklegung nahe. Die Flugschrift greift ein aktuelles Ereignis vor Ort auf und verbreitet es weiter, wohl ebenfalls v. a. in Paris und dem näheren Umland. Im weiteren Textverlauf wird die Gnade Gottes gepriesen. Vers 19 kommt wieder auf die Aktualität zu sprechen. Dort heißt es, dass die „malheureus lutheriens“ das Wunder von Paris nicht leugnen könnten, was diese sicher sehr verärgere. Schließlich kommt der unbekannte Autor auf den genauen Hergang des angeblichen Wunders zu sprechen. Eine Frau habe ihr Kind tot zur Welt gebracht. In der Trauer der Mutter und der Frauen um sie herum erweist sich jedoch eine der Frauen als weiser als die anderen. Sie veranlasst, dass das tote Kind als Opfergabe („oblation“) bittend der Jungfrau dargebracht werde. Nur, wo und wie genau? Erste Versuche und Fürbitten bei der Maria von Lorette und Notre-Dame des Vertus scheitern. Erst bei Notre-Dame des Souffrances, wie die zerstörte Steinfigur heißt, wird das Kind wiederauferweckt und kann in Saint-Gervais getauft werden.1353 Die Effizienz der Marienfürbitte ist öffentlich bewiesen und gegen die Lutherischen verteidigt. An jenem 12. Juni, dem Tag der großen Prozession, wird ein Gitter vor der Silberstatue angebracht, das sie vor Zerstörung und Diebstahl schützen soll. Die Furcht davor scheint berechtigt. In der Nacht des 21. Mai 1530, kurz nach zwei Uhr, zerstörten „quelques luthériens“ Bilder von Maria mit Kind, St. Rochus und St. Fiacrius, die an einer Pariser Hauswand aufgemalt sind. Der unbekannte Bürger berichtet, dass die lutherischen Täter dem Bild der Maria und dem Jesuskind die Augen ausstachen, ihr das Herz durchbohrten und mit dem Messer auf sie einhieben. Ebenso gingen sie bei den beiden Heiligen vor. Wie zwei Jahre zuvor werden die Täter niemals gefasst. Erneut finden resakralisierende und affirmierende Prozessionen statt, die diesmal allerdings auf die Initiative der Autoritäten zurückgehen und von diesen durchgeführt werden.1354 Die Reaktionen in den Tagen nach der Prozession sind eher technokratischer Natur. Das Blasphemieverbot wird erneuert und verschärft, die Bevölkerung wird zur Denunzierung von Lutherischen an das Parlament verpflichtet und ein Erlass wird verbreitet, wonach Marienbilder künftig mindestens zehn Fuß über der Erde angebracht oder angemalt werden müssen. Die geschändeten Gemälde werden abgekratzt und die Häuserwand neu verputzt. Nichts soll mehr an die Schandtat erinnern.1355 *** Der Heiligen- und Marienkult spielt in der entstehenden altgläubigen Kultur eine vielschichtige und variable Rolle. In einigen Fallstudien dürften die alltägliche Praxis und die kollektiven Rituale bis weit in die 1530er-Jahre hinein weitgehend unver-

1353 Le miracle notable. 1354 Vgl. Kap. III. 3.2. 1355 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 147 f.



4.2 Maria – ein besonderes französisches Distinktionsmerkmal? 

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ändert geblieben sein, insbesondere in Bayern, Passau, Paris, Rouen und größeren Teilen Ostwestfalens. Doch den Protagonisten wird zunehmend bewusst, dass die Verehrungspraktiken und das damit verbundene Wissen um die Interzessions- und Protektionsmacht der Jungfrau und der Heiligen für sie zwar gängig, aber nicht mehr ubiquitär oder schlichtweg „normal“ sind. Vereinzelte Ikonoklasmen, Kritik, Ritualstörungen oder die teilweise Vernachlässigung der Praxis machen dies deutlich. Selbst das in seiner Ausführung konstante Ritual erhält somit eine zusätzliche kontroverse Bedeutung, zumindest in den beschriebenen Momenten der Anfechtung. Dies kann sogar zu Gewalt führen, wie das Beispiel aus Ulm im Jahr 1524 gezeigt hat. Worte und Gesten der traditionellen Marienfrömmigkeit führen dort zu neuen, ablehnendaggressiven Reaktionen, werden aber gleichzeitig gezielt herausfordernd und nachgerade provokativ eingesetzt. Besonders hier wird die distinktive Bedeutung im neu konfigurierten sozialen Feld deutlich. Doch die überlieferten Heiligen- und Marienrituale werden auch in der Performanz angepasst. Diese zweite Ebene der Aktualisierung bezieht sich auf die Orte, an denen sie ausgeübt werden (können), die Wege zu den Heiligtümern, die konkrete Durchführung und die materialen Grundlagen. Alte Ritualformen wie Prozessionen in Rouen und Paris, wo die Marienfrömmigkeit zum wichtigsten religionspraktischen Konfliktmoment der 1520er-Jahre wird, werden in einem neuen Zusammenhang eingesetzt. Dies lässt sich vorwiegend in jenen Fallgruppen beobachten, in denen protestantische Kulturen dominieren oder zumindest zu einzelnen spektakulären Angriffen auf die altgläubige Praxis und deren Gegenstände ansetzen. Dabei konnte eine beachtliche Initiative und Anpassungsfreudigkeit der altgläubigen Laien beobachtet werden. Schließlich bestätigt sich im Vergleich die von Bridget Heil schon für das Alte Reich hervorgehobene Heterogenität der altgläubigen Marien- und Heiligenkulte. Je nach Ort und Zeitpunkt unterscheiden sich die konkreten Bruchlinien und die Formen, die zur Verdeutlichung der altgläubigen Zugehörigkeit dienen. Meist bleiben die Konflikte und die daraus hervorgehenden Klassifizierungsmerkmale im sozialen Feld jedoch situationsgebunden und spiegeln kaum feste Zugehörigkeit wieder. Vielmehr tragen sie zur momentanen und auf den jeweiligen Vorfall bezogenen Entwicklung altgläubiger Religionsgemeinschaften bei.

Fazit Die christliche Religion war schon im Mittelalter ein heterogenes Phänomen. Ihre Riten unterschieden sich  – innerhalb eines gewissen gemeinsamen Rahmens  – entlang geographischer, zeitlicher und sozialer Parameter. Aus manchen dieser Praktiken und Brauchtümer entstehen in der frühen Reformationszeit altgläubige Distinktions- und Zugehörigkeitsmerkmale. Diesbezüglich wurden in der Forschung lange Zeit drei Aspekte unterschätzt: Erstens das große Innovations- und Veränderungspotential der entstehenden altgläubigen Kulturpraxis; zweitens die Involvierung und die Kreativität des Gemeinen Mannes; drittens die Heterogenität dieser Zugehörigkeitsentwicklungen. Der Klerus nimmt in der frühen Reformationszeit eine Schlüsselrolle bei der Heraufbeschwörung von Konflikten und deren Austarieren ein. Er schafft das rituelle Angebot, wobei er sich an der Schnittstelle zwischen der Gemeinde und deren – mitunter widersprüchlichen  – Forderungen, möglichen protestantischen Priestern und den obrigkeitlichen Bestimmungen befindet. Altgläubige Priester müssen dabei auf ihre Patronatsherren Rücksicht nehmen, können sich derer aber auch bedienen. Somit bewegen sie sich häufig in einem komplexen territorialen, rechtlichen und politischen Gespinst, und dies oft zu ihrem Vorteil. Ihre Konsequenz bei der Durchsetzung altgläubiger Normen bzw. ihre Flexibilität und Geschicklichkeit bei der Fortführung alter Rituale in evangelischen Gebieten ist ein unumgänglicher Faktor bei der Schaffung und Aufrechterhaltung altgläubiger Kulturräume. Weiterhin finden in allen untersuchten Fallgruppen distinktive Aktualisierungen bestimmter Praktiken und deren Gegenstände hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihrer Performanz statt. Alles kann dabei den Unterschied machen, aber nicht alles macht immer und überall den Unterschied. Vorgeblich „alte“ Bräuche erhalten zusätzlich zu ihren angestammten religiösen und sozialen Bedeutungen situationsabhängig neue, distinktive Sinngehalte, die sich bei der Durchführung auf diverse Arten bemerkbar machen. Darüber hinaus werden „alte“ Praktiken (notgedrungen) geographisch verlagert und verändern sich so für die Gläubigen, etwa in einer anderen Pfarrei oder unter anderen materialen und gesetzgeberischen Voraussetzungen. Die Altgläubigen, insbesondere auch die Laien, erweisen sich dabei als ausgesprochen innovativ und anpassungsfähig. Mitunter werden, wie die Prozessionen in Frankreich, herkömmliche Praktiken im neuen Kontext und mit neuer Zielrichtung explizit mobilisierend, raumgreifend und kämpferisch gegen die „Ketzer“ eingesetzt. Lokale Konflikte und deren Rahmenbedingungen bestimmen, wie die Distinktionen konkret ausfallen, d. h. wo bei einem Ritual wie der Messe und der Eucharistie die umstrittenen Schwerpunkte im Einzelnen liegen. Es handelt sich dabei meistens um soziale Figuren, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geschehen. Die Repetitivität der Konflikte und somit der Kristallisationsmomente der Unterschiede ist eher gering. Auseinandersetzungen verlagern sich rasch: Was heute für Streit sorgt, bereitet in dieser schnelllebigen Zeit morgen schon keine Schwierigkeiten DOI 10.1515/9783110492460-013

Fazit 

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mehr – und umgekehrt. Zur mittelalterliche Heterogenität und ausgehend von dieser kommen in den 1520er- und 1530er-Jahren also zusätzlich distinktive Bedeutungen und Anpassungen, räumliche Veränderungen sowie Innovationen und Kompromisse im Hinblick auf die vorreformatorische Praxiswelt. Wichtig ist indes die Feststellung: Explizite religiöse Zugehörigkeiten lösen oft keine distinktiven Praktiken aus, sondern werden durch diese erst produziert. Damit unterscheidet sich das religiöse Feld jener Jahre fundamental von späteren Jahrzehnten der Reformation und dem Konfessionellen Zeitalter. Deshalb sind die methodischen und sprachlichen Herausforderungen für den hier untersuchten Zeitabschnitt auch andere als für die Epochen nach dem Augsburger Religionsfrieden oder während der französischen Religionskriege. Wer sind aber diejenigen, die ich als „Altgläubige“ bezeichne? Es handelt sich um eine Gruppe im Werden, die noch keine Gruppe ist und schon gar keine Konfession. Altgläubige sind im sozialen Feld jene, die sich in Konfliktfällen auf eine bestimmte und auch von dritten distinktiv klassifizierbare Weise verhalten. In der frühen Reformationszeit handeln die meisten (noch) nicht auf eine unterscheidbare oder vorhersehbare Weise, weil sie „altgläubig“ sind. Vielmehr werden sie in präzisen Situationen und Auseinandersetzungen „Altgläubige“ durch die Ausübung oder Nichtausübung präziser Rituale. Diese sind immer relational, entstehen aus konfliktueller Interaktion mit einer Gegenseite. Die betreffenden Akteure sehen vor Ort ihren Bezugsrahmen im Alten: den alten Ordnungen, den alten Rechten, dem Herkommen, dem Brauch und der Tradition. Ihr Handeln ist reflektierter und selbst-bewusster, als bisher angenommen wurde. Sie sind sich vielfach im Klaren darüber, dass ihre Handlungen sie im Moment des Konflikts auf eine von mehreren Seiten stellen. Doch steckt hinter den Unterschieden mehr als nur ein Augenblick? Allgemeingültige Antworten lassen sich auf diese Frage nicht geben. Allerdings fällt auf, dass alle Akteure in den Begründungen für ihr Handeln bereits recht feste Kategorien und repetitive Argumentationsmuster verwenden. Der Unterschied steht allen vor Augen, allerdings auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Ausgeprägtheit. Wir sehen die Höhen der Auseinandersetzungen und dürfen somit annehmen, dass diese durchaus tiefer greifen und den religiösen Alltag der Menschen prägen. Den betreffenden Gläubigen ist klar, dass ihr Christentum nunmehr im Konkreten ein näher zu spezifizierendes und zu definierendes Christentum ist. Es beginnt eine Selbstreflexion, die auch der Gemeine Mann und der Landpfarrer vornehmen. Dabei bilden sich, verbunden mit der distinktiven rituellen Handlung, Gruppierungen, die als situationsbezogene und tendenziell zur Verstetigung neigende Religionsgemeinschaften bezeichnet werden können. Dieser Begriff trägt der Spontaneität und Variabilität der personellen sowie rituellen Beschaffenheit des vorgefundenen Phänomens Rechnung. Er deutet das in den Quellen der Fallgruppen sowie in den Flugschriften ersichtliche Bewusstsein partikularer Zugehörigkeit an. Der Begriff ist zudem auf verschiedene Fallgrößen, Gruppengrößen und Zusammenhänge flexibel anwendbar. Er

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 Fazit

umfasst die Teilnehmer einer antilutherischen Prozession, den supplizierenden Teil eines Dorfes, die Empfänger der Kommunion sub una specie oder das Netzwerk zwischen einem altgläubigen Priester und einigen Laien, die ersterer verbotenerweise mit Weihwasser versorgt. Diese Religionsgemeinschaften entstehen im Konflikt oder dem Bewusstsein, etwas Partikulares zu tun. Sie stehen bei Auseinandersetzungen zu Gruppen, die sich selbst mal als „evangelisch“, mal als „lutherisch“ oder (wie auch die Altgläubigen) als „wahrhaft christlich“ bezeichnen. In Bezug und in Abgrenzung dazu sprechen die in dieser Studie untersuchten Akteure und Gruppen von altem Recht und Herkommen, von Tradition und altem Brauch. Sie verorten sich in der Kontinuität der christlichen Kirche und deren angeblich unveränderten und unveränderlichen Ritualen. In diesem Moment sind sie auch in ihrer Eigenperspektive „Altgläubige“: Teile der sich aus dem konfliktuellen Bezugssystem im sozialen Feld ergebenden, flexiblen altgläubige Religionsgemeinschaften. Wie sich diese in Zeit und Raum entwickeln und einschreiben, ist der Untersuchungsgegenstand des dritten Teils dieser Arbeit.

Teil III: Unterschiede und Zugehörigkeiten in Raum und Zeit

Religiöser Wandel und Identitäten sind Dimensionen menschlicher Kultur, die sich mit der Zeit in ihrer Bedeutung, ihrer Performanz oder Präsenz verändern und anpassen. So gibt es weder Konservierung noch totalen Bruch, sondern allein permanente und vielgestaltige Aktualisierungen. Soziale Entitäten formen sich und zerbrechen mit der Zeit, werden (wieder-)erkennbar und bilden ein kulturelles Selbst-Bewusstsein. Die Kategorie der Zeitlichkeit ist dabei eng mit jener des Raums verbunden. Praktiken und kulturelle Wahrnehmungen finden nicht nur zu bestimmten Zeitpunkten statt, sondern auch an präzisen Orten, die bestimmte materiale Ausstattungen aufweisen. Diese werden von den Akteuren verschieden gedeutet und neu angeordnet. Artefakte versinnbildlichen den Gläubigen die Normen, kulturellen Erwartungen und Zugehörigkeiten in einem Ort, führen aber auch selbst wieder zu Differenzen. So ist der Kampf im Raum immer auch Kampf um Raum. Zudem können die rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen von Ort zu Ort unterschiedlich sein. Die Konstruktion erster altgläubiger Unterschiede korrespondiert mit zeitlichen Rhythmen und Chronologien ebenso wie mit räumlichen Variablen. Distinktive altgläubige Praktiken und das dabei angewendete kulturelle Wissen sind konkrete soziale Figuren in Raum und Zeit. Sie sind nie identisch – außer in der Vorstellung derer, die sie durchführen – aber auch nie völlig singulär. In synchroner Verbindung mit anderen distinktiven Ritualen und sich ähnelnder oder angleichender Deutung sowie in diachroner Wiederholung eines selben Ritualtyps kommt es zu altgläubigen Gemeinschaftsbildungen. Diese wiederum sind nicht nur an zeitliche Determinanten gebunden, sondern auch an örtliche Gegebenheiten. Mithin sind die Artikulationsformen und die Entwicklungen altgläubiger Religionsgemeinschaften äußerst heterogen  – so heterogen wie die Praktiken, die aus manchen mittelalterlichen Christen „alte“ oder „wahre“, d. h. näher zu definierende Christen machen. Die Kategorie des Raums in ihrer politischen, materialen sowie rituellen Dimension und die Kategorie der Zeit sollen in diesem Teil im Hinblick auf die Gemeinschaftsbildungsprozesse und -typen der frühreformatorischen Altgläubigen näher untersucht werden. Fünf Kapitel bieten dabei eine thematisch angelegte Analyse. In Kapitel eins geht es um die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Altgläubigen. Dazu soll das fraktale Staatengefüge des horizontal und vertikal in seinem Aufbau fragmentierten Alte Reichs als Untersuchungsgegenstand dienen. Da sich die verschiedenen Ebenen wechselseitig durchwirken und auf jeder Ebene in präzisen Rechtsfällen oder Herrschaftsfragen viele der anderen Ebenen involviert sind, bieten sich für die Altgläubigen vielfältige Möglichkeiten, ihre Kultur zu leben und weiterzuentwickeln – aber auch eindeutige Hindernisse. Beides soll an exemplarischen Fällen aus der Reichsstadt Regensburg, der Freien Reichsstadt Ulm und der Grafschaft Lippe studiert werden. Im nächsten Schritt werde ich die Strategien und Prozesse der Aneignung von und der Differenzierung im Raum untersuchen. Dabei beginne ich mit der Untersuchung des Kampfs um Raum, d. h. etwa um Zugangsrechte zu Kirchen oder die Möglichkeit, altgläubige Praktiken in diesen durchzuführen. Daraufhin erläutere ich die DifferenDOI 10.1515/9783110492460-014

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 Unterschiede und Zugehörigkeiten in Raum und Zeit

zierung und die altgläubigen Aneignungsstrategien im Raum, wobei materiale Artefakte und die darum entstehenden Praxis- und Deutungskonflikte im Mittelpunkt der Analyse stehen. Die Einnahme von sowie die Darstellung der Unterschieden im Raum werden in den folgenden beiden Kapiteln anhand zweier Beispiele untersucht. Erstens werden die Prozessionen gegen Manifestierungen der „Häresie“ in Rouen und Paris zeigen, wie gemeinschaftsbildende Rituale das Eigene in den Raum einschreiben, diesen aber auch protegieren und für Ausgrenzung sorgen. Zweitens wird das Auslaufen altgläubiger Laien aus der Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet nach Einführung der Reformation 1531 Teil der Analyse sein. Welche Motive stehen hinter dem Gang zur Messe oder zur Heiligenverehrung in Enklaven und über die Territorialgrenzen? Welche Folgen hat dies im Hinblick auf religionskulturelle und politische Grenzen? Im letzten Kapitel führe ich die bisher in diesem Teil analysierten Prozesse der Zugehörigkeitskonstruktion in Raum und Zeit zusammen und untersuche, wie und unter welchen rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen diese an präzisen Orten über einen bestimmten Zeitraum hinweg gelingen kann – und wie diese Prozesse von den Zeitgenossen rezipiert werden. Dazu gehe ich den externen und v. a. den internen Strukturen der örtlichen Gemeinschaftsbildung summarisch und typologisierend nach.

1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich In diesem Kapitel konzentriere ich mich auf die drei Fallstudien aus dem Alten Reich und untersuche die Konstruktion und Verankerung altgläubiger Kulturen in dessen territorialer Struktur. Diese weist eine in Europa in dieser Form einzigartige Gestaltung auf. Christophe Duhamelle und Falk Bretschneider haben dafür den Begriff der „fraktalen Staatlichkeit“ geprägt. Mit diesem Konzept versuchen sie, das analytisch besser fassbar zu machen, was das Reich ausmacht: „une construction de la singularité qui doit nécessairement passer par la pluralité et une confrontation qui ne peut pas faire abstraction de la coopération.“ Demzufolge ist die Organisation des Raums im Alten Reich viel komplexer als die Dualität zwischen Reichsebene und Territorien. Vielmehr ist sie gekennzeichnet durch das Vorhandensein mehrerer multipolarer Netzwerke u. a. in den Bereichen Justiz, Städte, Universitäten oder Wirtschaft, um nur einige zu nennen. Die fraktale Staatlichkeit bedeutet demnach: „a) l’autosimilarité qui veut que, en regardant un objet à différentes échelles, nous observons des choses qui se ressemblent; b) l’absence d’un principe organisateur régulier symétrique qui fait que ce que nous rencontrons en passant d’une échelle à l’autre, n’est ni la reproduction à l’identique ni l’inverse exacte de ce que nous avons vu à un autre niveau; et c) l’existence d’une fluidité qui relie entre eux tous les niveaux de l’objet que nous observons.“ Fraktalität wird nicht als essenzialistische Grundlagenbeschreibung für menschliches Handeln verwendet, sondern ergibt sich erst durch dieses. „[P]arler de la « fractalité » des espaces du Saint-Empire essaie de réunir dans un concept analytique la multi-scalarité le caractère pluriel et multi-scalaire d’une structuration sociale spatiale qui n’a pas de réalité en dehors des pratiques des acteurs qui la constituent et réactualisent constamment.“1356 Diese politisch-territorialen Strukturen prägen den Raum der Möglichkeiten, in dessen Rahmen die Altgläubigen ihre Identitäten und deren Spielarten entwickeln. Sie prägen zudem die Konfliktlinien, haben aber auch großen Einfluss auf religiöse Infrastrukturen, Normensetzung und Kontrollen. Immer wieder sind uns im zweiten Teil dieser Studie besonders aus den drei deutschen Fallstudien Situationen begegnet, in denen sich altgläubige Bauern, Bürger, Priester, aber auch Obrigkeiten dieser fraktalen Strukturen bedienen und sich zunutze machen. Andererseits können die Mechanismen in den fraktalen Staatlichkeiten alte Kulturformen auch behindern und auslöschen, zumindest an der Oberfläche. Diese Prozesse werden in diesem Kapitel gezielt in den Fokus genommen: die Bezüge und Verwicklungen präziser Probleme

1356 Bretschneider, Falk: Les dimensions spatiales de la fractalité: un nouveau regard sur les espaces du Saint-Empire?, Unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung „L’historiographie du Saint-Empire à l’époque moderne: approches croisées franco-allemandes“. Paris, 16.–18.10.2014. Für die Überlassung des Manuskripts sei Falk Bretschneider herzlich gedankt. DOI 10.1515/9783110492460-015

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

oder Praktiken auf und zwischen mehreren Ebenen der Reichsstruktur. Die Analyse ermöglicht nicht nur Einblicke in die Formen und Rahmenbedingungen altgläubiger Zugehörigkeitskonstruktion und Auseinandersetzungen im politischen Raum, sondern gibt auch schlaglichtartig Aufschluss über die politische und symbolische Kommunikation im Alten Reich während der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts. Hierzu nehme ich die Grafschaft Lippe, die Freie Reichsstadt Ulm und die Reichsstadt Regensburg besonders in den Blick.

1.1 Regensburg Differenz endet nicht mit dem Tod. Mitunter beginnt sie dann erst, denn Begräbnisse und deren Riten sowie die Ausgestaltung und insbesondere der Ort der letzten Ruhestätte entwickeln sich zu wichtigen Konflikten in der Reformationszeit.1357 Die Ausgestaltung der Friedhöfe schafft Konflikte und spiegelt konfessionelle Trennlinien wieder.1358 Mitunter sind die Friedhöfe der einzelnen Religionsgemeinschaften sogar getrennt.1359 Die Evangelischen im Alten Reich fordern, im Geiste der vollständigen Trennung der Lebenden von den Toten, die Verlagerung der Friedhöfe weg aus den Dorf- und Stadtmitten nach außerhalb der Stadt, etwa in Leipzig 1536.1360 Andererseits kann es dazu kommen, wie in Regensburg 1538/39, dass Pfarrer einem verstorbenen Lutherischen das Begräbnis in der geweihten Erde des Kirchhofs versagen. Ende Dezember 1538 stirbt der mutmaßliche Lutheraner Hans Leißner. Hans Pferinger, ein Verwandter oder Vertrauter des Toten, sucht daraufhin gemeinsam mit einem wohl noch minderjährigen Sohn Leißners sowie Wolf Haberl den Dompfarrer auf, um die anstehende Beerdigung zu planen. Im Verlauf des Gesprächs zwischen Pferinger und dem Priester zeigt sich, dass Leißner zuletzt sub utraque specie kommuniziert hat, was laut dem Pfarrer gegen den alten Brauch und die Ordnung der Kirche verstößt. Deshalb und wegen verschärfter Anweisungen seiner Obrigkeit dürfe er den im Irrtum Verstorbenen nicht auf dem Kirchhof beerdigen. Da das städtische Territorium Regensburgs praktisch an der Stadtmauer endet und im benachbarten Herzogtum Bayern an die Eröffnung eines Lutheraner-Friedhofes nicht zu denken ist, sind prag-

1357 Karant-Nunn, Reformation of Ritual (wie Anm. 73), S. 138f; Karant-Nunn, Kontinuität und Neuerung. 1358 Brademann, Jan: Bekennen, Berichten, Bewirken. Sprachliche Kommunikation und das kulturelle Gedächtnis der Konfessionen auf dem ländlichen Friedhof in der Frühen Neuzeit. In: Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Jürgen Macha [u. a.]. Münster [u. a.] 2012 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 18). S. 123–156. 1359 Vgl. für Frankreich Luria, Frontières (wie Anm. 867). Für das Alte Reich u. a. Luebke, Churchyard and confession (wie Anm. 867). 1360 Koslofsky, Konkurrierende Konzepte (wie Anm. 867); Koslofsky, Reformation of the Dead (wie Anm. 22).

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matische Ausweichmöglichkeiten, die anderswo Anwendung finden, in diesem Fall schwierig vorstellbar. Die Situation ist verfahren und kann von den Akteuren allein nicht gelöst werden. Die rituelle Dimension dieses Falls war bereits Gegenstand der Analyse.1361 In der Folge geht es um die politischen Verwicklungen, die sich aus der Blockadesituation ergeben – und diese erst hervorbringen. Pferinger gibt sich erstaunt über die Reaktion des Pfarrers und verweist auf die Reichsabschiede, allerdings ohne zu präzisieren, welche genau er meint. In diesen sei festgeschrieben, dass die Bestrafung, die Verfolgung oder Verhinderung religiös strittiger Angelegenheiten bis zur Abhaltung eines Konzils aufgehoben worden seien. Dieser allgemeine Bezug auf die Reichsgesetzgebung dient Pferinger zur Verteidigung seiner unvorsichtigen Aussage und zur Legitimierung der Kommunionspraxis des Verstorbenen.1362 Daraufhin kontert der Pfarrer nun ebenfalls mit einem Hinweis auf die Entscheidungen des Reichstags und erläutert deren Wirkung auf die lokale Ebene in Regensburg: Es haben meine hern camerer und rath diser loblichen kayserlichen statt Regenspurg fur sich und ir gemein, desgleich mein gnediger herr von Regenspurg auch ander weltlich und geistlich fursten und stett (ausgenommen Nurnberg und etlich ander), solche abschied in gehaltenen reichstägen verbriefft, besigelt etc. sich dartzu verpunden, gelobt und gesvoren darob zu halten, damit im glaubenn oder sachen demselben anhangend kein änderung wider alten christlichen gebrauch einreiß oder furgenomen werde etc.1363

Für den Pfarrer ist die Aussage der Reichsabschiede klar, wobei er andere Aspekte in den Vordergrund stellt als Pferinger. Er unterstreicht das Verbot von Neuerungen. Ebenso wichtig scheint ihm zu sein, dass der Rat von Regensburg stellvertretend für die ganze Gemeinde, ebenso wie der Bischof, zur Umsetzung dieser Beschlüsse verpflichtet sei. Damit müssten die direkt zuständigen kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten darauf achten, dass die religiöse Praxis gemäß dem alten Brauch der Christen vonstattengehe. Diese Interpretation der Reichstagsbeschlüsse deckt sich mit der Selbstsicht der altgläubigen Flugschriftenautoren, die sich auf der Seite des Reichsrechts und in die legitimierende lange Tradition eingebunden sehen.1364 Pferinger reagiert ausweichend auf diese Interpretation. Denn durch diese Beschlüsse sei den Gewissen der Gläubigen kein Ratschlag erteilt, zumal jenen Personen, die zum Evangelium gefunden hätten. Menschliche Gesetze könnten das Gewissen wider Gottes Ordnung, Wort und Befehl nicht binden. Die Verbreitung der christlichen Wahrheit und das Zerbrechen der menschlichen Erfindungen wünscht

1361 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 740. Zur Ausgangslage dieses Falls und einer Erörterung der distinktiven Beerdigungspraxis vgl. Kap. II. 3.2. 1362 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 740 f. 1363 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 741. 1364 Vgl. Kap. I. 3.2.1 und 3.2.2.

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sich Pferinger aber als einen Vorgang, der in Liebe und zur Förderung der Ehre Gottes geschieht. Dafür würden viele Herzen beten und so appelliert er auch an das Herz und das Gewissen des Pfarrers.1365 Der Angehörige des Verstorbenen unterläuft die aus seiner Perspektive repressive, unchristliche und der Wahrheit des Evangeliums entgegenstehende Gesetzgebung, indem er sich auf die Gewissensfreiheit der Christen beruft. Er versucht, die Entscheidung über das Begräbnis zu einer persönlichen Gewissensentscheidung des Pfarrers vor dem Hintergrund einer zunehmend offenen und vom Rat unterstützten lutherischen Bewegung zu machen. Der neue Ton, den Pferinger anschlägt, scheint beim Pfarrer zu verfangen, der sich zu einem Geständnis hinreißen lässt: „Wolt Got, es were schon gescheen. Mir were nit liebers zu hören, dann das die sachen mit lieb, fried und ainikait ir ennd erraichten.“1366 Der Pfarrer hofft auf eine größere Flexibilität, vielleicht sogar auf einen entscheidenden Durchbruch der evangelischen Reformation, um Klarheit zu haben. Denn einstweilen steht er von verschiedenen Seiten unter Druck. Um dies zu veranschaulichen und um für Verständnis für seine Unnachgiebigkeit zu werben, führt er eine kürzlich vorgefallene Begebenheit an, aus der er einen Rat für das weitere Vorgehen ableitet: „Hat sich wol begeben, so einer, wy ir ytz begert, zur grebnis ist zugelassen, das die andern, so dem alten cristlichen geprauch anhangen, mich hefftig darumb angereth und mir auff mein obrickait gedroet haben, mich daselbs und deshalb zubeclagen. Were demnach mein rath, ir hette meinen hern vicarium ersucht.“1367 Die strenge Regelung der Frage, ob offenbare „Ketzer“ auf dem Friedhof beerdigt werden dürfen, entspricht nicht nur einer konsequenten Umsetzung der altgläubig interpretierten Reichsabschiede, sondern ist auch auf den Druck altgläubiger Bürger in Regensburg zurückzuführen. Diese haben sich bei einem Präzedenzfall der strengen Haltung des Bischofs bedient, um Druck auf den Pfarrer auszuüben, der in der Quelle zwar keine offene Sympathie für die Lutherischen äußert, aber mindestens zu Zugeständnissen bereit zu sein scheint. Deshalb soll sich Pferinger mit seinem Anliegen an die Stelle wenden, von der aus Druck auf den Pfarrer ausgeübt wird oder ausgeübt werden könnte. Er verweist auf die höhere Ebene der bischöflichen Administration, den Vikar. Doch Pferinger lehnt den Vorschlag ab. Ihm reiche die Auskunft des Pfarrers in dieser Frage. Offenbar rechnet er nicht mit einer anderen Entscheidung vonseiten des Vikars. Vielmehr möchte er die Sache vor den Rat der Stadt Regensburg, seine Herren, bringen. Angesichts der 1539 stark angewachsenen lutherischen Kräfte im Rat wäre es ein logischer Schritt, die weltliche und zunehmend reformatorisch gesinnte Obrigkeit um eine Entscheidung zu ersuchen. Doch der Pfarrer drängt, macht Hoffnung auf eine günstige Antwort und schließlich willigt Pferinger ein, beim Vikar nachzufragen. Dieser sieht sich allerdings ebenfalls außerstande, in dieser Frage zu entschei-

1365 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 741 f. 1366 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 742. 1367 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 742 f.

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den. Er will deshalb direkt bei Bischof Prankraz von Sinzenhofen um einen Entscheid bitten. Doch auch dieser Versuch scheitert. Der Bischof sei im Augenblick mit anderen Angelegenheiten so beschäftigt, dass er keinen Bescheid geben könne, behauptet der Vikar. Wenn man indes weiß, dass die Begräbnisfrage in diesen Jahren eines der großen Themen in Regensburg ist und der Bischof wenig später die Beerdigung außerhalb der Stadt erlauben muss,1368 lässt dieses Verhalten eher auf ein Zögern oder schlichtweg die Entscheidungsverweigerung schließen. An seiner Stelle fällt das Domkapitel eine Entscheidung, der zufolge der Pfarrer das Amt innehabe und gemäß den ihn erteilten Befehlen handeln müsse. Der Handlungsdruck liegt nun also wieder auf dem Pfarrer. Der Auftrag des Kapitels ist indes recht klar: Keine Beerdigung für einen „Ketzer“, so wie es Recht, Gesetz und Obrigkeit verlangen.1369 An dieser Stelle endet der Bericht im Regensburger Stadtarchiv. Von einer endgültigen Entscheidung wissen wir nichts. Doch da die Prozesszusammenfassung im städtischen Archiv liegt, ist davon auszugehen, dass Pferinger in der Folge den Rat der Stadt eingeschaltet hat. Nicht nur religiöse Praktiken, sondern auch Predigten und damit zusammenhängende Personalfragen werden auf verschiedenen Ebenen der Reichsstrukturen verhandelt und bringen diese miteinander in Verbindung. Dies zeigt der Konflikt um die Zulassung bzw. die Einsetzung lutherischer Prädikanten in Regensburg 1534 und 1535. Zwei Mönche des Augustinerkonvents, dessen Prior Georg Teschel und Leonhard Kallmünzer, halten 1534 lutherische Predigten. Die Bürgergemeinde und der Stadtrat scheinen daran größtenteils nichts auszusetzen zu haben. Offenbar war die bischöfliche Administration auf die Predigt aufmerksam geworden und versucht nun, diese zu unterbinden. Dabei treten der Rat und ein größerer Teil der Bürger als Unterstützer der lutherischen Prediger auftreten. So entwickelt sich um eine innere Regensburger Angelegenheit ein Konflikt verschiedener weltlicher und geistlicher politischer Akteure und Instanzen des Reichs. Diese intervenieren direkt in der Stadt und üben Druck auf Kämmerer und Rat aus. Die pastoralen Aspekte dieses Falls wurden bereits analysiert, so dass ich mich an dieser Stelle auf die politisch-strukturellen Implikationen konzentrieren kann.1370 1534 wird Teschel von Johann Granigl, dem Vikar des Regensburger Bistumsadministrators, aufgesucht und aufgefordert, seine lutherischen Predigten einzustellen. Der Augustinerprior verfasst daraufhin eine Supplik an den Rat, in der er seine Predigten inhaltlich verteidigt und sogar um deren weitere Förderung bittet. Der Rat solle das Bittschreiben an den Administrator weitergeben.1371 Administrator Johann III. erklärt dem Regensburger Rat, dass die beiden Augustiner ungehorsam seien und ketzerisch gepredigt hätten, weshalb der Rat die Supplik ablehnen und derartige Ver-

1368 Vgl. Kap. II. 3.2. 1369 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 743 f. 1370 Vgl. Kap. II. 1.1.2. 1371 BZAR, Ordinariatsarchiv Gen., 2472, Bl. 3r–v.

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kündigungen verhindern solle.1372 In seiner Antwort gibt der Rat zu, dass über kontroverse Themen gepredigt werde und dies auf eine Art, die manchen alten Lehren ungemäß sei. Doch gegen die Ausbreitung ketzerischer Sekten helfe allein die Predigt des reinen Evangeliums.1373 In der Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der evangelischen Verkündigung in Regensburg ist die Lage also blockiert. Der Rat selbst versucht, die in Frage stehenden Lehren herunterzuspielen, sicher auch aus vorbeugender Rücksicht gegenüber den mächtigen altgläubigen Nachbarn Bayern und dem habsburgischen Reichshauptmann, der den Einfluss des Kaisers auf das städtische Regiment garantiert. Der Bistumsadministrator allein hat von seinem kleinen Hochstiftsgebiet aus weder die politischen noch die finanziellen Mittel, sein Verbot umzusetzen. Deshalb wendet er sich an den Herzog von Bayern und den Erzherzog von Österreich, König Ferdinand. Sie machen erfolgreich Druck, damit die lutherische Predigt in Regensburg beendet wird. Am 8. Dezember schreibt der Regensburger Magistrat an Wilhelm und Ludwig von Bayern, dass sie die beiden Prediger wie gefordert entlassen und fortgeschickt haben.1374 Für den Administrator hat sich die Einbeziehung der Bayernherzöge und wohl v. a. des Königs gelohnt, der durch den Reichshauptmann über direkte Interventionsmöglichkeiten im Innern der Reichsstadt verfügt. Über diesen verschlungenen Weg staatlich-territorialer Konstruktion und Einflussmöglichkeiten können die Altgläubigen die lutherische Predigt fürs Erste verhindern. Doch schon 1535 formiert sich eine Gruppe lutherischer Regensburger, die in einer Supplik an den Rat die Bestellung eines evangelischen Prädikanten fordert.1375 So setzt sich der Kampf im fraktalen Staatsgefüge zwischen dem zunehmend lutherischen Regensburger Rat, der unter dem Druck eines Teils der Bürgerschaft steht, und dem Bistumsadministrator Johann III. sowie den bald erneut involvierten Bayernherzögen und König Ferdinand fort. Am 28. Juni 1535 wenden sich die Ratsherren direkt an Ferdinand und bitten ihn um einen evangelischen Prädikanten.1376 Damit umgehen sie nicht nur den Administrator, der 1534 die bereits existierende lutherische Verkündigung aufdecken und verhindern ließ. Sie wenden sich auch an eine höhere Ebene der Reichsstruktur, die nun für eine Lösung sorgen soll. Der König schlägt die Bitte jedoch ab und verweist auf den zuständigen Bischof sowie auf die Bestimmungen des Wormser Edikts.1377 Eine exekutiv bindende Entscheidung der Frage kommt auf

1372 BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 4r–v. 1373 Die Schlussformel des Schreibens stellt vage ein Handeln gegen diejenigen in Aussicht, die sich gegen die Belehrung durch die Obrigkeit sperren. BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 5r-6v. 1374 BZAR, OA, Gen., 2472, Bl. 7r. In ihrer Antwort belobigen die Bayernherzöge das Handeln des Rats und fügen mahnend hinzu: „Ir werdet der gleichen neurung und eindringen neuer predicanten und leren hinfür mit zeitlicher fürsehung enthalten.“ Vgl. Bl. 8r. 1375 StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 335–344. 1376 StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 353–360. 1377 StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 367–370. Brief vom 28. Juli 1535.

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diesem Wege also auch nicht zustande. Vielmehr dürfte der Verweis Ferdinands auch eine Unterstützung der Handlungsautorität des Administrators sein, dessen Entscheidung somit größere Legitimität und normative Durchschlagskraft erhalten soll. Nach einigen Wochen entsprechen die Stadtherren der Aufforderung Ferdinands und treten mit ihrem Ansuchen erneut an den Administrator heran. Rhetorisch geschickt grenzen sie sich zu Beginn des Schreibens von der Wiedertaufe und dem symbolischen Abendmahlsverständnis ab, um voreilige Ketzereivorwürfe zu verhindern. Um das Volk vor den genannten Irrlehren zu schützen, brauche Regensburg aber einen oder mehrere erfahrene evangelische Prediger. Die alleinige Verkündigung alter Lehren und der Tradition werde von den Bürgern nicht mehr akzeptiert. Die neuen Prediger sollen das Wort Gottes verbreiten und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt austeilen.1378 Wie im Vorjahr wendet sich der Bistumsadministrator an die bayerischen Herzöge, darüber hinaus aber auch an den Bischof von Freising, den Administrator von Passau und den Erzbischof von Salzburg.1379 Johann sucht nach Rückendeckung und bindet die wichtigen und mit ihm außer dem Salzburger Erzbischof familiär verbundenen altgläubigen Obrigkeiten und Kirchenfürsten des deutschen Südostens in die politische Kommunikation ein. Die Bayernherzöge Wilhelm und Ludwig schicken in ihrer Antwort sehr konkrete Ratschläge für das weitere Vorgehen. Johann solle den Regensburger Stadtherren mitteilen, dass er mit seinem Ansuchen „kheinenn trost noch wendung gefunden hetten“.1380 Auf der Grundlage dieser Unterstützung antwortet Johann III. dem Rat, dass die Reichsstadt bereits genug tüchtige Prediger habe.1381 Dennoch schickt der Rat eine weitere Supplik an den geistlichen Herrn, in der er sein Anliegen erneut begründet, ohne damit viel zu erreichen.1382 Einen vorläufigen Schlusspunkt setzt dann der Brief von König Ferdinand an den Rat zu Regensburg, in dem er der Stadt befielt, keine Neuerungen einzuführen, sondern den Reichstagsbeschlüssen und dem Bischof gehorsam zu sein.1383 Der Rat kann sich gegen den außenpolitischen Druck nicht durchsetzen und muss vorerst auf eine lutherische Prädikatur verzichten. Das Herzogtum Bayern verfügt über eine Reihe von Mitteln, um den Regensburger Rat zu beeinflussen bzw. in politischen oder ökonomischen Auseinandersetzungen effizient unter Druck zu setzen. Diese Strategien wenden sie auch in der religiösen

1378 BZAR, OA, Gen., 2515, Bl. 1r–3v. 1379 BZAR, OA, Gen., 2515, Bl. 1r. 1380 Zudem empfehlen die Bayernherzöge die Einschaltung von König Ferdinand, den der Administrator auf den neuesten Stand bringen und dann um zusätzlichen Druck bitten solle. StAR, Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1, S. 413–415. Für die Antwortschreiben von Kardinal Mathäus von Salzburg und Administrator Philipp von Freising, vgl. S. 421–436. 1381 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 389–391. 1382 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 392–412. 1383 BZAR, OA Gen., 2515, Bl. 1r-v. Zum folgenden Briefwechsel zwischen dem Rat und dem König bzw. dessen Hof vgl. StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 474–489, 506–509, 523–526.

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Auseinandersetzung mit der Reichsstadt an. Darunter fallen die Androhung und die Durchführung einer Blockade, so etwa im Jahr 1538. Die Bayernherzöge verdächtigen den Rat der Stadt Regensburg, sich dem Schmalkaldischen Bund anschließen zu wollen. In einem Brief vom 12. Juni machen sie die Stadtherren darauf aufmerksam, dass sie alle antilutherischen Reichsabschiede mitgetragen hätten. Die Stadtherren wüssten sicherlich, dass die Bayernherzöge in ihrem Land keine fremden Lehren oder Veränderungen an dem viele Jahrhunderte alten Brauch zulassen, so wie auf der anderen Seite die Landesherren des Schmalkaldischen Bunds nur die neue Lehre predigen lassen. Aber Regensburg ist „gerings mit unserm furstennthumb beschlossen“, d. h. die Reichsstadt ist eine Enklave im Herzogtum Bayern, weshalb viele bayerische Untertanen dort täglich ein- und ausgehen. Die Herzöge wollen sich nicht einmischen, falls Regensburg vom alten Glauben und von den Reichsabschieden abweicht. Doch ihnen und den bayerischen Untertanen würde wegen des regen Austauschs Nachteil, Zerrüttung und Ungehorsam aus der religiösen Neuerung erwachsen. In diesem Fall würden sie ihren Untertanen den Kontakt mit Regensburg verbieten.1384 Ziel ist es, die Integration der Reichsstadt in den Schmalkaldischen Bund sowie die lutherische Reformation zu verhindern. Neben der Isolation der Gegenseite gibt es für altgläubige Obrigkeiten noch eine weitere Aktionsmöglichkeit, um in Vorgänge in benachbarten Territorien einzugreifen. In diesem Fall sollen die Evangelischen dann verhaftet und bestraft werden, wenn sie das altgläubige Herrschaftsgebiet betreten. Gemäß dieser Logik agiert der Administrator des Bistums Passau, Ernst von Bayern. In seinem ersten Religionsmandat von 1522 gegen häretische Schriften befielt er, dass diejenigen, die in Teilen der Diözese, in denen die weltliche Obrigkeit nicht in seiner Hand liegt, ketzerische Bücher verkaufen oder handhaben, beim Eintritt in das Stiftsgebiet verhaftet werden sollen.1385 Diese Regelung wiederholt Ernst in seinem Mandat von 1528 an die Stadt Passau. Darin heißt es, dass die Gläubigen seines Bistums, die das Mandat verletzen und außerhalb seiner weltlichen Obrigkeit stehen, beim Betreten des Hochstifts verhaftet werden sollen.1386 Von einem effektiven Gebrauch dieser Vorschrift ist jedoch nichts bekannt, zumal die Überwachung religiöser Devianzen außerhalb des Passauer Territoriums für die Kirchenjustiz de facto nicht zu gewährleisten ist. Deshalb ist Administrator Ernst auf die Kooperation mit dem Herzogtum Bayern und dem habsburgischen Österreich angewiesen. Besonders komplex sind die Fälle, in denen Kleriker und Laien in eine Auseinandersetzung involviert sind und in den religiösen Überzeugungen divergierende weltliche und geistliche Obrigkeiten um die juristische Zuständigkeit streiten. Auch dazu liefert die Reichsstadt Regensburg mit ihrer vielschichtigen Stadtverfassung einen

1384 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 685–686. 1385 ABP, OA Gen., 1113, Bl. 5r. 1386 ABP, OA Gen., 4884, S. 72.

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aufschlussreichen Vorfall, der nur vor dem Hintergrund des andauernden Konflikts zwischen der altgläubigen bischöflichen Administration und dem zunehmend lutherisch geprägten Rat zu verstehen sind. Ein Beispiel dafür ist eine Auseinandersetzung in der Folge einer angeblichen Handgreiflichkeit zwischen dem altgläubigen Prädikanten und dem lutherischen Bürger Hans Gulden in der Regensburger Wallfahrtskirche Zur Schönen Maria. Der Vorfall ereignet sich im Jahr 1534, als in der Reichsstadt der Kampf um die Zulassung der evangelischen Predigt tobt. Das verleiht dem folgenden Konflikt noch mehr Sprengkraft. Wir wissen von dem Vorfall durch die Supplik des Hans Gulden an den Rat vom 10. September 1534.1387 Der Bürger berichtet, dass es an Mariä Himmelfahrt zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Pfarrer Kilian gekommen sei, nach dessen Predigt sie sich ein Wortgefecht („redenn“) lieferten. Der Geistliche zeigt Gulden deshalb beim Rat an, der den mutmaßlichen Predigtstörer verhören lässt. Den leider nicht näher ausgeführten Abschied des Rats in dieser Sache habe er angenommen und seither gehorsam gehalten. Doch damit ist die Sache für Gulden nicht ausgestanden, denn der Pfarrer habe ihn zuerst beim Bistumsadministrator angezeigt. Diese Klage entspreche allerdings nicht der Wahrheit. Der Prädikant aber habe angegeben, dass er von Gulden auch körperlich angegriffen worden sei. Guldens schreibt über die Anzeige beim Administrator sowie über deren Hintergründe und mögliche Folgen: Mich wunndert auch ser fast, das mich ehrwürden Kiliann an dem ort [beim Administrator, M. M.] unnd dartzu mit lautterm ungrund verclagenn soll, da er doch woll wais, das daselbs von Gottes genaden niemannt uber mich zugebietenn hat. Unnd ich nach kayserlicher maiestät allein ewer fursichtigen ersamen weishait unnd sonnst gar niemannt fur mein von Gott verordente obrigkhait erkhenn. Derhalbenn er meines achtenns pillich in dem und anderm ewer fursichtig ersam weishait meinenthalben zum ersten und nit zum letzten ersuecht soll habenn. Es sey dann seinn gemuet gewesenn, wie guet zugedenncken, meinen genedigen herrn unnd gemaine stat in einannder zu setzenn. Wie ewer fursichtig weishait dan nach dem, als die sag, woll befinden, das sich seyne fürstliche genaden darauff mit ewer weishait in schrifft begebenn. Derhalbenn ich mich gar nit in sein so ungepurlich verclagen und ungrundig furgeben richten oder schicken khan, was er doch damit vermaint hat, wann er dannost nur die warhait angetzaigt hiet.1388

Laut Hans Gulden bezweckt der altgläubige Prädikant mit seinem Vorgehen, d. h. mit der Erstanzeige beim Bistumsadministrator, einen Konflikt zwischen dem Rat und dem Fürstbischof. Dahinter steckt die politisch heikle Frage, wer bei einem Streit zwischen einem Laien und einem Kleriker zuständig ist, die kirchliche oder die weltliche Justiz? Laut Gulden kann in Bezug auf seine Person allein der Regensburger Rat Recht sprechen. Nur diesem und dem Kaiser sieht sich Gulden als Bürger der Reichsstadt untertan. Demzufolge hätte Pfarrer Kilian ihn zuerst beim Rat anzeigen müssen. Im weiteren Textverlauf deutet Gulden an, dass der Pfarrer damit wohl kaum zum

1387 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 120–123. 1388 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 121 f.

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Frieden und der Eintracht zwischen der Bürgerschaft und der Geistlichkeit Regensburgs beigetragen habe. Gulden mutmaßt: „Ich halt und acht genntzlich darfur, das ers meiner person halben nit allain gethan hat.“1389 Es gehe also nicht nur um die wie auch immer abgelaufene Predigtstörung. Vielmehr wolle der Pfarrer vermittels des Rechtszuständigkeitsstreits eine allgemeinere Auseinandersetzung zwischen Administrator und Rat herbeiführen. Der konkrete Fall wird demnach zum Vorwand für eine fundamentalere Auseinandersetzung, in der sich traditionelle Rechtsfragen zwischen verschiedenen Instanzen der fraktalen Reichsstruktur mit neuen religiösen Konflikten vermischen und wechselseitig verstärken. Einem Gerücht zufolge geht der Plan des Pfarrers sogar auf, denn Administrator und Rat stünden in einem – sicherlich nicht besonders freundlichen – Briefverkehr über die Angelegenheit. Ein klassischer spätmittelalterlicher Konflikt um die städtische Freiheit von bischöflicher Herrschaft wird „konfessionell“ aufgeladen. Der Ausgang des Rechtskonflikts sowie der Auseinandersetzung zwischen Prediger Kilian und Hans Gulden ist nicht überliefert. Zum Abschluss seiner Supplik bittet der lutherische Bürger, dass der Rat ihn gemeinsam mit dem Geistlichen verhören soll, falls dieser mit den beschriebenen „Lügen“ ebenfalls an die Stadtobrigkeit herangetreten sei. Vier Tage nach Eingang der Supplik erlässt der Rat ein Mandat als explizite Reaktion auf die aktuellen Ereignisse. Darin heißt es, dass Predigtstörungen nicht von gottesfürchtigen und gehorsamen Untertanen, sondern von Mutwilligen vorgenommen werden. Derlei Störungen und andere Disputationen werden in dem Mandat verboten. Niemand dürfe den anderen, egal ob Kleriker oder Bürger, mit Worten oder Werken aus religiösen Gründen verhöhnen oder belästigen. Bei Zuwiderhandeln droht der Rat harte Strafen an Leib und Gut an.1390

1.2 Ulm Politische Einwirkungsversuche von außen sind in der Reichsstadt Ulm bei der Einführung reformatorischer Neuordnungen schwieriger möglich als in Regensburg. Ulm verfügt als Freie Reichsstadt über eine deutlich größere Autonomie des Stadtregiments. Die Stadt ist wirtschaftlich mächtig und verfügt, ebenfalls anders als Regensburg, über ein großes Landterritorium, in dem Herrschaftsrechte verdichtet in der Hand des Rats und der städtischen Oligarchie liegen. Bereits in der Analyse der Pfründen- und Kirchsatzstreitigkeiten haben sich diese als Mittel fremder Obrigkeiten erwiesen, punktuell die Fortsetzung der alten Religionskultur in Ulm zu erzwingen, altgläubige Priester zu protegieren oder die Einsetzung zwinglischer Prädikanten zu

1389 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 122. 1390 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 132.

1.2 Ulm 

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verhindern.1391 Eine große Zahl auswärtiger Patronatsherren, aber auch geistliche Institutionen wie Klöster oder Stifte aus der Reichsstadt verfügen über verstreute Pfarrsatzrechte. Die Verfügungsgewalt des Rats über die geistlichen Rechte ist lückenhaft und kann im Verlauf des 16. Jahrhunderts nur unter großen Anstrengungen allmählich und unvollständig arrondiert werden.1392 Kommt es zum Streit um ein präzises Problem, etwa eine Praktik oder eine Personalie, wird dieses Problem auf und zwischen verschiedenen politischen Ebenen artikuliert. Die Pfarrrechte der Kapelle im Dorf Reutti etwa liegen beim Abt von Blaubeuren. Dieser hat es in Reutti mit einem Priester namens Hans Schall zu tun, der sich der reformatorischen Seite anschließt. Deshalb schreibt Abt Ambrosius Scheerer 1532 seinem Pfarrer und fordert ihn auf, sich der neuen Sekte „zu entschlahen, unnd in ruw unnd still zusten unnd das jhennig, so von alter bißher loblich unnd christennlich gehallten unnd daruff ir dann geschworn unnd solliche pfrunnd angenomen haben, zu volfieren.“1393 Der Erhalt der Stelle ist nun also nicht mehr nur an die korrekte Einsetzung durch den Abt und den Eid gegenüber dem Pfarrherrn gebunden. Der Eid, dessen Wortlaut uns freilich unbekannt ist, wird im Jahr zwei nach der Ulmer Reformation als Verpflichtung gedeutet, die altgläubigen Kulturformen entgegen den zwinglischen „Neuerungen“ beizubehalten. Doch diese Ermahnung zeigt keine Wirkung auf den Priester, weshalb ihn der Abt ein zweites Mal auffordert, sofort die alten Bräuche und Zeremonien wieder einzuführen. Ansonsten droht ihm der Entzug der Pfründe. Der Abt beruft sich dabei auf seine Gehorsamspflicht gegenüber dem Kaiser.1394 Schall befindet sich in der Zwickmühle zwischen seinen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Druck des Ulmer Rats einerseits und den Drohungen des Blaubeurer Abts andererseits. In dieser Lage bittet Schall den Magistrat, ihn an eine andere Stelle zu versetzen. Doch weiterhin stellt sich die Frage, welche Zugehörigkeit der Nachfolger auf dem vakanten Posten haben muss. Da eine Einigung in dieser kirchlich-herrschaftlichen Konfiguration nicht möglich ist, entschließen sich der Abt und der Rat 1534 zu einem Tausch: Das Kloster erhält Gebiete an der Peripherie des Ulmer Territoriums sowie eine Geldzahlung und tritt dafür die Pfarrrechte u. a. in Reutti an den Rat ab.1395 Es handelt sich dabei um einen Versuch der politischen Entflechtung, der durch die religiösen Differenzen und Ansprüche der beiden Obrigkeiten nötiger denn je erschien. Nicht nur was die religiöse Praxis oder die Pfarrer anbelangt, sondern auch bezüglich der materialen Ausstattung der Kirchenräume gibt es Versuche auswärtiger

1391 Vgl. Kap. II. 1.1.2. 1392 Eine gute Übersicht dazu liefert Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 24–32, 104–107. 1393 StAU, A [8984/I], Bl. 259r. 1394 StAU, A [8984/I], Bl. 259r. 1395 Zu Reutti vgl. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 26, 115.

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

Patronatsherren, die reformatorischen Veränderungen im Ulmer Territorium auf der unteren Dorfebene zu blockieren. Ein solcher Fall findet sich im Dorf Albeck am Rand der Schwäbischen Alb während des ersten reformatorischen Examens im Herbst 1531. Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Erlass der evangelischen Kirchenordnung, beginnt neben der Umgestaltung der religiösen Rituale auch der Umbau der spätmittelalterlichen Sakralräume nach zwinglischen Vorstellungen. Das heißt, dass neben Bildern und Seitenaltären auch Kreuze und Schmuck aus den Kirchen geschafft werden müssen. Die Fortschritte dieser Prozesse sollen im Herbst 1531 in Ulm kontrolliert werden. Der Albecker Amtmann stellt bei der Befragung die Gemeinde als gottesfürchtig und gut evangelisch dar. Die Gläubigen hören den Geistlichen des Orts gerne, Konflikte sind nicht zu verzeichnen. Der Prädikant Wendel lobt wiederum den Amtmann für seine evangelische Gesinnung und seinen Kampf gegen die „alte Meinung“. Diese Einschätzungen werden durch den Vertreter der Laien bestätigt. Nur von einer Schwierigkeit weiß der Prädikant zu berichten: „Item er hab das Sakramenthaus und das Sakrament darin und den Taufstein mit dem alten Tauf auch. Er hab Gaudermann [den Amtmann, M. M.] gebeten dasselb herauszutun; er hab ihm aber geantwort, daß meine Herrn in Spänung (Span, Streit) der Kirche Albeck halben gegen den Abt zu Wiblingen standen.“1396 Die materialen Grundlagen zweier zentraler Differenzmerkmale in der Ulmer Religionsgeschichte befinden sich also noch in der Pfarrkirche: Das Sakramentshaus mit der Hostie, die die Altgläubigen als Leib Christi verehren, sowie der Taufstein mit dem Weihwasser. Beide Artefakte können jedoch nicht, wie in der Kirchenordnung vorgesehen, durch die Vertreter der Obrigkeit aus der Kirche entfernt werden. Hinderlich ist dem Amtmann zufolge die Auseinandersetzung des Ulmer Rats mit dem Abt von Wiblingen. Die Natur des Streits wird in der Quelle nicht präzisiert. Die Forschung nennt Konflikte um Stellenbesetzungen zwischen dem Abt und dem Rat nur bezüglich Göttingen, Gögglingen und Weiler/ Unterkirchberg.1397 Zu vermuten ist allerdings, dass der Wiblinger Prälat der Kirchherr Albecks ist oder anderweitige Rechte über Einkommen, Ausstattung oder Pfarrer der Kirche hat. Dass es allein über die beiden Gegenstände zum Konflikt kommt, wäre eher außergewöhnlich. Gemeinhin konzentrieren sich die Differenzen zwischen auswärtigen Kirchherren und dem evangelischen Rat auf die Pfarrer, deren Lehre und rituelle Praxis. Dahingegen ist die Aussage des Albecker Prädikanten bedeutsam, dass er erst seit Kurzem in der Gemeinde diene. Es ist somit durchaus wahrscheinlich, dass sich der Konflikt um die Besetzung der Pfarre mit einem Evangelischen dreht. Einstweilen wird in diesem Zusammenhang die konkrete Umsetzung der Kirchenordnung blockiert, da zuerst der Ausgang der Verhandlungen abgewartet werden soll. Entsprechende Anweisungen dürfte der lokale Amtmann von den Ulmer Herrschaftspflegern erhalten haben. Eine interterritoriale Auseinandersetzung hat also direkte

1396 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 52. Runde Klammern in der Edition. 1397 Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 106, 110 f.

1.2 Ulm 

 445

Wirkungen auf die darunterliegende dörfliche Ebene und deren materiale Religionskultur, die vorerst in einem altgläubigen Sinn konserviert wird. In Ulm werden die fraktalen Staatlichkeitsformen des Alten Reichs jedoch nicht nur von Obrigkeiten zur Normierung oder Beeinflussung der religiösen Kulturen herangezogen, sondern auch von den altgläubigen Laien. Dies zeigt sich in der Praxis des „Auslaufens“ zu religiösen Kulten, die ab 1531 in Ulm verboten, aber in benachbarten Territorien, in Enklaven sowie zeitweise in Ulmer Pfarreien mit auswärtigen Kirchenherren weiterhin angeboten werden. Das schichten-, alters- und geschlechterübergreifende Phänomen nimmt seinen Ausgang sowohl in der Reichsstadt als auch im Landgebiet. Das Auslaufen demonstriert die fortdauernde Präsenz von Altgläubigen im Ulmer Territorium und die geographische sowie rituelle Flexibilität des altgläubigen gemeinen Mannes, der sich das verschiedenartige Verhalten zweier gleichrangiger politisch-herrschaftlicher Ebenen in Bezug auf bestimmte rituelle Probleme zunutze macht. Aus der Reichsstadt können in den Jahren 1531, 1532 und 1535 einzelne Fälle des Auslaufens untersucht werden, da Verdächtige an den Stadttoren abgefangen und später von Ratsverordneten verhört werden. Dabei ist unter anderem die Argumentation der devianten Gläubigen von großem Interesse, um deren Wahrnehmung und Ausnutzung der fragmentierten Herrschaftsstrukturen besser zu verstehen. Da später eine detaillierte Untersuchung des Phänomens hinsichtlich seiner rituellen, räumlichen und identitären Funktionen erfolgt,1398 beschränke ich mich einstweilen auf die politisch-herrschaftlichen Aspekte. Ein besonderer Fall aus dem Jahr 1532, als zu Mariä Himmelfahrt trotz des Verbots des Rats viele Altgläubige u. a. in das Kloster Söflingen auslaufen, mag die Problematik verdeutlichen. Das Klarissenkloster liegt zwei Kilometer von den Ulmer Toren entfernt. Zwar versucht der Ulmer Rat, immerhin nomineller Schutzherr des Konvents, im Lauf des 16. Jahrhunderts immer wieder die staatliche und religiöse Eingliederung Söflingens, wobei er jedoch scheitert. So ist das Kloster mit seinem winzigen und unklar umrissenen Herrschaftsbereich de facto eine altgläubige Enklave inmitten des Ulmer Territoriums. Einer der Ausläufer nach Söflingen, deren Name durch die Wachen am Stadttor notiert wird und der sich dem Verhör der Ratsverordneten unterziehen muss, ist Lienhart Scheifelin. Seine Aussage wirft ein besonders deutliches Licht auf die Herrschafts- und Staatlichkeitsbezüge, in deren Zusammenhang er sein Vergehen stellt: „[Er] sey inn seinem gartten gewesen und gras gemähet und ettlich leutt sehen hinausß reitten und gen. Och vermaint, es were seidher des Reichstags erlaupt, und auch hinauß. Doch ainen ersamen Rat nit zuwider gangen. Hab vermaint, dieweil Benedikt Krafft hinauß reitt, es sölle im auch nit verpotten sein.“1399 Zunächst kommt in diesem Zitat die lokale soziale Dynamik zum Ausdruck, die das Auslaufen bedeuten kann. Wenn sich eine Gruppe von Menschen aus Ulm hinausbe-

1398 Vgl. Kap. III. 4. 1399 StAU, A [8984/I], Bl. 69r.

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

wegt, kann dies motivierend und bestätigend auf andere wirken, so wie im zitierten Beispiel auf Lienhart Scheifelin. Weiterhin rechtfertigt der Ulmer Bürger sein unerlaubtes Verhalten durch einen Verweis auf die angebliche Entscheidung des Reichstags, der zufolge das Auslaufen nun wieder erlaubt sei. Dieses Argument hält er für so stark, dass er es noch vor sein Bekenntnis setzt, sich der devianten Gruppe angeschlossen zu haben. Welchen Reichstagsbeschluss Scheifelin genau meint, bleibt im Unklaren, ähnlich wie beim Begräbnisstreit in Regensburg 1538/39. Offenbar werden für die Laien und den niederen Klerus die Reichsabschiede zu einer vielfältig verwendbaren und auslegbaren Referenz der höchsten politischen Ebene des Reichs, die lagerübergreifend herangezogen werden kann, aber deshalb im präzisen Fall vor Ort während der 1530er-Jahre kaum mehr einen hilfreichen Rahmen anbietet. Dass Lienhart Scheifelin mit dem Bezug zu den Reichsgesetzen in einen vielleicht sogar beabsichtigten Konflikt mit den Ulmer Mandaten gerät, die das Auslaufen verbieten, scheint ihm klar zu sein. So erklärt sich Scheifelins Hinweis, er habe dem Rat nicht ungehorsam sein wollen. Das Dilemma zwischen eigener Überzeugung und Reichsabschieden einerseits und den Bestimmungen der zwinglischen Ulmer Obrigkeit andererseits löst der Gläubige im Verhör durch einen geschickten argumentativen Schachzug: Er verweist auf das Verhalten der örtlichen Herrschaftsträger. Benedikt Krafft, ein Angehöriger der Ratsoligarchie, sei ebenfalls nach Söflingen hinausgeritten. Dies habe er als Beleg betrachtet, dass der Reichstagsbeschluss auch in Ulm gelte und somit die städtischen Mandate übertrumpfe. Es wird deutlich, wie gezielt sich die altgläubigen Laien bei der Frage, ob sie eine herrschaftliche Grenze aus religiösen Gründen überqueren dürfen oder nicht, auf die komplexen Verwicklungen der Rechtslagen im Alten Reich berufen und mit diesen zum eigenen Vorteil umzugehen lernen. Die Laien sehen sehr deutlich, dass sich auch auf der horizontalen Territorialebene die Haltungen und Vorschriften der jeweiligen Obrigkeiten unterscheiden und widersprechen. Diese Erfahrung macht auch Rudolph von Westerstetten, der Vogt in Geislingen, der altgläubigen Hochburg im Norden des Ulmer Landgebiets. Am 31. August 1532 schreibt er einen Lagebericht an den Ulmer Bürgermeister Bernhard Besserer, der das Auslaufen zur Messe in die Herrschaft Eybach, eine Enklave bei Geislingen, verboten hatte. Der Vogt bittet den Bürgermeister zu handeln, damit das „Götzenwerk“ ebenso wie das Ausweichen an andere Orte zum Messehören endlich unterbunden wird.1400 Die Geislinger Gläubigen machen sich laut dem Vogt die offenkundige Vielfalt des rituellen Angebots in ihrer Gegend argumentativ zunutze: [U]nd wurdet gmainlich und furnämlich zü Geyslingen gantz treffentlich davon geredt, (wann) die neue leer (daren sye liegen) gütt und an ir selbst gerecht were, so gienge man nit so loyas[?] mit der sach umb. Dann man sehe wol, das kain gleychait gehallten. Dann an ainem ortt gestatte

1400 StAU, A [8984/I], Bl. 264r.

1.3 Lippe 

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man die meß und götzen und am anndren syen sie abgethaun. Und wann ain bestand darinnen sein söllt, so thette man es pillich in der herschafft allenthalben ab.1401

Die Kritik der Laien in Geislingen an der unvollkommenen Umsetzung der Kirchenordnung und der „neuen Lehre“ dürfte sich nicht nur auf das Ulmer Territorium und auf die Umsetzungslücken der neuen Kirchenordnung in Pfarreien mit auswärtigen Patronatsherren beziehen, sondern auch auf die kleinen Enklaven wie Eybach, dem Zentrum des altgläubigen Auslaufens im Norden des Territoriums. Während die Evangelischen diese religionsgemeinschaftliche Heterogenität bekämpfen, profitieren die altgläubigen Laien in ihrer Praxis davon und wenden sie gegen die „neue Lehre“. Das nachlässige Vorgehen der Obrigkeit bei der Umsetzung der Reformation zeige demnach die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit des evangelischen Anliegens. Die Realisierung der Kirchenordnung gerät aus dieser Perspektive zum Willkürakt. Eine wahre und christliche Ordnung müsse der Argumentation der Laien folgend überall gleich sein und sofort umgesetzt werden. Die schleppende und angeblich ungleichmäßige Reformation spreche gegen die „neue“ Religion. Ihr wird von den Altgläubigen deshalb die Aussicht auf dauerhaften Erfolg abgesprochen – ganz so wie auch in der Flugschriftenliteratur.1402

1.3 Lippe Die kleinen Territorien und Städte Ostwestfalens stehen ab Mitte der 1520er-Jahre unter dem geistigen und spätestens seit den 1530er-Jahren auch unter dem religionspolitischen Einfluss des Landgrafen Philipp von Hessen.1403 Dieser bekennt sich 1524 zur Reformation und leitet in seinem Herrschaftsgebiet entsprechende Schritte der kirchlichen Neujustierung ein. Der religiöse Einfluss aus Hessen macht sich in den angrenzenden westfälischen Gebieten auch politisch bemerkbar: Philipp versucht, die lutherische Reformation in Ostwestfalen zu fördern. Dabei unterstützt er die Territorien und Hansestädte wie Lemgo bei ihren Reformationen, auch gegen den Willen ihres nominellen Landesherrn aus Lippe.1404 Bruder Göbel Schickenberge, der altgläubige Mönch aus dem Kloster Böddeken im Hochstift Paderborn, berichtet in seinen Aufzeichnungen 1531 über die reformatorischen Ereignisse in Lemgo. In seinen Aufzeichnungen wird das komplizierte Bezugssystem zwischen der Hansestadt, dem Grafen von Lippe und Paderborn deutlich. Göbel setzt den strikt religiösen Konflikt in Zusammenhang mit weiter verzweig-

1401 StAU, A [8984/I], Bl. 264r. 1402 Vgl. Kap. I. 3.1.2., 3.1.4. und 3.2.1. 1403 Vgl. allgemein die Dissertation von Wolf, Einfluß des Landgrafen (wie Anm. 207). 1404 Cf. Wolf, Einfluß des Landgrafen (wie Anm. 207).

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

ten städtisch-landesherrlichen Auseinandersetzungen, die sich „um etlike gewalt“ drehen, also um diverse Rechte. Der Mönch nennt zum Beispiel das Recht, einige Häuser abzubrechen, das sich die Lemgoer herausnehmen. Im Zentrum der Auseinandersetzung habe allerdings die Annahme des „nyen Lutterssen handel[s]“ gestanden. Die religionspolitische Differenz schreibt sich also in eine längere Geschichte herrschaftlicher und politischer Konflikte zwischen Lippe und Lemgo ein. Im Frühjahr beginnt mit neuen evangelischen Predigern und der Konstituierung eines Bürgerausschusses die entscheidende Phase der kirchlich-kommunalistischen Neuordnung Auf einem Landtag, wohl dem von Bentrup am 14. Juli 1531, von dem allerdings keine Protokolle überliefert sind, sei Lemgo als ehrlos, treulos und meineidig verurteilt worden. Deshalb sollte die Stadt ihre Privilegien, d. h. ihre städtischen Rechte und Freiheit, an den Landesherrn zurückgeben und Simon V. einen neuen Treueeid schwören. Erst die von Lemgo angerufene Gräfin Magdalena soll einen Kompromiss herbeigeführt haben, verbunden mit einer staatlichen Geldzahlung. In diesen Beschreibungen des Mönches tritt die Verbindung der fraktalen Strukturen des Alten Reichs mit der entstehenden religiösen Frage hervor. Besser als die Modelle der Territorialisierung oder der Konfessionalisierung wird das Konzept der fraktalen Staatlichkeiten den Geschehnissen gerecht. Denn endgültige Entscheidungen werden von Göbel nicht überliefert, im Gegenteil. Man werde nach der vorläufigen Einigung sehen, „[w]o sic dat noch loppen wyl“. Der Einbezug der vielen institutionellen und herrschaftlichen Ebenen, die miteinander in verschränkter Interaktion stehen und zumindest in diesem Fall zu endgültigen und linear durchsetzbaren Lösungen, anders als in Frankreich, nicht fähig sind, wird durch einen weiteren Akteur verstärkt. Göbel berichtet, dass auch der Bischof von Paderborn gegen die Stadt Lemgo prozessiert. Somit tritt ein weiterer Akteur in dem Konflikt auf, der kirchliche und territoriale Rechte vereint. Paderborns Eingriffsmöglichkeiten in Lippe sind durch die „Erbvereinigung“ und die formelle Lehensoberherrschaft konturiert. Noch bedient sich auch der altgläubige Graf Simon V. dieser herrschaftlichen Verschränkungen, doch ab der Reformation 1538 stellen diese für Lippe ein beträchtliches Problem im Zuge der religiösen Veränderung dar.1405 Der hessische Landgraf sagt auch sehr kleinen ostwestfälischen Herrschaftsgebilden und deren Obrigkeiten, etwa 1537 Graf Otto IV. von Rietberg, die Unterstützung bei der Einführung der Reformation zu – mitunter wohl nach vorausgehendem Druck.1406 Dabei ist in Lippe die Einflussnahme besonders effizient, da zwischen der Landgrafschaft und Lippe nicht nur lose Lehensverbindungen bestehen, sondern Philipp auch Vormund der minderjährigen Landgrafen ist und somit nach dem Tod Simons V. großen religionspolitischen Druck ausüben kann. Er betreibt maßgeblich die Aus-

1405 Rüthing, Chronik Bruder Göbels (wie Anm. 264), S. 365. Vgl. auch die Anmerkungen des Hrsg.; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung, 73–119. 1406 Vgl. LAV NRW W, Grafschaft Rietberg, Nr. 1375, fol. 1r.

