Redepraxis als Lebenspraxis: Die diskursive Kultur der antiken Ethik 9783495820872, 9783495489130


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German Pages [289] Year 2020

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Inhalt
Einleitung
I Zugänge zur antiken Redekultur
1 Ethik der Rede: Wiedergewinnung einer Reflexionsmöglichkeit
2 Philosophie und Rhetorik: Der systematische Ort diskursiver Kultur
3 Das Zerrbild der ›sophistischen Rhetorik‹
4 Motive vorplatonischer Aufklärung
5 Logos und Ethos
II Rede und Gegenrede: Der Aufstieg des Diskursiven
1 Die politische Antilogie: Herodot und Thukydides
2 Der Konflikt von politischer Macht und paränetischer Autorität
3 Das argumentative Gewicht der Person
4 Worte und Taten
III Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis
1 Antilogik, Eristik, Dialektik
2 Das Leitbild der Medizin und die Frage der technē
3 Kultivierung diskursiver Praxis: Protagoras
4 Das protagoreische Maß
5 Herakles am Scheideweg: Der Widerstreit der Lebensweisen bei Prodikos
6 Das Kultivierungsprogramm der ›großen Rede‹: Platons Protagoras
7 Reden in Orientierung am Guten, Reden in Orientierung am Wahren
IV Gorgias und die Kultur der wahren Rede
1 Der Irrweg einer technē der Rede
2 Redepraxis als ästhetische Praxis
3 Der Modus des Sich-Zeigens
4 Alētheia: Die vollendete Form der Rede
5 Ethische Redepraxis und Begründungsdenken
V Sokratische Kultur der Rede
1 Die sokratische Prüfung der Seele
2 Die Stimmigkeit der Reden
3 Unstimmige Reden: Das Drama des Gorgias
4 Sich selbst rechtfertigen: Der Fall des Kallikles
5 Sokratische Dialektik als Einübung in die Wahrheit
6 Der Mythos der idealen Rhetorik
VI Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie
1 Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik
2 Philosophie, Lebensform, Übung
3 Trennung von Rede und Leben?
4 Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung
5 Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen
VII Vollzugsformen diskursiven Lebens: Philosophie als mündlich-schriftliche Bildungspraxis
1 Sich etwas sagen lassen können: Die Fähigkeit des Zuhörens
2 Philosophische Gehörbildung: Einübung ins Zuhören
3 Abwesende Stimmen hörbar machen: Das Lesen
4 Schriftliche Selbstformung: Das Schreiben
5 Monodialoge: Die Kunst des Selbstgesprächs
6 Mit Anderen reden: Dialogisches Leben
VIII Ausblick: Diskursive Kultur und Gegenwartsphilosophie
Verwendete Abkürzungen
Literaturverzeichnis
1 Antike Quellen: Verwendete Ausgaben und Übersetzungen
2 Spätere Quellen und Forschungsliteratur
Namenregister
Begriffsregister
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Redepraxis als Lebenspraxis: Die diskursive Kultur der antiken Ethik
 9783495820872, 9783495489130

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Lars Leeten

Redepraxis als Lebenspraxis Die diskursive Kultur der antiken Ethik

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820872

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B

Lars Leeten Redepraxis als Lebenspraxis

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Lars Leeten

Redepraxis als Lebenspraxis Die diskursive Kultur der antiken Ethik

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Lars Leeten Speech Practice as Practice of Life The Discursive Culture of Ancient Ethics Ancient ethics was an exercise of good life. This study examines how this is reflected in the forms of speech that ancient ethics developed. It is shown that, in antiquity, discursive practices were not considered neutral methods of ethical thinking but rather as ways of life to be cultivated as ethical practices in their own right. This book describes central aspects of this ethical culture of speech from the times of the sophists and Socrates up to hellenistic philosophy.

The Author: Lars Leeten (Dr. habil.) teaches philosophy at the University of Hildesheim. He was a fellow at the Hanover Institute of Philosophical Research (fiph) and visiting researcher at the University of Oslo. His fields of research include the ethical dimension of discursive practice and the history of ethics.

https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Lars Leeten Redepraxis als Lebenspraxis Die diskursive Kultur der antiken Ethik Die philosophische Ethik der Antike war praktische Einübung in das gute Leben. Dieses Buch untersucht, wie dies die Formen der Rede prägt, die die antike Ethik ausbildete. Es zeigt sich, dass diskursive Praktiken für sie immer auch Lebenspraktiken waren, die in Orientierung an Vorstellungen vom Guten und Richtigen zu gestalten sind. Zur antiken Ethik gehört wesentlich eine ethische Kultur der Rede. Diese Studie zeichnet zentrale Motive dieser diskursiven Kultur nach – von der Sophistik über die sokratische Dialektik bis zur hellenistischen Philosophie.

Der Autor: Lars Leeten (Dr. habil.) lehrt Philosophie an der Universität Hildesheim. Er war Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph) und Gastforscher an der Universität Oslo. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die ethische Dimension diskursiver Praktiken und die Geschichte der Ethik.

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Die Drucklegung wurde gefördert durch das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph)

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48913-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82087-2

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I 1

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25

. . .

27

. . . .

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31 35 45 52

. . . .

56 59

. . . . . .

63 69 75

Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis . Antilogik, Eristik, Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . Das Leitbild der Medizin und die Frage der technē . . . . Kultivierung diskursiver Praxis: Protagoras . . . . . . . Das protagoreische Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . Herakles am Scheideweg: Der Widerstreit der Lebensweisen bei Prodikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kultivierungsprogramm der ›großen Rede‹ : Platons Protagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden in Orientierung am Guten, Reden in Orientierung am Wahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 88 97 104

2 3 4 5 II 1 2 3 4 III 1 2 3 4 5 6 7

Zugänge zur antiken Redekultur . . . . . . . . . . Ethik der Rede: Wiedergewinnung einer Reflexionsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie und Rhetorik: Der systematische Ort diskursiver Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zerrbild der ›sophistischen Rhetorik‹ . . . . . Motive vorplatonischer Aufklärung . . . . . . . . Logos und Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rede und Gegenrede: Der Aufstieg des Diskursiven . . Die politische Antilogie: Herodot und Thukydides . . Der Konflikt von politischer Macht und paränetischer Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das argumentative Gewicht der Person . . . . . . . Worte und Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

112 119 125

7 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Inhalt

IV 1 2 3 4 5

Gorgias und die Kultur der wahren Rede . . . Der Irrweg einer technē der Rede . . . . . . Redepraxis als ästhetische Praxis . . . . . . . Der Modus des Sich-Zeigens . . . . . . . . . Alētheia: Die vollendete Form der Rede . . . Ethische Redepraxis und Begründungsdenken

. . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

127 132 137 144 148 160

V 1 2 3 4 5 6

Sokratische Kultur der Rede . . . . . . . . . . . . Die sokratische Prüfung der Seele . . . . . . . . . Die Stimmigkeit der Reden . . . . . . . . . . . . Unstimmige Reden: Das Drama des Gorgias . . . . Sich selbst rechtfertigen: Der Fall des Kallikles . . . Sokratische Dialektik als Einübung in die Wahrheit Der Mythos der idealen Rhetorik . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

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164 169 172 174 178 182 188

VI 1

Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie . . Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie, Lebensform, Übung . . . . . . . . . . . Trennung von Rede und Leben? . . . . . . . . . . . . Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung . . . . Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen

2 3 4 5

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. . . . . .

VII Vollzugsformen diskursiven Lebens: Philosophie als mündlich-schriftliche Bildungspraxis . . . . . . . . . . 1 Sich etwas sagen lassen können: Die Fähigkeit des Zuhörens . . . . . . . . . . . . . 2 Philosophische Gehörbildung: Einübung ins Zuhören 3 Abwesende Stimmen hörbar machen: Das Lesen . . . 4 Schriftliche Selbstformung: Das Schreiben . . . . . . 5 Monodialoge: Die Kunst des Selbstgesprächs . . . . 6 Mit Anderen reden: Dialogisches Leben . . . . . . .

. 191 . . . . .

194 200 209 213 218

. . 224 . . . . . .

226 231 239 246 252 257

VIII Ausblick: Diskursive Kultur und Gegenwartsphilosophie . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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Inhalt

Verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Antike Quellen: Verwendete Ausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Spätere Quellen und Forschungsliteratur . . . . . . . .

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Namenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

Begriffsregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

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Einleitung

Es ist eine hervorstechende Besonderheit menschlichen Daseins, dass es zutiefst durch Vorgänge der sprachlichen Verständigung geprägt ist: In welchem Licht wir die Dinge sehen, wie wir uns selbst verstehen, was die Erscheinungen der sozialen Welt für uns bedeuten, was in welcher Weise als Handeln Sinn gewinnt, wie wir Beziehungen definieren und unser Zusammenleben organisieren, wie wir urteilen, welche Entscheidungen wir treffen – all dies ist wesentlich beeinflusst durch das jeweilige Sprachverständnis und begriffliche Orientierungen, durch Ordnungen des Sinns und kommunikative Selbstverständlichkeiten, durch Beratung, Gespräch und Diskussion, durch die Kraft von Beschreibungsweisen und die Macht der Rede. Es ist nicht zu viel gesagt, dass diskursive Praktiken das individuelle und gemeinsame Leben buchstäblich formen. Von ihrer konkreten Ausgestaltung hängt mit ab, was für ein Leben es genau sein wird. Es ist ein alter Gedanke, dass man aus dieser Eigenart der menschlichen Daseinsform gleichzeitig eine Empfehlung für das gelingende Leben ableiten kann: Wenn der Mensch in der Lage ist, seine Angelegenheiten diskursiv zu regeln, dann sollte er möglichst Gebrauch von dieser Fähigkeit machen. Soweit die Form, die das Leben annimmt, durch sprachliche Praktiken gestaltbar ist, ist es am besten, wenn es so geschieht. Der Gedanke ist beinahe so alt wie unsere Geschichte. Bereits das archaische Griechenland kennt den Rat, lieber miteinander zu reden als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. In der klassischen Antike begegnet dann die Idee, dass der Mensch das tierische Dasein überwinden kann, indem er die zivilisierende Kraft des Logos auf die rechte Weise nutzt: Weil der Mensch sprachfähig ist, ist er auch politikfähig; und dies bedeutet gleichzeitig, dass er erst wird, was er eigentlich ist, indem er ›reden lernt‹. Solche Denkfiguren kann man als Teil einer Ethik der Rede verstehen, die dem Umgang mit Sprache und der Ausbildung diskursiver Fähigkeiten eine zentrale Rolle für das Glücken oder Scheitern menschlichen Lebens zuspricht. Einen Nachfahren hat diese diskur11 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Einleitung

sive Ethik heute in dem Gedanken, dass sich unser Denken und Handeln an Argumenten orientieren sollte: Wer überzeugt ist, dass es stets geboten ist, auf rationale Gründe zu hören, macht sich damit nicht einfach nur eine Erkenntnisregel, sondern eine Auffassung von der richtigen Lebensführung zu eigen. Obwohl es nicht immer gleich erkennbar ist, lässt sich die moderne Idee von der ›Kraft des besseren Arguments‹ in die Traditionslinie einer alten Lehre des guten Lebens einordnen: Wenn sich die Art und Weise, wie wir leben, im Zuge von diskursiven Praktiken ausformt, dann müssen diese Praktiken, recht verstanden, ein Gegenstand der Reflexion über das richtige oder gelingende Leben sein. Die Frage, ›wie zu reden ist‹, fällt in den Bereich der Frage, ›wie zu leben ist‹. Dieses Buch möchte zeigen, dass die griechische Philosophie eine Ethik der Rede kannte, die der Gegenwartsphilosophie kaum noch vertraut und vielleicht sogar fremd geworden ist. Diese Ethik hatte eine Form, die aus heutiger Perspektive leicht übersehen werden kann und vor allem dort nicht mehr in den Blick kommt, wo das Wort logos stets schon ratio – ›Argument‹ oder ›Grund‹ – bedeuten soll und von konkreten sozialen Diskurspraktiken abstrahiert wird. 1 Die antiken Gelehrten sahen die ethische Dimension der Rede nämlich nicht allein darin, dass das Nachdenken über die Frage, wie man leben soll, diskursiv geschieht. Für sie lieferte der Logos nicht nur die Prinzipien für das richtige Leben. Aus ihrer Sicht war er vielmehr auch insofern ethisch bedeutsam, als Diskurse selbst schon den Charakter einer ethischen Praxis haben. Für sie war die Rede nicht erst eine Vorüberlegung, sondern schon die Verkörperung einer Lebenspraxis; und der Spielraum ihres praktischen Gelingens oder Misslingens war daher keineswegs nur sachlogisch bestimmt. Das diskursive Verhalten ist aus dieser Sicht ein ethisches Verhalten und die ›Arbeit am Logos‹ als solche eine ›Arbeit am Ethos‹. 1 Mit ›Rede‹ übersetze ich das Wort logos, sofern es sich auf sprachliche Praktiken bezieht. Die Ausdrücke ›Diskurs‹ und ›diskursive Praxis‹ werde ich weitgehend synonym verstehen. Zu bedenken ist, dass logoi im Griechischen gesprochene oder geschriebene logoi sein können, während sich der deutsche Ausdruck ›Rede‹ primär auf Gesprochenes bezieht. Deshalb wird es häufig besser sein, von diskursiven Praktiken zu sprechen: Zugrunde gelegt ist dabei ein weites Verständnis, das nicht nur linguistischen Formen im engen Sinn, sondern den Erscheinungen und Begleiterscheinungen des sprachlichen Sinngeschehens in ihrer phänomenalen Fülle, ihrer medialen Verschiedenheit sowie in ihrer Verflochtenheit mit nichtsprachlichen Praktiken seine Aufmerksamkeit schenken will.

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Einleitung

Die philosophische Ethik der griechischen Antike, so die leitende These dieser Studie, versteht die Redepraxis als Lebenspraxis, die als Praxis gelingenden Lebens entwickelt werden kann. Sie begreift Diskurse als eine ethische Praxis sui generis, in der stets auch praktische Haltungen ausgeformt und zur Geltung gebracht werden. In jedem diskursiven Handeln manifestiert sich ein Ethos, und jeder diskursive Prozess wirkt auf das Ethos zurück. Diese Prämissen, so die These weiter, prägen letztlich auch das Verständnis davon, was Prozesse der Argumentation sind, was es also heißt, jemanden mit Worten zu überzeugen. Zur antiken Ethikreflexion gehört wesentlich eine diskursive Kultur, die mehr ist als zeitgeschichtliches Beiwerk. Sie nachzuzeichnen ist das Ziel dieser Studie. Die Quellen dieser Kultur liegen in der vorplatonischen Periode, in der Zeit der ›Sophistik‹ und der sokratischen Dialektik. Im Ausgang davon lässt sich zeigen, dass sich die Motive der ethischen Redekultur über die klassische Periode hinaus erstrecken und bis in die hellenistische und kaiserzeitliche Philosophie hinein verfolgt werden können. Das Thema der Redepraxis als Lebenspraxis hängt eng mit einem anderen, in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutierten Thema zusammen: der Frage, inwieweit die Philosophie der Antike den Charakter einer ›Lebensform‹ hatte. Wie Pierre Hadot in den 1980er Jahren plausibel gemacht hat, liegt das Wesentliche der antiken Philosophie nicht allein in Gedankengebäuden, Lehren oder Theorien, »sondern in einer Lebenskunst, einer konkreten Haltung, einem festgelegten Lebensstil, der sich auf die ganze Existenz auswirkt«. 2 In dieser Perspektive ist die antike Philosophie etwas, das nicht nur studiert und gelehrt, sondern vor allem gelebt werden muss. Sie sieht für den gesamten Alltag eine spezifische Form vor und zielt nicht auf Texte und Theorien, sondern auf die Transformation der Person. In vielen Fällen hat die philosophische Lebenspraxis auch ganz konkrete Vollzugsformen: ein System der Übung (askēsis), durch das die jeweilige Lehre verinnerlicht und zur praktischen Haltung werden soll. Welche Rolle solche Übungen – z. B. Imaginationsübungen, Selbstgespräche, Gewissensprüfungen oder Fastenübungen – in den ver-

2 Hadot, Philosophie als Lebensform, 15. – Diese Sichtweise ist inzwischen durch eine Reihe von Arbeiten ganz verschiedener Couleur weiterentwickelt und präzisiert worden. Für markante Beispiele vgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts; Nehamas, The Art of Living oder Sellars, The Art of Living. Zu nennen ist auch die frühere Arbeit von Rabbow, Seelenführung.

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Einleitung

schiedenen historischen Phasen genau gespielt haben, wird man differenziert beurteilen müssen. 3 Der Grundgedanke der Philosophie als Lebensform aber hat sich als sehr fruchtbar erwiesen und das Bild der antiken Philosophie nachhaltig geschärft. Für sie gilt mindestens seit Sokrates, dass sie sich mit Gewinn als ›Art zu leben‹ beschreiben lässt. Die Frage, welche Rolle diskursiven Praktiken im Ganzen der ›Lebensform Philosophie‹ zukommt, ist in dieser Diskussion erstaunlich wenig gestellt worden: Zwar zweifelt niemand daran, dass der Logos im Sinne der ›Rede‹ im Alltag antiker Philosophen eine beherrschende Stellung einnimmt. Ein philosophisches Leben zu führen, bedeutet konkret, seine Tage mit Gesprächen und Vorträgen, Fragen und Antworten, Dialogen und Monologen, mit Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen zu verbringen. Einer von vielen Belegen dafür ist Sokrates’ Bemerkung in der Apologie, es sei das »höchste Gut für den Menschen, jeden Tag über die Tugend zu reden« (peri aretēs tous logous poieisthai, Apol. 38a). Auch wo sich die Lebensform der Philosophie als Übungspraxis organisiert, haben diskursive Praktiken herausragende Bedeutung: Das Zuhören, Lesen und Schreiben wird ebenso bewusst gepflegt wie das Selbstgespräch oder das Gespräch mit Anderen. Entsprechend ist zu erwarten, dass diese Praktiken integrale Bestandteile der philosophischen Lebensform und ihres sittlichen Programms sind. Es ist wahrscheinlich, dass sie selbst als Lebensweisen wahrgenommen, bewertet und entwickelt werden, dass Logos und Ethos in ihnen aufs engste miteinander verschlungen sind. Aus antiker Sicht muss die philosophische Rede nicht nur den Anforderungen einer Argumentationsmethode entsprechen: Für sie gelten vielmehr auch Maßstäbe, wie man sie anlegt, wenn man sein Handeln in Orientierung am Guten ausrichtet – an Idealen davon, wie ein Mensch sein sollte. Um die philosophische Redepraxis der Antike zu verstehen, hat man sie daher selbst als ethische Lebenspraxis auszulegen. Sie ist eine Einübung in Lebensweisen, die aus altgriechischer Sicht als ›wertvoll‹ gelten. Hadot will das Modell der Übungspraxis nicht nur für den Hellenismus, wo die Bedeutung der askēsis unumstritten ist, sondern auch bereits für das klassische griechische Denken geltend machen. Andere Autoren sind da vorsichtiger. So weist Foucault darauf hin, dass das System der Übungspraktiken in der klassischen Zeit noch nicht sehr »organisiert und reflektiert« ist, noch kein »Korpus besonderer Praktiken« und kaum unterschieden von der »Praxis der Tugend selbst« (Der Gebrauch der Lüste, 102 f.). Die Frage der askēsis wird später noch ausführlicher erörtert; vgl. besonders Kap. VI. 3

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Einleitung

Diese Interpretationsmöglichkeit wurde bisher kaum in Betracht gezogen. Zwar stellt die spätere Arbeit von Michel Foucault zur Praxis des ›Wahrsprechens‹ in gewisser Hinsicht eine wichtige Ausnahme dar. 4 Doch der Gedanke, dass am Grund der Philosophie eine primär ethische Diskurspraxis liegt, scheint den Einwand einer ›Ästhetik der Existenz‹ auf sich zu ziehen, der am Ende die Wahrheitskriterien fehlen. Schon Hadot erhebt diesen Einwand. 5 Solche Reaktionen darf man auf die alteingesessene Auffassung zurückführen, dass der philosophische Logos nicht so sehr Rede, sondern vor allem ratio ist: Die philosophische Diskurspraxis wird in aller Regel als eine Methode betrachtet, die die Prinzipien für eine vernünftige Lebensführung liefert und die Weichen für das Handeln stellt. Sie ist in dieser Sicht die Grundlage, aber in gewisser Weise selbst nicht Teil des philosophischen Lebens. Sofern sie ethischer Bewertung unterliegt, bleibt diese von der Bewertung durch Wahrheitskriterien getrennt. Charakteristisch für diese Perspektive ist, dass die Rede einseitig als Argumentation, Begründung oder Analyse aufgefasst wird: Nach dieser Lesart zeichnet sich das philosophische Leben dadurch aus, dass es sich einem rationalen Verfahren verpflichtet und zum Leben nach Gründen wird. Ein gutes Beispiel für diese formale Auffassung der philosophischen Diskurspraxis liefert John M. Cooper: Zwar schließt dieser sich dem Grundgedanken der Philosophie als Lebensform an, wenn er sagt: »being a philosopher, for many ancient philosophers, meant living one’s whole life a certain way – philosophically – and encouraging others to live that way, too«. Erläutert wird dieser Lebensformcharakter aber immer wieder so, dass das philosophische Tun die übrige Lebenspraxis begründet: »A philosopher made philosophy the

Foucault macht die ethische Dimension der philosophischen Redepraxis insbesondere an der freimütigen Rede, der parrhēsia, fest. Diese verkörpere eine Rede, in der die Verhältnisse von ›Wahrheit‹ (alētheia), ›Subjekt‹ (ēthos) und ›Macht‹ (politeia) performativ geformt werden und die sich daher als diskursive Subjektivierungspraxis deuten lasse. Eine Pointe der Analyse ist, dass der philosophischen Wahrheit eine Praxis der Freiheit im Rücken liegt, die unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Zur Parrhesie vgl. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen; zur Triade von alētheia, ēthos und politeia ders., Der Mut zur Wahrheit, z. B. 96–99; zur weitverzweigten Debatte vgl. nur für den deutschsprachigen Raum exemplarisch Gehring/Gelhard (Hrsg.), Parrhesia. 5 Vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform, 179 f. Zur ganzen Diskussion vgl. Davidson, »Ethics as ascetics«. 4

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Einleitung

basis of his whole life.« 6 Darin liegt eine Ambivalenz: Einmal ist die Philosophie selbst Lebenspraxis, dann wieder ist sie Grund der Lebenspraxis. Als rationales Fundament der vernünftigen Lebensführung büßt der philosophische Logos am Ende seinen Praxischarakter ein: Er steht im Zentrum des philosophischen Lebens und ist dem Leben doch gleichzeitig enthoben. Er scheint gerade deswegen unabhängige Kriterien des Richtigen liefern zu können, weil er nicht mit der konkreten Lebenspraxis verflochten ist. Nach der in dieser Studie entwickelten Auffassung ist diese formale Interpretation des Logos und die damit verbundene Trennung von Reden und Leben der griechischen Philosophie selbst fremd gewesen. Aus ihrer Sicht hat die richtige Rede nicht nur in sachlicher, sondern auch in ethischer Hinsicht richtig zu sein; beides ist gar nicht erst voneinander getrennt. Vor diesem Hintergrund stellen sich die folgenden Fragen: In welchem Sinn sind diskursive Praktiken in der Antike ein eigener Bestandteil der ›Lebensform Philosophie‹ ? Inwieweit werden sie selbst an Idealen des richtigen Lebens gemessen? Inwieweit ist der Logos nicht nur sachlogischen, sondern ethischen Kriterien verpflichtet? In welcher Weise dient die philosophische Rede selbst der Einübung in das praktisch Gute? Und inwieweit gilt die Diskurspraxis möglicherweise gerade in ihrer ethischen Konstitution als Voraussetzung sittlicher Erkenntnis? Geht man solchen Fragen nach, gewinnt man der philosophischen Ethik der Antike neue Facetten ab. Es wird sichtbar, dass sie nicht ohne eine ethische Kultur der Rede auskommt, die bis in die frühgriechische Zeit zurückreicht und schon in der sophistischen Periode für die Lehrpraktiken der antiken Bildungskultur prägend wird. Auch für Sokrates, so wird sich zeigen, ist diese Kultur der Rede der entscheidende Anknüpfungspunkt. Ihre Elemente fließen über die Sokratik in die Diskurspraktiken der Philosophie ein und wirken dort nachhaltig fort. Die antiken Auseinandersetzungen darum, wie zu leben ist, erschließen sich erst dann in ihrer ganzen Tragweite, wenn man sieht, dass sie nicht nur von Lebensweisen handeln, sondern sie gleichzeitig verkörpern und mit ausgestalten sollen. Damit ist das Interpretationsschema umrissen, dass diese Studie leiten wird. Ein Überblick sei vorausgeschickt: Ihre ersten wichtigen Ansatzpunkte findet die Untersuchung im 5. Jahrhundert v. Chr., insCooper, »Socrates and Philosophy as a Way of Life«, hier 21. In eine ähnliche Richtung geht z. B. Nussbaum, The Therapy of Desire.