1.3 Lippe 

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arbeitung und den Erlass der evangelischen Kirchenordnung im Jahr 1538. Dass es sich dabei um keinen linearen, sondern um einen verwickelten Prozess handelt, in dem nicht nur Teile der Landstände, sondern auch andere Vormünder, darunter der Koadjutor des Erzbischofs von Köln, Adolf von Schaumburg, intervenieren, wurde von Heinz Schilling eindrücklich beschrieben und lässt sich in den Protokollen der Landtage detailliert nachvollziehen.1407 Doch nicht nur zwischen den Obrigkeiten wird ab 1536 um die religiöse Richtung der Grafschaft gerungen. Die Folgen der fraktalen Staatstrukturen sind auch auf lokaler Ebene erfahrbar. So etwa 1537 im Kirchspiel Heiligenkirchen, als dort ein mutmaßlich altgläubiger Franziskanerobservant am Feiertag der heiligen Katharina eine umstrittene Predigt hält. Mit seiner Verteidigung des Heiligenkults und der Lektüre aus dem catalogus mortuorum fordert er eine Frau heraus, die ihn wortgewaltig mit klassisch evangelischer Kritik an den beiden Praktiken konfrontiert. Im Hinblick auf die rituellen Distinktionen wurde dieser Fall bereits diskutiert. An dieser Stelle geht es um die politischen Folgen und die Behandlung des präzisen Problems auf und zwischen verschiedenen herrschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen.1408 Der Prädikant bringt die Gottesdienststörung in der kleinen Pfarrkirche, drei Kilometer südlich von Detmold gelegen, bei den Befehlshabern der Grafschaft zur Anzeige. Offenbar hofft er auf deren Unterstützung, wohl weniger wegen großer altgläubiger Sympathien der Obrigkeit, sondern v. a. in der Absicht, auf den verbotenen Vorgang der religiösen Auseinandersetzung und Angriffe zu verweisen. Diese können selbst die zunehmend unter reformatorischem Druck stehenden Befehlshaber kaum tolerieren. Die Klage zeigt Wirkung und führt dazu, dass die Befehlshaber die Frau, die die Predigt gestört hat, sowie eine weitere lutherische Frau verhaften lassen.1409 Doch die fraktalen Staatsstrukturen in Lippe bieten Möglichkeiten, die Frauen wieder freizubekommen. Dafür bieten sich Suppliken an, Hilfegesuche bei auswärtigen Herrschaften, die nicht nur über den entsprechenden politischen Einfluss verfügen, sondern mit dem Anliegen soweit konform gehen dürften, dass das Gesuch Aussicht auf Erfolg hat. In dieser Situation supplizieren die Verwandten und Freunde an den evangelischen Landgraf von Hessen, der Oberlehensherr über Lippe ist und an dessen Hof der junge Graf Bernhard erzogen wird. Die Supplikanten berichten, dass sie bei den Befehlshabern vorstellig geworden seien und auch um die Freilassung ihrer Verwandten ansuchten, jedoch erfolglos. Sie bitten damit hinsichtlich eines präzisen Problems eine höhere auswärtige Instanz um Intervention auf der territorialen Ebene, um einen Vorfall auf der „unteren“ dörflichen Ebene zu klären. Nicht nur die Verhaftung, sondern auch die verweigerte Freilassung der Gläubigen sei Unrecht und unchristlich. Die Suppli-

1407 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 123–130; LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 16r–44r. 1408 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 43–45r. 1409 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 4v.

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

kanten bitten den Landgraf, das geschehene Unrecht zu bekämpfen, indem er schriftlich bei den verordneten Befehlshabern für zwei Anliegen interveniert: Erstens sollen die beiden Verhafteten ohne Lösegeld freigelassen werden, zweitens sollen sie sich künftig nicht mehr beim Bekenntnis ihres Glaubens fürchten müssen. Die Intervention, die die Supplikanten sich wünschen, läuft also auf die Straffreiheit für evangelisch motivierte Predigtstörungen und verwandte Aktivismusformen im Rahmen einer lutherischen Reformation hinaus.1410 Tatsächlich erreichen sie ihr Ziel: Zwei hessische Räte in Kassel, der Statthalter Sigmund von Boyneburg und der Kanzler Johann Feige, schreiben einen warnenden Brief an die Befehlshaber der Grafschaft Lippe. Sie drohen unverhohlen damit, den Vorfall an den Landgraf weiterzuleiten, falls die beiden Frauen nicht freigelassen werden und derlei Verfolgungen künftig nicht unterbleiben.1411 Wie reagieren die Befehlshaber darauf? Es geht schließlich um die Neubestimmung des Raums der Möglichkeiten für Evangelische, sich frei zu äußern und offen altgläubige Kulturformen und deren Träger anzugreifen. Zudem steht der institutionelle Rückhalt für dezidiert altgläubige Prädikanten zur Disposition. Die Antwort der Befehlshaber ist überraschend selbstbewusst und folgt im Ganzen der Argumentation des klagenden Franziskaners. Gleichzeitig weichen sie den religiösen Dimensionen des Vorfalls aus und verlagern sich in ihrer Argumentation ganz auf die Fragen der Stabilität, der sozialen Ordnung und der Ruhe, allesamt immerhin Schlüsselwerte in den Gesellschaftsdiskursen des 16. Jahrhunderts. Ein religiöser Konflikt wird dissimuliert und moderiert durch die Verlagerung auf die rein politische und juristische Ebene. Die Befehlshaber antworten am 5. Januar 1538, die beiden Frauen hätten sich „hefftiger uproriger rotterie im schyne des evangelion angnhommen unnd sünderliches oren pharherenn up der cantzell in synem sermone perturbert und geerret.“1412 Der Störung durch die Frauen wird die evangelische Grundlage abgesprochen. Es habe sich um einen verbotenen Aufruhr und einen Angriff auf den rechtmäßigen Geistlichen gehandelt. Dann erklären die Befehlshaber, wie das weitere Prozedere nach der Anzeige des Vorfalls durch den Pfarrer verlaufen sei. Graf Jobst von Hoya wurde als Vormund des minderjährigen Grafen eingeschaltet. Jobst von Hoya gilt als reformationsfreundlicher Landesherr in seinem Territorium. Er ist in der Lipper Reformation eine, wenngleich gegenüber dem hessischen Landgrafen zurückstehende, treibende Kraft.1413 Er verhört den Pfarrer sowie die angeklagten Frauen und befiehlt dem Prädikanten, das Evangelium künftig lauter zu predigen, und den Frauen, von ihrem Aufruhr abzustehen. Der Geistliche gibt sich offenbar damit zufrieden, denn die Formulierung des ihm erteilten Befehls ist dehnbar. Das Urteil gegenüber den Frauen würde ihm zudem

1410 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 4r–5r. 1411 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 2r–v. 1412 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 6r. 1413 Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 128.

1.3 Lippe 

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die gewünschte Ruhe bei der Seelsorge verschaffen. Deswegen akzeptieren die lutherischen Frauen den Befehl nicht. Sie weigern sich, die Belehrungen anzunehmen und sich zum Schweigen verdonnern zu lassen. Nach Beratung mit den Ständeverordneten beschließen die Befehlshaber, die Frauen zu verhaften. Die Supplik der Angehörigen sei also eine Lüge, denn die Frauen wurden nicht wegen ihres evangelischen Glaubens, sondern wegen ihres aufrührerischen Verhaltens gefangen genommen. Die Befehlshaber kündigen diesbezüglich einen Bericht des Grafen von Hoya an und bitten die hessischen Räte, künftig in derartigen Fällen auch ihre Seite anzuhören.1414 Schon während dieser Phase versuchen die neben Hessen zweiten Lehensoberherren aus dem Hochstift Paderborn die Entwicklungen aufzuhalten. Klarer Protest und Drohungen folgen insbesondere auf die Reformationsbeschlüsse im August 1538. Auch die innere Fraktalität des lippischen Territoriums tritt in diesem Prozess klar hervor. Während einige evangelische Städte, allen voran das bereits reformierte Lemgo, keinen offenen Einfluss auf den Fortgang der lutherischen Kultur ausüben und bei den Landtagen gar nicht erst erscheinen, bekennt sich bei der Ständezusammenkunft am 19. August 1539 der Adel zur Reformation. Doch es gibt Einschränkungen. Nicht alle Adeligen sind präsent und die vor Ort befindlichen Städte äußern Bedenken. Sie wollen zuerst mit ihren Bürgern über die religiösen Fragen sprechen und dann mit deren Beschlüssen zu einem neuen Landtag zusammenkommen.1415 Der kommt am 28. August, erneut in Cappel, zusammen. Auf diesem bekennen sich die Vertreter der zuvor zögernden Orte zur lutherischen Reformation. Der Adel bleibt bei seiner bereits gegebenen Zustimmung, bis auf eine Ausnahme: Franz von Kerssenbrock widersetzt sich der in der politischen Kultur der Vormoderne so wichtigen Einigkeit bei Entscheidungen und Beschlussfassungen. Er verwendet zwei auch in der Flugschriftenliteratur zentrale Argumente, um seine Abweichung möglichst schlagkräftig zu belegen. Er bezieht sich auf den Neuerungscharakter dessen, dem er seine Zustimmung auf der Ständeversammlung bis zum Schluss versagt. Die Neuerung als Konterkarieren der guten, alten Ordnung, ist ein gedankliches und kulturelles Topos der europäischen Vormoderne, das sich die Altgläubigen in der literarischen Polemik und der konkreten Auseinandersetzung zunutze machen. Das Alte und Ideale bzw. dessen Erhalt in einem gesellschaftlichen System, das Neuheit mit Verschlechterung gleichsetzt sowie mit Unbekanntem und Illegitimem verknüpft, ist ein schlagkräftiges Argument. Kerssenbrock verwendet dieses als mutmaßlicher Altgläubiger und münzt die Kategorie der Neuerung mit den beschriebenen Konnotationen auf die geplante Reformation. Die Ständemehrheit wiederum bezieht sich bei ihrer Entscheidung auf das Evangelium und die daraus stammende heilbringende Lehre. Doch genau dagegen protestiert Kerssenbrock, der den „neuen Handel“ nicht annehmen will, bis man ihn auf Grundlage der heiligen Schrift umgestimmt hat. Als

1414 LAV NRW OWL, L 69, Nr. 162, Bl. 6r–v. 1415 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 41v–42r.

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

unevangelische Neuerung, die keine Er-Neuerung sei, kann Kerssenbrock aus seiner Perspektive den Reformationsbeschlüssen nicht zustimmen, auch wenn er dadurch symbolisch wichtige Grundregeln der auf Konsens und Einigkeit ausgerichteten politischen Kommunikation bricht.1416 Doch trotz des angekratzten Bildes, das das Zustandekommen liefert, ist der Beschluss zur lutherischen Reformation in Lippe nun gefallen. Der evangelische Prädikant Adrian Buxschut arbeitet eine Kirchenordnung aus und soll diese allen Klerikern der Grafschaft kommunizieren, wofür die Geistlichen am 25. Oktober 1538 in Detmold zusammenkommen sollen. Zahlreiche Pfarrer versuchen, dem zu entgehen, indem sie ihre auswärtigen Patronatsherren oder das Domkapitel in Paderborn um Hilfe bitten. Einige dieser Priester tauchen auch bei einer späteren Visitation als „papistische“ Priester auf. Die Frage, wer die Praxisangebote der Pfarrer bestimmten darf, wie diese aussehen sollen und wer überhaupt welche Priester wo einsetzen darf, bleibt insbesondere zwischen Lippe und Paderborn bis weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ungelöst. Andere Patronatsherren wenden sich direkt an auswärtige Obrigkeiten, etwa an den Kölner Koadjutor, um Druck auf Lippe auszuüben, damit der eigene Pfarrer die altgläubigen Rituale weiterhin durchführt oder durchführen kann. Auch derlei Auseinandersetzungen sind lange nur durch Kompromisse und die normative Kraft des faktisch Gelebten auszutarieren.1417 Die Verbindung verschiedener Ebenen in präzisen Konflikten und mithin die Instrumenalisierbarkeit der fraktalen Staatlichkeit zeigt sich auch bei der Auseinandersetzung um den Pfarrer des Kirchspiels Silixen im Jahr 1539. Am 12. März schreibt Graf Johann von Schaumburg, der Bruder des Kölner Koadjutors Adolf, wegen der Pfarrei an die Befehlshaber von Lippe, um über eine Beschwerde des Klosters Möllenbeck zu berichten. Dessen Prior hat das Patronat über Silixen inne: Unse leven andechtigen prior und convent tho Mollenbeck berichten uns, wathmaten ohren kerckhern tho Silixen de nie ordenung in religion und kercken sachen deselben anthonemen von iw hirbevorn sy vorgeleckt, na dersulffen sich tho richten und regeren. Des sye tho der tidt unsern frunthligen leven hern und broder, den coadiutorn, ersocht und seiner liebden rath genomen. De scholen de anthworde gegeven hebben, dath solichs gegen alle avescheid der rykes dege beven den lobligen olden bewerten hergebrachten gebruk der hilligen kercken, dar wethe seine liebden keynerley wis in tho willigen edder tho reden, sonder dath de kerckherre by olden gebruke beharre. Und sonderlich dewile gedachte kercke der von Mollenbeck lehen ist und de von Mollenbeck uns Schowenborgeschen underworpen, nu wolden wy demnach dem ryke nicht gerne ungehorsam befunden werden und sonderlich in sachen der selen selicheyt bedrepen, dem nach weten wy heichgedachts unsers leven hern und broders erwegen nicht thoverandern und ist unser gutlich gesynnen, sy willen den gedachten pastor in synem gebruke bis tho eynem kumpftigen concilio geweren laten.1418

1416 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 43r. 1417 Vgl. zu diesen Fragen Kap. II., 1.1.1. und 1.1.2. 1418 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 82r.

1.3 Lippe 

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Der Brief des Grafen Johann von Schaumburg ist der sicher nur vorläufige Endpunkt eines für Lippe und dessen altgläubige Priester nahezu typischen Agierens in den fraktalen staatlichen und kirchlichen Strukturen. Der Pfarrer von Silixen wird demnach durch das Kloster Möllenbeck in der Grafschaft Schaumburg eingesetzt. Das Kloster wendet sich mit seinem Anliegen, die alten religiösen Bräuche in Silixen beizubehalten, an den Kölner Koadjutor Adolf von Schaumburg, den älteren Bruder des Grafen Johann von Schaumburg, der mit Adolf das Territorium regiert. Ergreift das Kloster die Initiative von sich aus oder aufgrund von Beschwerden und Hilfegesuchen, wie sie vielfach kurz nach der Reformation von lippischen Pfarrern an Paderborn oder den Kölner Koadjutor dringen? Mit Sicherheit ist dies nicht zu klären, doch erneut kann die 1542 von Anton Corvinus durchgeführt lutherische Visitation einen Hinweis geben. Dort wird in Silixen der Pfarrer Johann Dene als durch und durch papistisch und „impius“ beschrieben. Erst nach der Suspendierung will dieser sich, mit Tränen in den Augen, zum Evangelium bekehren, woraufhin er wieder in seine Funktion eingesetzt wird.1419 Sollte es sich dabei um denselben Pfarrer wie 1539 handeln, wäre es plausibel, wenn dieser sich zuvor bei seinen Möllenbecker Patronatsherren beschwert hätte. Der örtliche Konflikt um die Ausübung altgläubiger Praktiken gelangt an den Prior von Möllenbeck, der sich daraufhin an den Koadjutor Adolf von Schaumburg wendet, der für die Möllenbecker zugleich weltliche als auch geistliche Obrigkeit ist. Die Grafschaft Schaumburg liegt zu großen Teilen in der Kölner Kirchenprovinz.1420 Außerdem war Adolf bis 1538 einer der Vormünder des minderjährigen Grafen von Lippe. Er ist somit ein einflussreicher, gut vernetzter und sowohl kirchen- als auch staatspolitisch durchaus mächtiger Akteur. Das Urteil Adolfs ist eindeutig: Die Kirchenordnung verstoße gegen die Reichsabschiede und den alten Brauch. Ob der Prior von Möllenbeck diese Anweisung an seinen Pfarrer oder an die Befehlshaber von Lippe weiterleitet, ist nicht überliefert. Offenbar bedarf es aber des zusätzlichen Drucks in der verfahrenen kirchenpolitischen Situation. Deshalb wendet sich Johann von Schaumburg als Herr des Klosters, das den Pfarrer im lippischen Silixen einsetzt, direkt an die Befehlshaber der Grafschaft in Detmold. Aufgrund der beschriebenen Kette von politischen und kirchlichen Verbindungen und im Kampf um das Seelenheil fühlt sich Johann berechtigt, die Befehlshaber ebenfalls zu ermahnen, den Pfarrer bei seiner alten Religionsausübung zu belassen. Die Ermahnung scheint im Übrigen erfolgreich gewesen zu sein: Zumindest bis 1542 sichert die Mobilisierung dieser institutionellen und territorialen Verstrickungen einen Raum der Möglichkeiten, in dem die altgläu-

1419 Corvinus, Kirchenvisitationsprotokoll (wie Anm. 1), S. 123. 1420 Böhme, Lippe (wie Anm. 208), S. 154, 156 f.

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 1 Altgläubige und die fraktalen Staatlichkeiten im Alten Reich

bige Kultur durch den Pfarrer in Silixen weiter angeboten und durchgeführt werden kann. *** Die fraktale Staatlichkeit hat für die Entstehung und die Fortdauer altgläubiger Kulturen und das Handeln deren Träger sowohl Nutzen als auch Nachteile. Letztere sind evident und werden schon von den Zeitgenossen angeprangert, denn die Durchsetzung des Wormser Edikts ist für den Kaiser in den Städten und Territorien ohne deren Kooperation und ohne militärische Mittel kaum möglich. Die Reichsabschiede helfen spätestens in den 1530er-Jahren nicht mehr weiter und werden zu einer sowohl von Altgläubigen als auch von Evangelischen herangezogenen und zunehmend beliebigen Legitimationsbasis für das eigene Agieren. Weiterhin können Obrigkeiten lutherische oder zwinglische Kirchenordnungen erlassen und auf deren mehr oder weniger stringente Umsetzung drängen. Dies wird zur Belastungsprobe für altgläubige Kulturen und beendet mittelfristig, wenn schon nicht deren Präsenz, so doch zumindest deren offene Artikulation. Der Druck auswärtiger Herren führt Territorien mitunter erst zur protestantischen Wende. Die fraktalen Staatlichkeiten ermöglichen es schließlich fremden Herren, selbst in nicht-reformatorischen Gebieten zu intervenieren, evangelische Bewegungen und deren Träger zu stützen und zu fördern. Andererseits ziehen die Altgläubigen großen Nutzen aus den fraktalen Staatlichkeiten des Reichs. Pfarrstellen und somit klerikale Infrastrukturen und Angebote werden protegiert, Gläubige in juristischen Schwierigkeiten können sich an diverse Obrigkeiten mit der Bitte um Hilfe wenden. Die fragmentierten Territorien bieten Ausweichmöglichkeiten für bestimmte Rituale, wobei die „Ungleichmäßigkeit“ der „Neuerungen“ angeprangert und gegen die Reformatoren gewendet wird. Nicht nur dabei tun sich mit bemerkenswerter und bisher unterschätzter Intensität besonders die altgläubigen Laien und kleinen Pfarrer hervor, die sich von ihren Dörfern aus dieser Strukturen auf kreative und kenntnisreiche Art bedienen. So treten verschiedene Ebenen und Institutionen der Reichsstruktur in Bezug zueinander, wobei sie sich wechselseitig unterstützen und blockieren, übereinstimmen und widersprechen können. Zudem bietet insbesondere die Reichsebene, d. h. Kaiser und Reichstage, willkommene argumentative Munition für die Reformationsgegner. Bemerkenswert ist zudem, dass sich die Akteure des provisorischen Charakters auf der Suche nach einem religiösen modus vivendi durchaus bewusst sind. Der Hinweis, es handle sich um vorläufige Entscheidungen bis zu einem Konzil oder einer Nationalversammlung, ist häufig zu lesen. Die altgläubigen Akteure im Alten Reich suchen neben ihrer Identität auch einen politisch und rechtlichen Umgang mit dem entstehenden „konfessionellen“ Anderen. Neben dem politisch-staatlichen Raum entwickeln sich altgläubige Zugehörigkeiten und Distinktionen aber auch im realen Raum konkreter Orte mit ihren spezifischen materialen, personalen und kulturellen Bedingungen.

2 Raum: Aneignung und Differenzierung Die Untersuchungskategorie des Raums erlebt in deutschen und angelsächsischen Wissenschaftskontexten seit einigen Jahren großen und konzeptuell sowie methodisch vielfältigen Auftrieb. In der französischen Historiographie ist Raum hingegen seit Jahrzehnten ein von der Geschichtswissenschaft untrennbarer Untersuchungsgegenstand, was auch mit dem Ausbildungsweg französischer Historikerinnen und Historiker zusammenhängt: Die Auswahlprüfung (agrégation) für das gymnasiale Lehramt bezieht auch Geographie mit ein. Diese Einflüsse schlagen sich nicht nur in den dafür sicherlich exemplarischen Arbeiten von Fernand Braudel über das Mittelmeer nieder, sondern auch in der Tradition der Religionssoziologie, die Fragen der Frömmigkeit und der Gemeindestruktur unter anderem durch landwirtschaftliche, ökonomische, topographische und klimatische Faktoren erklärt hat. Klassische Beispiele hierfür sind die Studien von Emmanuel Le Roy Ladurie über das südfranzösische Bergdorf Montaillou, dessen sozial-religiöse Lebensweise durch einen Inquisitor offengelegt wird, sowie über die Bauern des Languedoc.1421 Ähnlich arbeitete Pierre Chaunu in seiner Langzeitstudie über das Zeitalter der religiösen Krisen und Reformen, das nicht zuletzt durch den Niedergang des hochmittelalterlichen monde plein ausgelöst worden sei.1422 Darüber hinaus ist die Reflexion über die verschiedenen Raumebenen (échelles) in Frankreich traditionell stark ausgeprägt.1423 Auch Sakralräume waren zuletzt ein immer wichtigeres Thema der katholischen Religionsgeschichte.1424 Zum einen rückte dabei die materiale Ausstattung der Kirchen und Kapellen neu in den Fokus der Forschung. Revisionen und Veränderungen der Sakralumgebung wurden nicht nur für die reformatorische, sondern auch für die altgläubige Seite ausgemacht.1425 Artefakte und deren Präsenz in Kirchenräumen sowie an anderen markanten Orten bieten den Zeitgenossen vielfachen Grund

1421 Le Roy Ladurie, Emmanuel: Montaillou, village occitan. De 1294 à 1324. Paris 1975 (Bibliothèque des histoires); Le Roy Ladurie, Emmanuel.: Les paysans de Languedoc. Paris 1966 (Bibliothèque générale de l’École pratique des hautes études 6e section). 1422 Chaunu, Temps des réformes (wie Anm. 10). 1423 Vgl. Bonzon, Anne: Sociologie religieuse et histoire sociale. La paroisse. In: Religion ou confession? Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe-XVIIIe siècles. Hrsg. von Christophe Duhamelle u. Philippe Büttgen. Paris 2010. S. 373–392. 1424 Vgl. Crosby, Vanessa: New Approaches to Sacred Space. In: JRH 31 (2007). S. 463–472; Rau, Susanne: Raum und Religion. Eine Forschungsskizze. In: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hrsg. von Gerd Schwerhoff u. Susanne Rau. München/Hamburg 2008. S. 10–35. 1425 Friant, Catholicisme matériel (wie Anm. 48); Riviale, Vitrail (wie Anm. 270); Schwerhoff, Gerd: Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hrsg. von Gerd Schwerhoff u. Susanne Rau. München/Hamburg 2008. S. 38–68; Froeschlé-Chopard, Marie-Hélène: Espace et sacré en Provence, XVIe-XXe siècle. Cultes, images, confréries. Paris 1994 (Histoire). DOI 10.1515/9783110492460-016

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

zum Anstoß und führen zu Auseinandersetzungen im und um Raum, insbesondere in Simultankirchen.1426 Auch liturgische Bücher konnten als Symbol und Grundlage altgläubiger religiöser Praktiken in Sakralräumen in den Fokus der reformatorischen Obrigkeiten geraten und heilige Orte, etwa in Zürich und Biberach, für die Reformationsgegner einnehmen.1427 Archäologische Studien erweisen sich für die 1520er- und 1530er-Jahre für die evangelische Seite als ergiebiger, da Veränderungen der materialen Beschaffenheit und Ikonoklasmen leichter zu fixieren sind als Veränderungen von Bedeutungen und leichte performative Anpassungen bezüglich ansonsten unveränderter Objekte.1428 Bereits die Optik sowie die architektonische Anlage von Kirchengebäuden kann deren konfessionelle Zugehörigkeit verdeutlichen.1429 In diesem Zusammenhang rückten zuletzt die sinnlichen Wahrnehmungen der Raum-PraxisZusammenhänge in den Vordergrund.1430 Besonders intensiv und innovativ hat sich Olivier Christin in seinen Studien zur religiösen Aneignung und Distinktion im Kirchenraum befasst. Er analysierte die ikonoklastischen Praktiken der französischen Protestanten und deren kulturelle Aussagekraft. Dem stellte er die umfassende Strategie der Katholiken zur Resakralisierung und Aneignung der von den Hugenotten „geschändeten“ Gotteshäuser entgegen.1431 Religion und deren materiale Spielformen werden darüber hinaus nicht mehr nur in, sondern auch um die Kirche sowie in Feld und Flur untersucht. Lage und Ausgestaltung von Friedhöfen wurden als Konfliktauslöser und mittelfristig als Unterscheidungsmerkmal zwischen den entstehenden Konfessionen identifiziert. Die Altgläubigen beharrten auf der Bestattung in geweihter Erde direkt neben der Kirche, auf dem Kirchhof. Im Sinne der communio vivorum et mortuorum und der Einwirkungsmöglichkeiten der Lebenden ins Jenseits, etwa durch Fürbitten, Prozessionen zu den Gräbern oder Messstiftungen, ist die Verlegung der Friedhöfe ausgeschlossen. Genau dies fordern und realisieren evangelische Gemeinden. Sie grenzen sich damit räumlich und theologisch von den Altgläubigen im Sinne einer strikten kulturellen und rituellen Trennung der Lebenden von den Toten ab.1432 Die Lage der Friedhöfe und deren Trennung nach Konfessionen spielt eine umso größere Rolle, je klarer und rechtlich fixierter die religiöse Spaltung wird. Keith Luria hat dies für Frankreich nach dem Toleranzedikt von Nantes eindrücklich untersucht.1433 Auch im Alten Reich

1426 Thali, Ausbildung konfessioneller Identitäten (wie Anm. 38); Hacke, Kommunikation über Räume (wie Anm. 944). 1427 Mudrak, Zensiert und zerrissen (wie Anm. 445). 1428 Scholkmann, Archäologie der Reformation (wie Anm. 76). 1429 Krumenacker, Temples protestants (wie Anm. 944). 1430 Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181). 1431 Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40); Christin, Temple disputé (wie Anm. 944); Christin, Idoles (wie Anm. 907). 1432 Koslofsky, Konkurrierende Konzepte (wie Anm. 867). 1433 Luria, Frontières (wie Anm. 867).



2 Raum: Aneignung und Differenzierung 

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müssen die Bestattungsfragen im mehrkonfessionellen Kontext, etwa in Westfalen oder manchen Reichsstädten, geklärt werden. Dies geschieht auf vielfältige Weise, mal abgrenzend, mal integrierend, und nicht immer unter rein konfessionellen Gesichtspunkten.1434 Schließlich wird die Ausgestaltung der Gräber zu einem sofort und für alle Zeitgenossen erkennbaren Zeichen der Zugehörigkeit der Toten.1435 Darüber hinaus wurde zuletzt für die Altgläubigen immer deutlicher, wie stark sie mit religiösen Praktiken auch fern von Kirchen Zugehörigkeit demonstrieren, Unterschiede deutlich machen und Grenzen kulturell – und nicht nur politisch-territorial – fixieren. Prozessionen und Wallfahrten spielen dabei eine große Rolle, sind aber vor allem für die Jahrzehnte vor und nach meinem Studienzeitraum gut untersucht. Wallfahrten erleben zumindest im Alten Reich während der frühen Reformation einen starken Einbruch der Partizipation, wohingegen etwa in Lyon oder der Diözese Blois eher Anpassungen und Neuausrichtungen zu beobachten sind.1436 Dass es sich im Reich um einen nur kurzen Einbruch einer intensiven Wallfahrtsfrömmigkeit vor und nach der Reformation handelt, hat Stefan Fassbindern in seiner archäologischen Studie über Wallfahrtsanhänger in Südwestdeutschland nahegelegt. Er verdeutlichte darüber hinaus durch die Analyse der Fundorte der Medaillen in Feldern und Wäldern die räumliche Allgegenwärtigkeit und Alltagsrelevanz der Frömmigkeitsformen.1437 In der Folge werde ich die distinktive materiale Kultur der Altgläubigen und deren Relevanz für die Konstruktion spezifischer Zugehörigkeiten in mehreren Schritten untersuchen. Dabei beginne ich mit dem Kampf um Raum, d. h. um den Zugang zu Kirchen oder Kapellen und das Recht, in diesen bestimmte Rituale zu vollziehen. Zweitens behandle ich den Kampf im Raum, d. h. die materiale Distinktion und die Aneignungsstrategien der Luthergegner. Drittens werfe ich einen Blick auf speziell die Materialität der Marien- und Heiligenkulte als herausragendes Merkmal altgläubiger Kultur während der Frühreformation.

1434 Luebke, Churchyard and Confession (wie Anm. 867). 1435 Brademann, Sprachliche Kommunikation (wie Anm. 1358). 1436 Nelson, Pilgrimage Processions (wie Anm. 889); Rossiaud, Processions de l’Ascension (wie Anm. 895); Kühne, Bankrott und Zerstörung (wie Anm. 889). Ferner Creasman, Virgin Mary (wie Anm. 105); Crouzet, Denis: Recherches sur les processions blanches, 1583–1584. In: Histoire, économie et société 4 (1982). S. 511–563; Chiffoleau, Jacques: Les processions parisiennes de 1412. Analyse d’un rituel flamboyant. In: Revue historique 284 (1990). S. 37–76; Löther, Andrea: Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit. Köln/Weimar/Wien 1999 (Norm und Struktur 12); Zika, Hosts (wie Anm. 121); Vincent-Cassy, Mireille: Pèlerinage et processions à la fin du Moyen Âge. L’exemple parisien. In: Cathédrale et pèlerinage aux époques médiévale et moderne. Reliques, processions et dévotions à l’église-mère du diocèse. Hrsg. von Catherine Vincent u. Jacques Pycke. Leuven 2010 (Bibliothèque de la Revue d’histoire ecclésiastique 92). S. 21–39. 1437 Fassbinder, Stefan: Wallfahrt, Andacht und Magie. Religiöse Anhänger und Medaillen – Beiträge zur neuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte Südwestdeutschlands aus archäologischer Sicht. Bonn 2003 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters. Beiheft 18).

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

2.1 Schlüsselgewalt: Der Kampf um den Zugang zu den Sakralräumen Bevor es zum Konflikt, zur Veränderung oder zur Distinktion in den heiligen Orten der spätmittelalterlichen Christenheit kommen kann, müssen Gläubige und Priester zu diesen überhaupt erst Zugang haben. Die Auseinandersetzung, wer das Recht hat, in die Kirche zu gehen um dort umstrittene religiöse Rituale durchzuführen, ist eng verbunden mit der Frage nach der Verfügbarkeit adäquater Sakralräume. Denn gerade in zwinglischen Gebieten wie Ulm kommt es häufig zum Abriss kleiner Kirchen und Kapellen. Die Frage nach dem Zugang zu und der Nutzung von Kirchenräumen stellt sich in den 1520er- und 1530er-Jahren jedoch anders als nach dem Augsburger Religionsfrieden bzw. dem Edikt von Nantes. Denn bis dahin existieren weder Rechtsgrundlagen für Simultankirchen noch für die Existenz verschieden konfessioneller Kirchen in ein und demselben Ort. Zudem sind die Gemeinschaften, die später als Konfessionskirchen Sakralräume oder Teile von diesen besitzen oder verteidigen können, erst in einem schemenhaften Findungsprozess begriffen. Deshalb sind wir auf den lokalen Ebenen konfrontiert mit Phänomen des Suchens und Findens von Räumen. Damit Evangelische in Kirchen und Kapellen Veränderungen vornehmen können, etwa hinsichtlich der immobilen und mobilen Ausstattung, oder um evangelisches Liedgut singen bzw. protestantische Lehren verkünden zu können, brauchen sie Zutritt zu den Kirchen. Die Frage, wer wann und wie eine Kirche betreten darf, ist damit ein Politikum – und war dies schon im Spätmittelalter, freilich in anderen Konfliktkonfigurationen. Ausschlaggebend sind Pfarrsatzrechte und Patronate ebenso wie die Positionierung der Gemeindevertretung, die durch die Kirchmeister oder -pfleger repräsentiert wird. Diese haben als oberste Verwalter des Kirchguts vielfach die Verfügungsgewalt über den Kirchenschlüssel, auf den sich aus praktischen und symbolischen Gründen der Konflikt vor und während der Reformation fokussiert. Die Pfleger sollen und wollen den Zugang zu den Räumen beschränken, in denen die Preziosen aufbewahrt werden, insbesondere zur Sakristei. Oft verwaltet der Pfleger die Schlüssel und gibt diese nur selten und in kleiner Zahl aus, womit auch das soziale Ansehen der Kirchenmeister zusammenhängt.1438 Wenn die Altgläubigen im juristischen oder politischen Besitz der Pfarrkirchen sind, nehmen sie die Kirche also nicht nur durch positiv, durch eigene kulturelle Handlungen und personale Präsenz ein, sondern auch negativ durch den (zeitweisen) Ausschluss devianter Praktiken und der diese vollführenden Personen der protestantischen Seite. Das Ausweichen der Minderheit bzw. der obrigkeitlich Verfolgten demonstriert also nicht nur deren Flexibilität und Einfallsreichtum, sondern zuallererst deren Schwäche. Diese Form der räumlich sichtbaren Exklusion trifft auch die Protestanten in Rouen vor dem Aufkommen einer massiveren calvinistischen Bewe-

1438 Reitemeier, Pfarrkirchen (wie Anm. 1081), S. 43–46.



2.1 Schlüsselgewalt: Der Kampf um den Zugang zu den Sakralräumen 

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gung und dem Aufbau auch räumlich festerer Gemeindestrukturen (églises dressées). Aus dieser Anfangszeit berichtet der unbekannte Chronist der Religionskriege aus Rouen, dass die Evangelischen untereinander durch geheime Zeichen kommunizieren und ihre nächtlichen Versammlungen etwa durch eine Laterne ankündigen, auf der ein Mond abgebildet ist. Zu Beginn seien sie nicht mehr als zwanzig Gläubige gewesen. Der Ortswechsel ist für die Evangelischen aus Gründen der Geheimhaltung nötig: Alle zwei Wochen wechseln sie das Viertel, in dem sie ihre Gottesdienste abhalten. Den Ortswechsel geben sie laut dem Chronisten durch Gesänge zu erkennen.1439 Die Macht, Andersgläubige von der Benutzung der Kirchenräume auszuschließen, wird in diesen Fällen zu einem nützlichen altgläubigen Instrument, um ihre kulturelle Hegemonie sowie ihre politische Überlegenheit darzustellen und die Evangelischen in die Heimlichkeit und zu nächtlichen Versammlungen zu drängen. Damit entsprechen die Protestanten den Repräsentationen aus den Flugschriften, in denen ihnen genau jene Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen unterstellt werden. Doch nicht immer sind die Reformationsgegner in der Lage, die Schlüsselgewalt auszuüben und den Zugang zu den Kirchen zu kontrollieren. Im Ulmer Landgebiet werden die Altgläubigen in den späten 1520er-Jahre zunehmend in eine Minderheitenrolle gedrängt und spüren, dass der politische Rückhalt aufseiten der Obrigkeit stark schwindet. In diesem Prozess stellt sich auch die Frage der Kontrolle über den Kirchenzugang neu, so etwa in der Landstadt Leipheim im Jahr 1529. Die 540 SeelenGemeinde1440 entwickelt sich in diesen Jahren zum neben Geislingen wichtigsten Ort für altgläubigen Aktivismus im Landterritorium vor und nach der Reformation. Denn die Differenzierungen sind dort äußerst vielfältig und so ausgeprägt, dass sie in den vorhandenen gemeindlichen Strukturen oder allein durch die Amtmänner der Ulmer Obrigkeit vor Ort nicht mehr geregelt werden können. Deshalb wenden sich die Leipheimer Laien über jeweils spezifische Kanäle an den Ulmer Rat und tragen diesem ihre Probleme, Sichtweisen und Forderungen vor, die in ihrer Gesamtheit an anderer Stelle analysiert werden.1441 In Leipheim sind die Spannungen innerhalb der Gemeinde für uns ab 1528 belegbar, als 45 Männer in einer Supplik die Einsetzung eines evangelischen Prädikanten fordern.1442 Der Rat leitet zwar Untersuchungen ein, kommt der Bitte aber offensichtlich nicht nach. Doch das ist nicht weiter schlimm, denn der Leipheimer Pfarrer Jakob Pittmann nimmt 1529 den zwinglischen Glauben an, stellte das Messelesen ein und heiratet.1443 Künftig wird er die Gallionsfigur der zwinglischen Gruppe im Ort sein. Dies zeigt auch eine Reihe von Maßnahmen, die Pittmann anordnet und

1439 Pottier, Relation des troubles (wie Anm. 307), S. 6. 1440 StAU, A [8984/I], Bl. 330r. 1441 Vgl. Kap. III. 5.2.4. 1442 StAU, A [5440], Bl. 49r–50v. 1443 Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 63–64.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

die bei Teilen der Gemeinde auf scharfe Ablehnung stoßen. Der Bürgermeister, den Pittmann als großen Päpstler bezeichnet, sowie das Gemeindegericht wenden sich in einer Beschwerde an den Ulmer Herrschaftspfleger Georg Besserer und legen die mutmaßlichen Verstöße des Geistlichen gegen die alte Ordnung dar.1444 Demnach will Pittmann das Glockenläuten ab dem Fronleichnams-Vorabend einstellen lassen, worüber er in eine harte Auseinandersetzung mit dem Mesmer gerät. Darüber hinaus will er die Retabel in der Kirche schließen. Schließlich kommt es zum Konflikt über das Öffnen der Kirche an Kirchweih, dem Fest des örtlichen Pfarreipatrons St. Veit am 15. Juni. Traditionell findet an diesem Tag auch ein Jahrmarkt statt.1445 Kirchweih impliziert zudem eine Reihe von Heiligenbrauchtümern, die der zwinglische Prädikant ablehnt. Deshalb will er an Kirchweih das Gotteshaus zusperren. Über die Einzelheiten des Vorfalls heißt es in der Supplik: Zum drytten hat auch der pfarrer yetz uff zukunftigen sannt Veitz aubent und tag am jarmarckt die kyrchen zu beschliessen und darein nemalz gaun laussen wollenn. Wie wol er darvon gestanden ist und die kyrchen offen staun laussen will, so will er doch sant Veitz pfleger nit zugebenn und gestattenn, das sy in der kyrchen nemalz mit sant Veitz hayltumb bestreichen und von hänen oder anders ainnemen, wie dann von alther her gescheen sey.1446

Der Pfarrer konnte sein Vorhaben, die Kirche während des ganzen Kirchweihmarkts zuzuschließen, offenbar nicht durchsetzen. Jetzt will er die Kirche offenstehen lassen, allerdings unter zwei Bedingungen. Diese sind in der Formulierung der Supplikanten nicht völlig klar dargestellt. Jakob Pittmann fokussiert sich demnach auf die Kirchenpfleger, die sicherlich auch in Leipheim über einen Kirchenschlüssel verfügen. Diesen untersagt der Geistliche, einen unklaren Berührungsritus mit der Veitsreliquie durchzuführen oder durchführen zu lassen. Darüber hinaus dürfen sie die Kirche nicht von Hühnern oder anderem Geflügel einnehmen lassen, d. h. die Tiere dürfen nicht – vielleicht zum Verkauf oder in wie auch immer gearteter Verbindung mit dem Heiltum – in die Kirche gelangen. Doch beides, argumentieren Bürgermeister und Gericht, sei ein alter Brauch. Sie würden es nicht hinnehmen, wenn der Prädikant hinter dem Rücken der Ulmer Herrschaft eine Neuerung durchführe. Alles müsse so bleiben wie bisher. Der so angeklagte Pittmann rechtfertigt sich in einem Schreiben an den Herrschaftspfleger Georg Besserer. Diese Gegensupplik gibt uns nicht nur Einblick in die Sichtweise des Geistlichen, sondern wirft auch ein klareres Licht auf die altgläubigen

1444 StAU, A [5440], Bl. 51r–52r. 1445 Kiessling, Rolf: Kleinräumige Jahrmarktzyklen in Schwaben. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit. In: Wirtschaft – Gesellschaft – Städte. Festschrift für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Peter Becht u. Jörg Schadt. Ubstadt-Weiher 1998. S. 139–156. 1446 StAU, A [5440], Bl. 51r–v.



2.1 Schlüsselgewalt: Der Kampf um den Zugang zu den Sakralräumen 

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Praktiken, für die Pittmann den Pflegern die Kirchennutzung verweigern will.1447 Pittmann erklärt eingangs, er wolle ein guter Lehrer des wahren Worts Gottes sein. Um die Gemeinde dazu zu bringen, an das Evangelium zu glauben und demgemäß zu leben, wolle er die gotteslästerlichen Missbräuche ausrotten. Dann begründet er seine Vorgehensweise. Allerdings wurde das Papier an der entsprechenden Stelle später so abgeschnitten, dass ein Teil des Berichts von Pittmann nicht erhalten geblieben ist. Überliefert ist somit folgende Aussage bezüglich des Zuschließens der Kirche: Item ich hab auch mitt meinem meßmar verschafft, das er uff sant Veittz tag die kierchen vor unnd nach, so man das wort Gottes geprediget hatt, zu schliessen sol. Dann ich wöll nitt haben, das man furterhin mer ain hunermarck da uffricht und also uß dem huß des herren ain kauffhuß mach, wie dan sollichs Christus auch nitt hatt wellen den Phariseernn und geschrifft gelerten gestatten, sonder hatt sollichs haissen hinuß tragen und hatt die wechselbenck umgestossen, wie dan sollichs ewer weisheit gutt wyssen tregt. Die wil ich dan mitt dem hailigen wort Gottes grundt und ich, so sollichs von mier zugelassen wurde, größlich in meiner gewyßne beschwert bin, hab ich mier sollichs zu halten furgenomen, in hoffnung… wider sonder mier zu sollichem hülfflich und furderlich sein, die wil ich weder wider das wort Gottes noch mein ambt gehandlet hab.1448

Stein des Anstoßes ist für Pittmann ein Hühnermarkt, der offenbar in der Kirche stattfindet. Auf die mutmaßlichen Rituale mit der Veitsreliquie, die in der altgläubigen Quelle angedeutet sind, geht er nicht ein. Anders als Bürgermeister und Gericht, die in ihrer Supplik den Hergang der Auseinandersetzung beschreiben sowie die geplanten, in ihrer Sicht traditionellen und dadurch rechtmäßigen Rituale darlegen, konzentriert sich Prädikant Pittmann auf eine theologische Begründung seines Handelns. Schließlich kann er sich – auch in seiner Selbstsicht – nicht darauf beschränken, Bestehendes zu beschreiben und durch den mehrmaligen Verweis auf die lange Dauer zu legitimieren, sondern muss Argumente für die Neuordnung liefern. Diese Neuordnung ist für den zwinglischen Pfarrer allerdings keine veritable Neuerung, sondern die Rückkehr zu einem reinen Sakralraum. Deshalb verweist er auf die Tempelreinigung Christi, der aus einer Räuberhöhle, in der auch Tiere verkauft werden, wieder ein Haus des Gebets machte (vgl. Mt 21, 12–13; Mk 11, 15–17; Lk 19, 45–46; Joh 2, 13–16). Der Vergleich muss sich dem evangelischen Prädikanten förmlich aufdrängen. Pittmann will den Hühnermarkt in oder um die Kirche verhindern und diese deshalb an Kirchweih entgegen dem alten Brauch verschließen, nachdem er seine Predigt beendet hat. Dabei wendet er sich nicht an die Pfleger, sondern an seinen Messmer, der offenbar auch über einen Schlüssel verfügt. Mit dem Messmer liegt Pittmann allerdings auch wegen des Glockenläutens vor Fronleichnam und den Heiligenfeiertagen im Streit, was wiederum ein Indiz für die altgläubige Haltung des

1447 StAU, A [5440], Bl. 53r–v. 1448 StAU, A [5440], Bl. 53r–v.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

Kirchdieners, zumindest in diesem präzisen Punkt, ist. Die Begrifflichkeiten sind im Übrigen problematisch, denn Bürgermeister und Rat sprechen in ihrer Supplik von den Pflegern, ein Begriff, der gemeinhin die Vorsteher der Kirchenfabrik bezeichnet. Ob hier unterschiedliche Akteure gemeint sind oder die Funktion des Mesmers und des Kirchenpflegers vereint sind, eine Verwechslung vorliegt oder unterschiedliche Begriffe für dieselben Bezeichneten verwendet werden, ist unklar. Der Pfarrer wird vor die Versammlung von Bürgermeister und Gemeinderat gerufen, wo er allerdings auf seiner Position beharrt. Sowohl die Gemeindevertreter als auch der Pfarrer supplizieren deshalb an die nächsthöhere Instanz, den Herrschaftspfleger Georg Besserer.1449 Entscheidend für unsere Fragestellung ist die Begründung, mit der die örtlichen Gemeindevertreter als Repräsentanten und mutmaßlicher Teil der altgläubigen Gemeinschaft in Leipheim doch noch Zutritt zur Kirche erlangen wollen. Sie berufen sich auf das alte Herkommen und die Legitimität der langen Dauer. Das Recht, eine nunmehr umstrittene und distinktive Praktik auch weiterhin in der Kirche stattfinden zu lassen, leiten sie von der Tradition der entsprechenden Handlungen ab. Dem stellen sie das Ansuchen des zwinglischen Pfarrers entgegen, der gegen dieses zeitlich verankerte Recht „Neuerungen“ einführen wolle und dies auch noch hinter dem Rücken der Obrigkeit. Der Zutritt zur Kirche, eine alte Auseinandersetzung und ein sozial bedeutsames Recht, werden zur Schlüsselfrage der frühen Reformationszeit in Leipheim. Ein Einzelfall scheint das Abschließen von Kirchen in Ulm und dem Landgebiet nicht gewesen zu sein. Wenngleich ich keine weiteren konkreten Vorfälle gefunden habe, deutet eine Äußerung des Geislinger Pfarrers Georg Oßwald darauf hin, dass das Zusperren von Kirchen für altgläubige Rituale eine gängige Strategie der Zwinglischen ist. Oßwald weist darauf bereits in einer Predigt im Jahr 1527 hin. Deren Inhalt hat der kurz zuvor vom Ulmer Rat eingesetzte evangelische Prädikant Paul Beck notiert, um sich darüber beim Magistrat zu beschweren. Am fünften Sonntag nach Ostern betont Oßwald demnach u. a. die Wichtigkeit des Gebets und des Lobgesangs in der Kirche: „Alweg und on underlas betten heyst, wan einer sein syben zeytt bettet. Im xvi. psalmen statt: Mein zung ist frölich. Das heyst das gesang in der kirchen, das im chor geschicht. Aber der bös geyst dringt darauff, das man die kirchen gar zu schlies und alle ding abthue.“1450 Womöglich verbirgt sich hinter dieser Aussage ein Konflikt um den Tagzeitengesang des Geislinger Klerus. Der Chorgesang und dessen materiale Grundlage, die liturgischen Bücher, werden zeitgleich etwa in Zürich und Biberach zu eminenten und von der Forschung lange unterschätzten Differenzierungs- und Distinktionsmerkmalen zwischen Altgläubigen und Zwinglischen. Erstere können durch den Gesang den Kirchenraum akustisch einnehmen, ganz ähnlich wie dies vielfach

1449 Zur Stellung Jakob Pittmanns diesbezüglich vgl. StAU, A [5440], Bl. 53v. 1450 StAU, A [5421], Bl. 65r.



2.1 Schlüsselgewalt: Der Kampf um den Zugang zu den Sakralräumen 

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die Protestanten mit den volkssprachlichen Kirchenliedern und dem Psalmengesang versuchen. Darüber hinaus gilt den Altgläubigen die Tagzeitenliturgie als gutes Werk und notwendiger äußerer Dienst an Gott. Die Reformatoren lehnen dies ab, wandeln die Gebete in Andachten um oder schaffen sie ganz ab.1451 In Geislingen deutet sich ein ähnlicher Konflikt an. Mit dem bösen Geist, über den Oßwald klagt, könnte der Teufel, aber auch der neue Prädikant gemeint sein. Dieser drängt offenbar auf die Abschaffung, die Aussetzung oder Veränderung des Tagzeitengesangs, das Ausräumen und das Zusperren der Kirchen. Bis zur Absetzung Oßwalds 1531 dürfte dies Paul Beck jedoch kaum möglich gewesen sein. Dass der Pfarrer das Thema in seiner Predigt anspricht, lässt jedoch dessen Bedeutung und Konfliktträchtigkeit in Geislingen erahnen, weshalb Oßwald damit offensiv vor der Gemeinde auftritt. Ab 1531 bedarf es in Ulm keines Zusperrens der Kirchen mehr, denn die „missbräuchlichen“ Praktiken und zunehmend auch die alten Sakralgegenstände werden verboten und entfernt. Bedeutet dies das Ende der Kirchennutzung durch die Altgläubigen und der entsprechenden Ausstattung der Gotteshäuser? Offenbar nicht, zumindest nicht in Geislingen. Von dort berichtet 1532 der örtliche Pfleger Hans Ehinger an die Ulmer Herrschaftspfleger über einen gewissen Jörg Burger. Wie es scheint, hat Burger darum gebeten, nicht die zwinglische Predigt vor Ort besuchen zu müssen. Vielmehr will er „hinausziehen“, also wahrscheinlich über die Grenze in Pfarreien laufen, in denen die alte Messe gelesen oder andere in Ulm verbotene Rituale weiterhin angeboten werden. Ehinger berichtet ausführlich über Burger und dessen religiöse Haltung: Fueg hieruff ewer weisheit diennstliche maynung zuvernemen, das gedachter Jörg Burger auss kainer anndernn maynung hinuß zeicht oder zeziehen begert, dann das er dem hailligen Gotz wort, so mann predigt, so gar wider ist unnd er, sein fraue unnd gesind sich dessen befleissenn, nit darann zegann. Aber sonnst, so gonnd sy so niemanndt inn der kirchen ist, mitainannder darein, machen irn alten tanndt, also das es vilenn hinderlich ist.1452

Hans Ehinger beschreibt Jörg Burger als einen Gegner des Evangeliums. Gemeinsam mit seiner Frau und dem Gesinde vermeidet er es, die Predigt zu besuchen. Die Gruppe geht vielmehr in die Kirche, wenn niemand sonst darin ist, d. h. niemand, der die von ihnen dann vollführten alten Rituale  – welche diese sind, wird leider nicht aufgeführt – ablehnen oder konterkarieren würde. In Geislingen findet somit offenbar eine zeitlich verschobene Nutzung der Kirche zwischen Evangelischen und Altgläubigen statt. Die beiden Gemeinschaften gehen sich aus dem Weg und besetzen die Kirche separiert voneinander. Der Brief an die Herrschaftspfleger ist datiert auf den 18. März 1532. Einen Monat zuvor findet in Ulm eine allgemeine Synode statt, bei der aus jedem Ort der Amtmann,

1451 Vgl. Mudrak, Zensiert und zerrissen (wie Anm. 445). 1452 StAU, A [5421], Bl. 71r.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

ein oder zwei Priester und ein oder zwei Gemeindevertreter verhört werden. Der Geislinger Vogt Rudolf von Westerstetten bestätigt die Aussage des ihm untergebenen Pflegers aus dessen Brief, wonach viele Gläubige für die Messe auslaufen. Gleiches berichtet Pfarrer Beck. Weiterhin sagt Westerstetten aus, dass neben der Messe auch die Götzen, d. h. die Heiligenfiguren und Bilder, aus der Kirche entfernt worden seien. Die zwinglische Revision der Sakralumgebung hat sich also bereits vollzogen, weshalb der Altgläubige Burger und dessen Familie den neu konfigurierten Kirchenraum wohl nicht für alte Artefakte, sondern für alte Praktiken nutzen. Dies zeigt eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit der altgläubigen Laien an die neuen sakraltopographischen Voraussetzungen.1453 Im Fortgang seines brieflichen Berichts weist Hans Ehinger, der Geislinger Pfleger, darauf hin, dass weitere Männer ein verdächtiges Verhalten an den Tag legen. Auch sie wollen in andere Territorien auslaufen, was ihnen jedoch verboten besser verboten werden solle. Zudem treffen sie sich zu religiösen Gesprächen und „Lästereien“ im Haus Burgers: Auch so seinnd ir etlich hie, nämlich der Simonn Thucher, Peter Keßler, Simon Ubeler unnd dero mer, die annainander hanngen, die dann vermugennlich seinnd unnd der merthail dero kainer kain kind nit hat, unnd haben sonnst gute guter, also so mann gedachtem Burger erlauben wurdenn, die anndernn auch umb erlauptnus annsuchen. Dann wie mich ainer, so auch ewer weisheit mit diennsten verwanndt, bericht, das sy fast alle sonntag inn des Burgers hauß. Diese hieoben ganngen aldo dem Gotz wort unnd denn predigernn nachreden, das es wider Got ist. Unnd so er also mermalen zu innen ganngen, haben sy sich mit denn redenn, so sy vor etwan geubt, einzogen und sich hörenn lassen, mann sech woll, das wann sy thon lanng darwider reden, so werden sy verraten unnd versagt, mit anndernn mer wortenn etc.1454

Mindestens drei weitere Laien aus Geislingen sind also im Fadenkreuz der Ulmer Amtleute. Auch wegen ihnen dürften die Herrschaftspfleger Jörg Burger das Auslaufen nicht erlauben, sonst würden sie dieses Recht auch für sich reklamieren. Bei der Gruppe handelt es sich offenbar um die ökonomische Elite der Landstadt. Jeden Sonntag, während oder nach der protestantischen Predigt, versammeln sie sich bei Burger zuhause, sozusagen in einem geschützten Raum. Dort schimpfen sie gegen die Prediger und deren zwinglische Lehre. Dass sie mit ihren Glaubensüberzeugungen und vor allem deren freimütiger Äußerung, wenngleich auch in einem zurückgezogenen Raum, gegen die Anordnungen der Obrigkeiten verstoßen und sich Gefahren aussetzen, scheint ihnen durchaus bewusst zu sein.

1453 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 53–55. 1454 StAU, A [5421], Bl. 71r.



2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien 

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2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien Neben dem Zugang zu Kirchen entstehen Konfrontationen und in deren Folge situativ unterschiedliche Zugehörigkeiten auch und insbesondere um die Ausstattung der Gotteshäuser. Dabei kommt es zum Kampf im Raum, d. h. um dessen materiale Aneignung und Besetzung. Die Artefakte, die den Unterschied machen, sind äußerst vielfältig. Dies gilt vor allem für das Alte Reich. Es geht an dieser Stelle nicht darum, einen vollständigen Überblick über alle distinktiv altgläubigen Objekte in den Sakralräumen zu geben. Vielmehr sollen die Mechanismen der Konflikte und Distinktionen um Artefakte in Kirchen aufgezeigt werden sowie allgemeine Unterschiede und Gemeinsamkeiten diesbezüglich zwischen den Fallstudien. Die Untersuchung zielt auf das Verhalten und die Deutungen, die Laien und Angehörige des niederen Klerus im konkreten Konfliktmoment an den Tag legen. Dabei werden erneut die Regionen im Mittelpunkt des Interesses stehen, in denen die Altgläubigen offen herausgefordert werden, also insbesondere Teile Ostwestfalens und in Ulm. Dort schlägt sich der real existierende Kampf um Raum in den Quellen nieder, während es in Bayern, Passau, Paris oder Rouen schlichtweg keine Veränderungen oder Veränderungsmöglichkeiten in den Kirchen und Kapellen gibt – dem bauen die altgläubigen Mehrheiten sowie die Obrigkeiten vor. In der Ulmer Landstadt Leipheim etwa kommt es zum Dissens über die Retabel in der Pfarrkirche. Bürgermeister und Gericht klagen in ihrer bereits hinsichtlich des Kirchweihfests untersuchten Supplik an die Ulmer Herrschaftspfleger, dass der zwinglische Pfarrer Pittmann keine geöffneten Altaraufsätze mehr dulden wolle und deshalb dem Messner befohlen habe, darüber zu wachen, dass die Flügel zugeklappt werden. Dieser Maßnahme widersetzt sich aber der Kaplan des Altars der Güssen. Die Güssen sind eine Familie aus dem lokalen Adel. Sie haben ihrem Kaplan – zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich Jörg Stähelin – befohlen, den Altar offen zu lassen. Daraus ergibt sich ein Streit zwischen dem Pfarrer und dem Messpriester, der offenbar vor Ort nicht gelöst werden kann und deshalb vor die Obrigkeiten gebracht werden muss.1455 Der Hintergrund der Differenz scheint klar. Wie üblich, dürfte der Altaraufsatz mit Bildern oder Figuren von Christus, Maria oder Heiligen versehen gewesen sein, möglicherweise aber auch mit Szenen der Eucharistiefeier.1456 Im Ulmer Münster werden insbesondere wegen dieser Bilder einige Retabel weggeschafft: Die Darstel-

1455 StAU, A [5440], Bl. 51r. Der evangelische Prädikant äußert sich in seiner Supplik nicht zur Altarfrage. Zum Kaplan vgl. Keidel, Karl Friedrich: Ulmische Reformationsakten von 1531 und 1532. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 4 (1895). S. 255–342, hier S. 259. 1456 Reitemeier, Pfarrkirchen (wie Anm. 1081), S. 220–225; Hecht, Christian: Gegen die Reformation – katholische Kunststiftungen in den ersten Jahrzehnten nach 1517. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Aufsatzband zur Tagung „… damit Euch kein Vorwurf treffen kann. Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“. Hrsg. von Andras Tacke. Regensburg 2008. S. 71–96.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

lungen repräsentierten mit der Transsubstantiation eine der symbolistischen Predigt von Konrad Sam konträre Wissensordnung bezüglich der Eucharistie.1457 Ein solcher Zusammenhang ist auch in Leipheim möglich. Denn neben der Frage des Kirchenzugangs und der Retabel ist die symbolistische Predigt Pittmanns ein großes Thema. So ist es kein Zufall, dass er das Glockenläuten vor Feiertagen ausgerechnet vor Fronleichnam 1529 einstellen lassen will. Er selbst rechtfertigt dies damit, dass er nun lange genug gegen den „Brotgott“ geredet habe.1458 Offene Retabel symbolisieren also die Messfeier bzw. die Möglichkeit dazu, zeigen distinktive Bilder und für die Zwinglischen provokative rituelle Handlungen. Damit nehmen sie den Sakralraum für die altgläubige Seite ein und verhindern aus protestantischer Perspektive die Abhaltung des wahren Gottesdienstes in einem reinen Gotteshaus. Mit der Reformation 1531 werden die Kirchen in Ulm und dem reichsstädtischen Territorium einer radikalen Revision nach zwinglischem Vorbild unterworfen. Anders als im 17.  Jahrhundert selbst vom lutherischen Superintendenten Conrad Dieterich angenommen, handelt es sich dabei jedoch nicht um wilden Ikonoklasmus. Vielmehr wacht der Rat über einen geordneten Ablauf der Entfernung der Bilder, der Seitenaltäre und des Kirchenschmucks. Eine Reihe von Artefakten werden zudem erhalten, etwa die Skulpturen am Haupteingang und die Wandgemälde im Münster. Dennoch: Das Ziel ist es, potenzielle Ablenkungen von der reformierten Liturgie und der inneren Andacht verschwinden zu lassen. Dies änderte auch die sinnliche Wahrnehmung des Münsters, denn fortan fehlen der Weihrauch oder das Orgelspiel, dafür steht die Predigt des göttlichen Worts im Zentrum des akustischen Gottesdiensterlebnisses.1459 Die Ausräumung der Kirchen erfolgt von Ort zu Ort unterschiedlich und auch zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt, wie die Synodal- und Visitationsprotokolle zeigen. Wohin die Gegenstände kommen, lässt sich nur selten konkret ausmachen. Die Stifter von Messen im Ulmer Münster dürfen 1531 selbst entscheiden, was mit den Altären geschieht. Ihre Rückmeldungen zeigen, dass ein beträchtlicher Teil die Retabel selbst aus der Kirche holt und, wie es oft heißt, zu ihren Händen nimmt. Was übrigbleibt wird entfernt und an die Armen als Feuerholz verteilt.1460 Drückt die persönliche Rücknahme des Artefakts, an dem zuvor noch für die Seelen der verstorbenen Familienangehörigen gebetet wurde, nicht auch eine Anhänglichkeit an dieses und an dessen alte Funktion aus? Wird nicht insbesondere dadurch, dass andere Stifterfamilien die Altäre tatsächlich nicht mehr haben wollen, ein elementarer Kontrast der Glaubensüberzeugungen deutlich? Auch Ulmer Landgebiet wird in der Folge das Problem der Kirchenausstattung immer wieder virulent. Dies gilt ganz besonders im Kontext der regelmäßigen Synoden

1457 Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181), S. 67 f. 1458 StAU, A [5440], Bl. 53r. 1459 Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181), S. 67–72. 1460 StAU, A [8985], Bl. 43r–44v. Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181), S. 68.



2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien 

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und Visitationen. Die Religionsherren überprüfen, ob noch „Götzen“ in den Kirchen stehen oder andere zwischenzeitlich verbotene Artefakte. Dabei werden Differenzen sichtbar, die mitunter mehr als nur eine augenblickliche Auseinandersetzung, sondern tieferliegende religionsgemeinschaftliche Zugehörigkeiten und Glaubensüberzeugungen entstehen lassen und spiegeln. Das Ensemble der Artefakte, die den Unterschied machen können, ist äußerst vielfältig. Die Synode von 1532 erweist sich als besonders ergiebig in dieser Hinsicht. Dies ist nicht allzu verwunderlich, denn die neuen Normen für die Kircheneinrichtung sind noch kein Jahr alt. Die Auseinandersetzungen um das Ausräumen sind oft noch in vollem Gange. Über Nellingen, ein Dorf im Westen des Territoriums, sagt der Richter: „Pfarrer sei in seinen Lehren und Wesen ein Mann, darum er und der Mehrteil Gott und den Herren danksagen, wiewohl man dennoch Leut find, denen er auch nit gar gefall der Bilder halb; denn etlich sagen, wenn man das Kruzifix aus der Kirche tue, so wollen sie auch nit drein.“1461 Die Bilder sind in Nellingen demnach umstritten. Ein Teil der Laien ist für die weitere Präsenz derselben in der Pfarrkirche. Dies bringt sie in Gegnerschaft zum Pfarrer, der offenbar für die Entfernung der Bilder ist, sowie zum anderen Teil der Gemeinde, der dem Pfarrer, dessen evangelischen Lehren und Handlungen anzuhängen scheint. Die Auseinandersetzung spitzt sich zu in Bezug auf das Kreuz. Einige Laien fürchten offenbar einen sakralen Werteverlust der Kirche, sollte das Kruzifix abgehängt werden. Der Besuch des dann gottlosen Gotteshauses lohne dann nicht mehr. Fernbleiben von der Kirche kann also auch ein Ausdruck dafür sein, dass die Gläubigen mit deren Ausgestaltung nicht einverstanden sind. Nach Aussage eines Gemeindemannes ist das Kreuz der letzte verbliebene „Götze“ in der Kirche und somit symbolisch von entscheidendem Wert darüber, welcher Religionsgemeinschaft die Kirche zugehört. Außerdem repräsentiert und ermöglicht das Kreuz herkömmliche und aus evangelischer Perspektive rein äußerliche, abgöttische Devotionspraktiken. Deshalb wird im Entscheid der Obrigkeiten über den Befund der Befragung nochmals befohlen, das Kreuz wegzuschaffen. Der Pfarrer von Pfuhl, einem Dorf südlich der Donau, sieht 1532 die Präsenz der „Götzen“ als Grund für die Fortdauer von Ritualen und Überzeugungen, die er darüber hinaus eindeutig klassifiziert. Zwar begehren demnach die Bewohner, dass die „Götzen“ aus der Kirche fortgebracht werden. Doch kann sich diese Aussage nicht auf alle Gläubigen ausweiten lassen. Denn einige Laien laufen in andere Dörfer aus, wohl über die nicht weit entfernte Grenze, um dort die Messe zu hören. So handeln laut dem Pfarrer „zum Teil etlich Päpstler, auch lutherisch, die auf die Meß noch halten“. Der Pfarrer fordert deshalb, dass die Bilder weggeschafft werden, um das Volk religiös zum Bessern zu bekehren.1462

1461 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 61. 1462 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 81.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

Auch Sakramentalien lösen Konflikte aus, etwa 1532 in Weidenstetten. An Mariä Lichtmess werden traditionell Kerzen geweiht. Das Fest fällt auf den 2. Februar und somit 18 Tage vor die Synode. An diesem Lichtmesstag habe laut dem Pfarrer der Amtmann die Kerzen frevelhaft „abgehauen“. Die zwinglische Grundmotivation dieser Handlung liegt nahe, denn der Amtmann gilt als Freund des Wortes Gottes, wie es in der Quelle heißt.1463 Auslöser von Differenzen können weiterhin Ölberge und Taufsteine sein.1464 Aus dem Dorf Scharenstetten berichtet der Pfarrer auf der Synode des Jahres 1532 von einem diesbezüglichen Konflikt mit seinem Mesmer: „Götzen seien noch in der Kirche und der Tauf. Hab kein Mangel ob der Gmeind, denn daß er einen Oelberg hab, den beten die Weiber an. Item er hab den Mesner heißen den Tauf aus der Kirche tragen und den Oelberg zuschließen, hab es aber nit tun wollen.“1465 Ölberge waren im Spätmittelalter verbreitete Schauplätze individueller Frömmigkeit. Die Plastiken stehen häufig auf dem Kirchhof.1466 Der Mesmer, der offenbar für die Entfernung des Taufsteins und die Verschließung des Ölbergs zuständig gewesen wäre, verweigert dies und blockiert damit die Revision der Sakralumgebung, so dass die Frauen weiterhin zu den Figuren der Plastik beten können. Das Artefakt ist auf zwei Ebenen umstritten: Zum einen durch die Praktiken, die verbotenerweise an ihm durchgeführt werden, zum anderen durch den distinktiven Bedeutungswandel, den es erfährt – die einen beten vor dem Ölberg, die anderen wollen ihn außer Gebrauch sehen. Seine simple Präsenz wird zum Streitfall, repräsentiert er doch für beide Seiten die Potenzialität altgläubiger Rituale. Ebenso verhält es sich mit dem Taufstein, der durch seinen Gebrauch sowie durch seine verschieden gedeutete Präsenz zu unterschiedlichen Meinungen führt. Über die präzise Motivation des Mesmers, die Veränderungen aufzuhalten, lässt sich nichts aussagen, doch seine situativ anti-evangelische Position wird nicht nur dem Pfarrer und den Obrigkeiten aufgefallen sein. Letztere fordern die Entlassung des Küsters, falls er nicht seinem Befehl nachkommt. Die Entfernung von Bildern oder Teilen der Sakraleinrichtung muss jedoch nicht automatisch überall zum Streit führen. Dies hängt auch damit zusammenhängen, dass in einer Reihe von Orten des Landgebiets schlichtweg keine antagonistischen Religionsgemeinschaften entstanden sind oder die Unterschiede in den Glaubenshaltungen nicht so ausgeprägt sind, dass es zum Konflikt kommt. So berichtet auf der Ulmer Synode 1532 der Amtmann Jörg Gaudermann über die Pfarrkirche von Albeck, dass sich in dieser noch das Sakramentshäuschen mit der Hostie befinde, es im Ort aber niemanden mehr gebe, der diese verehre. Der Tabernakel könne zusammen mit den Bildern ohne Schwierigkeiten entfernt werden. Der Prädikant bestätigt diesen

1463 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 73. 1464 Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181), S. 70; Luebke, Churchyard and Confession (wie Anm. 867). 1465 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 68. 1466 Reitemeier, Pfarrkirchen (wie Anm. 1081), S. 133.



2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien 

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Zustand, doch ohne ihn weiter zu bewerten: Weder Kritik noch Verteidigung werden laut. Offenbar lösen die genannten Artefakte in Albeck keine Differenzen aus. Sie mobilisieren bei den Akteuren kein Klassifizierungswissen, das zu einer Polarisierung oder zu unterschiedlichen Haltungen führen könnte.1467 Auch in Gingen an der Fils stehen nach Aussage des Pfarrers noch im Februar 1532 das Sakramentshaus sowie die Bilder in der Kirche. Der Prädikant gibt zu Protokoll, dass die gesamte Gemeinde darum bitte, die „Götzen“ wegzuräumen. Bis zur Synode im Juni 1539 hat sich daran wenig geändert. Doch die Haltung unter den Gläubigen hat sich acht Jahre nach der Reformation offenbar weiter verhärtet: Der Prädikant sagt aus, dass die „Götzen“ noch in der Kirche stünden, worüber sich viele Gläubige ärgerten. Die Rezeption der religiösen Objekte hat sich verändert: Nun markieren sie eine Art Fremdkörper im protestantischen Gotteshaus.1468 Mit den Marien- und Heiligendarstellungen werde ich mich gleich ausführlich befassen.1469 Ein weiterer essenzieller Gegenstand der christlichen Kultur ist in Bezug auf die frühreformatorischen Altgläubigen von der Forschung eher vernachlässigt worden: Die Rede ist von Kirchenglocken. Glocken sind bereits ab der Karolingerzeit für Sakralbauten vorgeschrieben. Laut Arnd Reitemeier verfügen die meisten spätmittelalterlichen Kirchen zumindest in den Städten über mehrere Glocken mit jeweils verschiedenen Funktionen und Taktungen des Läutens, z. B. um die Gemeinde zu Gottesdiensten oder Predigten zusammenzurufen. Mitunter werden Glocken auch Schutzfunktionen zugeschrieben, etwa bei Unwettern. Sie haben somit sakrale sowie soziale Funktionen und sind laut John H. Arnold und Caroline J. Goodson seit dem Hochmittelalter akustische Symbole der christlichen Identität. Die meisten Glocken werden von den Fabriken finanziert, teilweise gehören sie aber auch den städtischen Räten. Es gibt feste Reglements (und Konflikte darüber), wer die Glocke läuten muss, und wann, nicht zuletzt während der Elevation der Hostie oder vor Heiligenfeiertagen. Das Segnen der Glocken in einem komplexen, mehrstufigen Ritual und deren „Taufe“ auf einen Namenspatron sind Zugehörigkeit stiftende Feste.1470 Zwei Konfliktkonfigurationen habe ich bei meinen Untersuchungen hinsichtlich der Glocken gefunden. Zum einen werden Auseinandersetzungen zwischen den Religionsgemeinschaften hervorgerufen durch die Frage, ob sie weiterhin material

1467 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 76 f. 1468 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 67, 150. 1469 Vgl. Kap. III. 2.3. 1470 Reitemeier, Pfarrkirchen (wie Anm. 1081), S. 36–39; Arnold, John H. u. Goodson, Caroline: Resounding Community. The History and Meaning of Medieval Church Bells. In: Viator 43 (2012). S. 99–130; Macha, Jürgen: Die Sprache der Glockeninschriften. Variation, Konvergenz und Differenz unter dem Einfluss von Reformation und Gegenreformation. In: Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Hrsg. von Christine Magin [u. a.]. Wiesbaden 2008. S. 103–121; Taylor, Soldiers of Christ (wie Anm. 454), S. 30.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

präsent sein und verwendet werden dürfen. Zum anderen geht es um ihre Funktion für – oder gegen – distinktiv aufgeladene religiöse Praktiken. In der Herrschaft Ulm kommt es bereits vor Einführung der Reformation und dem damit einhergehenden Ende oder zumindest drastischem Einschränken des Läutens zu innergemeindlichen Zerwürfnissen über die Glockenfrage. Der Konflikt zwischen dem zwinglischen Pfarrer und dem altgläubigen Bürgermeister und Gemeindegericht in Leipheim ist dafür erneut ein treffendes Beispiel. Ab dem Vorabend des Fronleichnamsfests 1529 will Pfarrer Pittmann das Feierabendläuten beenden. Dies hätte aber nicht nur weitreichende religiöse, sondern auch soziale Konsequenzen, wie Bürgermeister und Gericht in Beschwerdeschrift an die Ulmer Herrschaftspfleger durchscheinen lassen: Sich hat begebenn ann nechst verschinen unsers hern fronleichnams aubent, das unser pfarrer den mesmer nit hat feur aubent leuten laussen wollen. Sollichs hat der mesmer uns und eim vogt angezaigt. Uff das mir sampt eim vogt berätig worden und dem mesmer bevolhenn, das er hinfuro zu yeden bannen tagen feyraubent leut. Es feyr dann, wer woll. Dann zur ursach, so man nit feyr aubent leutet, so thut der gemain arm man nit feyren, sonder genn holtz und feld seiner arbait nach ziehen und wirt als dann von frembden und reitern darumb geagnet und angelauffen.1471

Erneut ist es der Mesmer und somit ein von der Fabrik finanzierter und abhängiger Bediensteter, der für das Glockenläuten zu festgelegten Zeiten verantwortlich ist, hier aber vom Pfarrer daran gehindert wird. Die Gemeindevertreter bestellen den Küster ein und üben Druck auf ihn aus, damit das nunmehr spezifisch altgläubige Glockenläuten erhalten bleibt und an den Vorabenden von Feiertagen weiterhin durchgeführt wird. Nur so erhalten die Bauern in Feld und Wald den akustischen Anstoß, ihre Arbeit niederzulegen. Damit sich der Gemeine Mann auf dem Land im liturgischen Jahresverlauf sorientieren kann, ist er auf die Signalfunktion der Glocken angewiesen. Da das spätmittelalterliche Kirchenjahr und die mit diesem verbundenen Brauchtümer von den Reformatoren angegriffen werden, entbrennt ein Konflikt um die Zeitlichkeit der religiösen Praxis. Deren Taktung ist wiederum eng mit dem Glockenläuten verbunden. Dieses wird für die Altgläubigen genau aus diesem Grund auf eine neue, kontroverse Art bedeutsam. Deshalb wendet sich der Kirchwart an die Vorsteher der Gemeinde, die sich, sanktioniert durch den Vogt, versammeln und Pfarrer Pittmann das Beibehalten des Läutens befehlen. Die Arbeitsniederlegung und das Feiern des Fest- oder Heiligentags sind künftig der Entscheidung des Einzelnen überlassen. Gerade dadurch wird die Arbeitsniederlegung aber zum distinktiven Zugehörigkeitsmerkmal. Nur ein Teil der Gemeinde legt die Axt nieder und stellt das Pflügen ein, wodurch eine – zumindest in dieser Situation – altgläubige Haltung zu den anstehenden Kulten sichtbar wird. Wer

1471 StAU, A [5440], Bl. 51r.



2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien 

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sich nicht daran hält und weiterarbeitet, muss mit Angriffen und Spott der Bauern aus den umliegenden Dörfern rechnen. Auch deshalb ist das Läuten so wichtig: Es gibt die Möglichkeit, sich gezielt abzuheben und beugt für die altgläubigen Bauern vor, dass sie aufgrund ihrer Unwissenheit von den Nachbarn für Zwinglische gehalten werden. Glocken haben somit eine Funktion, die distinktives Verhalten möglich macht und Zugehörigkeiten in einem zeitlichen Rhythmus sichtbarer werden lässt. Dass der evangelische Geistliche Pittmann die neue Glockenregelung ausgerechnet an Fronleichnam beginnen lässt, hat ebenfalls einen hohen symbolischen Charakter. Der Tag, an dem traditionell mit festlichen Messen und Prozessionen die Hostie als wahrer Leib Christi inszeniert und verehrt wird, ist nach den Predigten Pittmanns gegen die Transsubstantiation wie prädestiniert, um mit einer neuen Regel zum Glockenläuten gegen die Feiertage vorzugehen. Außer am Samstagabend sollen die Glocken schweigen, fordert er in seiner Gegensupplik an den Ulmer Magistrat. Als Grund für sein Vorgehen gegen die Feiertage nennt der evangelische Pfarrer die – bereits im Spätmittelalter und dann während der Frühen Neuzeit konfessionsübergreifend beklagten – Missbräuche und Ausschweifungen während der dazugehörigen Feste. Die Glocken geben dazu den Auftakt und werden so in Leipheim zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung um das weite Feld der Feiertagsbräuche und der religiös geprägten Zeiterfahrung.1472 Aufschlussreich sind hierzu auch die Visitations- und Synodalprotokolle aus der Herrschaft Ulm, in denen Glocken und deren Präsenz bzw. (nicht-)Verwendung eine beachtliche Rolle spielen. Der Amtmann von Bernstadt etwa bringt beim Examen vom Herbst 1531 zum Ausdruck, dass der Gemeinde das Zusammenläuten am Samstagabend – also der Hinweis auf den Sonntag, verbunden mit der Arbeitsniederlegung und der Orientierung in der religiösen Zeit – fehle. Der Pfarrer bestätigt dies. Etliche Bauern gingen noch „auf den alten Weg“, sagt er. Sie wollten das Zusammenläuten nicht abstellen, außer der Rat befehle es. Auch einer der befragten Richter weißt darauf hin, dass die Mehrheit der Laien gerne in die evangelische Predigt gehe. Also muss es eine sichtbare Minderheit geben, die dies ablehnt und sich der vom Pfarrer

1472 „Also hab ich mier jetzund auch furgenomen und habs am abend, den man nent unsers herren fronlichnams abendt angefangen, so ich jetzund lang wider den bröttin vermainten hergott gebrediget hab, das man kainen feyrabendt mer lütten soll, usgenomen am sambstag. Unnd die fyrtag on den sonnentag nit anderst, dan alain hören das wort Gottes, nach dem ain jeglicher an sein arbait gon soll und mag, in feyr gehalten soll werden. Unnd das hab ich nitt on grossen ursach gethon. Zum ersten, da mitt man dem abgöttischem leben (so man uff die hailigen gehalten hatt unnd denn unchristenlichenn gebrüchen, so man an sollichen tagen verbringt, der Gottes und hailigen lestrung, unfernunftigs uber essen und trinckens, nach und ubel redens unnd andern der gebott Gottes ubertrettungenn, welches alles us dem müessiggan her kumb und erwechst) dester ee furkomen mug und us dem volck gezogen mecht werden. Auch so haben wier dieser feyr kain buchstaben, weder des alten nach des newen testament, das wier fyren sollen sollich hailig tag, sonder das widerspil, das wier arbaitten und unsere hennd brott uns noren sollen, wie dan sollichs ewer weisheit wol wyssen ist. Des halb schrift anzaigen on nott.“ StAU, A [5440], Bl. 53r.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

beschriebenen altgläubigen Seite zuordnen lässt. Ersichtlich wird zudem, dass die Laien bzw. deren Vertreter in der lokalen Kirchenadministration für das Glockenläuten zuständig sind und somit großes Potential für Dissens mit dem Pfarrer oder der Obrigkeit gegeben ist.1473 Speziell das Wetterläuten wird in den Dörfern der Schwäbischen Alb zu einer Praktik, die Unterschiede in der Glaubens- und Lebenshaltung vertieft und spiegelt. In Altheim an der Nordgrenze des Ulmer Territoriums kommen bei der Synode von 1532 eine ganze Reihe altgläubiger Devianzen zum Vorschein, darunter das Auslaufen zur Messe und das Handeln eines Kaplans, der in der Nachbarschaft seine altgläubigen Dienste anbietet. Auf die umliegenden Dörfer bezieht sich auch eine Forderung des Altheimer Prädikanten: Dort sollen das Ave-Maria-Läuten und das Wetterläuten abgeschafft werden. Allerdings wird im Entscheid nicht explizit auf das Glockenläuten eingegangen.1474 1535 finden sich bei der Visitation in gleich zwei Orten südlich der Donau Konflikte bezüglich des Wetterläutens. In Holzschwang, heißt es im Protokoll, werde die Praktik zwar weiter durchgeführt, aber die Bauern seien sich uneinig darüber. In dem Ort lassen sich starke altgläubige Tendenzen identifizieren: Nur wenige Bauern gehen zum zwinglischen Abendmahl, dafür laufen viele zu Messen und altgläubigen Predigten aus.1475 Zwei Dörfer weiter liegt Holzheim, wo es ebenfalls zum Konflikt um das Läuten kommt. Hans Schelling, wahrscheinlich ein Vierer des Dorfes, sagt aus, dass die Holzheimer vom Mesmer fordern, dieser solle die Glocken bei Unwetter und am Feierabend läuten, ansonsten wollen sie ihn nicht bezahlen. Drei Bauern aus dem Dorf präzisieren, dass die „Päpstler“ unter ihnen bei Unwetter und zum Feierabend Glockenläuten fordern. Sie gehen dabei selbstverständlich mit distinktiven Kategorisierungen für einen Teil der Gemeinde um, was auf die Sichtbarkeit dieser Gruppe hindeutet sowie auf die Vertrautheit mit dem Umstand, dass sich zwei recht klar umrissene Gemeinschaften unter den Bauern gegenüberstehen. Bemerkenswert ist zudem: Erneut sind es die Laien, die auf den Streit hinweisen – weder in Holzheim noch in Holzschwang gehen die Pfarrer darauf ein. Die Verfügungsgewalt über die Glocken scheint auch hier in Gemeindebesitz zu sein. Besonders aus diesem Grund dürfte das Läuten unter den Bauern ein starkes Differenzthema sein: Sie müssen untereinander über die Neujustierung eines Rituals entscheiden, auf das sie traditionell großen Einfluss haben.1476 Auch bei der Synode des Jahres 1539 finden sich Beschwerden von Pfarrern, die sich über verbotenes Glockenläuten der Bauern erregen. Der Prädikant aus Steinheim beschwert sich über das Feierabendläuten in seinem Dorf. Aus Grimmelfingen, südöstlich der Reichsstadt gelegen, heißt es, dass die Laien wieder begonnen hätten, mit

1473 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 51 f. 1474 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 72 f. 1475 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 113. 1476 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 113 f.



2.2 Ausstattung der Kirchen: variable Konfliktlinien 

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zwei Glocken das Wetterläuten durchzuführen. Dahinter steht also eine selbstständige Entscheidung der Gemeinde oder der Fabrikvorsteher, die – gegen die Vorschriften des Rats  – einen Brauch erneut in einem veränderten Kontext einführen. Dies scheint in einem größeren sozioreligiösen Unterscheidungsprozess zu geschehen, wenn man die „Abgötterei“ in der Feldkapelle mit einbezieht, die dort laut dem Geistlichen während seiner Predigt von den Laien immer noch betrieben werde.1477 Wenn allerdings zur zwinglischen Predigt geläutet wird, ist die Ablehnung der Glocken wiederum auf altgläubiger Seite groß. In Geislingen ist dann die Rede von den Glocken des Teufels.1478 Die altgläubigen Laien zeigen eine bemerkenswerte Anhänglichkeit an die Glocken. Gerade beim Wetterläuten kommen neben religiös-distinktiven Hintergründen sicher auch lebensweltliche Schutzfunktionen im ländlichen Raum hinzu. Die Beendigung oder das Ausfallen des Läutens ruft aber auch anderswo affektive Reaktionen hervor, selbst wenn keine religiöse Neuorientierung dahintersteckt. So berichtet der Pariser Parlamentsanwalt Nicolas Versoris über das Allerheiligenfest 1523: „Nota que le jour de Toussainctz ne furent sonnez les cloches pour les trespassez en la maniere acoustumée à ce que, s’il survenoiet quelques insultations ou ribleries de mauvais garsons, les habitans de Paris peussent estre plus promps à eulx deffendre et à sortir.“1479 Was Versoris hier beschreibt, kommt in Paris allen drei Zeitzeugen zufolge immer wieder vor. In Kriegszeiten oder aus Angst vor nahenden Räuberbanden und Plünderern bleiben die zahlreichen Glocken der französischen Hauptstadt still. Gerade in den Tagen des kirchlichen Jahreskalenders, an denen in aufwändigen Zeremonien und Umgängen der Verstorbenen gedacht und für ihr Seelenheil gebetet wird, ist dies eine Aufsehen erregende Maßnahme. Der Augustiner Pierre Driart verweist darauf, dass es sich um einen uralten Brauch handle, der nun ausnahmsweise unterlassen werde. Driart berichtet darüber hinaus über die Reaktion des Volkes. Dieses sei von der Maßnahme stark bewegt worden.1480 Das Aussetzen oder Beenden des traditionellen Glockenläutens hat also bereits in der spätmittelalterlichen Kultur eine Konnotation des Gefahrvollen, des Außergewöhnlichen und des religiös Problematischen. Glocken können also auch stören. Und so kann es sogar geschehen, dass altgläubige Gruppierungen „ihre“ Glocken genau dafür heranziehen. In der ostwestfälischen Grafschaft Lippe finden sich entsprechende Berichte in den Protokollen der Ständeversammlung vom 28. August 1540, also zwei Jahre nach dem Erlass der lutherischen Kirchenordnung. Aus gleich zwei Städten  – Blomberg und Detmold  – gibt es Beschwerden, dass die lutherischen Geistlichen offenbar gezielt während ihrer

1477 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 142. 1478 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 55. 1479 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 39. 1480 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 81.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

Predigten durch Glockenläuten gestört werden. Im Einzelnen wird dann Folgendes Beschlossen: „Denn monneken tom Blomberge to befellende, sych ludendes unnd anderer gesenge wannher de pastor tom Blomberge prediget unnd mysse doith, genslich to entholden. Unnd dergelichenn befell dem pater tho Dethmolde to doinde.“1481 Blomberg und Detmold zögerten 1538 lange, bis sie dem Reformationsbeschluss zustimmten. Die „Mönchen in Blomberg“ beziehen sich sicherlich auf das Augustiner-Chorherrenkloster. Dieses wurde 1468 gegründet und hatte einen Wunderbrunnen, der auf einen Hostienfrevel zurückging. Die Kirche war vor der Reformation ein bekannter Pilger- und Wallfahrtsort, der zudem in enger Verbindung mit dem altgläubigen Grafen Simon stand. Um 1528 werden dort lutherische Kulturen stark rezipiert, was zu einer inneren Spaltung des Konvents führt. Viele Mönche verlassen Blomberg, nur ein Teil setzt das Gemeinschaftsleben fort.1482 In der Blomberger St.-Martins-Kirche predigt seit März 1539 der äußerst aktive und forsche Lutheraner Johann Meyer, der das Amt nach langen Verhandlungen von seinem altgläubigen Vorgänger übernommen hat.1483 Das Singen und Glockenläuten findet sicher nicht zufällig während der lutherischen Predigt statt. Ziel der verbliebenen und somit eher dem harten altgläubigen Kern zuzurechnenden Mönche dürfte die akustische Störung und die Beeinträchtigung der lutherischen Predigt gewesen sein. Mit den Tagzeitengebeten kommt zudem eine Praxis zum Einsatz, die als spezifisch altgläubig gilt und im Alten Reich der 1520er- und 1530er- Jahre auch andernorts für Konflikte sorgt.1484 Der Pfarrer im Regierungssitz muss dies künftig unterlassen und die lutherische Predigt ungestört geschehen lassen. Eine herausgehobene Rolle bei der Auseinandersetzung um die materiale Kultur und deren distinktive Rezeption durch die entstehenden Religionsgemeinschaften spielen Maria und die Heiligen.

2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen Wenn von „Bildern“ oder „images“ die Rede war, dann verbergen sich dahinter in vielen Fällen materiale Abbildungen von Heiligen und Maria. Dies legt deren große Bedeutung für die rituelle Distinktion ebenso nahe wie die Feststellung, dass sie in der volkssprachlichen Flugschriftenliteratur ein wichtiges Merkmal der altgläubi-

1481 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 93v. 1482 Vgl. Butterweck, Landeskirche (wie Anm. 204), S. 18 f., 92 f.; Schröer, Reformation in Westfalen 1 (wie Anm. 1), S. 158 f.; Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208), S. 72. 1483 LAV NRW OWL, L 66, Nr. 52, Bl. 2r–4v. 1484 Vgl. Mudrak, Zensiert und zerrissen (wie Anm. 445).



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

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gen Kultur und der Abgrenzung zu den Evangelischen darstellen.1485 An dieser Stelle soll es um die Materialität der Marien- und Heiligenkulte gehen. Welche Rolle spielt diese bei den distinktiven Praktiken und der Aneignung des Raums? Für die folgende Analyse werden wiederum jene Fallgruppen von besonderem Interesse sein, in denen durch lutherische oder zwinglische Bewegungen eine  – jedoch verschiedenartig ausfallende – neue materiale Kultur in den Sakralräumen geschaffen wird. Dadurch geraten die Verteidiger und Rezipienten der traditionellen dinglichen Ausstattungen unter Druck und müssen reagieren. Außerdem werden eher offene religionspolitische Gegenden wie Teile Ostwestfalens und für längere Zeit auch Regensburg aufschlussreiche Indizien für die Problematik liefern. Schließlich liefern, unter anderen Voraussetzungen, altgläubige Städte und Territorien Untersuchungsmaterial, wenn es dort zu vereinzelten Ikonoklasmen kommt. Dabei stehen Rouen und Paris im Mittelpunkt. Bereits bei der Analyse der Zugehörigkeitsmerkmale und Distinktionsfelder konnte festgestellt werden, dass die Marien- und Heiligenkulte ab 1523 knapp zehn Jahre lang zentrale altgläubige Unterschiede sind.1486 In Städten und Herrschaften mit zwinglischen Mehrheiten, aber noch vor Einführung der Reformation, sind die Auseinandersetzungen zwischen Evangelischen und Altgläubigen besonders heftig. Dies zeigt sich in der rund 20 Kilometer südöstlich von Ulm gelegenen und von Ulm religionspolitisch stark beeinflussten Reichsstadt Biberach. Dazu verfügen wir über die Erinnerungen des altgläubigen Messpriesters Heinrich von Pflummern. In diesen beschreibt er detailliert die evangelischen Veränderungen, die er in seiner Heimatstadt bis zu seinem Exil ab Ostern 1531 wahrnimmt, und seine Reaktion darauf. Dabei kommt Pflummern mehrfach auf den Kampf um sogenannte Bildstöcke zu sprechen. Bildstöcke sind hölzerne oder steinerne Kleindenkmäler, die seit dem 14. Jahrhundert an Wegen, in Feldern oder vor Ortseingängen aufgestellt wurden. Auf einem Sockel und einem Schafft befindet sich ein Aufsatz, der Figuren oder Bilder von Christus, Maria oder den Heiligen darstellt.1487 In Biberach stehen Bildstöcke aus Stein an den Stadttoren, die von frommen Bürgern gestiftet wurden. Sie zeigen die Passion Christi und wenden sich besonders an Wallfahrer.1488 Auch Heinrich von Pflummern zählt zu den Stiftern und lässt offenbar noch während der 1520er-Jahre neue Bildstöcke aufstellen: „Ouch hun ich fil bildsilen vir ale tor gesetzst, ouch zuo der er Gotzs und den menschen zuo guot, wie oben. Die send ouch alle umb gerissen und zerschlagen worden, got erbarms das alles!“1489 Die Säulen werden von den Zwinglischen entfernt und zerstört, wahrscheinlich im Reformati-

1485 Vgl. Kap. I. 4.2.1. und Kap. II. 4. 1486 Vgl. Kap. II. 4.2.2. und 4.2.3. 1487 Vgl. Wimmer, Erich: Bildstock. In: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 3.  Aufl. (1994), Bd. 2. S. 450 f. 1488 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 202 f. 1489 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 157.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

onsjahr 1531.1490 Zudem habe er Bildsäulen an die Wegesränder um Biberach gestellt und bis zuletzt kleine Kruzifixe dort hineingestellt.1491 In diesen Beschreibungen geht es weniger um die Praxis, als vielmehr um die schlichte Präsenz und Unversehrtheit der Bildstöcke und deren Figuren. Am Stadteingang angebracht, symbolisieren sie im Spätmittelalter den christlichen Charakter Biberachs und haben womöglich auch Schutzfunktionen. In der Reformationszeit behalten sie für Altgläubige wie Pflummern diese Bedeutungen, aber erhalten zudem eine eminent distinktive Rolle. Sie werden von den Zeitgenossen mit einer Glaubensund Praxiswelt verbunden, die von den einen abgelehnt und von den anderen mit Nachdruck für sich reklamiert und ausgeführt wird. Bildstöcke werden in Biberach zu Symbolen des Partikularen im Raum. Auch deshalb zerstören die Zwinglischen diese in der Reformation. Auch in Ulm gibt es bereits vor dem Reformationsbeschluss im November 1530 Konflikte um die materiale Präsenz von Heiligen- und Marienstatuen und deren Verehrung. Ab dann treten die Konflikte allerdings für einige Jahre schärfer hervor. Erneut sind die Visitations- und Synodalprotokolle hierfür wichtige Quellen. Ein Beispiel: Die Synode vom Februar 1532, bei der Priester, Amtleute und Gemeindevertreter zuerst gemeinsam und dann einzeln befragt werden. Schon im Rahmen der offenen Befragung werden in Geislingen Verhaltensformen eines Teils der Laien beschrieben, die von den Obrigkeiten wahrscheinlich als „Abgötterei“ aufgefasst werden. Nach der Aussage des Vogts Rudolph von Westerstetten seien die „Götzen“, d. h. wahrscheinlich Plastiken und Gemälde von Heiligen und Maria sowie Kreuze und Christusdarstellungen, bereits entfernt worden. Doch an diese neuen Gegebenheiten passt sich eine große Laiengruppe an und fährt unter neuen materialen Voraussetzungen mit den Kulten fort. Der Vogt berichtet: „Haben kein Genügen, sondern suchen noch Stock und Stumpen, darauf die Götzen gestanden seien, knieen vor die nieder und beten die an, dadurch denn öffentlich der Rat verkleinert werde… Hoffen auf den Reichstag, da man das Papsttum restituieren und was in der Kirche zerbrochen und abgetan sei, wiederaufrichten werde.“1492 Die Geislinger gehen davon aus, dass die „neue Lehre“ auf Dauer keinen Bestand haben werde. Sie verknüpfen mit dem Reichstag die konkrete Erwartung, dass die vorreformatorischen materialen Gegebenheiten wiederhergestellt werden. Die Revision der Sakralumgebung ist in ihrer Wahrnehmung also nur eine zeitlich begrenzte Anomalität und das Anbeten der „Stock und Stumpen“ ein Provisorium. Diese zeitliche Einordnung der materialen Kultur gleicht jener aus den altgläubigen Flugschriften des Alten Reichs, v. a. aus oberdeutsch-eidgenössischer Provenienz: Die Entfernung und gegebenenfalls Zerstörung der heiligen Darstellungen sei ein von Gottlosigkeit, Habgier und Häresie motiviertes Handeln und führe

1490 Vgl. zu diesem Prozess Wood, Defense of Images (wie Anm. 451). 1491 Schilling, Pflummern Aufzeichnungen (wie Anm. 451), S. 175. 1492 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 54.



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

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dazu, dass die Verbindung der Gläubigen zur Transzendenz durch den Wegfall der zur Andacht und inneren Devotion anhaltenden Artefakte gekappt werde.1493 Allerdings klafft in den Flugschriften eine große Lücke: Was sollen die Gläubigen machen, wenn sie tatsächlich in einem Dorf, einer Stadt oder einem Territorium leben, in dem die Gegebenheiten so sind wie beschrieben? Die Darstellungen zumindest in der von mir untersuchten polemischen Literatur enden spätestens mit dem Lob des bäuerlichen Widerstands gegen die Berner Reformation durch Johannes Cochlaeus. Dieser hebt in der Flugschrift An die Herrn Schultheis und Rat zu Bern, wider ihre vermeinte Reformation aus dem Jahr 1528 hervor, dass sich die Bauern beständiger im christlichen Glauben hielten als die zwinglische Obrigkeit. Demnach könne der Rat nicht verhindern, dass es Einzelpersonen oder Pfarrkirchen entgegen den neuen Ordnungen weiterhin mit Messe und Bildern halten.1494 Eine konkrete Handlungsanweisung ist dies natürlich nicht. Wie sollen sich altgläubige Untertanen gegenüber einer „ketzerischen“ Obrigkeit und deren rituellen Anordnungen verhalten, zumal wenn das Seelenheil auf dem Spiel steht? Die identifizierte Leerstelle in der altgläubigen Publizistik hat verschiedene Gründe. Flugschriften, so wurde im ersten Teil der Studie herausgearbeitet, spiegeln auf eine allgemein und meist transregional verständliche, oft summarische und selten auf Details konkreter Einzelfälle bezogene Weise, was in den entstehenden altgläubigen Religionsgemeinschaften an Ritualen und kulturellem Wissen bereits vorhanden ist.1495 Erklärbar wird die beschriebene Lücke durch die enorme Vielfalt und die durchaus unkonventionelle Art der Laien vor Ort, sich situativ den Gegebenheiten anzupassen. Der Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit der Häresie in den Flugschriften deckt auch indirekt ein Verhalten wie in Geislingen. Die „Stock und Stumpen“ beziehen sich wohl v. a. auf Heiligenstöcke oder Säulen, die stehen geblieben sind, nachdem die Heiligen- oder Marienbilder und die Statuen entfernt wurden. Die sakrale Aura haben diese Artefakte jedoch nicht verloren. Offenbar sind es nicht nur die materialen Darstellungen, sondern auch deren Orte und die damit verbundenen Gebets- oder Wundererfahrungen, die Wegstrecken oder die Erinnerung an die kurz zuvor womöglich noch gehaltenen Wallfahrten, die die Praxis weiter aufrechterhalten. Die leeren Bildstöcke und Sockel sind Erinnerungs-, Widerstands- und rituelle Affirmationsorte – und nicht nur „Überbleibsel“ oder „Relikte“ einer überholten bzw. durch die Reformation überflüssig gemachten Kultur. Zugleich sind sie ein Provisorium, das durch die Praxis weiterhin sakralisiert wird. In Geislingen scheint sich die Anpassungsstrategie der Altgläubigen an die neuen materialen Bedingungen während der 1530er-Jahre zu verstetigen. Noch 1539 werden von den Prädikanten ähnliche Klagen wie bei der Untersuchung sieben Jahre

1493 Vgl. Kap. I. 4.2.1. und 4.2.2. 1494 Cochlaeus, An die Herren Schultheiß und Rat (wie Anm. 846), S. 727. 1495 Vgl. Kap. I. 1.3.2.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

zuvor verlautbart. Demnach laufen viele Gläubige nach wie vor der „Götzerei“ nach, „nämlich zu dem Kruzifix am Berg und an andere Ort, da Bildsäulen gestanden, beten dasselb alles an und lassen auch zu Eybach noch Wachs und Palmen weihen.“1496 Allgemein verläuft auf dem Ulmer Land die Entfernung der Heiligen- und Marienbilder sowie der Christusdarstellungen langsamer, als gemeinhin angenommen und mit Blick auf das Ulmer Münster zuletzt eindrucksvoll herausgestellt wurde.1497 In Amstetten etwa stehen 1532 die „Götzen“ ebenfalls noch. Aus dem Bericht des Pfarrers lässt sich auf eine große altgläubige Kulturpräsenz schließen. Dies liege daran, sagt der Geistliche, dass sein Vorgänger die Gläubigen ermahnt habe, „bei dem alten Weg zu bleiben und nit abzuweichen.“1498 In Aufhausen stehen nach Auskunft des Prädikanten noch 1537 die „Götzen“ in der Kirche. Doch anders als bei früheren Visitationen lässt sich keine altgläubige Praxis mehr feststellen. Der Pfarrer jedenfalls äußert sich zufrieden über seine Gemeinde. Dennoch ordnen die Religionsverordneten an, Näheres über die Lehensverhältnisse der Pfründe in Aufhausen in Erfahrung zu bringen. Womöglich ist hier also noch ein auswärtiger Patronatsherr im Spiel, der die Entfernung der Bilder und Plastiken bisher erfolgreich unterbunden hat. 1539 jedenfalls ist in den Protokollen von keinen „Götzen“ mehr die Rede und der Prädikant spricht seiner Gemeinde ein großes Lob aus.1499 Eine weitere Anpassungsstrategie der Altgläubigen besteht darin, die von den Reformatoren verbotenen Plastiken und Bilder der Heiligen und der Jungfrau einfach mit nachhause zu nehmen. So gehen v. a. die Stifter vor, also Bruderschaften, Familien oder Einzelpersonen, denen mitunter sogar angeboten wird, ihre Stiftungsgegenstände mitzunehmen. Das hat Vorteile für die Reformatoren und für die Stifter. Erstere ersparen sich Arbeit und Aufsehen erregende Konflikte, Letztere müssen auf den materiellen Wert nicht verzichten und können gegebenenfalls anderweitig Verehrungen fortsetzen oder Andenken pflegen. Anders als bei der Frömmigkeit vor zerstörten oder verstümmelten Artefakten am bekannten Ort werden die Abbildungen zwar vor materialen Veränderungen bewahrt. Dafür ändert sich der Ort der sakralen Praxis. Dies ist etwa im Jahr 1535 der Fall – erneut in Geislingen. Bei der Visitation vom Juli 1535 wird Lorenz Schleicher befragt, wahrscheinlich ein einfacher Laie. Er sagt aus, dass Joachim Hennenberg den Altar der Schützen in einer Kammer wieder „aufgemacht“ habe.1500 Dabei dürfte es sich um ein Retabel handeln, das die Schützenbruderschaft für die Gemeindekirche gestiftet hat und jetzt von Henneberg, wohl einem Mitglied der Bruderschaft, eingezogen wird. Es ist zweifelhaft, dass er auf eigene Initiative gehandelt hat. Vielmehr dürften Absprachen innerhalb der Bruder-

1496 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 138. 1497 Vgl. Hahn, Sensing Sacred Space (wie Anm. 181). 1498 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 66 f. 1499 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 120, 154. 1500 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 89.



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

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schaft vorausgegangen sein, in deren Folge entschieden wurde, dass der Altar in einer Kammer – also dezidiert keinem Sakralraum – neu geöffnet werden soll. Das „Aufmachen“ bezieht sich dabei auf das besonders kontroverse Öffnen der Altarflügel, das in Leipheim schon einige Jahre zuvor für Auseinandersetzungen zwischen einer altgläubigen Stifterfamilie und dem zwinglischen Pfarrer sorgte. In Geislinger Fall lässt sich der Altar auch mit einiger Sicherheit bestimmen. Es dürfte sich um den Altar des Schützenpatrons Sebastian handeln, den der Ulmer Bildschnitzer Daniel Mauch (1476/77–1540?) um 1518/20 für die Geislinger Sebastiansbruderschaft angefertigt hat.1501 Mauch war selbst Mitglied dieser Bruderschaft. Als Altgläubiger kehrte er der Reichsstadt Ulm 1529 den Rücken, nicht zuletzt wegen des einbrechenden Markts für religiöse Kunst.1502 Heute befindet sich der Altar wieder in der Geislinger Kirche und bietet eine einmalige Gelegenheit, das Aussehen und die Bildmotive zu studieren, welche die zwinglischen Reformatoren lieber verbergen wollten: Die Predella zeigt die armen Seelen der Sünder im Fegefeuer. Der Mittelteil des Triptychons repräsentiert die Jungfrau und, an ihrer Seite, St. Sebastian und Magdalena. Auf den Seitenflügeln sind der Pestheilige St. Rochus und die Heilige Elisabeth von Thüringen zu sehen.1503 Hinter der Rücknahme des Objekts durch den Vertreter der Schützen könnten zum ersten materielle Motivationen stecken, denn der Altar ist wertvoll und stammt von einem renommierten Mitglied der Sebastiansbruderschaft. Darüber hinaus hat das Retabel einen traditionellen religiösen Wert: Es stellt Figuren der spätmittelalterlichen Frömmigkeit dar, insbesondere Maria, die für die Sünder bei ihrem Sohn bittet. Zudem dient der Altar als Ort der Messfeier, für deren Darstellung in der nachreformatorischen Kirche kein Platz mehr ist. Der Altar wird deshalb aus dem Gotteshaus entfernt und in der Kammer wieder aufgeklappt. Ich halte es in diesem Zusammenhang für wahrscheinlich, dass manche Schützen weiter Fürbitten vor dem Altar sprechen und zu den abgebildeten Heiligen beten.

1501 Ich danke Jean-Dominique Delle Luche für den Hinweis auf die Verbindung. 1502 Litz, Gudrun: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten (Spätmittelalter und Reformation, N.R. 35). Tübingen 2007. S. 127 f.; Leistenschneider, Eva: Zeitenwende. Leben und Werk Daniel Mauchs. In: Daniel Mauch. Bildhauer im Zeitalter der Reformation. Hrsg. von Brigitte Reinhardt und Eva Leistenschneider. Ostfildern 2009. S. 14–27; Litz, Gudrun: Daniel Mauch. Spurensuche zwischen künstlerischem Auftrag und religiösem Bekenntnis. In: Daniel Mauch. Bildhauer im Zeitalter der Reformation. Hrsg. von Brigitte Reinhardt und Eva Leistenschneider. Ostfildern 2009. S. 28–35. Zum Einbruch des deutschen religiösen Kunstgewerbes in der Reformationszeit vgl. Sladeczek, Franz-Josef: „das wir entlichs verderbens und des bettelstabs sind“. Künstlerschicksale zur Zeit der Reformation. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle [u. a.]. München 2002 (Historische Zeitschrift. Beihefte 33). S. 273–304. 1503 Leistenschneider, Eva/Bosch, Stefanie/Popp, Evamaria: Schreinskulpturen des Geislinger Altars. In: Daniel Mauch. Bildhauer im Zeitalter der Reformation. Hrsg. von Brigitte Reinhardt und Eva Leistenschneider. Ostfildern 2009. S. 229–233.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

Sicher ist jedenfalls, dass diese Praktiken einen neuen Ort finden, der wiederum als Provisorium und Übergangslösung gedacht sein dürfte. Für die beiden französischen Fallstudien Rouen und Paris konnte bereits mehrfach die Marienverehrung als Kristallisationspunkt der Unterschiede zwischen 1523 und ca. 1533 festgemacht werden. Bis zur Plakataffäre 1534/35 vollzieht sich die religiöse Differenzierung maßgeblich entlang der Durchführung oder der Ablehnung des Marienkults. Da anders als in den reformatorischen Gebieten Ulm und in Teilen Westfalens keine Figuren oder Bilder auf obrigkeitlichen Befehl hin zerstört oder weggeräumt werden und da es noch zu keiner ikonoklastischen Massenbewegung wie während der Religionskriege kommt, sind bilderstürmerische Handlungen provokative Einzelfälle. Umso größer sind aber das Aufsehen, das sie erregen, sowie die symbolische Bedeutung und das Potenzial zur Differenzbildung. Sowohl in Rouen als auch in Paris werden, etwa nach dem Ikonoklasmus (Paris) und der Marienlästerung (Rouen) im Jahr 1528 aufwändige Reparationsprozessionen durchgeführt. Diese sollen den Kult bekräftigen und verstärken durch die Fokussierung der Umgänge auf die Jungfrau. Die Einbeziehung der Laien und verschiedener corpora der Städte verstärkt die Kristallisierung der Unterschiede in und durch die Prozessionsrituale.1504 Die distinktive Bedeutungsaufladung des Marienkults spiegelt sich darüber hinaus in der Flugschriftenliteratur wieder.1505 An dieser Stelle werde ich einige der bereits besprochenen Fälle mit einem expliziten Blick auf die materialen Bezugspunkte der Marien- und Heiligenfrömmigkeit und deren distinktive Aktualisierung nochmals aufgreifen. Der bekannteste Ikonoklasmus in Paris findet in der Nacht zum Pfingstmontag 1528 statt.1506 Unbekannte „hérétiques“ zerschlagen laut dem bourgeois inconnu eine Figur der Maria mit Kind. Die Plastik war aus Stein und befand sich an einer Häuserwand. Der Figur gaben die mutmaßlichen Lutherischen mehrere Messerstiche und schlugen Maria sowie dem Jesuskind die Köpfe ab.1507 Der Augustiner Pierre Driart aus dem Kloster Saint-Victor vor den Toren der Hauptstadt sowie der dritte Chronist, der Parlamentsanwalt Nicolas Versoris, bestätigen den geschilderten Ablauf.1508 Der konkrete Vollzug der Bilderzerstörung und die Angriffspunkte am Artefakte dürften nicht zufällig gewählt worden sein. Die Messerhiebe auf Maria können Hass und Verachtung ausdrücken und einen Ritualmord an der Statue symbolisieren. Es kann sich darüber hinaus um eine Art Test – oder dessen publikumswirksame Inszenierung – für die sakrale Aufladung und die übersinnliche Macht in der Figur handeln, wie ihn

1504 Vgl. Kap. III. 3 und 5.2.3. 1505 Vgl. Kap. I. 4.2.1. 1506 Vgl. dazu ferner Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 179–185. 1507 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 99. 1508 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 112 f.



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

 481

die Forschung für eine Reihe von Ikonoklasmen im 16. Jahrhundert herausgearbeitet hat.1509 Zudem werden der Figur die Köpfe abgeschlagen, was für alle sichtbar ein Urteil über den Wert des Objekts und des ihm entgegengebrachten Kults repräsentiert. Deren Existenz im Leben der Gläubigen soll symbolisch ein Ende gesetzt werden. Dafür wählen die Täter eine Hinrichtungspraxis und unterstreichen damit die Strafwürdigkeit und Außergesetzlichkeit der Statue und der mit ihr verbundenen Devotionen.1510 Entsprechend sind die Reaktionen der orthodoxen Seite. König Franz I. ordnet die sofortige Untersuchung des Vorfalls an, es kommt zu Durchsuchungen und Aufrufen zur Mithilfe an die Bevölkerung.1511 Bereits für den Morgen nach der Tat berichtet der unbekannte Pariser von vielen Prozessionen, die selbständig von den Pfarreien der Stadt ausgehen. Die Prozessionen führen zum Ort des geschändeten Bildes sowie in die Pfarrkirche Saint-Gervais.1512 Eine Woche später, am 9. Juni, laufen alle Mitglieder der Theologischen Fakultät zum zerstörten Bild. Die 300–400 Schüler der Universität präsentieren der Marienfigur im Vorbeigehen brennende Kerzen. Auch der Pariser Regularklerus nimmt an dieser Prozession teil. Der Weg führt zur Pfarrkirche SaintGervais, zur Klosterkirche Sainte-Catherine-du-Val-des-Écolliers und zum zerstörten Marienbild.1513 Bis dahin hat sich der Tatort stark verändert. Wie die Zeitzeugen berichten, seien Teile der Häuser entlang der Straße mit Tüchern behangen, wie es bei außergewöhnlichen Prozessionen oder an Fronleichnam gängig war. Diese besondere Ehrerweisung für die geschundene Jungfrau wird noch dadurch gesteigert, dass über der zerstörten Statue ein Baldachin aufgespannt wird. Dies geschieht sonst etwa bei Sakramentsprozessionen über dem corpus Christi.1514 Auch auf die Fronleichnamsprozessionen am 11. Juni hat die Bilderschändung Auswirkungen. An diesem Tag nimmt der König an dem Umgang teil. Dabei wird die erstochene und geköpfte Figur in das Itinerar eingebunden und erhält erneut spezifische Reparations- und Verehrungsrituale. Franz I. trägt eine weiße Kerze und legt die Strecke ohne Kopfbedeckung, in der Art eines einfachen Pönitenten, zurück. Die Teilnahme des Kardinals von Lothringen, einer Reihe

1509 Vgl. u. a. Burg, Palmesel (wie Anm. 907). 1510 Vgl. Christin, Révolution symbolique (wie Anm. 40), S. 131–138. 1511 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113; Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 99. Pierre Driart liefert dazu keine detaillierten Hinweise. 1512 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100. 1513 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100; Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. Versoris datiert die Prozession der Universität auf den 10. Juni, Vorabend von Fronleichnam. 1514 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113.

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 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

hoher Prälaten sowie des Adels, die alle weiße Kerzen mit sich tragen, unterstreicht zusätzlich den kollektiven Bußcharakter der Prozession.1515 Die eigentliche Reparationsprozession, die explizit auf die entweihende Zerstörung der steinernen Plastik bezogen ist, findet am Tag nach Fronleichnam statt.1516 An ihr nehmen alle Pfarreien, der Regular- und Säkularklerus, der Adel und der König teil. Letzterer zeigt sich erneut als Büßer, ohne Kopfbedeckung und mit einer weißen Wachskerze. Von der Prozession und dem Substitutionsritus berichtet ausführlich der bourgeois inconnu. Er beschreibt neben Details zu den Prozessionsteilnehmern und der Wegstrecke, wie die alte Figur gegen eine neue ausgetauscht wird. Dies geschieht durch einen komplexen und genau auf die Anforderungen der Situation abgestimmten Ritus: [E]t y était monsieur l’évêque de Lisieux, qui est grand aumônier du Roi, habillé en son pontificat, portant une belle image d’argent, que le Roi avait fait faire neuve d’environ deux pieds de long, qui était de semblable longueur que l’autre et qui pesait, comme on disait, huit marcs d’argent; lequel évêque était devant le Roi, et porta l’image jusqu’au lieu, et posa sur le plus haut degré de bois qui avait été fait, puis le Roi et lui la prirent humblement au chapiteau, où avait été l’autre, en faisant par trois fois la révérence, en disant par le dit évêque de belles oraisons et louanges à la glorieuse Vierge Marie et à son image. Puis, ce fait, les trompettes, clairons et hautbois commencèrent à sonner fort mélodieusement, puis le Roi et monsieur le cardinal de Lorraine présentèrent leurs cierges à la dite image, et après ainsi firent généralement tous les autres seigneurs et gentilshommes de sa maison; lesquels cierges furent pris par le curé ou vicaire de l’église Sainct-Gervais et emportés et pareillement l’image Nostre-Dame de pierre fut mise en l’église paroissiale à l’œuvre. Et est à noter que les rues étaient tendues fort honorablement et y avait sur la dite image un beau grand ciel de soie rouge, que l’on y avait mis de la maison, mais néanmoins (le Roi) y envoya encore mettre le sien de drap d’or et d’argent dessous l’autre qui y était, et y fit mettre à la muraille au droit de l’image son beau parement d’autel de drap d’or et broderie, et y était saint François.1517

Wenn man die Analyse des Gesamtvorgangs mit einem Blick auf die Statuen beginnt, so fällt auf, dass die Unterschiede in der Beschaffenheit der beiden Figuren nicht allzu groß sind und vom unbekannten Bürger nicht weiter betont werden. Die zerstörte Statue war aus Stein, die neue ist aus Silber. Aber die Größe soll exakt gleich geblieben sein. So wird materiale Konstanz bei einer kleinen wertmäßigen Verbesserung suggeriert. Kontinuität soll auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass die neue Figur exakt an derselben Stelle wie die Alte platziert wird.1518 Die erste Figur

1515 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100. Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. Pierre Driart berichtet nichts von dieser abgewandelten Fronleichnamsprozession. 1516 Für eine detaillierte Analyse der Prozessionen vgl. Kap. III. 3. 1517 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 101 f. 1518 Vgl. dazu insbesondere den Aufsatz von Albert-Llorca, Marlène: Les „vraies“ statues et leurs substituts. In: ASSR 161 (2013). S. 251–268.



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

 483

wurde durch die Angriffe der Ketzer zwar profaniert und desakralisiert. Durch ihre Überführung in die Pfarrkirche Saint-Gervais erhält sie dort, in einem neuen sakralen Kontext, als eine Art Märtyrer-Figur eine neue und überraschend spezifische Verehrung, die gleich noch Thema sein wird. Der trotz allem unübersehbare Bruch wird somit auf Saint-Gervais begrenzt und am alten Stellplatz durch die materiale und rituelle Substitution kaschiert. Dazu passt auch, dass die alte Statue offenbar schon zu ihrem neuen Platz überführt wurde oder zumindest nicht mehr an der Häuserwand steht, als die neue Figur dort angebracht wird. Am Fuß der Häuserwand, an der die Steinplastik bis zu ihrer Zerstörung stand, wird eine kleine Treppe aufgestellt, die zu einem Altar und dem Oratorium führt. Die Wände der Nachbargebäude sind geschmückt und ein Baldachin ist über dem zerstörten Bild bzw. dessen Stellplatz aufgespannt.1519 Das Ritual, mit dem die neue Statue eingeführt wird, soll deren Ersatz-Charakter verwischen, ihren sakralen Wert steigern und gleichzeitig die Bekräftigung des Marienkults im Allgemeinen und die Rolle der neuen Figur in der Pariser Sakraltopographie im Besonderen befördern. Bischof Jean le Veneur trägt die schwere Silberstatue in der Prozession zum Tatort. Dies dürfte auf die Zuschauer eine besondere Wirkung haben, denn Bilder und Statuen von Heiligen oder der Jungfrau generieren ihre sakrale Aura in der Wahrnehmung der Gläubigen eigentlich durch ihre räumliche Exposition und die Distanz zu denen, die sie verehren.1520 Am 12. Juni wird die neue Statue feierlich durch die Straßen von Paris getragen, d. h. sie ist inmitten der Menschen, außergewöhnlich nahe und greifbar für die Gläubigen. In diesem Fall könnte es ein implizites oder explizites Ziel der Organisatoren gewesen sein, die Akzeptanz Marias im teilnehmenden Volk zu verdeutlichen und der neuen Figur eine soziale und religiöse Legitimität zu verschaffen, die durch den Ikonoklasmus infrage gestellt worden ist. Nachdem der Bischof von Lisieux die Statue auf der obersten Stufe des Holzgestells abgestellt hat, ergreift er diese gemeinsam mit Franz I. und stellt sie in die Ausbuchtung in der Häuserwand. Dabei erweisen sie der Statue dreimal die Ehre. Der König kniet demütig vor der emporgehobenen Maria und präsentiert ihr, ebenso wie der Kardinal von Lothringen, eine weiße Kerze. Die Mariengebete und Lobgesänge von Bischof Jean Le Veneur umrahmen den Moment, in dem die neue Statue ihren Platz findet. Auch der Adel bezeigt seine Ehrfurcht vor der neuen Figur. Dieses Vorgehen ist kulturell von großer Bedeutung. Denn der Moment, in dem die neue Statue an ihren Platz kommt, ist heikel, selbst wenn König und Bischof den Akt vornehmen. Das Aufstellen wird von Menschen durchgeführt, was eine Art Umkehr der sonstigen Beziehungen zwischen der helfenden und schützenden Maria und den bittenden und schwachen Gläubigen darstellt. Deshalb wird der Ablauf von Demutsbezeigungen der Großen des französischen Staats und der französischen Kirche begleitet. Öffentlich

1519 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. 1520 Vgl. Albert-Llorca, Statues (wie Anm. 1518).

484 

 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

sichtbar wird die Validität der Devotion gegenüber der neuen Statue ausgedrückt. Zudem wird die alte Statue, die in Saint-Gervais wieder zusammengesetzt und in der Pfarrkirche aufgestellt wird, kurze Zeit später wundertätig: Sie soll tote Neugeborene auf Fürbitten hin wieder zum Leben erweckt haben. Die alte Figur behält damit ebenfalls ihren sakralen Status und kann für die altgläubigen Pariser als wundertätige Märtyrerin gelten. So wird trotz oder gerade wegen und anhand des Bruchs Kontinuität inszeniert – ein Schaubild der altgläubigen Kultur der frühen Reformationszeit. Doch nicht nur Plastiken werden Opfer der im Übrigen noch sehr vereinzelten, heimlichen und symbolisch-provokativen Ikonoklasmen. Auch Marienbilder, die auf Häuserwänden aufgemalt sind, können davon betroffen sein, so wie in der Nacht des 21. Mai 1530. Von diesem Vorfall, der auf „quelques luthériens“ zurückgehe, berichtet der anonyme Pariser Bürger. Die Täter vergreifen sich an Bildern von Maria mit Kind, St. Rochus und St. Fiacrius, die als Gruppe auf einer Häuserwand aufgemalt sind. Maria und dem Jesuskind kratzen sie die Augen aus, durchbohren das Herz und stechen mit Messern auf sie ein. Ebenso verfahren die nie ausfindig gemachten „Lutherischen“ mit den beiden Heiligen.1521 Die Verstümmelung der Wandbilder greift abermals gängige körperliche Ehrenstrafen der zeitgenössischen Justiz auf. Darüber hinaus betreiben die Täter eine Art Leichenschändung, nachdem sie die Bilder mit dem Stich ins Herz „getötet“ haben. Ähnlich wie bei der Schändung von Leichen während und kurz vor den Religionskriegen dürften dabei Lächerlichmachung, Abscheu und Hass als Motivation gedient haben.1522 Zudem könnte es sich – in Anlehnung an die Hypothese von Denis Crouzet, Leichenschändung als eine Art rituelle Ablehnung und gewaltsame Distanzierung von etwas zu betrachten, das die Täter in sich selbst vermuten und fürchten  – um eine Distanzierung von der eigenen Vergangenheit handeln.1523 Denn die mutmaßlichen Täter wuchsen zumindest während ihrer Kindheit in einer Welt auf, in welcher der Marienkult, die Anbetung und die Ehrbezeigung zu Bildern und Statuen der Jungfrau schlichtweg zur Gewohnheit gehörten. Religiöse Gewalt wird somit zur Inszenierung der Abgrenzung. Zur evangelischen Selbstdistanzierung kommt die altgläubige Vorstellung, wonach die Ketzerei als eine Krankheit und ein sich ausbreitender Schaden am corpus chritianum ist.1524 Da tut Abgrenzung von ehemals eigenen und nun „kranken“ Gliedmaßen Not. Dies kann durch Hinrichtungen mit ihren komplexen kulturellen Codes geschehen, die auf Trennung und Distanzierung einerseits, auf

1521 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 147. Versoris und Driart berichten nichts zu diesem Vorfall. 1522 Vgl. dazu u. a. Davis, Natalie Zemon: The Rites of Violence. In: Society and Culture in Early Modern France. Eight Essays. Stanford 1975. S. 152–187; Nicholls, David: The Theatre of Martyrdom in the French Reformation. In: Past and Present 121–1 (1988). S. 49–73. 1523 Vgl. Crouzet, Genèse (wie Anm. 22), S. 240–262. 1524 Vgl. Kap. I. 3.1.3 und 3.2.3.



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

 485

Heilung und Bekräftigung andererseits abzielen.1525 Oder durch Prozessionen, die das Eigene nach außen tragen und die unverbrüchliche Stärke des angegriffenen Körpers zur Schau stellen. *** Raum hat sich als eine Kategorie erwiesen, die für die frühreformatorischen Differenzbildungen und die Konstruktion altgläubiger Unterscheidungsmerkmale zentral ist. Dies trifft insbesondere in jenen Fallstudien zu, in denen starke protestantische Bewegungen vorhanden sind oder in denen sich die Obrigkeiten zur Reformation wenden. Denn dann besteht Konfliktstoff und Veränderungsdruck, der die Unterschiede im Raum für die Altgläubigen tatsächlich erfahrbar macht. Die Auseinandersetzungen beginnen schon beim Zugang zu Kirchen und Kapellen. Damit greifen die entstehenden Religionsgemeinschaften Machtfragen aus dem Spätmittelalter auf, etwa hinsichtlich des Besitzes des Kirchenschlüssels. Der Kampf um Raum hat sich auch als Kampf um Zugang zum sakralen Raum erwiesen oder schlichtweg als Konflikt um dessen weiteres Vorhandensein, etwa wenn der Abriss von Kapellen und kleinen Kirchen in protestantischen Gebieten wie Ulm droht. Streit um das Recht, eine Kirche zu betreten, ergibt sich aus dem Streit um die Rituale, die in der Kirche nach dem Betreten ausgeführt werden könnten und vermittels derer der Sakralraum für die eine oder andere Gruppe eingenommen werden würde. Dabei muss es nicht immer zur Konfrontation kommen. Mitunter gehen die Altgläubigen einfach dann in die Kirche, wenn die Evangelischen ihren Gottesdienst beendet haben. Die Aneignung der Kirchen  – oder, aus altgläubiger Perspektive, die Verteidigung deren Funktion als Raum für die „wahre“ Religion – erfolgt indes nicht nur über die die religiöse Praxis und die Präsenz der jeweiligen Gruppen, sondern auch über spezifische und zunehmend als distinktiv wahrgenommene Artefakte. Je nachdem, welche von diesen in einer Kirche sind, wie sie in die Devotion oder die Gottesdienste eingebunden werden oder ob sie ganz fehlen, werden sie für die Altgläubigen zu immer stärker internalisierten Erkennungsmerkmalen des Eigenen und des Anderen. Bestimmte liturgische Gegenstände bilden für die Altgläubigen die Grundlage, um ihre Religion ausüben zu können. Deren reine Präsenz zeigt auswärtigen Besuchern oder Evangelischen die Möglichkeit für altgläubige Rituale und deren tatsächliche Durchführung an. Die Devotion und mit ihr der entsprechende Gegenstand erhalten für die Altgläubigen zusätzlich zum altbekannten religiösen Sinn eine neue, distinktive Bedeutung. Dabei zeigen sie immer wieder eine große Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der materialen Grundlagen ihres Glaubens, etwa wenn sie im Ulmer Landgebiet die Säulen anbeten, auf denen zuvor Heiligenfiguren standen. Oder wenn sie Retabel aus der

1525 Vgl. Kap. II. 3.3.

486 

 2 Raum: Aneignung und Differenzierung

Kirche mit nachhause nehmen und dort – unter neuen Bedingungen – mit der Verehrung fortfahren. Zerstörte Figuren, etwa in Paris, oder zerstörte Bildsäulen, etwa in Biberach, werden von den Altgläubigen in mitunter komplexen Ritualen ersetzt. Das Alte bleibt nur in der Perspektive derer unverändert, die dieses für ewig halten, selbst wenn sich die materiale Konfiguration, der Raum und die Praxis verändern. Rituale im Raum sind dabei nicht immer an einen präzisen Ort gebunden, sondern können sich auch von Ort zu Ort bewegen und damit auf besondere Weise Botschaften transportieren. Anti-Ketzer-Prozessionen sind so ein Ritual, das in meinen Fallstudien ausschließlich in Frankreich vorkommt. Welche Bedeutung haben sie für die Entwicklung altgläubiger Zugehörigkeiten?

3 Prozessionen: Eine französische Distinktion Prozessionen sind uns im bisherigen Verlauf dieser Studie schon einige Male begegnet. Sie werden etwa nach ikonoklastischen Handlungen oder nach Marienlästerungen von den Obrigkeiten angeordnet. Selten entstehen sie als spontane und unkoordinierte Reaktion der Laien und Pfarrgemeinden.1526 Auch im Kontext von Hinrichtungen werden Prozessionen als Reinigungs- und Affirmationsritual abgehalten.1527 Die präzisen Ausgestaltungen und die Teilnehmerschaft variieren mitunter beträchtlich. Gemeinsam ist den Prozessionen jedoch ein wichtiger Aspekt: Sie finden allesamt in Paris oder in Rouen statt. Nicht zuletzt deshalb werde ich in diesem Kapitel die Prozessionen als besondere französische Form des altgläubigen Aktivismus analysieren. Was macht diese Umgänge so spezifisch? Natürlich finden auch im Alten Reich Prozessionen statt. Diese spätmittelalterliche Tradition ist um 1520 auch in Ostwestfalen, Ulm sowie in Niederbayern, Passau und Regensburg lebendig. Die Anlässe – Fronleichnam, Rogationen oder der Markustag – sind so vielfältig wie ihre konkreten Formen. Mit der Reformation gerät das Ritual als unnützer Missbrauch und wegen der hinter den Verehrungen und Objekten stehenden theologischen Inhalte in die Kritik. In vielen Städten werden Prozessionen nun verhöhnt und parodiert. Die Teilnehmerzahl schwindet und in evangelischen Gebieten beschränken die Obrigkeiten die Umgänge oder schaffen sie nach und nach ab. Dahingegen beharren altgläubige Bischöfe und Magistrate auf dem Ritual. Die spätmittelalterlichen Prozessionen im Kirchenjahr werden mit Ausbruch der Reformation entweder distinktiv, sofern sie weiter ausgeübt werden, oder sie verschwinden. Bestenfalls werden traditionelle Formen weiterhin unter einer zunehmend kontroversen Prämisse fortgeführt.1528 In den drei deutschen Fallstudien sind reale Konflikte um Prozessionen nicht überliefert, abgesehen von einem Versehgang in Ulm 1529.1529 So fordern altgläubige Obrigkeiten meist nur allgemein, die Prozessionstätigkeit im Angesicht der neuen Häresie zu intensivieren. Beim Mühldorfer Treffen (1522) wird angeordnet, dass Klerus und Gläubige in der Salzburger Kirchenprovinz in diesen schweren Zeiten feierliche Prozessionen abhalten sollen.1530 Auch Einzelinitiativen auf lokaler, jedoch sehr beschränkter Ebene kommen vor. So berichtet Caritas Pirckheimer, Äbtissin des Nürnberger Klarissenkonvents, in einem Brief an Hieronymus Emser vom 6. Juni 1522,

1526 Vgl. Kap. II. 4.2.2. und 4.2.3. 1527 Vgl. Kap. II. 3.3. 1528 Löther, Prozessionen (wie Anm. 1436), S. 301–329. Zur evangelischen Bildsatire gegen Prozessionen vgl. Scribner, Popular Propaganda (wie Anm. 355), S. 96–98. 1529 Vgl. Kap. II. 2.1.3. 1530 Mühldorfer Rezess (31.5.1522), in: Acta Reformationis Catholicae. Ecclesiam Germaniae Concernentia Saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570. Bd. 1, 1520 bis 1532. Hrsg. von Georg Pfeilschifter. Regensburg 1959. S. 62–66, hier S. 66. DOI 10.1515/9783110492460-017

488 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

dass sie mit ihren Ordensschwestern eine feierliche Prozession abgehalten habe, wahrscheinlich in oder um Nürnberg, um für Emser, als bedeutenden Frontmann der Altgläubigen, Kraft und Gesundheit zu erbitten.1531 Doch dabei handelt es sich um Appelle und Einzelaktionen, ohne ersichtliche Durchschlagskraft auf das entstehende altgläubige Selbstverständnis. Wie unterscheiden sich davon die in der Folge untersuchten Prozessionen in Paris und Rouen? Bei ihnen handelt es sich um explizit angeordnete, in ihrer Durchführung neu auf die Häresie abgestimmte und mit Erfolg, etwa hinsichtlich der Mobilisierung der Gläubigen, durchgeführte Aktionen. Zwar finden in diesen Prozessionen auch zahlreiche herkömmliche Ritualbestandteile Platz, denn Bittgänge sind nichts Neues. Aber es handelt sich in Frankreich, anders als gängiger Weise im Alten Reich, nicht um traditionelle Umgänge wie Fronleichnam, die mit Beginn der Reformation unter Druck geraten und unterschiedliche Sinnzuschreibungen erfahren. In Rouen und Paris handelt es sich um regelrechte rituelle Innovationen mit einem offensiven und effektiven Affirmations- und Reinigungsziel, durch welches das altgläubige Eigene klar herausgestellt und in seiner angeblichen Überlegenheit repräsentiert wird, während das evangelische Andere ausgeschlossen und symbolisch aus dem Raum eliminiert werden soll. Prozessionen als soziale und kulturelle Praxis sind von der deutschen Forschung besonders für die Reformationszeit eher selten untersucht worden. Es findet sich für die altgläubige Seite erneut die typische historiographische Lücke zwischen Spätmittelalter und Gegenreformation. Besonders herauszuheben ist die Studie von Andrea Löther über spätmittelalterliche Prozessionen in Nürnberg und Erfurt. Die Autorin untersucht die Funktion der Umgänge bei der Konstitution und Differenzierung der städtischen Gesellschaft sowie als Erinnerungspraxis für die urbane Geschichte. Detailliert behandelt sie den Ablauf, die mitgeführten Gegenstände sowie die Symbolik der Itinerare.1532 Anders sieht es in der französischen Historiographie aus, die sich mit Praxis und der räumlichen Bedeutung der Prozessionen seit längerer Zeit ausführlich beschäftigt. Für das Spätmittelalter hat Jacques Chiffoleau eine Untersuchung über die wochenlangen Massenprozessionen in Paris im Jahr 1412 vorgelegt. Er sieht diese als typischen Ausdruck der „religion flamboyante“, das heißt als ein Ritual, das radikale Veränderungen durch die obsessive Wiederholung des Alten verarbeitet. Chiffoleau untersucht die Teilnehmer, die zurückgelegten Strecken und die Stationen, etwa Heiligtümer und sakrale Orte. So werde, vielfach auf Initiative der Pfarreien und der Bruderschaften, ein religiöses Ritual mit einem politischen Sinn-

1531 Pfanner, Briefe Caritas Pirckheimer (wie Anm. 501), S. 123. 1532 Löther, Prozessionen (wie Anm. 1436). Nur auf wenigen Seiten am Ende der Monographie geht die Autorin auf das Ende der spätmittelalterlichen Prozessionen bzw. deren distinktive Funktion in den 1520er-Jahren ein. Vgl. ferner zu Prozessionen im Spätmittelalter und deren sozialer Bedeutung, hier mit einem Fokus auf das Sakrament, Zika, Hosts (wie Anm. 121).



2.3 Zum Beispiel: Maria und die Heiligen 

 489

gehalt – Unterstützung für den in den Krieg gezogenen König – verbunden. Gleichzeitig verliert das alte Ritual seinen früheren Sinngehalt und wird durch die massenhafte Wiederholung zu einem Objekt der Ästhetik und der Repräsentation.1533 Solche mehrwöchigen Prozessionen bleiben indes ein einmaliges Ereignis, zumindest bis zur Zeit der Katholischen Liga in Paris während der französischen Religionskriege. Dann kommt es zu einem breiten Phänomen, dass Denis Crouzet genau studiert hat: die weißen Prozessionen 1583–1584.1534 Sowohl in Rouen als auch in Paris finden vor und während der evangelischen Bewegungen zahlreiche Prozessionen zu verschiedenen Anlässen statt. Darunter fallen neben den traditionellen und zeitlich im liturgischen Kalender festgefügten Umgängen auch außerordentliche Bittprozessionen, etwa für gutes Wetter, für Frieden oder gegen Seuchen und militärische Gefahren. Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen stehen jedoch die außerordentlichen Prozessionen gegen die neue „Häresie“. Einige von diesen wurden in Zusammenhang mit anderen Ritualen oder theologischen Inszenierungen bereits erwähnt, so dass sie in der Folge kürzer behandelt werden können. Zudem geht es v. a. um eine diachrone Untersuchung einer ganzen Serie von Prozessionen und deren Entwicklung. In der Hauptstadt der Normandie sind Beratungsprotokolle des Domkapitels, das schwerpunktmäßig mit der Durchführung dieser Rituale betraut ist und diese vielfach auch alleine durchführt, meine wichtigste Quelle. Daneben gibt es in bestimmten Situationen die Möglichkeit, die Ratsprotokolle des Magistrats von Rouen heranzuziehen. Dies ist der Fall, wenn die Bürgerschaft in die Durchführung der Prozessionen involviert ist. Somit verfügen wir über spezifische Perspektiven auf das Geschehen und dessen Beurteilung, nämlich über die Perspektive des hohen Diözesanklerus, teilweise des Parlaments (wenn etwa dessen Gesandte im Domkapitel vorsprechen) sowie des Magistrats. In Paris hingegen wird sich die Ebene, über die wir Zugriff auf den Ablauf und die Deutung der Prozessionen erhalten, verändern: Aus der französischen Hauptstadt berichten Laien und ein Kanoniker. Diese Verschiedenheit der Perspektiven wird sich im Quellenbefund niederschlagen. Überraschenderweise lassen sich dennoch ähnliche Beobachtungselemente ausmachen, etwa der Schwerpunkt auf den Prozessionsordnungen und dem Itinerar. Auch dies wird zu thematisieren sein, insbesondere im Licht der Studien von Jacques Chiffoleau. Ich werde die Prozessionen jeweils chronologisch bezüglich mehrerer Aspekte untersuchen: Anlass, Teilnehmer, materiale und rituelle Ausgestaltung sowie Itinerar.

1533 Hintergrund dafür sei der politische, ökonomische und demographische Wandel des Spätmittelalters. Chiffoleau, Processions parisiennes (wie Anm. 1436). 1534 Crouzet, Processions blanches (wie Anm. 1436).

490 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

3.1 Rouen David Nicholls hat in Rouen bis zum Ausbruch der Religionskriege zehn Prozessionen anlässlich der „lutherischen“ Ketzerei gezählt.1535 Deren erste findet 1528 im Zusammenhang mit der Hinrichtung des mutmaßlichen Marienlästerers Pierre Bart statt.1536 Das Parlament der Normandie verurteilt den „Ketzer“ zum Tode und regt im Zusammenhang mit der Hinrichtung und der öffentlichen Buße (amende honorable) Barts die Abhaltung einer Prozession mit anschließender antievangelischer Predigt an. Die Domherren beraten über den Fall und beschließen, den Umgang am 23. Juli abzuhalten. Wichtig ist nicht zuletzt die Teilnehmerfrage – diese wurde in der bisherigen Forschung vernachlässigt. Doch gerade dadurch lassen sich Rückschlüsse auf die kulturelle Bedeutung und potenzielle Wahrnehmungen des Rituals ziehen. 1528 wird die Prozession allein vom Domklerus abgehalten. Der Umstand, dass nach deren Abschluss beim Karmelitenkonvent eine große Predigt stattfinden soll, die sich an die Laien richtet, deutet darauf hin, dass eine große Zahl an Zuschauern erwartet wird. Diese sollen vor den neuen Irrtümern gewarnt werden. Zudem soll ihnen eingeschärft werden, dass sie sich des Lesens volkssprachlicher Bibeltexte enthalten sollen. Die Prozession ist also verbunden mit einer klaren Kommunikationsabsicht des Domklerus, der die Laien nach der Hinrichtung und der Reparation des Maria zugefügten Unrechts vor weiteren Schritten gegen den soeben affirmierten Kult warnen soll. Die Marienzentriertheit der Prozession zeigt sich bei den vorhergehenden Messen in der Kathedrale, etwa in der dortigen Marienkapelle, sowie bei der materialen Ausgestaltung des Rituals. Denn in diesem wird ein Schrein mit der kostbarsten Reliquie der Kathedrale mitgeführt, dem Schuh der Maria. Dieses Artefakt wird das Jahr über meist in der Schatzkammer verschlossen gehalten und in der Kathedrale nur zu den Marienfesten und deren Oktaven zur Anbetung ausgestellt.1537 Der Einsatz der Reliquie in einer Prozession außerhalb des herkömmlichen liturgischen Kalenders erfolgt demnach nur in außergewöhnlichen Situationen und signalisiert den Laien die Bedeutung bzw. die Gefährlichkeit der Situation, auf die sich der Umgang mit dem Schuh jeweils bezieht. Wie sieht das Itinerar des Domklerus mit der Reliquie an diesem 23. Juli 1528 aus? Die Prozession verlässt die Kathedrale durch das Portal der Buchhändler in Richtung der Kirche St. Maclou. Unterwegs singen die Geistlichen das Antiphon Gaude Maria Virgo und machen Halt vor der Residenz des Erzbischofs, an der sich ein Marienbild befindet. Davor stellen die Domherren den Schrein mit der Schuhreliquie ab und sprechen nach Beendigung des Antiphons ein Mariengebet. Anschließend bewegt sich

1535 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. 1536 ADSM, G 2153, Bl. 114v, 115v. Vgl. ferner Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), 192–193; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 11–14. 1537 Tabbagh, Espaces (wie Anm. 265), S. 162–164.

3.1 Rouen 

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die Gruppe weiter, über eine Brücke des Flüsschens Robec bis zur Endstation, dem Kloster der Karmeliten. Die Prozession beschreibt einen nach einer Seite hin offenen Kreis. Sie verbindet die zentrale Kirche der Stadt und der gesamten Kirchenprovinz mit dem Sitz des Erzbischofs, einem weiteren wichtigen Gotteshaus, sowie dem Karmelitenkonvent, der immer wieder zum Schauplatz von Anti-Ketzer-Predigten wird. Das Itinerar führt durch das Zentrum der Stadt, umkreist diese also nicht an ihren Rändern. Zugleich ist es auf ein präzises Ziel gerichtet, in einem räumlichen wie theologischen Sinne: Die antievangelische Predigt und, damit verbunden, die Einschreibung des Kults in das städtische Zentrum entlang der wichtigsten sakralen Orte. Die urbs christiana wird im Rahmen dieses Umgangs von den sakralen Mittelpunkten aus definiert. Die Prozession symbolisiert topographisch die Einheit der religiösen Institutionen sowie der christlichen Gemeinde. Sie bleibt hinsichtlich der Teilnehmer auf die klerikale Führungselite der Diözese beschränkt. Diese beansprucht damit die Führung im Kampf gegen die Häresie.1538 Die nächste außerordentliche Prozession in Rouen findet an einem Sonntag, dem 10. September 1531, statt. Der Hintergrund: Eine mutmaßlich lutherische Frau soll in Rouen öffentlich durch eine Predigt bekehrt werden. Die Maßnahme wird von Amtleuten des Erzbischofs angeordnet. Für diese öffentliche Predigt regen sie zu einer Art Rahmenprogramm an. Nach der Sonntagsmesse soll eine Prozession stattfinden, nach deren Rückkehr die Schaupredigt erfolgen soll. Zwar darf angenommen werden, dass diese Prozession erneut nur vom Domklerus durchgeführt wird. Doch über das Itinerar, mitgeführte Gegenstände sowie die akustische und rituelle Ausgestaltung steht nichts in den Protokollen. Sicher ist nur, dass die Prozession das Kircheninnere und die nächste Umgebung der Kathedrale verlassen haben muss, denn nach der Rückkehr findet die angekündigte Predigt auf dem Friedhof statt.1539 Im Jahr 1534 finden gleich zwei Prozessionen statt, jedoch beide Male ohne Verbindung mit einem konkreten Vorfall, etwa einer Hinrichtung oder einer Schaupredigt. Die erste Prozession wird für eine Woche nach Fronleichnam, am 11. Juni 1534, geplant.1540 Die Initiative geht diesmal allein von den Domherren aus. Im Protokoll des Kapitels werden der Anlass, die Ausgestaltung und die Route genau geschildert: Facta advertencia de nonnullis erroribus qui adhuc pullulant contra sanctam fidem catholicam pro quibus erroribus nonnulli fuerunt nuper deprehensi et sunt pro presenti in manu justicie. Domini conclusunt processiones generales fieri die jovis proximis in octavis eucharistie Christi et in eisdem deferatur sacrosanctum corporis Christi et transeant per vicum Degrantpont et ante monasterium sancti Audoeni de hinc ante ecclesiam sancti Macuti et redeant ad ecclesiam per

1538 Vgl. Löther, Prozessionen (wie Anm. 1436), S. 106–109, 140–144. 1539 ADSM, G 2154, Bl. 19r. Ferner Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. 1540 Vgl. zu dieser Prozession auch Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 55 f.