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Einleitung

besondere in der Zeit der sophistischen Kultur oder des Fifth Century Enlightenment. In dieser Phase werden die in der frühgriechischen Welt üblichen diskursiven Praktiken im Rahmen eines institutionalisierten Unterrichts zu Redelehren ausgeformt, aus denen die Diskursverfahren der disziplinären Philosophie später hervorgehen. In den ersten Kapiteln wird sich zeigen, was man verschenkt, wenn man diese entscheidende Phase der griechischen Geistesgeschichte als kulturhistorisches Vorspiel der ›eigentlichen‹ Philosophie abtut, deren methodische Bedeutung sich mit Sokrates erledigt hat. Die Klassifikation der vorplatonischen Redekultur als ›Sophistik‹ trübt den Blick darauf, dass sich spätestens ab Protagoras eine profilierte Ethik der Rede herauskristallisiert, deren Elemente später in den Redeverfahren der Philosophie weiter wirksam bleiben. Die Studie wird geltend machen, dass die protagoreischen und gorgianischen Lehrpraktiken des Logos, die sich noch jenseits des Antagonismus von ›Philosophie versus Sophistik‹ oder ›Philosophie versus Rhetorik‹ bewegen, die Option einer Kultivierung diskursiver Praktiken kennen, die dem modernen Verständnis leicht entgeht. Sie sind nicht auf eine Technisierung der Rede angelegt, sondern Idealen eines staatsbürgerlichen ›Gutseins‹ (aretē) verpflichtet, welche in konkreten Habitusformen realisiert werden sollen. Es erweist sich, dass das Profil dieser frühen Ethik der Rede für das Verständnis der Redepraktiken noch der klassischen und der hellenistischen Philosophie wichtige interpretatorische Leitlinien liefern kann: Die diskursiven Verfahren der zur Disziplin gewordenen Philosophie gewinnen an Tiefenschärfe, wenn man sie als Fortsetzung einer älteren Redekultur versteht, die an Vorstellungen nachahmenswerten Lebens orientiert ist. Die in der Philosophiegeschichte übliche Perspektive wird hier also umgekehrt: Anstatt das vorplatonische oder sophistische Denken in den Kategorien des sokratisch-platonischen Denkens zu deuten, wird das Spätere im Lichte des Früheren gelesen. Im ersten Kapitel werden methodische Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens sowie Umgangsweisen erörtert: Um den Fokus dieser über weite Strecken eher historisch angelegten Untersuchung bestimmen zu können, ist das systematische Interesse zu klären, das ihr zugrunde liegt. Dafür wird das Vorhaben einer Wiedergewinnung der antiken Redekultur in Bezug gesetzt zu den gegenwärtigen Debatten zur antiken Ethik, deren Ziel nicht in erster Linie die Aufklärung geschichtlicher Tatsachen, sondern eine moralphilosophische Reflexion ist, die aus der Auseinandersetzung mit Ethik17 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Einleitung

geschichte eine kritische Distanz zur Gegenwartsethik und damit neue Denkmöglichkeiten gewinnt. Als fruchtbar hat sich hier die Kontrastfolie eines häufig als ›Tugendethik‹ klassifizierten Ethiktypus erwiesen, der habitualisierten Verhaltensformen und dem lebendigen Ethos von Akteuren größere Aufmerksamkeit schenkt. Eine Hintergrundvermutung der Studie ist, dass diese Auseinandersetzung um die Dimension der diskursiven Praktiken zu ergänzen wäre: Das instruktive Potential der antiken Ethik für die moderne Moralphilosophie wird nur unvollständig genutzt, solange ausgespart bleibt, dass die Rede für sie ebenfalls eine Praxis ist, in der Habitusformen ausgebildet werden und die folglich ethisch gestaltet werden muss. Es gibt auch eine Tugendethik der Rede. Dass die Debatte in dieser Hinsicht einen blinden Fleck hat, dürfte nicht zuletzt auf die hartnäckige Annahme zurückzuführen sein, dass ein Reden in Orientierung am Guten notwendig in die Rhetorik gehört und in scharfer Opposition zur Philosophie steht, welche ausschließlich ein Reden in Orientierung am Wahren sein darf. Vor allem das traditionelle Vorurteil von der Sophistik als Gegenbewegung zur Philosophie hat die Idee einer Redekunst, die auf Vorstellungen vom richtigen Leben zielt, nachhaltig diskrediert. Ein verändertes Bild ergibt sich allerdings, wenn man die als Sophisten bekannten vorplatonischen Gelehrten nicht im Licht späterer Polemiken, sondern im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit sieht: Sie gehören in dieser Sicht zu einer Aufklärungsbewegung, die durch die Idee einer Gestaltbarkeit des Lebens, durch ein Primat des Praktischen und den neu aufkommenden Bildungsgedanken geprägt ist. Unter diesen Umständen lag es nahe, auch Diskurspraktiken als Bildungspraktiken zu verstehen und die Rede als Medium einer Arbeit am Ethos aufzufassen. Das Interesse für den richtigen Logos führt dabei, anders als es das Klischee von der wahrheitsindifferenten Rhetorik will, von Anfang an die Regie. Im zweiten Kapitel wird der lebensweltliche Nährboden der Redekultur des 5. Jahrhunderts genauer betrachtet. Von den sozial bereits etablierten diskursiven Praktiken ist die Rede und Gegenrede, die Antilogie, die ihre Hauptorte in politischen Versammlungen und Gerichtsprozessen hat, dabei von herausragender Wichtigkeit. Ihre systematische Erschließung, die sich wesentlich auf die Historiker Herodot und Thukydides stützen kann, stellt vor Augen, dass das Gegeneinanderreden seit der frühgriechischen Zeit keineswegs nur ein Wettstreit (agōn) im Sinn der verbalen Kraftprobe war: Die mit 18 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Einleitung

der ›Widerrede‹ (antilegein) in Gang gesetzte Praxis zielt vielmehr darauf, die unmittelbar dominante, handlungswirksame Rede ranghöherer Sprecher durch ein Verfahren der Abwägung von Alternativen zu ersetzen. Da es in dieser Phase noch darum geht, die Option der diskursiven Entscheidungsfindung als solche zu verteidigen, bleibt der Konflikt zwischen der politischen Macht und der paränetischen Autorität des vertrauenswürdigen Beraters für die innere Dynamik der Antilogie lange kennzeichnend. Das enorme argumentative Gewicht, das die Person des Sprechers in der vorplatonischen Debattenkultur beansprucht, wird vor diesem Hintergrund besser verständlich: Wo die Frage, welcher Rede gefolgt werden soll, nicht mehr allein durch politische Hierarchien beantwortet wird, verschiebt sich die Aufmerksamkeit im ersten Schritt darauf, welcher Logos der vertrauenswürdigere Wegweiser zum Handeln ist; und diese Frage lässt sich ohne Bezug auf die jeweils sprechende Person unmöglich entscheiden. Man verfehlt die Praxis der Antilogie, wenn man in ihr eine defiziente Vorstufe der eigentlichen, sachlogischen Form von Argumentation sieht oder sie nach dem Schema späterer Rhetoriksysteme als exzessiven Gebrauch ēthos-basierter Überzeugungsmittel auslegt. Welcher Logik die öffentlichen Diskurse der vorplatonischen Periode folgen, wird erst einsichtig, wenn man sieht, dass Rede und Redner 7 noch nicht scharf voneinander getrennt werden und alles Reden (legein) unmittelbar als Handlungsweise (prattein) gilt. Die griechische Perspektive auf Diskurse ist so von Beginn an durch die Prämisse geprägt, dass sich in der Art und Weise eines Sprechens ein Charakter manifestiert, eine ethische Haltung. Die Überzeugungskraft eines Logos steht und fällt aus dieser Sicht mit der Lebensweise, die in ihm zur Geltung gebracht wird.

Da ich nicht darüber hinwegtäuschen möchte, dass Sprecherinnen in antiken Redelehren so gut wie keine Rolle spielen, werde ich in dieser Studie nur maskuline Wortformen verwenden, wo es um die griechische Sicht auf Diskurspraktiken geht. In allen anderen Kontexten versuche ich, möglichst genderneutral zu formulieren. Die alten Ideale der Rede sind durch und durch männlich. Laut Sophokles sollen die Griechen sogar ein Lied darüber gesungen haben, dass es sich für Frauen gehört zu schweigen (gynaixi kosmon hē sigē pherei, Ai. 293). Bei Demokrit heißt es gar: »Eine Frau soll sich nicht im Reden üben (mē askeitō logon); denn das ist abscheulich (deinon).« (DK 68 B110) Solche Zeugnisse erinnern daran, wie falsch es wäre, die antike Redekultur zu romantisieren. Diese Studie kann sinnvollerweise nur auf kritisch-genealogische Rekonstruktion zielen, nicht aber auf die Wiederbelebung vergangener Ethik-Ideale oder altgriechischer Sittlichkeit (vgl. dazu Kap. VIII).

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Einleitung

Das dritte Kapitel dreht sich um die Lehrpraktiken, die sich in diesem diskursiven Klima entwickeln, wobei die Redelehre des Protagoras im Mittelpunkt steht. Damit geht die Studie über zu dem Bildungsprogramm, das in der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung unter dem Titel der ›sophistischen Rhetorik‹ abgehandelt wird. Ausgangspunkt bildet die Frage nach dem Typus der Lehrpraktiken, die an das Verfahren der Rede und Gegenrede anschließen und seit Platon als ›Antilogik‹ (antilogikē) bekannt sind. Wesentlich für das hier entwickelte Bild wird sein, dass sich die vorplatonischen Gelehrten selbst noch nicht vor die Alternative gestellt sehen, entweder eine wissensbasierte technē zu kreieren oder sich mit einer vernunftlosen Geschicklichkeit zufriedenzugeben. Dem 5. Jahrhundert war vielmehr die Option einer Kultivierung gegebener Praktiken geläufig, und diese Option bot sich auch für die Weiterentwicklung von Redepraktiken zu Bildungszwecken an. Im Ausgang von der Methodendiskussion in der hippokratischen Medizin lässt sich ein Eindruck davon geben, wie sich bei Protagoras eine Diskurspraxis ausdifferenziert, die ihre Kriterien nicht in einem außerpraktisch gegebenen Wissen findet, sondern in einem unabschließbaren Prozess der Erfahrung des praktischen Umgangs mit logoi. Eine solche Kultivierungspraxis soll ihr Maß in sich selbst finden: Der ›richtige‹ Logos ist derjenige, der Lebensmöglichkeiten entfalten und die Sittlichkeit fördern hilft. Am Fall des Protagoras selbst sowie an Prodikos’ Erzählung von ›Herakles am Scheideweg‹ lässt sich nachzeichnen, wie sich die Diskurspraxis dabei schon früh an einem allgemeinen Guten orientiert, welches im Diskurs selbst zur Verkörperung kommen soll. Das vierte Kapitel widmet sich der Redelehre des Gorgias von Leontinoi, die einen weiteren Schritt in der diskursiven Kultur der Antike darstellt. Im Ausgang vom Verständnis des Logos, das in der ›Lobrede der Helena‹ prägnanten Ausdruck findet, wird gezeigt, dass Gorgias keineswegs eine Instrumentalisierung der Rede im Sinn hat, sondern eine eigene diskursive Kultivierungspraxis ausbildet. Grundlegend für diese ist, dass die Rede als durch und durch materielles Phänomen aufgefasst wird und einer sinnlich-ästhetischen Logik folgt. Die Arbeit am Ethos, auf die Gorgias’ Lehre zielt, vollzieht sich im Medium eines höchst wirksamen Logos, der nach dem Modell der Musik und Malerei als hörbare und sichtbare Form gedacht wird. Reden lernen heißt unter diesen Voraussetzungen, mit der Macht des Logos umgehen zu lernen und vertrauenswürdige und trügische logoi unterscheiden zu können. Leitend dafür ist ein nicht-repräsen20 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Einleitung

tationales Verständnis der Rede, dem zufolge deren Signifikanz in der Gesinnung liegt, die sich in ihr zeigt und auf die sie hinwirkt. Die Kultivierung des Ethos durch den Logos geschieht so dadurch, dass vorbildliche Rede- und Handlungsweisen exemplarisch vorgeführt und zur Geltung gebracht werden. Im gorgianischen Verständnis von Wahrheit (alētheia) findet diese Bildungsidee ihren Niederschlag: ›Wahres‹ zu reden, ist für Gorgias ein ethisches Ideal. Es bedeutet, Sittlichkeit kraft der Rede zu verkörpern und dadurch zu ihrer Wiederverkörperung anzuhalten. Im Anschluss daran wird die Entwicklung der antiken Redekultur anhand von Zeugnissen aus der platonischen und nachplatonischen Zeit weiterverfolgt. Zunächst wird im fünften Kapitel die sokratische Dialektik als weitere Variante diskursiver Ethik betrachtet. Dafür wird der Konflikt zwischen Sokratik und Gorgianik in Platons Gorgias als Konflikt zwischen zwei Diskurspraktiken ausgelegt, die als Praktiken gelingenden Lebens miteinander konkurrieren. Sokrates und Gorgias sind sich in ihrem ethischen Grundanliegen eng verbunden: Ihre Lehren zielen beide auf sittliche Erziehung, nur liegt der Akzent im gorgianischen Diskurs auf Selbststeigerung, während er im sokratischen Diskurs auf Selbstmäßigung liegt. Die Denkfiguren der sophistischen Redekultur – das Verständnis der Diskurspraxis als ethischer Praxis, ihre ästhetische Dimension, die Ungetrenntheit von Leben und Rede, die Schlüsselrolle des Exemplarischen, der ethische Sinn der Wahrheit – haben daher auch für Sokrates noch ihre Verbindlichkeit. Auch die sokratische Gesprächsführung ist von der Idee geleitet, dass logoi aus sich selbst heraus sittliche Bildung bewirken und ein Schauplatz der Einübung in das richtige Leben sind; auch Sokrates überzeugt und erzieht durch die Art und Weise, wie er lebt und redet; und auch für sein Fragen und Antworten ist nicht die sachlogisch verstandene Wahrheit, sondern das sittlich Gute die maßgebliche Orientierung. Die letzten beiden Kapitel erkunden Ansatzpunkte, wie das Thema der diskursiven Kultur über die Phase der philosophischen Disziplinbildung im 4. Jahrhundert hinaus erörtert werden kann. Die Entkräftung der Opposition von Philosophie und Rhetorik schafft dabei Voraussetzungen für die Untersuchung der Frage, inwieweit der philosophische, wahrheitsorientierte Diskurs selbst in einer ethischen Redekultur verankert ist. In diesem Sinne werden im sechsten Kapitel die Motive der ›Lebensform Philosophie‹ sowie der Übungspraxis (askēsis) in den Vordergrund gerückt, die besonders in der hel21 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Einleitung

lenistischen Philosophie eine Schlüsselbedeutung haben: Wird die scharfe Dichotomie von philosophischer Wahrheitsfindung und rhetorischer Wahrheitsvermittlung relativiert, werden Elemente diskursiver Kultur im Kernbereich der Philosophie selbst sichtbar. Die askēsis liefert dafür ein wichtiges Modell: Da auch die Praktiken der Rede in das alltägliche Übungsprogramm der philosophischen Schulen integriert sind, lassen sie sich nicht auf formale Verfahren rationaler Erkenntnis reduzieren. Sie sind vielmehr in sich eine ethische Bildungspraxis, die tägliche Bemühung verlangt und das Selbst allmählich umformt, die eine Umarbeitung der Sinne beinhaltet, in der das Zeigen und das lebendige Beispiel prominente Rollen spielen und die dem Ideal der Übereinstimmung von Leben und Reden folgt. Ist einmal das Vorurteil außer Kraft gesetzt, die ästhetisch verfasste, wirksame Rede könne für die Philosophie bestenfalls ein pädagogisches Instrument sein, eröffnen sich also wichtige Möglichkeiten, philosophische Diskurse als ethische Praxis zu begreifen: Die Praxis der Wahrheit geht der diskursiven Kultivierung nicht als ihr Prinzip vorher, sondern ist selbst in deren Ethik verankert. Vor diesem Hintergrund wird dem Bild der ethischen Redekultur sodann im siebten Kapitel weitere Tiefenschärfe verliehen, indem die alltägliche Praxis der hellenistischen und römischen Philosophie genauer auf ihre diskursiven Elemente hin untersucht wird. Dass ihre Diskursverfahren weder als bloße ›Mittel‹ der Ethosbildung, noch als rationale Grundlage einer sekundären askēsis, sondern als Feld von ethischen Übungen sui generis begriffen worden sein müssen, ist dabei nun eine Prämisse. Umrisse dieser eigentümlichen Ethik der Rede werden anhand der medialen Vollzugsformen des Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens nachgezeichnet. Dabei kristallisiert sich heraus, dass am Grund der antiken Ethik kein abstrakt-allgemeiner Logos liegt, sondern ein konkreter dialogischer Habitus, der sich z. B. als tägliche Sorge um die Fähigkeit des Zuhörens oder um die rechte Balance zwischen Sprechen und Schweigen zu erkennen gibt, als sorgfältige Auswahl und Dosierung der Lektüre, als schriftlich organisierte Selbstprüfung oder als gepflegtes Selbstgespräch, das auf das Gespräch mit Anderen vorbereitet. Als Redepraxis, die auf ein philosophisches Ethos hinwirkt, realisiert sich der philosophische Logos in einer diskursiven Ökonomie, die jeden Tag gepflegt werden will. Während die Auslegung des Logos als ratio diese diskursive Ökonomie unsichtbar macht, gibt seine Auslegung als Rede einen Ein-

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druck von der konkreten Ethik, die der philosophischen Erkenntnispraxis zugrunde liegt. Das abschließende achte Kapitel gibt einen kurzen Ausblick, was die Ergebnisse dem gegenwärtigen Denken und insbesondere der modernen Moralphilosophie zu sagen haben. Wenn die Aufmerksamkeit für den Aspekt der diskursiven Kultivierung heute nicht zuletzt durch ein angespanntes Verhältnis zur Rhetorik nachhaltig gestört ist: Wie sähe ein philosophischer oder ethischer Diskurs aus, der dieser Dimension Rechnung trägt? Da die Einsetzung partikularer (geschweige denn altgriechischer) Sittlichkeitsideale für das moderne Denken keine Option ist, hat die Vergegenwärtigung der antiken Sorge um die diskursive Ethosbildung in erster Linie die Funktion einer kritischen Erinnerung: Offenbar geschieht auch in Diskursen, die sich dem eigenen Selbstverständnis nach auf ›sachliche‹ Gesichtspunkte beschränken, eine Inkraftsetzung von Habitusformen, welche nicht vernachlässigt werden darf. Das Modell der antiken Ethik liefert keine Patentrezepte, wie eine diskursive Kultur in der Gegenwart aussehen könnte; aber sie eröffnet eine kritische Perspektive auf moderne Ideale ethisch neutraler Rede und markiert Gesichtspunkte, die für ein ethisch reflektiertes Reden leitend sein können: In jeder Diskurspraxis werden, noch bevor sie zu Einsichten führt, notwendig Lebenshaltungen exemplifiziert und eingeübt. Diese Haltungen liegen in der Form des diskursiven Verhaltens, welches im Reden verkörpert und zur Geltung gebracht wird. Gleichgültig, ob es sich um Ratgeberliteratur handelt oder rationale Argumentation, um eine Predigt oder eine wissenschaftliche Abhandlung: In jeder Rede zeigt sich immer auch eine Lebenspraxis, die sich zur Fortschreibung empfiehlt. Nur wo in ihr Weisen nachahmenswerten Lebens aufscheinen, wird diese Redeweise auf Dauer überzeugen. Dieses Buch beruht auf dem ersten Teil einer Schrift, die 2015 durch den Fachbereich 2 der Universität Hildesheim als schriftliche Habilitationsleistung akzeptiert wurde. Ohne die Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen wäre diese Arbeit kaum möglich gewesen. Für viele fruchtbare Gespräche am Hildesheimer Institut für Philosophie sowie für aufmerksame Lektüren bin ich Anna Berres, Tilman Borsche, Rolf Elberfeld, Leon Krings, Eberhard Ortland, Wolfgang Christian Schneider, Inken Tegtmeyer und Katrin Wille zu ganz herzlichem Dank verpflichtet. Für hilfreiche Gespräche gebührt außerdem Andreas Hetzel und Theda Rehbock mein besonderer Dank. Für Hin23 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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weise bei ganz verschiedenen Gelegenheiten möchte ich Stefania Giombini, Helmut Heit, Alexander Mourelatos, Karen Piepenbrink, Gerald Posselt, Thomas Schirren und Morten Sørensen Thaning danken. Für ihre Bereitschaft, die Habilitationsschrift zu begutachten, bin ich neben Tilman Borsche und Rolf Elberfeld ganz besonders Maria-Sibylla Lotter zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Øyvind Rabbås ist es zu verdanken, dass ich das Manuskript während eines Forschungsaufenthalts am Department of Philosophy, Classics, History of Art and Ideas an der Universität Oslo unter idealen Bedingungen fertigstellen konnte. Hier standen mir Carlos Hernández Garcés und Pål Rykkja Gilbert mit philologischem Rat zur Seite. Dafür bin ich ebenfalls sehr dankbar. Jürgen Manemann schließlich verdanke ich die Gelegenheit, dass ich die mit dieser Studie verbundenen systematischen Fragen als Fellow des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (fiph) vertiefend behandeln konnte. Das fiph hat auch die Drucklegung dieses Buchs großzügig unterstützt. Nicht zuletzt dafür habe ich ganz herzlich zu danken.

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Zugänge zur antiken Redekultur

Die Auseinandersetzung mit einer vergangenen Redekultur sieht sich mit der grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert, dass sie auf kaum mehr zurückgreifen kann als auf die schriftlichen Spuren, die diese Kultur hinterlassen hat. Die antike diskursive Praxis hat sich nicht nur in Texten vollzogen; aber es sind allein Texte, durch die sie uns noch zugänglich ist. Daraus ergeben sich für diese Untersuchung methodische Besonderheiten, die für die philosophische Forschung nicht selbstverständlich sind. Gewöhnlich ist diese in hohem Maße durch die Absicht der Rekonstruktion philosophischer Lehren bestimmt und kann sich daher weitgehend auf die Interpretation von Texten unter doxographischen Gesichtspunkten beschränken. Eine solche philosophische Historiographie hat ihre Bezugspunkte immer in Schriften mit theoretischem Erscheinungsbild gesucht; und man lässt es ihr gewöhnlich durchgehen, dass sie auch solche Materialien wie philosophische Traktate behandelt, die eine solche Lektüre eigentlich kaum nahelegen, wie die Dichtungen des Parmenides oder die Sprüche Heraklits. Obwohl nur wenige Zeugnisse des antiken Denkens die Form der wissenschaftlichen Abhandlung haben – das Werk des Aristoteles steht hier einsam zwischen Lehrgedichten, Spruchsammlungen, Gleichnissen, geschriebenen Reden, fiktiven Gesprächen oder Briefen –, ist die Philosophiegeschichtsschreibung doch bis heute im wesentlichen Doxographie. Diese methodischen Schwierigkeiten wird diese Studie nicht aus der Welt schaffen können. Doch immerhin sollte sie versuchen, ihnen Rechnung zu tragen, indem sie alternative Perspektiven mit ins Spiel bringt und den doxographischen Zugang kritisch herausfordert. Zweierlei wird dabei einen Unterschied machen: Erstens werden gegenüber der herkömmlichen philosophischen Historiographie in höherem Maße kulturgeschichtliche Befunde herangezogen. Die jeweiligen Lehren sind vor dem Hintergrund z. B. politik-, rechts-, literatur- oder medienwissenschaftlicher Befunde zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit zu betrachten. Zweitens kann sich die 25 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Zugänge zur antiken Redekultur

Rekonstruktion einer diskursiven Kultur nicht auf solche Textzeugnisse beschränken, die aus heutiger Sicht philosophischen Abhandlungen hinreichend ähnlich sind und der doxographischen Lektüre entgegenkommen. Um diese Zeugnisse einordnen zu können und etwas von ihrer diskurspragmatischen Funktion aufzuschlüsseln, sind vielmehr immer wieder Seitenblicke auf Schriften nötig, die in den Philosophiegeschichten von untergeordneter Bedeutung sind: Werke der Geschichtsschreibung, der Medizin und der Dichtung, insbesondere die Tragödien des 5. Jahrhunderts v. Chr. All diese Zeugnisse geben den Blick auf eine Bildungskultur frei, die nicht nur in Philosophen oder Sophisten ihre Lehrer hatte, sondern ebenso in Historikern, Ärzten und Dichtern. 1 Zeichnet man die Grenzlinien zwischen diesen Gebieten zu scharf, wird man das intellektuelle Leben Griechenlands in wichtiger Hinsicht verfehlen. Das gilt nicht zuletzt für die frühgriechische Zeit, für die eine Einteilung in Disziplinen 2 noch von untergeordneter Bedeutung ist und in der die Weichen für die spätere Bildungskultur erst noch gestellt werden. Auf der anderen Seite bleibt die Zielsetzung dieser Untersuchung freilich eine philosophische; daran hat die disziplinäre und textuelle Perspektiverweiterung, die das Thema verlangt, ihre Grenze. Leitend bleibt die Absicht der kritischen Reinterpretation der antiken Philosophiediskurse, nicht das Interesse an kulturhistorischen Fakten. Das Ziel ist es, die in der Philosophiegeschichtsschreibung fest verankerten Vorstellungen davon, wie sich in der Antike rationale Diskurse herausbilden, in Frage zu stellen und ein neues Verständnis davon zu entwickeln, was solche Rationalität ausmacht. Für dieses Unternehmen ist das Thema der ›Redepraxis als Lebenspraxis‹, wie sich zeigt, aufschlussreich: Im ersten Abschnitt dieses ersten Kapitels wird diese sachliche Bedeutung und damit der systematische Hintersinn der Studie kurz erörtert, wobei die seit einigen Jahrzehnten zu verzeichnende Rückbesinnung auf antike Ethikkonzeptionen den Ausgangspunkt bildet (1). Vorbereitende Bemerkungen sind dann vor allem zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik (2) sowie Zu erinnern ist daran, dass die Dichter im frühen 5. Jahrhundert, in der Zeit von Pindar und Aischylos, noch sophoi genannt wurden und häufig die Rolle des Lehrers übernahmen. Dieses Verständnis ist auch im späteren 5. Jahrhundert noch gut präsent: So lässt Aristophanes den verstorbenen Aischylos in seinen Fröschen (Batr. 1054 f.) sagen: »Die Kinder haben einen Lehrer (didaskalos), der sie unterweist; die Erwachsenen haben Dichter (poiētai).« 2 Vgl. dazu Nightingale, Spectacles of Truth in Classical Greek Philosophy, 29–35. 1

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Ethik der Rede: Wiedergewinnung einer Reflexionsmöglichkeit

zur traditionellen Deutung der Sophistik nötig (3). Die weiteren Abschnitte umreißen einige Annahmen, die für die gesamten Erörterungen heuristische Orientierung bieten: Erstens werden charakteristische Aspekte der vorplatonischen Aufklärung entfaltet, von denen das Primat des Praktischen und die Idee der paideia besonders bedeutsam sein werden (4). Auf dieser Grundlage wird sodann bereits ein Stück weit sichtbar, warum es in der vorplatonischen Periode nahelag, die Redepraxis als Medium sittlicher Erziehung zu verstehen (5).

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Ethik der Rede: Wiedergewinnung einer Reflexionsmöglichkeit

Die antike Ethik ist heute wieder ein wichtiger Bezugspunkt der philosophischen Diskussion. Damit trägt die Gegenwartsethik dem Umstand Rechnung, dass die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte von systematischer Bedeutung für sie ist – eine Einsicht, die ihr nicht zu allen Zeiten hinreichend präsent war. Noch 1967 beklagte sich Alasdair MacIntyre darüber, dass man Moralphilosophie betreibt, »as though the history of the subject were only of secondary and incidental importance«. 3 Inzwischen jedoch wurde häufig betont, dass historische Studien die Denkoptionen der Moralphilosophie erweitern und als Therapeutikum für festgefahrene Denkmuster wirken können. 4 Der Rückgriff auf die Antike hat deutliche systematische Spuren hinterlassen und das Gesicht der Ethik in vielerlei Hinsicht verändert. Es hat sich erwiesen, dass die Vergangenheit Leitfäden liefert, Engführungen der Moralphilosophie aufzulösen, und dass sie eine umfassendere ethische Perspektive eröffnet, in der Themen wie das Glück, die Gefühle oder der Charakter ihren Platz finden. Was im moralischen Leben bedeutsam ist, lässt sich nicht allein mit Bezug auf Regeln und Normen verständlich machen. Eine realistische Ethik hat in den Blick zu nehmen, woran sich wirkliche Akteure im Handeln orientieren. Kennzeichnend für diese Neuausrichtung sind die Rückkehr der Tugendethik, eine größere Aufmerksamkeit für die Moralpsychologie, für die Fragen ethischer Bildung oder für die Rolle der moralischen Wahrnehmung. Man könnte diese Entwicklung so charakterisieren, dass das gelebte Ethos wieder mehr ins 3 4

MacIntyre, A Short History of Ethics, 1. Für ein Beispiel vgl. Annas, The Morality of Happiness, 3–7.