492 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

portalium librariorum, in qua fiet predicatio per dominum penitentiarium ad exhortandum populum ad preces apud altissimum ut ipse dignetur dictos errores cessari facere.1541

Der Anlass und die Ausgestaltung der Prozession geben Einblick in einen strukturellen Wandel der französischen Reformation und deren Inhalte, auf welche die Domherren reagieren. Die evangelische Bewegung ist erstens größer geworden, was sich in der Zahl gefangener „Lutherischer“ niederschlägt. Dies kann aber auch daran liegen, dass die Autoritäten  – Parlament, königliche Amtleute und Kirchenjustiz  – effizientere Untersuchungen vornehmen und schärfere Urteile fällen. Die Frontstellung ist demnach klar: Die ketzerischen Irrtümer stehen dem Protokoll zufolge gegen die gemeine christliche Kirche, die also zur Reaktion gezwungen ist. Dabei bleibt das Heft des Handelns in den Händen der Führung der Erzdiözese, die sich aber eben nicht mit Repression und den Verhaftungen zufriedengibt, sondern durch die Prozession sich selbst und die Gläubigen mobilisiert. Denn obwohl der Umgang wieder nur von den Domherren bestritten wird, darf von einer größeren Zuschauermenge am Straßenrand ausgegangen werden. Wer bei dieser Prozession präsent ist, dürfte den zur Schau gestellten Inhalten eher zustimmen, zumal die Hostienverehrung im Mittelpunkt steht. Die Laien sollen darüber hinaus animiert werden, selbst durch Gebete gegen die Ketzer tätig zu werden. Sie sollen Gott bitten, dass er die Verbreitung der Irrtümer stoppt. Die Ausgestaltung der Prozession vom Juni 1534 reflektiert die bereits konstatierte Ausweitung der zentralen Konfliktmomente in Rouen und Paris zu Beginn der 1530erJahre. Standen 1528 noch Maria und deren Verehrung im Zentrum der Reparationsprozession, so ist es nun das corpus Christi. 1528 und auch 1531 war von diesem noch nicht die Rede, nun fehlt hingegen jeder Marienbezug. Es dürfte mithin kein Zufall sein, dass die Prozession eine Woche nach Fronleichnam als eine Art personell und rituell reduzierte Wiederholung des Fronleichnamszugs inszeniert wird. Die Frage nach der Substanz der Hostie und der Feier des Abendmahls ist Mitte der 1530er-Jahre das Differenzthema, auf das sich die Auseinandersetzungen und die Bildung religiöser Gruppen konzentriert, so dass sich die Domherren zur Bekräftigung der traditionellen Hostienverehrung in einem neuen Kontext und mit einer neuen, nun klar anti-sakramentarischen Stoßrichtung entschließen. Im rituellen Mittelpunkt der Prozession steht der Leib Christi, den die Domherren affirmativ durch die Straßen der normannischen Hauptstadt tragen. Das Itinerar beschreibt diesmal eine Kreisform und verbindet die wichtigsten sakralen Institutionen Rouens. Die Prozession dürfte, wie üblich, von der Kathedrale ausgehen und zieht dann weiter, über die rue du Grand Pont, bis zum Kloster St. Ouen, dem Standort zahlreicher Reliquien, darunter die des Hl. Ouen, Bischof von Rouen im 7. Jahr-

1541 ADSM, G 2154, Bl. 213v.

3.1 Rouen 

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hundert.1542 Danach geht es weiter bis vor die Kirche St. Maclou und von dort aus zurück durch das Portal der Buchhändler in die Kathedrale, wo anschließend die Predigt stattfindet. Mit der kreisartigen Figur des Umgangs wird eine Art Schutz- und Protektionslinie im Zentrum der Stadt beschritten, die signalisiert, dass die sakrale Topographie intakt ist und gemeinsam Front gegen die neue Häresie macht. Diese ist jedoch an keinem präzisen Ort festzumachen, was sie von herkömmlichen äußeren Feinden, etwa anrückenden Soldaten, unterscheidet. Diese diffuse Lokalisierung des Anderen kommt auch im Wort „pullulare“ zum Ausdruck: Die Irrtümer „wuchern“. Das Andere kann also überall sein, weshalb die Prozession den sakralen Kern Rouens zusammenbindet und damit stärkt – und nicht z. B. die Stadtmauern abschreitet. Ein halbes Jahr später scheint schon die nächste Prozession nötig zu sein. Im Protokoll des Domkapitels vom 26. November 1534 ist die Rede von der der Ketzerei, die nun in vielen Orten der Provinz blühe – „in maximum scandalum tocius ecclesie.“1543 Die Domherren ordnen deshalb eine Prozession für Dienstag, 1. Dezember 1534, an. Über die Route sagen die Protokolle nichts aus, bis auf den Umstand, dass die Prozession in die Kathedrale zurückkehren wird und dort eine Predigt des Beichtvaters stattfindet. Dafür muss der Tross die Kirche aber erst verlassen haben. Es handelt sich also um keinen der im Spätmittelalter häufigen Umgänge innerhalb der Kirche. Hinsichtlich der Ausstattung des Rituals gibt es am 1. Dezember eine kleine Notiz in den Protokollen, denen zufolge der Reliquienschrein mit dem Schuh der Gottesmutter aus der Schatzkammer geholt und bei der Prozession mitgetragen wird. Die Präsenz der wichtigsten Reliquie der Kathedrale dürfte auch in den Augen der Zuschauer die Bedeutung des Rituals erhöht haben, wurde die Reliquie doch nur für besondere Gefahrenmomente außerhalb des liturgischen Kalenders hervorgeholt.1544 Mit der Predigt wiederum sollen zwei Ziele verfolgt werden, nämlich die Laien zum allgemeinen christlichen Glauben und zur Abgrenzung gegenüber den ketzerischen Irrtümern („ad fidem catholicam et tollendum errores“1545) anzuhalten. Das Volk wird in den Abschluss der Prozession also aktiv mit einbezogen und zum Abwenden von der Häresie aufgefordert.1546 Wenige Wochen später wird dieser Ansatz massiv ausgeweitet. Zugleich findet die schon im Juni 1534 festgestellte Fokussierung der Prozessionen und deren kontrovers-identitärer Aussage auf die Hostie einen neuen Höhepunkt. Die Plakataffäre, die schon im Oktober Paris und andere Städte des Königreichs getroffen hatte, erreicht nun mit der zweiten Verbreitungswelle, die auch wiederum Paris betrifft, die Haupt-

1542 Vgl. zu den Sakralgebäuden Tabbagh, Espaces (wie Anm. 265), S. 162. 1543 ADSM, G 2154, Bl. 253r. 1544 ADSM, G 2154, Bl. 254v. 1545 ADSM, G 2154, Bl. 253r. 1546 Kurze Erwähnung findet diese Prozession auch bei Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193; Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 58 f.

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 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

stadt der Normandie. Am 27. Januar 1535 finden die Bürger in Rouen die Flugblätter (placards) des reformierten Theologen Marcourt gegen die Messe, Transsubstantiation und den Heiligenkult in den Pfarreien, Kirchen, Häusern und dem königlichen Palais. Das Parlament der Normandie bestimmt, dass am 4. Februar eine große Prozession abgehalten werden soll. Der Apotheker Guillaume Huchon, der die placards verbreitet haben soll, wird auf der Flucht gefasst. Ihn verurteilt das Parlament am 30. August zum Tode. Bereits am Morgen nach der Tatnacht erreicht das Domkapitel die Prozessionsanordnung des Parlaments. Der Umgang soll am Montag, 1. Februar, stattfinden. Auch die Tat an sich wird im Protokoll vom 27. Januar beschrieben. Für die weitere Koordination der „processiones generales“, die das Parlament wünscht, wird zum Parlament ein Notar des Kapitels geschickt.1547 Die Abstimmung scheint recht schnell erfolgt zu sein. Doch wie die Protokolle des Folgetags zeigen, bleibt es nicht bei der herkömmlichen Prozession des Kapitels, wie sie gegen die „Ketzer“ in den vergangenen Jahren veranstaltet worden ist. Die Altgläubigen nehmen, nicht nur in Rouen, die Plakate als eine außergewöhnliche Herausforderung wahr, besonders wegen deren Inhalt: ein Angriff auf das zentrale heilbringende Sakrament der spätmittelalterlichen Kultur. Am 28. Januar erscheinen zwei Räte des Magistrats, Jacques Le Lieur und Guillaume Auber, vor dem Domkapitel, um über den genauen Ablauf der Prozession zu beraten. Denn bei dieser sollen auf Wunsch des Parlaments auch die Bürger und Bewohner aktiv eingebunden werden, um für den Erhalt des gemeinen christlichen Glaubens gegen die lutherischen Ketzer zu bitten, die diesen Glauben geschändet und somit das Volk in Aufruhr versetzt habe. Durch eine ehrbare Veranstaltung solle das Volk zu noch größerer Frömmigkeit gebracht werde. Während der Verhandlungen ergibt sich, dass die Prozession noch einige Tage zurück auf den 4. Februar verlegt wird, um auf den bereits informierten Erzbischof zu warten, der im Augenblick in Paris weilt. Die Teilnehmer verständigen sich am Ende auf ein Itinerar, das von der Kathedrale ausgeht und über die rue du Grand Pont bis vor das Kloster St. Ouen verläuft. Weiter geht es über die Robec-Brücke bis zum Augustinerkloster. Von dort schreitet die Prozession vorbei am Areal des Alten Turms bis zum Franziskanerkonvent. Dann ändert der Zug erneut seine Richtung und biegt auf die rue de la Vicomté ein, passiert die Kirche St. Vincent sowie den Stift St. Sépulcre, dessen Kirche gemeinhin „chapelle St. Georges“ genannt wird. Ein letztes Mal ändert die Prozession dann ihre Richtung und zieht über die rue du Gros-Horloge, vorbei an der Kirche Notre-Dame de la Ronde, zurück zur Kathedrale. Dort kommt die Prozession zum Abschluss, allerdings wegen der erwarteten Menschenmassen („propter confusionem et multitudinem populi“) auf eine rituell eingeschränkte Weise. Die letzte Station des Zugs in der Kathedrale ist vor dem Sakrament auf einem speziell vorbereiteten Altar.1548

1547 ADSM, G 2154, Bl. 268v. 1548 ADSM, G 2154, Bl. 268v–269r.

3.1 Rouen 

 495

Dieser Abschluss weist auf die zentrale Aussage der Prozession hin. Nach den „lutherischen“ Angriffen auf die Messe und die Realpräsenz werden die entsprechenden Kulte besonders bekräftigt. Darüber hinaus weist das Itinerar eine geschlossene Form auf und beschreibt somit eine schützende Figur. Diese verläuft im Zentrum der Stadt und bezieht die wichtigsten sakralen Bauten und kirchlichen Institutionen mit ein, allen voran die Abtei St. Ouen. Womöglich beschreitet die Prozession die Ränder der früheren Kernstadt. Auffällig ist zudem, dass die Kathedrale zwar eingebunden ist, aber von der Prozession auch vollumfänglich umrundet wird. Womöglich bezieht sich das schützende Itinerar auf die Kathedrale, was besonders durch die anschließende Verehrung und abschließende Station vor dem angegriffenen Leib Christi plausibel erscheint. Die Solidaritätsbekundung und Integration der wichtigen Kircheninstitutionen wird also ergänzt durch einen protegierenden Gang um die abschließend zentral inszenierte Hostie. In den Aufzeichnungen des Domkapitels finden sich detaillierte Angaben zu Aufbau und Ablauf der Prozession.1549 Am Morgen singen die Domherren noch wie gewohnt die Matutin und begehen den täglichen Gottesdienst. Dann findet ein Hochamt mit besonderer ritueller Exposition des eucharistischen Sakraments statt, das von den Marcourt-Flugblättern „gelästert“ worden ist. Diese Fokussierung wird den gesamten Ablauf der Prozession prägen. Immer noch scheint es unklar zu sein, ob der Erzbischof von Rouen, Georges d’Amboise, am fraglichen Tag erscheinen wird. An seiner Statt soll der Erzbischof von Tours, Antoine de Bar, die Messe lesen. Dies könnte den Wunsch ausdrücken, dass eine möglichst hohe klerikale Autorität den Auftakt zur Prozession setzt und damit die Bedeutung des Rituals und dessen theologischer Inhalte unterstreicht. Auch die Ausstattung der Kathedrale am Tag der Prozession ist eine besondere und hebt die Rituale und die Sakramentsverehrung vom Alltäglichen ab: Die Kirche wird wie an Mariä Himmelfahrt, dem wichtigsten Marienfeiertag des Spätmittelalters, geschmückt. Nach dem Hochamt beginnt die Prozession. In dieser wird das Sakrament von einem der beiden Erzbischöfe – welcher, ist aus den Quellen nicht zu entnehmen – unter einem Baldachin getragen, mit den in Rouen ansässigen Weihbischöfen von Hippo und Thessaloniki an der Seite, sowie daneben oder dahinter den Äbten der Diözese. Bei der Prozession werden alle Reliquien der Kathedrale mitgeführt, also auch der schon früher zu Anti-Ketzer-Prozessionen mitgetragene Schuh der Maria und darüber hinaus die Reliquie des Hl. Bischofs Severin von Avranches,1550 ebenso wie die Fahnen der Kirche. Dies solle geschehen wie an Christi Himmelfahrt. Dahinter steht eine Inszenierungsanleihe bei einem populären Brauch aus dem Mittelalter, dem „privilège de Saint-Romain“. Der Hintergrund: In Rouen befindet sich eine Armreliquie des Bischofs aus dem 7. Jahrhundert. Bis 1790 verfügt das Kapitel von Rouen

1549 Zum Folgenden vgl. ADSM, G 2154, Bl. 269r–270r. 1550 Zu den Reliquien der Kathedrale vgl. Tabbagh, Espaces (wie Anm. 265), S. 162.

496 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

über das Recht, jährlich an Christi Himmelfahrt einen Gefangenen der weltlichen Justiz zur Begnadigung auszuwählen. Der Begnadigte trägt die Romanus-Reliquie dann während einer langen Prozession, an der zudem der Regular- und Säkularklerus der Stadt, Schüler, Musiker, Kaufleute, die Zünfte, der Domklerus und der Erzbischof teilnehmen. Es werden die Reliquien der örtlichen Kirchen und Klöster sowie eine goldene Statue eines Drachen mitgeführt, den Romanus gemeinsam mit einem zum Tode verurteilten bezwungen haben soll. Auf diese Legende geht auch das Privileg zurück. Das Ritual an Christi Himmelfahrt hat also den Charakter einer Buß- und Gnadenprozession, das zwar vom Domkapitel geleitet wird, aber weite Teile der Bürgerschaft einbindet.1551 An der Prozession 1535 nehmen die Domkleriker teil, in Seidenornat gewandet. Die Kanoniker tragen eine weiße Wachskerze und die Kapläne eine gelbe Wachskerze. Dazu reihen sich in den Prozessionszug ein: das Parlament, die königlichen Amtleute, die corpora der Bürgerschaft von Rouen, in weiß gekleidete Kinder, der Regularklerus (Franziskaner, Dominikaner, Augustiner, Karmeliten), die Bruderschaften und dahinter die cinquanteniers, vom Stadtrat aus jedem Pfarrbezirk ausgewählte Angestellte, oft einfache Handwerker, welche in den Bezirken für verschiedene öffentliche Aufgaben eingesetzt werden konnten. Bei der Prozession dienen sie als Sicherheitspersonal.1552 Weitestgehend entspricht die Prozession vom 4. Februar hinsichtlich des Aufbaus und der Teilnehmerschaft der jährlichen Himmelfahrtsprozession, insbesondere da auch die Romanus-Reliquie mitgeführt wird. Zudem wird die Reliquie von St. Ouen aus dem gleichnamigen Kloster mitgetragen. Die wichtigen Heiltümer der Stadt befinden sich also im Zug. In dessen Mittelpunkt stehen sie aber nicht, anders als am Christi-Himmelfahrt-Umgang. Vielmehr ist die Prozession ganz auf das Sakrament ausgerichtet. Dies zeigt sich bereits beim morgendlichen Hochamt und der Inszenierung der Hostie im Verlauf der Prozession. Die Prozession endet diesmal in der Kathedrale, wo vor einem Kreuz ein reich verzierter, improvisierter Altar aufgebaut wird, auf dem das corpus Christi zur Anbetung und dem Singen des „Ave verum“ – einem Gebet der eucharistischen Devotion – ausgestellt ist. Die Affirmation des Sakraments wird also bis in das religiöse Zentrum der Stadt hinein forciert, um das herum die Prozession einen schützenden Ring gezogen hat. 1539 folgt der nächste Umgang, der wiederum allein auf die Initiative des Domkapitels zurückgeht. Der Grund ist diesmal wieder allgemeiner: Die „blühenden Häresien“, zu deren Bekämpfung das Kapitel am 24. Juni eine Prozession anordnet. Das Itinerar ist dabei denkbar einfach und führt von der Kathedrale bis zum Kloster St.

1551 Campbell, Thomas P.: Cathedral Chapter and Town Council. Cooperative Ceremony and Drama in Medieval Rouen. In: Comparative Drama 27 (1993). S. 100–113, hier S. 102–104. 1552 Vgl. zur Prozession Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 61f; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 194. Zu den cinquanteniers vgl. Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 36 f.

3.2 Paris 

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Ouen: Zwei der wichtigsten und ältesten sakralen Institutionen der Stadt (St. Ouen geht auf eine Gründung im 6.  Jahrhundert zurück) verbinden sich symbolisch im Kampf gegen die „Lutherischen“. Beim Kloster wird erneut eine Predigt gehalten, in welcher der Sinn der Prozession für die Laien erklärt werden soll. Der Beichtvater hält die Ansprache „ad incitandum populum ad preces et orationes erga altissimum ut cessari faciere dignetur tales errores.“1553 Wie schon einige Male zuvor wird das Volk durch die Prozession aktiviert und danach in der Predigt animiert, das zum Kampf gegen die Häresien beizusteuern, was der Rolle der Laien entspricht: Gebete. Die Organisation religiöser Kundgebungen und die strafrechtliche Verfolgung stehen wiederum Kirche und Staat zu. Die neuerliche Prozession fällt zusammen mit einer verstärkten Offensive gegen die „Häresie“. Etwa zur selben Zeit werden in Rouen Häuser nach ketzerischen Schriften durchsucht.1554 Insbesondere bei der Prozession des 4. Februar 1535 lassen sich also exemplarisch die Prozesse beobachten, welche die altgläubigen Kulturen Europas jener Jahre ausmachen. Erstens wird auf klassische religiöse Praktiken der Buß- und Bittrituale gegen äußere Feinde oder Bedrohungen zurückgegriffen. Diese werden zweitens vermischt mit Elementen ebenfalls traditioneller Rituale wie der Prozession anlässlich des privilège de Saint-Romain, die aber eine neue Funktion erhalten. Drittens werden diese alten, nun vermischten und umfunktionierten Prozessionsformen in einen neuen Kontext – jenen der protestantischen Herausforderungen – gesetzt. Bestimmte Inhalte wie etwa die Marienfrömmigkeit 1528 oder die Hostie 1535 werden außerhalb des für die entsprechende Devotion vorgesehenen Kalenders auf außergewöhnliche Weise inszeniert. Die Bedeutung der Formen und Artefakte wird aktualisiert und erhält zusätzlich neue, kontroverse und distinktive Stoßrichtungen – und dies sowohl in altgläubiger, als auch in evangelischer Wahrnehmung.

3.2 Paris In Paris geben die Selbstzeugnisse dreier Zeitgenossen  – zwei Laien und ein Kleriker – Einblicke in die hohe Frequenz und funktionale Bandbreite der Prozessionen zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Allerdings verschiebt sich die Perspektive von der obrigkeitlich-formellen Warte (Rouen) hin zur Wahrnehmung der Zuschauer von unten. Die Anlässe für Prozessionen in Paris sind vielfältig. Sie finden etwa nach Hostienschändungen statt, bei denen, wie nach einem Hostiendiebstahl in Saint-Germainen-Laye im Jahr 1522, sogar der König an der Reparationsprozession teilnimmt.1555

1553 ADSM, G 2155, Bl. 211v. 1554 Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 74; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 193. 1555 Journal d’un bourgeois de Paris 1 (wie Anm. 347), S. 113 f.

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 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

Diese durchaus häufigen Vorfälle haben bis weit in die 1520er-Jahre noch keine „konfessionelle“ Aufladung, sondern stehen in der Tradition der spätmittelalterlichen Hostiendevotion und deren Verteidigung. So wird 1526 ein 24-Jähriger Bootsführer aus Auxerre zum Tode verurteilt und verbrannt, nachdem er in der Pariser Kirche Saint-Jean-en-Grève mit einem Komplizen das Ziborium gestohlen und die Hostie, die sich in dem Kelch befand, gegessen hat. Am Sonntag nach der Hinrichtung wird eine Prozession zur Tatort-Kirche abgehalten, in der ein Hochamt gesungen wird. Wer am Umgang im Einzelnen teilnimmt, ihn anordnet und welcher Weg exakt zurückgelegt wird, berichtet der unbekannte Pariser in seinem Tagebuch nicht.1556 Wenige Jahre zuvor, 1519, wird auf Befehl des Königs ein Bordell abgerissen, das an die Kirche Saint-Denis-de-la-Charte angrenzt. Die Königin hatte um diese Maßnahme wegen der täglichen „insoclences et maux“ gebeten. In dem Bordell werden die Überreste dreier toter Männer gefunden. So ordnet der Bischof von Paris für den nächsten Tag eine Prozession um die Stadt an.1557 Somit sind schon Charakteristika der Prozessions-Quellen aus Paris deutlich geworden: Die Laien und der Mönch aus Saint-Victor berichten v. a. das, was sie selbst sehen oder wovon sie hören. Details der Organisation im Hintergrund gehen verloren. Dafür werden Kontexte zusammenhängender erläutert und die Rezeption im altgläubigen Volk erscheint besonders deutlich. In Paris sind  – anders als in Rouen  – Anti-Ketzer-Prozessionen während der 1520er- und 1530er-Jahre stets an konkrete, Aufsehen erregende Ereignisse gebunden. Umgänge, die eher allgemeiner wegen steigender Verhaftungszahlen oder dem „Erblühen“ der Häresie angeordnet werden, sind in dieser Zeit nicht in den Quellen überliefert. Dies mag damit zusammenhängen, dass in Rouen die Zahl der Akteure, die derartige Prozessionen spontan anordnen und konkret leiten können, kleiner ist als in Paris. Dort haben sich das Kapitel und das Parlament zusätzlich mit dem Königshof, sofern er in der Hauptstadt ist, der Universität und einer selbstbewussten Bürgerschaft ins Einvernehmen zu setzen. Die ersten Prozessionen finden 1528 in direkter Folge auf die Zerstörung einer steinernen Figur der Maria mit Jesuskind an der Häuserecke gegenüber der Kirche Petit Saint-Antoine in der rue des Juifs statt. Drei Phasen der Umgänge lassen sich ausmachen: (1) spontane Prozessionen, die auf Initiative „von unten“, d. h. aus den Pfarrgemeinden, zurückgehen; (2) der Versuch der Universität, die Volksbewegung durch eine eigene Prozession zu kontrollieren und das Heft des Handelns wiederzuerlangen; (3) die monumentale Reparationsprozession unter Teilnahme des Königs. Bei dieser wird die zerstörte Figur in einem komplexen Ritual durch eine neue Silberfigur ersetzt. Dieses Ritual und die Artefakte waren bereits Gegenstand eingehender

1556 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 47 f. 1557 Journal d’un bourgeois de Paris 1 (wie Anm. 347), S. 50.

3.2 Paris 

 499

Untersuchungen.1558 An dieser Stelle hebe ich aus analytischen Gründen separiert auf die Prozessionen ab. Der anonyme Bürger beschreibt den Vorfall, der sich in der Nacht zum 2. Juni ereignet, ausführlich in seinem Tagebuch. Tags darauf berichtet er von „plusieurs processions particulières des paroisses et autres églises de la ville, et quasi toutes allèrent au dit lieu, et en la paroisse de Sainct-Gervais à cause que la maison où était cette image était de la paroisse.“1559 Die Itinerare sind also, anders als in den offiziellen Quellen aus Rouen, nicht exakt wiedergegeben. Allerdings dürfte dies hier im Detail auch gar nicht möglich gewesen sein, da es sich um selbstorganisierte und spontane Züge der Laien mit ihren Pfarrern handelt. Zu diesem Zeitpunkt liegt noch keine Anweisung des Königs, der Fakultät oder des Parlaments für derartige Prozessionen vor. Normalerweise dauern die Vorbereitungen für Generalprozessionen mehrere Tage. Der Marienikonoklasmus muss in der Stadt also innerhalb weniger Stunden bekannt geworden sein und einen großen Teil der Bevölkerung derart aufgerüttelt und schockiert haben, dass sich die Laien und die Gemeindepfarrer zu sofortigem Handeln entschließen. Fast alle Pariser nehmen an diesen Prozessionen teil, wie die Quellen berichten. Im Umkehrschluss deutet dies auf einzelne Gemeinden oder Gläubige hin, die nicht aktiv werden. Das kann verschiedene Gründe haben, darunter auch die Ablehnung des Marienkults und der Verehrung dessen materialer Symbolfigur. Die Teilnehmer, die sich abgesehen von den Pfarrern nur aus Laien zusammensetzen, drücken zweierlei aus: Zum einen die Ablehnung und Verurteilung des Ikonoklasmus, den sie direkt vor Ort wiedergutmachen wollen, zum anderen die Affirmation des alten Kultes gegen die „lutherische“ Häresie. Die über mehrere Tage verteilten Prozessionen beginnen bei den jeweiligen Pfarrkirchen und enden vor der geschändeten Statue und in der Pfarrkirche Saint-Gervais. Die Zielorte ergeben also keine markante geographische Figur. Vielmehr werden zwei Punkte miteinander verbunden. Durch die linearen Prozessionen bekunden die Pfarreien ihre Verteidigung des angegriffenen Kults, die Wiedergutmachung gegenüber der im zerstörten Bild repräsentierten Maria sowie Solidarität mit der zuständigen Pfarrkirche Saint-Gervais. Freilich sehen orthodoxe Institutionen wie das Parlament, die Theologische Fakultät oder die Institutionen der Monarchie unkontrollierte Laienaktivitäten mit Misstrauen, v. a. in einer derart unübersichtlichen Situation, während zeitgleich noch die Täter gesucht werden. Gemeinhin werden Prozessionen von oben angeordnet und vom Klerus angeführt. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die Universität nicht auf weitere Befehle des Königs wartet, sondern eine Woche nach der Tat, am 9. Juni, selbst eine Prozession veranstaltet, welche die Laien von der aktiven Teilnahme ausschließt. Dahingegen sind alle corpora der Universität vertreten: der Rektor, der

1558 Vgl. Kap. II. 4.2.3. 1559 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100.

500 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

Klerus, Doktoren, Lizentiaten, Bakkalaureaten, Magister, Schulmeister und Schüler. Die laut Versoris 400 bis 500 Schüler halten brennende Kerzen, die sie der Marienfigur „präsentieren“, als sie an ihr vorbeikommen. Darüber hinaus nimmt der Regularklerus der Stadt, u. a. die Bettelorden, an dem Umgang teil. In großer Andacht führt ihr Weg laut dem unbekannten Chronisten zur Pfarrkirche des Tatorts, Saint-Gervais, zur Klosterkirche Sainte-Catherine-du-Val-des-Écoliers bis hin zum zerstörten Marienbild. Pierre Driart beschreibt ein Itinerar nach Sainte-Chatherine-du-Val-des-Écoliers, wobei die Prozession an dem Ort der kaputten Statue vorbeikommt.1560 Es dominieren in den Beschreibungen der Universitäts-Prozession ästhetische und numerische Wahrnehmungen. Die räumliche Beschreibung ist auf die Zielorte fokussiert, ohne dass die Ausgangspunkte konkret beschrieben werden. Es dürfte sich um eine weitgehend lineare Strecke handeln, die also wiederum rituelle Affirmation, Reparation und Solidarität der Universität ausdrücken soll. Zudem ist Sainte-Catherine-du-Val-des-Écoliers ein traditioneller Prozessionsort der Schüler. Die Grundaussage der Prozession ändert sich jedoch kaum im Vergleich zu den vorhergehenden spontanen Zügen der Gemeinden. Sie soll die ikonoklastischen Ketzer bekämpfen, Wiedergutmachung leisten und den Marienkult durch die prachtvolle und demonstrative Prozession vor das Bild bekräftigen. Versoris spricht von der schönsten Prozession der Universität seit Menschengedenken.1561 Am 11. Juni findet das Fronleichnamsfest mit den traditionellen Corpus-ChristiProzessionen der Pfarreien statt. Schon an diesem Tag befindet sich Franz I. in Paris und beteiligt sich an der Fronleichnamsprozession der Pfarrei Saint-Paul, wobei er das herkömmliche Itinerar ändern lässt und der Umgang an der nahegelegenen, zerstörten Marienstatue vorbeizieht. Franz I. trägt eine brennende weiße Kerze und begeht die Prozession unbedeckten Hauptes mit großer Ehrfurcht. Dadurch inszeniert er sich als Büßer, der stellvertretend für die Stadt und das ganze Königreich vor der zerstörten Statue Maria und Christus um Vergebung bittet. Musiker begleiten den Prozessionszug und verstärken mit ihrem Spiel die Schönheit des Spektakels. Darüber hinaus wird der Charakter einer Gesamtbuße des Königreichs durch die Teilnahme des Kardinals von Lothringen, einer Reihe hoher Prälaten und des Hochadels sowie des niederen Adels verstärkt. Sie tragen ebenfalls weiße Kerzen, genauso wie die Bogenschützen, die sie begleiten. Gemeinsam geht die Prozession zu dem zerstörten Bild, wobei der Chronist betont, dass der Zug schön und fromm anzusehen gewesen

1560 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100; Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. Versoris datiert die Prozession der Universität auf den 10. Juni, Vorabend von Fronleichnam, und berichtet nur vom Gang zum Tatort. 1561 Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113.

3.2 Paris 

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sei. Erneut liegt das Augenmerk der Beschreibung eines Laien auf dem Status, der Zahl und dem visuellen Eindruck der Prozession.1562 Die eigentliche Reparationsprozession, die allein auf den Frevel an der Statue bezogen und durch diesen veranlasst ist, findet am Tag nach Fronleichnam statt. Laut dem bourgeois inconnu nehmen daran alle Pfarreien der Stadt Paris teil, ebenso die vier Bettelorden. Hinzu kommt der Klerus der Kathedrale Notre-Dame und der SainteChapelle. Schließlich nehmen das Parlament, Bürgermeister und Rat von Paris sowie Bogen- und Armbrustschützen teil. Über die mitgeführten Artefakte äußert sich der Anonymus ungenau: Es habe sich um Fahnen, Kreuze und eine Reihe von Reliquien gehandelt.1563 Zum Itinerar: Die Prozessionen beginnen mit dem Weg zur Kirche Sainte-Catherine-du-Val-des-Écolliers, wo sich Franz I. und der Hochadel zur Messe eingefunden haben. Nach deren Beendigung schließt sich der König dem großen Zug „en bel ordre“ an, nimmt dafür die Kopfbedeckung ab und hält, ebenso wie der Adel, eine weiße Wachskerze in den Händen. Vor dem König läuft dessen Beichtvater, der Bischof von Lisieux, der die von Franz I. gestiftete neue Marienfigur bis zum Tatort trägt.1564 Die Statue wird am Ziel der Prozession an der Häuserwand in der rue des Juifs in einem komplexen Ritual anstelle der zerstörten Figur aufgestellt.1565 Die Prozession, deren Beschreibungen erneut v. a. auf ästhetische Aspekte wie die Feierlichkeit und Schönheit abheben sowie auf die illustren Teilnehmer, ist hier also nicht das zentrale Ritual, sondern ein Vorlauf für die Substituierungsriten, mit denen sie dennoch auf gleich mehreren Ebenen verbunden ist. Erstens beschränkt sich der Umgang auf den Ostteil der Stadt rund um den Tatort. Eine bestimmte geometrische Figur des Itinerars lässt sich aus den Quellen nicht erschließen. Es handelt sich um eine zielgerichtete Prozession mit der weltlichen und geistlichen Führungsschicht des Königreichs. Die Aussage ist klar und wird von Pierre Driart überliefert: Der König wolle zeigen, dass er und sein Hof sich eindeutig gegen die Lutherischen stellen.1566 Diese Aussage wird in den Straßen der Hauptstadt verbreitet. Zudem ist die Prozession, die ja auch die einfachen Pfarreien einbindet, nötig, um die Substituierung des zerstörten Bildes kulturell einzurahmen. Die Affirmation des Marienkults, die mit dem Umgang beginnt, steht im visuellen und rituellen Zusammenhang mit der Ersatzfigur, die sich zudem außergewöhnlich nahe beim Volk befindet. Die von allen Quellen unterstrichene Schönheit der Prozession dürfte zur Aufwertung der neuen Statue beigetragen haben. Drittens soll durch die Prozession das Volk mobilisiert werden. Mit seinen jeweiligen Pfar-

1562 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100. Pierre Driart weiß nichts von dieser abgewandelten Fronleichnamsprozession. Auch Versoris geht nur in aller Kürze auf das Ereignis ein. Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. 1563 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100–102. 1564 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 101. 1565 Vgl. Kap. II. 4.2.3. 1566 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133.

502 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

reien ist er eingebunden in ein Ritual im Raum, an dem auch der Monarch teilnimmt, dessen Inszenierung beeindruckt und somit zur Kristallisierung des Marienkults als distinktives Merkmal christlicher Orthodoxie in Paris beiträgt. Wie der unbekannte Bürger berichtet, finden am Folgetag zahlreiche weitere Prozessionen von Pfarr- und Klosterkirchen zu Notre-Dame statt. Der Weg führt sie jedes Mal am neuen Marienbild vorbei, bei dem sie Gebete zur Gottesmutter sprechen, „toujours en continuant le bon propos et vouloir fait auparavant.“1567 Anordnungen, etwa der Fakultät oder des Parlaments, die Prozessionen abzuhalten, sind nicht überliefert. Es muss sich also, wie sofort nach der Zerstörung der alten Figur, um spontane Initiativen handeln, die maßgeblich von den Laien in den Gemeinden oder in Interaktion mit ihren Pfarrern gestaltet werden. Anscheinend herrscht unter den Teilnehmern die Ansicht, dass es noch weiterer Affirmationen und Reparationen bedarf. Dies offenbart die Einbindung und rituelle Initiative des gemeinen Mannes, wobei die Teilnehmer selbst wiederum ein Zeichen setzen: Sie verehren Maria und dürften sich deshalb, in Abgrenzung zu den lutherischen Ikonoklasten, als zur allgemeinen, „altgläubigen“ Kirche zugehörig sehen. Nach einer – vom Umfang her jedoch deutlich reduzierteren – Reparationsprozession infolge eines Ikonoklasmus im Jahr 15301568 folgt die nächste Anti-Ketzer-Prozession in Paris im Januar 1534, die sich wieder auf aktuelle religionspolitische Ereignisse bezieht. Ende 1533 haben sich in Marseille König Franz I. und Papst Klemens VII. getroffen und eine Zusammenarbeit im Kampf gegen die Häresien verabredet, die sich in zwei päpstlichen Bullen niederschlägt. Die erste Bulle ergeht an die französischen Erzbischöfe, Bischöfe und Inquisitoren und regelt die neuen Schnellverfahren gegen verdächtige „Ketzer“. Die zweite Bulle bezieht sich auf die Degradierung lutherischer Priester. Während einige evangelische Prediger verhaftet werden, dürfen Ende Dezember 1533 die kurz zuvor verbannten altgläubigen Prediger und Noël Beda wieder nach Paris zurückkehren. In diesem Klima erfolgt nun eine altgläubige Prozession, mit der Gott, Maria und allen Heiligen für die Unterstützung des Königs gedankt werden soll. Der Umgang vom 4. Januar 1534, über den nur Pierre Driart Auskunft gibt, bleibt auf das Innere der Kathedrale Notre-Dame beschränkt und wird allein von deren Rektor durchgeführt. Es handelt sich dabei um einen im Vergleich zu früheren Prozessionen viel geringeren performativen Akt. Dieser soll keine spezifische Theologie oder Praxis bekräftigen, in den Raum einschrieben und im veränderten Kontext öffentlichkeitswirksam neu positionieren. Vielmehr dient die Prozession als eher kurze Danksagung an Gott. Darauf folgt eine Predigt des Franziskaners Pierre de Cornibus, in der er die neuen Handlungen des Königs und die dahintersteckenden Intention „bien au long“ erklärt. Zuletzt seien viele Ungerechtigkeiten vorgefallen, sagt Cornibus, womit er etwa die Verbannung altgläubiger Prediger meinen dürfte.

1567 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 102. 1568 Vgl. Kap. II. 4.2.3.

3.2 Paris 

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Doch davon habe der König nichts gewusst. Durch diese Deutung der zurückliegenden Jahre und der Offenheit des Königs für reformerisch-erasmische Strömungen erhält die Prozession den Sinn eines Dankesumgangs dafür, dass Franz I. nun endlich die Wahrheit gesehen habe und entsprechend agiere.1569 Mitte der 1530er-Jahre vertiefen sich die religiösen Differenzen und kristallisieren sich durch die Erweiterung des Feldes der Distinktionen zunehmend klar heraus. Waren bis vor wenigen Jahren Konflikte um die materiale Darstellung und Verehrung der Gottesmutter und der Heiligen im Zentrum der Auseinandersetzung, entwickelt sich nun, im Rahmen der beginnenden sakramentarischen Wende der französischen Reformation, ein zweiter Fokus des Konflikts rund um die Eucharistie, die Hostienverehrung und die Messe. Dieser gipfelt im Oktober 1534 in der Plakataffäre: Ein Flugblatt des protestantischen Theologen Antoine Marcourt kritisiert die Messe und die Transsubstantiation aufs Schärfste und wird in Paris sowie in anderen Städten massenhaft verbreitet. Ein zweites Flugblatt desselben Autors findet ab November Verbreitung und wird im Januar 1535 in großer Zahl in Paris, u. a. im Louvre, verteilt. Während erste Reaktionen, darunter Prozessionen, in der Folge der ersten Flugblätter eher ritueller Natur sind, gilt die zweite Plakataffäre als Auslöser der monatelangen Verfolgungen potenzieller Täter, Mitwisser und verdächtiger „Lutherischer“. Die altgläubigen Obrigkeiten reagieren also mit Repression und Exklusion einerseits, Affirmation und innovativem Aktivismus andererseits. Beide Elemente finden sich auch in den Hinrichtungen sowie in den öffentlichen Bußstrafen wieder.1570 Sie zeigen sich in der rituellen Verstärkung der Hostieninszenierung sowie der Messe.1571 Und sie zeigen sich in den Prozessionen, die in Paris auf die Plakataffären folgen. Zwei der drei Selbstzeugnisse geben Auskunft über die Umgänge: der unbekannte Bürger und, besonders detailliert, der Mönch Pierre Driart aus dem Kloster Saint-Victor vor den Toren der Hauptstadt. Driart berichtet genauer als der Anonymus über die diversen Prozessionen, die direkt nach der Tat initiiert werden. Der Augustiner datiert die Austeilung der messfeindlichen Plakate auf den 18. Oktober, einen Sonntag, so dass die Gläubigen die Flugblätter auf dem Weg zur Messe zu sehen oder vorgelesen bekommen konnten. Die Terminierung dürfte von evangelischer Seite aus also kaum ein Zufall gewesen sein, sondern gezielt auf den Tag gelegt worden sein, der im Spätmittelalter im religiösen Wochenkalender am engsten mit der Messe und deren Rezeption durch den Gemeinen Mann verbunden ist. Der unbekannte Pariser datiert die Verteilung der Plakate eine knappe Woche später, auf „environ“ Samstag, 24. Oktober.1572

1569 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 166. 1570 Vgl. Kap. II. 3.3. 1571 Vgl. Kap. II. 2.1. 1572 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172; Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 172.

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 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

Pierre Driart berichtet weiter von drei Prozessionen, die jeweils an verschiedenen Tagen von verschiedenen Akteuren durchgeführt werden. Der erste Umgang findet demnach am 22. Oktober statt. Der Zug setzt sich aus den Mitgliedern des Parlaments sowie des Rats der Stadt Paris zusammen, die zur Kathedrale Notre-Dame ziehen. Das genaue Itinerar oder mitgeführte Artefakte werden nicht genannt. Die Teilnehmer bemühen sich laut Driart um Wiedergutmachung für die Vorfälle. Tags darauf unternimmt die Universität unter der gleichen Prämisse eine Prozession zur Abtei Saint-Martin-des-Champs im Norden der Stadt. Ein wichtiger Knotenpunkt der sakralen Infrastruktur wird also in die Reparationsbemühungen mit einbezogen.1573 Am 25. Oktober schließlich findet laut Driart eine größere Prozession statt, die er folgendermaßen beschreibt: „Et le dimenche ensuivant, xxve dudict moys, fut commandé par toutes les eglises de Paris faire service entier et procession tout ainsy que le jour du Sainct Sacrement, laquelle chose fut faicte en grand devocion du peuple crestien et detestacion des heretiques.“1574 Genau eine Woche nach dem Auftauchen der Plakate soll deren Inhalt in Ritualen, welche die gesamte Stadt zeitgleich einbindet, bekräftigt werden. Dafür werden die Pfarreien mobilisiert, die das Hochamt feiern sollen wie an Fronleichnam, und darüber hinaus die an diesem Tag traditionellen Corpus-Christi-Prozessionen durchführen sollen. Ein Sonntag mitten im Oktober wird also zu einem neuen Fronleichnamsfest gemacht. Somit wird im Oktober 1534 auf Bekanntes und Eingeübtes zurückgegriffen, dieses aber gleichzeitig in einer anderen Jahreszeit und mit einer klar kontroversen Aussage eingesetzt. Bei der Antwort auf die Manifestierungen der Häresie wird zudem besonders auf die „untere“ Ebene der Kirchenstruktur gebaut: Die Pfarreien sollen das zeitlich und bedeutungsmäßig aktualisierte Ritual durchführen und kommen dem laut Driart als gute Christen geflissentlich nach. Dabei wird nicht zuletzt der distinktive Charakter dieser Prozessionen deutlich, die zeitgleich in ganz Paris stattfinden und somit die Stadt in eine kollektive, aber diesmal kontrollierte Unruhe mit antiketzerischer Stoßrichtung versetzen. Denn die Prozessionen seien als christliche Praxis mit Hass auf die Häretiker vollzogen worden.1575 Die Quelle des unbekannten Pariser Chronisten äußert sich hinsichtlich der Rituale ähnlich, nennt allerdings den 29. Oktober sowie den 1. November als Datum zweier Prozessionen, deren Teilnehmer und Itinerar hingegen nicht aufgeführt werden. Bei diesen Umgängen sei das Sakrament mitgetragen worden und die Straßen seien geschmückt gewesen. Dieses Schauspiel habe sich identisch nochmals wiederholt bei Prozessionen am 5. und 8. November.1576

1573 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172. 1574 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172. 1575 Für die Analyseelemente vgl. Chiffoleau, Processions parisiennes (wie Anm. 1436), S. 53–61. 1576 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 172.

3.2 Paris 

 505

Während die corpora der Stadt Paris im Oktober noch separat marschieren, werden sie in einer monumentalen Prozession am 21. Januar 1535 zusammengefasst. Sowohl Pierre Driart als auch der bourgeois inconnu berichten detailliert über diesen Tag.1577 In beiden Zeugnissen werden die Größe der Prozession und die Teilnehmermassen indirekt dadurch deutlich, dass die Angaben zum Itinerar und den Stationen sowie der Prozessionsordnung noch sporadischer und unvollständiger sind als sonst in den Selbstzeugnissen. Pierre Driart streicht dies explizit heraus, indem er betont, er könne die Ordnung und Devotion des Umgangs unmöglich genau wiedergeben. Wer nimmt an der Prozession teil und wie ist sie geordnet? Der Pariser Bischof Jean du Bellay trägt das Sakrament und wird dabei begleitet von mehreren Kardinälen, Erzbischöfen und Bischöfen, die Driart nicht näher benennt. Durch die Massierung der klerikalen Elite des Königreichs rund um die Hostie wird deren Bedeutung und sakrale Stellung deutlich hervorgehoben und der Blick auf sie gelenkt. Direkt dahinter folgt König Franz I., unbedeckten Hauptes als Zeichen der Buße und mit einer grünen Wachskerze. Der Baldachin über dem Sakrament wird laut Driart getragen vom damaligen Dauphin, dem Kronprinzen Franz, dessen Bruder und späteren König Heinrich II., damals noch Herzog von Orléans, sowie dem dritten Sohn des Königs, Karl, Herzog von Angoulême. Der vierte Pfosten des Baldachins wird getragen von einem Kind des Herzogs von Vendôme, Charles de Bourbon. Die Quelle des unbekannten Bürgers bestätigt diese Konfiguration bezüglich der Personen und deren Praktiken. Die Partizipation der Kinder der Königsfamilie und der Thronfolgerlinie der Bourbonen verdeutlicht nicht nur die Zentralität des Sakraments und die Anhänglichkeit der Monarchie an dieses, sondern auch die Kontinuität dieser Haltung über die Generationen hinweg. Die Ewigkeit und Wahrheit der Eucharistie und deren Lehre wird parallelisiert mit der kontinuierlichen und zeitlich nie unterbrochenen monarchischen Institution. Beteiligt sind laut Driart ferner Mitglieder des Parlaments als Reliquienträger. Der unbekannte Chronist erwähnt natürlich auch die persönliche Teilnahme des Königs „avec toute la noblesse.“ Zudem partizipieren die Königin und ihre Hofdamen. Es folgt eine Aufzählung, die zumindest in Grundzügen die Prozessionsordnung wiedergeben dürfte. Der bourgeois inconnu notiert, dass die Pfarreien eine Prozession unternehmen. Sie tragen ihre Kreuze und Fahnen mit sich. Weiterhin zählt er auf: die Kanoniker (der Kathedrale Notre-Dame?), den Klerus der Sainte-Chapelle, den Abt und die Mönche der Abtei Sainte-Geneviève, barfuß als Zeichen der Buße, sowie die Mönche von Saint-Germain-des-Prés und Saint-Martin-des-Champs sowie den Abt und die Mönche von Saint-Magloire. Im Zentrum der Prozession steht die Hostie. Sie ist das wichtigste sakrale Artefakt des Umgangs, umringt und somit symbolisch beschützt von den höchsten weltlichen

1577 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 175 f.; Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 349), S. 172 f.

506 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

und geistlichen Würdenträgern Frankreichs. Auf dem Weg durch die Straßen der Hauptstadt soll die Autorität und Effizienz des Sakraments, die durch die Flugblätter angegriffen und möglicherweise in Zweifel gezogen wurden, neu befestigt werden. Das Ritual und dessen Gegenstände stehen nicht nur für, sondern nun auch gegen eine Sakramentskultur, deren altgläubige Variante distinktiv wird und in Verbindung mit dem diversifizierten Kontext präzisiert und neu definiert werden muss. Diese distinktive Neupositionierung, auf altgläubiger Seite aufgefasst als Affirmation eines unveränderten und unveränderlichen Sinngehalts, stellt dennoch einen Übergang dar und muss mit der Präsenz des Königs, der Königsfamilie sowie geistlicher und weltlicher Autoritäten unterstützt werden. Diesem Zweck dient auch die Mitführung zahlreicher Reliquien der Hauptstadt. Dies hat sich in Paris durchaus bewährt. Jacques Chiffoleau machte darauf schon in seiner Analyse der Prozessionen des Jahres 1412 aufmerksam, deren Ergebnisse in einigen Aspekten auch auf die Verwendung der Heiltümer im Januar 1535 zutreffen. Deren Präsenz bei den Umzügen sollte die Stadt heiligen und schützen, wenngleich dies 1412 zeitlich ausgedehnter und flächendeckender geschah als nach der Plakataffäre. Doch in beiden Jahren schaffen die Umgänge keine erkennbaren geometrischen Figuren, sondern oszillieren vielmehr, etwa von einem Ufer der Seine zum anderen. Die Prozessionen finden nicht entlang der Stadtmauer statt, sondern innerhalb der Stadt und insbesondere in deren topographischen und sakralen Zentrum, was gegen einen inneren Feind sinnvoll erscheint – eine Beobachtung, die auf ausnahmslos alle Anti-Ketzer-Prozessionen aus Paris und Rouen während der 1520er- und 1530er-Jahre zutrifft.1578 Im Januar 1535 bezeugt der bourgeois inconnu, dass die Kanoniker (von NotreDame?) sogar bisher nie zu Prozessionen mitgeführte Reliquien durch die Straßen der Hauptstadt tragen. Wir haben es also mit einer veritablen sakralen und rituellen Innovation zu tun, mit der die altgläubigen Autoritäten aktiv auf die Sakramentarier reagieren. So werden das Haupt des Hl. Philipp und das Bild des Hl. Sebastian (in dem sich laut Pierre Driart Reliquien des Heiligen befinden), der Schrein des Hl. Marcel und eine große silberne Marienfigur getragen. Ob es sich bei letzterer um die 1528 nach einem Ikonoklasmus als Ersatz angeschaffte Statue aus der rue des Juifs handelt, kann nicht belegt werden. Dies würde sich indes in eine übergreifende Logik der Auseinandersetzung mit den „Ketzern“ einschreiben, für die alle angemessen erscheinenden Artefakte verwendet werden – und zumal ein so populäres und rasch in den Ruch der Wundertätigkeit gelangtes wie die enthauptete Marienfigur von 1528.1579 Eine materiale Innovation wird somit in den nun ebenfalls distinktiven Themenkreis der Eucharistie hineingezogen und verbindet die Chronologie der religiösen Unterscheidungsschwerpunkte jener Jahre: Maria und die Transsubstantiation.

1578 Chiffoleau, Processions parisiennes (wie Anm. 1436), S. 62 f. 1579 Vgl. zu dieser Kap. II. 4.2.3.

3.2 Paris 

 507

Weiterhin berichtet der unbekannte Pariser, dass der Klerus der Sainte-Chapelle die Kreuzesreliquie und das Haupt des heiliggesprochenen mittelalterlichen Königs Ludwig IX. trägt. Laut dem Chronisten Pierre Driart bringt der Klerus der Sainte-Chapelle zudem die Dornenkrone Jesu und einen Nagel der Kreuzigung mit. Die Reliquien der Sainte-Chapelle werden von drei Baldachinen überdacht, welche die Parlamentsmitglieder tragen. Die Pariser Goldschmiede tragen dem Anonymus zufolge die Reliquie der heiligen Genoveva. Nicht näher spezifizierte Reliquien bringen die Mönche von Saint-Germain-des-Prés und Saint-Martin-des-Champs mit. Bei den ersteren handelt es sich Driart zufolge um Überreste des heiligen Germanus von Paris. Das Itinerar zu rekonstruieren ist auch in diesem Fall schwierig, da es sich um keine offiziellen Quellen mit einer Gesamtübersicht wie in Rouen handelt. Driart und der unbekannte Bürger beschreiben insbesondere einzelne Streckenabschnitte, die sie vielleicht selbst gesehen haben oder die von zentraler Bedeutung für den Umzug sind. Wie es scheint, handelt es sich  – zumal wegen der Masse und Diversität der Beteiligten – nicht um eine zeitgleich stattfindende und alle Protagonisten in einer Reihe umfassende Prozession. Diese verläuft vielmehr in verschiedenen Abschnitten in teilweise divergierenden Zusammensetzungen. Der Augustiner Pierre Driart beschreibt, dass die Reliquien der Sainte-Chapelle in die Kirche Saint-Germainl’Auxerrois gebracht werden. Die Genoveva-Reliquie wird von ihrem aktuellen Aufbewahrungsort, also der Abtei Sainte-Geneviève, zur Kathedrale Notre-Dame verfrachtet und von dort aus bis Saint-Germain-l’Auxerrois; ebenso die Marcel-Reliquie. Die Überreste von Philippe und das Sebastiansbild kommen von Notre-Dame nach SaintGermain-l’Auxerrois, wohin auch die Reliquie des Germanus transportiert wird. Der Prozessionsteil mit dem Sakrament, dem Bischof von Paris und dem König steuert demnach Notre-Dame an. Dort findet für das Sakrament ein Hochamt statt, bei dem neben dem König die Königin, der Adel und der hohe Klerus, das Parlament und viele „gens de bien“ anwesend sind. Der unbekannte Pariser Bürger spricht davon, dass alle Pfarreien nach Notre-Dame gehen, ebenso wie – nach dem Umgang – die Kanoniker der Kathedrale. Alle Reliquien, schreibt er weiter, kommen zur Kirche SaintGermain-l’Auxerrois, wo sich auch der König befindet. Danach gehen alle zurück zu Notre-Dame. *** Wie lassen sich die zahlreichen Prozessionen in Paris und Rouen in den allgemeineren Zusammenhang der frühreformatorischen Religionsgeschichte Frankreichs einordnen? Bisher fehlt insbesondere für Paris eine kohärente und detaillierte Analyse dieser bemerkenswerten Aktivitäten. David Nicholls sieht in seinem Artikel über die vortridentinische Kirche in Rouen diese Prozessionen nur als „occasional attacks on heresy through the affirmation of tradition“. Drei Ziele hätten sie verfolgt: Stärkung der traditionellen Macht der Kirche, die Mobilisierung aller Gesellschaftsschichten gegen die Häresie sowie die Entdeckung von Ketzern, die an den Prozessionen nicht

508 

 3 Prozessionen: Eine französische Distinktion

teilnehmen. Tatsächlich hätten die Prozessionen aber v. a. versucht, die Frömmigkeit des Volks zu befördern und Gott damit gnädig zu stimmen. Es habe sich um keinen direkten Angriff auf die Ketzerei gehandelt. Deshalb seien Prozessionen, die zudem im Vergleich zu späteren Jahren rar sind, eine ineffiziente Methode der Auseinandersetzung mit den Evangelischen gewesen.1580 Die vergleichende Perspektive sowie die ausgiebige Analyse der Umgänge legen eine Revidierung dieses Urteils nahe, das sich aus einem chronologischen Vergleich mit der Zeit der Religionskriege und der Herrschaft der Katholischen Liga in Paris heraus durchaus fällen lässt, aber dennoch anachronistisch ist. Vielmehr legt der Vergleich mit den drei deutschen Fallstudien nahe, dass die Prozessionen in Frankreich in jenen frühen Jahren der Reformation ein außergewöhnliches, durchaus effizientes, Distinktionen herauskristallisierendes und Innovationen hervorbringendes Ritual darstellen. Bekannte Formen der spätmittelalterlichen Prozessionen werden in einen neuen Bedeutungszusammenhang gesetzt und durch neue materiale oder rituelle Versatzstücke angereichert. Der Raum wird auf vielfältige Arten besetzt, geschützt und von den Häresien gereinigt, wie die Analyse der Itinerare nahelegt. Darüber hinaus erweisen sich die Prozessionen als präzise einsetzbares und eindrückliches Phänomen, mit dem flexibel auf vorhergehende Ereignisse wie Ikonoklasmen oder Flugblätter reagiert werden kann. Die Vielfalt der Teilnehmer, der mitgeführten Artefakte, Bilder und Reliquien ermöglichen wechselnde Aussagen und symbolische Stoßrichtungen der Umgänge. Laien erweisen sich als nicht nur passive Zuschauer, sondern ergreifen selbst die Initiative zu spontanen Prozessionen, die die Obrigkeiten nur mühsam wieder unter ihre Kontrolle bringen. Sie werden zusätzlich durch Predigten zum Gebet gegen die Ketzerei und zur Distanzierung von dieser im praktischen Leben, etwa hinsichtlich der Lektüre, angehalten. Ziel war die Reparation und Affirmation bestimmter religiöser Inhalte, Praktiken oder Artefakte und die Einschreibung dieser Inhalte in die städtische Topgraphie. Dadurch werden variable Sakralisierungen des Raums vorgenommen, sei es durch geschlossene Umzüge, die Schutzkreise im Stadtzentrum bilden, oder zielgerichtete Solidaritäten zwischen geistlichen Institutionen. Damit machen die Prozessionen zudem die Unterschiede des dargestellten, bekräftigten und auf innovative Art inszenierten Eigenen zu den „ketzerischen“ Anderen deutlich. Denn das, was derart bekräftigt und einem kontroversen Zusammenhang neu im sozialen Feld positioniert wird, wurde von den Evangelischen abgelehnt, zerstört, angegriffen oder schlichtweg unterlassen. Gerade die Herausstellung dieser Inhalte vermittels der Prozessionen lässt diese zu einem effizienten und mobilisierenden Kristallisationsmoment der altgläubigen Unterschiede werden, deren Kraft und Wirkmächtigkeit in Frankreich allgemein für die Zeit vor den Religionskriegen auch Judith Pollmann im Unterschied zu den Niederlanden unter-

1580 Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 195.

3.2 Paris 

 509

strichen hat.1581 Ein altes Ritual, das laut Jacques Chiffoleau im Spätmittelalter einen Teil seiner religiösen Bedeutung verloren hatte und gerade deshalb 1412 massenhaft, aber eher formell-ästhetisch wiederholt wurde,1582 erhält nun einen neuen, kontrovers-identitären Sinn. Die Teilnehmer sind nicht mehr nur Beobachter der eigenen Gesten, sondern diese bekommen eine neue Bedeutung.

1581 Pollmann, Countering the Reformation (wie Anm. 753), S. 118. 1582 Chiffoleau, Processions parisiennes (wie Anm. 1436), S. 71–76.

4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen 4.1 Eine Praktik und ihre Geschichte Die deutsche Historiographie hat mit ihrer Forschungstradition der Fürsten- und Stadtreformation und dem Konfessionalisierungsparadigma ein ungleichgewichtetes Bild geschaffen, das in dieser Arbeit immer wieder diskutiert worden ist. Gerade in der frühen Reformationszeit werden von dieser Historiographie explizite Identitäten und bewusst distinktive Handlungsmuster zwar der evangelischen Seite zugeschrieben, aber kaum den sowieso nur schemenhaft-theologisch untersuchten Altgläubigen. Umgekehrt sind protestantische Devianzen und Haltungsäußerungen in altgläubigen Territorien klar als solche herausgearbeitet und in der Forschungstradition verankert worden, etwa als „gescheiterte Reformation“. Doch was ist mit Altgläubigen in protestantischen Territorien und Städten? Dafür, wie sich diese zu verhalten haben, weiß auch die Flugschriftenliteratur meist keinen Rat. Offener Widerstand des gemeinen Mannes? Anpassung und Verschleierung der eigenen Überzeugungen, wodurch das Seelenheil in Gefahr gerät? Bereits in Bezug auf postreformatorische Marien- und Heiligenkulte in evangelischen Gebieten wurde das tatsächliche Verhalten der Altgläubigen im Ulmer Landgebiet untersucht, wo die Laien eine große Flexibiliät und Anpassungsfähigkeit an den Tag legen. Sie ersetzen zerstörte religiöse Artefakte, nehmen diese mit zu sich oder beten sakrale Provisorien an.1583 Analog dazu kommt es zu einem der komplexesten und interessantesten Phänomene der Reformationszeit: dem „Auslaufen“. Dahinter verbirgt sich die Praxis, dass bestimmte Gruppen oder Personen ihre Stadt oder ihr Herrschaftsgebiet verlassen, um woanders – in einem benachbarten Ort, einer benachbarten Herrschaft oder Kirche – ein religiöses Ritual durchzuführen, das ihnen zuhause wegen der religionspolitischen Haltung des Pfarrers, des Vogts, des Rats oder der Obrigkeit verwehrt bleibt. Das Auslaufen berührt und verbindet auf einzigartige Weise die historischen Themenfelder der Rituale, der Grenzen und der konfessionellen Zugehörigkeitsbildung. Allerdings gilt das Phänomen bisher meist als eine protestantische Praktik. Dabei ist das altgläubige Auslaufen zwar nicht gänzlich unbekannt, ermangelt jedoch einer zusammenhängenden Analyse. Bereits Ernst Walter Zeeden hat in seinem programmatischen Aufsatz zur Konfessionsbildung aus dem Jahr 1958 darauf hingewiesen, dass einige Gläubige nach Einführung der Reformation in andere Territorien zur

1583 Vgl. Kap. II. 4.1, 4.2.1 und Kap. III. 2.3. DOI 10.1515/9783110492460-018



4.1 Eine Praktik und ihre Geschichte 

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„katholischen“ Messe auslaufen.1584 Besonders in landes- und stadtgeschichtlichen Studien wird immer wieder auf das Phänomen hingewiesen, ohne es einer spezifischeren Untersuchung zu unterziehen. Zumindest James Blakeley hat in einem 2008 erschienen Aufsatz das Auslaufen aus dem 1536 von Bern besetzten und reformierten Waadtland behandelt. Blakeley zeigte, dass altgläubige Traditionen auf dem Land von größeren Gruppen beibehalten oder bei Nachbarn durchgeführt werden, mit denen sie dadurch ein soziales und konfessionelles Netzwerk schaffen. Begünstigt wurde das Auslaufen dadurch, dass das Waadtland von altgläubigen Gebieten umgeben ist, die den Dorfbewohnern viele Ausweichmöglichkeiten bieten.1585 Als nahezu ideale Fallstudie für eine systematische Untersuchung des Auslaufens bietet sich die Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet an. Spätestens mit der Einsetzung des evangelischen Ratspredigers Konrad Sam im Jahr 1524 zeigt sich die Entstehung einer breiten zwinglischen Bewegung in der Ulmer Bürgerschaft und in einigen Gemeinden des Territoriums. Diese Bewegung wächst bis zur Abstimmung über das kaiserliche Edikt nach dem Augsburger Reichstag im November 1530 zu einer breiten Mehrheit in der Bürgerschaft und der Ratsoligarchie heran. Mit der Einführung der Reformation im Verlauf des Jahres 1531 verschwinden altgläubige Praktiken und Überzeugungen jedoch nicht gänzlich, sondern sie äußern sich mitunter nur anders. Das Auslaufen ist die vielleicht wichtigste und Aufsehen erregendste Artikulationsform altgläubiger Kultur. Sie zeugt von der Präsenz und dem Aktivismus einer sichtbaren und selbstbewussten religiösen Minderheit in der schwäbischen Reichsstadt. Die in Frage stehende Praxis findet sowohl in Ulm als auch im Landterritorium statt und ist in den Quellen für die gesamten 1530er-Jahre belegbar. Schon im Reformationsjahr gibt es entsprechende Berichte und Interventionen der städtischen Religionsverordneten sowie des Magistrats. Verwunderlich ist dies nicht: Bei der Abstimmung über den Reichsabschied von 1530 votieren immerhin 243 Zunftmitglieder und Ratsfamilien (13 %) für die Annahme des antilutherischen Abschieds.1586 Diese Gruppe kann wenige Monate später für ihren Glauben elementare Rituale wie die Messe, Heiligenfeiertage, Prozessionen, die Beichte oder die traditionellen Sterbepraktiken nicht mehr durchführen oder diesen legal beiwohnen. Doch um das Ulmer Landgebiet herum befinden sich viele Städte, Pfarreien und Territorien, in denen nach wie vor die Messe gelesen, der Exorzismus bei der Taufe durchgeführt oder Palmbuschen geweiht werden. Selbst innerhalb des Landgebiets gibt es noch für einige Jahre altgläubige „Inseln“, darunter Enklaven, Klöster und vor allem Pfarreien

1584 Zeeden, Ernst Walter: Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe. In: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Hrsg. von Ernst Walter Zeeden. Stuttgart 1985 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 15). S. 67–112, hier S. 95. 1585 Blakeley, Confronting the Reformation (wie Anm. 1248). 1586 Endriss, Abstimmung 1530 (wie Anm. 176), S. 44.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

mit auswärtigen Patronatsherren. Die Altgläubigen verlegen sich ab 1531 in großer Zahl auf das Auslaufen in diese Orte. Dem Ulmer Rat, dessen Vögten und Pflegern im Landgebiet sowie den Wachen am Tor der Reichsstadt bleibt der Auszug einer großen Zahl von Gläubigen zu bestimmten Tagen nicht verborgen. Der Magistrat reagiert darauf mit gesetzgeberischen Mitteln. Das erste Auslaufen ist für den 30. Juli 1531 dokumentiert – schon am 23. August erlässt der Magistrat ein explizites Verbot, das sich gegen die altgläubige Devianz richtet.1587 Die Verordnung ist an die Zunftmeister gerichtet, die dann das Verbot unter ihren Zunftmitgliedern verbreiten und es diesen einschärfen sollen. Der Rat verweist auf das Verbot der päpstlichen Zeremonien, an deren Stelle christliche Rituale getreten seien. Daran halten sich aber nicht alle Bürger und Untertanen: Gelanng aber ain ersamen ratt daruber an, das ettlich denselben abgestöllten vermainten cerimonien fur und fur gen Söfflingen, Wublingen und anndere ort täglich nachvolgen. Dess trag ain ersamer ratt unnd darumben beschwerd, das bey den frembden allerlay reden und die daruß entsteen, das durch dieselben vermeldt werden mag, das man zu Ulm selbst der sachen spalltig und unains sey. Was das mit der zeit bringen und gebern, das hab sich ain jeder selbst zuerinndern. Wie woll nun ain ersamer ratt mit nichten genaigt, niemants zum glawben zu dringen, doch dann allerlay widerigs, so uß diser handlunng vollgen unnd entsteen mög, zu fur hueten, so sey ains erbern ratts vetterlich freuntlich bitten, ersuchen, ermanen und begern, ain jeder sein burger, unnderthan und derselben weib und kinder, wöllten sich zu gefallen ains erbern ratts, obermellts kirchlichen hinaußraissens muessigen unnd enthallten.1588

Der Rat begründet sein Verbot des Auslaufens zu den untersagten Zeremonien also nicht nur mit der Sorge um das Seelenheil seiner Untertanen, sondern auch mit der Sorge um die Wahrnehmung der Reformation und der Haltung der Ulmer Bürgerschaft zu dieser bei den altgläubigen Territorialnachbarn. Deshalb sollen sich alle Bürger und Untertanen sowie deren Frauen und Kinder des „kirchlichen Hinausreisens“ enthalten. Ab diesem Zeitpunkt ist also klar, dass nicht nur viele altgläubige Rituale in Ulm, sondern auch deren Aufsuchen jenseits des Territoriums verboten sind. Der an sich schon distinktive Akt des Auslaufens wird damit von nochmals größerer Relevanz. Doch die Ermahnungen bleiben oft genug bloßer Buchstabe. Wie in der Folge gezeigt wird, finden 1532 und 1535 große Auslaufbewegungen aus Ulm statt. Aus dem Landgebiet wird in allen Visitationen und Synoden der 1530er-Jahre von entsprechenden Devianzen berichtet. Deshalb sieht sich der Rat 1537 veranlasst, erneut ein Mandat zu erlassen, in dem er seinen Bürgern und Untertanen den Besuch von Messen und anderen „papistischen“ Praktiken außerhalb des Territoriums strengs-

1587 StAU, A [8985], Bl. 84r–v. 1588 StAU, A [8985], Bl. 84r–v.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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tens untersagt. Als Strafe für die Übertretung des Mandats legt der Magistrat einen Gulden fest.1589 Die Überwachung der Verbote fällt in der Reichsstadt selbst deutlich leichter als im Landgebiet, wo die Stadtoberen auf die Kooperation der Pfarrer, Vögte und Gemeindemitglieder angewiesen sind. Dies schlägt sich auch im Quellenaufkommen nieder, das in der Folge eine analytische Trennung der Stadt und des Territoriums nahelegt. Das altgläubige Auslaufen aus Ulm lässt sich in Justizdokumenten des Magistrats sowie in Verhörprotokollen der überführten Gläubigen untersuchen. Für das Landgebiet stehen neben der wichtigen Quelle der Visitations- und Synodalprotokolle Korrespondenzen des Magistrats mit den örtlichen Amtleuten sowie deren Berichte zur Verfügung.

4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 4.2.1 Die Anfänge Das erste Auslaufen zweier Ulmer ist für Sonntag, den 30. Juli 1531, nachweisbar. Der Zeitpunkt dafür ist heikel, denn am 16. Juli fand im Ulmer Münster die erste zwinglische Abendmahlsfeier statt.1590 Dies sorgt, wie der gesamte Prozess der kirchlichen Neuordnung, unter der Bevölkerung in der Reichsstadt, sicherlich für Gesprächsstoff und führt zu Auseinandersetzungen. Denn nicht alle sind mit dem Verbot der Messe und der alternativlosen Einführung des evangelischen Gottesdienstes und der dahinterstehenden Wissensordnung – Ablehnung der Realpräsenz und der Hostienfrömmigkeit sowie Wegfall der zahlreichen „Früchte“ der Messe – einverstanden. Darunter sind auch Peter Maier und Utz Karrenmann. Die beiden müssen sich vor den Religionsverordneten für ihr Auslaufen zum Kloster Söflingen vor den Stadttoren Ulms rechtfertigen. Maier beschreibt das Geschehene folgendermaßen: Nechstverschinens Sonntags wer er unnd Utz Karrenman morgens uff dem newen baw gestanden und vil volck sehen gen Seflingen geen. Deshalb sy auch verursacht, mit ainander hinauß zu wandern und predig zu horen. Damalen sagt der prediger schier uff die wiß: Die cristenlich kirch soll eins sein, wie wir ains sein. Sy send nit ains (ich waiß nit wie ichs haissen soll). Das sichstu selbs wol, man hatt jetz ain nachtmal oder aubent essen (ich waiß nit wie ichs haissen soll) auffgericht, und die hintzu geen sein nit ainer mainung, sondern sind sy wol viererlay sect. Sy wissen selb nit all, warfur sy es hallten oder was sy glauben. Es wiert noch dartzu komen, wann man ainem ubell fluchen will, wo wiert man sagen: Das dich der Statt (ich nenn aber niemant) plag angang.1591

1589 Mandat zum Verbot des Messbesuchs außerhalb von Ulm, in: Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie Anm. 182), S. 191. 1590 Seebass/Wolgast, Kirchenordnungen (wie anm. 182), S. 67. 1591 StAU, A [8984/I], Bl. 68r.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

Der zweite Verdächtige, Karrenmann, stimmt diesen Schilderungen vorbehaltlos zu. Sie werfen ein Licht auf die Vorgänge in Söflingen, die die beiden Ulmer zum Auslaufen bewogen haben, sowie auf die Begründung des ersten Ratserlasses gegen die Ausläufer. Maier und Karrenmann schließen sich der Menge an, die sie vom Neuen Bau, einer Lagerstelle, aus betrachten. Sie seien also nicht der Urheber der Devianz gewesen, sondern nur Mitläufer. Hinter dieser Aussage könnte sich auch eine geschickte Argumentation verbergen, denn als Teil einer größeren Bewegung können Maier und Karrenmann persönlich, zumal als einfache Bürger, schwer haftbar gemacht werden. In Söflingen hören sie einen dezidiert altgläubigen Prediger, der gegen die neue Ulmer Eucharistiefeier schimpft und die angebliche inneren Spaltungen der Reichsstadt, wohl v. a. unter den Evangelischen, anprangert. Mit diesen „Reden“ wird der Rat in der folgenden Anordnung an die Zunftmeister sein Verbot begründen. Aber warum zieht die Gruppe ausgerechnet nach Söflingen? Warum kann dort, vor den Toren Ulms, ein antiprotestantischer Prediger auftreten? Das Klarissenkloster St. Klara ist seit dem 13.  Jahrhundert in Söflingen angesiedelt und genießt weitgehende Selbstständigkeit. Seit seiner Gründung stand der Konvent unter päpstlichem Schutz. Der Papst ernannte nach und nach weitere Schutzherren über das Kloster: Auf geistlicher Seite wird im 14. Jahrhundert der Bischof von Konstanz Protektor, und auf weltlicher Seite, für den Status der Schwestern besonders wichtig, der Kaiser. Dieser verbrieft den Status der Vogtfreiheit. Zugleich wird Ulm zum direkten Schutz- und Schirmherren des Konvents ernannt, ohne jedoch einen Vogt installieren zu dürfen und Söflingen somit in das entstehende Ulmer Territorium integrieren zu können. Letzte Klarheit über die herrschaftliche Stellung des Konvents, der eine Reihe von Besitzungen auf sich vereint und somit selbst zu einer Mikro-Herrschaft wird, ist damit jedoch nicht gegeben. Die Besitzungen des Konvents erstrecken sich über einige Gemeinden des näheren Umlands und in fernere Gegenden, bis nach Tübingen und in die Diözese Augsburg. Erst nach einem Prozess zwischen 1768 und 1773 sollte das Kloster die Reichsunmittelbarkeit förmlich erlangen. Der altgläubige Konvent steht in der Reformationszeit unter ständigem Druck aus Ulm. Der Rat versucht auch in dem Klosterdorf die Reformation durchzusetzen. Besonders die Fortdauer der Messfeier und des Heilgenkults sowie anderer Feiertage sind der reichsstädtischen Obrigkeit ein Dorn im Auge. Deswegen versucht sie das Kloster anzuweisen, während der Gottesdienste die Kirchentür zu verschließen. Immer wieder werden evangelische Prädikanten in das Dorf geschickt. 1543 hält dort der Ratsprädikant Martin Frecht eine Predigt. Einige Bewohner Söflingens bitten den Ulmer Magistrat schließlich in einer Supplik um die Einführung der Reformation in ihrem Ort, eine Bitte, der die Stadtoberen gerne nachkommen und die Abschaffung der Messe, der „papistischen“ Zeremonien und der „Missbräuche“ dekretieren. Doch auch damit scheitert der Rat am Widerstand der altgläubigen Klostergemeinschaft, allen voran der Äbtissin Cordula von Reischach (1508/13–1551). 1544 schließlich verbietet der Kaiser den Ulmern die Verbreitung der evangelischen Lehre in Söflingen sowie in Kirchen, die unter dem Patronat der Klarissen stehen. Seelsorgerisch betreut werden die Schwestern von Franziskanern, die



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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ständig in Söflingen präsent sind. Daher liegt es nahe, dass der antiprotestantische Prediger 1531 ein Franziskaner ist.1592 So ergibt sich ein komplexes territoriales und religiöses Bild. Als in Ulm die Messe sowie die altgläubige Predigt verboten werden, ist beides in Söflingen noch erlaubt und sogar die Norm. Da Söflingen als de-facto-Enklave vor den Toren Ulms liegt, kann der Rat religionspolitisch nicht wirksam eingreifen. Für die Altgläubigen der Reichsstadt wird Söflingen während der gesamten 1530er-Jahre und darüber hinaus die wichtigste Anlaufstelle bleiben, um alte Rituale durchzuführen. Doch die Kategorisierung als „alt“ speist sich eher aus der Selbstwahrnehmung der Ausläufer und dem Bild, das sich die Gläubigen von den verbotenen Praktiken machen. Deren Bedeutung und kulturelle Aussagekraft haben sich in der Reformationszeit stark gewandelt. Zwar findet bei den Klarissen „die“ alte Messe oder „die“ antilutherische Predigt statt. Doch vor allem die Rituale sind mit dieser zeitlichen Kategorisierung nur unzulänglich beschrieben. Die konkrete Messpraxis, die Zelebranten sowie die vorhandenen liturgischen Artefakte unterscheiden sich seit jeher von Kirche zu Kirche. Hier liegt im konkreten Praxismoment rituell und material viel „Neues“ vor, das zudem an einem anderen Ort stattfindet, der nur unter prekären Bedingungen, nach einem längeren Weg und wohl auch nicht regelmäßig erreicht werden kann. Dies gilt für alle Praktiken, die Ziel des Auslaufens aus dem Ulmer Territorium sind. Somit ergibt sich eine neue Komposition aus alter Bedeutung und grundsätzlicher Ähnlichkeit etwa der Messliturgie oder der Taufe, die jedoch an anderen Orten stattfinden, andere Gegenständen implizieren und einen neuen, kontroversen Sinngehalt produzieren. Das ist umso bemerkenswerter, als dass nicht Kleriker, sondern Laien die maßgeblichen Akteure in diesem Prozess sind, der aus spätmittelalterlichen Christen Altgläubige macht.