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Zugänge zur antiken Redekultur

Zentrum gerückt ist. Die Vertiefung des historischen Bewusstseins hat der Gegenwartsethik dazu verholfen, die moralische Fragestellung neu in den größeren Rahmen der sokratischen Fragestellung, ›wie zu leben sei‹, einzubetten. 5 Nun ist offensichtlich, dass die diskursiven Praktiken – die Weisen des sprachlichen Handelns oder der Rede –, die sich im sozialen Miteinander herausbilden und einspielen, im Ganzen einer Lebenspraxis eine herausragende Rolle spielen. Sie sind für die jeweiligen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweisen prägend und für die Form, die das individuelle und kollektive Leben annimmt, entscheidend. Für eine ethische Reflexion, die die Lebenspraxis im Hinblick auf ihr Gelingen befragt, sollte die diskursive Praxis daher ein Thema von höchstem Rang sein, und dies nicht nur, weil das Nachdenken über die Lebensführung diskursiv geschieht. Sofern die Redepraxis ein Bestandteil der Lebenspraxis ist, muss sie selbst zum Gegenstand der Frage, wie zu leben ist, werden. Gerade wer das gelebte Ethos ins Zentrum der ethischen Diskussion stellt, hat zu berücksichtigen, dass die Sprechweisen, die wir uns aneignen – die ›Stimmen‹, die wir entwickeln –, ein gelebtes Ethos wesentlich mit ausmachen. »Wortloses Handeln«, so spitzt Hannah Arendt zu, »gibt es streng genommen überhaupt nicht, weil es ein Handeln ohne Handelnden wäre.« 6 Ein Charakter zeigt sich wesentlich an der Weise, wie jemand spricht. Entsprechend wird sich das praktische Welt- und Selbstverhältnis mit den Redepraktiken, die wir jeweils ausbilden, auch formen und umformen. Diskurspraktiken erbringen nicht nur Prinzipien und Kriterien für eine vernünftige Lebensführung, sondern sind selbst Schauplatz ethischen Verhaltens. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dieses Verständnis der Redepraxis als einer Praxis des gelingenden Lebens der griechischen Antike noch ganz vertraut gewesen. Die diskursiven Verfahren der antiken Ethik sind mehr als eine formelle Methodik. Sie sind Vollzugsformen ethischen Handelns, die selbst der Einübung in sittliches Vgl. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, etwa 4–6. – In der neueren Diskussion ist es üblich geworden, von ›Ethik‹ wieder in einem weiteren Sinn zu sprechen, der allgemein die Frage der richtigen Lebensführung aufruft. Jede Reflexion menschlichen Handelns, die im Hinblick auf die Gestaltung der Lebenspraxis in Orientierung am Guten, am gelingenden Leben oder am Glück erfolgt, kann in dieser Sicht den Charakter einer ›Ethik‹ haben. Dies ist auch die Bedeutung, in der die Ausdrücke ›Ethik‹ oder ›ethisch‹ in dieser Studie gebraucht werden. 6 Arendt, Vita Activa, 168. 5

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Ethik der Rede: Wiedergewinnung einer Reflexionsmöglichkeit

Verhalten dienen. Der Sinn für die Bedeutsamkeit ethischer Bildung und der Sinn für den Praxischarakter der Rede gehen dabei Hand in Hand. Es ist kein Zufall, wenn Arendt an der vorhin zitierten Stelle, ohne eigentlich mit dem griechischem Denken befasst zu sein, auf die Ilias verweist: Wenn es für Homer zusammengehört, ein »Redner von Reden« (mythōn te rhētēr) und ein »Täter von Taten« (prēktēr te ergōn) zu sein (Il. IX 443), so klingt darin die Grundüberzeugung an, dass Reden und Handeln eine unauflösliche Einheit darstellen: Nichtsprachliches Tun, so könnte man erläutern, erlangt überhaupt erst in der Verflechtung mit sprachlichem Tun seinen Sinn und seine Bedeutung. 7 Dieser für die griechische Kultur maßgebliche Gedanke beinflusst auch die griechische Ethik zutiefst, seine Wirkung lässt sich bis in die hellenistische und römische Zeit hinein verfolgen. Was für eine Person jemand ist, zeigt sich an dem, was sie äußert und was sie tut; beides ist gar nicht erst voneinander getrennt. Da dies so ist, müssen Reden und Handeln gemeinsam den Gegenstand der Ethik ausmachen; und insoweit die Ethik selbst ein Diskurs ist, muss ihr eigenes Selbstverständnis ebenfalls davon betroffen sein. Die sokratische Ethik liefert Beispiele dafür: Im Gorgias erinnert Sokrates, inmitten seines hitzigen Streitgesprächs mit dem jungen Kallikles, daran, worum sich der Streit eigentlich dreht: Es gehe um eine Frage, verglichen mit der es »für jeden Menschen, der ein klein wenig Vernunft hat, nichts Ernsthafteres geben kann«, nämlich die Frage, »auf welche Weise man leben soll« (hontina chrē tropon zēn). Konkret stellt sich diese Frage, wie man leben soll, für Sokrates jedoch als Frage danach, ob man auf rhetorische Weise leben sollte, »die Redekunst übend« (rhētorikēn askounta), oder auf philosophische Weise, »im Streben nach Weisheit« (en philosophia, Gorg. 500c). Dabei ist auch diese zweite Lebensweise mit einer Praxis der Rede verbunden: dem dialektischen Fragen und Antworten. In der Apologie beschreibt Sokrates dieses Leben als eines des »Ausfragens und Ausforschens« (exetazonta kai ereunōnta, Apol. 41b), als ein Ausfragen seiner »selbst und anderer« (Apol. 28e), als ein Leben, das sich dem »Ermahnen und Aufzeigen« widmet (parakeleuomenos te kai endeiknymenos, Apol. 29d). Vor diesem Hintergrund ist auch die BemerArendt schreibt: »[…] beides, ›beredt in Worten zu sein und rüstig in Taten‹ gehört zusammen, weil es keinen eigentlichen Täter der Taten – mythōn te rhētēr – gäbe, würde ihn nicht gleichzeitig der Sprecher der Worte – prēktēr te ergōn – offenbar machen« (Vita Activa, 168). Zur Einheit von Reden und Handeln vgl. unten, Kap. II 4. 7

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Zugänge zur antiken Redekultur

kung zu lesen, dass es »das größte Gut für den Menschen« sei, »über die Tugend zu reden« und sich selbst und andere auszufragen, während »das unbefragte Leben« (ho anexetastos bios) nicht lebenswert sei (Apol. 38a). Liest man die Stelle im Gorgias in diesem Licht, so wird deutlich, dass Rhetorik und Philosophie hier nicht als Denksysteme konkurrieren, sondern als Redepraktiken, die gleichzeitig Lebenspraktiken sind. Es sind redend vollzogene Lebensweisen, die sich bei Platon begegnen; und der Streit um die Frage, wie man leben soll, wird ausgetragen als konkrete Begegnung dieser Rede- und Lebensweisen. Auf dem Spiel steht nicht einfach, welche Position inhaltlich zutreffend ist oder welche moralphilosophischen Annahmen besser begründet sind, sondern welche Diskurspraxis selbst die höhere Form gelingenden Lebens verkörpert. Die Ausgangspunkte der antiken Ethik der Rede sind der Gegenwartsphilosophie der Sache nach nicht unbekannt. Dennoch hat sich diese nicht der Frage angenommen, wie mit der formativen Kraft der Sprache umzugehen ist. Die moderne Ethik sieht ihre Aufgabe in der Regel darin, wie es ein Lehrbuch beschreibt, »das Sprachspiel der Moral von einem außerhalb des Sprachspiels gelegenen Standpunkt zu beschreiben, zu analysieren und möglicherweise zu begründen«. 8 Darin liegt nicht zuletzt, dass sie ihr eigenes Tun nicht als eine bestimmte Form der ›Rede‹ verstehen und kritisch reflektieren will. Für die antike Ethik hingegen war die Diskurspraxis selbst eine Form der Lebensführung, die richtig oder falsch sein kann. Sie konnte sich infolgedessen auch selbst als ethische Redepraxis verstehen. Maßgeblich war dabei der Gedanke, dass jede Weise der Rede auf eine Praxisform hinwirkt, die sich eine soziale Gemeinschaft potentiell zu eigen machen kann: In der Rede realisieren sich Kostproben einer Lebensweise, ein Ethos wird für Andere sprechend und kann so weitergetragen werden. Wenn Diskurse nicht nur auf sittlichen Haltungen basieren, die sich in Redeformen sedimentieren, sondern formativ auf sie zurückwirken, dann müssen sie als eine Arbeit am Ethos ausgelegt und praktisch entwickelt werden. Wie sich zeigen wird, ist dieser Gedanke, mit dem sich eine ethische Kultur der Rede verbindet, für die antike griechische Ethik von der frühgriechischen bis in die hellenistische Zeit hinein von größter Bedeutung gewesen.

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Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2 f.

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Philosophie und Rhetorik: Der systematische Ort diskursiver Kultur

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Philosophie und Rhetorik: Der systematische Ort diskursiver Kultur

Es ist eine Leithypothese dieser Studie, dass der Gedanke der Redepraxis als Praxis gelingenden Lebens in der philosophischen Diskussion deswegen einen schlechten Stand hat, weil er auf Denkfiguren angewiesen ist, die die Philosophie als Denkfiguren der Rhetorik aus sich auszuschließen gewohnt ist. Daher ist es von großer methodischer Bedeutung, wie das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik genau verstanden wird. Die folgenden Bemerkungen sollen die Perspektive der Untersuchung, die sich sodann vor allem heuristisch wird bewähren müssen, vorläufig rechtfertigen. Mit dem Ausdruck ›Rhetorik‹ (rhētorikē) wird häufig in erster Linie eine Kunstlehre (technē) aufgerufen, die auf effektvolle Rede und Persuasion gerichtet ist. Tatsächlich scheint sich diese Auffassung der Rhetorik als Kunstlehre in ihrer Geschichte oft zu finden. Insbesondere lassen sich die europäischen Schulrhetoriken nicht selten durch sie leiten. Nach diesem bis heute verbreiteten Verständnis zielt Rhetorik darauf, das natürliche Sprechen durch eine Methode der Rede zu substituieren, durch ein Regelsystem, das sich bei Gelegenheit anwenden lässt, insbesondere zum eigenen Vorteil. Aus diesem Blickwinkel ist die Rhetorik eine Technik, die aus der Sprache ein Werkzeug macht und das Sprechen instrumentalisiert. In dieser Tradition stehen noch die modernen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die die Systeme der Rhetorik zur Analyse von äußeren Sprachgebilden heranziehen. 9 Diese Auffassung der Rhetorik als Kunstlehre oder Regelsystem sei hier als formale Rhetorikauffassung gekennzeichnet. Der Glaube, dass Rhetorik immer eine Kunstlehre ist, hat dazu geführt, dass zentrale Aspekte der rhetorischen Tradition, die sich nicht in die formale Rhetorikauffassung fügen, heute kaum präsent sind. Für diese Studie ist dabei vor allem relevant, dass schon die frühgriechischen und vorplatonischen Redekulturen, allen voran die nur fragmentarisch erhaltenen Lehren der sogenannten ›Sophisten‹, immer wieder nach dem Muster der späteren Schulrhetorik gedeutet wurden. Die ›sophistische Rhetorik‹ gilt sogar als Paradigma einer Lehre, die die natürliche Beredsamkeit zum Zwecke der eigenen Nutzenmaximierung und Machtsteigerung ›technisch‹ perfektionieren 9 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik oder Plett, Systematische Rhetorik.

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Zugänge zur antiken Redekultur

will. Es ist eine häufig wiederholte Erzählung, dass bereits die ersten Rhetoriklehrer in Griechenland beabsichtigten, eine Überredungstechnik zu entwickeln, deren Regeln sich formulieren und vermitteln lassen. Für diese Gelehrten scheint zu gelten, dass sie ein rein rhetorisches und also kein sachliches Interesse verfolgen. 10 Diese Erzählung hat auch dort Verbreitung gefunden, wo man dem Thema der Rhetorik aufgeschlossen gegenübersteht. 11 Wie sich jedoch zeigen wird, ist dieser Blickwinkel hoch problematisch. Nicht selten ist ›Rhetorik‹ ein eher irreführendes Etikett für Erscheinungen, die man angemessener als Kultur der Rede beschreiben kann. Gelegentlich verdeckt die Kennzeichnung ›Rhetorik‹ sogar, dass sich die so klassifizierten Redepraktiken ausdrücklich von der formalen technē der Rede distanzieren. In vielen Fällen ist sie eine Fremdzuschreibung der Philosophie, die als solche schon kritischen, wenn nicht gar pejorativen Sinn hat. Symptomatisch dafür ist, dass der Ausdruck rhētorikē zum ersten Mal bei Platon auftaucht. 12 Für diese Arbeit wird von Anfang an ein anderes Bild leitend sein: Die formale Rhetorikauffassung geht darüber hinweg, dass sich die antiken Redelehren in der Regel nicht betrachtend zur kommunikativen Praxis verhalten, sondern sie typischerweise in der Absicht der praktischen Durchdringung und Verfeinerung aufnehmen. Sie verfolgen nicht die Absicht der Systematisierung und Rationalisierung, sondern die Absicht der Kultivierung der diskursiven Praxis. Für eine diskursive Kultur erschließt sich das sprachliche Sinngeschehen nicht primär im Modus des Begreifens, sondern vor allem im Modus der konkreten Entfaltung sprachlicher Praktiken und der Einübung in Verhaltensformen. Diese Reflexionsform soll hier als Kultivierung angesprochen werden. Zu ihr gehört das Ziel der Bildung des Redners, für das die Erziehungsprogramme der klassischen Rhetorik eine bleibende Erinnerung sind. Man kann sogar mit guten Gründen sagen, dass Bildung letztlich die Primärabsicht dessen war, was so oft als Redekunst charakterisiert wird. 13 Solche Aspekte lassen es anEinflussreich für diese formale Deutung der ›sophistischen Rhetorik‹ war Gomperz, Sophistik und Rhetorik, bes. Kap. II. 11 Vgl. Ijsseling, Rhetorik und Philosophie, 43–45; Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 12 oder Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, 11 oder 31–34. 12 Es handelt sich um Gorg. 448d. – Schiappa versucht in »Did Plato Coin Rhētorikē?« plausibel zu machen, dass rhētorikē sogar eine Prägung von Platon selbst sein könnte; vgl. dazu Kap. I 3. 13 Vgl. Walker, The Genuine Teachers of this Art, 2 f.: »By defining ›the art of the 10

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Philosophie und Rhetorik: Der systematische Ort diskursiver Kultur

gemessen erscheinen, von ›diskursiver Kultur‹ statt von ›Rhetorik‹ zu sprechen. Dies legt sich auch deswegen nahe, weil das Wissen um die Gestaltungskraft und erzieherische Wirkung der Rede einen angestammten Ort im gesellschaftlichen Alltagsleben der griechischen Antike hatte, und dies bereits zu einer Zeit, als Rhetorik als systematische Disziplin noch gänzlich unbekannt war. All diese Aspekte – der Modus der praktischen Einübung, die Absicht der Bildung, die Verankerung im Alltag – sollen hier unter das Etikett der diskursiven Kultur oder Redekultur gefasst werden. 14 Dass das Etikett ›Rhetorik‹ irreführend sein kann, bedeutet freilich nicht, dass es schlichtweg falsch ist. Dass die Griechen ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Kraft der Rede und in diesem Sinne ein ausgeprägtes rhetorisches Bewusstsein hatten – dies bleibt selbstverständlich eine gültige Beschreibung. So ließe sich das Thema dieser Studie auch unter die Überschrift ›Rhetorik und Ethik‹ stellen. 15 Problematisch an solchen Beschreibungen bleibt aber, dass sie unvermeidlich einen Antagonismus von Philosophie und Rhetorik aufrufen, welcher den antiken Verhältnissen nicht angemessen ist. Wo von rhētorikē die Rede ist, entsteht leicht der Eindruck, es sei von einer Disziplin die Rede, die mit der Disziplin der Philosophie konkurriert. Sofern das Wissen um die Macht der Rede aber im alltäglichen Reden und Handeln verankert ist, kann die philosophische Praxis ohne weiteres an Rhetorik teilhaben. Ein rhetorisches Bewusstsein zu haben, bedeutet nicht, der Philosophie gleichsam untreu zu werden. Bemühungen der praktischen Kultivierung von Redepraktiken können überall stattfinden, wo geredet wird. Der Begriff der diskursiven Kultur scheint diesen Verhältnissen besser Rechnung zu tragen als das Etikett ›Rhetorik‹, da er es erlaubt, die Philosophie als Teil dieser Kultur zu verstehen. Angesichts der überragenden Bedeutung diskursiver Praktiken für das philosophische Leben wäre dann sogar zu erwarten, dass die Philosophie einer der wichtigsten Orte der antiken Redekultur ist. Dies wirft auch ein Licht auf die Weise, wie der Widerstreit von Philosophie und Rhetorik gewöhnlich bestimmt wird: Es ist weithin rhētōr‹ as an art of producing a rhētōr, one puts the other definitions into relation.The pedagogical project sets the agenda for the critical-theoretic one and determines the appropriate objects of study.« 14 Zum Verständnis der Rhetorik als Kultur vgl. auch Robling, »Rhetorische Begriffsgeschichte und Kulturforschung beim ›Historischen Wörterbuch der Rhetorik‹«. 15 Zu dieser Perspektive vgl. ausführlich Leeten, »Rhetorik und Ethik«.

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üblich, diesen Widerstreit auf eine Differenz in Erkenntnisfragen zurückzuführen. Nach dieser Auffassung unterscheidet sich die Rhetorik, wenn sie nicht gleich als Überredungstechnik diffamiert wird, doch jedenfalls darin von der Philosophie, dass sie niedrigere Erkenntnisstandards ansetzt, etwa solche der ›Wahrscheinlichkeit‹. In dieser Perspektive wird sich philosophisches Denken dann auf Rhetorik einlassen, wenn das Ideal einer reinen, sprachunabhängigen ratio problematisch wird; sie wird zur Rhetorik, sofern sie ihre Ansprüche auf definitive Wahrheit nicht einlösen kann. Stellt man sich nun aber auf den Standpunkt der Rhetorik als Redekultur, dann wird deutlich, dass sich in der Interpretation des Widerstreits als Sache von Erkenntnisfragen bereits eine durch und durch philosophische Optik niederschlägt. Unter den Gesichtspunkten der diskursiven Kultur sieht der Widerstreit von Philosophie und Rhetorik nämlich anders aus: Die ›rhetorische‹ Dimension der Philosophie liegt nicht nur in einem ihr eingeschriebenen Unvermögen, zu persuasionsfreien Wahrheiten zu gelangen. Wenn Diskurse ein Geschehen der praktischen Gestaltung und ethischen Bildung sind, dann liegt sie vielmehr darin, dass der Logos nicht allein eine Sache von Erkenntnis ist. Die Konzeption der diskursiven Kultur gegen die alte philosophische Erzählung von Philosophie und Rhetorik ins Feld zu führen, bedeutet, der ganzen Auseinandersetzung einen ethischen Sinn zu geben: Wo die Redepraxis als Lebenspraxis aufgefasst wird, geht es primär um die Frage, wie ein vorbildliches oder gutes Diskursverhalten aussieht, wie dieses Verhalten praktisch eingeübt und das nichtsprachliche Handeln so in die rechten Bahnen gelenkt werden kann. Will man in diesem Zusammenhang von ›Rhetorik‹ sprechen, so ist diese ein Korrektiv zum allein sachlogischen Denken, eine Form der Reflexion, die die ethischen Fundamente von Diskursen mitberücksichtigt, auf denen auch Wahrheitsansprüche erst aufbauen. 16 Der Begriff der disEiner der wenigen Autoren, die auf diesen Umstand hinweisen, ist Andreas Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, 94: »Die Philosophen suchen den Streit zwischen Rhetorik und Philosophie in erster Linie als einen theoretischen Streit um die Wahrheit und die Möglichkeit der Erkenntnis zu definieren; demgegenüber begreifen ihn die Rhetoriker als einen politisch-praktischen Streit um die Einrichtung des Gemeinwesens. Der Streit dreht sich also zunächst um den Status des Streites selbst. Während die Philosophie der Rhetorik vorwirft, eine Wahrheit zu verleugnen, die den Streit schlichten könnte, halten die Rhetoriker den Philosophen entgegen, dass sie in ihrer Suche nach überzeitlicher Objektivität ein Politisches verleugnen, welches erst im unaufhebbaren Streit Gestalt annimmt.«

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kursiven Kultur kann dazu dienen, den ethischen Sinn des antiken Streits um den Logos präsent zu halten und den Antagonismus von Philosophie und Rhetorik, auf den für die Deutung dieses Streits so häufig verwiesen wird, zu unterlaufen. Die Kluft zwischen Philosophie und Rhetorik ist also tiefer, als häufig unterstellt wird; sie betrifft auch die Weise, wie der Antagonismus selbst interpretiert wird. Sie ist aber gleichzeitig auch weniger tief, als man meinen möchte; denn als diskursive Kultur kann Rhetorik wesentlich widerstandsfreier in die Philosophie einfließen: Die Philosophie macht unweigerlich ebenfalls von Redepraktiken Gebrauch; auch die philosophische Rede lässt sich immer daraufhin befragen, wie sie vollzogen wird. Selbst wenn diese Reflexionsform der Philosophie von Haus aus fremd sein mag, steht die ethische Reflexion von Redepraktiken doch zunächst nicht in Spannung zu ihren Lehren. Sie betrifft die konkreten Weisen, wie diese Lehren konstituiert, wie sie diskutiert werden, wie sie sich Geltung verschaffen, wie sie auf Philosophierende wirken. Obwohl dies mit der Zeit Einfluss auf das haben mag, worum es in philosophischen Diskursen geht, bestehen doch keine Hinderungsgründe, ethische Redekulturen innerhalb der philosophischen Praxis zu entwickeln und Philosophie selbst als Redekultur auszulegen. In der Tat wird sich zeigen, dass diskursive Kulturen in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Rolle gespielt haben. Die Reflexion über die ethische Dimension der Sprache konnte in der Antike eine ethische Reflexion über den Umgang mit dem sein, was die europäische Tradition als Rede kennt. Die sprachliche Praxis unter ethischen Gesichtspunkten auszulegen, musste für die Philosophie bedeuten, sie als ethische Praxis der Rede auszulegen, was letztlich verlangte, dass ihre Reflexion selbst eine praktische Form annimmt und Kultur der Rede wird.

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Das Zerrbild der ›sophistischen Rhetorik‹

Eine weitere Leithypothese dieser Untersuchung ist, dass die diskursive Kultur, der die antike philosophische Ethik angehört, älter ist als die disziplinäre Philosophie. Die Weichen für die ethische Redepraxis der klassischen Antike werden also in der vorplatonischen Zeit gestellt. Ihre Rekonstruktion muss daher im 5. Jahrhundert v. Chr. ansetzen und hat hier einen ersten Schwerpunkt. Daraus ergeben sich für die Studie wiederum einige Besonderheiten und auch Schwierig35 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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keiten: Die Diskurspraktiken und Redelehren insbesondere der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts werden in der Philosophiegeschichtsschreibung bis heute gern unter der Überschrift ›Sophistik‹ erläutert. Der traditionellen Deutung zufolge handelt es sich dabei um eine Gegenbewegung zur Philosophie, die vor allem Techniken der Rhetorik entwickelt hat. Auch wenn diese Deutung immer wieder in Frage gestellt wurde und heute deutlich an Kraft verloren hat, ist ihr Einfluss nach wie vor nicht zu unterschätzen. Hier sind also einige Vorbemerkungen am Platze. Die traditionelle Deutung der intellektuellen Entwicklungen im 5. und frühen 4. Jahrhundert v. Chr. beruht maßgeblich auf einer scharfen Abgrenzung zwischen den drei Lagern der vorsokratischen Naturlehren, den Vertretern der Sophistik und der Sokratik, welche dann in das platonische Denken mündet. Dabei wird gern unterstellt, dass die Philosophie im eigentlichen Sinn erst mit dem sokratischen Verfahren der Argumentation beginnt, während die Sophistik eine bloße Rhetorik war und die Vorsokratik eine Art Protophilosophie, die zwar an Wahrheit orientiert ist, aber diesen Anspruch methodisch nicht einlösen kann. 17 Insbesondere im Anschluss an Platons eigene Darstellung wird das entscheidende Ereignis der vorplatonischen Zeit darin gesehen, dass sich das sokratische ›Gründegeben‹ – das logon didonai – im Streit mit den Sophisten als überlegen erweist. Nicht selten fußt diese Deutung auf der alten Annahme einer dialektischen Entwicklung, bei der die Vorsokratik einen ersten Anlauf zur Wahrheit unternimmt, die Sophistik sodann einen haltlosen Relativismus propagiert, bevor Sokrates schließlich die vorsokratische Wahrheitsliebe mit dem Negativismus der Sophistik versöhnt. 18 Zwar ist inzwischen wiederholt auf die Gründe hingewiesen worden, warum dieses Deutungsschema nicht trägt. Die Einteilung in Vorsokratik, Sophistik Thomas Buchheim bringt diese Sichtweise, die nicht nur die Sophistik, sondern auch die vorsokratischen Naturlehren aus dem philosophischen Kanon ausschließt, so zum Ausdruck (Die Vorsokratiker, 9): »Da die antike Klassik erst eigentlich das hervorbrachte, was bis heute ›Philosophie‹ genannt wird, kann die davon abzugrenzende Form des vorsokratischen Denkens nicht unbedingt treffend und nicht gleicherweise Philosophie genannt werden –, obwohl ein eigener Ausdruck für diese Art des Denkens erst noch gefunden werden müßte.« 18 Vgl. z. B. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Erster Teil, 1278–1291. Es ist üblich, dieses Narrativ auf Hegel zurückzuführen: vgl. etwa Kerferd, The Sophistic Movement, 6–8. Es ist aber älter und findet sich z. B. bereits in Tennemanns Geschichte der Philosophie, Bd. I, zu der sich Hegels Darstellung gerade kritisch verhält. 17

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und Sokratik hat vor allem konventionellen Charakter. 19 Gleichwohl muss sich jemand, der die drei Lager unter der Überschrift ›frühgriechische Philosophie‹ gemeinsam behandelt, nach wie vor eigens für diese begriffliche Entscheidung rechtfertigen. 20 Die Wirksamkeit scheinbar äußerlicher Einteilungen ist kaum zu überschätzen. Die Schwierigkeiten betreffen vor allem die traditionelle Deutung der Sophistik. Obwohl seit Hegel und Grote oft von einer ›Rehabilitation‹ der Sophistik die Rede war, sind doch wesentliche Elemente dieser Deutung nie nachhaltig erschüttert worden und für die philosophische Historiographie bis heute vielfach leitend. 21 Dazu gehören vor allem drei hartnäckig sich haltende Annahmen, die man Rhetorikannahme, Einheitlichkeitsannahme und Antagonismusannahme nennen könnte. Die sophistische Bewegung verfolge demzufolge erstens kein sachliches Interesse, sondern entwickelt in erster Linie formale Redetechniken, eben eine bloße Rhetorik oder Kunst der Überredung; sie sei zweitens mit einem charakteristischen intellektuellen Standpunkt verbunden, mit einer Gesinnung, die allen Sophisten gemeinsam ist; und sie repräsentiere drittens einen Gegenstandpunkt zur Philosophie, insbesondere weil sie sich nicht an der Wahrheit orientiere. Ich möchte davon ausgehen, dass all diese Annahmen angesichts des gegenwärtigen Forschungsstands zur Sophistik und Rhetorikgeschichte als überholt gelten müssen: Weder waren die Gelehrten, die unter das Etikett der ›Sophistik‹ gefasst werden, an einer Kunst der Überredung interessiert, noch ist es überhaupt gerechtfertigt, generisch von der Sophistik als einer monolithischen Bewegung zu sprechen; entsprechend führt es auch in die Irre, von der Sophistik als einem Gegenprogramm zur Philosophie zu sprechen. (a) Die Rhetorikannahme hat schon in der Antike dazu gedient, die Erscheinung der sophistischen Bewegung zu kennzeichnen. Bereits Philostrat nennt die Sophistik eine »philosophierende Rhetorik« (Vit. soph. I, prooemium). Nun sieht sich jedoch gerade diese alteingesessene Annahme einer sophistischen Rhetorik in jüngerer Zeit mit Einwänden konfrontiert. Seit den 1990er Jahren hat sich eine Reihe von Stimmen zu Wort gemeldet, die das gewohnte Bild auf plausible Weise bezweifelt. Was wir bis heute ›Rhetorik‹ zu nennen gewohnt Vgl. exemplarisch die Hinweise in der Einleitung zum Cambridge Companion to Greek and Roman Philosophy: Sedley, »Introduction«, 9. 20 Vgl. Heit, Frühgriechische Philosophie, 7 f. 21 Für einen ausführlichen Literaturbericht zum aktuellen Stand der Sophistikforschung vgl. Leeten, »Verliert die Philosophie ihren Erzrivalen?« 19

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sind, hat sich, so die Kritik, nicht vor dem 4. Jahrhundert v. Chr. zu entwickeln begonnen. Es sei deswegen ein Fehler, die Voraussetzungen der späteren disziplinären Redelehren in die vorplatonische Zeit hineinzuprojizieren. Vertreten haben diese Position insbesondere Thomas Cole und Edward Schiappa, mit inzwischen bewährten Argumenten. 22 Evident wird sie vor allem dadurch, dass sich schlicht und einfach keine Belege aus dem 5. Jahrhundert finden lassen, die die Standarderzählung vom Anfang der Rhetorik in Griechenland wirklich stützen könnten. Vielmehr hat man für diese Erzählung stets auf Quellen aus späterer Zeit zurückzugreifen – auf Darstellungen also, die die platonische und aristotelische Perspektive bereits in sich aufgenommen haben. Die Behauptung des Fehlens von unabhängigen Belegen für eine rhetorische Technik im engeren Sinn vor dem 4. Jahrhundert ist bis heute weitgehend unwidersprochen geblieben. Uneinigkeit besteht allein in der Frage, wie dieser Befund zu werten ist. 23 Betrachten wir zuerst nur den philologischen Befund. Er lässt sich daran knüpfen, dass sich der Terminus rhētorikē erstmals bei Platon findet. Die Stelle im Gorgias, an der Sokrates von dem spricht, was »die Redekunst genannt wird« (Gorg. 448d), wird normalerweise als erste Belegstelle gehandelt. 24 Man hätte die Formulierung entsprechend so zu hören, dass das Neue und Ungewohnte dieses Ausdrucks noch mitklingt. Korrekt wäre es dann rhētorikē in Anführungszeichen zu setzen. Für den Ausdruck technē tōn logōn gilt ganz ähnliches: Auch wenn er sich etwas früher nachweisen lässt als der Ausdruck rhētorikē, ist er den Repräsentanten der Sophistik noch nicht geläufig gewesen. 25 Man darf folglich sagen, dass die Praxis der Rede im 5. Jahrhundert noch nicht ausdrücklich als technē begriffen wurde. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Lehre, die darauf 22 Vgl. Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece; Schiappa, Protagoras and Logos; Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece oder Gagarin, »Did the Sophists Aim to Persuade?« 23 Abgesehen von vereinzelten Zweiflern, die die Sichtweise von Cole und Schiappa ablehnen, ohne mit Belegen aufwarten zu können, die ihre Behauptungen entkräften, ist es inzwischen kaum noch umstritten, dass das 5. Jahrhundert keine disziplinäre Rhetorik kannte. Allerdings wird dieser Befund häufig mit Verweis auf eine ›vordisziplinäre‹ Rhetorik relativiert, so z. B. bei Enos, Greek Rhetoric before Aristotle. Einige lässt die Intervention von Cole und Schiappa freilich ganz unbeeindruckt, so etwa Wardy, The Birth of Rhetoric, 151, Anm. 3. 24 Vgl. Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, 2 f. sowie Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 14–23. 25 Vgl. Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 22 f.

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zielt, die gegebene Praxis der Rede auf der Basis eines Regelsystems zu elaborieren, als technē bezeichnet worden wäre: Dieses Wort ist in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts die gängige Bezeichnung für eine systematische Kunstlehre; in den Medizindiskursen dieser Zeit ist es, wie wir noch sehen werden, allgegenwärtig. 26 Was immer die Redelehren des 5. Jahrhunderts also waren: Es gibt keine Hinweise, dass sie explizit als Techniken der Rede interpretiert wurden. Wie ist diese Beobachtung aber zu bewerten? Folgt man Cole und Schiappa, so ist das späte Erscheinen von rhētorikē keine Äußerlichkeit. Schiappa listet in seiner Darstellung akribisch auf, welche Überzeugungen er betroffen sieht: 27 Die gesamte Geschichte von der Rhetorik als einer sizilianischen Erfindung, die in den Gerichtshöfen ihre ersten großen Auftritte hatte, lasse sich angesichts der Textbefunde nicht halten. Der Mythos von den ersten Redelehrern Corax und Teisias steht ebenso zur Kritik wie die so oft wiederholte Erzählung von den Handbüchern der Rhetorik, die schon in diesen Anfängen verfasst worden sein sollen. Damit aber verliert die Überzeugung, die Sophisten hätten in erster Linie eine wahrheitsindifferente Kunst der Überredung unterrichtet, eine wichtige Grundlage. Die traditionelle Klassifikation der Sophistik als Rhetorik wird unglaubwürdig. Wir werden den Befund hier insbesondere so auffassen, dass die Annahme eines formalen Rhetorikverständnis und eines rein instrumentellen Verständnisses der Rede für die vorplatonische Zeit kritisch zu sehen ist. Dies kann an drei Aspekten festgemacht werden: Erstens gab es offensichtlich noch keine Redelehre im Sinne einer Disziplin der Rhetorik. Will man die Redepraxis des 5. Jahrhunderts überhaupt als Rhetorik auslegen, so wird man sie bestenfalls als vordisziplinäre Rhetorik auslegen können. Schon dies ist nicht unproblematisch, weil es die Gefahr mit sich bringt, die Selbstverständlichkeiten der späteren Schulrhetorik in frühgriechische Redepraktiken hineinzuprojizieren. In der Vorplatonik waren die Lehren des Logos indes typischerweise noch nicht von Lehren über andere Gegenstände abgegrenzt, die ganze Idee der Einteilung in Disziplinen ist jünger. Das beinhaltet natürlich auch, dass es noch kein Kontrastverhältnis zwischen einer Disziplin namens rhētorikē und einer Disziplin namens philosophia geben konnte. 28 Ein formales Rhetorikverständnis 26 27 28

Vgl. bes. Kube, Technē und Aretē; zur Medizin vgl. unten, Kap. III 2. Vgl. Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 4–10. Vgl. Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 23.

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hatte noch keinen Boden, weil die Lehren des Logos noch nicht die Form einer abgesonderten Reflexion angenommen hatten. Zweitens lässt sich mit guten Gründen plausibel machen, dass die für rhetorische Kunstlehren wesentlichen Unterscheidungen von z. B. Stil und Inhalt, Wahrheit und Wahrheitsvermittlung oder atechnisch und entechnisch erst im 4. Jahrhundert entwickelt werden. 29 Der formale Rhetorikbegriff baut essentiell auf analytische Trennungen, die im Umkreis der Sophistik so noch nicht gemacht werden. Insbesondere scheint den vorplatonischen Logoslehren eine von den Themen der Rede abgehobene Betrachtung der bloßen Form der Rede fremd zu sein. Man muss sicher nicht gleich so weit gehen wie Cole, der die »absolute separability of a speaker’s message from the method used to transmit it« 30 zu einer Existenzbedingung der Rhetorik macht. Es genügt, dass das strenge Fragen nach dem ›Was‹, für das Sokrates häufig steht, im 5. Jahrhundert genauso etwas Neues und Ungewohntes hat, wie eine Betrachtung, die sich ausschließlich dem leeren ›Wie‹ einer Rede widmet. Weder hat die formallogische Semantik schon ihren Entfaltungsort, noch die später in der rhetorischen Tradition so selbstverständliche reine Stilistik. Im Gegenteil bleiben beide Momente weitgehend ungetrennt. Auch die separierende Betrachtung von Sprecher und Rede ist der sophistischen Bewegung keineswegs so vertraut, wie es aus heutiger Sicht scheinen mag. Der primäre Zugang zur Rede ist der zu einem konkreten Gesamtphänomen, einer personalen Praxis des So-und-so-von-etwasRedens, die man verfehlt, wenn man sie stets schon in ihre einzelnen Momente zergliedert. Dies legt es schließlich drittens nahe, dass das distanzierte, instrumentelle Verhältnis zur Rede, das die Gegner der sophistischen Rhetorik seit je monieren, noch gar nicht ohne weiteres möglich war. Die ›Sophisten‹ sind in der Folge Platons berüchtigt dafür, die Rede als ein Mittel zu behandeln, das zu beliebigen Zwecken gebraucht und missbraucht werden kann. Dabei beruht diese Anschauung oft gerade auf der Überzeugung, dass die Sophistik ein formales Verhältnis zum rhetorischen Logos ausgebildet hat. Um den Logos als ein Mittel begreifen zu können, muss er objektiviert werden, und das heißt, er muss vom Sprecher und seinen Haltungen abgelöst, in Form und Ge-

29 30

Vgl. Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, exemplarisch 11–13. Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, 12.

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halt, Wahrheit und Vermittlung zerlegt werden. 31 Die instrumentelle Redetechnik setzt die analytischen Trennungen der formalen Rhetorik notwendig voraus. Wenn das richtig ist, kann sie aber ebenfalls vor dem 4. Jahrhundert noch nicht aufkommen. So lässt sich argumentieren, dass die Möglichkeit der rein instrumentellen Stellung zum Logos frühestens bei Platon zu Bewusstsein kommt. Wenn die Rhetorik für Aristoteles das Vermögen ist, das Glaubwürdige jeder Sache zu »betrachten« (theōrēsai, Rhet. 1355b), so definiert er sie geradezu durch den distanzierten, objektivierenden Blick auf die Rede. Ein vergleichbares Verständnis des Logos wird man in der ungeschiedeneren Betrachtung der Phänomene der Rede, auf die das 5. Jahrhundert begrenzt ist, noch nicht finden. Die Entwicklung von der Dichtung zur Redetechnik vollzog sich nicht in einem einzigen Schritt. Der formale Rhetorikbegriff hat also auch deswegen noch keinen Boden in der vorplatonischen Zeit, weil diese keine instrumentelle Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Rede ausbildete. Die vorplatonische Redekultur ist also erstens keine Disziplin, die auf einen von anderen Lebensvollzügen abstrahierten Logos spezialisiert ist; sie fasst die konkreten Erscheinungen des Logos zweitens nicht analytisch zergliedernd auf, sondern als Gesamtphänomen; und sie nimmt drittens kein rein instrumentelles Verhältnis zur Rede ein. Es wird noch zu prüfen sein, in welchem Maße sich diese Diagnose im Einzelnen bestätigt. Das Gesagte verdeutlicht aber schon, dass ein angemessenes positives Verständnis der sophistischen Redelehren erst noch gewonnen werden muss. (b) Vom Wegfall der Rhetorikannahme ist auch die zweite der oben genannten Annahmen, jene der Einheitlichkeit der sophistischen Bewegung, betroffen: Dass es höchst problematisch ist, von der Sophistik als einer homogenen Erscheinung zu sprechen, hatte bereits Grote mit allem Nachdruck betont. 32 In kaum einer aktuellen Darstellung zum Thema fehlt der Hinweis auf die Heterogenität der sophistischen Bewegung. In vielen Fällen betonen die Autorinnen und Autoren, wie heikel es ist, die Einheit des Gegenstandes, von Für ein Beispiel dieser Deutung vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, 63. 32 Vgl. Grote, A History of Greece VII, 53: »It is impossible […] to predicate anything concerning doctrines, methods, or tendencies common and peculiar to all the Sophists. There were none such; nor has the abstract word – ›Die Sophistik‹ – a real meaning, except such qualities (whatever they may be) as are inseparable from the profession or occupation of public teaching.« 31

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Zugänge zur antiken Redekultur

dem die Rede sein soll, herzustellen. 33 Es ist gut sichtbar, dass sich dieser Zweifel an der Sachangemessenheit der generischen Rede von ›der‹ Sophistik seit den Revisionen der Rhetorikgeschichte noch einmal verstärkt hat: Dass die Sophisten trotz großer Unterschiede immerhin das gemeinsame Merkmal aufwiesen, Rhetoriklehrer zu sein, galt bis in die 1980er Jahre hinein gern als ausgemachte Sache; dort, wo die Heterogenität der Sophistik auffällig wurde, bot diese Prämisse eine Möglichkeit, die Einheitlichkeitsannahme aufrechtzuerhalten. 34 Bei George B. Kerferd, dessen Monographie The Sophistic Movement von 1981 als solideste Gesamtdarstellung zum Thema gilt, beginnt die Rhetorikannahme dann deutlich zurückzutreten: Zwar hält Kerferd daran fest, dass die Macht des Logos ein zentrales Thema für die Sophisten war. Gleichzeitig macht er aber deutlich, wie facettenreich die Studien zu diesem Thema tatsächlich waren; das alte Stereotyp der sophistischen Überredungskunst fehlt bei Kerferd völlig. 35 Im Hintergrund könnte dabei Kerferds schon früher zum Ausdruck gebrachte Überzeugung stehen, dass die Uneinheitlichkeit des Phänomens methodisch eigentlich eher Einzelstudien zu individuellen Sophisten verlangt als Untersuchungen zu ›der‹ Sophistik im allgemeinen. 36 Schon Kerferds mehr kulturhistorische Rede von der ›sophistischen Bewegung‹ signalisiert eine gewisse Distanz zur Vorstellung einer klar abgesteckten sophistischen Lehre. Vollends tritt die Heterogenität des Phänomens dort in den Vordergrund, wo man Ernst macht mit der methodischen Forderung, sich besser den einzelnen Gelehrten zuzuwenden, die als Repräsentanten der Sophistik gelten. Diese Maßgabe hat sich etwa Schiappa zu eigen gemacht, der ausführliche Untersuchungen zu Protagoras und Gorgias vorgelegt hat; zu nennen sind ferner neuere Studien zu Antiphon oder Prodikos. 37 Diese Studien kommen regelmäßig zu dem Schluss, dass die jeweils untersuchten Gelehrten ›keine typischen‹ Sophisten waren. Zwar wird man, wie Schiappa festhält, das Interesse für die Vgl. z. B. Bett, »Is there a Sophistic Ethics?«; Gagarin/Woodruff, »The Sophists« oder Barney, »The Sophistic Movement«. 34 Vgl. Guthrie, A History of Greek Philosophy III, 50; für ein neueres Beispiel Notomi, »The Sophists«, 99. 35 Vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, bes. 59–82. 36 Vgl. Kerferd, »The Future Direction of Sophistic Studies«, 3. 37 Vgl. Schiappa, Protagoras and Logos; Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 85–152; Gagarin, Antiphon the Athenian; Pendrick (Hrsg.), Antiphon the Sophist; Mayhew (Hrsg.), Prodicus the Sophist. 33

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Das Zerrbild der ›sophistischen Rhetorik‹

Fragen des Logos als ein charakteristisches Merkmal der als Sophisten bekannten Denker ansehen dürfen. Dieses Interesse aber hat viel zu unterschiedliche konkrete Ausprägungen, als dass es eine differentia specifica sein könnte. Am deutlichsten schlägt sich dies darin nieder, dass es die Gelehrten, die später als Philosophen gelten, mindestens ebenso treffsicher kennzeichnet. 38 Die Empfehlung geht deshalb dahin, dass man von grundlegender Heterogenität ausgehen und Protagoras, Gorgias, Antiphon oder Prodikos nicht als Repräsentanten einer sophistischen Bewegung, sondern als individuelle Gelehrte untersuchen sollte. Die generische Rede von dem Sophisten ist bereits als solche problematisch; nach dem Wegfall der Rhetorikannahme hat sie kaum noch Substanz: I believe that we should realize the difficulty of identifying a specific and distinct group known as ›Sophists‹ ; understand that what the Sophists taught was broader than what is typically understood as Rhetoric; resist reducing the variety of theories, practices, and ideologies of the Older Sophists into one Sophistic Rhetoric and instead recognize their diversity […]. 39

(c) Es ist unschwer zu sehen, dass angesichts dessen auch der Antagonismusannahme der Boden entzogen ist. Wie es im 5. Jahrhundert keinen einheitlichen sophistischen Standpunkt gab, so ist es auch falsch, die Entwicklung dieser Zeit im Lichte des Widerstreits von Sophistik auf der einen und Philosophie auf der anderen Seite zu interpretieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die Philosophie erst später die feste Form einer Disziplin annimmt. Auch wenn es zutrifft, dass sich Sokrates zu seiner Zeit mit Gelehrten wie Gorgias über die Macht des Logos gestritten hat, so ist es doch fragwürdig, solche Kontroversen als Ausdrucks eines Konflikts zwischen zwei Parteien der Sophistik (oder ›Rhetorik‹) und der Sokratik (oder ›Philosophie‹) zu erläutern. Diese Kategorien entstehen erst in nachplatonischer Zeit und gehören bereits zum Inventar einer disziplinär gewordenen Philosophie. Es dürfte das Bild verzerren, wenn man sie unkritisch heranzieht, um die vorplatonischen Auseinandersetzungen verständlich zu machen. Angesichts dieser Befunde sind folgende Konsequenzen zu ziehen: Um ein besseres Verständnis der intellektuellen Entwicklungen 38 Vgl. Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 54: »The pivotal theoretical term or keyword found in the few surviving doctrinal fragments of the Sophists is logos – one of the most equivocal terms in the Greek language.« 39 Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 50.

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Zugänge zur antiken Redekultur

im 5. Jahrhundert zu gewinnen, ist neben dem Ausdruck ›Rhetorik‹ auch die Kennzeichnung ›Sophistik‹ zurückhaltend zu verwenden. Sie verleitet dazu, Interpretationsschemata zugrunde zu legen, die letztlich in die Irre führen. Aus diesem Grunde wird hier im Folgenden in der Regel vom ›vorplatonischen‹ Denken die Rede sein, wobei, wie erläutert, von einem Diskurs auszugehen ist, in dem Gelehrte wie Protagoras, Gorgias, Demokrit oder Sokrates genauso eine Rolle spielen wie die Historiker Herodot und Thukydides, die frühen Hippokratiker sowie die Tragödien- und Komödiendichter. Das Wort ›Sophistik‹ werden wir sparsam verwenden und nur als Stichwort für eine kulturgeschichtliche Situation, ein besonderes intellektuelles Klima. 40 In etwa diesem Sinne hat Nietzsche einmal von der Sophistik als einer »Cultur der unbefangensten Weltkenntniss« gesprochen, »welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte«. 41 Diese Perspektive deckt sich durchaus mit dem, wovon auch neuere Arbeiten ausgehen: Wo bei der Erforschung des 5. Jahrhunderts nicht Platons doxographische Vorgaben leitend waren, sondern ein kulturhistorischer Sinn die Richtung bestimmte, dort haben Stichwörter wie ›Demokratisierung‹, ›Säkularisierung‹ oder ›Aufklärung‹ häufig den Weg gewiesen. Die Lehrmeinungen der Protagonisten der sophistischen Epoche sind aus dieser Warte oft weniger aussagekräftig als deren Beiträge zur Diskussionskultur, zur Lehrpraxis oder zum Bildungsprogramm ihrer Zeit. 42 Man kann die damit verbundene Optik gut mit dem Stichwort ›Fifth Century Enlightenment‹ charakterisieren – ein von Guthrie geprägter Ausdruck, der sich inzwischen vielfach eingebürgert hat. 43 Die Sophistikforschung, die heute nur zum kleineren Teil von Fachphilosophen betrieben wird, tut sich etwas leichter damit, die Geistesgeschichte des 5. Jahrhunderts als ein soziales Phänomen zu studieren und dafür Schützenhilfe bei anderen Fächern in Anspruch zu nehmen. Typisch für diese Herangehensweise sind Kerferd, The Sophistic Movement, 15–23; Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, 18–24 oder Wallace, »The Sophists in Athens«. Einen soziologischen Zugang hatte schon in den 1970er Jahren Tenbruck in dem Artikel »Zur Soziologie der Sophistik« vorgeschlagen. In der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung werden kulturgeschichtliche Aspekte wie das Auftreten bezahlter Lehrer mit doxographischen Aspekten wie dem angeblichen Wahrheitsrelativismus dieser Lehrer vermengt. Zu den Einzelheiten vgl. Leeten, »Verliert die Philosophie ihren Erzrivalen?«, 81–84. 41 Nietzsche, Morgenröthe, III 168. 42 Vgl. exemplarisch Barney, »The Sophistic Movement«, 94. 43 Vgl. den Untertitel von Guthrie, A History of Greek Philosophy III. 40

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Motive vorplatonischer Aufklärung

Im folgenden Abschnitt soll eine Charakteristik skizziert werden, die einige Voraussetzungen der vorplatonischen Aufklärung so in den Blick bringt, dass die damit verbundene Redekultur später leichter verständlich werden kann. Das Augenmerk gilt dabei primär solchen Voraussetzungen, die den Gelehrten des späteren 5. Jahrhunderts – seien sie nun Sophisten, Sokratiker, Historiker oder Dichter – aller Wahrscheinlichkeit nach als selbstverständlich galten, so dass sie für ihre Auseinandersetzungen einen Rahmen bildeten. Das Ziel ist es, eine vorläufige generelle Idee davon zu gewinnen, in welchem Licht die Praxis der Rede in dieser Periode überhaupt erschienen sein könnte.

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Motive vorplatonischer Aufklärung

Die vielleicht größte Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit dem frühgriechischen Denken besteht darin, dass es kaum möglich erscheint, sich in eine geistige Situation zurückzuversetzen, in der die Kategorien der platonischen Denktradition noch nicht die Regie führen. Kaum eine Periode der Geistesgeschichte wird so leicht zum Gegenstand von Rückprojektionen wie die vorplatonische Zeit. Um dieser Gefahr nicht ganz schutzlos ausgeliefert zu sein, sollen in diesem Abschnitt nun einige Prämissen markiert werden, die für die intellektuellen Entwicklungen im 5. Jahrhundert selbst verbindlich gewesen sein müssen. Im folgenden Abschnitt (Kap. I 5) wird sodann ein erster Blick darauf geworfen, wie die Praxis der Rede im Lichte dieser Prämissen erscheint. Die drei Motive, die ich ins Zentrum stellen werde – (a) Gestaltbarkeit menschlicher Angelegenheiten, (b) Primat des Praktischen und (c) Möglichkeit der Bildung –, werden den Charakter von heuristischen Leitmotiven haben, auf die später immer wieder zurückgegriffen wird. Ich werde annehmen, dass die Vorgaben der sophistischen Zeit eine lange Nachwirkung hatten, so dass sie für die Deutung der griechischen Ethik ingesamt instruktiv sein können. (a) Gestaltbarkeit menschlicher Angelegenheiten. Die frühgriechische Zeit stellt sich als eine Phase großer politischer Umwälzungen und gesellschaftlicher Dynamik dar. Politisch ist vor allem die schrittweise Ablösung von aristokratischen Gesellschaftsformen prägend, die ab der Mitte des 5. Jahrhunderts in der attischen Demokratie ihren Höhepunkt findet. Einen Eindruck davon, wie sich die Athener 45 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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selbst gesehen haben mögen, gibt Thukydides’ Bericht von Perikles’ Rede auf die Gefallenen im zweiten Buch des Peleponnesischen Kriegs: Demokratie, Rechtsgleichheit, Meritokratie, Freiheit, Gesetzestreue, Gastfreundschaft, liberale Erziehung, Mut, Sinn für das Schöne, Schlichtheit, Überlegung, Redefreiheit und Edelmut sind Perikles zufolge kennzeichnende Merkmale der attischen Polis (Thu. II 37–41). Auch wenn man mit solchen Selbstdarstellungen behutsam wird umgehen müssen, ist doch davon auszugehen, dass die politische und kulturelle Situation in Athen während der Regierungszeit des Perikles für die frühgriechische Aufklärung maßgeblich ist. 44 Wo sich die Auseinandersetzung mit dem frühgriechischen Denken vom Aspekt der Demokratisierung hat leiten lassen, ist es gelegentlich zu recht überschwenglichen Bewertungen des ›Fifth Century Enlightenment‹ gekommen. Einige Arbeiten zur Sophistik deuten diese Bewegung gewissermaßen als eine Vorform spätmoderner Emanzipationsbewegungen. 45 Das ist problematisch. Sinnvoller scheint es, zunächst von dem grundlegenderen Umstand auszugehen, dass die frühgriechische Periode mit einem Schwinden unhinterfragter Orientierungen konfrontiert ist und dass die Gelehrten dieser Zeit auf diese Herausforderung reagieren müssen. Prägend für diese Situation ist neben der Ablösung von alteingesessenen sozialen Ordnungen und dem Alltag des demokratisch organisierten Gemeinwesens, in dem Entscheidungen durch Rede und Gegenrede gefällt werden, etwa die Einsicht in die Konventionalität scheinbar natürlicher Gegebenheiten oder die Erfahrung kultureller Pluralität in einer Phase verstärkten Kulturkontakts. Für die geistigen Entwicklungen dieser Zeit dürften dies Grunderfahrungen von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen sein. Kennzeichnend für diese Situation ist, dass die Differenz zwischen physis und nomos, zwischen dem natürlichen Sosein und dem Konventionellen oder Künstlichen verstärkt in die Aufmerksamkeit tritt. Die Debatten scheinen sich regelmäßig daran entzündet zu haben, dass sich das, was vermeintlich als Natur galt, auf den zweiten Blick als ›Kultur‹ erweist. Für das Klischee des Sophisten, der angeblich daran interessiert sei, jede sachliche Wahrheit auf bloße ÜbereinZur möglichen Bedeutung des Perikles für die sophistische Bewegung vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 17–22. 45 Vgl. die ›neosophistische‹ Deutung der Sophistik bei John Poulakos, »Sophistical Rhetoric as a Critique of Culture«. 44

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künfte zurückzuführen, ist dies immer wieder aufgegriffen worden. Doch es ist unwahrscheinlich, dass der vorplatonischen Aufklärung eine Haltung der Destruktion eigen war. Zwar darf man davon ausgehen, dass das intellektuelle Klima generell durch eine Erschütterung fragloser Gewissheiten und einen Geist der Kritik charakterisiert war – aber eben darum ist es notwendig auch zu einem Ringen um Neuinterpretationen und zu Versuchen der Kompensation des Verlusts traditioneller Orientierungen gekommen. Wenn physis und nomos nicht immer schon deckungsgleich sind, dann wird es zu einer Aufgabe, sich um die ›künstliche‹ Ausformung eigens zu kümmern. 46 Die Entdeckung des Konventionellen geht Hand in Hand mit der Einsicht in die Gestaltbarkeit menschlicher Angelegenheiten: Die physis kann in unterschiedliche Bahnen gelenkt und verschieden ausgeformt werden; damit stellt sich die Frage, auf welche Weise sie am besten ausgeformt werden sollte. Das Problem der Lebensgestaltung rückt ins Zentrum der intellektuellen Auseinandersetzungen. Die physisnomos-Problematik ist eng verbunden mit der Frage nach der richtigen Ethik. (b) Primat des Praktischen. Es wurde immer wieder bemerkt, dass nicht erst Sokrates die Weisheit ›vom Himmel herabholte‹, wie es der bekannte Satz sagt, 47 sondern schon die Gelehrten im Umkreis der Sophistik. Noch treffender ist es aber, auch hier von einer gesamtgesellschaftlichen Erscheinung auszugehen: Das Denken der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts steht wie selbstverständlich unter einem Primat des Praktischen. Die frühgriechischen Gelehrten sind der Idee einer Gestaltung des kollektiven und individuellen Lebens verpflichtet. Wo traditionelle Verbindlichkeiten abhanden kommen, entsteht unweigerlich ein Bedarf an praktischer Weisheit. Für die vorplatonische Aufklärungsbewegung ist diese Grundausrichtung typisch. Sie stellt damit die Weichen für eine zutiefst praktische ReflexionsDie Antiphon zugeschriebene Schrift peri alētheias scheint auf den ersten Blick die Position zu vertreten, dass jeder Begriff von Gerechtigkeit (dikaiosynē) auf Üblichkeiten beruht und alle Moral konventionell ist (DK 87 B44). Zweifel an dieser Lesart lassen zwei neuere umfängliche Erscheinungen zu Antiphon aufkommen: Pendrick (Hrsg.), Antiphon the Sophist, 59–91 und Gagarin, Antiphon the Athenian, 65–73. Bei näherer Betrachtung gibt es keinen Beleg dafür, dass nomos und physis in peri alētheias gegeneinander ausgespielt werden. Eher scheint der Autor zu beabsichtigen, das Zusammenspiel von physis und nomos, das insbesondere dort zum Tragen kommt, wo natürlich Gegebenes auf besondere Weise ausgeformt wird, besser zu verstehen. 47 Der Satz geht auf Cicero zurück: vgl. Tusculanae Disputationes, V 10. 46