4.2.2 Mariä Himmelfahrt 1532 1532 kommt es zum nächsten großen Auslaufen aus der Reichsstadt, und zwar am Fest Mariä Himmelfahrt. Die Mehrheit der Gläubigen zieht erneut zum Kloster Söflingen. Der Himmelfahrtstag ist das wichtigste und populärste Marienhochfest im liturgischen Kalender des Spätmittelalters. Gefeiert wird es am 15. August und ist vielfach mit der Kräuterweihe verbunden, die – ebenso wie der Feiertag an sich – in der zwinglischen Kulturnorm Ulms zu Beginn der 1530er-Jahre abgeschafft wurde.1593

1592 Frank, Karl Suso: Das Klarissenkloster Söflingen. Ein Beitrag zur franziskanischen Ordensgeschichte Süddeutschlands und zur Ulmer Kirchengeschichte. Stuttgart 1980 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 20). S. 39–117; Urban, Wolfgang: Klarissenkloster St. Klara Söflingen. In: Klöster in Baden-Württemberg. http://www.kloester-bw.de/kloster1.php?nr=603 (21.01.2015). 1593 Vgl. Maas-Ewerd, Theodor: Marienfeste. In: LThK 6. S. 1370–1374, hier S. 1371.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

Der Vorfall ist quellenmäßig außergewöhnlich gut dokumentiert. Der Rat hat Wärter am Tor benachrichtigt, wahrscheinlich nachdem der Auszug einer großen Menschenmenge ruchbar geworden ist, und lässt die Namen verdächtiger Rückkehrer notieren. Daraus ergeben sich Namenslisten. Die Verdächtigen werden vor die Religionsverordneten geladen und verhört – die Protokolle der Verhöre bilden ein einzigartiges Quellenkorpus, um besonders nah an die Stimmen der Altgläubigen heranzukommen. Zu beachten ist bei deren Auswertung allerdings, dass die Befragungen im Rahmen eines unausgeglichenen Machtgefüges und unter großem Druck auf die Befragten stattfinden. Das beeinflusst deren Aussagen, bei denen manchmal Ausflüchte von validen Entschuldigungen kaum zu unterscheiden sind. Umso erstaunlicher ist es, dass sich einige ohne Umschweife zu dem bekennen, was sie für den alten Glauben halten, und damit eine klare Position im Gegensatz zum Rat einnehmen. Wie viele Ulmer laufen an jenem Himmelfahrtsfest aus? Die Frage ist nur schwer zu beantworten. Zwei Listen mit Namen beziehen sich explizit auf dieses Ereignis, allerdings finden sich auf ihnen manche Namen zweimal. Eine dritte Liste ist nicht datiert, könnte sich aber auf die Geschehnisse von Mariä Himmelfahrt 1532 beziehen. Auf der ersten Liste sind insgesamt 31 Personen notiert, die am Glöcklertor auslaufen, darunter 26 (84 %) Frauen.1594 Eine zweite Liste zum selben Ereignis enthält 60 Personen, davon 53 Frauen (88 %).1595 Die dritte Liste, deren Verbindung mit den Ereignissen von 1532 fraglich ist, zählt fünf Personen auf, davon vier Frauen.1596 Der Großteil der Notierten wird zum Verhör vor die Religionsverordneten geladen. Die Protokolle ermöglichen eine nuancenreiche quantitative Analyse des Auslaufens sowie eine einzigartige qualitative Analyse der Motive der Verhörten für ihr Handeln sowie ihrer Zugehörigkeiten.1597 Dabei werden 41 Männer und Frauen einer Befragung unterzogen. Sieben Personen können glaubhaft versichern, gar nicht in Söflingen gewesen oder dort mit Religion nicht in Berührung gekommen zu sein. Die Frau von Klaus Frank etwa beteuert, sie sei an Mariä Himmelfahrt gar nicht aus dem Haus gekommen. Anna Biedermann versichert, nicht in Söflingen gewesen zu sein, sondern die Predigt in Ulm zu besuchen „wann ir darumb wird.“1598 Ihre Namen sind im Verhörprotokoll durchgestrichen. Somit verbleiben 34 Gläubige, die nachweislich in Söflingen waren, wenngleich ihre Erklärungen dafür recht unterschiedlich sind und Einblick geben in die Breite dessen, was zu einer zumindest von außen als kohärent wahrgenommenen Gruppe wird. Von diesen 34 Gläubigen ist erneut die große Mehrheit Frauen, nämlich 27 (79 %). Der Großteil der Gläubigen lief nach Söflingen aus. Fünf Gläubige waren in Lautern, einem Weiler direkt hinter der Territorialgrenze,

1594 StAU, A [8984/I], Bl. 65r. 1595 StAU, A [8984/I], Bl. 66r–v. 1596 StAU, A [8984/I], Bl. 67r. 1597 StAU, A [8984/I], Bl. 69r–74v. 1598 StAU, A [8984/I], Bl. 71r, 72r.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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etwa 10 Kilometer nordwestlich von der Reichsstadt. Lautern ist im Besitz des Abts von Blaubeuren. In diesem Weiler steht eine Marienkirche, die an Mariä Himmelfahrt Ziel einiger Frauen war.1599 Wie erklären sich die Vorgeladenen im Verhör? Welche Motive legen sie offen? In welche sozialen und kulturellen Dynamiken schreiben sie ihr Handeln ein? Auf der Basis der Protokolle lassen sich drei Untergruppen bilden: (1) Jene, die sich klar dazu bekennen, aus einem eindeutig altgläubigen Beweggrund heraus gehandelt zu haben und die diesen recht offensiv vertreten. (2) Jene, die ihre dezidiert altgläubige Zugehörigkeit bzw. Anhänglichkeit an bestimmte altgläubige Praktiken mehr oder weniger erfolgreich versuchen zu dissimulieren oder durch Erklärungen zu relativieren. Eine höchst interessante Teilgruppe bilden dabei jene, die zwar klar altgläubige und verbotene Praktiken durchführen, diese aber in keinen Kontroverskontext setzen. An diesen Laien lässt sich besonders eindrücklich der für die altgläubigen Gemeinschaftsbildungsprozesse dieser Jahre so grundlegende Prozess nachvollziehen, in dessen Verlauf aus einer „normalen“ Praktik eine „alte“, distinktive Praktik wird, aus der sich eine eigene Position im sozialen Feld ergibt. (3) Jene, die zwar in Söflingen waren, aber religiöse Gründe dafür klar von sich weisen bzw. abstreiten, an altgläubigen Ritualen teilgenommen zu haben. Die erste Kategorie ergibt sich aus Aussagen wie der von Gilg Röslin. Er gibt Folgendes zu Protokoll: „Das hab in verursacht, das er an die predigen alhie nit gang, sonder in seinem alten glauben vor hab zuverharen. Und da zu Söflingen den Gotts dienst such und Gott bitt und anrueff umb sein anligen. Dieweil dann der glaub frey, sey er in hoffnung, man wird im den frey lassen. Er wöll auch noch nit an die hieig predig gain, sonder wie obgemelt bey dem alten, wie es an in komen, bleiben.“1600 Röslin zeigt sich unbeeindruckt von den reichsstädtischen Verordneten und legt seine Zugehörigkeit klar offen. Er wendet sich gegen die Predigt – das zentrale Moment des protestantischen Gottesdienstes – und beharrt auf seinem alten Glauben. Dieser sei bis zu ihm überliefert worden. Damit zeigen sich argumentative Übereinstimmungen zwischen der Überzeugung dieses Ulmer Laien und der zeitlichen Selbstverortung u. a. in der altgläubigen Flugschriftenliteratur.1601 Röslin verortet sein Handeln in einer ungebrochenen zeitlichen Kontinuität. Doch um diese zu garantieren, bedarf es der Veränderung, d. h. des Auslaufens in eine andere Herrschaft und somit in eine de facto andere materiale und graduell auch rituell verschiedene Zelebrationskultur bei den Klarissen in Söflingen. Bemerkenswert ist zudem der Bezug auf die Freiheit des christlichen Glaubens, ein Argument, das klassischerweise in der frühen Reformationszeit eher auf protestantischer Seite vermutet wird. In Ulm bedient sich der

1599 Fink, Hubert u. Wortmann, Reinhard: Lautern im kleinen Lautertal und seine Kirche „Zu Unserer Lieben Frau“. Ulm 2010. 1600 StAU, A [8984/I], Bl. 69r. 1601 Vgl. Kap. I. 3.2.1.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

Laie, dessen Glauben und Praxis unter Strafe gestellt sind, dieses Arguments, das sich somit als konfessionell ungebunden und situativ von den verschiedenen Religionsgemeinschaften instrumentalisierbar erweist. Röslin versucht mit dem Hinweis auf die Freiheit des Glaubens, das weltliche Gesetz Ulms zu umgehen. Derart dezidierte Zugehörigkeitsäußerungen kommen jedoch nicht nur von Männern. Ähnlich unverblümt spricht die Magd von Veit Gegg: „Sagt sy sey in ainer gutten maynung und des glaubens, darynn sy zogen und geporn sey, verursacht, hinaus gangen. Und ainem rat nit zuwider.“1602 Die Magd gibt als Motiv explizit ihre Anhänglichkeit an das an, was sie als ihren alten Glauben ansieht, der ihr buchstäblich in die Wiege gelegt worden sei. Dass das Auslaufen eine Übertretung der Ratsanordnung vom Vorjahr darstellt, scheint ihr bewusst zu sein. Deshalb schwächt sie das konfrontative Potenzial des Auslaufens ab, anders als Gilg Röslin, und macht daraus eine Handlung für ihre religiöse Haltung, aber nicht gegen die Obrigkeit. Stärker wird der abgrenzende Charakter des eigenen Handelns von Apolonia Schnierlein herausgestellt. Sie sagt: „Es hab sy nichts verursacht [nach Söflingen zu laufen, M. M.], dann das sy Got und unser frawen zulob hinaus gangen sey. Und werd uff irem glauben bleiben, es gefall, wem es wölle. Sy sey Gott mer schuldig dann einem rat.“1603 An Deutlichkeit lässt diese Rechtfertigung des Auslaufens nichts zu wünschen übrig. Wie Gilg Röslin, so läuft auch diese Frau zum Gottesdienst und zusätzlich zur Marienverehrung in die Ortschaft des Klarissenkonvents. Damit bekennt sie sich zur Teilnahme an den Ritualen, die in Söflingen gängig, in Ulm aber verboten sind. Dieses Verbot scheint sie nicht zu kümmern. Noch deutlicher als Röslin setzt sie Gott und den Ulmer Rat in konträre Positionen, zwischen denen die Wahl freilich feststeht. Auch hier finden sich Übereinstimmungen mit der polemischen Literatur, welche die Gottesferne der reformatorischen Obrigkeiten anprangert und dieser den alten Glauben und den wahren Dienst an Gott gegenüberstellt. Ein wenig differenzierter, aber in der Sache ebenso unzweideutig äußert sich die Frau von Gilg Orgelmeister: „Ir gewissen und glaub, darynn sy geporn sey, hab sy hinaus triben. Acht, sy sey aim ersamen rat in allem dem, so sy im schuldig, gehorsam gewesen und gelaist. Sy acht aber, sy hab uber ir seel kain oberkeit und beger allain, ir iren glauben frey zulassen.“1604 Die Orgelmeisterin beruft sich ebenfalls auf ihr Gewissen und ihren Glauben. Dabei liegt ihr jedoch daran, als gehorsamer Untertan des Magistrats zu erscheinen. Dafür liefert sie eine sonst v. a. von lutherischer Seite, etwa aus der Zwei-Reiche-Lehre, bekannte Argumentation. In den Bereichen, in denen sie dem Rat Gehorsam schuldig sei, leiste sie diesen auch – also in weltlichen Angelegenheiten. Wenn es jedoch um das Seelenheil geht, weist die Orgelmeisterin die Befehlsgewalt des Rats und damit die reformatorischen Neuordnungen des Jahres

1602 StAU, A [8984/I], Bl. 72v. 1603 StAU, A [8984/I], Bl. 73r. 1604 StAU, A [8984/I], Bl. 73r, 74r.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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1531 zurück. Unter Berufung auf die Glaubensfreiheit und ihr Gewissen beharrt sie darauf, in diesen Belangen selbst entscheiden zu können und über ihrer Seele keine Obrigkeit zu haben. Dabei entscheidet sie sich für den Glauben, in dem sie geboren worden sei und den sie in einer ungebrochenen Überlieferungskontinuität sieht. Die Inhalte dieser angeblichen Überlieferung sind für sie zum Seelenheil nötig, weshalb sie das Alte an einem anderen Ort sucht. Die zweite Kategorie ergibt sich aus den Zeugnissen jener, die sich grundsätzlich zwar als ihrem Gewissen und ihrer präferierten Praktiken nach als altgläubig zu erkennen geben, die diese Haltung aber relativieren, ausweichen und sich distanzieren. Eine häufige Strategie der Gläubigen dieser großen Gruppe besteht darin, ihre Unkenntnis des Verbots hervorzuheben. Eine Frau etwa sagt aus, sie sei erst vor einigen Tagen aus Wien gekommen und habe deshalb nicht gewusst, dass das Auslaufen verboten ist. In Kenntnis dieses Verbots werde sie künftig aber nicht mehr nach Söflingen gehen. Eine weitere Frau verweist auf die strukturellen Schwächen der Verbotsankündigung. Sie sei Witwe und habe das Gebot deshalb von ihrem Zunftmeister nicht erfahren. So sei sie von ihrem Gewissen und dem Verlangen nach dem Seelenheil nach Söflingen getrieben worden.1605 Viele Laien berufen sich auf das Gerücht oder die Annahme, dass das Verbot wieder aufgehoben worden sei. In der Aussage der Kargenbaderin kommt dies besonders zum Vorschein. Sie habe von einem Zimmermann gehört, dass „Jörg Cräfftlin“, womöglich ein Angehöriger der Ulmer Patrizierfamilie der Krafft, gesagt habe, der Rat würde niemandem mehr den Gang zu den Klarissen verwehren. Zuvor sei sie nicht nach Söflingen gelaufen.1606 Genauso argumentiert Jakob Vogel. Er habe sich bisher immer an das Verbot gehalten, doch kürzlich habe ihm seine Frau gesagt, dass es nun niemandem mehr verwehrt sei, andernorts Gottesdienste zu besuchen. Deshalb ging er an Mariä Himmelfahrt wieder nach Söflingen. Sollte der Rat dies nun wieder verbieten, so wolle er sich wie zuvor auch daran halten.1607 Auch Rosa Hartmann berichtet von dem Gerücht, dass alle nun das glauben dürften, was sie wollen. Ihr Gewissen habe sie dann nach Söflingen getrieben. Hätte sie gewusst, dass der Rat dies verboten habe, wäre sie zuhause geblieben.1608 Vergleichbar argumentiert auch Anna Gauggelerin, die nicht nach Söflingen, sondern in die kleine Marienkirche Lautern direkt hinter der Ulmer Herrschaftsgrenze gegangen ist. Sie bezieht sich auf ein Gerücht, demzufolge das Auslaufen nicht mehr verboten gewesen sei.1609 Diesen Aussagen nach waren es nicht innere Einsicht oder eine Bekehrung im zwinglischen Sinn, was die Gläubige zuvor angeblich vom auswärtigen Gottesdienstbesuch abhielt. Vielmehr

1605 StAU, A [8984/I], Bl. 74r. 1606 StAU, A [8984/I], Bl. 69v. 1607 StAU, A [8984/I], Bl. 70r. 1608 StAU, A [8984/I], Bl. 71r. 1609 StAU, A [8984/I], Bl. 72r.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

respektierten sie nur das Verbot des Rats und entschieden sich in dem Augenblick, als sich die zweite Option, nämlich das Auslaufen zu den alten Praktiken, ergibt, für diese Handlung. Schließlich verweisen einige Gläubige auf die große Zahl der Ausläufer, denen sie sich lediglich angeschlossen hätten. Damit bietet sich einerseits eine willko mmene Möglichkeit, unangenehmen Fragen nach persönlicher Motivation und dem Gewissen auszuweichen. Andererseits wird deutlich, wie das Auslaufen eine ganz eigene soziale Dynamik im Raum entwickeln kann. So verweisen zwei Frauen ohne weitere Erklärungen darauf, dass sie einige Leute aus der Stadt gehen sahen und deshalb mitgingen.1610 Andere Gläubige setzten die Bewegung in Bezug zu den Gerüchten, dass der Rat das entsprechende Verbot aufgehoben habe. So Margareth Ridin, die aussagt, sie habe so viele Leute hinauslaufen sehen, dass sie annahm, der Gang sei nicht mehr verboten.1611 Genau so argumentieren zwei weitere Frauen, Agatha Munchmaier und die Frau von Enderlin Eberlin.1612 Einige Gläubige geben Einblicke in ihre Entscheidungsprozesse für das Auslaufen. Sie müssen abwägen zwischen dem Verbot des Rats, der durch die vielen Gläubigen entfalteten sozialen Dynamik, inneren Glaubenshaltungen sowie politischen und gesellschaftlichen Dispositionen. Dies wird besonders in der Aussage von Lienhard Scheifelin deutlich, der Folgendes zu Protokoll gibt: „Sey inn seinem gartten gewesen und gras gemet und ettlich leutt sehen hinauss reitten und gan. Och vermaint, es were seidher des reichstags erlaupt und auch hinaus. Doch ainem ersamen rat nit zuwider gangen. Hab vermaint, dieweil Benedict Krafft hinaus reitt, es sölle im auch nit verpotten sein.“1613 Zum einen kommt in dieser Quelle die soziale Dynamik zum Ausdruck, die das Auslaufen bewirken kann. Wenn eine größere Gruppe aus Ulm hinaus geht oder reitet, kann dies motivierend und bestätigend auf andere wirken, die vielleicht noch zögern. Womöglich schiebt Scheifelin durch diesen Hinweis auch einfach Verantwortung für seine Handlung ab. Weiterhin rechtfertigt sich der Ulmer Bürger mit einem Verweis auf die angebliche Entscheidung des Reichstags, dass das Auslaufen nun wieder erlaubt sei. Dieses Argument hält er für so stark, dass er es vor sein Bekenntnis setzt, sich der altgläubigen Gruppe angeschlossen zu haben. Dass er damit in Konflikt mit den Ulmer Mandaten gerät, die das Auslaufen verbieten, scheint ihm klar zu sein. So erklärt sich sein Hinweis, er habe dem Rat nicht ungehorsam sein wollen. Aus diesem Dilemma zwischen persönlicher Überzeugung und Reichsabschied einerseits und den Bestimmungen der Ulmer Obrigkeit andererseits löst sich Scheifelin im Verhör durch einen geschickten argumentativen Schachzug: Benedikt

1610 StAU, A [8984/I], Bl. 73v. 1611 StAU, A [8984/I], Bl. 74r. 1612 Sie seien in ihren Gärten gewesen und hätten viel Volk hinauslaufen sehen. Daraus folgerten sie, dass der Gang wieder erlaubt sei. StAU, A [8984/I], Bl. 72v. 1613 StAU, A [8984/I], Bl. 69r.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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Krafft, ein Angehöriger der Ratsoligarchie, sei ebenfalls hinausgeritten. Dies betrachtete er als Beleg dafür, dass nun tatsächlich der Reichstagsbeschluss gelte, trotz der Widersprüche mit dem Ulmer Religionsrecht. Es wird deutlich, wie geschickt sich die altgläubigen Laien auf die komplexen Verwicklungen der Rechtslagen im Alten Reich berufen und diese zu ihrem Vorteil heranziehen. Vergleichbar äußert sich eine Frau namens Merklerin Malerin. Auch bei ihr werden die Schwächen des Kommunikationssystems des Rats deutlich, der über die Zünfte das Auslaufverbot kommunizieren ließ: Wiewol ir zunfft maister ir nichts verpotten, nach dann uff die gemain sag, die sy gehörtt, das es aim rat missfall, hab sy es gemieten und nit mer hinaus gangen. Alls aber iets ain ander geschray und das erstanden, das uff dem reichstag sovil gehandelt, das man iederman glauben lasse, was es woll, were sy uff unser frawen tag hinaus gangen. Und wann sy gewisst ader ir nun vom zunfftknecht antzaigt were, so wöllt sy es underlassen haben. Dann ir gemuet stand nit, ain rat in khain weg zuverachten.1614

Hier offenbart die Zunft ihre Untauglichkeit als flächendeckendes religiöses Kommunikationssystem  – bzw. wird für die Unkenntnis des Verbots als Rechtfertigung vorgeschoben. Anfangs habe der Zunftmeister die Merklerin nicht informiert und sie habe sich des Gangs nach Söflingen aufgrund des Verbotsgerüchts enthalten. Damit widerspricht sie anderen Verhörten, die über Gerüchte berichten, denen zufolge das Verbot gerade aufgehoben worden sei. Bei entsprechenden Anordnungen hätte sie sich als gute Untertanin dem Rat gebeugt. Da ihr solche aber nicht vorlagen und über den Zunftknecht auch nicht kommuniziert wurden, schenkte sie der Rede von den Neuregelungen des Reichstags Glauben und lief an Mariä Himmelfahrt aus. Handelt es sich beim Auslaufen immer um eine Innovation? Nicht unbedingt, wie eine Reihe von Beispielen zeigt. Zwar gibt es Altgläubige wie Gilg Röslin, die nicht in die zwinglische Predigt in Ulm gehen wollen und zur vorgeblichen Fortführung der alten Rituale nach Söflingen ausweichen, wo die lateinische Messe und die Marienverehrung praktiziert werden. Für andere Gläubige hingegen handelt es sich beim Gang nach Söflingen oder Lautern um eine schon vor der Reformation bekannte und durchgeführte Übung. Allerdings wird diese von den evangelischen Obrigkeiten mit dem neuen, durch die reformatorischen Veränderungen hervorgerufenen Auslaufen in einen Topf geworfen. Und tatsächlich: Beide Gruppen, die „alten“ und die „neuen“ Ausläufer, legen den Weg am selben Tag und an dieselben Orte zurück und fallen unter dasselbe Verbot des Magistrats. So lassen sich beide Formen in vielen Aussagen nicht eindeutig auseinanderhalten. Ein frappierendes Beispiel für diese Kategorie der „alten“ Ausläufer ist die Frau des Tuchwalkers Klaus Schappeler. Sie legt ein dramatisches Zeugnis ab: „Ir gewissen und verhaissen hab sy gen Söflingen triben. Dann ains mals sey sy inn kinds bannden

1614 StAU, A [8984/I], Bl. 73v.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

gelegen und in so grosser nott, das sy damals verhaissen hab, disen unser frawen tag zu feyren, zuvasten und ander cristenlich ordnung zuhallten. Das hab sy da auch than. Hab im synn, sy wolls thun, weil sy ir vernunfft helt. Ir zunfftmeister hab ir nichts verpotten.“1615 Die Frau des Tuchwalkers liefert eine bewegende Aussage, in welcher die Konkordanz des religiösen Gewissens mit der angeblichen Unkenntnis der neuen Regelungen sichtbar wird. Ob sie tatsächlich völlig ahnungslos hinsichtlich des Verbots war oder nur aus der offiziellen Verbreitungsstruktur, wie einige andere auch, herausfiel und dies dann als Ausrede heranzieht, muss offen bleiben. Deutlich wird jedoch, wie – ohne dass die Frau darauf explizit abzielt – mit einer individuellen, im Grunde spätmittelalterlichen Praxis eine Bedeutungsverschiebung im sozialen Feld stattfindet. Als Schwangere habe sie Maria gelobt, den Himmelfahrtstag besonders zu feiern, falls sie überlebt. Dazu gehört auch die Wallfahrt nach Söflingen. Die aus dem Gelübde folgende Praxis wird nun, offenbar eher unbeabsichtigt von der Laiin, zu einer altgläubigen Praxis, welche die Frau situativ in einer partikularen Religionsgemeinschaft platziert, zumindest in der Wahrnehmung der Obrigkeiten. Das distinktive Ritual produziert hier die situative distinktive Zugehörigkeit der Tuchwalker-Frau. Ähnlich ergeht es der Frau von Hans Abelin. Sie ist zum Zeitpunkt des Auslaufens nach Söflingen schwanger und in großer, wahrscheinlich gesundheitlicher Not. So habe sie ihr Gewissen hinausgetrieben. Da so viele Menschen gingen, habe sie geglaubt, dass die kleine Wallfahrt nun wieder erlaubt sei.1616 Einige ähnliche, jedoch kürzer gehaltene Zeugnisse finden sich bei weiteren Frauen. Deren Ziel ist nicht Söflingen, sondern die kleine Marienkirche Lautern. Elsa Wild gibt zu, dass sie in Lautern gewesen ist. Als Erklärung verweist sie auf ein Gelübde, das sie jedoch nicht weiter spezifiziert. Ebenso sei sie nach Söflingen gegangen, was insofern nicht weiter verwundert, als dass der Ort auf dem Weg zwischen Ulm und Lautern liegt. Elsa Siber will mit ihrem Gang nach Lautern ein zehn Jahre altes Gelübde befolgt haben. Die Frau von Paul Baumstark bekennt, ebenfalls vor etlichen Jahren geschworen zu haben, an Mariä Himmelfahrt nach Lautern zu pilgern und löst dieses Gelübde auch 1532 ein. Dies verbindet sie darüber hinaus mit einem Abstecher nach Söflingen, doch beteuert sie, dass sie damit nichts gegen den Rat gemacht habe.1617 Einige Verhörte bestreiten jedoch mehr oder weniger nachdrücklich, aus religiösen Gründen in Söflingen gewesen zu sein. Die Erklärungen sind vielfältig und zeugen von der Schwierigkeit, religiöse von ökonomischen oder sozialen Anlässen stets strikt zu trennen. Was Ausrede ist und was der Wahrheit entspricht, lässt sich nicht bestimmen. So gibt etwa Stefan Widenmann zu Protokoll, „er sey ainem rat gar nit zuwider, sondern darumb gen Söfflingen geritten, das er hab wöllen ainen knecht

1615 StAU, A [8984/I], Bl. 73r. 1616 StAU, A [8984/I], Bl. 69v. 1617 StAU, A [8984/I], Bl. 70v, 71v.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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dingen. Dieweil er aber den nit funden hab, sey er gleichwol in die kirchen gangen.“1618 Eigentlich wollte der offenbar wohlhabende (da berittene) Bürger demnach nur einen Knecht suchen. Auffallend ist auch, dass er nur den Schwenk in die Kirche nennt, aber keinerlei Bezug herstellt zu Maria, dem Marienfest oder bestimmten Praktiken, inneren Haltungen sowie möglichen Gelübden. Der Kirchenbesuch erscheint fast ohne religiöse Substanz. Auch der Wagner Lorenz Schmid beteuert, dass er keinesfalls der Messe wegen nach Söflingen gegangen sei. Vielmehr sei er zu einem Bauern gegangen, um von diesem Holz zu kaufen. Den Bauern habe er in der Kirche, bei der Mariä-Himmelfahrt-Feier, gefunden. Wohl nachdem das Geschäft abgeschlossen war, sei er sofort („von stundan“) wieder aus der Kirche gegangen.1619 Noch entschiedener als Widenmann weist Schmid also jeglichen Bezug oder gar Sympathie zu den Ritualen in der Söflinger Kirche von sich, ja er scheint sogar bemüht, seine Ablehnung dadurch herauszustreichen, dass er das schnelle Verlassen des Gottesdiensts betont.1620 Auch Margreth Widenmann gibt zwar zu, in der Kirche gewesen zu sein, stellt dies jedoch als nahezu areligiöse Handlung dar: „Sy hab ain schwester zu Wiltperg. Nun wer aber di Windenmaisterin zu ir komen und gesagt, es weren der apptissin [zu Söflingen, M. M.] brief von Wiltperg komen. Deshalb sy hinaus gangen und wöllen besehen, ob ir von irer schwester ouch brief komen weren. Und also in kirchen gangen, aber kein meß gehört.“1621 Margreth Widenmann verweist auf ihre Schwester im Kloster Wildberg, einem Konvent der Dominikaner-Terziarinnen in Württemberg.1622 Da sie Briefe ihrer Schwester in Söflingen vermutet, begibt sie sich dorthin. Für sie ist das Kloster ein Kommunikations-Knotenpunkt auch über größere Räume hinweg. Um dies zu unterstreichen, hebt Margreth Widenmann explizit hervor, keine Messe in der Kirche gehört zu haben. Vergleichbar lautet schließlich die Argumentation der Frau von Wolf Rauh. Sie sei wie drei- bis viermal pro Woche nach Söflingen gegangen, um Garn zu holen. Da sie aber niemanden gefunden habe, bei dem sie diesen hätte kaufen können oder normalerweise zu kaufen pflegt, sei sie in die Predigt in der örtlichen Kirche gegangen.1623 Diese Beispiele verweisen auf einen weiteren wichtigen Unterschied, der sich zwischen Ulm und Söflingen herauskristallisiert: jener der religiösen Zeitlichkeit. Einige Ulmer gehen an Mariä Himmelfahrt ihren gewerblichen oder handwerklichen

1618 StAU, A [8984/I], Bl. 69r. 1619 StAU, A [8984/I], Bl. 69v. 1620 Sehr ähnlich ist die Aussage von Konrad Wagner. Auch er sei in den Nachbarort gegangen, um Holz zu kaufen. Anschließend beteuert er seine Gesetzestreue gegenüber dem Rat: Seit dem Verbot sei er nicht mehr in Söflingen gewesen und die Messe habe er schon vier Jahre nicht mehr gehört. Gleichwohl sei er an jenem 15. August 1532 in der Kirche gewesen. StAU, A [8984/I], Bl. 70r. 1621 StAU, A [8984/I], Bl. 71r. 1622 Vgl. Janssen, Roman: Dominikanerinnenkloster Wildberg. In: Klöster in Baden-Württemberg. (04.02.2015). 1623 StAU, A [8984/I], Bl. 71v.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

Tätigkeiten nach. Sie holen Briefe, wollen Garn oder Holz kaufen oder einen Knecht anwerben. Dies scheitert jeweils daran, dass die Bauern, Arbeiter oder potenziellen Verkäufer in Söflingen den Marienfeiertag weiterhin beachten und in der Kirche sind. Zwei Zeitsysteme prallen aufeinander und die betreffenden Ulmer Verhörten beharren darauf, sich nicht dem altgläubigen Feiertagsbrauch angepasst zu haben. Gleichzeitig demonstrieren diese Beispiele, dass es, über religiöse Differenzen hinweg, fortdauernden lebensweltlichen Bezug nicht-altgläubiger Ulmer Bürger zu den reformationsfeindlichen Söflinger Klarissen und deren Untertanen gibt. Dies bedarf im Verhör allerdings zusätzlicher Erklärungen und deutlicher Abgrenzung von den verbotenen Ritualen, die aus evangelischer Perspektive immer stärker mit dem Dorf vor den Ulmer Toren verbunden werden. Der Rat reagiert entschieden auf das Auslaufen im Sommer 1532. Er lädt einen Großteil der Verhörten vor und teilt ihnen mit, dass ihm ihre Handlungen missfallen. Wenn ihnen die Verfügung des Rats nicht gefalle, so könnten sie die Stadt verlassen. Zudem richtet der Rat eine scharfe Warnung an die Vorgeladenen: Sollten sie weiterhin nach Söflingen oder an anderen Orten den „Götzen“ und Messen nachlaufen, werde man sie „on mittel us der statt straffen und verweisen.“ Für einen Teil der Vorgeladenen soll die Verbannung sofort wirksam werden. Dies trifft die Beiwohner, das heißt jene, die nicht über das Bürgerrecht in Ulm verfügen.1624 Eine Liste führt die Namen der Männer und Frauen auf, die vor den Rat zitiert werden. Die auf der Liste genannten Personen, 25 an der Zahl, finden sich allesamt auch in den Verhörprotokollen wieder.1625 Es fehlen neun Personen, die nicht vor den Rat gerufen werden.1626 Bei diesen handelt es sich um Gläubige, die im Verhör durch explizite altgläubige Zugehörigkeiten, starke deviante Überzeugungen oder besonders bereitwilliges Mitlaufen aufgefallen sind.

4.2.3 Pfingsten 1535 Während fast drei Jahren verfügen wir über keine Quellen, die das Auslaufen von altgläubigen Ulmern über die Herrschaftsgrenzen hinweg in andere Orte oder Klöster dokumentieren. Doch an Pfingsten 1535 scheint das Phänomen wieder so sichtbar und die Teilnehmerschaft so groß geworden zu sein, dass sich der Rat erneut damit befassen muss. Eine stattliche Anzahl Gläubiger ist in das benachbarte Kloster Söflingen gelaufen. Mit den Delinquenten befasst sich eine Fünferkommission des Magistrats, deren Vorgehen in einem längeren Bericht überliefert ist. Darüber hinaus finden

1624 StAU, A [8984/I], Bl. 83r–v. 1625 Dort sind sie mit den Marginalien „ungevar“ oder „M“ gekennzeichnet. 1626 Diese sind im Verhörprotokoll mit „B“ gekennzeichnet.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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sich erneut Namenslisten, sortiert nach den Stadttoren, an denen die Menschen zu Pfingsten ausliefen. Die quantitative Auswertung der Listen ermöglicht erneut, bei aller gebotenen Vorsicht, eine soziologische und geschlechtergeschichtliche Analyse der Ausläufergruppe. Das Glöcklertor1627 passieren 38 Personen, darunter fünf Männer (13 %). Bemerkenswert ist neben dem hohen Frauenanteil, dass der Anteil der „töchterlin“, also junger, unverheirateter Frauen oder Mädchen, mit sechs Personen (16 %) recht hoch liegt. Noch bemerkenswerter ist die große Zahl an Knechten (zwei) und Mägden (fünf), insgesamt 18,5 % aller Ausläufer am Glöcklertor. Das Neutor1628 passieren laut der entsprechenden Liste insgesamt 14 Personen: zwei Männer (16,5 %) und 12 Frauen (83,5 %). Einer der Männer, der zudem ganz oben auf der Liste steht, ist bereits zu Mariä Himmelfahrt 1532 als kompromissloser Altgläubiger aufgefallen: Gilg Röslin. Bemerkenswert ist zudem, dass nur eine Magd (8,5 %) und kein „töchterlein“ unter den Festgehaltenen ist. Eine zweite Liste mit Ausläufern nach Söflingen am Neutor1629 führt elf Personen auf, einen Mann (9 %) und zehn Frauen (91 %) sowie zwei „töchterlein“ (18 %), aber keine Magd und keinen Knecht. Eine letzte Liste ist schließlich für das Unser-Frauen-Tor1630 erhalten, auf der vier Personen verzeichnet sind, allesamt Männer. Darunter befindet sich erneut Gilg Röslin.1631 Rechnet man alle Listen von Pfingsten 1535 zusammen1632, so sind insgesamt 66 Ulmerinnen und Ulmer verbotenerweise nach Söflingen ausgelaufen. Sie sind zu 83,5 % (55 Personen) weiblich und zu 16,5 % (elf Personen) männlich. Acht Personen sind junge bzw. unverheiratete Frauen. Sie machen unter dem weiblichen Teil der Ausläufer immerhin 14,5 % aus. Acht Knechte und Mägde schließen sich den Gruppen an und machen somit 12 % aus. Wie hat sich die Zusammensetzung der Ausläufergruppe im Vergleich zu 1532 verändert? Der Vergleichsmaßstab ist schwierig, denn für 1535 liegen keine Verhörprotokolle, sondern nur die Namenslisten vor. Die zwei Namenslisten, die zweifelsfrei dem Vorfall an Mariä Himmelfahrt 1532 zugeordnet werden können, sind wiederum nur bedingt zuverlässig. Auf ihnen stehen 31 bzw. 60 Personen mit einem Frauenanteil von 84 bzw. 88 %. Doch einige Namen finden sich doppelt oder fehlen später beim Verhör. Deshalb ziehe ich als Vergleichswerte die des Verhörs von 1532 heran. Von den 41 Verhörten kann 34 Personen die Präsenz in Söflingen nachgewiesen werden. Diese Zahlen machen also deutlich, dass sich das Phänomen des Auslaufens bis

1627 StAU, A [8984/I], Bl. 77r–v. 1628 StAU, A [8984/I], Bl. 78r. 1629 StAU, A [8984/I], Bl. 79r. 1630 StAU, A [8984/I], Bl. 79r. 1631 Weitere Namensdoppelungen sind mir nicht aufgefallen, ein Befund, der bei der bekannten orthographischen Varianz der Frühen Neuzeit jedoch vorsichtig zu betrachten ist. 1632 Gilg Röslin wird dabei nur einmal gezählt.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

1535 zahlenmäßig nahezu verdoppelt hat.1633 Die altgläubige Devianz, die sich hier äußert bzw. sich über den Gang nach Söflingen herauskristallisiert, hat sich in Ulm ein halbes Jahrzehnt nach dem Reformationsbeschluss also deutlich verstärkt. Dies widerlegt für das Fallbeispiel Ulm die Annahme einer oft schleichenden Anpassung oder Akkulturierung der skeptischen oder nichtreformatorischen Laien an die protestantische Kultur.1634 Weiterhin ist die altgläubige Ausläufergruppe, die sich nun sicher nicht mehr auf bloße Unkenntnis der Gesetzgebung des Rats berufen kann, nochmals „weiblicher“ geworden. Der Frauenanteil steigt von 79 auf 83,5 %. Zudem verändert sich die soziologische Komposition. 1532 sind unter den 34 überführten Ausläufern nur eine Magd (3 %) und kein „töchterlein“. Deren Anteile steigen 1535 deutlich an. Die Gruppe wird also jünger und sozial prekärer. Insgesamt weisen die Namenslisten darauf hin, dass sich die Ausläufergruppe in ihrer personellen Zusammensetzung stark verändert hat. Von den 1532 Verhörten tauchen 1535 neben Gilg Röslin nur die Frau von Georg Hohenbuch, Esther Ferrin und Apolonia Merklerin (?) erneut auf – ein Befund, der bei der gängigen Namensvarianz jedoch mit Vorsicht zu betrachten ist. Enderlin Eberlins Tochter läuft nun mit, nachdem 1532 noch deren Mutter zu den Devianten gehörte. Auch einige andere Namen – Seidennäher oder Scheifelin – legen nahe, dass nun die Töchter anstelle der Eltern mitlaufen. Die Neuzusammensetzung der Gruppe erfolgt also auch über einen Generationenwandel, nachdem die Eltern sich womöglich nicht mehr trauen, selbst auszulaufen. Andere, die noch 1532 angeklagt waren, dürften sich entweder der evangelischen Kultur angepasst bzw. angeschlossen haben oder aus Furcht vor Repressionen auf den Gang nach Söflingen verzichten. Der Rat reagiert entschieden auf das neuerliche Auslaufen und beauftragt eine Fünferkommission aus seinen Reihen, einen Vorschlag auszuarbeiten, wie mit den Devianten zu verfahren sei und wie darüber hinaus das Auslaufen in Zukunft unterbunden und geahndet werden könne. Die Fünf reichen ihren Bericht am Mittwoch nach Pfingsten beim Rat ein, der die Vorschläge annimmt und den Fünf auszuführen befielt.1635 Die Ratsverordneten bewerten das Vorkommnis als eindeutigen und sträflichen Verstoß gegen die zahlreichen Verbote des Rats. Grundsätzlich müssten die betreffenden Gläubigen also mit der auf die Übertretung des Verbots ausgesetzten Strafe – der Verbannung  – belegt werden. Dennoch raten sie, die Bestrafung diesmal noch auszusetzen. Als Begründung verweisen sie auf die gefährlichen Zeitläufte, womit die politischen Spannungen im Alten Reich sowie, womöglich, die von Ulm gar nicht so weit entfernte „Türkengefahr“ gemeint sein könnten. Im Zusammenhang mit der

1633 Ich setze dabei voraus, dass alle Gläubigen auf den Listen von 1535 tatsächlich in Söflingen waren. 1634 Etwa bei Lang, Ulmer Katholiken (wie Anm. 180). 1635 StAU, A [8984/I], Bl. 75r-76av.



4.2 Ulm als wichtiger Ausgangspunkt des Auslaufens 

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konfliktreichen Lage steht wohl auch das nächste Argument: Der Rat solle um seines Ansehens willen und zur Mehrung seines guten Rufes Milde walten lassen. Außerdem deuten die Fünf an, dass eine konsequente Verfolgung bei einer so großen Anzahl zu Unruhe führen könnte. Schließlich bringen die Gutachter ein abschließendes, aber durchaus zentrales Argument ein: Man solle von einer Bestrafung absehen, „sonnderlich so unnder den uffgezaichneten personnen der mertaill kinder unnd eehallten sein.“1636 Was also tun? Die fünf Ratsverordneten planen eine Art pädagogische Vorstellung. Die Ausläufer werden vor das Fünfergremium gerufen. Das Drehbuch für die folgende Unterredung liefern die Verordneten in ihrem Bericht gleich mit: Damit sie nun ungestraft nicht gelassen, dann auch ein söllichs durch sie und andere kunfftigklich verbleibe, so bedenncken die gedachten meine herrn [die Fünf, M. M.], dass die ernennten gemerckte personnen aintweder fur ratt, oder anndere der rätt, die ein ersamer ratt, so es doch schlecht personen unnd der mertaill megt und kinder sein, verordnen möchte, zu beschicken, und in am furnemblichsten das hoch eins erbern ratts missfallen gegen der verachtunng der getrewen und mer dann vetterlichen ermanung treffenlich unnd mit sonnderm ernst und fleiss gesagt werden, und hin gegen dass sie uß irem frevenlichen, ungepurlichen ubertretten die vor verkünnt straff billich verwurcke undd vermög desselben der statt verwießen wurden. Aber dieweill ain erbar ratt gegen innen noch bessern glumpff und fugen erlangen und im vollige ursach schöpffen mög, auch seiner trew vill mer uberflußigen dann ainichen gehin unnd eillennden uberfalls beschuldigt, so were inne unvernachtaillt vor gemachts gesatzs ir verschulden dies malls angestellt. Sie söllten aber die ernstliche straff unnd das gesatz derhalben gemacht (wölliches innen gleich allspaldt inn irer gegen wurtigkait vorzuleßen) widerums vernemen, das wol an ir gedechtnus fassen. Unnd annderen desselben auch erinnern, die unnd zuvor sich selber vor dem nachloff unnd zuganng wie gesezt abweisen unnd wenndig manen. Dann wo nit, so behallt ain ersamer ratt uß habennder seiner oberkait enntlich inn sein hannden unnd ime bevor, ain jedes nach desselben geverlichen oder ungeverlichen verschulden dermassen zu straffen und anzusehen, dass annder hienach ursach nemen söllen, sich desse[n] zuenthallten. Also mit ietzigem anhanng, der innen auch muntlich zueröffnen were, bleipt der innhalt dess vorigen gesatz in seinem wesen. Und gipt nichtzit destorweniger zu demselben ainem ersamen ratt ain millterunng, die er beide, nachdem einer unzimblicher dann der ander gehanndelt, zu jedes verschulden furnemen mag.1637

Es handelt sich hierbei um ein „Theaterspiel“ für Menschen, denen der Rat als „Kinder“ oder Mägden weder Urteilsvermögen noch reflexives Potenzial zuzutrauen scheint. Deshalb sollte auch nicht der gesamte Magistrat, sondern nur ein paar Gesandte die Vorstellung geben. Als die 66 Männer, Frauen und Kinder dann vor den Fünfen stehen, erhalten sie eine scharfe Zurechtweisung. Es geht nicht darum, sie von der Schlechtigkeit der „papistischen“ Zeremonien zu überzeugen oder an ihr Gewissen zu

1636 StAU, A [8984/I], Bl. 75v. 1637 StAU, A [8984/I], Bl. 75v-76v.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

appellieren, wohl auch nicht zuletzt deshalb, da dies die Aufgabe der zwinglischen Prädikanten ist. Ärger bekommen sie, da sie das Ratsverbot nicht beachtet haben. Wegen dieses Gesetzesbruchs sollten sie nun mit Verbannung bestraft werden. Ziel ist es demnach, die Ausläufer zu beeindrucken und zu schockieren, zumal es sich um Menschen handelt, die in ihrer gesellschaftlichen Position sonst keinen direkten Kontakt mit der städtischen Obrigkeit haben. Doch wegen der bereits diskutierten Gründe und der Angst, dass die umfängliche Bestrafung als Überreaktion wahrgenommen werden könnte, wird den Gläubigen angekündigt, dass sie diesmal noch der Strafe entgehen. Nach dem Schreck und der wahrscheinlich darauffolgenden Erleichterung wird ihnen nochmals eingeschärft, dass sie sich künftig an das Verbot halten müssen. Die entsprechende Verfügung, die 1531 über die Zünfte kommuniziert worden ist, wird ihnen dann auch gleich nochmals vorgelesen. Der Rat baut offenbar auf die memorierende Wirkung der ganzen Inszenierung. Gleichzeitig legt der Magistrat großen Wert darauf zu betonen, dass es sich um eine einmalige Ausnahme handelt und keinesfalls um eine künftige Straffreistellung des Auslaufens. Dies zu unterstreichen ist von großer Bedeutung in einer Kultur, in der Gewohnheit Recht schafft. Dahingegen handle es sich nur um eine Art Nuancierung der geltenden Bestimmungen. Denn künftig sollen, anders als bisher, nicht alle Ausläufer gleich hart bestraft werden. Vielmehr behält sich der Rat ein angepasstes und auf den Einzelfall zugeschnittenes Strafmaß vor, das aber durchaus auch abschreckende Wirkung auf andere Altgläubige entfalten soll. Mit dieser Strategie gehen auch die Vorschläge konform, welche die Fünf darüber hinaus in ihrem Gutachten hinsichtlich weiterer Maßnahmen zur Verhinderung des Auslaufens präsentieren. Dabei geht es vor allem darum, eine effizientere Repression zu ermöglichen. Doch es sei leichter, die Strafen bei nur einem, zwei oder drei Ausläufern anzuwenden. Es dürfe also nicht mehr zugesehen werden, bis dass eine große Zahl von Gläubigen auswärts zu den verbotenen Messen und Zeremonien gehen. Wenn die ersten Ausläufer sofort bestraft oder der Stadt verwiesen werden, werde dies andere abschrecken. Daher empfiehlt die Kommission, dass die Schreiber an den Stadttoren besondere Ausschau nach Bewohnern halten, die aus religiösen Gründen die Stadt verlassen. Verdächtige sollen dem Bürgermeister gemeldet werden. So können die Fälle sofort untersucht und Strafen möglichst schnell wirksam werden. Dass entweder die Umsetzung dieser Vorschläge nicht erfolgt oder dass die pädagogische Wirkung schneller Bestrafungen ausbleibt, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass bereits zwei Jahre später erneut ein Mandat erlassen werden muss, das den Fortgang zu Messen und anderen altgläubigen Zeremonien untersagt. Allerdings sind in den Quellen keine weiteren konkreten Prozesse oder Notizen gegen altgläubige Ausläufer aus der Reichsstadt auffindbar. Ganz anders verhält es sich jedoch im großen Landterritorium Ulms.



4.3 Grenzphänomene: Auslaufen aus dem Landgebiet 

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4.3 Grenzphänomene: Auslaufen aus dem Landgebiet Die Quellenbasis für die Analyse des Auslaufens aus den Städten und Gemeinden des Ulmer Landgebiets zwischen Donau und Schwäbischer Alb unterscheidet sich von den Dokumenten, anhand derer ich das Phänomen in der Reichsstadt untersucht habe. Für das Territorium dienen mir die Visitations- und Synodalberichte der Jahre 1531, 1532, 1535, 1537 und 1539 als Quellen. Die wichtigsten Unterschiede zu den Ratsberichten, Listen und Verhören aus Ulm bestehen darin, dass in aller Regel kein direkter Zugang zu den Begründungen und Argumentationen der Altgläubigen möglich ist. Weiterhin sind die politischen und institutionellen Vorspiele und Folgen nicht sehr deutlich erkennbar, etwa ob Prozesse gegen die betreffenden Gläubigen angestrengt werden, oder ob diese Restriktionen für ihr Verhalten erfahren. Zudem sind die Angaben zum Auslaufen in den Visitations- und Synodalprotokollen unpräziser, etwa hinsichtlich der Zielorte, der Zeitpunkte, der personellen Stärke, der angestrebten Rituale und insbesondere des soziologischen Profils der renitenten Gläubigen. Doch die Quellengattung hat auch Vorzüge. Die Regelmäßigkeit der Untersuchung ermöglicht eine statistisch und zeitlich breit angelegte Untersuchung des Phänomens. Veränderungen und Kontinuitäten des Auslaufens werden somit deutlich sichtbar. Zudem lassen sich die räumlichen Kontexte des Auslaufens sowohl besser analysieren als auch visualisieren, wodurch eine topographische Darstellung dieser so wichtigen altgläubigen Praxis möglich wird. Bei alledem müssen freilich die bekannten Schwächen der Visitationsquellen mit in die Analyse einbezogen werden, etwa was mögliches Dissimulieren, Vertuschen oder Lüge in Folge von lokalen und mitunter sogar religionsfremden Auseinandersetzungen anbelangt. Die Untersuchung der Amtleute, Richter und Pfarrer der Landgebiete im Oktober 1531 fördert bereits eine ganze Reihe von Hinweisen auf Fälle des Auslaufens zutage. Das kann zu einem so frühen Zeitpunkt nach der Einführung der Reformation auch nicht überraschen. Aus fünf Städten und Dörfern verfügen wir über eindeutige Aussagen bezüglich dieses Phänomens. Wiederum wenig überraschen kann, dass sich Geislingen unter den inkriminierten Ortschaften befindet: Dort predigte bis zum Frühjahr der in seinem Wirken durchaus erfolgreiche altgläubige Pfarrer Georg Oßwald, und während der gesamten 1530er-Jahre sollte die Landstadt immer wieder als Hort altgläubiger Kultur und Distinktion hervortreten. Aus Geislingen ziehen im Herbst 1531 Gläubige nach Eybach, um dort die Messe zu hören und ihre Kinder taufen zu lassen. Ein gleichlautendes Zeugnis betreffs des Messebesuchs in Eybach liegt auch aus Altenstadt vor, einem Nachbardorf von Geislingen.1638 Eybach ist eine Enklave im Ulmer Territorium: Der Ort gehört dem Kloster Ellwangen, das ihn im 15.  Jahrhundert an die Grafen von Degenfeld verlieh. Der Abt von Ellwangen ist Kirchherr der örtlichen Pfarrei, weshalb in Eybach während der 1530er-Jahre die Messe und andere

1638 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 48 f.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

„alte Zeremonien“ gefeiert werden. Der Ort sollte zum wichtigsten Ziel des Auslaufens im Norden des Ulmer Territoriums werden und gemeinsam mit der mehrheitlich altgläubigen Stadt Geislingen und deren Umland für die zwinglischen Obrigkeiten eine Quelle steter Unruhe und Devianz bilden. Ebenfalls noch 1531 melden zwei Richter aus Stötten im Norden des Ulmer Landgebiets, dass etliche Gläubige, darunter der Amtmann, jeden Sonntag nach Geislingen gehen.1639 Die Interpretation dieser Aussage ist schwierig, da in der Quelle keine weiteren Informationen hinsichtlich der Motivation der Delinquenten genannt werden. Handelt es sich um altgläubiges Auslaufen? Dagegen spricht, dass in Geislingen nach dem Abgang von Pfarrer Oßwald mit Paul Beck ein aktiver evangelischer Prädikant vor Ort ist und zumindest in der Regel das rituelle Angebot der Geistlichen kaum mehr „alte“ Formen und Artefakte implizieren dürfte. Dafür spricht jedoch, dass die Geislinger Bevölkerung im Umland noch über Jahre hinweg die Rolle eines altgläubigen Initiators innehat. Dazu heißt es ein halbes Jahr später im Synodalbericht, dass die altgläubigen Bewohner mit ihrer „Götzerei“ den jungen Leuten auf dem Land ein schlechtes Beispiel geben und viele Gläubige von der evangelischen Lehre abbringen. Außerdem redeten sie den Bauern im Umland ein, dass die neue Lehre keinen Bestand haben werde.1640 Schließlich taucht Stötten auch in den Folgejahren immer wieder als Ort altgläubigen Auslaufens auf, was auf eine sich verfestigende altgläubige Teilkultur hindeutet. Zwei weitere Orte religiösen Ausweichens werden 1531 gemeldet. Da ist zum einen die Gemeinde Bermaringen, von wo aus Bewohner nach Lautern in die Messe gehen. Neben Aufhausen befindet sich mit Deggingen eine Gemeinde, deren Pfarrer noch die „alten Zeremonien“ halte und die traditionelle Taufe anbiete.1641 Das Auslaufen findet vor allem im Nordwesten des Territoriums und somit weit entfernt von der Herrschaftszentrale Ulm im Süden statt. Die meisten Altgläubigen überqueren die Grenzen für die Messe, häufigstes Ziel ist die Enklave Eybach. Bei der Synode von 1532 finden sich noch mehr Fälle – ein Zeichen dafür, dass sich, parallel zur Reichsstadt selbst, die altgläubige Devianz und damit die Verfestigung entsprechender Zugehörigkeiten klar artikuliert und durch die Auslaufpraxis sichtbar gemacht wird. Dies zeigt sich wie im Vorjahr insbesondere im Norden des Territoriums: Die Enklave Eybach, in deren Pfarrei weiterhin die lateinische Messe zelebriert wird, entwickelt sich zum zentralen Anlaufpunkt für altgläubige Bewohner aus Altenstadt und Geislingen sowie nun außerdem aus Stötten.1642 Im Nordwesten des Territoriums wird ein Fall aus Nellingen gemeldet, von wo aus Gläubige für die Messe in die benachbarte Pfarrei Merklingen im Ulmer Grenzland gehen.1643 Für den

1639 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 44. 1640 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 54. 1641 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 44, 46. 1642 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 53–57, 70. 1643 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 61–63.



4.3 Grenzphänomene: Auslaufen aus dem Landgebiet 

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dortigen Pfarrer hat das Chorherrenstift Wiesensteig die Präsentationsrechte und ermöglicht bzw. befielt seinem Geistlichen vorerst die Beibehaltung der Messe.1644 In zwei Orten – Leipheim und Pfuhl – gibt es ebenfalls Berichte, dass Bewohner auslaufen. Jedoch findet sich im Synodalprotokoll kein Hinweis darauf, wohin die Reise geht. Bekannt ist nur, dass die Altgläubigen für die Messe ihre Heimatpfarreien verlassen.1645 Beide Orte liegen südlich der Donau und im Grenzgebiet, insbesondere Leipheim, einer polarisierten Landstadt mit einer starken altgläubigen Minderheit. Pfuhl ist ein Sonderfall, denn meist liegen die Orte, aus denen Gläubige entweichen, fern von der Reichsstadt. Ein Sonderfall ist auch Nerenstetten, dessen Altgläubige nach Setzingen gehen, eine Pfarrei mit auswärtigem Patronatsherrn, dem Propst von Herbrechtingen.1646 Nerenstetten liegt mitten im Ulmer Landgebiet und in relativ großer Entfernung zu den Grenzen. Meist ist in diesem Fall Auslaufen aus geographischen Gründen schwierig. Der Großteil der Ausgangsorte liegt also eher entfernt von der Reichsstadt und in peripheren Teilen des Territoriums. Von dort aus fallen der Grenzübertritt leicht und die Kontrolle für die Ratsobrigkeit ist offenbar schwerer. 1535 kommt es zur ersten Visitation, bei der Verordnete der Obrigkeit – in diesem Fall die Pfarrkirchenbaupfleger  – sowie der Prädikant Martin Frecht direkt vor Ort im Landgebiet sind und die Befragungen durchführen. Das Ergebnis zeigt, dass das Auslaufen kaum nachgelassen hat. Sechs Fälle werden insgesamt gemeldet, deren Schwerpunkt fern von der Reichsstadt und in Grenznähe liegt. Aus Geislingen und Altenstadt ziehen die Gläubigen in die Enklave Eybach zur Messe sowie aus Holzkirch ins benachbarte Westerstetten. Ausgelaufen wird auch aus Altheim im Norden des Territoriums nahe der Grenze, jedoch ist das Ziel nicht bekannt. Ein komplexer Fall ist Neuhausen bei Holzheim südlich der Donau. Der Ort gehört der Ulmer Patrizierfamilie der Ehinger. Von dort gehen Gläubige nicht über die sowieso vage „Grenze“, sondern in den Nachbarort Finningen, um die Messe zu hören.1647 In Finningen haben die Ratsfamilien der Ehinger und der Roth Rechte und Besitzungen, Lehensherr ist jedoch die Karthause Buxheim. Diese dürfte auch das Präsentationsrecht über den Pfarrer innehaben und somit das Messelesen weiter ermöglichen.1648 Ein weiterer Fall ist aus Scharenstetten zu vermelden. Gläubige gehen von dort nach Lautern, den Ort, in den 1532 auch viele altgläubige Ulmerinnen zur Einlösung ihrer Mariengelübde gehen. Hier wird von den zwinglischen Visitatoren präzisiert, dass die Menschen „zu den Heiligen“ gingen.1649 Es ist sehr gut möglich, dass sich dahinter die Fortsetzung der lokalen Marienwallfahrt oder die Einlösung von Gelüb-

1644 1533 kommt es jedoch zu einem Ausgleich mit dem Ulmer Rat: Diesem überlassen die Chorherren gegen Geldzahlungen die Pfarrrechte. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 25, 108. 1645 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 79–81. 1646 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 70, 77. 1647 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 84–85, 89–92, 100–102, 113. 1648 Zu Neuhausen und Finningen vgl. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 21. 1649 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 97.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

den verbirgt. Insgesamt bleibt das Auslaufen ein Phänomen in den peripheren und von der Herrschaftszentrale eher weit entfernten Gegenden. Die Messe wird noch häufiger das Ziel der Gläubigen und gewinnt dadurch an distinktiver Bedeutung. Das Auslaufen als alternative und aus der Perspektive der Gläubigen sicherlich provisorische Praxis hat sich allerdings verstetigt. Die Synode des Jahres 1537 zeigt, dass sich an der Intensität des Auslaufens im Landgebiet bis dahin kaum etwas geändert hat. Die rituelle und räumliche Innovation der Jahre nach der Reformation wird zusehends zur festen Übung und Teil einer aktualisierten altgläubigen Kultur. Diese bleibt auffällig und tritt somit in den Protokollen, die ja auf Denunziationen der Amtleute, Pfarrer und Dorfbewohner zurückgehen, nach wie vor deutlich zutage. Große Dissimulierungsbemühungen scheint es in den angezeigten Orten von altgläubiger Seite nicht gegeben zu haben. Im Gegenteil: Der Umstand, dass in recht vielen Fällen klar und offen auf sie verwiesen wird, dürfte auf eine Entflechtung dörflicher Solidarität in religiösen Angelegenheiten sowie auf klare Sichtbarkeit dieser neuen, altgläubigen Praxis hinweisen. Auffällig ist, dass in immer mehr Orten das Auslaufen zwar angezeigt, aber der Zielort nicht benannt wird. Dies gilt für Gingen, Holzhausen, Süßen und Nellingen.1650 Vielleicht ist dies schlichtweg nicht nötig, da die einschlägigen Dörfer und Kirchen hinter der Grenze bereits allgemein bekannt sind. Vielleicht deuten sich aber auch ein durch Gewohnheit gefördertes Desinteresse und eine gewisse Entskandalisierung des Phänomens selbst für die Amtleute, evangelischen Priester und anderen Dorfbewohner an. Mit Eybach bleibt im Norden des Landgebiets ein bereits bekanntes Ziel die Anlaufstelle der Altgläubigen aus dem benachbarten Stötten. Der Amtmann aus Langenau schickt seine Frau nach Falkenstein zur Messe. Schließlich taucht mit der Taufe ein zumindest in den Quellen eher marginaler Beweggrund für Ausläufer auf: Aus Holzheim ziehen Gläubige dafür nach Finningen und Reutti, dessen Kapelle eine Besitzung des Klosters Blaubeuren gewesen ist.1651 Dass es 1537 dort offenbar noch altgläubige Rituale stattfinden, überrascht jedoch. Denn bereits 1534 hatte das Kloster seine Besitzungen im Ulmer Territorium in einem Ausgleich an den Ulmer Rat abgetreten. Die Prädikatur in Reutti sollten demnach die Geistlichen aus Urspring und Lonsee versehen.1652 Gemeinhin erfolgen die Grenzübertritte von den Randgebieten des Territoriums aus, wo sich altgläubige Kulturen offensichtlich besonders gut entwickeln können. Einzig die Frau des Langenauer Amtmanns muss eine weitere Strecke zurücklegen. Im herrschaftlich komplexen Südosten des Landgebiets zeigt sich erneut ein „Auslaufen“ in umgekehrte Richtung, nämlich in Richtung des Territoriums. Die letzte Synode, die in den Untersuchungszeitraum fällt, findet 1539 statt. Die angezeigten Vorfälle sinken um fast die Hälfte im Vergleich zu 1537. Hinter diesem

1650 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 115 f., 126 f., 130 1651 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 117 f., 121, 123. 1652 Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 26, 115.



4.3 Grenzphänomene: Auslaufen aus dem Landgebiet 

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Befund kann zunehmende Gewöhnung der evangelischen Laien, Amtleute und Priester sowie die Fokussierung der Synode auf sittliche Fragen stehen. Möglich ist aber auch ein tatsächliches Abnehmen dieser Form altgläubiger Zugehörigkeitsartikulation, fast ein Jahrzehnt nach dem Reformationsbeschluss. Immerhin, verschwunden sind die Ausläufer nicht. Sie zeigen sich meist im äußersten Norden des Territoriums in und um Geislingen, dessen zahlreiche altgläubige Bewohner ihre schon früh von den Evangelischen beobachtete Führungsrolle auch für das Umland beibehalten und sogar ausbauen. Die Ausläufer aus Geislingen und Altenstadt gehen nach Eybach, für jene aus Stötten liegt keine entsprechende Aussage vor, jedoch darf vermutet werden, dass es auch sie in die benachbarte Enklave zieht. Bemerkenswert ist, dass die Geislinger wegen der in Ulm verbotenen Weihen von Wachs und Palmzweigen in der Vorosterzeit wegziehen.1653 Diese Sakramentalien, deren distinktive Bedeutung bereits in Bezug auf die allgemeine Praxis beobachtet wurde und die sich auch in der polemischen Literatur niederschlägt,1654 schreiben sich hier in einen geographischen Kontext ein: Die Sakramentalien bringen die Geislinger Altgläubigen in Bewegung und haben für sie eine so große kulturelle Bedeutung, dass sie diese vorgeblich alten Artefakte und die damit zusammenhängenden „alten“ Bräuche an einem neuen Ort suchen. Als einziger Ort aus dem Südteil des Territoriums wird Holzschwang auffällig, von wo Auslaufen zu Kirchweihfesten im Umland vermeldet wird.1655 *** Das Auslaufen von Gläubigen aus der Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet hat sich als ein komplexes, dynamisches und innovatives Phänomen altgläubiger Kultur erwiesen, dessen schöpferischer und identifikationsträchtiger Charakter bisher übersehen wurde. Drei Dimensionen des Auslaufens haben sich als maßgeblich herauskristallisiert: eine soziale, eine zeitliche und eine räumliche. Sozial-religiöse Gemeinschaften entstehen in der frühen Reformationszeit situativ und durch Handeln. Sie sind bestenfalls schemenhaft präexistent und werden durch die Praxis und deren Wiederholung verfestigt. Das Auslaufen untermauert diese Annahme, die im zweiten Teil dieser Arbeit als Grundsatz der altgläubigen Zugehörigkeitskonstruktion durch die Ausübung distinktiv werdender Rituale und Artefakte dargestellt wurde, auf besonders eindrückliche Weise. Die Bewegung einer zuvor womöglich disparaten Menschengruppe zur selben Zeit in derselben sozialen Konfiguration auf dasselbe geographische und religiöse Ziel hin dürfte ein zumindest situatives Gemeinschaftsgefühl schaffen durch Integration sowie Abgrenzung gegenüber den evangelischen Laien, Priestern und Obrigkeiten, die nicht an der Bewegung

1653 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 137–140, 151 f. 1654 Vgl. Kap. II. 2.4. 1655 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 170.

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 4 Auf dem Weg zum Heil: Das „Auslaufen“ der Ulmer Altgläubigen

teilnehmen. Die Verhöre der Ulmer Ausläufer von 1532 zeigen, dass sich überzeugte Altgläubige mit Laien vermischen, die ihr deviantes Handeln zu vertuschen oder zu relativieren versuchen. Hinzu kommen die Gläubigen, die zumindest vorgeben, „nur“ eine alte Praktik durchgeführt zu haben. Diese alte Praktik findet nun aber an einem anderen Ort unter graduell veränderten rituellen und materialen Bedingungen statt. Selbst wenn sie es nicht beabsichtigt haben: Nicht nur aus der Perspektive der Evangelischen wird ihre „alte“ zur „papistischen“ Praxis und ihre Zugehörigkeit im Moment des Auslaufens klar fassbar. Aus Christen werden Altgläubige, die sich als Gruppe zusammenfinden, bewegen und als solche wahrgenommen werden. Wie wechselhaft diese Gemeinschaftsbildungen sind, haben die statistischen Analysen der Ausläufergruppen aus Ulm 1532 und 1535 gezeigt: Der Frauenanteil erhöht sich, die soziale Zugehörigkeit ist niedriger und die personelle Kontinuität ist gering. Verdichtung wird somit weniger durch dieselben Beteiligten, sondern eher durch die Wahrnehmung des Auslaufens als repetitives und klar in seiner religiösen Bedeutung verortetes Phänomen erreicht. Dieselben Zielorte, dieselben angestrebten Rituale und Wege machen die innovative Praxis des Auslaufens, die anfangs von den Protagonisten als zeitlich befristetes Provisorium angesehen wird, zu einer wiedererkennbaren Kulturform der Altgläubigen. Wer Ende der 1530er-Jahre an dieser teilnimmt, tut dies auf zunehmend selbstverständliche Art. Der Raum wirkt dabei formatierend in Bezug auf diesen Gemeinschaftsbildungsund Verstetigungsprozess. Die topographische Analyse hat die Repetitivität der Ausgangs- und Zielorte und Wege deutlich gemacht. Durch ihre Bewegung durch die Straßen Ulms, durch die Tore oder aus den Dörfern hinaus werden die Gruppen sichtbar und räumlich separiert bzw. als kohärent wahrnehmbar, zumindest für Außenstehende. Zudem hat das Auslaufen einen komplexen Effekt auf die Konstitution des Ulmer Territoriums. Grundsätzlich handelt es sich um ein Phänomen der territorialen Peripherie: Andere Herrschaften oder Enklaven müssen nahe sein – und das sind sie nun mal in der Nähe der „Grenzen“. Auch die Reichsstadt selbst liegt geographisch gesehen im Süden am Rande des Territoriums. Die Grenznähe ist umso entscheidender, als dass der Magistrat während der 1530er-Jahre nicht ganz ohne Erfolg fremde Patronatsherren aus seinem Herrschaftsgebiet drängt, Rechte kauft oder tauscht. Das Grenzphänomen des Auslaufens hat nun auf die politische „Grenze“ – also den Bereich, in dem die Rechte, Besitzungen und Herrschaftsansprüche des Ulmer Rats ausfransen  – einen doppelten Einfluss. Zum einen macht das Auslaufen die Grenze sichtbar, spürbar und klar. Sie wird von einer politisch-juristischen auch zu einer religiösen Übergangszone. Die religiöse Landschaft und deren Rituale verändern sich, wenn man die Grenze übertritt. Die wiederkehrenden Verbote und Eingriffe des Rats gegen das Auslaufen verfestigen die Wahrnehmung des Übergangs und laden diesen mit der Symbolik des Verbotenen auf. Zum anderen wird die Grenze aber auch geschwächt: Die Verbote werden im Untersuchungszeitraum kaum eingehalten und die Grenze häufig überschritten. Sie wird somit zugleich stärker fixiert und poröser.