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weise, wie sie für die antike Philosophie, welche einen scharfen Dualismus von Theorie und Praxis eigentlich nicht kennt, 48 noch lange charakteristisch ist. Zuletzt hat Foucault gezeigt, wie weit man kommt, wenn man das antike Denken als Form der Selbstsorge auslegt. Viele der erkenntnis- und ontologiekritischen Einlassungen der Gelehrten, die der Sophistik zugeordnet werden, bekommen einen anderen Klang, wenn man sie in diesem Zusammenhang betrachtet: Sie können als Zeugnisse einer intellektuellen Haltung ausgelegt werden, die auf die Reflexion über die diesseitige Alltagsexistenz fokussiert ist und sich gegen jede Ontologie des wahren oder eigentlichen Seins sträubt. Ein Fragment Antiphons illustriert diese Haltung: »Es gibt Leute, die nicht ihr gegenwärtiges Leben (ton paronta bion) leben, sondern sich mit viel Eifer darauf vorbereiten (paraskeuazontai), ein anderes Leben zu leben, nicht das gegenwärtige.« (DK 87 B53a) 49 Wenn Protagoras gesagt haben soll, über die Götter könne er »weder sagen, dass sie sind, noch, dass sie nicht sind« (DL IX 51), so könnte man dies als Beleg derselben antispekulativen Einstellung werten. Viele der sophistischen Einwürfe in Platons Dialogen, die oberflächlich wie Plädoyers für individualistische Nutzenmaximierung wirken, schlagen bei näherer Betrachtung ebenfalls in diese Kerbe: Sie richten sich gegen ein rein betrachtendes Leben, das den Rückzug aus dem tätigen, politischen Leben empfiehlt und diesem gegenüber ein bloßes Zuschauen bleibt. 50 Hier zeichnet sich das Ideal eines tätigen, diesseitigen Lebens ab, das dem Ideal einer desengagierten Vernunft zuwiderläuft. Man kann das Gesagte so zuspitzen, dass die Form der Reflexion, die sich in der frühgriechischen Periode herausbildet, generell als Ethik angesprochen werden kann. Das Problem der Gestaltung menschlicher Angelegenheiten ist für diese Reflexionsform das maßgebliche Telos; daran allein erweist sich der Wert einer Erkenntnis. Der Vorrang des Praktischen wird fortan für das antike Denken kennzeichnend sein: Philosophie ist wesentlich Ethik. Dabei ist mit ›Ethik‹ keine Disziplin gemeint, die innerhalb eines Denksystems ausgebildet Vgl. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Kap. XVII, bes. 280–282: Das Wortpaar ›Theorie und Praxis‹ bezeichnet eine geistig fruchtbare Spannung, aber keinen echten Dualismus. 49 Antiphon wird besonders Sokrates im Verdacht gehabt haben, den er »Lehrer des Unglücks« (kakodaimonias didaskalos) genannt haben soll, wie Xenophon berichtet (Mem. I 6.2). 50 Vgl. z. B. Gorg. 484c-486d. 48

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wird, sondern ein theoretisch-praktisches Unternehmen, das zuallererst dem gelingenden Leben verpflichtet ist. Das Denken dreht sich um die Einrichtung menschlicher Lebenspraktiken und weist damit eine Nähe zu anderen Betreibungen auf, die der Pflege des Lebens dienen: der Agrarwirtschaft, der Tierpflege und der Medizin. Letztere war von besonderer Bedeutung und beanspruchte als Sorge um den Leib des Menschen den Rang eines Modells für die werdende Wissenschaft und die antike Philosophie insgesamt. Dass diese als ›Medizin der Seele‹ verstanden wurde, verdankt sich nicht nur einer wirksamen Metaphorik, sondern schließt etwas von der gesellschaftlichen Rolle auf, die den Gelehrten ab der Mitte des 5. Jahrhunderts zugeschrieben wurde: All ihre Erkenntnis dürfte daran gemessen worden sein, inwieweit sie der Förderung der aretē und dem Gedeihen des Gemeinwesens dient. – Damit freilich haben ihre Lehren ihr Hauptthema auch nicht in der gegenständlichen Welt, sondern in der sittlichen Verfassung der Person. Dass sie sich als Ethik präsentieren, heißt nicht zuletzt, dass sie auf eine Bildung des Ethos zielen. (c) Die Möglichkeit der Bildung. Die attische Demokratisierung geht mit einer Ablösung von der Voraussetzung einher, dass sich die Tüchtigkeit einer Person, ihre aretē, allein an der sozialen Herkunft festmacht. Auch die Persönlichkeitsstruktur verliert die Unverfügbarkeit einer gegebenen physis. Es entsteht Raum für den Gedanken, dass Personen erst werden müssen, wer sie sind, und sich zu dem machen, was sie sind. So wird die Möglichkeit der Bildung (paideia) zum ersten Mal bewusst. Dieses Bewusstsein ist für das Verständnis der frühgriechischen Aufklärung und der diskursiven Kultur der Antike von herausragender Bedeutung. Wie der Vorrang des Praktischen aus der Einsicht in die Gestaltbarkeit der menschlichen Welt hervorgeht, fügt sich der Bildungsgedanke systematisch in die ethische Grundausrichtung der frühgriechischen Aufklärung. Er gehört keineswegs in eine sekundäre Pädagogik. Am Charakter hat die ethisch-politische Lebensgestaltung vielmehr ihren wichtigsten Ansatzpunkt: Man kümmert sich am besten um die polis, indem man sich um die aretē ihrer Bürger kümmert. Die allmähliche Ablösung von der aristokratischen Ethik schafft den Raum für die Überzeugung, dass ein Charakter im Laufe eines Lebens angeeignet wird und verfeinert werden kann. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer ›Demokratisierung der aretē‹ 51 sprechen. 51

Vgl. Schiappa, Protagoras and Logos, 169 f.

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Damit aber wird die Sorge um das Ethos nun zu einer vordringlichen Aufgabe. Das Thema der paideia betrifft ein Problem, von dem Gedeih und Verderb des gesamten Gemeinwesens abhängt. Ein Fragment Antiphons, das gleichzeitig illustriert, wie die paideia nach dem Modell des Ackerbaus verstanden werden konnte, vermittelt einen Eindruck davon, welche Stellung der Bildungsgedanke unter diesen Umständen einnehmen konnte: Das erste, glaube ich, bei den menschlichen Dingen (tōn en anthrōpois) ist die Erziehung (paideusis). Denn wenn man von irgend einer beliebigen Sache den Anfang richtig macht (tēn archēn orthōs poiēsētai), so ist es wahrscheinlich (eikos), dass auch das Ende richtig wird (kai tēn teleutēn orthōs gignesthai). Was für einen Samen (sperma) man in die Erde sät, so ist auch die Ernte, die man erwarten darf. Und wenn man in einen jungen Körper die edle Bildung (tēn paideusin gennaian) sät, so lebt das und sprosst das ganze Leben hindurch (dia pantos tou biou) und weder Regen noch Regenlosigkeit kann es vernichten. (DK 87 B60)

Nicht die Herkunft ist der Anfang (archē), sondern die Bildung (paideusis); an ihr entscheidet sich, ob ein Charakter edel (gennaios) ist und wie das Leben (bios) sich gestaltet. Die im vorplatonischen Jahrhundert vordringliche gewordene Aufgabe der Sorge um die menschlichen Angelegenheiten findet in der Erziehung ihr Prinzip. In dieser Tradition steht auch noch später der Anonymus Iamblichi, der den Weg »zur höchsten Vollendung« (es telos to akron) darin sieht, sich möglichst »frühzeitig« (prōaitata) um »das Edle und Gute« (tōn kalōn kai agathōn) zu bemühen (DK 89 1.2). Als Hegel sich bemühte, den »schlimmen Sinn«, den die Sophisten durch Platon und Aristoteles erlangt hatten, »auf die Seite zu stellen und zu vergessen«, um ihr Auftreten »von seiner positiven, eigentlich wissenschaftlichen Seite« sehen zu können, 52 da hatte er dieses Bildungsanliegen im Auge. Hegel betont diese Zielsetzung mit einer Emphase, die kaum eine Wiederholung fand. 53 Erst mit den Sophisten beginne der Bildungsgedanke weltgeschichtlich wirksam zu werden, indem diese nämlich einen Standpunkt bezögen, von dem aus die Welt nicht als Viefalt des Wissbaren gilt, sondern unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen Geistesbildung angeeignet

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 409. Zur Bedeutung des Bildungsgedankens im 5. Jahrhundert vgl. allerdings auch Jaeger, Paideia, Bd. I, 364–418.

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werden kann. 54 Im Zentrum aller wissenschaftlichen Bemühungen steht nicht der Erwerb irgendwelcher Kenntnisse, sondern die Formung der Persönlichkeit. Den im Zusammenhang des Themas der Philosophie als Lebensform so zentralen Gedanken der Übung oder askēsis darf man in diesem Zusammenhang sehen. Er war die gesamte Antike hindurch wirksam, vielfach über doktrinale Differenzen hinweg. Die mitunter leicht emphatische Rede von ›Selbsttransformation‹ hat ihren Kern in dem einfachen Umstand, dass jede Bildungspraxis auf Aneignungspraktiken zurückgreift, die einen allmählichen persönlichen Veränderungsprozess stützen sollen. Es überrascht daher nicht, dass die Spuren der askēsis weit zurückgehen. Obwohl sie erst im Hellenismus systematische Form annimmt und gelegentlich sogar das Philosophieverständnis als solches prägt, 55 reichen die Hinweise über Protagoras’ Bemerkung, für die »Lehre« (didaskalia) brauche man »Natur« (physis) und »Übung« (askēsis, DK 80 B3), 56 bis hin zu dem frühen Spruch des Periandros, »alles« sei »Übung« (meleta to pan, DK 10ζ). Sofern der Charakter, als Komplex von habitualisierten Handlungsweisen, der Dreh- und Angelpunkt eines auf Bildung angelegten Denkens ist, muss es eine Arbeit an Gewohnheiten, eine Gewöhnung vorsehen. Damit sind bereits Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Philosophie als solche den Charakter einer Übung – einer askēsis oder meletē – annehmen kann. In diesem Fall geht das Primat des Praktischen so weit, dass das Philosophieren selbst als praktische Ethik entwickelt wird. Die drei genannten Aspekte – Gestaltung menschlicher Angelegenheiten, Primat des Praktischen, Bildungsgedanke – bilden eine Vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 409–415. – Als Zeuge dafür wird der platonische Protagoras aufgerufen, der Sokrates gegenüber bemerkt, ein Schüler werde bei ihm, wie Hegel recht frei übersetzt, »nicht in etwas anderes eingeführt, als in den allgemeinen Zweck, wegen dessen er sich an mich wendete« (ebd., 415). Die Passage lautet: παρὰ δ’ ἐμὲ ἀφικόμενος μαθήσεται οὐ περὶ ἄλλου του ἢ περὶ οὗ ἥκει (Prot. 318e). Schleiermacher übersetzt: »bei mir aber soll er nichts lernen als das, weshalb er eigentlich kommt«. Gemeint ist die euboulia, die ›Wohlberatenheit‹. 55 Dies belegt z. B. die stoische Rede von Philosophie als »Übung einer lebensnotwendigen Kunst« (askēsis epitēdeiou technēs, SVF II 35). 56 Zur Trias von ›Natur‹ (physis, natura), ›Lehre‹ (epistēmē, doctrina) und ›Übung‹ (askēsis, meletē, exercitatio) vgl. auch z. B. den Anonymus Iamblichi (DK 89 1.2); Platon, Phdr. 269d; Cicero, De or. I 113–117; DL VII 8 oder Quintilian, Inst. V 10, 119–125. 54

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vorläufige Charakteristik der vorplatonischen Aufklärung, die in der Folge noch zu vertiefen und zu bestätigen ist. Dabei wird sich zeigen, dass das Verständnis des Logos vor diesem Hintergrund erklärt und insbesondere mit dem Bildungsgedanken verknüpft werden kann. Die Einsicht in die Macht der Rede ist eine Einsicht in ihre formative Potenz. Der Umgang mit logoi hat charakter- oder ethosbildende Funktion. Die frühgriechische Logospraxis ist eine Arbeit am Ethos, deren Ziel das sittliche Gutsein ist. Der folgende Abschnitt wird dieses Verständnis vorläufig umreißen.

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Logos und Ethos

Die Entwicklung der Demokratisierung, die Hinwendung des Denkens zum Praktischen und der Bildungsgedanke haben oft als Stichwörter gedient, wo es darum ging, das Aufkommen der Rhetorik in Athen zu erklären. Wo politische und rechtliche Entscheidungen in Volksversammlungen getroffen werden, dort erlangt die Rede eine prominente Stellung. Wo nicht allein die soziale Herkunft, sondern die rednerische Kompetenz über Laufbahnen entscheidet, dort entsteht ein Bedarf an entsprechender Unterweisung. Gleichzeitig dürfte die Entdeckung der Gestaltbarkeit vermeintlich natürlicher Gegebenheiten auch den Blick auf rednerische Fähigkeiten verändert haben: Galt die peithō, die ›Überredung‹ oder ›Umstimmung‹, ursprünglich als etwas Göttliches, so kristallisiert sich nun heraus, dass sich der Mensch die Kraft des Logos aneignen kann. 57 Die Rede hat eine Wirksamkeit, die sich lebenspraktisch fruchtbar machen lässt. Diese Elemente hat die traditionelle Philosophiegeschichtsschreibung zu einem Bild zusammengefügt, in dem die Macht des Logos unter technische Kontrolle gebracht wird, um eigene Zwecke durchzusetzen. Solange der formale Rhetorikbegriff leitend bleibt, ändert sich an dieser alteingesessenen Deutung auch dann nichts, wenn man betont, dass die frühgriechischen Redelehrer eine Bildungsabsicht verfolgten. Der ›schlimme Sinn‹ der Sophistik, von dem Hegel spricht, wird nicht ernsthaft in Frage gestellt, solange an eine Art der Bildung gedacht ist, die selbst einen schlimmen Sinn hat: nämlich an die Ausbildung formaler rhetorischer Fertigkeiten. Dies Zu dieser ›Säkularisierung‹ der peithō vgl. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, 29–57.

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zeigt sich auch in Deutungen der Sophistik, die dieser wohlgesonnen sind. 58 Wenn es demgegenüber eine Prämisse der folgenden Überlegungen ist, dass die frühen Redelehren im Horizont des ethischen Bildungsprojekts zu sehen sind, von dem im vorherigen Abschnitt die Rede war, so soll damit nicht gesagt sein, dass ein eigennütziger Missbrauch der Macht der Rede nie vorgekommen sei. Ebenso wenig soll suggeriert werden, dass wir die für diese Ethik leitenden Sittlichkeitsvorstellungen teilen könnten. Die Behauptung ist vielmehr, dass auch im Umgang mit dem Logos eine Formung der Persönlichkeit angezielt war, nicht die Aneignung äußerer Kompetenzen. Die frühen Logoslehren stehen im Kontext der skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen, in denen der neu aufkommende Bildungsgedanke und das Wissen um die Handlungsmacht der Rede eine enge Verbindung eingehen. Dieses Wissen gehört zum Allgemeinwissen dieser Zeit: Der Logos gilt hier als zwiespältiges Phänomen, das stets auch verhüllen und in die Irre führen kann. 59 Wie sich später immer wieder zeigen wird, hat die Verfeinerung der gegebenen Redepraxis im Vorfeld der Philosophie aber keineswegs darin bestanden, diese dunkle Seite des Logos für eigene Zwecke auszubeuten. Ohnehin gibt es keinen Grund anzunehmen, dass eine Kunst der Verstellung, die gängige Normen der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit unterläuft, im Klima der vorplatonischen Aufklärung zu großen Ehren hätte kommen können. Es ist angesichts des damaligen Verständnisses von diskursiver Praxis wahrscheinlicher, dass es auch bei den ›rhetorischen‹ Bildungsangeboten primär um die sittliche Verfassung derer ging, die diese in Anspruch nahmen. Dies wird klarer, wenn man noch einmal an die These zurückdenkt, dass die Voraussetzungen für einen strikt instrumentellen Begriff der Rede frühestens im 4. Jahrhundert geben waren. Sie gewinnt an dieser Stelle systematische Bedeutung: Um die Rede als ›Mittel Ein Beispiel liefert Jacqueline de Romilly, die die sophistische Erziehung als rein technische Rhetorikausbildung interpretiert und jede Kontinuität zu den späteren rhetorischen Bildungsprogrammen bestreitet: vgl. dies., Les Grands Sophists dans l’Athène de Périclès, Kap. 3. 59 Dieses Bewusstsein begegnet nicht etwa nur dort, wo sich nüchterne Gelehrte gegen den rhetorischen Gebrauch der Rede richten. Vielmehr weiß z. B. auch der Dichter Pindar, wie leicht sich Menschen »durch bunte Falschheiten« (pseudesi poikilois) täuschen lassen (Ol. I 29). Für ähnliche Beispiele vgl. Aischylos, Prom. 685 f. oder Sophokles, Philok. 99. 58

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Zugänge zur antiken Redekultur

zum Zweck‹ begreifen zu können, so diese These, muss sie vom Sprecher und seinen Haltungen abgelöst werden. An die Stelle des ungeschiedenen Phänomens der ›von etwas redenden Person‹ muss eine analytische Trennung von Elementen wie Redner und Rede oder Form und Gehalt treten. Erst wenn der Logos in eine objektivierende Perspektive gerückt wird, kann er als Instrument betrachtet werden. In der frühgriechischen Zeit aber ist diese Sichtweise alles andere als naheliegend. Für sie ist die Rede ein Sinngeschehen, in das die Redenden verwickelt sind, mit dem sie umgehen und in dem sie sich verhalten müssen. Die traditionelle Erzählung von der sophistischen Rhetorik setzt einen intentionalistischen Handlungsbegriff voraus, die Vorstellung von Sprechakten, die bestimmte Effekte haben sollen. Aus griechischem Blickwinkel steht jedoch etwas anderes im Vordergrund: Reden und Handeln werden unmittelbar als praktisch-ethisches Verhalten von Personen aufgefasst. Nicht die vom Akteur getrennten sprachlichen oder nichtsprachlichen Handlungen stehen im Fokus, sondern die Haltung, die sich in einem Reden und Handeln manifestiert. Dabei treten ›Worte und Taten‹ in griechischer Perspektive als zusammenhängender Komplex auf: Sie sind als ein Verhaltensmuster thematisch, an dem sich abzeichnet, was für eine Person jemand ist. 60 Wenn das Reden aus antiker Sicht also ein Handeln ist, dann nicht im Sinne eines Sprechakts, der etwas bewirkt, sondern im Sinne einer Handlungsweise, die sich im diskursiven Verhalten exemplarisch realisiert. Ein Reden ist der Vollzug einer Lebensform, welche im Spannungsfeld von Gut und Schlecht steht und ethisch bewertet werden kann. Diese Vorstellung, dass sich in der Weise, wie jemand redet, niederschlägt, was für eine Person jemand ist – dass Logos und Ethos eng miteinander verschlungen sind –, ist nach der hier entwickelten Auffassung für die diskursive Kultur der antiken Ethik von herausragender Bedeutung. Nimmt man sie ernst, wird es möglich, die vorplatonischen Logostheorien und Redelehren unmittelbar mit dem Gedanken der ethischen Bildung zusammenzuschließen. Man kann sich dies mit Hilfe der oben eingeführten Unterscheidung von Rationalisierung und Kultivierung klarmachen: Der intentionalistische Handlungsbegriff scheint eher die Möglichkeit einer Rationalisierung der Rede nahezulegen. Fasst man Diskurspraktiken hingegen als Weisen praktischen Verhaltens auf, werden die Möglichkeiten ihrer Ver60

Vgl. ausführlich Kap. II 4.

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Logos und Ethos

feinerung vor allem in ihrer Kultivierung liegen. Die Redepraxis muss dann selbst als Bildungspraxis entwickelt werden: In diesem Fall zielen die Lehren des Logos auf eine diskursive Förderung der ethischen Verfassung, die das individuelle und soziale Leben prägen. Die diskursive Praxis ist eine Arbeit am Ethos. Dass die Redelehren und diskursiven Übungen des 5. Jahrhunderts im Dienste einer Entfaltung von Lebensmöglichkeiten standen, wird die folgende Rekonstruktion zeigen. In der vorplatonischen Zeit wird der Gedanke geprägt, dass die Redepraxis der Hauptort der Humanisierung ist, auf die alle Erziehung zielt. Selbst ein Paradesophist wie Gorgias von Leontinoi kann in diese Strömung eingeordnet werden: Gorgias soll angeboten haben, die »Seele zu üben im Wettstreit der Tugend« (askēsai psychēn aretēs es agōnas, DK 82 A8); und noch bei Platon steht Gorgias in dem Ruf, Menschen zu bilden (paideuein anthrōpous, Apol. 19e). 61 Der Logos ist das Medium solcher Menschenbildung – auf diesem Gedanken beruht noch die spätere rhetorische Bildungskultur. Isokrates, ein Schüler des Gorgias, wird ihm besonders prägnanten Ausdruck verleihen: Es sei der Möglichkeit, »einander zu überreden« (peithein allēlous) und zu »offenbaren (dēloun), was wir wollen«, zu verdanken, dass wir das tierische Dasein überwunden, Gemeinschaften gebildet, Gesetze gemacht und Künste entwickelt haben (Or. III 6; Or. XV 265). 62 Die Rede ist demzufolge die bedeutendste Gestaltungskraft innerhalb der menschlichen Lebenspraxis: Sie ist es, die Humanität überhaupt begründet; denn ohne sie gäbe es nichts, was einem menschlichen Dasein ähnlich ist. Auf dieses sittliche Potential baut nach der im Folgenden verteidigten Interpretation die gesamte antike Redekultur, der auch die Philosophie angehört. In dieser diskursiven Bildungspraxis oder logōn paideia, wie Isokrates sie später nennen wird, werden Diskurse als Lebenspraktiken verstanden, die in Orientierung am guten Leben kultiviert werden können. Sie ist nicht Redetechnik, sondern Ethik der Rede. Das ist das Leitmotiv der Deutung, die in diesem Buch unter der Überschrift Redepraxis als Lebenspraxis entwickelt werden soll.

61 62

Zu Gorgias vgl. Kap. III. Vgl. die ganz ähnliche Formulierung bei Cicero, De or. I 32–33.

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II Rede und Gegenrede: Der Aufstieg des Diskursiven

Die diskursive Kultur der Antike ist tief in der griechischen Geistesgeschichte verwurzelt, ihre Spuren lassen sich bis in die archaische Zeit hinein verfolgen. Im Laufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. gewinnt sie eine Form, die für die philosophische Ethik von bleibender Bedeutung sein wird. Die intellektuellen Entwicklungen dieser Zeit werden daher ein Schwerpunkt dieser Untersuchung sein, und so werden wir uns zunächst im Vorfeld der philosophischen Disziplinbildung bewegen. Die frühen Versuche, Redepraktiken im formellen Rahmen von Lehrpraktiken weiterzuentwickeln, müssen in lebensweltlich gegebenen Diskursformen ihre Ansatzpunkte gefunden haben. Damit sichtbar wird, was solche Versuche – die für die Philosophie bis in die Gegenwart hinein kennzeichnend sind – im vorplatonischen Jahrhundert überhaupt bedeutet haben mögen, müssen wir uns zuerst ein umrisshaftes Bild von den diskursiven Gegebenheiten dieser Zeit machen. Von den Diskursformen, die bereits ein hinreichend geordnetes Verfahren erkennen lassen, sticht die Praxis der Rede und Gegenrede in der frühgriechischen Zeit heraus. Diese Redepraxis, die schon bei Homer vorkommt, dient der Entscheidungsfindung in politischen Versammlungen und Gerichtsprozessen. Charakterisiert ist sie dadurch, dass die Beteiligten ihre Positionen nacheinander in längeren Monologen darlegen, bevor dann, durch Akklamation oder Abstimmung, darüber entschieden wird, welchem Logos ›gefolgt‹ werden soll. Dieses öffentliche Gegeneinanderreden, die Antilogie, darf als die erste organisierte Form der diskursiven Praxisgestaltung gelten, die in der europäischen Kulturgeschichte greifbar ist. Sie bleibt anfangs auf das öffentliche, politische Leben begrenzt, liefert in der Folge jedoch, wie wir sehen werden, auch für die im engeren Sinne ethischen Redekulturen der vorplatonischen Periode die Vorgaben. Einer der Gründe, warum sich die Philosophie mit der Kultur der Rede und Gegenrede bisher nicht sehr intensiv befasst hat, dürfte darin liegen, dass sie eng mit einem Verfahren verschwistert zu sein 56 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Rede und Gegenrede: Der Aufstieg des Diskursiven

scheint, das in den alteingessenen Interpretationen eine sehr unrühmliche Rolle spielt: die sogenannte ›Antilogik‹. Dieses etwas seltsam klingende Wort übersetzt den griechischen Ausdruck antilogikē technē, der mit ›Kunst der Widerrede‹ übersetzt werden kann und seit Platon eine bevorzugte Methode der sophistischen Gelehrten bezeichnet. Laut George Kerferd ist die Frage der antilogikē gar »in many ways the key to the problem of understanding the true nature of the sophistic movement«. 1 Obwohl das Anliegen, die ›wahre Natur‹ der Sophistik zu verstehen, hier nicht auf der Tagesordnung steht, ist die Frage der Antilogik zweifellos von großem Interesse für die Erschließung der vorplatonischen Diskurspraxis. Die vergleichsweise spärlichen Beiträge zur Antilogik gehen in der Mehrzahl vom technē-Aspekt der antilogikē aus und rekonstruieren das Phänomen unmittelbar als Methode der Argumentation. Im Fokus steht dann das im Umkreis der sophistischen Lehren entwickelte Verfahren, zu einer gegebenen Sache zwei gegensätzliche logoi zu konstruieren. In dieser Perspektive setzt die Geschichte der Antilogik mit Protagoras ein. Sie ist in der Philosophie am häufigsten. 2 In der traditionellen philosophischen Historiographie geht diese Deutung der Antilogik als einer technē nicht selten einher mit dem Vorurteil, die Sophisten hätten ausschließlich formale Interessen verfolgt und seien Sachfragen gegenüber indifferent gewesen. Die Antilogik wird in dieser Sicht zur Eristik, die auf die Überrumplung des Gegners zielt. Wie sich noch zeigen wird, greift dies zu kurz und unterstreicht letztlich nur, warum Platons Etikettierung der sophistischen Methode als technē mit Vorsicht zu genießen ist. Wo weniger der technē-Aspekt, sondern der kulturgeschichtliche Kontext der antilogikē leitend ist, ergibt sich ein anderes Bild. Hier tritt die alltägliche Praxis der Antilogie in den Mittelpunkt, das öffentliche Gegeneinanderreden, wie es in Griechenland seit je in Ratsversammlungen und Gerichtsverfahren üblich war. In dieser PerKerferd, The Sophistic Movement, 62. – Wie rhētorikē kommt der Ausdruck antilogikē zuerst bei Platon vor (Phdr. 261d; Pol. 454a). Die Deutung der sophistischen Praxis als antilogikē technē könnte also platonisch inspiriert sein. Man sollte folglich die Möglichkeit offenhalten, dass sich die Sophisten zwar mit Antilogien befasst haben, dabei aber keine technē im Auge hatten, wie Platon es mit dem Etikett antilogikē suggeriert. 2 Vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 59–67 oder Mendelson, Many Sides, 1: »The antilogical theory of argumentation originates with Protagoras of Abdera, the preeminent Sophist of Periclean Athens.« 1

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spektive nun kann die Antilogie als eine frühe Praxis der Argumentation erscheinen, welche verglichen mit heute üblichen Verfahren unzureichend bleibt. Ein Beispiel für diese Optik liefert der Artikel »Antilogia« von Manfred Kraus, der das politische Gegeneinanderreden bis zur archaischen Periode zurückverfolgt und die Entwicklungsgeschichte der antilogikē bei Homer beginnen lässt. Für diese frühen Formen des antilegein, für die der Disput zwischen Agamemnon und Achilles im ersten Buch der Ilias (Il. I 105–187) exemplarisch steht, ist es Kraus’ Darstellung zufolge typisch, dass »die gegensätzlichen Standpunkte hart aufeinander[prallen]«, so dass die Sache »im Zerwürfnis bzw. in körperlicher Züchtigung [endet], wobei allein soziale Rangunterschiede und Machtverhältnisse über den Gewinner entscheiden«. 3 Auch in dieser Sicht steht das antilegein der Eristik nahe: Der Wettstreit der Worte scheint die rohe Handgreiflichkeit eher fortzusetzen als durch zivilere Formen der Auseinandersetzung zu ersetzen. Die folgende Darstellung interessiert sich nun in erster Linie für den Entwicklungsschritt von der sozialen Diskurspraxis der Rede und Gegenrede – der Antilogie – zur vorplatonischen Methode der widerstreitenden Reden – der Antilogik. Sie wird die Skizze einer möglichen Genealogie der Antilogik zeichnen. Gefragt wird im ersten Schritt nach dem Nährboden der späteren, mehr methodisierten Verfahren, mit denen die philosophische Ethikreflexion einsetzt. Als diese Verfahren im Laufe des vorplatonischen Jahrhunderts Gestalt annahmen, so die Hypothese, wird man ihren Sinn im Lichte der viel älteren Praxis der Rede und Gegenrede verstanden haben, die aus dem öffentlichen Leben vertraut war. Wenn man daher versteht, wofür das antilegein in dieser Zeit stand, welche Bedeutung damit verbunden war, werden sich die darauf aufbauenden Lehrpraktiken besser erschließen. Die innere Logik der lebensweltlichen Antilogie sollte etwas darüber aussagen, was sich hinter Platons Etikett antilogikē verbirgt. Das Phänomen der Widerrede dürfte Konnotationen gehabt haben, welche wichtige Aufschlüsse über die Stoßrichtung der frühgriechischen Lehren des Logos liefern können, die mit Antilogien operierten. Die ersten drei Abschnitte dieses Kapitels werden die für die Antilogie prägende Form der Diskursivität so zu bestimmen suchen, dass die Anfänge philosophischer Diskursivität verständlicher werden. Sie 3

Kraus, »Antilogia«, 5.