5 Die Differenz in der Zeit 5.1 Kristallisationsmomente: die Zeitlichkeit der Unterschiede Differenz ist auf verschiedene Weise ein zeitlich gebundenes Phänomen, dem in diesem Kapitel explizit nachgegangen wird. Nicht alles macht immer und überall den Unterschied. Auf vielfältige Weise ist in dieser Arbeit bereits deutlich geworden, dass die distinktiven Praktiken von Territorium zu Territorium, von Stadt zu Stadt und von Region zu Region teils höchst unterschiedlich sein können. Die Situationen, konkreten Praktiken und Artefakte, deren spezifische Rezeption aus Christen Altgläubige macht, sind äußerst heterogen. Streitmomente und Gemeinschaftsbildungen sind aber auch Chronologien sowie jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen. Religiöse Gemeinschaften, deren Entstehung bisher auf vielfältige Weise nachvollzogen wurde, sind in der frühen Reformationszeit situative Konstrukte, die erst langsam und nicht in allen Fällen Verstetigung finden. Oft sind sie an einen bestimmten Vorfall, einen bestimmten Gegenstand oder einen bestimmten Kontext gebunden, kurzum: soziale Figuren, die zeitlich und räumlich gebunden sind. Das Kirchenjahr hält mit seinen lange eingeübten und lokal verwurzelten Brauchtümern, Feiertagen und Ritualen ein weites Feld an potenziell wiederkehrenden Differenzierungsmöglichkeiten bereit. Je nach Region, örtlichen Vorbedingungen, personellen Konstellationen und der Art der evangelischen Kultur, mit der die Altgläubigen konfrontiert werden, verschieben sich die konfliktträchtigen Momente im Jahresverlauf und über die Jahre hinweg. Sie können unregelmäßig verstreut liegen, oder fokussiert auf bestimmte Jahreszeiten und Ereignisse. Aus dieser Studie lassen sich fünf idealisiert Zeittypen zusammenfassen, in denen Differenz erwächst oder wiederkehrt. Die jeweiligen Fallbeispiele wurden allesamt bereits ausführlich behandelt, weshalb sich eine detaillierte Diskussion der Vorkommnisse an dieser Stelle erübrigt. (1) Erstens ist dabei die schon bei der Diskussion der Kommunions-, Buß- und Fastendifferenzen festgestellte Kristallisation der Unterschiede während der vorösterlichen Fastenzeit und an den Ostertagen selbst zu nennen. Diese Zeitkategorie zeigt sich vor allem in den Fallstudien, in denen sich altgläubige gegen lutherische Kulturen entwickeln. Vor und während Ostern konnte in Bayern, Regensburg und Passau sowie in Ostwestfalen immer wieder eine außergewöhnliche Konfliktträchtigkeit und -dichte beobachtet werden. Das Essen von Fleisch als ostentativer Bruch des laut Luther unnützen, menschengemachten Fastengebots wirkt auf die Altgläubigen nachdrücklich und wird in den Quellen der genannten Fallgruppen häufiger thematisiert als in Ulm, Rouen und Paris. Die Häufigkeit des quellenmäßigen Niederschlags spiegelt die Relevanz der Speisepraxis. So führt in Altötting 1523 das Essen eines Rinderbratens durch mutmaßlich lutherische Bewohner zu einer Denunziation beim Rentmeister. Der ostwestfälische Laienbruder Göbel Schickenberge berichtet von einer ausführlichen Reise in die Niederlande während der Fastenzeit 1532. In den DOI 10.1515/9783110492460-019

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Wirtshäusern und Raststätten beobachtet er genau, ob die Gäste (verbotenerweise, Göbels Meinung nach) Butter konsumieren bzw. ob die Wirtsleute diese zur Verfügung stellen. Der Mönch bittet dann darum, dass seine Mahlzeit mit Öl gekocht wird. Die Fastenpraxis stellt ab der Mitte der 1520er-Jahre bei seinen Reisen etwa nach Kassel, Braunschweig oder Göttingen ein zentrales Kriterium dar, um zu beurteilen, zu welcher Religionsgemeinschaft die Bewohner mehrheitlich gehören. Diese Wahrnehmungsordnung hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Göbel gewohnheitsmäßig während oder v. a. kurz nach der Fastenzeit verreist. Dass neben der Zerstörung der Heiligenfiguren und der lateinischen bzw. deutschen Messe das Fasten eine derartige Bedeutung erhält, spricht jedoch für dessen herausstechende distinktive Funktion vor und nach der Osterzeit in Ostwestfalen und den angrenzenden Städten und Territorien. In Verbindung damit steht die Bußpflicht, der gemäß der spätmittelalterlichen Traditionen bis zu dreimal während der Fastenzeit Genüge getan werden muss. Insbesondere im Herzogtum Bayern und im Hochstift Passau gilt die Frage, ob die Gläubigen dieser Pflicht nachkommen, als ein distinktives und von den Obrigkeiten immer schärfer kontrolliertes äußeres Merkmal innerer religiöser Überzeugungen. Die zweimalige Beichte, vorher offenbar lax gehandhabt, wird im Hochstift Passau nun zum konsequent überwachten Gradmesser für die religiöse Zugehörigkeit. Nur wer der Beichtpflicht nachkommt, darf der Norm nach zur österlichen Kommunion gehen. Die konkrete Kommunionspraxis zu Ostern wird dort, wo altgläubige gegen lutherische Kulturen stehen, zum jährlich wiederkehrenden Differenzierungsmoment. Wird der Laienkelch angeboten, müssen sich die Gläubigen entscheiden, ob sie ihn annehmen oder ob sie in der Gemeindekirche sitzenbleiben bzw. einen anderen Priester in der Stadt oder dem Nachbardorf aufsuchen. Ist diese Flexibilität, wie wir sie v. a. in Ostwestfalen vorgefunden haben, in einem altgläubigen Territorium wie Bayern oder Passau nicht gegeben, so macht die Präsenz oder die Absenz bei der Austeilung des corpus Christi die innere Haltung deutlich. Diese distinktiven Möglichkeiten rund um die Feier des Abendmahls kristallisieren die Unterschiede heraus, da sie diese für die Priester und die anderen Gläubigen sichtbar machen. So bilden die zeitlich zusammenfallenden und jährlich wiederkehrenden Praktiken des Fastens, Beichtens und der Osterkommunion ein distinktives Ritualensemble. Dies wird nicht zuletzt in den antilutherischen Mandaten deutlich, die die Herzöge von Bayern und der Fürstbischof von Passau erlassen. Vielfach fällt deren Publikation in die Anfangszeit der Fastenwochen und schärft regelmäßig während der 1520er-Jahre die drei anstehenden Praktiken ein, welche den guten, alten Christen vom lutherischen „Ketzer“ unterscheiden: das Fastengebot, die Beichte und die Kommunion sub una specie. Brisanz erhält dieses Ritualensemble nicht zuletzt dadurch, dass es sich um Praktiken handelt, die einerseits zentral sind für das Seelenheil und andererseits traditionell für das gemeinschaftliche Erleben von Religion im Jahresverlauf stehen.



5.1 Kristallisationsmomente: die Zeitlichkeit der Unterschiede 

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(2) Weiterhin können Feiertage und die dazugehörigen Rituale zu wiederkehrenden Differenzmerkmalen werden. Die Verdichtungen der Distinktionen sind hier deutlich vielfältiger und stärker über das Kirchenjahr verstreut als in der ersten Kategorie der (vor-)österlichen Praktiken mit ihrem allgemein recht klaren Handlungs- und Erwartungsprofil. Feiertage und die Differenzen darum können sich auf Marien- und Heiligentage oder auf das Kirchweihfest ebenso beziehen wie etwa auf Fronleichnam. Zu nachhaltigen distinktiven Unterschiedsbildungen rund um die Feiertage kommt es insbesondere in protestantischen Gebieten – andernorts hat das „normale“ Beachten alter Feiertagsbräuche eher weniger Konfliktpotenzial. In der Reichsstadt Ulm konnte das massenhafte Auslaufen altgläubiger Laien in fremde Territorien oder Kirchen an Mariä Himmelfahrt sowie an Christi Himmelfahrt beobachtet werden. Die Gläubigen befolgen damit eine zwischenzeitlich verbotene Feiertagstradition, sind aber gezwungen, die dazugehörigen Bräuche an anderer Stelle und unter anderen materialen und rituellen Bedingungen durchzuführen. Andere gehen an diesen Tagen vorreformatorischen Gelübden nach, die nun kriminalisiert werden. Die Bewegung im Raum an den Feiertagen macht die Devianz nach außen sichtbar und schafft Kohärenz innerhalb der Ausläufergruppe. Feiertage bieten auch darüber hinaus mannigfaltiges Konfliktpotenzial: Sollen am deren Vorabend die Glocken geläutet werden? Wie sieht es mit dem früheren Arbeitsverbot oder manchen Fastengeboten aus? Dürfen – oder sollen – bestimmte Praktiken weiter durchgeführt werden? Schon die Anrufung der Tagesheiligen während der Messe kann zu Spannungen und Gottesdienststörungen führen, etwa im lippischen Dorf Heiligenkirchen 1537. Das Fronleichnamsfest sorgt für Streit v. a. in jenen Fallgruppen, in denen zwinglische Kulturen auftreten. Weniger die Frage nach dem Laienkelch, sondern nach der Substanz und der damit zusammenhängenden rituellen Inszenierung des Altarsakraments wird dort zur religiösen Wasserscheide. So will z. B. 1529 der zwinglische Geistliche in Leipheim, einer Stadt im Ulmer Landgebiet, das Glockenläuten symbolträchtig am Vorabend von Fronleichnam einstellen und damit ein Zeichen setzen gegen den „Brotgott“, den die Altgläubigen jedoch weiter verehren wollen und deshalb an den Ulmer Magistrat supplizieren. Auch in Paris ist es auffällig, dass der erste große Ikonoklasmus 1528 in der Nacht zu Pfingstmontag verübt wird und König Franz I. dazu bewegt, die wenig später folgende Fronleichnamsprozession abweichend von der herkömmlichen Route, am geschändeten Bild, vorbeiziehen zu lassen. Die Feiertagsrituale mit den darum entstehenden Auseinandersetzungen liegen zeitlich weniger geballt als die österliche Kristallisationszeit. Die Wirkung der von ihnen ausgehenden Konflikte ist somit gleichmäßiger über den Jahresverlauf verteilt, birgt aber auch ein ständiges, wenn auch weniger dezidiertes Spaltungspotenzial. (3) Zu den weniger repetitiven Kristallisationsmomenten in der religiösen Lebenswelt des Volks und des niederen Klerus zählen Predigten. Denn neben den regelmäßigen Fasten- und Passionspredigten oder den Ansprachen an Feiertagen oder mitunter am Sonntag kommt es auch zu spontanen Predigten von Reformatoren und altgläubi-

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gen Theologen oder Priestern. Zudem ist der Inhalt der Predigten – ob kontrovers oder nicht  – nicht immer absehbar. Dass darum Differenzen entstehen, zumal im zeitlichen Umfeld von kirchlichen Hochfesten oder während der Fastenzeit, ist ein Phänomen, das in allen fünf Fallgruppen auftaucht. Schließlich hat die neuere Forschung die enorme kulturelle und formative Bedeutung altgläubiger Postillen in der Frühzeit der Reformation herausgestellt.1656 Unfrieden entsteht etwa, wenn ein altgläubiger oder ein protestantischer Geistlicher öffentlich predigt und dabei bewusst einen kontroversen Ton anschlägt bzw. seine Ansprache mit provozierenden Einführungen beginnt. So kommt es in Ulm 1524 zu einem Handgemenge zwischen einem Teil der Gemeinde und dem altgläubigen Priester Melchior Gienger, der das Volk vor Beginn seiner Predigt zum Mariengebet auffordert. In Paris finden im aufgeheizten Klima der Fastenzeit 1533 offensive altgläubige Predigten von mitunter bekannten Geistlichen wie Beda und Le Picart statt, die beinahe zu einer altgläubigen Volksbewegung führen, weswegen die Priester dann auch verhaftet werden. Nach Reparationsprozessionen oder im Kontext von Hinrichtungen, aber auch nachdem in Dörfern und Kleinstädten „Häretiker“ entdeckt worden sind, werden in Rouen Prediger zur Ermahnung und Aufrüttlung der Laien ausgesandt. Im Herzogtum Bayern, insbesondere in München und in Ingolstadt, arbeitet mit Johannes Eck nicht nur einer der einflussreichsten altgläubigen Theologen, sondern auch ein ausgesprochener Vielprediger. Derlei Ansprachen polarisieren und können, wie das Beispiel des Klosters Söflingen im Jahr 1531 zeigt, zu einem Magnet für reformationsfeindliche Gläubige werden können. Nicht zuletzt deshalb gibt es in großer Zahl Kämpfe um das Recht, zu predigen. In Regensburg intervenieren 1534 und 1535 der Bistumsadministrator sowie die von diesem hinzugezogenen Bayernherzöge und König Ferdinand, um die lutherische Predigt in der Reichsstadt zu verhindern – mit Erfolg. Im lippischen Salzuflen setzt sich 1531 ein lutherischer Prediger fest, der dem alten Pfarrer seine Gemeinde abspenstig macht – mit Erfolg. Die Reformationszeit ist zudem ein Predigtwettbewerb. Daraus entsteht nicht selten eine Dynamik des Polemischen, deren Kontrolle den Obrigkeiten schwer fällt. Im Geislingen z. B. stehen ab 1527 ein evangelischer und ein altgläubiger Geistlicher gegeneinander. Ursprünglich sollten sie zur selben Zeit predigen, tatsächlich versetzen sie ihre Ansprachen zeitlich, so dass beide auf das eingehen können, was der andere zuvor gesagt hat. Predigten implizieren dabei die Partizipation der Laien. Deren Präsenz und Verhalten während der oft sehr langen Ansprachen machen deutlich, wie sie sich zum vorgetragenen Inhalt verhalten. Wenn das Volk die Wahl hat, geht es wohl meist zum Prädikanten der jeweils eigenen Gruppe. Auch schlicht das Fernbleiben von der evangelischen Predigt sagt etwas über die Handelnden aus. So weigert sich der Ulmer Gilg

1656 Vgl. Frymire, Postils (wie Anm. 42).



5.1 Kristallisationsmomente: die Zeitlichkeit der Unterschiede 

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Röslin 1532, zur Predigt in seiner Stadt zu gehen. Er besucht stattdessen lieber den Gottesdienst im Kloster Söflingen. (4) Zumindest nicht exakt vorhersehbar sind Geburten und Todesfälle. In einer Zeit, als der Tod nahezu alltäglich und die Kindersterblichkeit hoch ist, handelt es sich um gesellschaftlich und lebensweltlich sehr präsente Ereignisse. So bieten sie mannigfaltigen und meist spontanen Anlass zur Differenzbildung zwischen Altgläubigen und Protestanten. Distinktionsbedarf ergibt sich für die Altgläubigen dabei v. a. in den Städten und Territorien, in denen sie mit protestantischen Obrigkeiten oder einer starken evangelischen Bewegung in einem offenen Raum der kulturellen Möglichkeiten konfrontiert sind. Aus dem Ulmer Landgebiet gehen nach 1531 immer wieder Gläubige bzw. Hebammen in benachbarte Orte, um dort Neugeborene taufen zu lassen – sicherlich mit Weihwasser und dem Exorzismus. Beides hatten die zwinglischen Obrigkeiten zuvor verboten. In Ulm werden Geburten zu einem zeitlich nicht exakt festlegbaren, familiär-individuellen Konfliktmoment. In lutherischen Taufriten hingegen bleiben Exorzismen lange erhalten. In Regensburg, der Grafschaft Lippe, Herford oder Lemgo ist das Konfliktpotenzial mit den reformatorischen Mehrheitsbewegungen rund um die Taufe also geringer und in den Quellen kaum einschlägig. Der Tod und die Rituale, die diesen begleiten und auf diesen folgen, sind im Spätmittelalter soziale Ereignisse. Ähnlich wie Geburten, verstreuen sich Konflikte um den Umgang mit dem Tod ohne festgelegten Kalender, über das ganze Jahr und betreffen Familien, den Berufskreis, religiöse Vereinigungen, die Nachbarschaft und in kleineren Ortschaften das gesamte Dorf. Die möglichen Auseinandersetzungen sind äußerst vielfältig und betreffen, anders als bei der Geburt, sowohl Konflikte mit lutherischen, als auch mit zwinglischen Kulturen und somit alle Fallstudien, in denen sich protestantische Kulturen offen äußern können und umgesetzt werden. Die Bandbreite der Unterschiede ist groß. In der Reichsstadt Ulm werden Versehgänge der Altgläubigen verspottet, im Landgebiet dauern das Totengeläut und die Begleitung des Verstorbenen in Prozessionen zur Kirche auch nach 1531 weiter an. Auseinandersetzungen dazu, sei es zwischen den Laien, zwischen Laien und Priestern oder zwischen dem Volk und der Obrigkeit, können zu situativer Lagerbildung führen und grundsätzlich verschiedene Vorstellungen vom Tod und dem Weg zum Seelenheil offenbaren. In Regensburg wiederum wird über die Frage gestritten, ob ein „Ketzer“ – er hatte sub utraque specie kommuniziert  – auf dem Friedhof vor der Kathedrale, in geweihter Erde, beerdigt werden darf. Die Frage nach der Lage der Friedhöfe, ob Mitten in der Gemeinde, die durch das Totengedenken weiter in Verbindung mit den Verstorbenen steht, oder ob außerhalb der Stadttore, bleibt dort über einige Jahre akut. (5) Noch unvorhersehbarer für die Autoritäten und die breite Masse, noch seltener und nur manchmal an den liturgischen Kalender gebunden, sind „Skandale“ und Provokationen. Anders als etwa der Tod einer Einzelperson oder die Geburt, haben diese Ereignisse jedoch große soziale und kulturelle Ausstrahlungskraft über Teilgruppen der Gesellschaft hinaus. Sie haben singulär-symbolischen Wert und können von der Masse rasch distinktiv eingeordnet werden. „Skandale“ polarisieren und

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stellen vielfach eine außergewöhnliche, aber in ihren Folgewirkungen zeitlich mitunter begrenzte Übersteigerung bekannter Konfliktpunkte dar. In diese Kategorie fallen Marienschändungen, die in Paris und Rouen etwa im Jahr 1528 für heftige und sehr ähnliche, nämlich auf Reparation und Repressionen beruhende Reaktionen provozieren. Insbesondere die Prozessionen verdeutlichen die Ausnahmesituation, etwa wenn selten öffentlich gezeigte Reliquien mitgetragen werden, und heben den präzisen Moment aus dem Fluss der Zeit heraus. Dieselbe temporale und soziale Logik liegt der Reaktion auf die Plakataffäre zugrunde, wenngleich auch der Zeitabschnitt sowohl der Verteilung der Flugblätter als auch der darauf folgenden Prozessionen und Hinrichtungen länger ist. Allgemein sind Ketzerverbrennungen –in jenen Jahren in meinen Fallstudien ein v. a. französisches Phänomen – einzelne Kristallisationsmomente der Unterschiede, in denen deviante Verhaltensweisen angeprangert und die „guten“, altgläubigen Rituale bekräftigt und in Szene gesetzt werden. Herausstechende „Skandale“ können wiederum aus evangelischer Sicht das altgläubige Auslaufen aus Ulm oder die demonstrative Durchführung eines Fronleichnamsumzugs oder einer Wallfahrt sein, wie sie der Biberacher Messpriester Heinrich von Pflummern vollzieht. Hier wiederum besteht, aus altgläubiger Perspektive, der kulturelle Hintergrund im affirmativen und oft kollektiven Herausstellen eines nach der Reformation verbotenen oder von den Evangelischen kritisierten Rituals. Doch welche tiefergehenden sozial-religiösen Strukturen stecken hinter diesen zeitlich gebundenen altgläubigen Handlungen? Welche Faktoren können dazu führen, dass Kristallisationsmomente wiederkehren, akzeptiert werden und möglicherweise sogar von Dauer sind, d. h. zu identifikationsspezifischer Gemeinschaftsbildung führen? Dieser Frage nach der soziokulturellen und strukturellen Bedingtheit zeitlicher Differenzentwicklungen wird in der Folge nachgegangen.

5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung In diesem abschließenden Unterkapitel werde ich der Frage nachgehen, auf der Grundlage welcher rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen sich altgläubige Gemeinschaften auf den verschiedenen politischen und territorialen Ebenen bilden und wie die konkreten sozialen Konfigurationen dieser Gemeinschaftsbildungen und der religiösen Differenzierung aussehen. Diese abschließenden Fragen zu stellen, erscheint mir als dringendes Forschungsdesiderat, da der Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-politischer Struktur und religiösen Entwicklungen in der frühen Reformationszeit zwar eine überaus reiche Historiographie hervorgebracht hat, diese sich jedoch meist auf die reformatorischen Bewegungen, deren Scheitern oder Durchsetzung bezieht. Dabei entstand in den letzten Jahren ein vermehrtes Interesse an den altgläubigen Strategien in diesem Bereich. Hier stehen also nicht die interterritoria-



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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len oder fraktalen Staatsgefüge und deren Zusammenspiel als Chance und Problem für die Altgläubigen im Vordergrund, sondern die zeitliche Genese altgläubiger Religionsgemeinschaften in Verbindung mit kommunalen, urbanen oder ständischen Gegebenheiten.

5.2.1 Eine reiche Historiographie Die deutschen Forschungstraditionen der Stadt- und Gemeindereformation sowie vergleichbare neuere Tendenzen der französischen Historiographie haben den Zusammenhang zwischen städtischer bzw. dörflicher Verfassung und religiöser Spaltung in der Reformationszeit herausgearbeitet. Die Definitionen der Konzepte von Stadt- und Gemeindereformation sind ebenso vielschichtig und komplex wie die Historiographie, die sich seit den 1960er-Jahren zu diesen Themen entwickelt hat. Peter Blickle geht in seiner Monographie Gemeindereformation (1985) vom Zusammentreffen zweier Strömungen in der Eidgenossenschaft und Oberdeutschland aus: Kommunalistische Bestrebungen der Dorfgemeinden und Kleinstädte verlangen nach dem Erwerb und Erhalt politischer Selbstverwaltung, die u. a. in gemeinsamen Entscheidungsfindungen und gewählten Gemeindevertretern zum Ausdruck kommt. Kulturell gestützt werden diese Bestrebungen demnach durch ein spezifisch dörfliches Werteund Kultursystem, das geprägt ist von der Prämisse des „gemeinen Nutzens“. Bauern und Bürger verlangen zudem nach kirchlicher Selbstbestimmung, etwa hinsichtlich der Verwaltung des Fabrikguts und der Pfarrerwahl. Diese kommunale Autonomie muss um 1500 in Süddeutschland immer wieder gegen die Obrigkeiten und die beginnende Territorialisierung mit bewaffneten Aufständen verteidigt werden. Auf diese Strömungen trifft die frühe Reformationstheologie mit der Forderung nach der Freiheit der Christen und dem Rekurs auf das Evangelium, das den Laien zugänglich gemacht werden soll.1657 In den vergangenen 30 Jahren wurde immer wieder Kritik an diesem Konzept laut, aber auch Verfeinerungen und vielschichtige neue Blicke auf Landgemeinden in der Reformationszeit entwickelt. Trotz des offensichtlichen Nuancierungsbedarfs hat die „Gemeindereformation“ kaum an Stichhaltigkeit eingebüßt.1658 Gleiches gilt für das Konzept der Reichsstadt-Reformation von Bernd Moeller, die in den vergangenen Jahrzehnten durch andere Modelle ergänzt und in ihrer Singularität relativiert worden ist, etwa durch die Hypothese von der Hansestadtreformation Heinz Schillings. Moeller argumentiert in seiner Studie Reichsstadt und Reformation (1962), dass die evangelische Glaubenserneuerung lediglich den spätmittelalterlichen

1657 Blickle, Peter: Gemeindereformation. Die Menschen des 16.  Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. München 1985. 1658 Vgl. Dixon, Contesting the Reformation (wie Anm. 356), S. 104–106.

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 5 Die Differenz in der Zeit

Prozess beschleunigt, in dem die Magistrate immer mehr Kontrolle und Einfluss über kirchliche Angelegenheiten erlangten. Die Städte begreifen sich selbst als kollektive Heilsgemeinschaft und als corpus christianum. Die Leitwerte der Einheit und Gerechtigkeit hätten sich so mit den Predigten der evangelischen Reformer gedeckt. Andere Historiker wie Thomas Brady stellten hingegen die hohe interne Konfliktträchtigkeit der Stadtreformationen heraus. Weitgehender Konsens besteht in der Forschung dahingehend, dass die Haltung der Magistrate und Ratsoligarchien von entscheidender Bedeutung für die Durchsetzung der Reformation ist.1659 Schlaglichtartig wird auch deutlich, dass die jüngere Forschung den Zusammenhang zwischen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und dem Wandel der „katholischen“ Religionskultur immer stärker beachtet. Selbst in Deutschland mit seiner starken kirchengeschichtlichen Tradition wird Religion immer seltener als ein isoliertes Phänomen untersucht, sondern in seinen strukturellen Bezügen kontextualisiert. So bezog Marc R. Forster in seiner Studie über die Konfessionsbildung im Hochstift Speyer immer wieder die dörflichen Strukturen und Mentalitäten mit ein. Er ging den wechselseitigen Erwartungen im Beziehungsgeflecht zwischen Gemeinden, Pfarrern, Gemeindevertretern sowie der Obrigkeit nach.1660 Werner Freitag stellt in seiner Arbeit über das Dekanat Vechta das Agieren und das Widerspiel der Pfarreien und Dorfverbände  – verstanden als Pfarrgenossenschaft und deren Repräsentanten sowie als Rechtssystem des Dorfs – mit den Geistlichen, Kirchherren und den Obrigkeiten in den Mittelpunkt. Priester befinden sich dabei im 16. Jahrhundert oft am Knotenpunkt zwischen Anstaltskirchlichkeit und staatlicher Herrschaftsverdichtung einerseits und traditionellen Formen von Gemeinschaft und Herrschaft andererseits. Jede Gruppe hat (graduell) unterschiedliche Wahrnehmungen von und Erwartungen an religiöses Verhalten, rituelle Dienstleistungen und die Einbindung in das gesellschaftliche System.1661 Der altgläubigen Gemeinschafts- und Konfessionsbildung im städtischen bzw. dörflichen Kontext mit den entsprechenden Strukturen und Staatsbildungsprozessen haben sich weiterhin Wilfried Enderle für die Reichsstadt Überlingen und Andreas Holzem für das Fürstbistum Münster angenommen, letzterer allerdings erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.1662 David

1659 Moeller, Bernd: Reichsstadt und Reformation. Gütersloh 1962 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 180); Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung (wie Anm. 208); Dixon, Contesting the Reformation (wie Anm. 356), S. 106–109. 1660 Forster, Counter-Reformation in the Villages (wie Anm. 32). Ähnlich Flüchter, Zölibat (wie Anm. 44). 1661 Freitag, Dekanat Vechta (wie Anm. 232). 1662 Enderle, Wilfried: Konfessionsbildung und Ratsregiment in der katholischen Reichsstadt Überlingen (1500–1618) im Kontext der Reformationsgeschichte der oberschwäbischen Reichsstädte. Stuttgart 1990 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B, Forschungen 118); Enderle, Wilfried: „Keine Reformation in Überlingen“. Ein Erklärungsmodell der konfessionellen Beharrung der Bodenseestadt. In: Schriften des Vereins für die



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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Mayes wiederum hat die Konfessionsbildung auf verschiedenen politischen Ebenen in Nordhessen im 16. und 17. Jahrhundert nachvollzogen und sich dabei auf die dörflichen Pfarreien fokussiert, in deren Strukturen – von der Fabrik über die Gemeindevertreter bis hin zu Bürgermeistern, Pfarrern und Amtleuten – er die Prozesse der Glaubensspaltung in einer chronologischen Perspektive untersucht. Demnach seien die Laien bis zum Westfälischen Frieden auf Ausgleich und konfessionsfreien Zusammenhalt aus gewesen, während die Obrigkeiten ihre religionspolitischen Haltungen und konfessionellen Neuorientierungen durchsetzen wollten. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wiederum hätten es die Gemeinden jedoch auf die Beibehaltung der konfessionellen Propria abgesehen.1663 Auch für Frankreich liegen Studien vor, die sich mit dem Zusammenhang zwischen kommunaler und gesellschaftlicher Verfassung und religiöser Differenzierung mit einem Hauptaugenmerk auf den (künftigen) Katholiken befassen. Viele dieser Arbeiten beziehen sich allerdings auf die Zeit der Religionskriege und der Katholischen Liga, wobei zuletzt u. a. die Studien von Olivia Carpi zu Amiens und von Elizabeth C. Tingle zu Nantes hervorzuheben sind. In beiden Städten ist der Anschluss an die ligue, anders als in Paris, ein stabilisierender Faktor für die urbane Verfasstheit und wird maßgeblich von den lokalen Herrschaftsträgern, d. h. Magistrat und Kaufleuten, geprägt.1664 Für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ist besonders die Studie von Thierry Amalou über die städtischen Ausgleichs- und Kohäsionsmechanismen in Senlis hervorzuheben. Der Autor bettet die die Entstehung frühreformatorischer Bewegungen und die orthodoxe Reaktion darauf in den Kontext städtischer Institutionen ein. Er zeigt, dass bis in die zweite Hälfte des 16.  Jahrhunderts der Zusammenhalt der Stadt auch unter den Bedingungen der Glaubensspaltung gewährleistet werden konnte. Kollektive Praktiken, insbesondere Prozessionen, sorgen für Identitätsstiftung und mobilisieren die Bürger für ein übergeordnetes Ziel. Dies habe ebenso zur Beibehaltung einer weitgehend altgläubig geprägten Kohäsion geführt wie u. a. die starke Stellung des Domkapitels bei der rituellen Inszenierung der städ-

Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 111 (1993). S. 105–118; Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 958). 1663 Mayes, Communal Christianity (wie Anm. 961). 1664 Carpi, Olivia: Une république imaginaire. Amiens pendant les troubles de religion, 1559–1597. Paris 2005 (Histoire et Société. Essais d’Histoire Moderne); Tingle, Elizabeth C.: Authority and Society in Nantes During the French Wars of Religion, 1558–98. Manchester 2006. Vgl. ferner Benedict, Rouen (wie Anm. 267). Für einen älteren Überblick vgl. Kaiser, Wolfgang: Die „bonnes villes“ und die „Sainte Union“. Neuere Forschungen über die Endphase der französischen Religionskriege. In: Francia 13 (1985). S. 638–650. Zudem Missfelder, Jan-Friedrich: Forschungen zur Rolle der Städte während der Französischen Religionskriege (Rezension). In: Sehepunkte 7–11 (2007). http://www.sehepunkte. de/2007/11/11134.html (16.02.2015).

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tischen Einheit, die durchgehende Verehrung des Stadtheiligen Rieul und die humanistischen Reformen.1665 Differenzbildung und Manifestierung religiöser Identität kann sowohl individuell und teilgruppenbezogen als auch kollektiv erfolgen. Beide Spielarten werden in der Folge exemplarisch in den fünf Fallstudien dieser Arbeit gesucht und mit den politisch-gesellschaftlichen Strukturen in analytischen Bezug gesetzt. Wo liegen also die Bruchstellen in den Dörfern und Städten?

5.2.2 Allianzen und Differenzen: Binnendifferenzierung in Städten und Gemeinden Zum einen können in Kommunen offene und verdeckte Konfliktsituationen auftreten, die sich personell und kulturell über die Zeit so verstetigen, dass es zu religiösen und mithin sozialen Frakturen in den Dörfern und Städten kommt. Die konkreten Konfigurationen der Auseinandersetzungen ähneln dabei häufig spätmittelalterlichen Konflikten. Ein solcher besteht etwa in der Auseinandersetzung zwischen den Pfarrern und der Pfarrgenossenschaft. In der Ulmer Landgemeinde Altenstadt, in der während der 1530er-Jahre viele altgläubige Ausläufer leben, kommt es in den Monaten nach dem Erlass der evangelischen Kirchenordnung zu Differenzen zwischen Pfarrer und Volk. Der Richter Anton Vetter berichtet beim Examen im Herbst 1531, der Pfarrer habe sich „gar verwandelt aus dem Papsttum auf den rechten Weg.“ Seither predige er das Evangelium, obwohl er kurz zuvor klar altgläubig gewesen sei. Zwar behauptet der Amtmann, dass das Volk den Priester gern höre. Doch der befragte Laie beurteilt die Situation anders: Der rasche Zugehörigkeitswechsel bringe dem Geistlichen in Altenstadt „eine kleine Hinderung“. Auch der Pfarrer selbst klagt, dass zu seinen Predigten nur wenige Gläubige kommen, dafür aber einige in die Enklave Eybach zur Messe auslaufen. Es scheint also in Altenstadt Ende 1531 eine altgläubige Gruppe zu geben, die mit dem Kulturwechsel ihres Geistlichen und den damit verbundenen religiösen Folgen für die ganze Gemeinde nicht einverstanden ist.1666 Bezüglich Geislingen wird auf der Synode 1532 klar, dass die evangelischen Prädikanten in dieser altgläubigen Stadt einen sehr schweren Stand haben und vielfach auf Ablehnung und Anfeindungen unter den Laien stoßen. Wenn die Kirchenglocken zur Predigt läuten, werde dem Prädikanten Paul Beck zufolge gelästert, dass nun die Glocken des Teufels geläutet würden. Zudem intervenieren die Bewohner bei jenen, die zum evangelischen Glauben tendieren, und bedrängen sie mit der Frage: „[W]

1665 Amalou, Concorde urbaine (wie Anm. 682). 1666 Darüber hinaus herrscht in dem Ort offenbar eine regelrechte Konfusion. Ein weiterer Richter sagt beim Examen aus, dass der Pfarrer zwar die evangelische Wahrheit predige, aber in der Kirche gebe es Streit unter den Laien, warum er früher so nicht gepredigt habe. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 48.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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illt du auch von dem alten Glauben weichen?“ Dieses gemeindeinterne Drucksystem gegen evangelische Abweichler wirkt sich laut dem anderen Prädikanten, Konrad Gwinngut, auch gegen die evangelischen Geistlichen aus, die sich von den ihnen mehrheitlich feindlich gesonnenen altgläubigen Laien unter Druck gesetzt fühlen: „Item die Päpstler ziehen die andern Gutherzigen vom Wort ab. Auf Frag, wer die seien, so solche Laster üben und treiben, sagt er, es stehe ihm nit zu, man halt hievor ihn und Bruder Paulus für Verräter und sag man, sie wollten gern Geislingen auf den Fleischbank (Schlachtbank) geben.“1667 Die evangelischen Prediger werden demnach aus der städtischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Päpstler betrachten sie als Feinde, die die Geislinger wegen deren altgläubiger Haltung der Ulmer Obrigkeit ans Messer liefern wollten. Sicher kommen dabei auch kommunalistische Affekte und Erinnerungen der Geislinger an den gescheiterten Aufstand von 1514 zum Tragen. Die konfrontative Drucksituation auf die Geistlichen geht sogar so weit, dass sich Gewinngut aus Angst vor einer weiteren Verschlechterung seiner Stellung und seines Rufs zu keiner präzisen Denunziation bereiterklärt.1668 Aus Lonsee im Ulmer Landgebiet klagt bei der Synode vom Juni 1539 der Prädikant, dass es in der Gemeinde zwölf Personen gebe, die in den Häusern eines Peter Harder und im Haus des Wirts zusammenkommen. Peter Harder sei alt und gehe nicht in die Kirche. Bei ihren Treffen redeten die Männer gegen den Ulmer Rat, dessen Amtmann, den Prädikanten und den Schulmeister. Diese werden als Herodes, Pilatus „und dergleichen Verräter“ tituliert. Die altgläubige Stoßrichtung dieser Zusammenkünfte wird deutlich in der Beschreibung, dass die zwölf Gläubigen gegen die wahre göttliche Lehre verächtlich redeten. Im Entscheid heißt es folglich, dass der Amtmann die Gruppe stärker überwachen soll.1669 Hier zeigt sich, dass sich eine klar zu beziffernde Gemeinschaft mit einer eigenen Wissens- und Deutungskultur bildet, die sich auch räumlich separiert. In Einzelfällen führt der Konflikt zwischen Pfarrern und Laien im Ulmer Territorium sogar zu Gewalt. Auf der Synode 1539 berichtet der Prädikant des Weilers Holzkirch auf der Schwäbischen Alb von einer Begegnung mit dem altgläubigen Hans Miller: „Hans Miller, so dem Prädikanten auf den Osterabend begegnet ist, hat ihn mit sträflichen Worten angeredt, daß kein Prediger die Wahrheit predige, sondern die Pfaffen zu Westerstetten die sagen die Wahrheit; und wenn es die Wahrheit wäre, so würde es Ulrich Neithart und Ulrich Löw auch glauben, hat er gsagt und ihn mit einem Scherhammer schlagen wollen.“1670 Die Beobachtung, dass an den fragmentierten Rändern des Ulmer Territoriums Pfarrer anders predigen als in Ulm, zieht Hans

1667 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 55. Klammern in der Edition. 1668 Richter und Gemeindemann erwähnen von alledem nichts. Sie äußern sich grundsätzlich positiv über Lehre und Lebenswandel der Priester, die damit aber nicht sonderlich erfolgreich seien. 1669 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 144 f. 1670 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 156.

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 5 Die Differenz in der Zeit

Miller als Argument gegen die evangelischen Prädikanten heran. Denn wären deren „neue“ Lehren eine universelle Wahrheit, würde sie von allen – auch den Pfarrern in Westerstetten – geglaubt werden. Dass die Lehre diesen Beweis nicht erbringen kann, spreche gegen sie und deren Verkünder in Holzkirch, der daraufhin angegriffen wird. Über ähnliche Beispiele, in denen eine ganze Gemeinde oder einige Gottesdienstbesucher gegen evangelische Prediger vorgehen, verfügen wir etwa zu Paris, als in der Fastenzeit 1534 Gérard Roussel in Notre-Dame, protegiert von der Schwester des Königs, predigen soll, aber von den Laien als angeblicher Lutherischer daran gehindert wird.1671 In Rouen wiederum ist ein Karmelit, der intensiv gegen die neue „Häresie“ predigt, sowohl Opfer als auch Auslöser von Anfeindungen und Gewalt. Zwischen seinen Anhängern und Gegnern kommt es 1545 zu Handgreiflichkeiten, die in ihrem Hergang so exemplarisch sind, dass sie hier kurz näher behandelt werden sollen, obwohl sie einige Jahre außerhalb des Untersuchungszeitraums liegen. Der Bericht über den Vorfall stammt aus der Chronik eines angeblichen Augenzeugen vom Ende des 16. Jahrhunderts. Der Publikationszeitraum erklärt auch, warum in der Quelle die Anhänger der frühen evangelischen Bewegung als Calvinisten bezeichnet werden, obwohl noch zu Beginn der 1540er-Jahre die französischen Orthodoxen ihre Gegner als luthériens titulierten.1672 Der Chronist aus Rouen berichtet: Depuis que lesditz Calvinistes ont veu que leur nombre s’augmentait, ils ont bien ozé avoir la hardiesse de mal parler des prédicateurs, lesquels publiquement, en leurs chaires, les increppoient de s’abstenir de leurs hérésies. Et je suis certain que, de tous lesdits prédicateurs, ils ont toujours mesdit, et, entre les autres, d’un carme lequel leur estait fort contraire; car, luy faisant un dimanche la prédication, aux fauxbourgs Martainville, en la parroisse de Saint Paul, en son retour dudit lieu, il y en eut un ou plusieurs qui luy dirent des parolles non à dire. Le peuple les oyant mirent les mains sur eux, et aucuns furent blessés, les autres prins; les autres sesauvèrent, en passant par dedans la rivière d’Aubette.1673

Der Autor präsentiert eine Stadt, die bereits deutlich und mit zunehmender Tendenz religiös gespalten ist. Die Calvinisten seien immer stärker und vorlauter geworden. Altgläubige Prediger befeuern diese Binnendifferenzierung der Gläubigen und sind somit im sozioreligiösen Feld klar einzuordnen. Besonders hervor tritt ein Karmelit, der nach einer Predigt Opfer von Beschimpfungen wird. Die altgläubigen Laien eilen ihm zu Hilfe und schlagen die Protestanten gewaltsam in die Flucht. Der Geistliche kann sich also zu Beginn der 1540er-Jahre, als die kalvinistische Durchdringung der französischen Reformation schon deutlicherer ist als noch wenige Jahre zuvor, auf eine militante Anhängerschaft stützen. Gewalt wird aber auch aus anderer Richtung verübt, etwa wenn altgläubige Pfarrer mit evangelischen Gemeinden konfrontiert sind. 1524 drängen in Ulm aufge-

1671 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 167. 1672 Vgl. zur Taxonomie Kap. I. 2.1. 1673 Pottier, Relation des troubles (wie Anm. 307), S. 7.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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brachte Gottesdienstbesucher einen provokativ auftretenden altgläubigen Prediger von der Kanzel und jagen ihn aus der Kirche.1674 Aus der Reichsstadt Regensburg ist aus dem Jahr 1534 eine Handgreiflichkeit zwischen einem altgläubigen Pfarrer und einem lutherischen Bürger überliefert. Der Fall wurde bereits hinsichtlich der fraktalen Rechtskonfiguration behandelt, bei der nicht klar ist, wer in dem Konflikt Recht sprechen darf und politisch zuständig ist.1675 An dieser Stelle geht es um den konkreten Tathergang, der eine klassische Konfliktsituation der frühen Reformationszeit darstellt. Tag und Umfeld des Vorfalls sind höchst symbolträchtig: Es ist Mariä Himmelfahrt in der bekannten und umstrittenen Wallfahrtskirche Zur Schönen Maria in Regensburg. Dort predigt der altgläubige Pfarrer Kilian auf eine Weise, die den lutherischen Kirchenbesucher Hans Gulden herausfordert. Der Inhalt der Predigt dürfte sich an diesem Tag um die Marienverehrung und die Mittlerrolle der Jungfrau zwischen Christus und den Gläubigen gedreht haben  – für die Protestanten unter den Zuhörern eine Provokation. Es kommt zum Eklat, woraufhin der Pfarrer den aufmüpfigen Bürger beim Rat und dem Bistumsadministrator anzeigt. Gulden wird von Verordneten des Magistrats verhört, gesteht aber nur ein Wortgefecht („etliche redenn“) ein. Der Bericht des Pfarrers an die kirchliche Obrigkeit lautete allerdings anders und wird von Gulden natürlich rundheraus geleugnet. Der Pfarrer habe behauptet, „als solte ich in [Pfarrer Kilian, M. M.] in angezaigter hanndlung in dem meßgewant und ob oder vor dem altar uberloffen, bey dem arm herumbgerugt unnd mit vill lesterworten angetast haben.“1676 Der Pfarrer prangert einen heftigen physischen Angriff an, der offenbar nach Beendigung der Predigt stattfand, da sich Kilian im Messgewand im Chorraum der Kirche am Altar befindet. Offenbar dreht der Priester der Gemeinde in diesem Augenblick den Rücken zu, so dass ihn Gulden, der nach vorne stürmt, am Arm herumreißt und beschimpft. Leider ist der konkrete rituelle Zusammenhang – Messliturgie, Fürbitte, Mariengebet…?  – nicht überliefert. Dies nimmt dem Angriff jedoch nichts von seinem symbolischen Wert, handelt es sich doch, falls die Aussage des Pfarrers zutrifft, um ein Eindringen in den sakralsten Bereich des Gotteshauses und die Verhinderung der altgläubigen Verkündigung bzw. vorgeblich heilsrelevanter priesterlicher Dienstleistungen. Andererseits kommt es zu Allianzen zwischen Pfarrern und Gemeinden unter einer antireformatorischen Prämisse. Das eingängigste Beispiel hierfür sind sicherlich Pfarrer Oßwald und seine zahlreichen Anhänger in Geislingen. Oßwald mobilisiert vor der Reformation gegen die evangelische Lehre und den neuen Prädikanten Beck, ermahnt 1531 die Gläubigen zur Konstanz im alten Glauben und verbleibt danach in einem brieflichen Netzwerk mit seiner ehemaligen Gemeinde. Ansonsten

1674 StAU, A [5435], Bl. 19r–21v. 1675 Zu den Differenzen über die lutherische Predigt sowie über die rechtlichen Verwicklungen der infrage stehenden Auseinandersetzung vgl. Kap. III. 1.1. 1676 StAR, Reichsstadt, Eccl. I., 1, S. 120 f.

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 5 Die Differenz in der Zeit

schlagen sich derartige Allianzen in den Quellen aus protestantischen Territorien vor allem dadurch nieder, dass sie nicht sichtbar werden: Die Priester weisen auf keine Mängel oder Missstände in ihrer Gemeinde hin, während die Laien von keinen Auffälligkeiten oder Unstimmigkeiten mit ihrem Geistlichen berichten. Stattdessen geraten die Amtleute in den Fokus der Konflikte, da sie sich an der Schnittstelle zwischen gemeindlicher Organisation und obrigkeitlichen Normen befinden. Eine ganze Reihe von möglichen Binnendifferenzierungen zeigt sich in den Fallstudien. Aus Geislingen etwa sind gleich mehrfach harte Differenzen zwischen dem Vogt als Vertreter der Ulmer Obrigkeit und der Gemeindevertretung  – Bürgermeister und Rat – überliefert. Während die Amtleute versuchen (müssen), die zwinglisch geprägten Veränderungen der Religionskultur durchzusetzen und dabei dem protestantischen Prädikanten Paul Beck unter die Arme greifen sollen, unternehmen es Bürgermeister und Rat stellvertretend für eine große Gruppe der Pfarrgenossenschaft, altgläubige Kulturformen zu protegieren und zu ermöglichen. Daraus ergibt sich eine außergewöhnliche altgläubige Gemeindebewegung, die in ihrer kommunalistischen Verortung am Ende dieses Kapitels untersucht wird und deutliche Ähnlichkeiten zur evangelischen „Gemeindereformation“ in Oberdeutschland und der Eidgenossenschaft aufweist.1677 Einige Beispiele. In Altenstadt bilden sich 1537 gleich mehrere Gruppen, was zu einer Konfliktkonfiguration führt, die exakt zwischen den verschiedenen Funktionen und sozialen Zugehörigkeiten der Protagonisten verläuft. Der Amtmann denunziert vor den Obrigkeiten den Pfarrer, der den „Päpstlern“ anhänge. Viele Richter, also die Leitung der Dorfgemeinde, gehen demnach zu den Predigten des evangelischen Paul Beck nach Geislingen. Neben dem Amtmann stehen also auch die Richter mehrheitlich gegen den altgläubigen Pfarrer. Sie begründen dies in ihrer Aussage mit Schwierigkeiten bei der Taufe, Beerdigungen und dem Abendmahlsritus, der von der evangelischen Kirchenordnung abweiche. Der Mann aus der Gemeinde hingegen schätzt den Geistlichen wegen dessen Lehren und dessen Lebensführung.1678 Der Prädikant aus Leipheim behauptet bei der öffentlichen Befragung während der Synode vom Februar 1532, es gebe in der Stadt „dreierlei Meinung“, also drei Devianzen vom „wahren Evangelium“ zwinglisch-oberdeutscher Auslegung. Einige Priester laufen mit einem Teil des Volks aus, um außerhalb des Territoriums die Messe zu lesen. Andere Laien treffen sich in ihren Häusern, um dort lutherische Postillen zu lesen. Viele wiederum glauben laut dem Prädikanten weder an das Alte, noch an das Neue. Das Häuflein der Gottseligen – also der Zwinglischen – sei sehr klein. In der Einzelbefragung weist der Pfarrer speziell auf „Loderer“ hin, „die des Luthers Meinung halten und sich sein äußern.“ Sie verachteten die vom Rat vorgegebene

1677 Vgl. Kap. III. 5.2.4. 1678 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 116 f.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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Kirchenordnung und die Sakramente.1679 Auch lutherisches religiöses Wissen und entsprechende Praktiken wie die Lektüre der weitverbreiteten Postillen, wird in Ulm zur Devianz, die im Übrigen nicht immer eindeutig von den Altgläubigen zu trennen ist – womöglich auch im Selbstverständnis der Betreffenden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Frage nach der Substanz der Hostie, die vielleicht wichtigste Auseinandersetzung in Ulm ist, bei der die Lutherischen den Altgläubigen durchaus näher sind als den Zwinglischen.1680 Umso interessanter sind die Zeugnisse der Laien. Ein Richter nennt zwei Verstöße gegen die evangelische Kirchenordnung aus dem Vorjahr. Da sind erstens die bereits vom Pfarrer angezeigten Priester, die mit Laien zum Messelesen auslaufen. Und da ist zweitens der Zöllner, der zuhause die Bibel lese. Da dies Verdacht erregt, könnte es sich um eine Lutherbibel handeln oder um deren Auslegung in den Postillen. Ein einfacher Gemeindemann wiederum verweist auf „etlich, die dem Papsttum gern anhangten.“ Allerdings kenne er niemanden, der sich der neuen Ordnung bezüglich des Altarsakraments widersetzt.1681 Dass nicht nur die Solidarität in Gemeinden oder Teilgruppen innerhalb der Gemeinden zählt, sondern auch die familiären Strukturen bei der religiösen Unterschiedsbildung und deren sozialen Auswirkungen von Bedeutung sind, macht ein weiteres Beispiel deutlich. Dieses unterstreicht die zentrale Funktion von Familiennetzwerken für die religiöse Tradition und Praxis. 1532 berichtet der Geislinger Pfleger, Hans Ehinger, den Herrschaftspflegern in Ulm, dass ein gewisser Jörg Burger fordere, zum Gottesdienst über die Territorialgrenze auslaufen zu dürfen. Den Grund für dieses Ansinnen nennt Ehinger gleich hintendrein und kategorisiert Burger als jemanden, der dem Evangelium feindlich gesonnen sei. Darüber hinaus gehe Burger nur dann in die Kirche, wenn dort sonst niemand ist, also wenn keine evangelische Predigt oder andere gottesdienstliche Rituale der Protestanten stattfinden. Dies und das verdächtige Verhalten weiterer Männer ist bereits behandelt worden,1682 weshalb hier die familiäre Dimension in den Fokus gerückt werden soll. Im Bericht des Pflegers heißt es, dass nicht nur Burger nicht in die Predigt gehe, sondern auch seine Frau und sein Gesinde, also die Bediensteten, Knechte. Vielmehr gehen sie „mitainannder“ in die Kirche, wenn sich darin sonst niemand befindet und „machen irn alten tanndt, also das es vilenn hinderlich ist.“1683 Die Durchführung alter Praktiken  – vielleicht Marien- oder Heiligengebete, Rosenkränze, Grabbesuche, Fürbitten oder andere seit der Reformation in Ulm distinktive altgläubige Handlungen – ist also ein Vorgang, den das ganze Haus involviert. Die Devianz ist familienumfassend und ein

1679 Allerdings stünden die „Päpstler“ beim Vogt höher in der Gunst als die Evangelischen. Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 79 1680 Vgl. dazu auch Kap. II. 2.1.3. 1681 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 80. 1682 Vgl. Kap. III. 2.1. 1683 StAU, A [5421], Bl. 71r.

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 5 Die Differenz in der Zeit

kollektiver sowie für Außenstehende sichtbarer Akt. Die Relevanz von Familienstrukturen wird auch einen Monat vor dem Brief Ehingers an die Herrschaftspfleger auf der Synode in Ulm im Februar 1532 offensichtlich. Dort sagt der Geislinger Prädikant Paul Beck, dass Väter und Mütter ihre Kinder und Knechte vom Besuch der evangelischen Predigt abhalten.1684 Darüber hinaus ist auch beim Auslaufen aus der Reichsstadt Ulm während der 1530er-Jahre mehrfach deutlich geworden, dass einige Gläubige ihre Töchter mitbringen.1685 Doch nicht immer sind Familien Keimzellen kollektiven religiösen Verhaltens. In anderen Fällen entstehen Spaltungen innerhalb von Familien, wie die FlugschriftenAuseinandersetzung der fränkischen Freiherren von Schwarzenberg zwischen dem evangelischen Vater Johann und dem altgläubigen Sohn Christoph, dem bayerischen Landhofmeister, deutlich gemacht hat.1686 Familienstrukturen können, aber müssen sich nicht solidarisierend und formatierend bei der Konstruktion religiöser Zugehörigkeiten auswirken. Abgesehen von Regensburg sind agierende altgläubige Laien auf der Dorf- und Stadtebene in der südostdeutschen Fallgruppe kaum greifbar. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es sie nicht gibt – sie werden im Zweifelsfall in ihrer sozialen Kohäsion und Konfrontation nur nicht sichtbar, da die zur Verfügung stehenden Quellen aus obrigkeitlicher oder administrativ-altgläubiger Feder stammen. In diesen nimmt die Suche nach evangelischen Devianzen größeren Raum ein, die altgläubigen Unterschiede hingegen ergeben sich meist ex negativo. Trotzdem dürften sie für die betroffenen Dorfbewohner oder Kirchgänger durchaus spür- und sichtbar gewesen sein. Sie müssen jedoch nicht ausweichen und keine innovativen Anpassungen vornehmen wie die Ulmer Altgläubigen. Anders als in Paris und Rouen, wo teilweise die gesamte Stadtgesellschaft zum rituellen Gegenschlag gegen protestantische Kulturen ansetzt, lebt die altgläubige Distinktion in Bayern und Passau von relativer Kontinuität. Diese wird freilich in ihrer Bedeutung aktualisiert, etwa wenn Protestanten bei der vorösterlichen Beichte und der Osterkommunion fehlen. Anders als in den französischen Fallstudien, die ja von der Grundkonfiguration her  – altgläubige Obrigkeiten und Mehrheiten in der Bevölkerung gegen verfolgte evangelische Minderheiten – Bayern und Passau durchaus ähnlich sind, bleiben dort außergewöhnliche Manifestierungen des Eigenen oder religiöse Gegenoffensiven vorerst aus. Die Bevölkerung soll möglichst wenig polarisiert und mobilisiert, der Konflikt allein auf rechtlich-repressivem Wege gelöst werden. Anders in Paris und Rouen: Durch Predigten, Prozessionen und öffentlichkeitswirksame Hinrichtungen soll der gemeine Mann in den Kampf gegen die „Ketzer“ einbezogen und geprägt werden. Mitunter wird dafür die gesamte Stadtgesellschaft mobilisiert, vorwiegend bei Prozessionen.

1684 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 55. 1685 Vgl. Kap. III. 4. 1686 Vgl. Kap. I. 1.3.1 und 1.3.2.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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In der Fallgruppe Ostwestfalen offenbart die sozioreligiöse Binnendifferenzierung ein nochmals anderes Modell. In den Territorien, in denen die ohnehin vergleichsweise wenig durchsetzungsfähigen Obrigkeiten einen religiösen Mittelweg wählen (Ravensberg oder Grafschaft Lippe zwischen 1536 und 1538), sind religiöse Praxisunterschiede zwar vorhanden und sichtbar, doch scheinen sie – insbesondere im Vergleich zu anderen Fallgruppen – die Gesellschaft nur schwach zu polarisieren. Personelle und politische Flexibilität macht es etwa in Bielefeld 1533 möglich, dass zwei verschiedene Kommunionspraktiken – sub una specie und sub utraque specie – angeboten werden können.1687 Darüber hinaus ist das Konfliktpotenzial zwischen Lutherischen und Altgläubigen in Ostwestfalen weder so umfassend wie in Ulm, noch so zugespitzt wie in Rouen oder Paris. Doch nicht immer entstehen altgläubige Gemeinschaften durch gemeindeinterne Differenzierungen. In einigen Fallgruppen dominieren kollektive Zugehörigkeitsartikulationen, wenn Gemeinden als Ganzes zu distinktiven Gemeinschaften werden – oder zumindest diesen Anschein erwecken wollen.

5.2.3 Manifestierungen kollektiver altgläubiger Zugehörigkeit In Ostwestfalen ist ein Phänomen zu beobachten, dass es im altgläubigen Bayern und in Passau ebenso selten gibt wie in den mehrheitlich evangelischen Reichsstädten Ulm und Regensburg: die Blockbildung ganzer Städte für die altgläubige Sache bzw. gegen die Einführung der Reformation. Was Hans-Christoph Rublack in seiner 1978 erschienen Studie über süd- und westdeutsche geistliche Residenzstädte als „gescheiterte Reformation“ bezeichnet hat,1688 werde ich für die kleineren lippischen Städte sowie für Paris und Rouen als indes nur teilweise erfolgreiche altgläubige Gemeinschaftsbildungen untersuchen. Diese Blockbildungsversuche können auf institutioneller Ebene sowie auf ritueller Ebene erfolgen. Der erste Fall zeigt sich in der Grafschaft Lippe, wo auf zwei Ständeversammlungen im August 1538 der Reformationsbeschluss fällt. Einige bereits evangelische Städte wie die Hansestadt Lemgo partizipieren nicht an der Entscheidungsfindung und sind auf den Landtagen nicht präsent. Am 19. August 1538 bekennt sich der lippische Adel zum Evangelium. Doch die anwesenden Vertreter der Städte halten sich mit der Zustimmung vorerst zurück und blockieren damit die nicht zuletzt vom hessischen Landgraf dringend gewünschte Einführung der Reformation. Im Protokoll der Ständeversammlung heißt es dazu vielsagend: „De stede hebbenn aver ohr bedencken gnhomenn, sollichs ann ore frunde tobringenn unnd sych danha myth fulmechtiger antworth vernhemen laten.“1689 Anwesend sind

1687 Vgl. dazu Kap. II. 2.1.2. 1688 Rublack, Gescheiterte Reformation (wie Anm. 51). 1689 LAV NRW OWL, L 9, Bd. 1, Bl. 42r.

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 5 Die Differenz in der Zeit

Vertreter der Städte Horn, Blomberg und Detmold. Deren Räte wollen dem Reformationsbeschluss nicht einfach so zustimmen, was zumindest auf Vorbehalte hindeutet. Vor allem aber zeigt sich, im Unterschied zu Städten mit einer starken Ratsoligarchie, dass die kommunale Mitbestimmung und Beratschlagung auch und insbesondere in derart entscheidenden Fragen zwingend notwendig ist. Schließlich dürfte es in den drei Städten, die auch in der Folge immer wieder wegen altgläubiger Personalien, Aktionen oder Sabotage, etwa der evangelischen Predigt in Detmold, auffallen, starke altgläubige Kräfte gegeben haben, die eine ad-hoc-Zustimmung zur lutherischen Kultur im August 1538 unmöglich machen. Drei Tage vor dem entscheidenden Landtag am 28. August 1538 schicken Bürgermeister und Rat der Stadt Horn, eine jener Städte, die sich am 19. August Bedenkzeit für weitere interne Beratungen auserbeten hatten, einen Brief an die lippischen Befehlshaber in Detmold. Die Entscheidung über das Verhalten zur Reformation scheint in Horn zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht gefallen zu sein. Vielmehr wird deutlich, dass in der Bürgerschaft erheblicher Diskussionsbedarf besteht, weshalb der Horner Magistrat von den Befehlshabern die Zusendung der Reformationsordnung erbittet. Diese werde benötigt, um von der Gemeinde eine Vollmacht zu erlangen und um sich auf dem anstehenden Landtag zum Reformationsvorhaben äußern zu können. Andernfalls könnten die Vertreter aus Horn zu der Versammlung gar nicht erst erscheinen. Die Reformationsordnung werde der Gemeinde von Bürgermeister und Rat vorgelesen, woraufhin Beratungen folgen und die Gemeindemitglieder ihre Ansichten dazu äußern sollen. Diese würden auf dem anstehenden Landtag dann eingebracht. Offenbar steht die kleine Stadt unter starkem Druck: Noch am selben Tag, an dem die Beratungen in Horn abgeschlossen werden, soll ein Bote mit der Entscheidung zurück nach Detmold geschickt werden.1690 Das Beispiel macht meiner Ansicht nach mehr als nur Beharrungskräfte deutlich. Die Gemeinde hat sich im Vorfeld offenbar geweigert, einen „Blankoscheck“ für die lutherische Neuordnung des Kirchenwesens auszustellen. Sie zögert die Entscheidung bis zum letzten Moment hinaus. Evangelische Euphorie ist dies nicht, im Gegenteil. Gegenüber der mehrheitlich lutherischen Ritterschaft und den bereits reformierten Städten kann Horn in der präzisen Situation einem Lager im sozialen Feld zugeordnet werden, das evangelische „Neuerungen“ zu blockieren versucht. Allerdings ist dieser Blockadeversuch in einer politischen Kultur, in der Entscheidungen möglichst einmütig fallen sollen, um die Einheit nicht infrage zu stellen, kein allzu erfolgversprechender Weg. Umso bemerkenswerter und distinktiver sind derartige Versuche, die Reformationsentscheidung  – und mithin einen anderen, nämlich lutherischen Zuschnitt des Raums der religionskulturellen Möglichkeiten – zu verlangsamen. Die Quelle zeugt darüber hinaus von einer starken politischen Stellung der Gemeinde: Der Magistrat kann weder selbst entscheiden, noch ohne vorherige Konsultation der

1690 LAV NRW OWL, L 65, Nr. 1, Bl. 53r.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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Bürger für diese sprechen. In religiösen Fragen gibt die Gemeinde also insgesamt die Richtung vor. Anders als Heinz Schilling in seiner Studie über die Hansestadtreformation in Ostwestfalen indirekt suggeriert, greifen also auch „beharrende“ Kräfte aktiv auf die rechtlichen und politischen Mechanismen zurück, die ihnen zur Durchsetzung ihrer religiösen Vorstellungen vor Ort zur Verfügung stehen. Schließlich werden auf dem kurz darauffolgenden Landtag aber alle Städte der Reformation zustimmen. Diese dezent konservative, aber kompromissbereite Haltung korrespondiert mit dem Differenzierungskontext Ostwestfalens in den 1520er- und 1530er-Jahren, der v. a. außerhalb der großen Städte Lemgo, Herford oder Lippstadt durch eine vergleichsweise geringe Polarisierung charakterisiert werden kann. Anders verhält sich dies in den beiden französischen Fallgruppen. Besonders die Prozessionen sind bei der kollektiven Zugehörigkeitsdemonstration von Interesse und sollen an dieser Stelle nochmals hinsichtlich ihrer personellen und institutionellen Zusammensetzung aufgegriffen werden. Ziel ist es, durch diese auf die dahinterstehenden Gemeinschaftsbildungsprozesse zu schließen. Die Umgänge finden in Rouen und Paris regelmäßig im Zusammenhang mit Hinrichtungen, Ikonoklasmen, „Skandalen“ wie der Plakataffäre oder wegen hoher Verhaftungszahlen statt. Durch die rituelle Ausgestaltung, die mitgeführten Reliquien und das Itinerar drücken die Veranstalter sowie die Partizipanten zweierlei aus. Erstens positionieren sie sich gegen die „Ketzer“, deren Wissensordnungen und Praktiken und wollen für eine Wiedergutmachung der entstandenen Blasphemie sorgen. Zweitens stehen die Prozessionen für eine Kultur, die in ihrer praktischen Umsetzung zwar auf Altbekanntes und Bewährtes zurückgreift, aber bedeutungsmäßig aktualisiert wird und zudem veritable rituelle Neuschöpfungen hervorbringt. Durch das Itinerar sollen wichtige sakrale Orte und Institutionen verbunden werden. Das Eigene soll in die sakrale und soziale Topographie eingeschrieben und affirmiert werden.1691 Drei Trägerschichten kristallisieren sich in Rouen und Paris mit der Zeit heraus, die bei verschiedenen Anlässen unterschiedliche Akzente setzen. Damit verbunden ist immer auch die Frage, wer den Kampf gegen die „Ketzer“ für sich zu monopolisieren versucht bzw. ob dies gelingt, sowie die Frage, welche Gruppen in diese Auseinandersetzung eingebunden werden. Darin spiegelt sich die Entwicklung der altgläubigen Gemeinschaftsbildung in der französischen Hauptstadt und der Hauptstadt der Normandie. Die meisten anti-Ketzer-Prozessionen in Rouen werden vom Domkapitel durchgeführt. Entschieden wird über die Abhaltung immer im Domkapitel, häufig in Zusammenarbeit mit dem Parlament der Normandie. Bereits nach der Marienlästerung des Pierre Bart im Jahr 1528 ergreifen die Domherren die Initiative und organisieren die Reparations- und Affirmationsprozession, an der allein der Domklerus teilnimmt. Ebenso verhält es sich mit den Umgängen der Jahre 1531, 1534 und 1539. Das Kapitel

1691 Vgl. Kap. III. 3.

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 5 Die Differenz in der Zeit

inszeniert sich also sofort als alleiniger Träger der Reaktion auf die neue „Häresie“. Die altgläubige Prägung unterstützen die hohen Geistlichen allerdings durch spezielle Predigten, die im Anschluss an die Prozessionen für das Volk stattfinden. Dies deutet auf die Präsenz vieler Laien am Straßenrand hin, die sich nicht zuletzt durch die Teilnahme an den Anti-Ketzer-Predigten mit deren Inhalten grundsätzlich identifiziert haben dürften. Der Gemeine Mann wird aufgefordert, gegen die Häresie und für das wahre Christentum zu beten und somit spirituell die Sache „ihrer“, der „alten“ Religion, zu unterstützen. Dass sich diese Gestaltung der Prozessionen in Rouen bis 1540 verstetigt, deutet nicht zuletzt auf einen zumindest relativen Erfolg des Prozedere und der damit verbundenen Gemeinschaftsbildung hin, bei der sich zumindest nominell das gesamte christliche Volk hinter der geistlichen Führung versammelt und den „Ketzern“ deren Exklusion vor Augen führt. Dass das Parlament immer wieder der Impulsgeber für die Prozessionen ist, verstärkt nur die Vermutung, dass es sich dabei um eine Kooperation der geistlichen und weltlichen Obrigkeiten handelt. In Rouen findet bis 1540 nur eine Prozession statt, an der auch Laien und Vertreter der städtischen Gesellschaft aktiv teilnehmen: Jene nach den messkritischen Flugblättern von 1535. Erneut gibt das Parlament der Normandie den Anstoß für die Prozession. Die ersten Koordinationsschritte erfolgen mittels eines Notars zwischen Parlament und Kapitel.1692 Doch diesmal wird auch der Magistrat der Stadt in die Planungen einbezogen, indem etwa zwei Räte vor dem Kapitel erscheinen  – denn es wird die Beteiligung der Bürger und Bewohner gewünscht.1693 Lange bleibt es unklar, ob Erzbischof Georges d’Amboise teilnehmen würde. Stellvertretend für ihn sollte Antoine de Bar, Erzbischof von Tours, die Messe lesen. Um das vom Erzbischof getragene Sakrament laufen die Weihbischöfe von Hippo und Thessaloniki sowie die Äbte der Diözese. In den Umgang sind darüber hinaus eingebunden die Domkleriker, das Parlament, die königlichen Amtleute, die corpora der Bürgerschaft von Rouen, der Regularklerus, die Bruderschaften sowie die cinquanteniers, vom Magistrat ausgewählte Verwaltungsleute aus der Bürgerschaft. Das Itinerar ist im Vergleich zu anderen Prozessionen sehr ausgedehnt, zudem werden alle Reliquien Rouens mitgetragen – die Stadt- und Kirchengemeinde wird so zur gegenüber den Ketzern exklusiven und geschlossenen Heilsgemeinschaft, die sich mit schützenden sakralen Insignien verstärkt.1694 Auf einen anderen Gemeinschaftsbildungsprozess als in Rouen weisen die Prozessionsteilnehmer und Trägergruppen in Paris hin. Dies zeigt sich gleich bei einer ersten Serie von Prozessionen, die 1528 auf die Zerstörung einer steinernen Marienfigur mit Jesuskind in der rue des Juifs folgen. Die Tat geschieht nachts, doch schon

1692 ADSM, G 2154, Bl. 268v. 1693 ADSM, G 2154, Bl. 268v-269r. 1694 ADSM, G 2154, Bl. 269r–270r. Vgl. auch Oursel, Réforme en Normandie (wie Anm. 266), S. 61 f.; Nicholls, Inertia and Reform (wie Anm. 268), S. 194; Benedict, Rouen (wie Anm. 267), S. 36 f.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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am darauffolgenden Tag ziehen, ausgehend von den Pfarreien, viele Prozessionen zum zerstörten Bild. Dabei handelt es sich um spontane Initiativen „von unten“, also von der Basis der pfarrlichen Organisation und deren Priester. Wie es scheint, wird die Hauptstadt von einer kollektiven Prozessionsbewegung zu der zerstörten Ikone ergriffen. Diese gemeinsame Bewegung auf ein nunmehr klar distinktiv aufgeladenes Ziel dürfte in den Pfarreien und zwischen den Pfarreien zu einer übergreifenden Solidarisierung und kollektiven Gemeinschaftsauffassung geführt haben.1695 Darauf folgt jedoch der Versuch der Pariser Universität, die Bewegung zu kontrollieren und die Führung an sich zu reißen. Sie veranstaltet eine eigene Reparationsprozession mit all ihren Gliedern und dem Regularklerus.1696 Kurz darauf, an Fronleichnam, lässt der König die Corpus-Christi-Prozession der Pfarrei Saint-Paul, an der er teilnimmt, abändern und an dem zerstörten Bild vorbeimarschieren. Bei Franz I. sind der Kardinal von Lothringen, einige hohe Prälaten sowie Vertreter des Hochadels und des niederen Adels. Es handelt sich somit um eine separate Prozession der Elite des Königreichs.1697 Am Ende steht schließlich die monumentale Reparationsprozession, in deren Rahmen die zerstörte Marienfigur ersetzt wird. An diesem Umgang nehmen neben dem König auch die anderen, zuerst getrennt voneinander marschierenden Gruppierungen gemeinsam teil: alle Pfarreien der Stadt Paris, die Bettelmönche, der Klerus der Kathedrale Notre-Dame und der Sainte-Chapelle, das Parlament sowie Bürgermeister und Rat.1698 Die städtische Gesellschaft wird zur religiösen Gemeinschaft, die gemeinsam mit dem König um Gnade bittet, gleichzeitig aber auch die Marienfrömmigkeit bekräftigt und materiell erneuert. Dazu soll der einfache Bewohner mobilisiert und in die Bewegung integriert werden: Zumindest die Laienvertreter aus den Pfarreien und der Magistrat sind Teil der Prozession. Diese soll zeigen, dass Paris kollektiv zur kämpferischen Glaubensgemeinschaft wird. 1530 findet die nächste Bilderschändung statt. Unbekannte „Lutherische“ zerstören die Gemälde von Maria mit Kind, St. Rochus und St. Fiacrius an einer Häuserwand. Eine Woche nach der Verstümmelung des Gemäldes wird, wie schon 1528, ein Umgang abgehalten. So laufen am 21. Mai 1530 die Priester der Sainte-Chapelle, der Abt des Klosters Sainte-Geneviève als Leiter der Prozession sowie das Parlament bis zum Ort des Frevels. Die Straßen sind abermals geschmückt und vier Männer tragen einen kostbaren Baldachin, unter dem die Heilig-Kreuz-Reliquie mitgeführt wird. Die monarchisch-klerikale Institution schlechthin, die Sainte-Chapelle, und der oberste Gerichtshof stellen die Teilnehmer, was auch davon zeugt, dass die königliche Admi-

1695 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100. 1696 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100; Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 133; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. 1697 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100; Fagniez, Livre de raison de Versoris (wie Anm. 348), S. 113. 1698 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 100–102.

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 5 Die Differenz in der Zeit

nistration und die Justiz das Heft des Handelns behalten wollen. Ihnen kommt es zu, die Ketzer zu bekämpfen und vor Maria stellvertretend um Vergebung zu bitten.1699 Die letzten Prozessionen in Paris, die in den Untersuchungszeitraum fallen, finden nach der Verbreitung der sakramentaristischen Flugblätter im Herbst und Winter 1534/35 statt. Ähnlich wie 1528 kommt es zu einer raschen Reaktion mit ersten Umgängen  – doch diesmal ausgehend von obrigkeitlichen Institutionen. Offenbar wollen sie sofort die Initiative ergreifen und die Inszenierung der Geschlossenheit von Monarchie und Hauptstadt selbst übernehmen. Der erste Umgang findet laut Pierre Driart, dem Mönch aus Saint-Victor, am 22. Oktober statt, also vier Tage, nachdem die Plakate gefunden wurden. An der Prozession beteiligen sich die Mitglieder des Parlaments sowie der Pariser Magistrat. Anderntags unternimmt die Universität eine eigene Prozession. Am 25. Oktober schließlich, einem Sonntag, sollen alle Pfarreien der Stadt nach der Messe eine Prozession wie am Fronleichnamstag abhalten. Die Bürger und deren Pfarrer werden also eingebunden – allerdings erst, nachdem Parlament, Rat und Universität, mithin die drei wichtigsten corpora der Hauptstadt, ihren Weg gegangen sind.1700 Im Januar 1535 schließen sich die drei Prozessionsteile zusammen zu einer monumentalen Reparationsprozession, an der erneut der König teilnimmt sowie der Pariser Bischof Jean du Bellay, der das Sakrament trägt und begleitet wird von mehreren Kardinälen, Erzbischöfen und Bischöfen. Den Baldachin über dem Sakrament tragen der Dauphin Franz, dessen Bruder und späterer König Heinrich, der Herzog von Angoulême, Karl, sowie ein Kind des Herzogs von Vendôme, Charles de Bourbon. Außerdem nehmen offenbar die Königin und ihre Hofdamen teil. Der bourgeois inconnu hält fest, dass sich auch die Pfarreien der Hauptstadt auf den Weg machen, darüber hinaus die Kanoniker (der Kathedrale Notre-Dame?), der Klerus der Sainte-Chapelle, der Abt und die Mönche der Abtei Sainte-Geneviève sowie die Mönche von Saint-Germain-des-Prés und Saint-Martin-des-Champs und der Abt und die Mönche von SaintMagloire.1701 Wie schon 1528 schließen sich also in einer großen Schlussprozession alle relevanten geistlichen und weltlichen Gruppen und Institutionen der Stadt sowie die Monarchie zusammen, die zuvor noch separiert voneinander marschiert sind. Die Partizipation der Bürger scheint erneut sehr groß gewesen zu sein, allerdings war sie diesmal kontrolliert und geordnet: eine eingehegte Gemeindebewegung. Dennoch repräsentiert die große Abschlussprozession erneut den Prozess der Gemeinschaftsbildung einer gesamten Stadt, die sich gegen die Häresie und die Häretiker in den eigenen Reihen zusammenschließt und kollektiv antwortet.