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Die politische Antilogie: Herodot und Thukydides

geben eine Charakterisierung der Praxis der öffentlichen Rede und Gegenrede, wobei Szenen aus der Geschichtsschreibung die wichtigsten Materialien liefern. Die Absicht dabei kann freilich nicht in historischen Erkundungen bestehen, sondern nur darin, einen Eindruck von der Innenperspektive der vorplatonischen Diskurskultur zu gewinnen, wie sie besonders bei Thukydides zum Vorschein kommt. 4 Die Darstellung orientiert sich an drei Aspekten: Zuerst wird der pragmatische Rahmen der Antilogie umrissen (1); zweitens wird ein Konfliktverhältnis erörtert, das die Antilogie vielfach prägt: das Verhältnis zwischen politischer Macht und diskursiver Entscheidungsfindung (2); drittens geht es um die Argumentationsweisen, die die Antilogie kennzeichnen und in denen die Person des Redners in auffälliger Weise argumentatives Gewicht hat (3). Grundlegend für sie dürfte die schon angesprochene Vorstellung gewesen sein, dass in der Weise, wie jemand redet, sichtbar wird, wie jemand lebt und was für eine Person jemand ist (4). Auf dieser Basis wird verständlicher werden, was die Gelehrten der sophistischen Zeit im Sinn gehabt haben müssen, als sie auf die Form der Antilogie zurückgriffen (Kap. III).

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Die politische Antilogie: Herodot und Thukydides

Nimmt man an, dass sich Menschen immer schon gestritten haben, kann nicht überraschen, dass die Spuren der Praxis der Rede und Gegenrede bis zu Homer zurückreichen. Trotz der zuweilen recht rauen Umgangsweisen lassen die entsprechenden Szenen erkennen, dass das organisierte Gegeneinanderreden zum Zwecke der Beratung bereits in der archaischen Zeit sozial fest verankert ist. 5 In den Texten des 5. Jahrhunderts tritt die Diskursform der Antilogie dann als Institution deutlich hervor. Für die frühgriechische Redekultur ist sie Für die Untersuchung der Antilogie dürfte Thukydides die den Umständen entsprechend realistischsten Auskünfte liefern. Immerhin will dieser berichten, wie »ein jeder nach seiner Lage etwa sprechen musste […], in möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten« (Thu. I 22). Berücksichtigt wurden ferner Darstellungen aus der dramatischen Dichtung, die Züge der institutionalisierten Rede und Gegenrede erkennbar werden lassen, wie der Prozess des Orest bei Aischylos (Eum. 397–753) oder die Rededuelle bei Aristophanes (Neph. 961–1104; Batr. 830–1471). Der agōn logōn der Tragödien ist für die im engeren Sinn politische Antilogie weniger aussagekräftig. 5 Für Homer vgl. Il. I 101–305, II 207–270, IX 9–173, XVIII 497–508, XIX 54–276. 4

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prägend, auch wenn sie freilich nicht allein steht. Ihr gegenüber steht insbesondere eine Form der Wechselrede, bei der die Beteiligten unmittelbarer aufeinander reagieren, in einem Fragen und Antworten. Diese ›kurze Rede‹ wird schon früh von der Antilogie abgegrenzt, für die das monologische Sprechen, die ›lange Rede‹, charakteristisch ist. 6 Dennoch darf die mit langen Reden operierende Antilogie für die vorplatonische Redekultur zweifellos als paradigmatisch gelten. Legt man die vergleichsweise dichten Beschreibungen von Herodot und Thukydides zugrunde, kann die Diskursform der Antilogie im ersten Zugriff an den Aspekten festgemacht werden, die ihren äußeren pragmatischen Rahmen bilden: 7 Ihren gesellschaftlichen Ort hat sie in Arenen, die der politischen Beratung oder Entscheidungsfindung dienen. Die wichtigsten Fälle sind die Volksversammlung und der Gerichtsprozess – wobei zu bedenken ist, dass die Trennung zwischen politischer und juridischer Sphäre weniger trennscharf ist, als es moderne Vorstellungen von Gewaltenteilung nahelegen. Ein weiterer, schon aufgrund der Sujets der relevanten Literatur häufiger Fall ist der Kriegsrat. Zwar münden auch alltägliche Meinungsverschiedenheiten gelegentlich in Antilogien, wie der Streit der Athener mit den Tegeaten um den Ehrenplatz im Heereslager (Hdt. IX 26–28). Doch ihren Hauptort hat die Antilogie im öffentlichen Raum insbesondere der polis-Gemeinschaft, wo kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Der Anlass einer Volksversammlung ist jeweils ein dringlich gewordenes Problem. Es gibt eine ›Sache‹ zu klären – etwa eine politische Krise, einen Rechtsverstoß oder eine militärisch prekäre Lage. Diese Sache (pragma), um die sich die Debatte dreht, ist also nicht Die Differenzierung ist vor Gericht gängig, wo neben dem Plädoyer immer auch schon das Verhör eine Rolle spielte. Als in Aischylos’ Schilderung des Prozesses des Orest die Rachegöttinnen den Angeklagten ins Kreuzverhör nehmen, weisen sie einleitend darauf hin, dass sie »kurz« (syntomōs) reden werden und Orest »Wort für Wort« (epos pros epos) erwidern soll (Eum. 585 f.). Vgl. auch Aischylos, Hik. 272– 276 oder Thu. III 52 f. Die Grenzen zwischen den beiden Formen sind von Anfang an nicht trennscharf. 7 Um ein Verständnis des Sinns der Antilogie im späteren 5. Jahrhundert zu gewinnen, ist die Frage, wie der Ablauf von Debatten im Einzelnen geregelt war, von untergeordneter Bedeutung. Davon ließe sich ohnehin nur schwer ein einheitliches Bild zeichnen, wie Untersuchungen zum Rechtssystem zeigen: vgl. Gagarin, Early Greek Law oder Rubinstein, »Differentiated Rhetorical Strategies in the Athenian Courts«. Zu den verschiedenen Foren der griechischen Debattenkultur (ekklēsia, boulē, dikastēria) vgl. Ober, Mass and Elite in Democratic Athens, 132–148. 6

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von der Art eines allgemeinen Sachthemas, sondern eine problematische Situation, auf die reagiert werden muss. 8 Entsprechend hat die Antilogie stets die Form einer Krisis, eines Verfahrens der praktischen Entscheidung. Wenn die Sprecher ihre Haltungen nacheinander in längeren Monologen darlegen, die einander konträr, als Rede und Gegenrede, gegenüberstehen, dann geht es um die Frage, wie in der aktuellen Lage zu agieren ist. Dies ist auch dort so, wo auf den ersten Blick Sachfragen allgemeiner Natur erörtert werden: So ist die berühmte Debatte um die beste Staatsform bei Herodot (Hdt. III 80– 82) nicht durch gelehrte Neugier oder Interesse an politischer Philosophie motiviert. Diskutiert wird diese Frage vielmehr deswegen, weil das Reich neu geordnet werden muss. Schließlich ist für die Antilogie wesentlich, dass sie eine gewisse Öffentlichkeit hat. Sie findet vor einem Publikum statt. Charakteristischerweise ist es das Publikum, das nach dem Rededuell die Entscheidung trifft. Bei Herodot, der freilich aus alten Zeiten berichtet, ist es häufig noch der König, der die Entscheidung hat. 9 In Zeiten der entwickelten Antilogie sind es dann typischerweise das dēmos, eine Jury oder auch z. B. die versammelten Heeresführer. In einem Abstimmungsverfahren, das mehr oder weniger formell sein kann, wird ein Urteil gefällt, welche Rede überzeugender war. Da die Antilogie auf praktische Entscheidungen zielt, auf ein Urteil darüber, wie gehandelt werden soll, entspricht dies einem Urteil darüber, welcher Rede oder welchem Redner gefolgt werden soll. In einer Antilogie konkurrieren logoi um Handlungswirksamkeit. Obwohl die Antilogie ihrer äußeren Form nach schon in früheren Texten gut erkennbar ist, wird sie erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, im Kontext der attischen Demokratie, zum Hauptverfahren der politischen Entscheidungsfindung. Ein Blick auf die Texte der Geschichtsschreibung lässt dabei eine allmähliche Institutionalisierung erkennen: Bei Herodot nimmt das monologische, direkt wirksame Sprechen noch großen Raum ein. Szenen der öffentlichen Rede sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass von Autoritäten gesprochene Worte unmittelbar in Handlungen münden; das Dieser Punkt wird für das Verständnis des protagoreischen Gedankens, dass es »in jeder Sache (pragma) zwei einander entgegengesetzte logoi gibt« (DL IX 51), von Bedeutung sein: vgl. Kap. III 3–4. 9 Typisch für diese Konstellation ist Xerxes’ Herangehensweise, der die besten Perser zusammenruft, »um ihre Meinung zu hören und dann seinen Willen vor allen kundzutun« (Hdt. VII 8). 8

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›Hören‹ (akouein) ist hier oft ein unmittelbares ›Gehorchen‹. Typisch sind Formeln wie ›Als er dies hörte, da …‹ – worauf die auf das Gesagte folgenden Handlungen beschrieben werden. 10 Unter solchen Umständen muss die Ingangsetzung einer Antilogie, welche ja erst damit beginnt, dass eine Rede nicht wie ein Befehl akzeptiert, sondern eben gegengeredet wird, zunächst als Unterbrechung der gewöhnlichen Ordnung wahrgenommen werden. Wo es bei Herodot zu solcher ›Widerrede‹ kommt, ist diese nicht selten gefährlich: Wer Autoritäten in Frage stellt, hat Schlimmes zu befürchten. In der Phase ihrer Institutionalisierung muss die Antilogie noch als Institution verteidigt werden. In der Welt, die Thukydides beschreibt, hat das Verfahren dann besseren Rückhalt und klarere Konturen: Hier begegnet die Kultur der Rede und Gegenrede in ihrer Blütezeit. Es herrscht weitreichende Redefreiheit, man macht mit großer Selbstverständlichkeit Gebrauch von dem Verfahren, und es gibt relativ klare Vorstellungen vom geordneten Ablauf einer Antilogie. 11 Diese fortschreitende Institutionalisierung lässt sich gut daran festmachen, dass die Ausdrücke antilogia und antilegein zu Schlüsselwörtern aufsteigen, die sich spezifisch auf das geordnete Gegeneinanderreden beziehen: In der ersten Hälfte des vorplatonischen Jahrhunderts scheint für ihre Semantik noch die Widerrede gegenüber Autoritäten bestimmend gewesen zu sein, etwa vergleichbar mit dem deutschen ›Widerworte geben‹. In diesem Sinne bemerkt Hephaistos bei Aischylos, er habe Zeus »nichts zu widersprechen« (Prom. 51). 12 Bei Thukydides und Aristophanes bezieht sich antilegein dann jedoch geradezu terminologisch auf die soziale Institution der Antilogie. 13 Dies belegt, Vgl. z. B. Hdt. I 160, III 85 oder IV 157. Auch das ›Überredetwerden‹ (peithesthai) ist hier meist noch das unmittelbare Gehorchen, so etwa in Hdt. I 64 oder II 121δ. 11 Die isēgoria war etwa ab 462 v. Chr. garantiert: vgl. Ober, Mass and Elite in Democratic Athens, 78 f. 12 Ähnlich schreibt Herodot, dass er den »Göttersprüchen nicht widersprechen« kann (Hdt. VIII 77). 13 Bei Thukydides ruft die Semantik des antilegein das geregelte Entscheidungsverfahren im Politischen (Thu. VIII 53; V 45), in Rechtsprozessen (Thu. III 61) und in militärischen Beratungen auf (Thu. IV 3; VII 49). Gleich der erste Fall von Rede und Gegenrede zwischen den Kerkyrern und Korinthern lässt die sehr spezifische Bedeutung von antilogia deutlich werden: »Die Volksversammlung (ekklēsia) wurde eröffnet, und es kam zur Antilogie […]« (Thu. I 31). Die ›Gegenredner‹ (antilegontes) sind die politischen Opponenten in der Versammlung (Thu. VIII 53). Bei Aristophanes macht sich der terminologische Sinn geltend, wenn die Betrachter von Rededuellen es im Vorfeld einer Gegenrede verwenden, wie der Chor in den Fröschen 10

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dass es ab der Mitte des Jahrhunderts ein formales Bewusstsein der antilogischen Praxis gegeben hat. Man hat die These vertreten, dass sich darin der Hintergrund einer mehr methodisierten Diskurspraxis geltend macht, wie sie insbesondere mit Protagoras verbunden ist. Häufig wird dies von Thukydides gesagt, der entsprechend stark durch ›die Sophistik‹ beeinflusst sei. 14 Sofern damit gemeint ist, dass Thukydides auf dem kulturgeschichtlichen Boden seiner Zeit stand, ist diese Beobachtung ohne Zweifel zutreffend.

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Der Konflikt von politischer Macht und paränetischer Autorität

Es wurde häufig beobachtet, dass die Antilogie den Charakter eines agōn hat. Ihre äußere Form ist die eines Wettkampfs: Redner reden vor einem Publikum, das dann entscheidet, wer ›der bessere‹ war. Dies erinnert zunächst daran, dass die diskursive Auseinandersetzung oft an die Stelle eher handgreiflicher Formen des Konflikts tritt. Nicht selten finden Rededuelle in prekären Situationen statt, die in offenen Kampf umzuschlagen drohen. Aber auch die geordnete, zivilere Form der Antilogie kann kriegerische Untertöne haben, was sich etwa dort zeigt, wo militärische Metaphern verwendet werden. 15 Kennzeichnend für dieses Verständnis ist, dass die Rede, die am Ende den Vorzug erhält, als die ›siegreiche‹ verstanden wird. Setzt sich ein Logos in der Abstimmung durch, dann ist der Redner stärker gewesen und hat gewonnen (kratein, nikan). 16 Es wäre allerdings zu einfach, den Wettkampfcharakter der Antilogie so zu nehmen, dass es um ein schieres verbales Kräftemessen geht. Man darf sogar behaupten, dass das Gegenteil richtiger ist: Die Antilogie ist ein Versuch, das reine Spiel der Kräfte aufzuheben. Das zwischen der Rede des Euripides und der Gegenrede des Aischylos (Batr. 998) und Strepsiades in den Wolken zwischen der Rede des ›stärkeren logos‹ und der Gegenrede des ›schwächeren logos‹ (Neph. 888). 14 Vgl. exemplarisch Thomas, »Thucydides’ Intellectual Milieu and the Plague«. 15 Sehr typisch ist die Charakterisierung der Antilogie als ›Kampf der Worte‹ bei Herodot (ōthismos logōn, z. B. Hdt. VIII 78 oder IX 26). Für die Rachegöttinnen in Aischylos’ Eumeniden ist das Reden ein »Verschießen von Pfeilen« (Eum. 676). Bis heute liefert der Krieg eine Metaphorik für die Beschreibung von Argumentationsprozessen. 16 Für einige Beispiele vgl. Aischylos, Eum. 432; Hdt. I 40, VI 109; Thu. III 49.

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zeichnet sich ab, wenn man die Szenen der Antilogie daraufhin durchforstet, welche Argumentationsziele explizit genannt werden. Man stößt dann auf ein Spektrum, in dem das ›Gerechte‹, das ›Gute‹, das ›Bessere‹ oder ›Beste‹, das ›Vorteilhafte‹, ›Zuträgliche‹, ›Angenehme‹ oder das ›Glück‹ die Hauptrollen spielen. 17 Dabei scheint durch, dass im Laufe der Zeit eine immer größere Klarheit darüber erreicht wird, worauf sich Streitgespräche generell richten: So sind die Angaben zu den Argumentationszielen bei Thukydides im Vergleich zu Herodot wesentlich differenzierter. 18 Die generelle Stoßrichtung der Antilogie aber ist von Anfang an erkennbar: Sie besteht darin, die jeweils beste Entscheidung zu treffen oder, abstrakter gesagt, das in einer Situation praktisch Gute zu bestimmen. Es kommt früh zu Bewusstsein, dass dieser Wille zur reiflichen Überlegung im Konflikt steht zu Entscheidungsverfahren, bei denen die bloße Machtfülle den Ausschlag gibt. An Königen, die sich um guten Rat nicht scheren, herrscht kein Mangel; bei Herodot ist dies ein wiederkehrendes Motiv. Was der Alleinherrscher will, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was nach sorgfältiger Abwägung der Alternativen empfehlenswert ist – sei es, weil es rechtens, sittlich oder nur taktisch klug ist. Man erkennt den Konflikt schon daran, dass es dort, wo die politische Macht ungebrochen bleibt, oft gar nicht erst zu Rede und Gegenrede kommt. So gelingt es Mardonios in den Historien einfach deswegen, sich in einer Versammlung ›durchzusetzen‹ (kratein), weil er, wie es heißt, die ›Befehlsgewalt‹ hat (to kratos), so dass ihm niemand ›widerspricht‹ (antilegein, Hdt. IX 42). Wo die Größe der Machtfülle, die bloße Stärke, den Ton angibt, kann eine Antilogie gar nicht erst beginnen, weil es niemand wagt, Einwände zu erheben. Gleichzeitig bleibt die Spannung zwischen Machtfülle und Wohlbera17 Vgl. exemplarisch Aischylos, Eum. 573 (dikē), 612 (ei dikaion eite mē); Hdt. III 80 (hēdy, agathon), VII 10 (tēn ameinō gnōmēn), VIII 60β (chrēsta), III 48, IX 5 (ameinon); Thu. I 32, I 42, III 47 (xymphoron), I 43 (ta arista), III 42 (euboulia), III 44 (to chrēsimon), III 48 (ameinō, agathon), IV 17 (ōphelimon, eutychia), VI 9 (beltista). – Angesichts dieser Reihe wird auffällig, dass es keinen einzigen Fall gibt, in dem ›Wahrheit‹ (alētheia) als Ziel von Argumentation genannt wird. Deren Bedeutung liegt in etwas anderem: Die Beteiligten müssen ›wahr(haft)‹ sprechen, wenn ein Diskurs gelingen soll. Davon wird noch die Rede sein. 18 Diodotos etwa unterscheidet in seiner Rede gegen Kleon sehr präzise zwischen dem, was im vorliegenden Fall ›gerecht‹ (dikaion) ist und was ›zuträglich‹ (xymphoron) ist, und mahnt diese Differenzierung ausdrücklich an (Thu. III 44 und III 47). Vgl. auch z. B. Thu. I 69: »Denn nicht ob uns Unrecht geschah, müssen wir noch lange prüfen (skopein), sondern wie wir uns wehren […].«

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tenheit dort, wo Streitgespräche zustande kommen, gut sichtbar. Die antilogische Praxis stellt sich in diesem Licht als Versuch dar, das Wirken der reinen Macht durch die diskursive Entscheidungsfindung zu zähmen. Die entsprechenden Differenzierungen werden früh explizit, so etwa, wenn bei Aischylos unterschieden wird zwischen »dem Gerechten« (ta dikaia) und dem, was in der Verhandlung »siegt« (nikan, Eum. 432). Auf dem Spiel steht also, ob die bloße Durchsetzungskraft oder die nüchterne Überlegung handlungswirksam wird. Die innere Dynamik der Antilogie ist zutiefst geprägt von dieser Spannung; sie muss das vorplatonische Verständnis der Antilogie wesentlich mitbestimmt haben. Wie erwähnt, legt die vergleichende Betrachtung von Herodot und Thukydides die Vermutung nahe, dass sich die Antilogie im Laufe des 5. Jahrhunderts langsam als Verfahren der diskursiven Entscheidungsfindung etabliert und institutionalisiert hat. Unter historischen Gesichtspunkten ist dieser Befund mit Vorsicht zu genießen, da er in hohem Maße abhängig bleibt von der Innenperspektive der attischen Demokratie, aus der heraus die Geschichtsschreibung erfolgt. Unabhängig davon jedoch erlaubt dieser Vergleich Einblicke, auf welche Weisen das Spannungsverhältnis zwischen politischer Macht und Diskursivität die innere Logik der Antilogie mitbestimmt. Bei Herodot, bei dem die monologisch-befehlende Rede des Alleinherrschers noch den Ton angibt, ist das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Diskurs regelmäßig mit Händen zu greifen: Die Äußerung abweichender Meinungen, ohne die keine Antilogie zustande kommt, ist in der Regel hochgefährlich – auch dort, wo man sich auf den ersten Blick im geschützten Rahmen einer formellen Beratung bewegt. 19 Als sich der Lyder Kroisos z. B. einmal zur Widerrede gegen den König Kambyses entschließt, erinnert er lieber daran, dass er von dessen eigenem Vater beauftragt wurde, ihn nach bestem Gewissen zu beraten und zu ›ermahnen‹ (nouthetein, Hdt. III 36). Den König hält das allerdings nicht davon ab, seinen Leuten gleich anschließend die Hinrichtung zu befehlen. Nur mit knapper Not kommt Kroisos davon. Wo die Institution der Rede und Gegenrede Es ist kaum zu übersehen, dass das Thema eine große Nähe zu Foucaults parrhēsia aufweist, bei der es ebenfalls um das Wagnis eines ›speaking truth to power‹ geht: »Die parrhesia kommt gleichsam von ›unten‹ und ist nach ›oben‹ gerichtet.« (Diskurs und Wahrheit, 17) Auf das antilegein geht Foucault allerdings nicht ein.

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nur erst schwach etabliert ist, ist es ein Risiko, sie überhaupt in Gang zu setzen. Ein anderer Fall dieser Art ist Artabanos, der sich im Thronrat des Xerxes einmal auf eine Antilogie mit dem König einlässt. Bevor er seine Gegenrede beginnt, wird eigens darauf aufmerksam gemacht, dass er dessen Onkel ist. Allein aus diesem Grund fällt die Strafe vergleichsweise milde aus: Artabanos darf nicht mit in den Krieg ziehen, und nur der Schutz der Verwandtschaft bewahrt ihn, wie der König erklärt, vor Schlimmerem (Hdt. VII 10). Zu dieser frühen Form, die man die ›prekäre Antilogie‹ nennen könnte, gehört, dass die Erwägung von Alternativen im Rahmen von Diskursen als solche verteidigt werden muss. In der Versammlung muss daran erinnert werden, was überhaupt der Sinn von Widerreden ist. Immer wieder mal wird darauf hingewiesen, warum es generell klüger ist, überlegt zu handeln. »Der wohlberatenen Sache (tō de eu bouleuthenti prēgmati) folgt in der Regel ein gutes Ende« (teleutē chrēstē, Hdt. VII 157). 20 Ein ähnliches Plädoyer für den Sinn antilogischer Praktiken überhaupt ist die schon erwähnte Beratung am Hof des Xerxes: Hier gibt Artabanos, als er sich anschickt, seinem Herrscher zu widersprechen, vorsichtshalber die folgende Erklärung ab: König, werden einander entgegengesetzte Meinungen (gnōmeōn antieōn allēlēsi) nicht geäußert, kann man nicht die bessere (tēn ameinō) auswählen, sondern muss der vorgetragenen folgen. Werden sie aber geäußert, kann man wählen. Wir erkennen das reine Gold nicht an sich selbst; wenn wir es aber an anderem Gold reiben, erkennen wir das bessere (ton ameinō, Hdt. VII 10)

Die Funktion des antilegein muss hier eigens vor Augen geführt werden: Aus Sicht des Artabanos ist es eine Methode, bei der sich von zwei logoi der vorzugswürdige durchsetzt, so dass die ›bessere‹ Handlungsalternative erkennbar wird. Aber diese Praxis muss unter Gefahren gegen einen Machthaber durchgesetzt werden, der sich gegen Beratung sträubt, weil sie notwendig einer Widerrede gleicht, die seine politische Autorität zu schmälern scheint. Eine diskursive Bestimmung des jeweils Ratsamen ist nur möglich, wo das Wort des Mächtigen nicht mehr über jede Kritik erhaben ist. Die Voraussetzung der Vgl. Hdt. VIII 60γ – Hinweise zum Sinn der antilogischen Praxis überhaupt findet man auch in den Gerichtsszenen, wo eigens daran erinnert wird, dass es in einem Gerichtsprozess darum geht, beide Seiten zu hören; vgl. Aischylos, Eum. 428 oder Euripides, Hekabe, 1130 f.

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institutionalisierten Antilogie ist die Anerkennung der paränetischen Autorität des Beraters durch die politische Autorität des Herrschers. Typisch für die prekäre Antilogie ist, dass der Mächtige, Unbeherrschte oder Dreiste zuerst das Wort ergreift. Die anschließende Gegenrede ist dann charakteristischerweise die Stimme des Rangniederen, Besonnenen oder Gemäßigten. Für die prekäre Antilogie ist ein Machtgefälle konstitutiv. Eines ihrer Erkennungszeichen ist, dass ein Schwächerer einem Stärkeren widerspricht. Wie schon erwähnt, wird das Wort antilegein erst langsam zum Signalwort für die geordnete Antilogie: Anfangs hat es die Konnotation des aufmüpfigen Widerworts gegenüber Autoritäten. Und obwohl zunehmend ins Bewusstsein zu treten scheint, welche Vorteile der Austrag von Kontroversen und die Beratung über Handlungsalternativen hat, dürfte diese Konnotation noch lange mitgeklungen haben: Der Sinn der institutionalisierten Antilogie liegt wesentlich in der Zähmung rohen Machtwirkens durch sorgfältige Überlegung; und die Stimme der Widerrede ist typischerweise die Stimme des Rangniederen, aber Klügeren, gegenüber dem Ranghöheren, aber Unbesonnenen. Im Verständnis des antilegein schwingt mit, dass sie aus einer Position der Schwäche heraus erfolgt. 21 Bei Thukydides verschiebt sich die ganze Konstellation. Da das Verfahren der Rede und Gegenrede in der attischen Demokratie das bevorzugte Mittel der Entscheidungsfindung ist, muss die Widerrede innerhalb dieser Praxis kaum noch verteidigt werden. Das Rederecht wird jetzt mit großer Selbstverständlichkeit gewährt. Aber der Konflikt zwischen politischer Macht und diskursiver Vernunft setzt sich in anderer Form fort: Erstens steht die antilogische Praxis unter dem Beschuss der Gegner der Demokratie. Dabei ist das Dagegenreden, das antilegein, bei Thukydides geradezu das Erkennungszeichen der demokratischen Staatsform. Am deutlichsten zeigt sich dies dort, wo die Demokratie kollabiert. Im letzten Buch des Peleponnesischen Kriegs ist von den neuen Machthabern in Athen die Rede, bei denen es »keine Widerrede gibt« (anteipein estin ouden, Thu. VIII 74). Wer dennoch widerspricht, wird »auf irgendeine geschickte Art getötet« Eine schöne Stelle bei Sophokles illustriert das: Hier bemerkt der Seher Teiresias gegenüber Ödipus, dass dieser zwar der Herrscher sein mag, er selbst, Teiresias, aber immerhin die Macht habe, ihm zu widersprechen: »Wenn du auch herrschst, so weit muss Gleichheit gehen, dass ich Gleiches erwidre, denn dessen bin ich auch mächtig« (εἰ καὶ τυραννεῖς, ἐξισωτέον τὸ γοῦν / ἴσ᾽ ἀντιλέξαι: τοῦδε γὰρ κἀγὼ κρατῶ, Oid. R. 409).