1699 Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 147 f. 1700 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 172. 1701 Bournon, Chronique de Driart (wie Anm. 349), S. 175 f.; Journal d’un bourgeois de Paris 2 (wie Anm. 347), S. 172 f.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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Bereits diese Beispiele legen nahe, dass es in der frühen Reformationszeit so etwas wie ein altgläubiges Pendant zur Gemeinde- oder Stadtreformation gegeben haben könnte.

5.2.4 Ein altgläubiges Pendant zur evangelischen „Gemeindereformation“? Prozesse, die der von Blickle beschriebenen Gemeindereformation ähneln und die mit denselben strukturellen Mechanismen und kulturellen Hintergründen, allerdings auf altgläubiger Seite, entstehen, finden sich v. a. in der Fallstudie Ulm. Dort stehen altgläubige Landgemeinden gegen die zwinglische Obrigkeit. Dabei wird die Kreativität der Altgläubigen deutlich, sich zur Durchsetzung und Verteidigung ihrer religiösen Kultur der kommunalen Rechtssysteme zu bedienen. Anders als in den vorgängigen Beispielen aus Paris, Rouen und Ostwestfalen, werden dadurch gemeindeinterne Differenzen allerdings geschärft und bewusst instrumentalisiert, was sich nach dem Reformationsbeschluss 1531 auch nicht vermeiden lässt. Dies wird an zwei Beispielen deutlich: Leipheim an der Donau und Geislingen auf der Schwäbischen Alb. Leipheim ist im Rahmen dieser Studie schon mehrmals aufgefallen. Bereits 1528 bittet eine evangelische Minderheit in einer Supplik an den Ulmer Magistrat um die Einsetzung eines Prädikanten.1702 Das Ansuchen dürfte sich rasch erledigt haben, da der Leipheimer Pfarrer Jakob Pittmann spätestens ab 1529 eine klar zwinglische Haltung einnimmt. Die Konflikte, die in der Folge hinsichtlich der religiösen Praxis und der Artefakte entstehen, waren bereits verschiedentlich Gegenstand der Analyse.1703 Hier soll näher beleuchtet werden, wie sich diese Auseinandersetzungen insbesondere auf altgläubiger Seite im politisch-rechtlichen System der Kleinstadt artikulieren und mit dem Prozess der altgläubigen Gemeinschaftsbildung zusammenwirken. Der evangelische Geistliche Leipheims, Jakob Pittmann, versucht 1529, das Feierabendläuten abzuschaffen, die Flügel der Seitenaltäre zu verschließen und die Brauchtümer an Kirchweih zu unterbinden, indem er die Kirche zusperrt. Außerdem prangert er in seiner Predigt an, „das etlich zu Leiphain seyen, die sich gern rottieren und ein andere oberkait suchen wollten. Und es sy dan oder nicht, des er inen auch nit getraw.“1704 Pittmann unterstellt Bewohnern Leipheims eine Verschwörung bzw. angehenden Aufruhr gegen ihn selbst und den Ulmer Rat. Ein Teil der Gemeinde bringe sich in Stellung gegen die zunehmend reformationsfreundliche Herrschaft und deren Priester. Diese Predigt sorgt für Unruhe in Leipheim und ist auch über den Ort hinaus durchaus brisant, zumal in dem religionspolitischen Krisenjahr 1529, als

1702 StAU, A [5440], Bl. 49r–50v. 1703 Vgl. v. a. Kap. II. 2.1.2., 4.1., Kap. III. 1.2., 2.1., 2.2. 1704 StAU, A [5440], Bl. 51v.

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die evangelischen Stände auf dem Reichstag gegen einen antilutherischen Reichsabschied protestieren. Bürgermeister und Rat bestellen Jakob Pittmann daraufhin zu sich und stellen ihn zur Rede. Die Instanzen kommunaler Selbstverwaltung gehen also gegen den umstrittenen Ortsgeistlichen wegen dessen Predigt und ritueller Veränderungsbestrebungen vor. Als Vertreter der politischen Gemeinde intervenieren sie in religiösen Fragen und versuchen, diese in einem altgläubigen Sinn zu regeln. Als der Pfarrer bezüglich des Glockenläutens, der Seitenaltäre und des Kirchweihfests keine Kompromissbereitschaft zeigt, insistieren Bürgermeister und Rat: „[W]ir werden hinderruck unserer hern im das nit gestatten und neuwerung laussen machen, sonder wie es bisher gehalten sey worden, werden wirs blyben laussen.“1705 Der Rat positioniert sich damit klar auf der altgläubigen Seite und gibt dem evangelischen Pfarrer zu verstehen, dass er Neuerungen zu verhindern gedenkt. Die kommunale Selbstorganisation bezieht sich in Leipheim in dieser Situation eindeutig auch auf Fragen religiöser Praxis, die der Pfarrer entsprechend der Anforderung der Gemeindevertreter durchführen soll. Diese operieren dabei mit dem Hinweis, dass der Pfarrer die Obrigkeit durch unerlaubte Neuerungen hintergehe und unterstellen ihm also ihrerseits Ungehorsam gegen die Herrschaft. Doch die Auseinandersetzung lässt sich auf der dörflichen Ebene in Leipheim nicht lösen, weshalb der Rat nach einer kurzen Beratung mit dem Vogt beschließt, eine Supplik an den Ulmer Magistrat zu schicken. Der Pfarrer könne, sofern er wolle, genauso verfahren. Pittmann wendet sich daraufhin selbst in einer Supplik an die Ulmer Obrigkeit und gibt Einblick in die Vorgänge in seiner Pfarrei: Uber sollich furnemen hatt der burgermaister, der dan ain großer bäbstler noch ist, doch mitt verwilligung unsers vogts, versamlen lassen ain rhatt, von welchem ich beschickt und von den obbenanten artickeln unnd mines furnemens abzuston gebetten und ermandt worden bin. Aber sollichs zu thun hab nitt wellen verwilligen. So haben sye sich verainiget und beschlossen, sollichs an ewer weisheit oder an ain erbern rhattn an minen herren, zebringen.1706

Wie die Quelle zeigt, darf sich der Rat in Leipheim offenbar nur dann versammeln, wenn vorab der Amtmann, der vom Ulmer Magistrat bestellt wird, zustimmt. Dies scheint jedoch selbst in einer religionspolitisch zugespitzten Lage wie in Leipheim um 1530 kein Problem darzustellen. Dass die religiösen Zugehörigkeiten klar verteilt sind und offen am Tag liegen, wird in diesem Zitat ebenfalls deutlich: Der Bürgermeister erscheint als eindeutig altgläubig und versucht aus einem altgläubigen Impetus heraus, gegen den Pfarrer vorzugehen. Der Rat schließt sich dem an, wie Pittmann bestätigt, der vor die Versammlung der Gemeindevertreter berufen wird. Gemeinsam versuchen Rat und Bürgermeister, dem Pfarrer dessen eigenmächtige reformatorische Veränderungen und somit die kommunale Selbstverwaltung im religiösen Bereich zu

1705 StAU, A [5440], Bl. 51v. 1706 StAU, A [5440], Bl. 53v.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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untersagen. Da sich der Priester gegen das Verbot sperrt und sich in Leipheim auf eine evangelische Minderheit stützen kann, muss der Ulmer Rat angerufen werden. Die kommunalen Strukturen werden in Leipheim also nur für die altgläubige Religionskultur mobilisiert. Bürgermeister und Rat sind aber nicht so durchsetzungsfähig, dass sie ihr Ziel erreichen und den Geistlichen an die Forderungen der Gemeindevertretung binden können. Der Ausgang der Sache ist übrigens nicht überliefert. Nach dem Reformationsbeschluss der Ulmer Bürgerschaft im November 1530 schafft der Magistrat der Reichsstadt auch in seinen Landgebieten Fakten. Gemeindeinterne Spannungen bleiben in Leipheim jedoch fortbestehen, wie in den Visitations- und Synodalprotokollen verschiedentlich deutlich wird. Nicht zuletzt eine weitere Supplik von Pfarrer Pittmann aus dem Jahr 1531 macht deutlich, wie gut gerade kurz nach der Reformation das kommunale altgläubige Abwehrsystem funktioniert. In seinem Schreiben vom 9. November an Bürgermeister und Rat zu Ulm bestätigt Pittmann, dass er die evangelische Kirchenordnung erhalten habe und sich gerne daran binde. Doch wäre es billig und recht, dass der Vogt und der örtliche Rat selbst nach der Ordnung handeln, d. h. diese durchsetzen, oder zumindest die Ulmer Stadtherren um die Durchsetzung bitten. Mit dieser Forderung macht der Prädikant deutlich, dass eben dies bisher nicht geschehen sei. Vielmehr blockieren die Leipheimer Gemeindevertreter und der örtliche Vogt die Kirchenordnung, wobei sie sich offensichtlich zusammentun. Dann malt Pittmann die angeblichen Missstände in kräftigen Farben aus und verbindet diese mit Änderungsvorschlägen. So soll etwa der „babstisch hergot, im sacrament heußchin verschlossen, uß gelassen“ werden. Lange habe er gegen diese Missstände gepredigt, so dass nun niemand mehr gegen deren Abschaffung sein könne, außer er sei „gantz widerspenstig und hartnäckig“ gegen den evangelischen Glauben. Von diesen gebe es aber „etlich hie by uns und umm uns“. Die Obrigkeit in Leipheim, d. h. der Vogt und der Rat, seien laut der Kirchenordnung verpflichtet, den Pfarrer bei der Durchsetzung der Reformation zu unterstützen. Davon könne in seinem Ort aber keine Rede sein. Schlimmer noch: „Ja ich besorg, das irenthalb noch lang sollichs zu thun verlengert wurd, dan ich sye, wie in weltlichen und flaischlichen geschefften gantz arbeitsam und flissig, also widerum in den geschefften der gaistlichen und christenlichen ordnungen und zuchten gantz fal, hinlessig und versumlich erkent und erlernt hab.“1707 Vogt und Rat sind für Pittmann also veritable Stör- und Blockadefaktoren. Mehr noch, sie seien verantwortlich dafür, dass die altgläubigen Praktiken weiter fortgeführt werden können. Das kommunale Herrschaftssystem erscheint als Rückgrat und Stabilisierungsfaktor der altgläubigen Religionskultur. Um gegen diese Widerstände ankommen zu können, verlangt der Pfarrer einen Gehilfen für den Gottesdienst und einen tüchtigen Lehrer für die Jugend des Orts.

1707 StAU, A [8984/I], Bl. 84r.

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 5 Die Differenz in der Zeit

Dass kommunale Selbstverwaltungsansprüche und die damit verbundenen Rechtsstrukturen auch und insbesondere nach der Reformation von den Altgläubigen für ihre religiösen Anliegen herangezogen werden, wird besonders deutlich in Geislingen. Gerade in diesem Fall prallen reformationsfeindlicher Kommunalismus und religiös-politische Herrschaftsansprüche der zwinglischen Obrigkeit dauerhaft aufeinander. Bei der Synode von 1532 zeigt sich, dass Geislingen eine Stadt mit einer starken altgläubigen Gemeinschaftsbildung ist. Es gibt viele Gläubige, die zur Messe auslaufen. Sie gehen zu den alten Stellplätzen der Heiligen und beten dort weiter. Auch sorgen sie im Umland unter den Bauern für Unruhe und werben Anhänger für die altgläubige Sache. Der Kontakt mit dem alten Pfarrer ist nach wie vor vorhanden. Die Obrigkeit werde verachtet und die Altgläubigen versuchen, evangelische Sympathien unter den Bewohnern zu verhindern.1708 Verbunden mit diesem Befund ist eine längere Passage im Entscheid der Obrigkeit: Desgleichen sind die Zustände am Gericht ausführlich besprochen worden: es sei nie kein Evangelischer des Gerichts zu keinem Amt von den Päpstlern genommen worden; wenn man jetzt einen Bürgermeister wähle, werde ein Päpstler gewählt werden, denn die Evangelischen seien mit den Päpstlern übermerdt (majorisiert). Anweisung: die Wahl, wenn solche Praktik wahrgenommen werde, nicht vor sich gehen zu lassen, allgemein, die, so dem Wort hold, zu den Aemtern zu fördern und die Päpstler zu schupfen.1709

Auf der Grundlage der Gemeindeverfassung von 1396 werden die Vögte und Pfleger vom Ulmer Rat eingesetzt. Die Bürger Geislingens wiederum wählen Richter und Bürgermeister. Das Gericht ist ein Rechtspflege- und Verwaltungsorgan aus zwölf Mitgliedern. Drei der Richter amtieren abwechselnd für je ein Jahr als Bürgermeister.1710 Laut dem Synodalabschied gibt es in Geislingen unter den Richtern eine altgläubige Mehrheit. Auch die anstehenden Bürgermeisterwahlen scheinen bereits vorab entschieden zu sein: Die Altgläubigen werden sie gewinnen. Die kommunalen Selbstverwaltungsinstanzen werden demnach (auch) nach religionsgemeinschaftlichen Zugehörigkeiten bestückt und dürften in ihrem Handeln entsprechend ausgerichtet sein. Die Wahlen werden zur Artikulationsplattform religiöser Differenz und die Altgläubigen zu einem wichtigen Faktor des gemeindlichen Politik- und Rechtssystems. Zudem wird in der Quelle deutlich, wie klar die jeweiligen Gemeinschaften für die Bewohner Geislingens konturiert sein müssen. Um nach religiöser Zugehörigkeit wählen zu können, muss die Haltung einzelner Personen für die Bewohner schnell und sicher kategorisierbar sein. Der Ulmer Rat will sich mit dieser Blockademöglichkeit der Altgläubigen in Geislingen nicht abfinden und weist den Vogt an, bei der Bürgermeisterwahl einzugrei-

1708 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 53–56. 1709 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 56. 1710 Vgl. Hofer, Reformation im Landgebiet (wie Anm. 178), S. 15 f., 26–28.



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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fen, falls die Evangelischen erneut überstimmt werden sollten. Dies freilich würde einen eklatanten Eingriff in die traditionelle kommunale Selbstverwaltung durch die Obrigkeiten bedeuten. Zudem sollten die Amtleute die Reformationsanhänger bei der Erlangung politischer Funktionen unterstützen. Dieses Drängen des Rats macht deutlich, wie wichtig die Zusammensetzung und Ausrichtung der kommunalen Instanzen für die Durchsetzung der Reformation – oder die Entwicklung altgläubiger Kulturen – im Ulmer Landgebiet ist. Die Intervention des Ulmer Rats in die Bestückung der kommunalen Ämter sorgt in Geislingen für Unruhe und Verärgerung. Bei der Visitation des Jahres 1535 beschwert sich der Richter Peter Stöcklin über das Verhalten des Vogts, der die Anweisungen aus Ulm vor Ort umsetzen muss: „Der Vogt handelt im Gericht also: so ihm eine Sache nit gefällt, so verschafft er’s gleich anders, schreibt er und der Stadtschreiber etwa hinterrücks des Gerichts hinein [nach Ulm, M. M.]; bricht auch die Brief allein auf, so an Gericht und Vogt stehen. Er schließt die Tor selber auf wider die alte Ordnung.“1711 Der Richter drückt das Empfinden aus, dass der Vogt tief in die Selbstverwaltung der Gemeinde eingreift, sowohl bei wichtigen politischen Sachverhalten, als auch bei symbolischen Handlungen. Der Vogt ignoriert demnach die kommunalen Bräuche und Strukturen in Geislingen. Das Öffnen der Briefe, die Ermächtigung über das Stadttor und die angeblichen Denunziationen beim Ulmer Magistrat laufen auf eine Minderung der Gemeindeautonomie und eine stärkere Kontrolle sowie schnellere Interventionen der Territorialherren vor Ort hinaus. Obwohl keine expliziten religiösen Konflikte genannt werden, dürften diese im Hintergrund stehen. Damit steht der Konflikt zu Beginn der 1530er-Jahre in der Kontinuität langjähriger Auseinandersetzungen zwischen dem Ulmer Rat und der Geislinger Gemeinde, die sich um 1500 immer wieder genötigt sah, ihre kommunalen Freiheiten gegen die obrigkeitliche Herrschaft zu verteidigen. Dies hat 1514 zu einem jedoch erfolglosen Aufstand gegen Ulm geführt. Die neuen Übergriffe des Vogts sind somit Teil eines langanhaltenden Konflikts um die Verfasstheit und Selbstbestimmung der Geislinger Stadtgemeinde. Der Widerstand gegen die „neue“ Religion kongruiert mit dem Widerstand gegen die Veränderung der kommunalen Rechte und Freiheiten – oder, positiv ausgedrückt: Der Kampf um die Beibehaltung der alten gemeindlichen Organisation findet im Kampf für die alte Religion ein religiöses Pendant. Kommunale und religiöse Verfasstheit und das Eintreten für das angebliche Alte bei beidem gehen in Geislingen während der 1530er-Jahre eine symbiotische Beziehung ein. *** In diesem Kapitel wurden die kulturellen Prozesse untersucht, durch die im Verlauf der Zeit die Laien altgläubige Distinktionen internalisieren und reproduzieren. Weiter-

1711 Endriss, Synoden und Visitationen (wie Anm. 177), S. 90 f.

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 5 Die Differenz in der Zeit

hin wurde analysiert, welche externen und internen Netzwerke und politisch-rechtlichen sowie gesellschaftlichen Prozesse bei der Konstruktion, der Demonstration und der Verteidigung altgläubiger Kulturen und Zugehörigkeiten während der 1520er- und 1530er-Jahre wirken. Dabei wurde die Frage gestellt, welche Rolle die politischen und rechtlichen Voraussetzungen bei der Konstruktion und der Artikulation altgläubiger Zugehörigkeiten in den Städten und Gemeinden dieser Fallstudie spielen. Die schlaglichtartige und summarische Analyse hat ergeben, dass sich auch auf altgläubiger Seite Prozesse abspielen, die mit den deutschen evangelischen Forschungstraditionen der Stadt- und Gemeindereformation entsprechen. Zudem ähneln sie der politisch-religiösen Blockbildung auf ausgleichender und integrierender Basis, wie sie in der französischen Forschung zuletzt für eine ganze Reihe von Städten herausgearbeitet worden sind. Während im Herzogtum Bayern und dem Hochstift Passau derlei Prozesse in meinem Untersuchungszeitraum nicht in Erscheinung treten  – zur Verteidigung der eigenen Haltung wird das Volk kaum mobilisiert, die Repression übernehmen die obrigkeitlichen Instanzen  – kommt es in lippischen Kleinstädten wie Horn zu Bemühungen, die lutherische Reformation zu bremsen. Räte und Bürgermeister sind gezwungen, sich eng mit dem Votum der skeptischen Bürgerschaft auseinanderzusetzen, wobei die Gemeinden als Ganzes nachdrücklich ihr Mitspracherecht einfordern. Im Ulmer Landgebiet hingegen treten in vielen Kleinstädten und Dörfern teils erhebliche Binnendifferenzierungen der Bewohner, der Priesterschaft, der Amtleute und der Gemeindevertreter auf. Mit der Zeit verläuft die altgläubige Gemeinschaftsbildung dort vielfach als Prozess der Abgrenzung innerhalb der Orte – und dies entlang variabler Konfliktlinien und Allianzen. In Rouen und Paris wiederum kommt es zu kollektiven Antworten der städtischen Institutionen, der Magistrate und der Monarchie, was am besten bei den regelmäßigen anti-Ketzer-Prozessionen deutlich wird. In Rouen prescht das Domkapitel vor, stellvertretend für die ganze urbs christiana. Laien werden durch Predigten eingebunden und zum spirituellen Kampf gegen die „Häresie“ mobilisiert. Nur nach der Plakataffäre erfolgt eine Prozession von Parlament, Kapitel, Regularklerus sowie verschiedenen Gruppen und Korporationen aus der Bürgerschaft. Die Prozession soll die Stadt als christliche Gemeinschaft repräsentieren, welche die Ketzer ausschließt und gleichzeitig die angegriffenen Rituale und Wissensordnungen affirmiert. Konfliktreicher verläuft die kollektive Antwort der Altgläubigen und orthodoxen Institutionen in der Hauptstadt Paris, wo neben dem Kapitel der Kathedrale, der Bürgerschaft und dem Parlament auch weitere Institutionen wie die Universität, der Adel, der hohe Klerus und die Monarchie, allen voran Franz I., immer wieder an den Umgängen beteiligt sind. Diese komplexe und nicht immer reibungsfreie Zusammensetzung erhöht einerseits die kollektive Aussagekraft im Fall gemeinsamer Prozessionen, kann aber auch zu kurzfristigen inneren Differenzen führen. Die Laien zeigen sich z. B. nach einem Ikonoklasmus im Jahr 1528 sehr aktiv und beginnen mit mehrtätigen und die ganze Stadt umfassenden Prozessionen. Erst nach und nach bekommen



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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die Universität und schließlich die Monarchie diese rasche Reaktion der Bewohner unter Kontrolle. Am Ende findet, wie auch nach der Plakataffäre 1534/35, eine Reparationsprozession statt, die alle Glieder und Gruppen der Stadt sowie die Führung des Königreichs inklusive des Königs einbinden. Abschließend konnte anhand zweier Beispiele aus der Herrschaft Ulm – Leipheim und Geislingen – gezeigt werden, dass es in den altgläubigen Gemeinden zu Prozessen kommen kann, die dem evangelischen Modell der „Gemeindereformation“ gleichen. Wenn altgläubige Gemeindemehrheiten und altgläubige Räte und Bürgermeister einer zwinglischen Obrigkeit und teilweise evangelischen Priestern gegenüberstehen, bedienen sie sich der rechtlichen und politischen Institutionen, die ihnen der südwestdeutsche Kommunalismus zur Verfügung stellt. Die politische Gemeindeführung versucht, die religiösen Anforderungen der Bewohner gegen obrigkeitliche Bestimmungen zu verteidigen bzw. Letztere auszubremsen. Außerdem intervenieren sie in kirchlichen Angelegenheiten, u. a. wenn die Priester zu bestimmten altgläubigen Handlungen gezwungen werden sollen oder aus der Gemeinde ausgegrenzt werden. Diese Vorgehensweisen führen nicht selten zu Auseinandersetzungen mit der Ulmer Herrschaft, die über Eingriffe in das kommunale Selbstverwaltungs-Brauchtum auch die religiöse Devianz angreift. Der Kampf für die Beibehaltung der alten gemeindlichen Verfassung fällt dann zusammen mit dem Kampf für die alte Religion.

Fazit Religiöse Rituale und Objekte und deren unterschiedliche Wahrnehmungen durch die Gläubigen sind sozial konstruierte Figuren, die in präzisen örtlichen und zeitlichen Konfigurationen entstehen und mit diesen in Beziehung stehen. In diesem Teil wurde deshalb den Kategorien Raum und Zeit in ihrer Verbindung mit der Entstehung altgläubiger Distinktionen und Zugehörigkeiten nachgegangen. Dazu zählen erstens die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Altgläubigen zurechtfinden müssen und mit denen sie auf vielfältige Weise umgehen. Das Alte Reich hat dazu mit seiner fraktalen Staatlichkeitsstruktur ein gutes Untersuchungsfeld geboten, das für die Reichsstadt Regensburg, die Freie Reichsstadt Ulm sowie für die Grafschaft Lippe operationalisiert wurde. Dabei hat sich gezeigt, dass die Verwicklung und wechselseitige Durchwirkung der politischen und rechtlichen Ebenen des Alten Reichs für die Altgläubigen sowohl Vor- als auch Nachteile bereithalten. Zu den Nachteilen zählen, dass etwa das Wormser Edikt und antilutherische Reichsabschiede nicht umgesetzt werden können und, mehr noch, protestantische Obrigkeiten evangelische Kirchenordnungen erlassen und somit den Raum des kulturell Möglichen für die Reformationsgegner in ihren Territorien drastisch beschneiden können. Die fraktalen Staatlichkeiten ermöglichen es zudem auswärtigen Herren, auch in nicht-reformierte Gebiete einzugreifen. Doch die Vorteile für die Altgläubigen überwiegen, v. a. in den Fällen, in denen sie in der gesellschaftlichen Minderheit sind oder unter protestantischen Herrschaften leben. Kirchsatzrechte und Kirchenjustiz bieten Patronage- und Schutzmechanismen. Die rechtlichen Zuständigkeiten sind vielfach umstritten und überkreuzen sich – altgläubige Laien bedienen sich von ihren Dörfern aus dieser Strukturen auf kreative und kenntnisreiche Art. Dabei suchen die Akteure nicht nach dauerhaften Lösungen, um die religiösen Unterschiede im Alltag zu organisieren, sondern nach Provisorien und Zwischenlösungen. In einem weiteren Schritt wurde untersucht, wie sich die altgläubigen Praktiken und Artefakte in den Raum einschreiben. Dabei wurden sakrale Räume ebenso untersucht wie städtische oder landschaftliche Topographien. Der Kampf um Raum hat sich nicht zuletzt als Kampf um Zugang zum sakralen Raum erwiesen, bis hin zum schlichten Erhalt von Kapellen und Andachtsstellen. Distinktive Praktiken und Gegenstände dienen immer auch der Aneignung von Raum für die eigene Gemeinschaft. Sie drücken die Faktizität bzw. die Potenzialität altgläubiger Kulturformen aus. Bei diesem Prozess werden mit den Praktiken auch die alten Artefakte von den Zeitgenossen in einen neuen, distinktiven Bedeutungszusammenhang gestellt. Dabei erweisen sich die Altgläubigen als anpassungsfähig hinsichtlich der materialen Grundlagen ihrer Kultur, z. B. wenn sie in Geislingen ein Retabel aus der Kirche nach der Reformation mit nachhause nehmen und dort die Devotion fortführen. Substitutionen von Artefakten wie der zerstörten Marienfigur in Paris 1528 finden im Rahmen komplexer Rituale statt und demonstrieren die Flexibilität und Innovationskraft der Altgläubigen. DOI 10.1515/9783110492460-020



5.2 Formen und Strategien der altgläubigen Gemeinschaftsbildung 

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Daraufhin wurden zwei Praktiken untersucht, bei denen auf exemplarische Weise die Frage nach der Aneignung und Benutzung von Raum, nach der Konstruktion religiös-territorialer Grenzen und der räumlichen Zugehörigkeit und Abgrenzung sichtbar werden: die anti-Ketzer-Prozessionen in Paris und Rouen sowie das Auslaufen von Gläubigen aus der Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet. Die Prozessionen in Frankreich sind ein effizientes, Distinktionen sichtbar machendes und Innovationen implizierendes Ritual. Dessen Einzigartigkeit und zumindest partielle Mobilisierungskraft wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass es derartige Sonderprozessionen in den drei Fallgruppen aus dem Alten Reich nicht gibt. Gängige Formen spätmittelalterlicher Prozessionen stehen in einem neuen Bedeutungszusammenhang und werden mit anderen materialen oder rituellen Elementen gemischt. Die Prozessionen werden dadurch zu einem flexiblen Instrument, um den städtisch-sakralen Raum für die Orthodoxen zu besetzen, Schaden von der Gemeinde abzuwenden und die „Ketzer“ an den Rand zu drängen. Laien werden durch Predigten spirituell in die Auseinandersetzung einbezogen und nehmen bei mehreren Märschen selbst teil. Das Auslaufen von Gläubigen aus der Reichsstadt Ulm und deren Herrschaftsgebiet hat sich als eine komplexe, dynamische und innovative Praxis erwiesen. Die Bewegung einer zuvor disparaten Gruppe zur selben Zeit auf dasselbe geographische und religiöse Ziel hin dürfte ein zumindest situatives Gemeinschaftsgefühl hervorrufen. Die betreffenden Laien werden sicht- und erkennbar, auch für die Evangelischen und die Obrigkeiten der Reichsstadt. Die personale und soziologische Komposition der Ausläufer verändert sich mit der Zeit erheblich, weist aber stets einen sehr hohen Frauenanteil auf. Teils weichen die Gläubigen aus, da sie etwa in Ulm keine Messe mehr feiern können, teils geben sie bei den Verhören an, nur vorreformatorische Bräuche weiterzuführen. Trotz Repressionen reisen die Auslaufvorkommnisse vor allem aus dem Landgebiet nicht ab. Aus der Praxis, die situativ Zugehörigkeit schafft, wird mit der Zeit der Ausdruck einer Zugehörigkeit. Das Auslaufen lässt die Ulmer Herrschaftsgrenzen zwar sichtbarer und klarer werden, doch schwächt es diese zugleich, da die Grenzen tatsächlich ständig überschritten werden. Abschließend wurden die kulturellen Prozesse untersucht, durch welche die Zeitgenossen der frühen Reformation allmählich altgläubige Distinktionen internalisieren und reproduzieren. Wichtig dafür sind neben den zeitlichen Zusammenhängen die rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen vor Ort, die mit der religiösen Zugehörigkeits- und Unterschiedsbildung zusammenwirken. Binnendifferenzierungen kommen dabei ebenso vor wie kollektive Reaktionen sozialer Entitäten. In lippischen Kleinstädten wie Horn gibt es Bemühungen, den Reformationsprozess durch die Gemeinden zu bremsen. Im Ulmer Landgebiet sind in vielen Kleinstädten und Dörfern teils klare Lagerbildungen und verschiedene Allianzen zwischen Bewohnern, Gemeindevertretern, Priesterschaft und Amtleuten ersichtlich. In Rouen und Paris kommt es in Form von regelmäßigen Prozessionen zu kollektiven Reaktionen der städtischen Institutionen, der Magistrate und der Monarchie auf Manifestierungen der „neuen Häresie“. In Rouen prozessiert das Domkapitel stellvertretend für die

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 Fazit

urbs christiana. Konfliktreicher verläuft die Antwort der Altgläubigen in Paris, wo neben dem Kapitel, der Bürgerschaft und dem Parlament auch die Universität, der Adel, der hohe Klerus und der König partizipieren – allerdings nicht immer gemeinsam. Doch immer wieder, etwa nach der Plakataffäre, findet eine kollektive Reparationsprozession statt. Anhand zweier Beispiele aus der Herrschaft Ulm  – Leipheim und Geislingen  – wurde zudem demonstriert, dass es in der Reformationszeit in altgläubigen Gemeinden zu Prozessen kommen kann, die dem reformatorischen Modell der „Gemeindereformation“ gleichen. Die politischen Gemeindeführungen versuchen dabei, die religiösen Forderungen der Bewohner gegen obrigkeitliche Bestimmungen zu verteidigen und gegenüber dem Pfarrer durchzusetzen. Der Kampf um die Beibehaltung der alten gemeindlichen Verfasstheit kongruiert mit dem Kampf um die alte Religion.

Zusammenfassung In dieser Studie wurden die sozioreligiösen Zugehörigkeiten der Altgläubigen und deren rituelle, materiale und repräsentationsgeschichtliche Auslöser bzw. Ausdrucksformen untersucht. Es wurde die Frage gestellt, wie aus manchen spätmittelalterlichen Christen während der Frühzeit der Reformation klar nicht-evangelische, alte oder „wahre“, jedenfalls näher zu spezifizierende Christen werden, deren Zugehörigkeiten sich, wie deutlich wurde, durch die bezugnehmende Abgrenzung zu einem unterschiedlich wahrgenommenen evangelischen Anderen ergeben. Konkret wurde eingangs gefragt, wie, wann und wo sich die Zugehörigkeit der Altgläubigen entwickelt bzw. verändert und wie die Gläubigen diesen Wandel wahrnehmen und das Eigene sowie das Andere repräsentieren. Dabei sollten besonders rituelle und materiale Distinktionen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Zudem wurde die Frage gestellt, ob, wie und unter welchen Voraussetzungen es zu Verdichtungen und mittelfristig zu Vergemeinschaftungen der Distinktionen in Form kohärenterer Gruppen kommt. Verbunden damit war schließlich die Einschreibung der Zugehörigkeiten in Raum und Zeit. Zwei quellenmäßig und methodisch verschiedene, aber dennoch in Bezug miteinander stehende Untersuchungskomplexe wurden aufgearbeitet. Zum einen die volkssprachliche Flugschriftenliteratur der Altgläubigen und die darin vorgebrachten Repräsentationen des Eigenen und des Anderen und deren rituelle Erkennungszeichen. Zum anderen wurden fünf Fallstudien aus dem Alten Reich und Frankreich verglichen, die ein möglichst breites Spektrum an Rahmenbedingungen für die Entwicklung altgläubiger Zugehörigkeiten und Distinktionen aufweisen sollten. Ausgewählt wurden (1) die östlichen Gebiete des Herzogtums Bayern, die Reichsstadt Regensburg sowie das Hochstift Passau, (2) die Freie Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet, (3) Ostwestfalen mit einem Schwerpunkt auf der Grafschaft Lippe, der Grafschaft Ravensberg und dem Hochstift Paderborn, sowie die französischen Städte (4) Rouen und (5) Paris. Die präzise, meist noch sehr situative und ortsbezogene, sich jedoch immer wieder auch verstetigende und sozial verdichtende Form der altgläubigen Zugehörigkeiten steht in einem komplexen Bezugssystem zu den allgemeinen Interpretationen und Repräsentationen in der Flugschriftenliteratur. Bei der Analyse der Fallstudien wurde ein möglichst breites Quellenkorpus ausgewertet. Es stand also weder eine bestimmte Praktik, noch ein bestimmter Quellentyp im Mittelpunkt. Vielmehr ging es um die Isolierung aussagekräftiger Vorkommnisse und Entwicklungen aus den genannten Städten und Regionen. Mein Zugriffspunkt auf den historischen Gegenstand waren die konkreten Momente des Konflikts, des Streits und der Auseinandersetzung um Praktiken, Gegenstände und Repräsentationen. In diesen werden die ersten altgläubigen Unterschiede sichtbar sowie für den Historiker fassbar. Auf diese Weise konnte die Problematik am effizientesten umgesetzt werden, die ja nach den Distinktionen und partikularen Zugehörigkeiten fragt. Diese entstehen eben nicht aus sich selbst heraus, sondern in Bezug zum Anderen. DOI 10.1515/9783110492460-021

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Im Verlauf der Untersuchung bestätigte sich die Wirksamkeit dieser Methodik: Das sonst bzw. zuvor nicht explizit gesagte Eigene wird in den Augenblicken der Konfrontation greifbar und in Anbetracht des evangelischen Anderen in seinen verschiedenen Spielarten neu gedeutet, verändert oder angepasst. Der erste Teil der Studie befasste sich mit der altgläubigen volkssprachlichen Flugschriftenkontroverse. Der statistische Vergleich der Publizistik im Alten Reich und Frankreich zeigte eine bemerkenswerte Interdependenz zwischen altgläubigen und evangelischen Flugschriften. Zwar hinkt die deutsche volkssprachliche Publizistik der Reformationsgegner jener der Protestanten vor allem bis 1525 stark hinterher. Im europäischen Vergleich aber sind die Zahlen außergewöhnlich hoch und lassen von einer bemerkenswert frühen und zumindest in der Intention angemessenen Reaktion der altgläubigen Kontroverstheologen sprechen. In Frankreich hingegen sind die Zahlen der expliziten und offenen Kontroversschriften auf beiden Seiten viel geringer. Die der Evangelischen werden verboten und die Verbreitung hart bestraft, dafür dissimulieren sie ihre Inhalte in auf den ersten Blick unverdächtigen Frömmigkeits- und Reformschriften. Die Grenze zu tatsächlich humanistisch-reformerischen Strömungen ist fließend – verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die umstrittene Einordnung des Kreises von Meaux. Entsprechend handeln die Orthodoxen und verfassen deutlich weniger „pamphlets“ als ihre Glaubensgenossen im Alten Reich. Als Pamphlete werden in der Forschung mitunter auch kontroversistisch umgeschriebene Frömmigkeitsbücher und Katechismen nach spätmittelalterlicher Art gewertet. Um diese Reaktionsmuster besser verstehen und einordnen zu können, wurden anschließend die altgläubigen Wahrnehmungen der evangelischen Textkulturen untersucht. Insbesondere die Produktion Luthers wird von den altgläubigen Autoren im Alten Reich als zunehmend bedrückend empfunden. Bilder von David gegen Goliath werden zu Illustrierung der Auseinandersetzung herangezogen, wobei sich die Autoren auch willentlich als einsame Kämpfer für die christliche Wahrheit stilisieren und gerade daraus Legitimität und einen heroisch-märtyrergleichen Status ziehen wollen. Andere Autoren bilden ihre Position damit aber auch durchaus realistisch ab, v. a. wenn sie in stark reformatorisch geprägten Städten leben. Kritisiert wird vor allem im Alten Reich die massenhafte Verbreitung und, wie auch in Frankreich, das geschickte Verdecken der „schädlichen Lehren“ unter guten Ideen. Was die Autoren stört, ist besonders die materiale Präsenz der Schriften im Volk, womit auch oft eindringliche Warnungen vor „verdächtigen“ Schriften verbunden wird, besonders wenn diese anonym veröffentlich werden. In Frankreich werden verdächtige Bücher häufig mit aus dem Alten Reich stammenden Büchern gleichgesetzt – nicht ganz zu Unrecht. Die Häresie gilt deshalb als Schriftimport aus dem Ausland und wird zu einem gleich doppelt fremden Phänomen: nicht französisch – und nicht christlich. Die Obrigkeiten im Alten Reich sind durch das Wormser Edikt eigentlich zur Verfolgung lutherischer Druckwerke verpflichtet, kommen dem bekanntermaßen aber nur teilweise und ohne durchschlagenden Erfolg nach. In meinen deutschen Fallstudien sind in dieser Hinsicht das Herzogtum Bayern und das Hochstift Passau am

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konsequentesten. In Rouen werden die Gläubigen in antireformatorischen Predigten zu Distanz gegenüber „Ketzerschriften“ angehalten und entsprechend aufgeklärt. In Paris kommt es zur Verbrennung verdächtiger Bücher, etwa im Rahmen von Hinrichtungen, wobei das Prozedere jenem gleicht, das bei verurteilten „Ketzern“ erfolgt – und mitunter zugleich durchgeführt wird. Allgemein ist die Zensur v. a. in Paris durch die Theologische Fakultät, in Zusammenarbeit mit dem Parlament, recht effizient. Im Alten Reich hingegen gibt es immerhin einen Fall altgläubiger Bücherverbrennungen in Eigeninitiative: Ein Priester reinigt sich dadurch selbst von den Luthertexten, die er einst gekauft und gelesen hat, und bricht so symbolisch mit seiner früheren Anhängerschaft an den Witteberger Augustiner. Hinsichtlich der altgläubigen Textkultur konnten frühere Annahmen widerlegt werden, wonach die orthodoxen Autoren zögerlicher, gehemmt und nur verschämt gegen die verurteilten „Ketzer“ vorgehen, mit denen sie laut kanonischem Recht eigentlich nicht mal diskutieren dürften. Tatsächlich tauchen im Alten Reich Rechtfertigungen für volkssprachliche Publikationen vor allem zu Beginn der 1520er-Jahre auf. Später werden sie seltener und stereotyper: ein rhetorisches Mittel. Tatsächlich beziehen sich die Autoren eindeutig auf vorhergehende „Ketzerschriften“ und sprechen in ihren Pamphleten die Gegner direkt an. In Frankreich antworten v. a. Doktoren der Theologischen Fakultät Paris, die es traditionell als ihre Aufgabe ansehen, Abweichler zu belehren und zu reglementieren. Dass die altgläubige Textkultur nicht nur rhetorisch, sondern auch praktisch in Bezug und direkter Konfrontation, ja nachgerade in Abstimmung auf die protestantischen Schriften entsteht, haben einige Detailuntersuchungen nahegelegt. Die Analyse einer bestimmten Kontroverse der Familie von Schwarzenberg hat gezeigt, dass die altgläubigen Autoren ihre Publikationsformate und die intendierte Reichweite auf die jeweiligen Kontexte und die Formen der evangelischen Schriften abstimmen. Zentral war die Erkenntnis, dass die Kontroversisten sich zwar auf Texte der Gegenseite beziehen, aber nicht schwerpunktmäßig an oder für diese schreiben. Vielmehr waren insbesondere im Alten Reich mit seinen breiter gefächerten Distinktionen und religiösen Gruppenbildungsprozessen die altgläubigen Schriften an ein altgläubiges Publikum gerichtet. Die Verbreitungsanalyse zeigte, dass die Texte über spezifische Netzwerke verschickt und weitergereicht werden – an Kleriker, Nonnen, Hofleute, Obrigkeiten, Stadtbürger und einfache Laien. Diese Verbreitung hat Folgen für den Inhalt: Um gekauft und rezipiert zu werden, mussten die Texte bestimmten Erwartungen hinsichtlich etwa der Theologie, der verteidigten Rituale und der Repräsentationen genügen. So spiegeln und vertiefen die Flugschriften tendenziell die Wissensordnungen und praktischen Normen, die bereits vorhanden sind. Es handelt sich nicht um Propagandaschriften, sondern um klar auf das eigene Publikum abzielende Publikationen. Deren Verbreitung ist vielfach überregional und der Besitz altgläubiger „büchleyn“ wird selbst als Zugehörigkeitsmerkmal eingeordnet. Die Klassifzierungsschemata hängen dabei stark von den Regionen und der Haltung der Klassifizierenden ab. In Frankreich wird von den Orthodoxen Erasmus von Rotterdam auf

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die Ketzerliste gesetzt, während ein altgläubiger Laie aus Zürich Luther – als Gegner Zwinglis – zu den alten Christen rechnet. Anschließend wurde der Taxonomie nachgegangen, wie sie in den analysierten Flugschriften hervortritt. Mit welchen Begrifflichkeiten fassen die Autoren das Handeln, die Personen und Gruppen der Gegenseite – und mit welchen Begrifflichkeiten das Eigene? In dieser Arbeit sollte der deutsch-französische Vergleich, eine breite Quellenbasis sowie eine spezifische Fokussierung auf die Luthergegner die Kenntnis deren Begriffswelt nochmals erweitern. Wie sich zeigte, erfolgt auch die Begriffsbildung entlang der typischen Konstruktionsmuster des altgläubigen Selbstbewusstseins: Bezug und Interaktion mit den Begrifflichkeiten der Anderen, Fortentwicklung und partikulare Aneignung eigener, mitunter aus dem Mittelalter kommender Eigenbegriffe. Die Reformationsanhänger sowie deren Handlungen werden früh und besonders häufig über die Namen der wichtigen Theologen gefasst, allen voran jenen Luthers, aber auch Zwinglis und, je präziser der lokale Bezug und je größer die Entfernung von Wittenberg, mit jenen weiterer Reformationsführer. In Frankreich wird der Gegenüber als „Ketzer“ bezeichnet (wie selbstverständlich auch in den deutschen Flugschriften), doch die namensbezogene Terminologie ist allein auf Martin Luther beschränkt. So werden auch humanistisch-reformerische Gruppen mitunter verdächtigt, der „lutherischen Sekte“ anzugehören, ebenso wie die Sakramentarier um 1540. Sowohl im Alten Reich als auch in Frankreich wird die Bezeichnung „Lutherische“ zum anprangernden Kampfbegriff, der die ketzerische Singulärposition der Benannten  – im Unterschied zur „christlichen Kirche“ – herausstreichen soll. Andere Begrifflichkeiten wie „Evangelische“ sind sowohl im Alten Reich als auch in Frankreich stärker umstritten, da sie von allen Seiten reklamiert werden. Dabei gewinnen die Reformatoren offenbar in der öffentlichen Rezeption die Oberhand, weshalb die Altgläubigen bei den fraglichen Begriffen zunehmend präzisieren müssen. Sie sprechen den Protestanten diese Bezeichnung ab oder stellen sie als „falsche“ Evangelische dar – im Unterschied zu den „wahren“ Evangelischen, die der Auslegung der alten Kirche folgen. Überhaupt spielen zeitliche Referenzen eine große Rolle. Die Reformatoren werden bekanntermaßen zu „Neuerern“ abgestempelt – ein Begriff, den diese wiederum den „Papisten“ anzuhängen versuchen. Die altgläubige Taxonomie kann, in Frankreich und dem Alten Reich, grundsätzlich drei Dimensionen haben. Die Anderen werden zu originären Neuerern und Erfindern, was im 16. Jahrhundert einem Negativattribut gleichkommt. Zudem werden sie zu Erneuerern bereits verdammter, aber regelmäßig wiederkehrender Häresien. Oder sie werden als weitere Zuspitzung in eine Ketzerchronologie gestellt. Die Altgläubigen entwickeln ihre Eigentaxonomien in einem doppelten Bezugsfeld. Zum einen als Gegenpart zu den Bezeichnungen des Anderen, zurückgreifend auf mittelalterliche Kirchenbegriffe, zum anderen in Verteidigung gegen verschiedene Fremdbezeichnungen. In deutscher und französischer Sprache begreifen sie sich selbst als „wahre“ Christen und Teil der christlichen Kirche, mitunter auch einfach

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nur als „wir Christen“ – eigentlich unkontroverse Bezeichnungen, die nun einen distinktiven Klang erhalten. Zunehmend werden jedoch Spezifizierungen nötig, was auf eine Vertiefung der Glaubensspaltung hindeutet. So werden aus „Christen“ insbesondere „alte“ Christen oder „Anhänger der alten Kirche“. Dieses Alte drückt Unveränderbarkeit sowie institutionelle Legitimierung des eigenen Handelns und Glaubens aus und weist nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft: Das Alte wird zum im Kern Immerwährenden. Es zeigte sich, dass der Begriff „Altgläubige“ eine quellenmäßig belegbare Selbstbezeichnung ist. Aus dem Verweis auf die Althergebrachtheit von Besitzungen und Handlungen lassen sich in der Frühneuzeit auch Rechtsansprüche ableiten: Es handelt sich also um eine starke und effiziente Taxonomie. Den Papst als Selbstbegriff verwenden die Altgläubigen – zumal in Frankreich – in aller Regel nicht. Zwei Begriffe werden vor allem in einem deutsch-französischen Vergleich erklärbar. Zum einen geht es um die deutsche Bezeichnung „gemeine Christen“. Der distinktive Gehalt dieses Selbstbegriffs wurde bisher unterschätzt, steht er doch, ähnlich wie der „wahre Christ“, im Gegenteil zum sich abspaltenden, falschen und die Kirche verlassenden Ketzer. Diesem steht auch der „gemeine Christen“ in der „gemeinen Kirche“ entgegen. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des Worts „catholicus“. Der gemeine Christ gehört also zu jenen, die Teil der weltumspannenden, allgemeinen und umfassenden Christenheit sind. Nur äußerst selten wird bis 1540 das lateinische Original mit „catholicen“ eingedeutscht. Im Französischen passiert dies mit „catholiques“ schon vor der Reformation. Die Selbstbezeichnung „chrétiens catholiques“ drückt also nichts anderes aus als „gemeine Christen“: Die Zugehörigkeit zu einer sich selbst als universell und allgemein auffassenden Glaubensgemeinschaft. Allerdings verleitete das frühe Auftauchen des Begriffs im Französischen in der Forschung mitunter zu verfehlten, da anachronistischen Einordnungen auf einer Stufe mit den konfessionalisierten Katholiken der Religionskriege. In einem nächsten Schritt wurden die Repräsentationen zuerst des Anderen und dann des Eigenen auf Metaphern, Vergleiche und Bilder ausgedehnt, wie sie in den Flugschriften auftauchen. Dabei erfolgen die Repräsentationen fast ausschließlich schriftlich. Von Ausnahmen abgesehen, fehlt bei den Altgläubigen der Bilderreichtum der Reformatoren. Martin Luther steht im Mittelpunkt der personalen Repräsentationen des Anderen. Gerade zu Beginn der reformatorischen Auseinandersetzung wird mit einer Mischung aus Geringschätzung und Erstaunen registriert, wie ein kleiner Bettelmönch eine derart große Wirkung entfalten kann. Eine populäre und weit verbreitete Beschreibung Luthers ist die Verbindung mit dem Teufel. Zum einen werden dem Wittenberger klassische diabolische Charaktereigenschaften zugeschrieben, darunter List, Heimlichkeit, die Verbindung mit dem Dunklen sowie Verführungskraft. Weiterhin gilt er als Hauptmann des Teufels auf Erden, als dessen Vollstrecker und Mitarbeiter. Demnach erhält er seine verführerischen Ideen direkt durch den Teufel eingeflüstert. Mitunter wird Luther, wie andere Reformatoren dieser Zeit auch, als letztes Glied einer langen Reihe irdischer Führer der Teufelskirche dargestellt. Der

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Wittenberger wird repräsentiert als falscher Prophet und falscher Ecclesiast, womit wiederum Selbstbezeichnungen Luthers aufgegriffen und refutiert werden. Dieser sei vielmehr ein endzeitlicher Verführer und falscher Heilsbringer, wie er in der Bibel von Jesus angekündigt wurde. Hier finden sich die jedoch sparsam verwendeten eschatologischen Motive in Luther personifiziert. Er bereitet einerseits mit seiner Bewegung dem Antichristen den Boden, ist aber auch ein Zeichen des nahenden Weltenendes mit seinen Prüfungen für die „wahren“ Christen. Zudem wird er als gewalttätiger Aufrührer, Bauernführer und Unruhestifter repräsentiert, der unter dem Vorwand der guten Religion die soziale Ordnung zerstören wolle. Neben Luther wird, v. a. im Süden des Alten Reichs, Huldrych Zwingli zur häufig angeprangerten und karikierten Gallionsfigur der Gegenseite. Die ihm verliehenen Attribute ähneln in vielerlei Hinsicht jenen Luthers, als dessen Ausgeburt Zwingli dargestellt wird. Innerlich seien die Reformatoren reißende Wölfe, die sich nach außen als Schafe geben. In Frankreich werden außer Luther meist keine weiteren Reformatoren direkt angeprangert, was sicherlich auch mit dem hohen Grad an dissimuliertem und nur schwer fassbarem „ketzerischen“ Schriftgut zu tun hat, gegen das die Altgläubigen sich wenden könnten. Die Gegenseite ist personell schwerer fassbar, weshalb der Umweg über Luther genommen werden muss. Die breite Masse der evangelischen Gläubigen wird in der volkssprachlichen Publizistik als irregeleitete, schutzlose, schlecht geweidete und den Angriffen von Wölfen und Dieben schutzlos ausgesetzte Schafherde gezeichnet. Die Früchte des Baums der lutherischen Lehre würden im Volk in Form von Fleischlichkeit, Habgier, Abfall von religiösen Pflichten und Aufständen bereits sichtbar werden. Im Alten Reich findet diese Vorstellung in Form des Karsthans eine entsprechend ausgeschmückte literarische Symbolfigur, ebenso wie die bäuerliche Aufstandsvereinigung des „Bundschuh“. Die Lutherischen schlagen demnach die Trommel der Freiheit und die Laien folgen ihnen. Das altgläubige Eigene wird in Bezug zu diesen Darstellungen des Anderen, aber auch als Antwort auf die Repräsentationen entwickelt, welche die Protestanten von den „Papisten“ vorlegen. Im literarischen Eigenen findet sich somit auch ein Stück des Anderen wieder – und umgekehrt. Die Autoren sehen sich als „wahre Christen“ und immanenten Bestandteil der alten und ewigen Kirche Gottes. Diese stehe im immerwährenden Kampf mit der Kirche des Teufels, dessen neueste Speerspitze Luther, Zwingli und die evangelischen Bewegungen seien. Die Altgläubigen stehen dabei auf der in der Geschichte immer sicheren Seite, auf jener der ecclesia semper triumphans. Diese Einordnungen in die Vergangenheit und das Heranziehen historischer Vergleiche dient nicht zuletzt der Selbstvergewisserung und der Einordnung des Eigenen sowie des Anderen im neuen, unsicheren Kontext der frühen Reformationszeit. Dabei sehen einige Autoren, vor allem im Alten Reich, eine eschatologische Beschleunigung und Verschärfung des Kampfs der alten Kirche gegen die Ketzerkirche. Die Altgläubigen seien die Menschen, die sich durch ihren Glauben und ihre Handlungen in den letzten Zeiten bewähren und sich von den falschen Christen unterscheiden.

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Die zeitliche Kategorie des Alten und Bewährten findet einen vielfältigen metaphorischen Niederschlag. Da ist etwa das Schiff Petri, auf dem sich die Altgläubigen befinden, das die Ketzer schon oft zum Sinken bringen wollten und dies doch nie geschafft haben. Die wahren Gläubigen stehen beim Licht, im hellen Schein der Erkenntnis und richtigen Glaubensauslegung, und erhalten die reine Lehre als Medizin gegen das Gift der lutherischen Häresie. Die Gläubigen der alten Kirche sind die gehorsamen Schafe, geweidet auf den guten Feldern des Glaubens von treuen Hirten – dem Papst (zumindest im Alten Reich), den Kardinälen, Bischöfen und Pfarrern sowie von der christlichen Obrigkeit. Der sichere Schafstall ist die Papstkirche. Die alte Kirche und deren Religion stehen auf dem Felsen Petri. Doch wird der Papst als repräsentativer Referenzpunkt im Alten Reich bereits zurückhaltend herangezogen, so taucht er in Frankreich in den volkssprachlichen Flugschriften schlichtweg nicht auf. Überhaupt spielen Metaphern der Körperlichkeit als Repräsentation für gesellschaftliche und kirchliche Strukturen eine große Rolle. Dabei spielen mittelalterliche Gesellschaftsvorstellungen sowie die traditionelle Assoziation von Sünde und Krankheit eine gewichtige Rolle. So sollen alle Glieder im corpus Christianum an ihrer Stelle bleiben: Soziale und religiöse Stratifikation und die Bejahung deren Fortdauer zeichnen demnach den alten Christen aus. Häretiker sind in diesem Zusammenhang jene bzw. befinden sich an den Körperstellen, die verfault und krank sind. Sie müssen, sofern sie durch die christliche Lehre nicht geheilt werden können, abgeschnitten werden, um die Erkrankung und den Tod des gesamten Körpers zu verhindern. Dabei haben sie sich auch selbst abgesondert und sind als abgetrennte Gliedmaßen nicht überlebensfähig. Abschließend wurden im ersten Teil die Darstellungen jener religiösen Praktiken und Gegenstände untersucht, die den Unterschied zwischen Alt- und Neugläubigen aus der Perspektive der orthodoxen Autoren ausmachen. Dabei offenbarten sich ein komplexes Zusammenspiel aus regionaler Vertiefung und supraregionaler Verständlichkeit sowie, v. a. im deutsch-französischen Vergleich, verschiedene Streuungsbreiten bzw. Fokussierungen der Distinktionen. Zuerst wurde die Messe und die Kommunionspraxis untersucht – Themen, die in allen Fallstudien und in allen hier behandelten Sprachen von zentraler Bedeutung sind, aber doch in unterschiedlicher Gewichtung. Als Spiegel des reformatorischen Abendmahlsstreits und der Spaltung zwischen lutherischer Konsubstantiation und zwinglischem Symbolismus verschieben sich auch bei den altgläubigen Autoren die Schwerpunkte. Während bei Texten aus Sachsen etwa die Liturgie – deutsche oder lateinische Messe – sowie die Kommunionsform – sub una oder sub utraque specie – im Mittelpunkt stehen, tritt im Süden des Alten Reichs und, ab Mitte der 1530er-Jahre und insbesondere nach der sakramentarischen Plakataffäre, auch in den französischen Quellen, die Frage nach der Substanz des Sakraments mit großer Wucht hervor. Damit verbunden werden in den Flugschriften auch die Devotionen, die dem nun unterschiedlich aufgefassten Artefakt Hostie aus altgläubiger Sicht entgegengebracht werden sollen.

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 Zusammenfassung

Die Praktiken mit Bezug zur Rechtfertigung der Sünden und zur spirituellen Reinheit – das Bußsakrament sowie das Fasten – wurden anschließend in ihren Darstellungen stichprobenartig untersucht. Der Ablass wird in den Flugschriften überraschenderweise nur selten behandelt und kaum als positives Erkennungszeichen des Eigenen herausgestellt. Dieses Schweigen kann unterschiedlich bewertet werden: Im Alten Reich drückt es eine ambivalente und zurücknehmende Haltung gegenüber einem stark in die Kritik geratenen Ritual aus, in Frankreich hingegen spiegelt es die weitgehende Normalität dieser Praxis wieder. Die österliche Beichtpflicht in Form der privaten Ohrenbeichte mit anschließender Absolution wird überall im Alten Reich noch stärker betont und erhält eine kontroverse Note. Deren Vernachlässigung wird, ebenso wie das Fastenbrechen, als Realisierung evangelischer Charaktereigenschaften wie Fleischlichkeit und ein den Sünden zugeneigtes Leben dargestellt. Bezüglich der Taufe sind die faktischen Diskrepanzen zwischen Zwinglischen, Lutherischen und Altgläubigen im Angesicht der Wiedertäufer gering. Diskutiert wird deshalb insbesondere, wer für die Täufer verantwortlich sei. Die Altgläubigen sehen diese als Folge und Nachfolger von Luther und insbesondere von Zwingli. Letzte Unterschiede ergeben sich schließlich bei den Sterbe- und Todespraktiken, wo gleich drei Sakramente  – die Beichte, die Kommunion und die letzte Ölung  – verbunden sind und in den Flugschriften ein breites Reservoir an Distinktionen mit den entsprechenden regionalen Schwerpunktsetzungen bieten. Die aufwändige Sterbebegleitung ist für die altgläubigen Autoren äußerst wichtig, da diese die Seele der Sterbenden im entscheidenden letzten Augenblick stärkt und schützt. Kreuze oder Lichter sind demnach keine Ablenkung, sondern helfen bei der Konzentration auf die innere Andacht. Auch Maria und die Heiligen bilden zentrale Distinktionsmerkmale, einerseits hinsichtlich der Verehrungs- und Fürbitte-Rituale, andererseits hinsichtlich der Materialität der Kulte. Auch hier lassen sich leichte, wenngleich auch nie exklusive regionale Schwerpunktsetzungen ausmachen. Während in Texten aus dem Norden des Alten Reichs eher die Entfernung der Bilder und Figuren aus den Kirchen aus Gründen der Habgier angeprangert wird, müssen die Autoren aus dem Süden des Alten Reichs auf gelegentliche Ikonoklasmen und die gründliche Revision der Sakralumgebung reagieren. In den Flugschriften aus diesen Gegenden heißt es, dass sich an den Abgebildeten selbst vergehe, wer sich an den Abbildungen vergreift. In Frankreich stellen der Heiligen- und Marienkult das mithin wichtigste konkrete Differenzthema bis zu Beginn der 1530er-Jahre dar. Die Altgläubigen verteidigen die fraglichen Kulte als nützlich, effizient und traditionsbewährt. Sie eignen sich diese neu als Erkennungsund Praxiszeichen des „wahren“ Christentums an. Überhaupt werden das Ob und Wie der Ausgestaltung von Sakralräumen mit Bildern und Schmuck jeglicher Art überall zu einem Deutungs- und Klassifizierungsmuster. Im Unterschied zu den „eigenen“ Kirchen sind für die altgläubigen Autoren die der „Ketzer“ gottferne Räume, in denen die materialen Anreiz- und Anknüpfungspunkte zur Transzendenz fehlen.

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Auffällig bei den aufgezählten distinktiven oder umstrittenen Praktiken ist die fehlende lokale Präzisierung. Nur selten werden einzelne Fälle oder örtliche Begebenheiten aufgegriffen und geschildert, nur selten werden Auseinandersetzungen z. B. um einzelne Kirchen oder Rituale in einem bestimmten Ort aufgegriffen. Vielmehr fällt insbesondere im Alten Reich ein weites Feld der Distinktionen in den Flugschriften auf, das von den Autoren regelmäßig in aller Breite durchmessen oder zumindest angedeutet wird. Dieser Befund ist kein Zufall und drückt kein Scheitern oder gelehrte Abgehobenheit der Autoren aus, sondern liegt vielmehr in der Natur des Mediums Flugschrift begründet. Diese sollen möglichst überall verstanden werden. Texte aus dem Herzogtum Sachsen werden nachweislich auch im schwäbischen Biberach und dem fränkischen Nürnberg rezipiert. Damit dies geschieht, sollen die dortigen Leser und Hörer sich, ihre Herausforderungen und Konflikte, allgemein in den Flugschriften wiederfinden. Diesem Umstand ist die fehlende Detailversessenheit geschuldet, die man mitunter auf lutherischer Seite mit den vielen anonymen Schriften mit teilweise äußerst präzisen lokalen Bezügen findet. Im Unterschied dazu ist die derart repräsentierte Frontlinie der Unterschiede in Frankreich deutlich enger gezogen und weniger konstant, sondern auf bestimmte Hochzeiten beschränkt. Bis Anfang der 1530er-Jahre spielen der Marien- und Heiligenkult eine wichtige Rolle, danach zusätzlich die theologische Frage nach der Substanz und der Verehrung des eucharistischen Sakraments und der Messe. Heftige schriftliche Kontroversen erfolgen eher situativ, besonders nach der Plakataffäre 1534/35. Dies mag auch daran liegen, dass sich in dieser Phase der Reformation die evangelische Seite nur spontan und fokussiert artikulieren kann. Im zweiten Teil der Arbeit wurden diese Repräsentationen der rituellen und materialen Praxis sowie die damit verbundenen Wissenskulturen und Bilder des Eigenen und des Anderen mit der sozioreligiösen „Realität“ in den fünf Fallstudien in Bezug gesetzt. Ich untersuchte dabei die bedeutungsmäßige und mitunter performative Aktualisierung verschiedener Liturgien, Rituale und Brauchtümer sowie deren sozioreligiöse Aussagekraft in der frühen Reformationszeit. Was zuvor „normal“ war, wird in der frühen Reformationszeit vielfach distinktiv. Aber nicht alle alten und von den Protestanten in ihren Schriften und Predigten kritisierten Rituale werden überall, gleichzeitig und auf dieselbe Weise zu altgläubigen Zugehörigkeitsmerkmalen. Besonders im Alten Reich ist, das zeigte der Vergleich mit den französischen Fallstudien, die Bandbreite dessen, was aus einem Christen einen altgläubigen, alten, wahren, jedenfalls näher zu spezifizierenden Christen macht, sehr vielfältig und verschieden gewichtet. Konfliktmomente, Gegenstände oder bestimmte Ritualbausteine, die im Ulmer Landgebiet zu Differenzierung führen bzw. diese spiegeln, stellen unter Umständen in Westfalen oder Paris keinerlei Schwierigkeiten dar. So haben wir es vielfach – lange vor der Konfessionalisierung – mit meist situativen, eher spontanen und je nach Region und sozialer bzw. politischer Ebene sehr diversen Konflikten zu tun. Dies wirkt sich auch auf die Bildung dessen aus, was mit den distinktiven Praktiken zusammenhängt: Die noch sehr heterogenen, fluiden und oft spontanen alt-

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gläubigen Praxis-, Deutungs- und Glaubensgemeinschaften vor Ort, die sich um ein bestimmtes Konfliktfeld herum gruppieren bzw. zu Auseinandersetzungen führen. In der Varianz dessen, was altgläubige Zugehörigkeiten im Präzisen ausmacht, hallt auch ein Stück weit die Natur der spätmittelalterlichen Religionskultur nach, die ja auch lokal spezifisch und von Ort zu Ort, von Pfarrei zu Pfarrei graduell verschiedenartig war. Von dieser spätmittelalterlichen Heterogenität unterscheidet sich die reformationszeitliche Heterogenität jedoch grundsätzlich dadurch, dass Prinzipienfragen des Heils, der Ekklesiologie und der Zeit zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden. Zudem hat die neue Unterschiedlichkeit überregionale Bezüge. Die Flugschriften und deren Repräsentation von Zugehörigkeit haben an dieser Stelle eine historische Scharnier- und Vermittlerfunktion. Präzise distinktive Praxis und deren allgemeine Spiegelung in der polemischen volkssprachlichen Literatur hängen eng zusammen und spiegeln sich ineinander. Die Untersuchung der altgläubigen Distinktionen wurde mit den Personen begonnen, die für einen großen Teil der Rituale unentbehrlich sind: die Priester. Sie machen religiöse Angebote, aber sie machen diese nicht völlig aus eigenen Entscheidungen heraus, sondern sind gebunden an Obrigkeiten, Gemeinden und kirchliche Institutionen. Dabei sind die Glaubensüberzeugungen und Zugehörigkeitsentwicklungen der Geistlichen von großer Bedeutung für das Angebot, das sie den Laien unterbreiten bzw. dessen Rezeption sie kontrollieren. Zum einen ist da der Bezug zu den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten, die Vorschriften erlassen, den Klerus bei Synoden und Visitationen kontrollieren und bei Beschwerden etwa aus den Gemeinden entscheiden. Für altgläubige Kleriker ist bezüglich ihres Verhaltens gegenüber der Obrigkeit deren Glaubenshaltung von großer Bedeutung. Während etwa in Bayern, Rouen oder Passau altgläubige Geistliche nicht explizit auffallen, da sie konform gehen mit den Mandaten der Herrschaft, ändert sich die Lage in Ostwestfalen, wo sie bereits vor der Reformation in Lippe oder in Ravensberg über einen weniger starken Rückhalt von „oben“ verfügen. Schwieriger ist es auch in Paris, etwa während der Absenz von König Franz I., als etwa 1533 altgläubige Prediger verhaftet und verbannt werden, da sie sich zu kontrovers geben. Äußerst komplex ist die Situation für den orthodoxen Klerus in reformierten Territorien, allen voran in Ulm und in Lippe nach 1538. Die Geistlichen boykottieren dann evangelische Synoden oder ziehen ihre auswärtigen Patronatsherren heran, um weiterhin altgläubige Rituale durchführen zu können. Bis Rechts- und Herrschaftsverhältnisse geklärt sind, können dann oftmals von den protestantischen Landesherren keine faktischen Änderungen der Ritualkultur durchgesetzt werden. Auch Dissimulation oder möglichst unauffälliges Durchführen devianter, aber dennoch von den Zeitgenossen als wahlweise „gute alte“ oder „papistisch“ wahrgenommene Praktiken sind Lösungsmöglichkeiten. Auch die Zugehörigkeiten der Priester selbst ändern sich: Je nachdem, wie sie sich in einem spezifischen Kontext verhalten – etwa bezüglich des liturgischen Angebots, der sakralen Praktiken, in Predigten aber auch hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes – hegen sie bestimmte Aussageabsichten oder bieten Anhaltspunkte für distinktives Erkennen. Der Laienbruder

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Göbel Schickenberge aus dem Hochstift Paderborn wird auf seinen Reisen anhand seiner Kutte als Mönch erkennbar, was von den Beobachtenden zunehmend als altgläubiges Bekenntnis gegen Martin Luther und dessen Kritik am Mönchtum gewertet wird. Göbel ist bedacht auf ein solches Bekenntnis, weiß dieses aber auch in kritischen Momenten zu dissimulieren. In anderen Fällen unterscheidet sich das Priesterornat bei liturgischen Handlungen zunehmend von der Kleidung protestantischer Prädikanten. Bei der Zugehörigkeitsentwicklung altgläubiger Geistlicher spielen Konflikte mit evangelischen Priestern vor Ort, in derselben Kirche, derselben Pfarrei oder zwischen benachbarten Orten, eine wichtige Rolle, nicht zuletzt da sie somit zur Polarisierung innerhalb der Gemeinden beitragen. Auffällige Beispiel waren hier die mobilisierenden Predigtauseinandersetzungen in Paris in den Jahren 1533–1534 sowie in der Ulmer Landstadt Geislingen um 1530. In einem zweiten Schritt wurden die Praktiken des Heils und der Heiligung untersucht, bei denen sich die eingangs beschriebenen Phänomene der distinktiven Entwicklung von Bedeutungen und mitunter von Performanzen sowie die regional verschiedenen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen der Auseinandersetzungen zeigen. Zum einen konnte dies bei der Messliturgie und der eucharistischen Praxis beobachtet werden. Sofern tatsächlich Abweichungen von der spätmittelalterlichen Kommusionsnorm auftreten, ist der fundamentale Unterschied des Laienkelchs gerade während der Frühreformation in allen drei deutschen Fallstudien von Bedeutung. Dies ändert sich indes nach der symbolistischen Wende der Reformation in der Eidgenossenschaft und in Oberdeutschland sowie mit der Verbreitung sakramentaristischer Ideen in Paris und Rouen. In Bayern und Passau, wo ebenso wie in Ostwestfalen altgläubige auf lutherische Kulturen und deren Idee der Konsubstantiation treffen, bleibt in der Praxis das Hauptaugenmerk der Unterschiede auf dem Konflikt zwischen Hostienkommunion und Laienkelch während der 1520er- und 1530erJahre bestehen. Da der Empfang der Kommunion unter beiderlei Gestalt in Bayern und Passau bestenfalls sporadisch oder durch Auslaufen möglich ist, artikuliert sich der Unterschied der Zugehörigkeiten im Empfang der österlichen Kommunion durch die Altgläubigen und deren Boykott durch die Lutherischen. In Ostwestfalen hingegen scheinen vielfach, zumal in Ravensberg, beide Kommunionsformen möglich zu sein. Die Auseinandersetzung verschiebt sich auf die Annahme oder die Ablehnung des Laienkelchs. In Ulm hingegen treffen die Altgläubigen auf eine stark veränderte Gottesdienstliturgie und Kommunionsform der Zwinglischen, bei der ihnen neben dem Laienkelch besonders das Austeilen von symbolischem Brot ins Auge fällt. Der Unterschied bezieht sich für die Altgläubigen in der Folge auf die Inszenierung des Sakraments als wahrer Leib Christi in Gottesdiensten und Devotion. Der Laienkelch hingegen tritt in den untersuchten Quellen als Streitmerkmal fast nie auf, zumal auf der Ebene der Pfarreien. In Paris und Rouen wiederum bleibt die Kritik der Sakramentarier, die jener der Ulmer Reformatoren vom Grundsatz her sehr ähnlich ist, auf Schriften beschränkt. Konkrete Anhaltspunkte für die tatsächliche Änderung der Liturgie und der Kommunionsform sind bis Ende der 1530er-Jahre in den Quellen

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nicht aufgetaucht. Dennoch hat die Plakataffäre zur Folge, dass z. B. in den Reparationsprozessionen die Hostie in den Mittelpunkt der Inszenierung gerückt wird. Sie bildet das große Thema des Unterschieds ab dem zweiten Drittel der 1530er-Jahre. Auf diesen Konflikt fokussieren sich die Differenzen in einer im Alten Reich so nicht gekannten Art. Ein beicht- und bußfertiges Leben ist das Ideal jeder der entstehenden Religionsgemeinschaften. Dennoch ergeben sich Auseinandersetzungen um die Ausübung, die Bedeutung und die Zusammenhänge der Beichte. Zudem taucht sie häufiger nur in den Fallgruppen Ulm und Bayern bzw. Passau auf. In Ulm gibt es vereinzelt Berichte, dass die Altgläubigen nach der Reformation zur Beichte in benachbarte Territorien ausweichen. Zuvor war das Sakrament Thema in altgläubigen Predigten. Wichtig ist sie etwa in Bayern, wo sie – gemeinsam mit dem Fasten – als Reinigungs- und Vorbereitungsprozess eng mit der österlichen Kommunion verbunden ist und ein Hochfest der sich wechselseitig bedingenden distinktiven Praktiken wird. So wird nicht nur die Kommunionsform, sondern auch die Beichtpraxis strenger kontrolliert und in Mandaten eingefordert. Dabei lässt sich etwa in Passau beobachten, wie angesichts lutherischer Devianzen spätmittelalterliche Lässlichkeiten wie die nur einmalige Beichte statt der eigentlich vorgeschriebenen doppelten Beichte nun nachdrücklich eingefordert werden. Die Praxis wird in diesem Fall verhärtet und de facto in der Performanz verändert: Nur wer zweimal beichtet, handle dem wahren christlichen Brauch gemäß und demonstriert seine Orthodoxie. Damit hängt auch die Fastenzeit vor Ostern sowie an bzw. vor bestimmten Feiertagen zusammen. Die Fastengebote als altgläubiger Brauch und die Vernachlässigung bzw. der ostentative Bruch der Speisevorschriften als evangelische Verhaltens- und Bekenntnisform treten als Konfliktmerkmale in allen Fallgruppen mit der Ausnahme von Rouen auf. Die Speisegebote reichen tief in den Alltag der Menschen und bieten reichlichen und lebensnahen Gesprächs- und Distinktionsstoff. Gläubige können durch ihre in einem religiösen Zusammenhang stehende Ernährungsweise von anderen klassifiziert werden oder provozieren. Fasten bietet Stoff für Streit und Beschimpfungen, etwa in den Ulmer Landgebieten. Dort ist der Brauch tatsächlich schon vor 1531 nicht mehr obrigkeitlich geboten  – aber die Nichteinhaltung des Fastens wird freilich nach der Reformation nicht kontrolliert. So bleibt das Problem in den Händen der Gläubigen und Geistlichen auf der Mikroebene, führt immer wieder zu Konflikten und macht Zugehörigkeiten erkennbar. In Paris ist das Fasten ebenfalls ein Thema: Der Vorwurf des Fleischessens dient etwa zur Denunziation und als wirkmächtige Anschuldigungen bei Intrigen am Hof. In einem dritten Schritt wurden die Übergangsriten bei der Geburt und dem Tod auf ihre verschiedenen distinktiven Gehalte hin untersucht. Bezüglich der Taufe ist es nicht das Sakrament an sich, sondern einzelne, oft sakramentale Bestandteile desselben, die Differenzen auslösen. Insbesondere im Raum Ulm ergeben sich dabei Konflikte, da sich die zwinglisch beeinflusste Kirchenordnung durch die Abschaffung des Exorzismus sowie das Fehlen des Weihwassers in zentralen Elementen von der alten

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Taufkultur unterscheidet. Ulmer Altgläubige, v. a. aus dem Landgebiet, lassen ihre Kinder deshalb gelegentlich auswärts taufen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Hebammen: Sie substituieren auf Wunsch der Eltern oder der Paten offenbar den evangelischen Geistlichen und führen in einer Nottaufe den Exorzismus und womöglich die Taufe mit Weihwasser durch, das weiterhin von auswärts in das Territorium gebracht wird. In den Augen der Ulmer Obrigkeit handelt es sich dabei eindeutig um „papistische“ Praktiken. Allgemein konfliktträchtiger sind die Rituale, die das Sterben und das Totengedenken anbelangen. Für die Altgläubigen geht es darum, dem Sterbenden mit den Sakramenten der Kommunion, der Beichte und der letzten Ölung sowie mit allerlei Brauchtümern – das Halten von Kerzen und Kreuzen und die Gebete der Umstehenden  – einen guten Tod im gefahrvollen, heilsentscheidenden letzten Moment zu ermöglichen. Nach dem Ableben wird der Verstorbene bewacht, eine Folge aus Seelmessen, Gebeten, der Aufbahrung in der Kirche und schließlich der Beerdigung setzt ein. Die Seele des Verstorbenen sollte im Fegefeuer mit Fürbitten, Jahrtagsmessen oder regelmäßigen Gängen zum Grab unterstützt werden. Dieses dichte Sakramentsund Brauchtumsensemble bietet vielfältigen Raum für Differenzen. In Gegenden wie Ulm bis Mitte der 1520er-Jahre oder in Regensburg stellt sich die Frage, was mit Gläubigen geschehen soll, die einen zentralen Teil der zum „christlichen“ Tod erforderlichen Sakramente ausgelassen oder verändert haben, also z. B. die Kommunion unter beiderlei Gestalt empfingen. Denn diese Praxis wird als Bekenntnis zur „Häresie“ gewertet und den Verstorbenen das Begräbnis auf dem Kirchhof in geweihter Erde verweigert. Daraus ergeben sich mitunter längere juristische und politische Auseinandersetzungen. Die Suche der Lutherischen nach Beerdigungsstäten ist also nicht nur einem theologischen Impetus der stärkeren Trennung der Lebenden von den Toten geschuldet, sondern auch praktischen Erwägungen des Konfliktausgleichs. Nach der zwinglischen Wende in Ulm wird dort das Sakrament der Eucharistie und dessen Inszenierung als wahrer Leib Christi bzw. als symbolisches Brot zu einer zentralen Wasserscheide der religionsgemeinschaftlichen Zugehörigkeiten. Dies wird einigen Gläubigen etwa bei einem Versehgang im Jahr 1529 zum Verhängnis: Während zwinglische Anwohner sich über das Sakrament lustig machen und dessen Effizienz bei Krankheit bezweifeln, knien die Frauen, die den Priester mit der Hostie begleiten, ostentativ zum Gebet nieder und lassen sich zumindest äußerlich nicht vom Gespött beeindrucken. Der Priester verteidigt die Versehgangspraxis und die Realpräsenz. Das Totengedenken in Form von Fürbitten und Lektüren aus dem catalogus mortuorum sowie die Seelmessen werden auch andernorts von Altgläubigen nachdrücklich gefordert, beibehalten und durchgeführt – und von den Evangelischen kritisiert, gestört oder abgeschafft. Dadurch gewinnen die Sterbe- und Totenpraktiken ein distinktives, aber sehr vielfältiges und in den einzelnen Konflikten spezifisches Unterscheidungspotenzial. Die Konflikte haben oft lange zeitliche Rückbezüge, etwa was Seelgerätstiftungen anbelangt, und bauen ein Differenzfeld auf, das tief in die per-

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sönliche Erinnerung an Verstorbene und die Hoffnung auf das eigene Heil nach dem Tod eingreift. Die Hinrichtung von „Ketzern“ kommt, abgesehen von den Täufern, in den 1520erund 1530er-Jahren, v. a. in Rouen und Paris vor. Es handelt sich um einen erzwungenen Tod, der jedoch zu einem forcierten „christlichen“ Tod stilisiert wird. Die Selbstzeugnisse der beiden Laien und des Mönchs aus Paris zeigen, dass die Zuschauer der Hinrichtungen ein besonderes Augenmerk darauf legen, ob der Verurteilte die zum guten Tod gehörenden Sakramente empfängt und in welcher Verfassung er die Hinrichtung erleidet. Die Erfüllung der Vorschriften wird als Bekehrung und Reintegration in die christliche Kirche in extremist gedeutet. In den Quellen heißt es dann, der Verurteilte sei als „guter Christ“ gestorben. Auch das Halten des Holzkreuzes wird als gute Praxis gedeutet. Wer einen Teil der Sakramente verweigert – etwa nicht widerruft und somit das Bußsakrament nicht wahrnimmt – stirbt in dieser Wahrnehmung als „verrannt“ in den „Irrtümern“. Zudem wird im Vorfeld der Hinrichtungen durch die öffentlichen Bußstrafen (amendes honorables) die – wohl vielfach erzwungene – Reue des Verurteilten repräsentiert. Dabei wird sein Vergehen nochmals aufgegriffen und Wiedergutmachung erzwungen, etwa in Form von Gnadenrufen vor Notre-Dame nach Marienlästerungen oder durch das Abhacken der Hand jener, die 1534 die messkritischen Pamphlete verteilten. Das Gesamtritual der Hinrichtung dient zur „reinigenden“ Wiederaufnahme des verurteilten Ketzers in die Christenheit bzw. zur ostentativen Exklusion der beständigen Evangelischen. Zudem bieten die Hinrichtungen eine Plattform zur Inszenierung und Affirmation spezifisch altgläubiger Glaubensüberzeugungen – und dies unter der Regie der orthodoxen Institutionen. Im letzten Kapitel des zweiten Teils wurde in den fünf Fällen die distinktive Funktion des Marien- und Heiligenkults und dessen Funktion bei der religiösen Differenzierung untersucht. Von Interesse waren dabei insbesondere die Praktiken der altgläubigen Laien und deren mögliches Verhalten nach der „Abtuung“ der Ikonen. An dieser Stelle wurden vor allem Rituale und Devotionspraktiken untersucht, die materiale Geschichte wurde in einem späteren Kapitel gesondert herausgearbeitet, da sie stark in die Kategorie des Raums eingreift. Eine völlige Trennung ist jedoch nicht möglich, weder unter einem historischen noch unter einem methodischen Gesichtspunkt. In reformierten Gebieten zeigen sich die Altgläubigen in bestimmten Fällen sehr flexibel und adaptieren sich an die neue Situation nach der Entfernung der Heiligen- und Marienbilder sowie der Figuren aus den Kirchen, von den Wegen und aus der dörflichen bzw. städtischen Topographie. In Synodal- und Visitationsakten aus Ulm wird berichtet, dass manche Laien weiterhin an den Stelen oder den leeren Bildstöcken beten. Die alten Wege, möglicherweise verbunden mit Gelübden und langen Traditionen, werden beibehalten und demonstrieren ihren kultischen Eigenwert, ebenso wie die Orte der Verehrung. Die Entfernung der Figuren scheint als zeitlich begrenzte Erscheinung aufgefasst zu werden und die Fortführung des alten Kults in seiner neuen Form als ein Provisorium. Darüber hinaus werden, in Lippe wie in Ulm vor Einführung der Reformation, altgläubige Predigten gestört, die – mitun-

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ter mit klar provokativer Zielsetzung  – zur Anrufung bestimmter Heiliger oder der Jungfrau aufforderten. Der Marienkult erfährt besonders in Bayern eine obrigkeitliche Sanktionierung in den Mandaten, was sicherlich entsprechende Unstimmigkeiten und Konflikte im Volk wiederspiegelt. Besonders aber in Rouen und Paris war die Marienfrömmigkeit umstritten. Sie wird bis zu Beginn der 1530er-Jahre das zentrale Thema der Differenzbildung und der Manifestierung altgläubiger Zugehörigkeit, die somit thematisch stark fokussiert ist. Hinrichtungen oder öffentliche Gegenpredigten geschehen nach Ikonoklasmen oder Marienlästerungen. Bei Reparationsprozessionen wie in Rouen, nach einem Ikonoklasmus im Jahr 1528, bilden Marienreliquien und -gesänge das rituelle Zentrum: Affirmation und distinktive Aneignung ergänzen sich dabei. Nach einem Aufsehen erregenden Ikonoklasmus in Paris, ebenfalls im Jahr 1528, wird in einem komplexen Ritual die zerstörte Marienfigur durch eine fast identische Neue ersetzt. Die angebliche Wundertätigkeit der alten Figur, die in der Pfarrkirche Saint-Gervais aufgestellt wird, soll die fortwährende Effizienz des Bilderkultes unterstreichen. Alte und neue Figur werden Zentren intensiver Frömmigkeit mit einem eindeutig antievangelischen Einschlag. Der dritte Teil der Studie untersuchte die Einschreibung der bisher studierten distinktiven Liturgien, Praktiken und Brauchtümer in die Kategorien des Raums sowie die zeitliche Gebundenheit und die Formen der Entwicklung altgläubiger Zugehörigkeiten. Dabei wurden zuerst eine Grundlage sowie ein Instrument der Altgläubigen bei der politischen und legislativen Durchsetzung eigener Vorstellungen und Rituale und deren möglichst lange Festschreibung untersucht: die fraktalen Staatlichkeiten des Alten Reichs. Dieses zeichnet sich bekanntermaßen durch die territoriale und juristische Fragmentierung auf der horizontalen Ebene aus. Zudem verschränken sich verschiedene territoriale, juristische und politische Ebenen und Institutionen auf der vertikalen Ebene. Sie finden sich auf jeder der Ebenen – etwa der Reichsebene, in den Territorien, Städten, Verwaltungseinheiten oder Kommunen  – in den konkreten Konflikten wieder. Die Reichsstruktur bietet den Altgläubigen, auch und besonders den Laien und Dorfpfarrern, sowohl Vor- als auch Nachteile. Zu Letzteren gehören die mangelnden Durchsetzungsmöglichkeiten des Wormser Edikts sowie die Einflussmöglichkeiten fremder evangelischer Herrschaften auf Prozesse in nominell antireformatorischen Gebieten. Doch es fanden sich auch zahlreiche Vorteile, welche die Altgläubigen aus den komplexen Reichsstrukturen ziehen. In Regensburg etwa wird in den Jahren 1534 und 1535 die lutherische Predigt denunziert und dann versuchsweise durch den Bistumsadministrator unterbunden. Als dieser damit scheitert und die Prädikanten Deckung durch den Magistrat erhalten, zieht der Administrator die nächsthöheren Ebenen hinzu – die Bayernherzöge, andere Bischöfe der Kirchenprovinz sowie König Ferdinand. Diese können nach langwierigen Korrespondenzen und Druck verschiedener Seiten die lutherische Predigt vorerst verhindern. Andere Fälle aus Regensburg beziehen sich etwa auf das Recht, in eine religiöse Auseinandersetzung zwischen einem lutherischen Bürger und einem altgläubigen Geistlichen zu intervenieren und Recht zu sprechen. Beide Konfliktparteien beziehen sich auf

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ihre jeweilige Obrigkeit und wollen die Sache von dieser beurteilt sehen, also vom Magistrat bzw. von der bischöflichen Justiz. Daraus ergibt sich wiederum ein langes Verfahren, das aber allein schon durch die Länge, nämlich durch das Nicht-Entscheiden, gelöst wird. Ähnlich ergeht es in anderen Fällen, in denen lange Verhandlungen zwischen verschiedenen geistlichen und weltlichen Ebenen folgen, wie beim Streit um das Begräbnis eines Lutherischen in Regensburg. In den reformierten Gebieten Ulm und Lippe spielen auswärtige Patronatsherren für altgläubige Geistliche eine wichtige Rolle. Durch deren (erbetene) Intervention bei der Ulmer Obrigkeit können Blockadesituationen bzw. Momente des Nicht-Entscheiden-Könnens geschaffen werden, die vorerst den status quo sichern. So ergeben sich mitunter jahrzehntelange Prozesse, v. a. in der Grafschaft Lippe, wo die fraktalen kirchlichen Strukturen durch herrschaftliche Vermischungen mit dem Paderborner Hochstift verschärft werden. Dessen Interventionsmöglichkeit und flächendeckenden Patronatsrechte führen zu breitgefächerten Aktionsmöglichkeiten für altgläubige Geistliche. Äußere Interventionen durch die Grafen von Schaumburg oder die erzbischöfliche Administration in Köln demonstrieren den Handlungsspielraum aller Parteien, der aber nach 1538 besonders den Altgläubigen zugutekommt. Deren Handeln führt dazu, dass durch die Aktivierung der fraktalen Staatsstrukturen der Raum der kulturellen Möglichkeiten vorerst offener bleibt als in den evangelischen Kirchenordnungen vorgesehen. Im zweiten Kapitel wurden Konflikte in und um Raum untersucht unter besonderer Berücksichtigung der materialen Kultur. Sakraler Raum als methodischer Arbeitsbegriff umfasst Kirchen und Kapellen, aber auch Bilder und Skulpturen in der städtischen Topographie oder an Wegesrändern. Studiert wurden die Strategien und Vorgehensweisen der Altgläubigen, um den sakralen Raum zu besetzen und für den „wahren Glauben“ einzunehmen bzw. zu verteidigen. Zudem wurden Distinktionen in ein und demselben Raum berücksichtigt, etwa Differenzen um die Ausstattung und die Praktiken in einer bestimmten Kirche. Dabei zeigte sich erneut eine große Varianz an möglichen Konfliktlinien, eine Varianz, die auch mit der divergierenden Architektur und Ausstattung der Sakralräume im Spätmittelalter zu tun hat. Dabei zeigte sich, dass der Kampf im Raum vielfach ein Kampf um den Zugang zum Raum ist. Nutzungsund Zugangsrechte in Form von Simultankirchen oder verbrieften Rechten sind in dieser Phase der Reformation noch unbekannt. Die Kirchenschlüssel werden meist von der Fabrik und den Küstern verwaltet, was eine starke Position der Gemeinden nahelegt, zumindest in Oberdeutschland. Die Altgläubigen – Gemeinden ebenso wie klösterliche Kirchherren – versuchen, evangelischen Geistlichen die Predigt in den Gotteshäusern zu verwehren. In altgläubigen Territorien sind größere reformatorische Veränderungen in den Kirchen sowieso nicht möglich und treten in den entsprechenden Fallstudien zumindest nicht auf. Schwierig ist die Lage wiederum für die Altgläubigen in den Gebieten, in denen sie mit starken evangelischen Strömungen oder gar mit einer obrigkeitlich durchgeführten Reformation konfrontiert sind. Da die Revision der Sakralumgebung besonders im zwinglisch beeinflussten Ulm stark ist,

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treten hier unter meinen Fallstudien die meisten Vorfälle auf. Dann kommt es zu Konflikten, wie in der Ulmer Landstadt Leipheim, zwischen einem Teil der Gemeinde und dem Geistlichen, der die Durchführung des Kirchweihmarkts in und um die Kirche verbieten will und diese deshalb verschließen lassen möchte. Nach der Reformation zeigt sich etwa in Geislingen ein modus vivendi bezüglich der Kirchennutzung, wenn eine altgläubige Familie nur dann in die Kirche geht, wenn darin sonst niemand ist, um bestimmte, sicherlich „papistische“ Andachten und Gebetsformen, durchzuführen. Absenz kann also auch beabsichtigt sein. Variabel sind die Konfliktlinien bei der Ausstattung von Kirchen und deren distinktiver Deutung durch die Gläubigen. Dies wurde anhand einiger Beispiele verdeutlicht. Neben dem Öffnen bzw. dem Schließen von Retabeln, dem im Ulmer Territorium immer wieder umstrittenen Abhängen von Kreuzen oder dem Vorhandensein von Taufsteinen, Ölbergen oder geweihten Kerzen, reichen die Konfliktmomente und die sich aus diesen ergebenden bzw. die diese verursachenden Glaubenshaltungen der Protagonisten mitunter weit in den adiaphoren Bereich hinein. Die Virulenz der Frage nach der Präsenz und dem Verhalten gegenüber Marien- und Heiligenfiguren wurde anhand einiger Beispiele gesondert untersucht. Dabei zeigte sich eine mitunter überraschende materiale und örtliche Flexibilität der Altgläubigen. In Paris wird eine zerstörte Marienfigur in einem komplexen Ritual durch eine anders gestaltete Figur ersetzt. Die der alten Figur entgegengebrachten Kulte und deren Deutung werden auf das neue Bild unter aktiver Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit transferiert. Im Ulmer Landgebiet werden zerstörte Figuren bzw. deren Sockel angebetet. Bedrohte Stiftungsstatuen werden von den Eigentümern in andere Räume gebracht und dort weiter angebetet. Die Betätigung von Glocken als Raum einnehmendes Signal wurde dabei von der Forschung bisher in seiner praktischen Funktion für die frühreformatorischen Altgläubigen unterschätzt. Anschließend wurde die Kategorie des physischen Raums weiter am Beispiel der anti-Ketzer-Prozessionen in Paris und Rouen vertieft. Spezielle Umgänge, die explizit gegen Erscheinungen der „Häresie“ angesetzt und mitunter vom Volk initiiert werden, sind eine Besonderheit der beiden französischen Fallstudien. Im Alten Reich erhalten traditionelle Prozessionen, etwa an Fronleichnam, durch die Ablehnung bzw. Unterlassung der Protestanten distinktiven Charakter und werden zu Alleinstellungsmerkmalen der teilnehmenden Priester und Laien. Die Prozessionen in Paris und Rouen fallen jedoch aus dem gewöhnlichen Kirchenjahr heraus: Es handelt sich um Sonderveranstaltungen, mit denen auf präzise Herausforderungen reagiert wird. Sie finden statt nach Ikonoklasmen, Hinrichtungen, nach der Plakataffäre oder allgemein bei steigenden Verhaftungszahlen, welche die Autoritäten auf eine stärkere Ausbreitung der „lutherischen“ Ketzerei schließen lässt. Während in Rouen die Anordnung zu Prozessionen meist durch das Parlament und das Domkapitel erfolgt, das auch die Mehrzahl der Umgänge stellvertretend für die in dem Ritual repräsentierte urbs christiana durchführt, treten in Paris die Laien in mindestens einem Fall als Initiatoren hervor. Damit reagieren sie auf die Zerstörung einer Marienfigur im Jahr 1528. Insgesamt fällt

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auf, dass die verschiedenen Institutionen in der Hauptstadt des Königreichs öfter getrennt marschieren und am Ende von Prozessionsserien in einem dann jeweils aber offenbar beeindruckenden Gesamtumgang, oft unter Teilnahme des Königs, zusammengefasst werden. Die Wege der Prozessionen in Rouen sind gut nachvollziehbar: Sie beschreiben oft zu drei vierteln bzw. ganz geschlossene zirkuläre Bewegungen im Zentrum der Stadt. Seltener sind linienförmige Itinerare. Immer jedoch werden die wichtigsten Sakralbauten verbunden. Die Itinerare könnten den Zusammenschluss Rouens in seinem Innersten symbolisieren. Hier wie in Paris haben die Prozessionen eine doppelte religiöse Aussage. Zum einen sind sie gegen die jeweiligen Erscheinungsformen der „Häresie“ gerichtet. Sie sollen den städtischen Raum von begangenen „Untaten“ reinigen und um Vergebung und Beistand gegen die Lutherischen bitten. Gerade dazu werden in Rouen die Laien in Predigten immer wieder motiviert. Das Ritual ist zudem eine entweder stellvertretend unternommene oder kollektive Repräsentation des angeblichen städtischen Zusammenhalts in Glaubensfragen. Damit beginnt schon der zweite Charakterzug der Prozessionen, nämlich für den alten Glauben oder bestimmte, angegriffene Elemente von diesem. Der Chronologie der in Rouen und Paris sehr zugespitzten und fokussierten Distinktionslinien entlang der Marien- und Heiligenverehrung und der Transsubstantiation folgend, werden Marienfiguren oder das corpus Christi in den rituellen Mittelpunkt der Umgänge gestellt, etwa indem sie von besonders hochrangigen Personen getragen, außergewöhnlich geschmückt oder an prominenter Stelle im Zug platziert werden. Diese Affirmation geht mit rituellen Innovationen einher, etwa was die Wege, die Zusammensetzungen der Umgänge und die dabei mitgeführten Artefakte anbelangt. Eine weitere, in den Fallstudien einzigartige Praxis, stellt das sogenannte „Auslaufen“ von Altgläubigen aus der Reichsstadt Ulm und deren Landgebiet nach Einführung der Reformation und dem Verbot alter Liturgien und Rituale dar. Das Phänomen beschreibt den Umstand, dass die Gläubigen in benachbarte Territorien, Grenzorte oder Enklaven, zeitweise auch in Pfarreien innerhalb des Territoriums mit fremden oder unklaren Patronatsverhältnissen ausweichen, um dort an für sie wichtigen religiösen Kulturformen zu partizipieren. Ulm ist von einer Reihe größerer Klöster umgeben und stellt in der direkten Umgebung das einzig einheitlich reformierte Territorium dar. Den Gläubigen bieten sich also zahlreiche Ausweichmöglichkeiten. Das Auslaufen war in der Forschung bisher vor allem für die Evangelischen in altgläubigen Territorien bekannt, etwa um den Laienkelch zu erhalten. Das Phänomen hat wichtige Auswirkungen auf die Konstruktion und Wahrnehmung von religiösem Raum und Grenzen sowie auf die Entwicklung und Bewusstwerdung partikularer altgläubiger Zugehörigkeiten. Aus Quellengründen wurde die Analyse des Auslaufens aus der Reichsstadt selbst und aus dem Landgebiet separiert vorgenommen: Für Ulm liegen Namenslisten und Verhöre vor, für das Territorium die Visitations- und Synodalakten. Aus der Reichsstadt sind Auslauf-Vorfälle für 1531, 1532 und 1535 überliefert. Dabei handelt

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es sich um jeweils einen dokumentierten Tag, an dem aber offenbar so viele Menschen auslaufen, dass sich die Autoritäten zum Handeln gezwungen sehen. Zudem sind die Tage immer präzise gewählt. Kurz nach Einführung des zwinglischen Abendmahls in Ulm laufen Gläubige zur antireformatorischen Predigt in ein Kloster vor den Stadttoren, ebenso ein Jahr später zu Maria Himmelfahrt und 1535 an Pfingsten. Gerade das Auslaufen des Jahres 1532 ermöglicht es, anhand der Verhörprotokolle die Motivation und grundsätzlichere Haltungen der Verhafteten zu untersuchen. Dabei zeigen sich mehrere Stufen der Verinnerlichung und Entwicklung distinktiver Zugehörigkeit. Einige Gläubige geben zu, aus explizit „papistischer“ Haltung – Befürwortung der Messe und des Heiligenkults – ausgelaufen zu sein. Andere streiten jede religiöse Motivation für den Gang in das Nachbarkloster oder den Grenzort ab. Eine dritte Gruppe ist die größte: Sie lehnt jegliche deviante Grundhaltung ab und verweist darauf, dass sie nur ihrem Gewissen gefolgt sei bzw. keine Verbotsanordnungen erhalten habe. Diese Argumentation dürfte mitunter auch der Verhörsituation geschuldet sein. Dennoch wird den betreffenden Gläubigen deutlich, dass sie mit ihrer Handlung von den Autoritäten und den Evangelischen auf einer Seite eingeordnet werden, die diese als „papistisch“ klassifizieren. Neben diesen als Tradition aufgefassten Innovationen stehen aber auch Fälle, in denen die Gläubigen schlicht vorreformatorische Rituale wie Gelübde an den dafür vorgesehenen Tagen weiterführen. Verändert haben sich nicht die Praxis, sondern der Kontext und die Bedeutung. Mehrere Frauen geben etwa an, nur ein während der Schwangerschaft geleistetes Mariengelübde erfüllen zu wollen. Doch auch dabei entsteht eine neue Zugehörigkeit: Den Frauen wird bewusst gemacht, dass sie damit gegen eine Ratsanordnung verstoßen. Zudem mischen sie sich während des Auslaufens mit jenen, die woanders eine neue Alternative zur zwinglischen Kultur suchen. Damit entsteht eine komplexe Gruppe, die sich in einer gemeinsamen Bewegung zusammenschließt und sich so sicherlich auch als Teilgruppe aufgefasst haben dürfte, die in der Selbstwahrnehmung aber das universell Gültige und Traditionelle durchführt. Innovation im Traditionsgewand und neu gedeutetes und sozial positioniertes Brauchtum vermischen sich  – ein Symbol für die Entwicklung altgläubiger Distinktionen. Die Untersuchung des Auslaufens ergab zudem, unter Hinzuziehung der Ergebnisse der Analyse für die Landgebiete, einen ambivalenten Effekt auf die Deutung und Wahrnehmung der Ulmer Territorialgrenzen durch die Gläubigen, für die nun auch religiöse Praxisgrenzen entstehen. Einerseits stärkt das Auslaufen die Grenzen, denn durch das Verbot, diese aus religiösen Gründen zu übertreten, werden sie sicht- und spürbarer. Außerdem unterscheiden sich die kultischen Handlungen und die Sakralausstattung der Kirchen der neu frequentierten Kirche von der vorreformatorischen Heimatkirche. Andererseits werden die Grenzgebiete permanent überschritten und damit in ihrer Wertigkeit unterminiert. Im fünften Kapitel schließlich wurde die Einschreibung der distinktiven Praktiken in die Zeit und die Entwicklung altgläubiger Gemeinschaften sowie deren Ausdrucksformen untersucht. Dabei wurde explizit summierend und die bisherige Argumentation zusammenführend vorgegangen. In einem ersten Schritt wurden die

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Kristallisationsmomente der Unterschiede untersucht, also die Zeitpunkte, in denen sich über die Abgrenzung die Schärfung des eigenen, altgläubigen Profils und Zusammengehörigkeitsgefühls besonders stark entwickelt. Fünf Zeitlichkeiten der altgläubigen Zugehörigkeit wurden dabei idealtypisch zusammengefasst. Erstens ist dabei die Kristallisation der Unterschiede während der vorösterlichen Fastenzeit und an den Ostertagen selbst zu nennen, während derer mit der Buße und der Eucharistie zwei Sakramente und das Reinigungsritual des Fastens zusammenfallen. Zweitens wurden Feiertage und die dazugehörigen Rituale als wiederkehrende Differenzmerkmale herausgearbeitet. Diese sind jedoch rituell und bezüglich des lokalen Brauchtums vielfältiger und stärker über das Kirchenjahr verstreut. Drittens: Zu den weniger repetitiven Kristallisationsmomenten zählen Predigten, die neben den wiederkehrenden Passionspredigten oder den Ansprachen an Sonn- und Feiertagen auch in spontaner Form, als Teil von Dynamiken des Polemischen, auftauchen. Kaum exakt oder gar nicht vorhersehbar sind Geburten und Todesfälle. Sie bieten mannigfaltigen und meist spontanen Anlass zur Differenzbildung, implizieren mehrere Sakramente und treten somit in regionalspezifischer Form auf. Schließlich wurde die temporale Distinktionskategorie der „Skandale“ aus den empirischen Befunden abgeleitet. Anders als etwa der Tod oder die Geburt handelt es sich hierbei um Ereignisse mit großer Ausstrahlungskraft und singulär-symbolischem Wert für die Zeitgenossen. „Skandale“ schaffen starke, aber nicht vorhersehbare und schnell wieder abschwellende Kristallisationsmomente der Unterschiede. Abschließend wurden drei besonders markante Formen der altgläubigen Gemeinschaftsbildung idealtypisch herausgearbeitet. Erstens die Binnendifferenzierung in Städten und Gemeinden. Entlang variabler und im Vergleich äußerst heterogener, vielfach sehr situativ konfigurierter Konfliktlinien entstehen Teilgruppen vor Ort, deren Zusammensetzung noch sehr variabel und situationsgebunden ist, anders als später im Konfessionellen Zeitalter. Die Allianzen und Differenzen von Bevölkerungsteilen, Amtleuten, kommunalen Instanzen, Geistlichen und Obrigkeiten sind dabei sehr unterschiedlich. Zweitens: Manifestierungen kollektiver altgläubiger Zugehörigkeit von Städten. Dies kann ansatzweise in Form von hinhaltendem Widerstand gegen Reformationsbestrebungen geschehen, wie die lippische Stadt Horn dies vor den reformatorischen Ständetreffen im Sommer 1538 durchführt. Die Gemeindeversammlung fordert immer weitere Erklärungen und zögert so den definitiven Reformationsbeschluss mehrfach hinaus. Vor allem aber die Prozessionen in Rouen und Paris sollen nach Maßgabe der altgläubigen Obrigkeiten, aber auch der selbst die Initiative ergreifenden Laien, die Zusammengehörigkeit der urbs christiana darstellen, die entweder durch Vertreter kirchlicher und weltlicher Autoritäten oder durch die Partizipation der Vertreter der Stadt und Einbindung vieler Laien bei großen Umzügen geschieht. Drittens wurde im Ulmer Landgebiet anhand der Beispiele Geislingen und Leipheim aufgezeigt, dass sich die Altgläubigen der Frühreformation intensiv der kommunalen Instanzen und des politischen Räderwerks bedienen, in das sie integriert sind. Dieses Vorgehen ähnelt in vielerlei Hinsicht der evangelischen Gemein-

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dereformation. Die Gemeindeführungen versuchen dabei, die religiösen Anliegen der Laien gegen die evangelische Obrigkeit zu verteidigen und mitunter gegenüber dem evangelischen Pfarrer durchzusetzen. Der Kampf um die Beibehaltung der alten gemeindlichen Verfassung verbindet sich mit dem Kampf um die alte Religion.

Quellen- und Literaturverzeichnis 1 Quellen 1.1 Handschriftliche Quellen 1.1.1 Landesarchiv NRW, Abt. Ostwestfalen-Lippe, Detmold (LAV NRW OWL) L9 Bd. 1

Landtagsprotokolle

L 65 Nr. 1

Konsistorialakten, Generalia

L 66 Nr. 52

Konsistorialakten – Kirchspiele 1, 1523–1850

L 69 Nr. 162 Nr. 291

Konsistorialakten – Kirchspiele 4, 1521–1851

L 71 Nr. 135

Konsistorialakten – Kirchspiele 6, 1477–1832

1.1.2 Hauptstaatsarchiv München (HStAM) Kurbayern, Äußeres Archiv

4246 Die veränderte religiöse Einstellung in der Reichsstadt Ulm; die in der Reichsstadt Regensburg von den Räten vorgenommene Reformation; die zu Marburg behandelten strittigen Artikel, wie z. B. das Abendmahl; Recusation des Kammergerichts in Religionssachen (1527–1578) 4262 Religionsakten, die Erhaltung der wahren römisch-katholischen Religion betreffend (1520–1549)

1.1.3 Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Münster (LAV NRW W) Fürstabtei Herford. Akten Nr. 142 Nr. 143 Nr. 411 Grafschaft Rietberg Nr. 1375 Fürstabtei Corvey Nr. 564 DOI 10.1515/9783110492460-022

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 Quellen- und Literaturverzeichnis

1.1.4 Archiv des Bistums Passau (ABP) Ordinariatsarchiv, Generalakten (OA Gen.) 4884 1113 2107

1.1.5 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR) Ordinariatsarchiv Gen. 2472 2515

1.1.6 Stadtarchiv Regensburg (StAR)

Reichsstadt, Ecclesiastica, I., 1 Die ersten Anfänge der allmähligen Einführung von D. Martin Luthers Lehre in Regensburg, 1533 bis 1541

1.1.7 Archives Départementales de Seine-Maritime, Rouen (ADSM) Archevêché de Rouen G 113 G 118 G 119 G 130 G 240 G 378 G 393 G 403

Archevêché de Rouen: chapitre de la cathédrale de Rouen G 2151 G 2153 G 2154 G 2155 G 2157 Officialités: assemblées et chambre du clergé, bureau des décimes G 5274

1.1.8 Stadtarchiv Ulm A [5421] A [5435] A [5440] A [5441] A [8983/I]

(alte Signaturen = A Ulmensien 258 = U 5296) (alte Signatur = A Ulmensien 274) (alte Signaturen = A Ulmensien 279 = U 5320) (alte Signatur = A Ulmensien 280) Reformation Teil I, Nr. 1–59

1 Quellen 

A [8984/I] A [8984/III] A [8985] A [9000]

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Reformation Teil II, Nr. 115–229 Reformation Teil II, Nr. 285–367 Reformation Teil III, Nr. 368–434 Reformation Teil VII, Fasz. 4/5, Bl. 1–252

1.2 Frühe Drucke Alveldt, Augustin von: Der fünfftzi=//gest Psalm Miserere // mei genannt/ mit ainer // kurtzen auß=//legung. // Ain Sermon von // Christlichem be=//grebnuß. [Ingolstadt:] 1544. VD16 B 3516. Apolologie [sic] pour la Foy // Chrestienne contre les // Erreurs contenues au Petit // Liure de Messire George // Seigneur de Haleuin, Paris: Geoffroy Tory 1532 (1531 a. Z.). Bibliothèque Mazarine, Paris, cote: 8° 25543-1 (Rés.). Bachmann, Paul: Auff Luthers verantwortung // vnd Trostbrieff an ettliche zu // Leyptzigk/ Ein kurtzer bericht/ des Erwir=//digen herrn Paulus Abts zur // Alten Czellen. Dresden: Wolfgang Stöckel 1533. VD16 B 14. Bachmann, Paul: Von Ceremo=//nien der Kirchen/ das ist/ // Von eusserlichem dienste Got//tes/ oder von Leyplicher // vbunge Gö=//ttlicher Ampter. // Appendix von Priesterli=//chem Celibat oder // Keuscheit. Leipzig: Nikolaus Wolrab 1537. VD16 B 25. Beckmann, Otto: PRECATIO // DOMINICA, CONTRA IMPI=//os & seditiosos Lutheranorum errores. Köln: Peter Quentel 1525. VD16 B 1409. Buchstab, Johannes: Uon becleidung // der Priester liechter weiwas//ser/ geweichtem saltz und eschen/ meßfrümen (so man nempt opffren) gesang/ vnd bildnissen/ so in der // Cristenlichen kilchen got zum lob vnd ze eer ge//brucht werden. Ein kurtze vnderrichtung uß götlicher geschrifft. [Straßburg] 1527. VD16 B 9055. Buchstab, Johannes: Uon fürbit der mutter goteß // Marie/ der lieben helgen/ vnd Englen // Gottes. VD16 B 9060. Clerici, Jean: Le manuel des chrestiens/ traictant/ de foy // de esperance et de charite. Paris: [G. Morrhy] pour A. Girauld 1532. BNF Paris, cote: Rés. D 80400. Clerici, Jean: LE Traicte // de Exemplaire penitence. Paris: Ambroise Girault [1533]. BNF Paris, cote: Rés. D 80042. Clerici, Jean: Sensuit ung traicte des fondemens // du temple spirituel de dieu. Cest la persone // chrestienne contenant les xii articles de la // foy figures par les xii fondemens et xii // pierres precieuses dont mension est faicte // en lapocalipse ou xxi. chapitre. Presche // en forme de sermon par moy frere iehan // clerici disciple de theologie en la ville da=//the lan mil cinq cens vingt et sept. Paris: pour Jean le Bailli, messagier, demourant a Bethune. BNF Paris, cote: Rés. D 30339. Cochlaeus, Johannes: WIder die Reubischen vnd // Mordischen rotten der Bawren, die vnter dem scheyn des hei//ligen Euangelions felschlichen wider alle Oberkeit // sich setzen vnd empören Martinus Luther. // Antwort Johannis Coclei // Von Wendelstein. // Eyn kurtzer begriff von auffru=//ren vnd rotten der Bawren in hohem Teutsch=//land diß Jar begangen […]. Köln: Peter Quentel 1525. VD16 L 7485. Cochlaeus, Johannes: Septiceps Lutherus, ubique sibi, suis // scriptis, contrarius in visitationem saxonicam. Leipzig: Valentin Schumann 1529. VD16 C 4386. Conrad, Olivier: Le mirouer // des pecheurs. Paris: François Regnault [1526]. BNF Paris, cote: Rés. YE 3755.

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 Quellen- und Literaturverzeichnis

Dietenberger, Johann: GRundt vnd vr=//sach/ auß der heyligen schrifft/ // wie vnbillich vnd vnredlich/ // das heylig lobsangk Marie // Salue regina/ Geweycht saltz vnd was=//ser/ Metten vnd Complet/ in etlichen Stet=//ten wirt vnderlassen/ verspott // vnd abgestellt. [Köln: Hero Fuchs] 1526. VD16 D 1483. Doré, Pierre: Dyalogue // Instructoire des Chrestiens en la foy/ esperance/ // et amour en Dieu. Paris: Jean Real/Vincent Certenas 1538. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k109368p (28.2.2013). BNF Paris, cote: Rés. D 32766. Eck, Johannes: EPISTOLA AD DIVVM // Caesarem CAROLUM // V. Imp. Ro. Maxi==//mum & Hispani// arum regem Ca//tholicum. // De Luderi causa. [Ingolstadt] 1521. VD16 E 362. Eck, Johannes: Ein predig zu Minchen ge//than in vnnser Frawen Kirch//en am sonntag vor Martini. [Ingolstadt 1522]. VD16 E 410. Eck, Johannes: Ein sendbrieve ann eine fromme Eid=//gnoßschaft von doctor // Johann Eckenn die Lute//rey betreffend. // Ablainung etlicher sch//mach d. Ecken von M. // Ulrichen Zwingli zu// gemessen. [Ingolstadt: Lutz] 1524. VD16 E 423. Eck, Johannes: Ein Sentbrieue an // ein frum Eidgnoßschafft/ betreffendt // die ketzerische disputation Frantz Kolben des außgeloffen münchs // vnnd B. Hallers des verlognen predican==//ten zu Bern. // Ein annderer brieue an // Vlrich Zwingli. // Der drit brieue an Cunrat // Rotenacker zu Vlm. [Ingolstadt 1528]. VD16 E 422. Eckart, Johannes: Ain Dialogus zwischenn // Doctor Martin Luthers Au//gustiners vnd Joann Eckartz // pfarher zue Bobenhausen/ // Augspurger Bistumbs/ // Christum das höchst // goldtrain opfer der // heyligen Meß // betreffent. [Ingolstadt ca. 1521]. VD16 R 1780. Emser, Hieronymus: Quadruplica auff Luters // Jungst gethane ant=//wurt/ sein reformation belangend. Leipzig: [Martin Landsberg] 1521. VD16 E 1135. Emser, Hieronymus: Auff Luthers // grewel wider die heiligen Still=//meß. // Antwort. // Item wie/ wo/ vnd mit wol//chen wortten Luther yhn seyn // buechern tzur auffrur er=//mandt/ geschriben // vnd getriben // hat. [Dresden] 1525. VD16 E 1088. Emser, Hieronymus: Der bock trith frey // auff disen plan // Hat wyder Ehren nye gethan // Wie sehr sie yn gescholden han/ // Was aber Luther fuer ein man // Vnd wilch ein spil er gfangen an // Vnd nun den mantel wenden kan // Nach dem der wind thut eynher ghan // Findstu in disem buechlin stan. [Dresden: Emserpresse] 1525. VD16 E 1102. Fabri, Johannes: Ain war=//lich vnderrichtung // wie es zu Zürch auff den // Neünundtzweintzigsten // tag des monats Ja//nuarii nechstuer=//schynen ergan=//gen sey. [Freiburg im Breisgau: Johann Worlin] 1523. VD16 F 243. Gacy, Jean: TRialogue nouueau con=//tenant lexpression des erreurs // de Martin Luther. Les do=// leances de Jerarchie eccliastique // Et les triumphes de verite in=// uincible. [Genf: Wigand Köln] 1524. Bibliothèque Mazarine, Paris. Cote : 4° 10828 [Rés.]. [Gaigny, Jean de:] Le liure faisant mention des // sept parolles que nostre benoist saul=//ueur et redempteur Jesuchrist dit en lar=//bre de la croix: auec aulcunes exposi=//tions et contemplations sur icelles: extrai=//ctes des dictz et sentences des docteurs // autentiques et approuuez de saincte eglise. Paris: Simon du Bois pour Chrestien Wechel 1528. BNF Paris, cote: Rés. p D 63. Gaigny, Jean de: Sermons de Guer//RICVS ABBE D’IGNY, // translatez de latin en langue vulgai=//re francoise, par Iehan de Gaigny, // Docteur, Conseiller, & premier Aul=//mosnier du Roy, par le commande=//ment dudict seigneur. Paris: Simon de Colines pour Estienne Roffet [1540]. BNF Paris, cote: Rés. C 3347. Hangest, Jérôme de: Contre les // tenebrions Lumiere euangelicque. Paris: Jean Petit 1535 (1534 a.Z.). BNF Paris, cote: Rés. D 80052. Hangest, Jérôme de: EN CON//=trouersie voye seure. Paris: Jean Petit 1537 (1536 a.Z.). Bibliothèque Mazarine, Paris, cote: 8° 25543-2 (Rés.).

1 Quellen 

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Hermann, Wolfgang: Bayder Kirchen – der hei=//ligen vnd der Bößhafften/ sampt dero // glideren/ vnndterschidliche erkanntnuss. München: Schobser [1538]. VD16 H 2432. Hermann, Wolfgang: Was die Gmain Chri=//stelich vnd Appostolische Kirch für Trüb=//selkait/ vnnd veruolgung von Tirannen/ // Ketzern und abtrinnigen/ erlitten hat/ auch von // der selbigen Tiranney/ Secten/ Irtungen/ // leren/ früchten/ zwitrachten/ vnd // auffruren von zeyten der // Appostel bißhero. [München: Schobser] 1539. VD16 H 2442. Hillebrandt, Michael: Von den letzsten fehrlichen gezeitten // aus Gottlicher Schrifft. Dresden: Wolfgang Stöckel 1535. VD16 H 3668. Hillebrandt, Michael: Wahrhafftige vrsach aller straffen vnd // vbels/ So vns in diesem Jamertal wi// derfaren/ Vnd wardurch wir demselbigen entfliehen // können. Dresden: Wolfgang Stöckel [1535]. VD16 ZV 22315. Koss, Johannes: Ein Christlich Sermon // vom Fasten/ des Gotseligen // Predigers/ M. Johan Koß, Licentiaten // der heyligen Schrifft // Welch er gethan hat auff den ersten // Sontag in der fasten zu Leyptzk […]. Leipzig: Nickel Schmidt 1533. VD16 K 2146. Kretz, Matthias: Ain Sermon/ inhaltend et=//lich sprüch der schrifft/ von dem feg=//fewr/ durch D. Matthiam // Kretz/ zu Augspurg zu // unser frawen im // Thum gepre=//digt. [Augsburg 1524]. VD16 K 2363. Kretz, Matthias: Ain sermon von der peicht/ // ob sie Gott gebotten hab/ Durch D. // Matthiam Kretz zu Aug=//spurg/ zu unser fra=//wen im Thum // gepredigt. [Augsburg 1524]. VD16 K 2366. Kretz, Matthias: Das büchlein helt in sich // drey ding. // Das erst/ Wie sich der mensch zu ainem // seligen end schicken soll. // Das ander/ Wie man den sterbenden // zusprechen soll. // Das dritt/ Außlegung des letsten Ca=//pitels Ecclesiastes/ lautend von // dem end des menschen. [Augsburg: Alexander Weißenhorn] 1529. VD16 ZV 9211. Lande, Mathieu de la: Les Contem=//plations du Simple deuot/ lesquelles // traictent de ce qui ensuyt: // Lest assauair/ // Damour diuin. // De vraye pacience. // De la mort. // De la vierge Marie. // Traduictes en langue vulgaire/ par // frere Mathieu de landa/ docteur en theo//logie de Luniuersite de Paris/ et Reli=//gieux du conuent de lordre de nostre da=//me des Larmes/ a Rouen. // En la fin est adioinct ung sermon // preparatoire a recepuoir le sainct sacre=//ment de lautel: Imprime nouuellement. Paris 1538. BNF Paris, cote: Rés. D 80139. Lorich, Gerhard: PASTORALE. // Pfaramt von allen al=//ten supersticionen und mißbreuchen/ // auch von aller vngegründter newerung // gereynigt/ auff eyn Reformation // gestelt/ nach der heyligen ge=//schrifft des Göttlichen // worts/ vnnd der // vätter ver=//standt/ // nach der kirchen Regel und Exempel. // Beyden/ geystlichen und welt=//lichen/ nützlich zulesen. [Frankfurt am Main] 1537. VD16 L 2515. Luther, Martin: Von welltlich=//er uberkeytt // wie weytt man // yhr gehorsam // schuldig sey. Wittenberg: Nickel Schyrlentz 1523. VD16 L 7315. Marcourt, Antoine: Articles veritables sur les horribles/ grandz et importables abuz de la Messe papale : // inuentee directement contre la saincte Cene de Jesus Christus. [Neuchâtel: Pierre de Vingle] 1534. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8626365b (17.03.2014). BNF Paris, cote: Rés. D2-453. Melanchthon, Philipp/Luther, Martin: Deuttung der zwo grewlichen // Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbs // zu Freyberg in Meissen funden. Wittenberg: [Johann Rhau-Grunenberg] 1523. VD16 M 2987. Murner, Thomas: Uon dem grossen // Lutherischen Narren wie in // docto: Murner beschworen hat. etc. [Straßburg] 1522. VD16 M 7088. Petit, Guillaume: TRESDE=//VOTES ORAISONS // A lhonneur de la tressacree & // glorieuse vierge Marie, mere // de dieu, auec plusieurs aultres // deuotes chansons. Paris: Simon de Colines [1534]. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k71082t (02.3.2013). Original in der BNF Paris, cote: Rés. PYE 297.

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 Quellen- und Literaturverzeichnis

Petit, Guillaume: LA FORMA//TION DE LHOMME ET // son excellence, & ce quil doibt a-//complir pour auoir Paradis, // Compose par feu de bon-//ne memoire [erster Teil des recueil, fol. 1r-67r]. Paris: Galliot du Pré/Olivier Mallard 1538. BNF Paris, cote: Rés. D 17409. Petit, Guillaume: LE VIAT DE // SALVT, AVQVEL EST // comprins lexposition du symbole, des // dix commandemens de la Loy, du // Pater noster, & Aue Maria [zweiter Teil des recueil, fol. 68r-122v]. Paris: Galliot du Pré/Olivier Mallard 1538. BNF Paris, cote: Rés. D 17409. Schatzgeyer, Kaspar: Vonn Christlichen satzun=//gen vnd leeren/ ain Christförmiges leben (der // werck halben) betreffend/ Welche anzu//nemen oder außzeschlahen seyen/ kürtz//lich inn sybenzehen Christlichen vnt=//terweysungen/ Sambt sybent // irrthumben. München: Johann Schobser 1524. VD16 S 2349. Schwarzenberg, Christoph von: Ain treüe vätterliche // anzaygung/ vnd vnntter=//weysung/ aines Lute=//rischen (genennten) // petpüechleins // halben. [München] 1524. VD16 S 4702. Schwarzenberg, Johann von: Beschwerung der alten Teüfe//lischen Schlangen mit dem // Götlichen wort. Nürnberg 1525. VD16 S 4710. Schwarzenberg, Johann von: Diß büchleyn Kuttenschlang genant // Die teueffels lerer macht bekant. Herr Johannßen vonn // Schwartzenbergs andere Christenliche // veterliche warnung und vermanung/ // seynes Sons herrn Christoffels etc. // vff Caspar Schatzgeyers schrey//ben/ das er widder genantes // herrn Johanßen büchleyn // die Schlangen beschwe//rung genant ym druck // hat außgehen // lassen. [Königsberg 1526]. VD16 S 4717. Sensuyt le miracle // notable. // Faict en la ville de Paris // Qui est vne chose sans fable // Comme verres en ces escriptz [1528]. BNF Paris, cote: Rés. YE 1423. Sylvius, Petrus: Die andern acht hinder//stelligen bucher M. P. Silvii // so den ersten dreyen nachfolgen […]. Leipzig: Nickel Schmidt 1528. VD16 P 1292. Sylvius, Petrus: Luthers und Lutzbers // eintrechtige vereinigung/ so in xxii // eygenschafften sindt allenthalben gleychf=rmig verfFget. Leipzig: Michael Blum 1535. VD16 P 1310. Tongern, Arnold von: Ein Grundtlich vnd // lieplich vnderweisung / Wie man // die heiligen im himel/ Chri=//stlich/ nach ausweisung der // Schrifft/ anruffen soll. Leipzig: Melchior Lotter 1536. VD16 A 3771. Vehe, Michael: Von dem Gesatz der // nyessung des heiligen hochwir=//digen Sacraments/ in eyner gestalt. Leipzig: Nikolaus Schmidt 1531. VD16 V 488. Vehe, Michael: Wie/ underschydlicher // weiss/ Gott vnd seine aus=//erwelten Heiligen/ von vns Christen sollen geehrt werden […]. Leipzig: Michael Blum 1532. VD16 V 490. Witzel, Georg: VOn der Puß: Beicht: vnnd // Bann/ tzwey büchlin auß // grund der schrifft. Freiburg im Breisgau: Johannes Faber aus Emmich 1536. VD16 W 4064. Witzel, Georg: Von den Tod=//ten/ vnd yhrem Be=//grebnus. Leipzig: Melchior Lotter 1536. VD16 W 4059.

1.3 Edierte Quellen Alveldt, Augustin von: Wyder den Wittenbergischen Abgot Martin Luther (1524). Erklärung des Salve Regina (1527). Hrsg. von Käthe Büschgens u. Leonhard Lemmens. Münster 1926 (Corpus Catholicorum 11). Bournon, Fernand: Chronique parisienne de Pierre Driart, chambrier de Saint-Victor (1522–1535). In: Mémoires de la Société de l’histoire de Paris et de l’Île-de-France 22 (1895). S. 67–178. Cohausz, Alfred: Anmerkungen zum Herforder Bildersturm im Jahre 1532. In: Paderbornensis Ecclesia. Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Paderborn. Hrsg. von Paul-Werner Scheele. München/Paderborn/Wien 1972. S. 207–221.

1 Quellen 

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Corvinus, Antonius: Geheimes lateinisches Kirchenvisitationsprotokoll über die Visitation von 29 Pfarrern und 2 Klöstern der Grafschaft Lippe-Detmold 1542. In: Briefwechsel des Antonius Corvinus. Nebst einigen Beilagen. Hrsg. von Paul Tschackert. Hannover/Leipzig 1900 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 4). S. 119–125. Eck, Johannes: Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, den Bürgermeister und Rat von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sam. Hrsg. von Karl Meisen. Münster 1929 (Corpus Catholicorum 14). Endriss, Julius: Die Ulmer Synoden und Visitationen der Jahre 1531–47. Ein Stück Kirchen- und Kulturgeschichte. Ulm 1935. Fabisch, Peter/Iserloh, Erwin (Hrsg.): Dokumente zur Causa Lutheri, 1517–1521. Bd. 1, Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen, 1517–1518. Münster 1988 (Corpus Catholicorum 41). Fabisch, Peter/Iserloh, Erwin (Hrsg.): Dokumente zur Causa Lutheri, 1517–1521. Bd. 2, Vom Augsburger Reichstag 1518 bis zum Wormser Edikt 1521. Münster 1991 (Corpus Catholicorum 42). Fagniez, Gustave (Hrsg.): Livre de raison de Me Nicolas Versoris, avocat au Parlement de Paris, 1519–1530. Paris 1885 (Extrait des „Mémoires de la Société de l’histoire de Paris et de l’Ile-de-France“ 12). Farge, James K. (Hrsg.): Le parti conservateur au XVIe siècle. Université et Parlement de Paris à l’époque de la Renaissance et de la Réforme. Paris 1992 (Documents et inédits du Collège de France). Geisberg, Max (Hrsg.)/Strauss, Walter L. (Bearb.): The German single-leaf Woodcut 1500–1550, Bd. 2. New York 1974. Gess, Felician (Hrsg.): Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen. 2 Bde., 1517–1524/1525–1527. Leipzig 1905/1917 (Aus den Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte 10). Journal tenu par un bourgeois de Paris au temps de François Ier, 2. Bde. Clermont-Ferrand 2001 (Sources de l’histoire de France). Jezler, Peter: „Da beschachend vil grosser endrungen“. Gerold Edlibachs Aufzeichnungen über die Zürcher Reformation 1520–1526. In: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation. Hrsg. von Peter Jezler u. Hans-Dietrich Altendorfer. Zürich 1984. S. 41–74. Kopfmann, Klaus (Hrsg.): Die Religionsmandate des Herzogtums Bayern in der Reformationszeit (1522–1531). Edition mit Einleitung und Kommentar. München 2000 (Quellentexte zur bayerischen Geschichte 1). Laube, Adolf (Hrsg.)/Weiß, Ulman (Mitarb.): Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Berlin 1997. Laube, Adolf (Hrsg.)/Weiß, Ulman (Mitarb.): Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), 2 Bde. Berlin 2000. Mai, Paul/Popp, Marianne (Hrsg.): Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1508. In: BGBR 18 (1984). S. 7–316. Mai, Paul (Hrsg.): Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1526. In: BGBR 21 (1987). S. 25–314. Murner, Thomas: Von dem großen Lutherischen Narren. Hrsg. von Paul Merker. Straßburg 1918 (Thomas Murners Deutsche Schriften 9). Pfanner, Josef: Briefe von, an und über Caritas Pirckheimer aus den Jahren 1498–1530. Landshut 1966 (Caritas Pirckheimer Quellensammlung 3). Pfeilschifter, Georg (Hrsg.): Acta Reformationis Catholicae. Ecclesiam Germaniae Concernentia Saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570. Bd. 1, 1520 bis 1532. Regensburg 1959.

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 Quellen- und Literaturverzeichnis

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2 Bibliographie Albert-Llorca, Marlène: Les „vraies“ statues et leurs substituts. In: ASSR 161 (2013). S. 251–268. Albrecht, Dieter: Die Hochstifte. In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 3,3, Geschichte der Oberpfalz und des bayerischen Reichskreises bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Andreas Kraus. München, 3. Aufl., 1995. S. 236–270. Alexandre-Bidon, Danièle: Une foi en deux ou trois dimensions? Images et objets du faire croire à l’usage des laïcs. In: Annales HSS 53 (1998). S. 1155–1190. Amalou, Thierry: Une concorde urbaine. Senlis au temps des réformes, vers 1520–vers 1580. Limoges 2007 (Histoire. Lieux). Amberg, Joel van: A Real Presence. Religious and Social Dynamics of the Eucharistic Conflicts in Early Modern Augsburg 1520–1530. Leiden/Boston 2012 (Studies in the History of Christian Traditions 158). Angermann, Gertrud: Volksleben im Nordosten Westfalens zu Beginn der Neuzeit. Eine wachsende Bevölkerung im Kräftefeld von Reformation und Renaissance, Obrigkeit und Wirtschaft: Minden – Herford – Ravensburg – Lippe. Münster/New York 1995 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 89).

2 Bibliographie 

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Personenregister A Abelin, Frau von Hans 522 Albrecht von Brandenburg 116, 164, 266 Altenbochum, Matthias von 58 Auber, Guillaume 494 Alveldt, Augustin von 90, 108–109, 121, 129, 150, 165, 194–195, 197–199, 201, 205 B Bachmann, Paul 92–94, 110, 129, 164–165, 179, 185–187, 192–194, 205–207, 210, 213, 217–218, 240, 257–258, 307 Bader, Hans 388 de Bar, Antoine 495, 554 Bart, Pierre 66, 103, 320, 415, 490, 553 Bartner, Karl 401 Baumstark, Frau von Paul 522 Beck, Paul 296, 306–308, 342, 346, 356, 386, 462–464, 530, 544, 547–548, 550 Beckmann, Otto 60, 319 Béda, Noël 73, 75, 293, 323, 502, 538 du Bellay, Jean 71, 505, 556 Bernhard VIII., Graf zur Lippe 53–54, 449 de Berquin, Louis 73, 293 Besserer, Bernhard 464 Besserer, Georg 460, 462, 308 Biedermann, Anna 516 Blarer, Ambrosius 47, 96, 132, 142, 275 Blick, Wolfgang/Simon 133, 138, 140, 234 Bois, Simon du 72, 87 Bora, Katharina von 160–161 Bouchart, Nicolas 374 Boyneburg, Sigmund von 450 Brandt, Mathäus 2, 289 Brant, Sebastian 187 Bréant, Nicolas 103 Breitkopf, Gregor 111 Brenz, Johannes 120, 124 Briçonnet, Guillaume 71, 147 de Bronoux, Arnaud 73 Brosamer, Hans 166 Brunfels, Otto 120 Bucer, Martin 46–47, 120, 124, 236, 385 Buchstab, Johannes 96, 196, 202, 267–268, 278 Bugenhagen, Johannes 120 Bullinger, Heinrich 124 DOI 10.1515/9783110492460–023

Burger, Jörg 463–464, 549 Buxschut, Adrian 54, 287, 452 C Calvin, Johannes 9, 74, 124, 279 Canu, Martin 103 Capito, Wolfgang 120 Champion, Jean 103 Clichtoveus, Jodocus 72, 95, 121–122 Cochlaeus, Johannes 85, 92, 94, 97, 100, 121–123, 128, 131–132, 153–154, 162, 166–171, 173, 178, 188–189, 208, 214, 217–218, 233, 239–240, 259–260, 271, 273–275, 277–278, 477 Colines, Simon de 72, 87 Conrad, Olivier 136, 149 Cop, Nicolas 74 Corvinus, Anton 1–2, 55, 288, 297, 314, 453 Cornibus, Pierre de 323, 502 Cotius, Gerhard 298 Cotius, Hermann 298 Couldray, Geoffroy de 65 Cranach, Lucas der Jüngere 200–201 D Dene, Johann 453 Dietenberger, Johannes 85, 92, 121, 128, 268–270, 278, 377–378 Dieterich, Conrad 466 Diepold 341 Dirterdink, Jost 338 Dölcker, Johann 122 Dolet, Etienne 124 Donep, Christoph von 314 Doré, Pierre 87, 112, 137, 149, 183, 207, 222, 249–251, 261–262 Doynel, Thomas 329 Dreier, Johann 58–59 Driart, Pierre 76, 106, 322–323, 349, 351–353, 363–365, 419–420, 422, 473, 480, 500–507, 556 Duprat, Antoine 193 E Eberlin, Frau von Enderlin 520, 526 Eberlin, Johann 46, 121 Eberlin, Jörg 411

620 

 Personenregister

Eck, Johannes 90–91, 104, 109, 121–122, 128, 131–133, 138–139, 153–154, 169, 175–176, 189, 191–192, 223–224, 226, 275–276, 278, 316, 319, 538 Eck, Leonhard von 42 Eckart, Johannes 94, 110, 203 Edlibach, Gerold 122–123 Ehinger, Hans 463–464, 549–550 Eichelin, Jörg 296 Emser, Hieronymus 85, 89–93, 109–110, 118–119, 121–123, 134, 138, 140–141, 153–155, 157–162, 186, 192, 197, 203–204, 209–210, 242–243, 253–255, 261, 264, 269, 271, 278, 487–488 Engelking, Herrmann 58 Erasmus von Rotterdam 57, 73, 86, 102, 111, 121–122, 124, 222, 226, 231, 260, 569 Erich von Braunschweig-Grubenhagen 61 Ernst, Administrator des Bistums Passau 38–39, 41, 334–335, 360–361, 367, 440 d’Espence, Claude 222 d’Étaples, Lefèvre 71, 147, 292–293 F Fabri, Johann 95, 120–124, 131, 158, 175–177, 189–190, 217, 234–235, 237–239, 256, 278 Farel, Guillaume 73, 86–87 Federlin, Kaspar 394 Feige, Johann 450 Felbaum, Sebastian 231, 233 Fennd, Barbara 394 Ferdinand I. 35–36, 39, 120, 177, 238, 274, 299, 414, 438–439, 538, 581 Ferrin, Esther 526 Findling, Johannes 121 Fisher, John 94, 121 Fleyschhacker, Achatz 336 Frank, Frau von Klaus 516 Franz I. von Frankreich 66, 70, 73–76, 107, 177, 218, 292, 294, 322–323, 349, 351, 353, 375, 420–422, 481, 483, 500–501, 503, 505, 537, 553, 562, 576 Frecht, Martin 46, 49, 315, 358, 514, 531 Freiberger, Johannes 209 Freiberg, Kaspar von 295 Friedrich III., Kaiser 33

G Gacy, Jean 97–98 de Gaigny, Jean 97–98 Gaudermann, Jörg 444, 468 Gauggelerin, Anna 519 Gegg, Magd von Veit 518 Geiler von Kaysersberg, Johann 187, 316 Georg von Anhalt 266 Georg von Sachsen 85, 90, 94, 129, 173, 193, 233, 239, 264 Georges II. d’Amboise 63–64, 495, 554 Gienger, Melchior 410–412, 538 Giesenbier, Anton 310–311 Granigl, Johann 298, 437 Gronewolt, Johannes 311 Gulden, Hans 441–442, 547 Gwinngut, Konrad 545 H Haberl, Wolf 399, 434 Hacke, Jakob 338 Halemeier, Heinrich 338 de Halewijn, Georges 111, 148, 221, 226, 249 Haller, Anna 344 d’Hangest, Jérôme 87, 112, 136–137, 147–148, 157, 172, 177–178, 184, 204, 220, 222 Hans von Rostock 35 Harder, Christian 49, 315 Harder, Peter 545 Harrach, Leonhard von 177 Hartmann, Rosa 519 Heckel, Leonhard 405 Heinrich von Angoulême 556 Heinrich II. von Navarra 293 Heinrich II. von Orléans 505 Heinrich VIII. 94, 104, 121, 293 Hennenberg, Joachim 478 Hermann, Jörg 344 Hermann, Wolfgang (Kyriander) 194, 299 Heß, Johannes 120, 122–123 Heß (Vikar) 123 Hillebrandt, Michael 133, 196, 273–274 Hiltner, Johann 35 Hirnheim, Kaspar von 300 Hochweher, Daniel 49 Hogstraten, Jakob 121 Hohenbuch, Georg 526 Hohenbuch, Frau von Georg 526 Hohenlandenberg, Hugo von 142, 256

Personenregister 

Holweye, Eberhard 288–290 Hubmaier, Balthasar 120, 122, 239–240 Huchon, Guillaume 67, 494 Hurier, Marguerite 66, 321 Hus, Jan 169, 191–192, 194–195 Hutten, Ulrich von 92, 122 I Isenburg, Wilhelm von 259–260 J Jacques (aus der Nähe von Thérouanne) 351 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg 173 Joachim II, Kurfürst von Brandenburg 6 Jobst II. von Hoya 53–54, 450–451 Johann III., Administrator des Bistums Regensburg 34, 298, 437–439 Johann II., Herzog von Kleve-Mark 56 Johann III., Herzog von Jülich-Kleve-Berg 56–57, 337 Jonas, Justus 120, 171–172 Jörg 341 Jörg, Wolf 346 Jud, Leo 122 K Kalhart, Ulrich 49, 315 Kallmünzer, Leonhard 298, 437 Karl VII. 62 Karlstadt, Andreas 90, 120, 122, 169–171, 176, 190, 224, 242, 253–256, 264, 330 Karrenmann, Utz 513–514 Kaser, Erasmus 361 Käser, Leonhard 43 Kathemann, Johannes 1–2, 289, 290 Kern, Elisabeth 394 Kersenbroick, Rembert von 288 Keßler, Peter 464 Klemens VII. 74, 36, 502 Kneprun, Elisabeth 393–394 Koss, Johannes 130 Krafft, Benedikt 445–446, 520–521 Krafft, Heinrich 295, 308 Krafft, Peter 36, 44 Kretz, Matthias 225, 227–228, 243–247 Krus 361

 621

L Lambert, Franz 120 Lamprout, Pierre de 66 Lamy, Germain 103 Lang, Johannes 89 Lauer, Marx 318 Leblond, Richard 67 Leclerc, Nicolas 75 Lecourt, Etienne 66 Leib, Kilian 44, 300, 409, 414 Leißner, Hans 399–400, 434 Le Lieur, Jacques 494 Löffler, Hans 343, 393 Löschenbrand, Sebastian 392–393 Ludwig XII. von Frankreich 218 Ludwig X. von Bayern 41–42, 332–333, 438–439 Luise von Savoyen 73, 293 Luther, Martin 1, 5, 9–10, 34, 42, 46, 56, 72–73, 79, 81, 84–86, 89–97, 99–102, 105–106, 108–117, 119–124, 127–131, 133, 136–142, 145–146, 148, 152–169, 171–177, 179, 182–195, 197, 200–201, 204, 210, 213–215, 217–218, 220–221, 223–227, 231, 234, 236, 239–240, 257–260, 263, 265, 274, 276, 279, 283, 293, 307, 316, 319, 326, 330, 331, 355, 358, 379, 384–385, 391, 404, 413, 535, 548, 568, 570–572, 574, 577 M Machart, Robert 329 Magdalena von der Lippe 61 Maier, Peter 513–514 Marcourt, Antoine 67, 75, 112, 136, 147, 169, 177–178, 220, 352, 354, 494–495, 503 Margarete von Navarra 74, 221–222, 292–293, 322, 375 Maria von Jülich-Berg-Ravensberg 56 Marius, Augustinus 35, 121 Marot, Clément 76, 124, 235, 374–375 Matthäus 341 Mauch, Daniel 479 Mayer, Hans 309 Megander, Kaspar 137, 183, 207, 249–250, 261–252 Mégret 65 Meigret, Laurent 374–375 Melanchthon, Philipp 75, 89, 102, 120, 122, 124, 170–171, 173, 218, 330

622 

 Personenregister

Mensing, Johannes 121, 163, 171–172, 202–203 Mentze von Eckentorp 54 Merklerin, Apolonia 526 Merlin, Jean 364, 418 Meyer, Johann 297, 474 Miller, Hans 545–546 Möller, Rudolf 58 Montanus, Johannes 1, 121 de Montmorency, Anne 136, 177 Morus, Thomas 121 Mosellanus, Petrus 89 Müller, Veit 411 Munchmaier, Agatha 520 Murner, Thomas 79, 85, 91–92, 94–96, 109, 121–123, 144–146, 154, 159, 175, 187–188, 215–216, 223, 231, 258, 262–264, 283, 404 N Nachtgall, Otmar 121–122 Nausea, Friedrich 121, 316 Neudorffer, Georg 96, 142 Neukramer, Wolfgang 411 O Oberwalt, Hans von 214, 216 Oekolampad, Johannes 47, 120, 122, 125 Orgelmeister, Frau von Gilg 518 Osiander, Andreas 120, 184 Oßwald, Georg 48, 291–292, 295, 300, 306–308, 319, 346–347, 356, 377, 385, 405, 412, 462, 529 Otto IV .von Rietberg 448 P Pankraz von Sinzenhofen 34, 401–402 Passart, Guillaume 103 Pelargus, Ambrosius 121 Pelikan, Konrad 120 Petit, Guillaume 87, 99, 218–220, 230 Pfeffinger, Johannes 38 Pferinger, Hans 399–400, 434–437 Pflummern, Heinrich von 104–105, 301, 303–305, 328, 369, 370, 384, 391–393, 475–476, 540 Philipp I. von Hessen 51, 53–54, 237, 397–398, 447–448 Le Picart, François 75, 221, 225, 293, 317, 323, 375, 538 Piderit, Moritz 52–53

Piéfort, Pierre 348–349 Pirckheimer, Caritas 118–119, 487 Pirckheimer, Willibald 89, 118 Pittmann, Jakob 459–461, 465–466, 470–471, 557–559 Platner, Johannes/Tileman 121 Politi, Lancelotto (Catharinus) 121 Poncher, Etienne 71 Poncher, François 71 Portner, Heinrich 338 Pürstinger, Berthold 121 R Rab/e 336, 360–361 Rabelais, François 124 Rasche, Johann 338 Rauh, Frau von Wolf 523 Redorffer, Wolfgang 135, 179–182, 193–194, 198, 208–210 Reischach, Cordula von 514 Rentz, Sebastian 295 Rhegius, Urbanus 120 Ridin, Margareth 520 Röslin, Gilg 517–518, 521, 525–526, 539 Roth, Konrad 48 Roussel, Gérard 74, 75, 221–222, 225, 292, 374–375, 546 S Sam, Konrad 46, 128, 358, 392, 466, 511 Schad, Hans 304 Schad, Jos 49, 315 Schall, Hans 443 Schappeler, Frau von Klaus 521 Schatzgeyer, Kaspar 117–118, 121, 146, 184, 278 Schaumburg, Adolf von 53, 289, 449, 452–453 Schaumburg, Johann von 452–453 Scheifelin, Lienhard 445–446, 520, 526 Scheerer, Ambrosius 443 Schelling, Hans 472 Schickenberge, Göbel 62, 301–304, 328, 338–340, 371–373, 379, 447–448, 535–536, 577 Schleicher, Daniel 48, 308 Schleicher, Lorenz 478 Schmid, Johann Christoph 392 Schmid, Lorenz 523 Schmid, Matthäus 317

Personenregister 

Schmidt, Liborius 297 Schnappenwalder 336, 361 Schnierlein, Apolonia 394, 518 Schürpf, Hieronymus 122 Schwarzenberg, Christoph von 113–119, 182, 550, 569 Schwarzenberg, Johann von 113, 116–118, 146, 550, 569 Seehofer, Arsacius 43 Siber, Elsa 522 Sichard, Johannes 121 Simon V. zur Lippe 52–53, 287, 310, 336, 379, 397, 448, 474 Slegel, Matthias 128 Spengler, Lazarus 173 Spiegel, Philipp 288–289 Stähelin, Jörg 465 Stöcklin 405–406 Stöcklin, Peter 561 Sylvius, Petrus 85, 99, 134–135, 140–141, 155–156, 180, 189–190, 224–225, 278 T Teschel, Georg 298, 299, 437 Tetzel, Johann 90, 139, 191, 223 Thucher, Simon 464 Tiemann, Johann 54, 287 Treger, Konrad 121 Türk, Wolfgang 405–406 Twiste, Philipp von 288, 313–314 U Ubeler, Simon 464 V Vallière, Jean 73, 106, 417–418 Vattlin, Melchior 121, 215 Vehe, Michael 266–267 Le Veneur, Jean 421, 483

 623

Versoris, Nicolas 76, 97, 106, 351, 363–364, 418–421, 473, 480, 500 de Vingle, Pierre 87 Vives, Juan Luis 121 Vlatten, Johann von 58 Vogel, Anne 332–333, 366 Vogel, Jakob 519 Vogel, Jörg 332–333, 366 W Waldeck, Franz von 237 Wegelein, Johann 342 Weickmann, Martin 49 Westermann, Johannes 60, 301 Westerstetten, Rudolph von 405–406, 446, 464, 476 Wick, Hans 378 Widenmann, Margreth 523 Widenmann, Stefan 522–523 Wied, Hermann von 61, 237 Wild, Elsa 522 Wilhelm IV. von Bayern 39, 42–43, 57, 113, 332–333, 367, 396, 413–414, 438–439 Wilhelm IV. von Jülich-Berg-Ravensberg 57 Wimpfeling, Jakob 92 Wimpina, Konrad 95, 139, 223 Witzel, Georg 85, 130, 142–143, 150–151, 228–230, 243, 246–248, 250 Wopper, Hermann von der 287 Wulffer Wolfgang 138, 185, 188, 204 Wyclif, John 191, 194–195 Z Zimprecht, Christian 315, 341 Zoller, Erasmus 35 Zwick, Johannes 120 Zwingli, Huldrych 46, 120, 122, 124, 131, 138, 142, 158, 169, 175–177, 231, 234–235, 237–240, 331, 339–340, 570, 572, 574