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(Thu. VIII 66). So löst sich die Volksversammlung auf, »ohne dass jemand widerspricht« (oudenos anteipontos, Thu. VIII 69). In solchen Beschreibungen ist das Recht der Widerrede das Erkennungszeichen demokratischer Organisationsformen. Umgekehrt steht das antilegein aus Sicht der Autokraten für nichts anderes als die Dreistigkeit, Widerworte zu geben. Innerhalb der demokratischen Diskurse selbst findet sich eine zweite, abgemilderte Variante des Konflikts: die Spannung zwischen diskursivem Überdenken und politischer Tatkraft. Es gibt immer Skeptiker, die das vielen Reden nicht schätzen, weil es ein Zeichen der Schwäche und der Zögerlichkeit sei. 22 Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür ist die Rede des Kleon, der auf die Schattenseiten hinweisen will, die die demokratische Praxis umständlichen Hin- und Herüberlegens im Unterschied zum konsequenten Rechtspositivismus mit sich bringe (Thu. III 37–38). Eine allzusehr in schöne Reden verliebte Staatsführung sei gefährlich, so Kleon. Berühmt ist die Formel »Beschauer der Reden, Hörer der Taten« (theatai tōn logōn, akroatai tōn ergōn), welche eine falsche Prioritätensetzung moniert: Wer immer nur das Reden anstaunt und wirkliche Handlungen nur vom Hörensagen kennt, so der Vorwurf, wird handlungsunfähig. Dabei illustriert die Rede des Kleon eine Verwilderung der politischen Kultur, die Thukydides etwas später im dritten Buch (Thu. III 82) so beschreibt: »Wer schalt und eiferte, war immer glaubwürdig, wer widersprach (antilegein), verdächtig.« Die Rede des Diodotos, die auf Kleons Rede folgt und sich gegen sie richtet, ist demgegenüber ein Plädoyer für Diskursivität. Diodotos verweist auf die Vorteile der guten Überlegung, den Nutzen der sorgfältigen Beratung und umgekehrt auf die Gefahren der Diskursverachtung und unzureichenden Beratung (Thu. III 42). Die beiden größten Gefahren der ›Wohlberatenheit‹ (euboulia) seien ›Schnelligkeit‹ (tachos) und ›Leidenschaft‹ (orgē). Diodotos verteidigt hier sichtbar die Linie des Perikles, der in seiner Rede auf die Gefallenen über das Wesen der Athener sagt: »Wir sehen nicht in den Reden eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durchs Reden zu be-

Das Motiv prägt auch die Dramaturgie von Sophokles’ Elektra, die ein Spannungsverhältnis deutlich werden lässt zwischen einer »Rede, die vor allem diskursiv oder reflexiv ist, und einer Rede die explizit für die Tat plädiert oder gar an sich Handlungscharakter besitzt« (Gödde, Euphēmia, 177). Bemerkenswert ist dabei, dass die Nachdenklichkeit hier in der langen, die Tatkraft in der kurzen Rede beheimatet ist.

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lehren, bevor man tut, was nötig ist« (οὐ τοὺς λόγους τοῖς ἔργοις βλάβην ἡγούμενοι, ἀλλὰ μὴ προδιδαχθῆναι μᾶλλον λόγῳ πρότερον ἢ ἐπὶ ἃ δεῖ ἔργῳ ἐλθεῖν, Thu. II 40). Der Vorzug der Demokratie gegenüber Staatsformen, die keinen Platz für die diskursive Beratung bieten, liegt darin, dass sie kluge Abwägung an die Stelle bloßer Impulsivität setzt. Man darf resümieren: Die Antilogie steht für eine Diskursivität, die das Wirken reiner Machtfülle oder das impulsive, unüberlegte Handeln einhegen kann und typischerweise darauf zielt, das bloß Siegreiche durch Abwägung von Alternativen und reifliche Überlegung zu ersetzen. Das Spannungsverhältnis lässt sich als eines zwischen politischer Macht und paränetischer Autorität kennzeichnen. Dabei ist die Gegenrede zunächst die Einrede gegen den Ranghöheren und taucht in Kontexten auf, wo tendentiell beratungsresistenten Stärkeren widersprochen wird. Später wird es dann zum Signalwort für die geordnete Antilogie, welche ihrerseits ein Kennzeichen demokratischer Kultur ist. Für ein Verständnis der Antilogik, die vor dem Hintergrund dieser Redekultur ihre Gestalt annimmt, werden diese Aspekte zu berücksichtigen sein. Zunächst ist jedoch zu erörtern, welche Argumentationsformen in der Praxis der Rede und Gegenrede zum Zuge kommen. Im Unterschied zu späteren Formen der diskursiven Auseinandersetzung sticht dabei heraus, dass der redenden Person eine tragende Rolle zugestanden wird.

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Das argumentative Gewicht der Person

Die Beantwortung der Frage, wie in der vorplatonischen Zeit argumentiert wird, hat bis heute mit dem Gerücht zu tun, dass überhaupt erst Sokrates das Gründegeben erfunden habe. Demgegenüber ist hier von Anfang an zu betonen, dass schon die archaische und frühgriechische Zeit eine Fülle von Strategien des praktischen Überlegens und der Plausibilisierung kennt. 23 Menschen, so könnte man sagen, waren noch nie um Begründungen verlegen. Der vorherige Abschnitt hat außerdem gezeigt, dass die diskursive Entscheidungsfindung aus Sicht der Beteiligten selbstverständlich stets mit einem ernsthaften Das logon didonai ist auch dem Worte nach älter als die sokratische Dialektik: Herodot spricht davon, »den logos nüchtern zu geben und zu nehmen« (sōphronōs dounai te kai dexasthai logon, Hdt. IV 77).

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Interesse daran verbunden sein musste, was richtigerweise zu tun ist. Trotz ihrer agonalen Form ist die Antilogie von ihrem Sinn her ein Verfahren zur Bestimmung der besten Handlungsoption. Es ist ist also ohne Zweifel angemessen, von einer »vorplatonischen Argumentationskultur« 24 zu sprechen. Die Beteiligten können bereits auf ein weites Repertoire an Begründungsweisen zurückgreifen. Der Unterschied zu dem, was in alltäglichen Debatten heute üblich ist, dürfte nicht so sehr in der Vielfalt der verwendeten Argumentationsfiguren liegen, sondern eher in der generellen Argumentationsstrategie. Dabei liegt eine besonders auffällige Differenz darin, dass die Person gegenüber den uns heute vertrauten Diskursverfahren viel weiter im Zentrum des Überzeugungsprozesses steht. Dies zeigt sich zunächst schlicht daran, dass es in den vorplatonischen Antilogien ganz üblich ist, persönlich zu werden. Es gehört wie selbstverständlich dazu, an vergangene Verdienste zu erinnern, charakterliche Qualitäten und das eigene Ansehen ins Spiel zu bringen oder aber die Vertrauenswürdigkeit des Opponenten zu unterminieren, z. B. durch Erinnerung an vergangene Untaten, Unterstellung geheimer Absichten oder durch schlichte Diffamierung. Die Schilderungen der Geschichtsschreibung zeugen davon, wie gewöhnlich es in der frühgriechischen Redekultur gewesen sein muss, ad hominem zu argumentieren. Das ist auch dort so, wo scheinbar allgemeine Sachfragen diskutiert werden, wie etwa in der Debatte um die richtige Staatsverfassung bei Herodot: Wie die Kritik der Monarchie mit dem Verweis auf die Verdorbenheit und Maßlosigkeit von Tyrannen operiert (Hdt. III 80), so operiert die Kritik der Herrschaft der Vielen mit dem Verweis auf den »Frevelmut eines zügellosen Volks« (dēmou akolastou hybris, Hdt. III 81). Die Bestimmung des ›sachlich‹ Besten oder Klügsten setzt an Charaktertypen an. Auch wenn die vorplatonische Argumentationskultur eine Vielzahl sachbezogener Begründungsweisen kennt, spielen personbezogene Figuren doch eine zentrale Rolle, die moderne Argumentationskulturen so nicht mehr kennen. 25 Die Frage nach dem praktisch Guten oder Richtigen ist Diese Kennzeichnung wählt: Scholz, »Philosophieren vor Platon«, 19. Untersucht man die Argumentationsweisen bei Thukydides, so findet man neben den personbezogenen Formen häufig Klugheits- und Strategieerwägungen, etwa durch Verweis auf den ›Nutzen‹ oder die taktischen Vorteile der jeweils befürworteten Entscheidung (Thu. I 32, I 35–36, I 44, III 58–59, VI 10–12, VI 18). Solche Begründungen operieren regelmäßig mit verallgemeinerter Erfahrung oder Klugheitsregeln (Thu. I 42, I 75–76, I 78, III 45) und ziehen auf dieser Basis Rückschlüsse auf das in

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von der Frage nach dem vorzugswürdigen Ethos nicht scharf getrennt. Es wäre falsch, in dieser Eigentümlichkeit das Merkmal einer unreifen Form des Diskurses zu sehen, der es noch an Sachlichkeit fehlt. Die Berufung auf das Persönliche ist Teil der inneren Logik der Antilogie. Dies deutet sich etwa dort an, wo wir etwas darüber erfahren, wie eine Antilogie in ihrer geordneten Form ablaufen sollte: Als Orest in Aischylos’ Eumeniden seine Verteidigungsrede halten soll, fordert ihn Athene, die beim Prozess den Vorsitz führt, vorher auf, zuerst über seine ›Heimat‹ (chōros) und sein ›Geschlecht‹ (genos) Auskunft zu geben (Eum. 437 f.). Ein späteres Beispiel liefert das Duell zwischen den verstorbenen Tragödiendichtern Euripides und Aischylos in Aristophanes’ Fröschen: Hier beginnt Euripides seine Rede mit der Ankündigung: »Von mir selbst, von welcher Art (hoios) ich meiner Dichtung nach bin, werde ich zuletzt sprechen. Erst will ich den da [sc. Aischylos] überführen (elenchein), was für ein Prahler und Windbeutel er war und mit welchen Mitteln er seine Zuschauer täuschte […].« (Batr. 907–910) Für die Figur des Euripides scheint also festzustehen, dass es beim Gegeneinanderreden darum geht, die eigene Vorzüglichkeit herauszustellen und die Minderwertigkeit des Opponenten zu verdeutlichen. Die Variationsmöglichkeit liegt nur darin, in welcher Reihenfolge man dies tut. Warum beansprucht das personbezogene Sprechen so selbstverständlich einen zentralen Platz in der Antilogie? Zur Erklärung ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass es bei Antilogien immer darum geht, praktische Entscheidungen zu treffen, die häufig kollektive Verbindlichkeit haben. Im Prozess der Rede und Gegenrede konkurrieren zwei logoi um Handlungswirksamkeit bei den Zuhörern. Dabei tritt die Antilogie, wie gesehen, von ihrem Sinn her an die Stelle des bloßen Befehls, bei dem die Frage, wie gehandelt werden soll, durch politische Autorität entschieden wird, aufgrund der Machtstellung eines Herrschers. Nun kann dieses System kaum unvermittelt durch ein der gegebenen Lage Kluge (Thu. III 40, III 46–47); sie können aber auch die Form eines Arguments ad baculum annehmen, wenn die eigene Stärke ins Spiel gebracht wird (Thu. I 73–74, V 85–111). Zu den personbezogenen Formen gehören die Erinnerung an eigene Verdienste (Thu. I 32, I 40–41, I 73–74, III 53, VI 16), der Zweifel an der Lauterkeit (Thu. I 34, I 37–39, III 39) oder der Eignung (Thu. VI 12) des Opponenten sowie die Erinnerung an dessen vergangenen Missetaten (Thu. III 61–64), der Appell an die Ehrenhaftigkeit der Adressaten (Thu. III 58–59) oder die Hervorhebung der Konsistenz des eigenen Verhaltens (Thu. III 38 und 40).

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depersonalisiertes Verfahren ersetzt werden. Stattdessen könnte man die oben skizzierte Entwicklung von der autoritären zur diskursiven Entscheidungsfindung als allmählichen Übergang von der politischen Autorität des bloßen Herrschers zur paränetischen Autorität des guten Beraters verstehen. Eine Abstraktion von der redenden Person hat in dieser Phase, in der es um praktisches Überlegen geht und die sachlogisch verstandene Wahrheitsfrage bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, noch keinen Platz. Es gibt, anders gesagt, noch keine scharfe Trennung zwischen der Glaubwürdigkeit der Rede und der Vertrauenswürdigkeit des Redners. Einem Logos folgen bedeutet immer auch, einer Person zu folgen. Die Grundfrage der frühgriechischen Argumentationslogik lautet, so gesehen, weniger: ›Was ist (sachlogisch) wahr?‹, sondern eher: ›Wem ist zu trauen?‹ Die zugrunde liegende Erkenntnistheorie ist, wenn man so sagen will, eine soziale Erkenntnistheorie. Wollte man die Entwicklungsgeschichte dieses Übergangs von der politischen Autorität zur paränetischen Autorität im Einzelnen nachzeichnen, so hätte man mit den Szenen anzufangen, wo es die Sprecher unter Bedingungen unklaren Rederechts gar nicht erst schaffen, sich als Sprecher gegenüber der Macht zu behaupten, wie z. B. Thersites in der Ilias, der in der Versammlung gegen Agamemnon spricht und dafür von Odysseus zurechtgewiesen und mit dem skēptron gezüchtigt wird (Il. II 212–277). 26 Von dort könnte man übergehen zu den bei Herodot beschriebenen Fällen, wo die Widerrede gegen die politische Autorität durch Erklärungen zur eigenen Person gerechtfertigt werden muss, damit der Sprecher ungeschoren bleibt. Typisch ist Sandanis, der seine Gegenrede vor dem König Kroisos mit dem Hinweis auf das eigene Ansehen und die eigene Weisheit beginnt (Hdt. I 71), oder Artemesia, die auf ihr vorbildliches Verhalten in Kriegszeiten verweist (Hdt. VIII 68). Eine solche Geschichte des Übergangs von der politischen zur paränetischen Autorität würde schließlich zu Szenen führen, in denen der Sprecher zwar nicht mehr sein Rederecht überhaupt verteidigen, aber doch durch personbezogene Argumente darlegen muss, warum er vertrauenswürdig ist und Die Widerworte des Thersites, der eigentlich kein Rederecht genießt, werden beschrieben als ein »Streiten mit Königen, mit schändlichen Worten« (neikeiein basilēas oneideiois epéessin, Il. II 277). Demgegenüber zeigt der Fall Diomedes, wie das Rederecht durch Heldentaten im Krieg verdient werden kann – auch wenn das Wort des Nestor aufgrund von Alter und Erfahrung ausschlaggebend bleibt (Il. IX 33–62). Vgl. dazu Saxonhouse, Free Speech and Democracy in Ancient Athens, 1–3.

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seine Worte Gewicht haben sollen. Für diese Entwicklungsstufe liefert Thukydides, wie schon sichtbar wurde, viele Beispiele. Es scheint mir von enormer Bedeutung zu sein, dass der monologische Aspekt der Antilogie eng mit diesem argumentativen Gewicht der Person verknüpft ist. Die ›lange‹ Rede, die schon vor Sokrates von der ›kurzen‹ Rede unterschieden wird, ist der angemessene Ort der personbezogenen Rechtfertigung: Sie liefert den nötigen Raum für die Selbstdarstellungen, durch die sich jemand überhaupt als Sprecher profilieren kann, auf dessen Wort gehört werden sollte. Dieser Aspekt des Sich-selbst-Erklärens geht verloren, wenn man die Funktion der langen Rede einzig in der Zurschaustellung rhetorischer Brillanz sieht, wie es in der platonischen Akademie geschah. Das enge Verhältnis zwischen dem monologischen Charakter der Antilogie und dem argumentativen Gewicht der Person kann man vielleicht am besten dort sehen, wo das Recht der langen Rede entzogen wird, wie etwa beim Strafgericht gegen die Plataiar im dritten Buch des Peleponnesischen Kriegs: Als die Spartaner die Stadt Plataia nach langer Belagerung in die Knie zwingen, lassen sie die Plataier einem Gerichtsverfahren zustimmen, bei dem, wie sie versichern, »niemand gegen das Recht« (para dikēn, Thu. III 52) bestraft werden soll. Als das Strafgericht beginnt, werden die Plataier jedoch nur mit einer einzigen Frage konfrontiert, nämlich, »ob sie den Spartanern und ihren Mitstreitern während des gegenwärtigen Kriegs irgendetwas Gutes (agathon ti) getan hätten.« Auf diese Frage wollen sich die Plataier, die sich während des Krieges neutral verhalten haben, nicht direkt einlassen. Sie bitten um Erlaubnis »länger zu reden« (makrotera eipein). Als diese erteilt wird, beklagt ihr Wortführer zunächst die Form des Verfahrens, die nicht mit einer ordentlichen Anklagerede beginnt, der es zu widersprechen gilt (hē chrē anteipein, Thu. III 53), so dass sie erst eigens um Erlaubnis zur Gegenrede bitten müssen. Er beschwert sich also, dass die vor Gericht geltenden Regeln der Antilogie außer Kraft gesetzt sind, was berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Verfahrens aufkommen lässt: Die Plataier sehen sich mit einer Frage konfrontiert, die so formuliert ist, dass die wahrheitsgemäße Beantwortung offenbar eine Verurteilung nach sich zieht. Trotz dieser bedrohlichen Ausgangslage versucht der plataische Wortführer, die Spartaner »an gute Taten« (tōn eu dedramenōn) zu erinnern, die etwas länger zurückliegen, und sie so »umzustimmen« (peithein, Thu. III 54). Der Versuch bleibt freilich erfolglos: Nachdem die Verteidigungsrede und eine Gegenrede der Thebaner zum Ab73 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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schluss gekommen sind, müssen die Plataier die anfangs gestellte Frage der Reihe nach beantworten und werden jeweils unverzüglich hingerichtet (Thu. III 68). 27 Ein weiteres Beispiel für diese ungemütliche Seite der kurzen Rede ist der berühmte Melier-Dialog, den die Athener mit dem Vorschlag einleiten, dass die Melier »Punkt für Punkt« (kath’ hekaston) und nicht »in einer einzigen Rede« (heni logō) antworten mögen (Thu. V 85). Dass sie dabei die Athener sofort unterbrechen sollen, sobald ihnen etwas unrichtig erscheint, kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass sie auf eine Weise angesprochen werden, wie man eigentlich Angeklagte vor Gericht anspricht. Die kurze Rede, das Kreuzverhör, tritt wiederum als Diskursform in Erscheinung, die sich der Stärkere zunutze macht, um seine Überlegenheit auszuspielen. Die Melier bemerken denn auch, dass gegen den Vorschlag, sich »gegenseitig in Ruhe zu belehren« (didaskein kath’ hēsychian allēlous), nichts einzuwenden wäre, wenn sich die Athener nicht schon gleich die Rolle des »Richters« zu eigen machen würden (kritēs, Thu. V 86). Hinter ›dialektischen‹ Gesprächsangeboten können übelste Kriegsabsichten stehen. Die lange Rede, so darf man resümieren, ist der Ort, wo eine Person sich erklärt, wo ein Sprecher sich als vertrauenswürdige Person profilieren darf. In einer Diskurspraxis, in der die Person argumentatives Gewicht hat, ist diese Eigentümlichkeit ein Teil der Argumentationsweise selbst. Die zentrale Stellung des Sich-selbst-Erklärens dürfte auch maßgeblich dafür sein, dass es im antiken Griechenland durchaus üblich war, sich auch unter Bedingungen schlimmster Todesfeindschaft doch immerhin gegenseitig das Rederecht einzuräumen. Wie fest verankert diese Sitte war, wird augenfällig, wo jemand seinen Standpunkt ausführlich darstellen darf, obwohl die Scharfrichter schon bereit stehen: In einer solchen Situation erteilt Menelaos der Helena in Euripides’ Die Troerinnen die Erlaubnis, eine längere Rede zu halten, bevor sie zur Hinrichtung verschifft wird: Helena: Darf ich darauf denn mit einer Rede entgegnen (ameipsasthai logō), dass ich, wenn ich sterbe, ungerecht (ou dikaiōs) sterbe? Menelaos: Nicht für Worte (es logous) bin ich gekommen, sondern um dich zu töten.

Für eine detaillierte Analyse der Episode vgl. Debnar, Speaking the Same Language, 125–146.

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Hekabe: Hör sie an, damit es ihr daran beim Sterben nicht fehlt (mē thanē toud’ endeēs), Menelaos […]. (Tro. 903–907)

Selbst Todgeweihte dürfen erst noch ausreden. Diese erstaunliche Gepflogenheit hat auch Eingang in die Gerichte gefunden: Sokrates, der in Platons Apologie noch einen ausführlichen Monolog halten darf, nachdem er zum Tode verurteilt ist, ist das bekannteste Beispiel dafür. Um den Sinn dieser nüchtern betrachtet merkwürdigen Institution zu erklären, könnte man den gorgianischen Palamedes heranziehen, der sich über den Ausgang seines Prozesses ebenfalls kaum Illusionen gemacht haben dürfte: Palamedes hält sein Plädoyer in der Überzeugung, dass über die Fragen von Leben und Tod nicht Menschen, sondern Götter entscheiden; deswegen geht es in seiner Apologie um »Unehre und Ehre« (atimia kai timē, Pal. 1). Auch hier soll sich in der langen Rede vor allem zeigen, was von jemandem zu halten ist. Dieses Telos bestimmt die innere Logik der Praxis der Rede und Gegenrede. Noch deutlicher wird dies, wenn man eine weitere Denkfigur ins Spiel bringt, die für das Thema der ›Redepraxis als Lebenspraxis‹ entscheidend ist: die innere Einheit von Worten und Taten, von legein und prattein.

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Worte und Taten

Dass die Person in der vorplatonischen Diskurspraxis so großes argumentatives Gewicht hat, macht auf einen Aspekt von allgemeinerer Bedeutung aufmerksam. Es lohnt sich daher, an dieser Stelle etwas weiter in die Tiefe zu gehen: Dass es aus frühgriechischer Sicht naheliegend war, die Vertrauenswürdigkeit der Rede direkt von der Person des Sprechers abhängig zu machen, wird verständlicher, wenn man das zugrunde liegende Verhältnis von Reden und Handeln näher betrachtet. Es ist gut bekannt, dass diese beiden Phänomene im griechischen Denken eng miteinander verbunden sind und aufeinander verweisen. Aber wie wirkt sich dies eigentlich auf die innere Form der Argumentation aus, die sich unter diesen Voraussetzungen entwickelt? Wo Sprachvollzüge nicht nur oder nicht primär als Äußerungen von Gehalten, sondern als das Handeln einer Person aufgefasst werden, dort hat dies Konsequenzen für die Logik des Diskurses. Das Verhältnis von Reden und Handeln hat unterschiedliche Varianten, die auf den ersten Blick von fester Verschmolzenheit bis zum starken Kontrast reichen. Ins Auge fällt aber, dass sprachliches und 75 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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nichtsprachliches Tun als ein zusammenhängender Komplex auftreten. Davon zeugen umzählige Stellen, an denen legein und prattein in einem Atemzug genannt werden. Dass diese Denkfigur bis zu Homer zurückreicht, hatte der einleitend zitierte Ausdruck »Täter von Taten und Redner von Worten« aus der Ilias (Il. IX 443) bereits gezeigt. Dabei begegnet seit archaischer Zeit das Wortpaar ergon und epos, 28 später bürgern sich legein und prattein sowie logos und ergon ein. Es überrascht nicht, dass diese Motive in der vorplatonischen Aufklärung gut bekannt sind. Auch der klassischen Periode sind sie noch bestens vertraut. Man braucht sich daher nicht lange mit der Frage aufzuhalten, ob Reden aus griechischer Sicht ein Handeln war. Die Frage kann nur sein, wie das Wechselverhältnis von Reden und Handeln genau verstanden wurde. Dass das enge Wechselverhältnis von Reden und Handeln in vielen Textzeugnissen des griechischen Geisteslebens in Erscheinung tritt, deutet darauf hin, dass das Motiv fest zum Alltagsverständnis gehörte. Der Praxischarakter der Rede musste nicht erst durch ›rhetorische‹ Redelehren entdeckt werden. Wenn die Gelehrten aus Geschichtsschreibung, Medizin, Sophistik oder Philosophie entsprechende Motive aufnehmen, so bauen sie auf eine breite kulturelle Basis auf, die auch etwa in der Lyrik und der Tragödiendichtung erkennbar wird. In all diesen Feldern hat der Gedanke, dass sich praktische Geschehnisse aus Taten und Reden zusammensetzen und dass jedes Reden in ein größeres Ganzes von Lebensvollzügen eingebettet ist, seine charakteristischen Spuren hinterlassen. Häufig zeigt sich dies schlicht an der Selbstverständlichkeit, mit der Worte und Werke gemeinsam auftreten und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. 29 Vgl. Homer, Il. XV 234 (phrasomai ergon te epos te), Od. II 272, II 304, XI 346 sowie Hesiod, Erg. 709 (epos epōn […] kai erxas) oder Aischylos, Die Perser, 173 f. (phrasai mēt’ epos mēt’ ergon). 29 Für Fälle aus der Dichtung, bei denen das Reden (legein, mythos, epos) wie selbstverständlich neben das Handeln (prattein, dran, erdein, ergon) tritt, vgl. etwa Aischylos, Ag. 1649; Prom. 1080; Hik. 515; Pindar, Pyth. IV 104 f.; Sophokles, Oid. R. 517, Ai. 813 f. oder Elek. 1360 sowie Aristophanes, Frauen in der Volksversammlung, 578. Verwandt ist die Kombination ›Rat und Tat‹ (boulē, ergon) z. B. bei Pindar, Pyth. III 30 sowie das Wortpaar ›Zunge und Hand‹ etwa bei Sophokles, Philok. 99. Für Fälle aus der Geschichtsschreibung vgl. exemplarisch Hdt. III 72, V 24, VIII 107 und Thu. II 35, II 40, IV 87. Auch bei den Vorsokratikern begegnet das Motiv: Heraklit soll z. B. gemahnt haben, man dürfe nicht »Handeln und Reden (poiein kai legein) wie Schlafende« (DK 22 B73), und Demokrit zufolge besteht die Klugheit darin, »richtig zu denken (eu logizesthai), gut zu reden (eu legein) und zu tun, was nötig ist« (prattein ha dei, 28

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Worte und Taten

In vielen Fällen wird dabei deutlich, dass sprachliche Vollzüge als gleichberechtiges Element in einem praktischen Wirken gedacht werden: Sehr reich an Anschauungsmaterial für diese Handlungsmacht der Rede ist z. B. das Werk von Thukydides, bei dem die Dinge immer auch »durch Reden vollbracht« werden können (logois … prassein, Thu. IV 17.2). Gut sichtbar ist außerdem immer wieder, dass nicht erst zwei seperate Weisen wirksamen Tuns zusammenkommen müssen. »Die Taten« (ta erga), so sagt Sophokles’ Elektra, »finden ihre Worte« (tous logous heurisketai, Elek. 625). Reden und Handeln sind notwendig miteinander verflochten: Wie sich sprachliches Tun nie auf kognitive Leistungen beschränkt, so ist nichtsprachliches Tun nie stumm. 30 Wenn man bei Aristophanes »handelnd« und »mit der Zunge kämpft« (prattōn […] kai tē glōttē polemizōn, Neph. 419), dann stehen beide Praxistypen nicht nur auf einer Stufe, sondern wirken zusammen und bilden gemeinsam eine Handlungsmacht. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn bei Aischylos in Erfahrung gebracht werden soll, was »handelnd oder redend zu tun« ist (ti chrē drōnt’ ē legonta […] prassein, Prom. 659 f.). Menschliche Praxis ist ein zusammenhängendes Ganzes aus Werken und Worten. Nun heißt dies natürlich nicht, dass sprachliches und nichtsprachliches Tun völlig ineinander aufgehen. Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Vollzugsformen liegt in ihren spezifischen Weisen der Offenbarmachung: Es gibt manches, schreibt Herodot, was man nicht »durch die Rede« (logō), sondern nur »durch die Tat« (ergō) »kundgeben« kann (dēlōsai, Hdt. III 72). Daran mag auch der Autor der hippokratischen Schrift De arte denken, wenn er bemerkt, dass die Kundigen den Nutzen der Heilkunst lieber durch Handlungen als durch Worte »aufzeigen« (epideiknyousin), weil die Unkundigen eher dem vertrauen, was sie »sehen«, als dem, was sie »hören« (Art. XIV 1). Werk und Wort lassen etwas erkennbar werden, aber dies auf je eigene Art: Was das Werk vor Augen führt, bringt das Wort zu Gehör. 31 Daraus versteht sich schon, dass beides stets auseinanderklaffen kann. Wenn das Handeln und das Reden etwas auf je unterschiedliche Weise enthüllen, kann es immer zu UngereimtDK 68 B2). Für Beispiele aus der klassischen Zeit vgl. Xenophon, Mem. I 2.15 oder Aristoteles, NE 1124b und 1127af. 30 Ein schönes Bild für diese Verflochtenheit liefert Demokrit, der gesagt haben soll, der logos sei ein »Schatten der Tat« (ergou skiē, DK 68 B145). 31 Vgl. auch Sophokles, Ai. 1000 f., wo das Gesehene stärker wirkt als das, wovon man nur hört.

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heiten kommen. So verhält es sich bei Thukydides, wo sich vergangene Handlungsabläufe äußerst schwer rekonstruieren lassen, weil sie nur noch in unzuverlässigen Erzählungen gegenwärtig sind (Thu. I 20–22). 32 Was geredet wird, kann sich wie ein Nebel über das wirkliche Handeln legen. Bei Euripides spricht Admetos einmal verächtlich über diejenigen, die ihm »nur dem Wort nach« (logō), aber »nicht der Tat nach« (ouk ergō) Freunde waren (Alkest. 339); und von so einer Freundschaft ist natürlich nicht viel zu halten. Erst wo das, was im Reden angezeigt wird, auch im Handeln erkennbar wird – wo sich das Gehörte mit dem Gesehenen deckt –, steht man auf verlässlichem Boden. Dies setzt voraus, dass Worte täuschen können. Wie schon deutlich wurde, war gerade den Griechen bestens bewusst, dass die Macht der Rede diese Gefahr in sich birgt. Zu beachten ist allerdings der erstaunliche Umstand, dass das Motiv der Verflechtung von Worten und Werken auch in diesem Zusammenhang leitend bleibt: Wenn Kleon bei Thukydides (Thu. III 38) eindrücklich vor der Verführungskraft schöner Worte warnt, dann hat er dabei im Sinn, dass man die nichtsprachlichen Handlungen nie außer Acht lassen sollte. Es ist ein Fehler, zum »Zuschauer der Reden« (theatai tōn logōn) und »Hörer der Taten« (akroatai tōn ergōn) zu werden, weil dies den spezifischen Zuverlässigkeiten der beiden Praxisformen nicht gerecht wird. 33 Die Gefahr kraftvoller Reden liegt darin, dass man sie mit dem nichtsprachlichen Geschehen verwechselt: dass man das Gehörte für das ganze Tun nimmt und gar nicht mehr Ausschau hält nach den sichtbaren Taten. So ist noch das Auseinandertreten von Reden und Handeln vor dem Hintergrund ihrer Zusammengehörigkeit zu sehen. Es ist deswegen problematisch, einseitig ihre Opposition zu betonen. 34 Es sind nicht irgendwelche Gegebenheiten, sondern im Regelfall praktische Geschehnisse und Haltungen, die durch Worte verhüllt werden; und das ist kein Zufall. Daran verrät sich die allgemeinere Vorstellung, dass in den Phänomenen des Redens und Handelns die Betreibungen von Personen manifest werden. Sie sollten eigentlich Zum Verhältnis von logos und ergon bei Thukydides vgl. Ober, Political Dissent in Democratic Athens, 56–61. 33 Zu dieser Thukydides-Stelle vgl. auch Baltzer, »Beschauer der Reden – Hörer der Taten«. Der Rat, lieber auf Handlungen statt auf Reden zu achten, begegnet auch noch bei Gorgias (Pal. 34). 34 Susanne Gödde zeigt dies am Beispiel des komplizierten Wechselverhältnisses von logos und ergon in Sophokles’ Elektra: vgl. dies., Euphēmia, 177–201. 32

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Worte und Taten

ein einheitliches Bild abgeben, weil jemand idealerweise so handelt, wie er redet. Dass das logos/ergon-Motiv dort beheimatet ist, wo es um die Charakterisierung von Personen geht, ist für das vorliegende Thema von zentraler Bedeutung. Dass sprachliches und nichtsprachliches Verhalten als zusammenhängendes Phänomen auf den Plan tritt, liegt daran, dass beides gemeinsam ein Verhaltensmuster bildet. Was an den jeweiligen Werken und Worten auf je spezifische Weise erkennbar wird, ist also primär der Charakter eines Akteurs. Dies bezeugt eine große Zahl von Personendarstellungen, die die Rede- und Handlungsweisen eines Menschen als charakterisierende Merkmale anführen. Im Reden und Handeln objektiviert sich das Ethos einer Person. Deshalb dürften an der zitierten Stelle aus De arte, an der erklärt wird, dass der Kundige dem Unkundigen den Nutzen der Heilkunst lieber durch Handlungen als durch Reden aufzeigt (Art. XIV 1), vor allem zwei Weisen gemeint sein, Vertrauen zu schaffen: Es ist nicht das Wesen der Medizin, das sich für den Laien, also den potentiellen Patienten, am besten im Handeln zeigt, sondern die Person des Arztes. Dabei schwingt mit, dass hier auch die logoi nicht so sehr als sachliche Erklärungen, sondern primär als Redeverhalten thematisch sind, in dem sich eine Charakterstruktur abzeichnet. 35 Es ist die Offenbarmachung einer Persönlichkeitsstruktur, die den Erkenntniswert von Handlungen ausmacht, und nach diesem Muster ist auch Gesprochenes zu beurteilen. Dies macht gleichzeitig verständlicher, warum Worte und Reden in der griechischen Literatur so häufig durch Personenprädikate qualifiziert werden. Eine Rede kann – um einige Beispiele aus Sophokles zu nennen – ›liebevoll‹, ›ehrwürdig‹, ›frei‹ und ›edel‹, aber auch ›schlecht‹, ›nutzlos‹, ›voller Einfalt‹, ›unvernünftig‹, ›schändlich‹ oder ›stumpf und alt‹ sein. 36 Das Adverbiale ist dabei stets gegenwärtig, das Gesprochene wird als Sprechweise aufgefasst. Das Reden steht im Spielraum des Guten und Schlechten, als sprachliches Verhalten unterliegt es ethischer Bewertung. Obwohl diese Sicht der Dinge der Gegenwart natürlich nicht Dabei muss man natürlich besonders von Quacksalbern annehmen, dass sie in hohem Maße von dieser sprachlichen Form der Selbstdarstellung Gebrauch machen. 36 Vgl. Sophokles, Elek. 672 (prosphilēs); Ai. 1107 (semnos); Die Trachinierinnen, 63 (eleutheros); Philok. 1402 (gennaios) sowie Ant. 277 (kakos); Ai. 1162 (phlauros); Ai. 745 (mōrias plea); Ai. 1272 (anoētos); Ai. 1320 (aischros), Oid. R. 290 (kōphos, palaios). Man könnte in diesem Zusammenhang geradezu von einer Personhaftigkeit des Logos sprechen. 35

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Rede und Gegenrede: Der Aufstieg des Diskursiven

ganz fremd ist, scheint sie in der vorplatonischen Zeit doch viel weiter im Vordergrund zu stehen. Anstatt den Sachbezug der Rede zu betonen, bleibt im griechischen Verständnis stets vorausgesetzt, dass jedes Sprechen die charakterlichen Eigenschaften einer Person gegenwärtig werden lässt. Wo Rede- und Handlungsweisen gemeinsam eine Persönlichkeitsstruktur charakterisieren, dient ihr Verhältnis regelmäßig als Hauptanhaltspunkt. Dies fällt natürlich besonders dort ins Auge, wo die kläglichen Handlungen hinter den großen Reden zurückbleiben, oder auch dort, wo hinter vermeintlich zugewandten Tönen feindliche Absichten stecken. Demokrit wird das Grundproblem später wie folgt zum Ausdruck bringen, dass sich gerade jene, die »die schändlichsten Dinge tun« (drōntes ta aischista), nicht selten »in hervorragendsten Reden üben« (logous aristous askeousin, DK 68 B53a). Die Möglichkeit der Täuschung durch Reden ist in diesem Licht zu sehen; auch in diesem Kontext bleibt das Wechselverhältnis von Reden und Handeln oft leitend. Es wäre sicher nicht ganz falsch zu sagen: Der Standardfall der Irreführung ist im frühgriechischen Denken nicht die Verzerrung von Tatsachen, sondern die Verstellung der Person. Wie das Reden in erster Linie als ein persönliches Verhalten begriffen wird und nicht primär als Repräsentation von Fakten, so tritt die Möglichkeit der Hinwegtäuschung über die wahre Gesinnung früher ins Bewusstsein als die Verfälschung von Fakten. So nimmt der Chor in Euripides’ Die Troerinnen Anstoß daran, dass Helena »schön« (kalōs) reden kann, obwohl sie doch nach herrschender Meinung »böse« (kakourgos) sei; dies sei »ungeheuerlich« (deinon, Tro. 967 f.). Der Praxischarakter des Logos ist so präsent, dass sein Wahr- oder Falschsein zuerst daran festgemacht wird, ob er die Haltungen, denen er entspringt, offen sichtbar werden lässt oder nicht. Es ist leicht einzusehen, dass sich vor diesem Hintergrund ein Kriterium davon ergibt, wie das Reden und Handeln einer Person beschaffen sein sollte: Während man sittliche Bedenken anmelden muss, wo Wort und Tat auseinanderfallen, steht es um das Ethos einer Person besser, wenn es sich als Einheit von Reden und Handeln präsentiert. Wer im Reden schnell ist, sollte es auch im Handeln sein; wer mutig handelt, ist am besten auch mit Worten mutig. 37 Diese Forderung war so fest verankert in den Sittlichkeitsvorstellungen Zum ersten Fall vgl. Sophokles, Ai. 813 f., zum zweiten Oid. R. 296: »Wem vorm Handeln (drōnti) nicht bang ist, fürchtet auch das Wort (epos) nicht.« Thrasymachos

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Worte und Taten

ihrer Zeit, dass sich kein Redelehrer ihr ohne weiteres hätte entziehen können. Es spricht einiges dafür, dass die Vorstellung der Harmonie von Reden und Tun, eines konsistenten Ganzen von Reden und Leben für die innere Logik der frühgriechischen Diskurse von entscheidender Bedeutung war. Bei Sokrates schließlich wird sie weit ins Zentrum rücken: Die sokratische Prüfung wird, wie sich später zeigen wird, verständlicher, wenn man sie ins Licht der Idee einer in sich stimmigen redend-handelnden Lebensweise stellt.

kritisiert, dass einige Redner »das Gegenteil sagen«, aber »dasselbe tun« (enantia legein … ta auta prattontes, DK 85 B1 [15]).

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III Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

Die gesellschaftliche Praxis des Gegeneinanderredens in der attischen Demokratie, so wurde im vorherigen Kapitel deutlich, zielte von ihrem Sinn her auf überlegte Entscheidungen. Die ersten Lehrpraktiken zum Gebrauch von logoi, die sich in diesem Umfeld entwickelten, dürften an diese Intention angeknüpft haben. Bemerkenswert ist dabei bereits der Gedanke des Diskursiven selbst: die Idee, dass man durch Hin- und Herreden zu besseren Entscheidungen kommt. Während aus moderner Sicht vielleicht der Umstand ins Auge fällt, dass die Grenzen zwischen ›Überreden‹ und ›Überzeugen‹ noch unscharf bleiben, war die Perspektive der vorplatonischen Gelehrten durch den basaleren Widerstreit von Zwang und Plausibilisierung bestimmt, von bia und peithō. 1 Wenn sie in dieser Situation versuchten, die gegebene Praxis der Rede und Gegenrede weiter zu verfeinern, dann ist ihre Absicht darin zu sehen, den Sieg des wirklich vorzugswürdigen gegenüber dem nur autoritären oder ›starken‹ logos sicherzustellen. Welche Unzulänglichkeiten ihre jeweiligen Lösungen auch gehabt haben mögen – hätten sie sich dieser Zielsetzung offen verweigert, hätten sie als Lehrer der Rede kaum nachhaltige Anerkennung gefunden. Selbst wenn man gelten lässt, dass die vorplatonische Welt von vielen Scharlatanen bevölkert war: Die ›berühmten‹ Sophisten wie Protagoras, Prodikos oder Gorgias müssen sich von diesen deutlich abgehoben haben. Was also waren die ersten Lehrpraktiken der Rede? Dass Platon sie zusammenfassend als antilogikē kennzeichnet, sollte nicht dazu verleiten, ein einheitliches Unterrichtsprogramm anzunehmen. Wie man unter Sophistik am besten eine in sich heterogene kulturelle Erscheinung versteht, so sollte man die sophistische Lehrpraxis wohl am besten als Bündel von Versuchen verstehen, die Diskurspraxis der Zeit zu verfeinern. Das Gemeinsame dieser Versuche läge dann nicht in einer Argumentationskunst, die bestimmten Regeln folgt, sondern 1

Zu diesem Widerstreit vgl. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, 58–63.

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

mehr in der Stoßrichtung, die sie teilen: Sie sind Versuche, das Handeln diskursiv zu regulieren. Rachel Barney ist Recht zu geben, wenn sie die Einheit der Sophistik als »dialectical unity« beschreibt, als »unity of a debate or tradition, with both the commonality and the diversity, indeed conflict, it implies«. 2 Unterstrichen ist damit freilich aber noch einmal, dass es wenig aussichtsreich ist, die sophistischen Redelehrer von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit abtrennen zu wollen. Dieses Kapitel wird eine Strömung der beginnenden diskursiven Bildungspraxis im Umfeld der sophistischen Debattenkultur herausheben, die sich vor allem mit Protagoras verbindet: das Programm einer Kultivierung der Rede und Gegenrede. Im Ausgang von der Frage der antilogikē (1) und in Auseinandersetzung mit der Methodendiskussion in der hippokratischen Medizin der Zeit (2) wird zunächst erörtert, was die Option der Kultivierung generell auszeichnet, besonders im Kontext der Frage der technē. Im Anschluss daran wird die Lehre des Protagoras, seit je ein Paradigma sophistischer Redelehren, näher unter die Lupe genommen: Sie kann als ein Unternehmen der Förderung von Diskursivität ausgelegt werden, bei dem es darum geht, vorzugswürdige logoi zu unterstützen und damit das ethisch-politische Gutsein (aretē) zu stärken (3). Anschließend wird die sich aufdrängende Frage erörtert, über welche Kriterien eine solche Diskurspraxis verfügt und was es bedeutet, dass der Mensch selbst ihr Maß (metron) ist (4). Durch einen Blick auf Prodikos’ Erzählung von ›Herakles am Scheideweg‹ kann die vorgeschlagene Interpretationslinie sodann weiter konkretisiert werden (5). Insgesamt kristallisiert sich ein Kultivierungsprogramm heraus, das man dann auch in Platons Porträt des Protagoras wiedererkennen kann (6). Im Ergebnis wird sichtbar, dass die protagoreisch inspirierten Lehrpraktiken darauf gezielt haben müssen, durch eine Entfaltung der Praxis der logoi die ethische Verfassung derer zu bessern, die mit diesen logoi umgehen. Sie kultivieren eine Diskurspraxis in Orientierung am praktisch Guten. Da bis heute irritierend wirkt, dass dafür keine unabhängigen Kriterien beansprucht werden, sind abschließend ein paar Worte am Platze, inwieweit diese Option als solide Alternative zu einem Reden in Orientierung am Wahren verstanden werden kann (7).

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Barney, »The Sophistic Movement«, 94.

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

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Antilogik, Eristik, Dialektik

Obwohl Platons Hinweis auf die antilogikē mit der gebotenen Vorsicht zu behandeln ist, kann er für das Folgende den Ausgangspunkt bilden. Wollte man die These von der Einheit der sophistischen Bewegung verteidigen – was wir hier nicht tun wollen –, hätte man an ihm einen vielversprechenden Ansatzpunkt. Von den spärlichen Schriften, die uns von den namhaften Sophisten überliefert sind, lassen sich auffällig viele als Teil eines Diskurses auslegen, in dem sich Reden konträr gegenüberstehen. Offensichtlich ist dies bei Prodikos’ Herakles-Erzählung, bei Antiphons Tetralogien oder den Dissoi logoi, und auch die Reden des Gorgias können unter diesem Gesichtspunkt gelesen werden. Es scheint in der vorplatonischen Zeit tatsächlich viele Gelehrte gegeben zu haben, die die öffentliche Rede und Gegenrede im Rahmen ihres Unterrichts aufgegriffen und für Bildungszwecke fruchtbar gemacht haben. Diese auf die Praxis der Antilogie aufbauenden Lehrpraktiken sind die frühesten greifbaren Versuche in Europa, Redepraktiken in einem formellen Setting zu verfeinern. Was also verbirgt sich hinter der antilogikē? Dass sie bei Platon der eristikē nahezustehen scheint, hat zu einer Deutungstradition geführt, die beides als geradezu austauschbar ansieht. Die Antilogik präsentiert sich dann als ›Kunst der Widerrede‹, die auf Überrumplung des Gegners angelegt ist. Tatsächlich deckt sich diese Deutung jedoch noch nicht einmal mit dem, was man bei Platon findet: In der Kritik steht die Antilogik hier als eine Methode, welche unzulänglich bleibt; sie wird aber keineswegs mit der Wortstreitkunst gleichgesetzt. 3 Hält man sich an die Textbefunde, scheint Eristik vielmehr dort vorzuliegen, wo Diskursverfahren zu kämpferischen Zwecken eingesetzt werden. Aber für einen solchen Missbrauch hat jedes Diskursverfahren eine gewisse Anfälligkeit; und es gibt auch Hinweise, dass gerade die Dialektik eine streitlustige Form annehmen konnte. 4 Wie man sich dies konkret vorstellen kann, führt das wohl schönste ZeugAus platonischer Sicht kann das Problem der Antilogik darin gesehen, dass sie zu sehr mit rein nominellen, nicht aber begrifflichen Unterscheidungen operiert. Das heißt aber nicht, dass sie mit der Eristik zusammenfällt: vgl. dazu Kerferd, The Sophistic Movement, 63 f.; zum Verhältnis von Antilogik und Eristik auch Yunis, Taming Democracy, 179 f. 4 Vgl. z. B. DL II 17.134 f. oder DL IV 3.18. Diogenes Laertius gibt auch den Hinweis, dass Arkesilaos in der Akademie nach Platons Tod mehr eristische Formen der Dialektik eingeführt hat: vgl. DL IV 6.28. 3

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Antilogik, Eristik, Dialektik

nis der antiken Eristik vor Augen: Platons Dialog Euthydemos, der eine eristische Verfallsform der Dialektik vorführt. 5 Das Fragen und Antworten ist also gewiss nicht weniger für eristische Zwecke geeignet als die Antilogik. Die weiter oben erörterte harte Seite der kurzen Rede 6 macht darauf aufmerksam, dass die dialektikē aus zeitgenössischer Sicht sogar eher unter den Verdacht hätte geraten können, bloße verbale Kampfkunst zu sein. Bei Platon scheint dies durch, wenn sich Hippias in dem frühen Dialog Hippias Major bei Sokrates darüber beschwert, dass dieser immer nur, wie Schleiermacher übersetzt, »Brocken und Schnitzel von Reden« (knēsmata kai peritmēmata tōn logōn) vorbringt und alles »ins Kleine (kata brachy) zerpflückt« (Hipp. I 304a). 7 Darin könnte sich durchaus noch ein Erstaunen darüber ausdrücken, dass die Mittel der kurzen Rede, die eher von der Art des Verhörs ist, für ernsthafte Gespräche in Anspruch genommen werden sollen. Sollte es also zutreffen, dass Platon eine besondere Nähe der Antilogik zur Eristik suggeriert, läge bereits darin eine Parteinahme für Sokrates. Es ist keine spezifische Differenz der antilogikē, dass sie eristische Formen kennt. Darin deutet sich bereits ein weiterer Aspekt an: dass Antilogik und Dialektik als Lehrpraktiken überhaupt weniger scharf voneinander getrennt sind, als man häufig meint. Wie das Vorurteil, dass Antilogik und Eristik mehr oder weniger zusammenfallen, falsch ist, so ist auch die Annahme unhaltbar, dass Antilogik und Dialektik in einem ausschließenden Verhältnis stehen. 8 Es besteht im Gegenteil eine enge Verwandtschaft. Diese Verwandtschaft zeigt sich zunächst als äußere Ähnlichkeit. Dies ist ein Problem, mit dem sich Sokrates wiederholt befassen muss: Allzu leicht kann es einem passieren, dass man vom dialektischen Gespräch ins bloße Gegeneinanderreden abgleitet (Pol. 454af.). Macht man die Grenzziehung an der Frage fest, ob sich längere MoDie Streitkünstler Euthydemos und Dionysodoros haben sich auf ein Frage- und Antwortspiel spezialisiert, bei dem das Gegenüber, wie immer es antwortet, ›widerlegt‹ (elenchein) wird: vgl. z. B. Euth. 275b-275e. 6 Vgl. Kap. II 3. 7 Der analytische Impuls des Sokrates lenkt Hippias zufolge von der Gesamtgestalt dessen ab, was jeweils zur Debatte steht, von den Umrissen des Ganzen. Im Hippias Minor äußert er sich ähnlich: Sokrates setze immer »beim Kleinen« (kata smikron) an, streite sich aber nie um »die ganze Sache (holō tō pragmati), von der die Rede ist« (Hipp. II 369c). 8 Wie schwierig genaue Grenzziehungen sind, führt Nehamas in »Eristic, Antilogic, Sophistic, Dialectic« vor Augen. 5

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

nologe oder Frage und Antwort im Gespräch gegenüberstehen, dann findet man, dass die Übergänge fließend sind: Antilogien können schnell zu Zwiegespräche werden und Frage- und Antwortspiele in Monologe münden. 9 Die Differenz zwischen kurzer und langer Rede zieht keine scharfe Grenze zwischen zwei gegnerischen Lagern der ›Brachyologen‹ und ›Makrologen‹. Sie beschreibt eher zwei Typen der Rede, die zu einem Kontinuum gehören und untergründig ineinandergreifen. Man kann auch noch einen Schritt weiter gehen und geltend machen, dass die beiden Diskurspraktiken tiefgehendere logische Verwandtschaften aufweisen. Diese Richtung schlägt George Kerferd ein. Zugrunde gelegt ist dabei freilich, dass die antilogikē eine Methode mit klaren Konturen ist, ein Verfahren der Konstruktion einander widersprechender logoi. Kerferd beschreibt dieses Verfahren wie folgt: The essential feature is the opposition of one logos to another either by contrariety or contradiction. It follows that, unlike eristic, when used in argument it constitutes a specific and fairly definite technique, namely that of proceeding from a given logos, say the position adopted by an opponent, to the establishment of a contrary or contradictory logos in such a way that the opponent must either accept both logoi, or at least abandon his first position. 10

In dieser Beschreibung verfolgt die Methode der widerstreitenden Reden unverkennbar eine produktive Absicht. Sie will durch die Erzeugung von Widersprüchen Erkenntnisfortschritte erzielen. Dies deckt sich mit dem Befund, dass die frühen Lehrpraktiken der Rede dem Gedanken verpflichtet waren, den besseren Logos zu bestimmen. Mögen sie aus späterer Sicht auch methodisch unzulänglich gewesen sein, sie sind nicht als Wortkampfkunst aufgetreten. Wenn es richtig ist, dass man in der Zeit der frühgriechischen Aufklärung anfing, die Erzeugung von Widersprüchen methodisch nutzbar zu machen, dann beginnt damit ein Verfahren der Widerlegung, wie es auch Sokrates in Platons Frühdialogen praktiziert. Mag der Akzent in der sophistischen Zeit auch noch auf der langen Rede und dem antilegein gelegen haben, während es bei Sokrates dann auf dem kurzen Fragen und Für Platon vgl. etwa Gorg. 486d-488b oder Apol. 24c-28a. Im logōn agōn der dramatischen Dichtung kommt es häufig zum Zwiegespräch, nachdem die Beteiligten ihre Standpunkte bereits dargelegt haben, so etwa bei Euripides, Medea, 576–626. 10 Kerferd, The Sophistic Movement, 63. 9

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Antilogik, Eristik, Dialektik

Antworten und der dadurch erreichten ›Widerlegung‹, dem elenchein liegt – die Grenzen sind fließend: Beide Verfahren beruhen auf der Idee, die Hervorbringung von Widersprüchen für die praktische Reflexion fruchtbar zu machen. »For Plato, though he does not like to say so, antilogic is the first step on the path that leads to dialectic.« 11 Es erscheint also sinnvoll, den Entwicklungsschritt von der Antilogik zur Dialektik nicht als Bruch, sondern als Prozess der allmählichen Weiterentwicklung zu verstehen. In dieser Perspektive fällt es dann leichter, die überraschende Auskunft von Diogenes Laertius zu akzeptieren, dass es Protagoras gewesen sei, der »die sokratische Art der Reden (to Sōkratikon eidos tōn logōn) als erster in Gang gesetzt« habe (prōtos ekinēsei, DL IX 53). Dieser Hinweis wird gern verdrängt oder in Übersetzungen übertüncht. 12 Doch erstaunlich sind solche Entwicklungslinien nur, solange die Annahme eines scharfen Antagonismus von Philosophie und Sophistik in Kraft gesetzt bleibt. Tatsächlich verweisen Antilogie und dialektisches Gespräch aufeinander. Wie erwähnt, ist es hier nicht das Ziel, die antilogikē als Regelsystem zu rekonstruieren. Die vorplatonische diskursive Praxis, so wollen wir annehmen, ließ zunächst viele Anknüpfungsmöglichkeiten offen. Schon die Vorstellung selbst, dass sich hinter den als Antilogik angesprochenen Phänomenen eine wohldefinierte technē verbirgt – eine nach Vorschriften systematisch lern- und lehrbare Fertigkeit –, ist unter Vorbehalt zu stellen. Es ist alles andere als ausgemacht, dass die Gelehrten der sophistischen Zeit die Idealform ihrer Lehre in einer technē gesehen hätten. Ganz im Gegenteil: In der frühgriechischen Zeit war die Idee der technē noch als solche zwiespältig. Zu erinnern ist daran, dass Prometheus von den Göttern in Ketten gelegt wurde, weil er den Menschen seine Dienste als »Lehrer aller Kunst« (didaskalos technēs pasēs) angeboten hat, wie es AiKerferd, The Sophistic Movement, 67; vgl. ebd., 34: »Once it is granted that sophists other than Socrates did use the question and answer method, and this surely we must grant, then the degree of Socrates’ originality and the degree to which he was influenced by other sophists is both an unanswerable question, and also one of subordinate importance from almost every point of view other than that of Socratic partisanship.« 12 Folgt man Otto Apelts Übersetzung dieser Stelle, so brachte Protagoras »die Sokratische Art der Gesprächsführung zuerst ins Wanken«. Solche Umdeutungen haben eine lange Tradition, wie auch ein spätantiker Kommentar illustrieren kann, der die ›sokratische Art der Reden‹ kurzerhand durch eristikē ersetzt: »Und er [sc. Protagoras] erfand als erster die Streitreden« (prōtos logous eristikous heure, DK 80 A3). 11

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

schylos ihn sagen lässt (Prom. 110 f.). Ganz ähnlich ist in dem berühmten Chorlied in der Antigone auch deswegen »nichts ungeheurer (deinoteron) als der Mensch« (Ant. 332 f.), weil dieser sich auf Kunstgriffe versteht (mēchanē, technē, 349, 365 f.), welche mal zum »Schlechten« (kakon), mal zum »Guten« ausschlagen (esthlon, 366). Die technē ist generell verdächtig, weil sie in den Dienst ganz unterschiedlicher Herren gestellt werden kann. Diese Zwiespältigkeit allen formellen Könnens schwingt auch bei Pindar häufig mit; und wie wir später sehen werden, ist sogar Gorgias, anders als man häufig meint, keineswegs ein Freund der technē. 13 Wenn Sokrates die sophistische Lehrpraxis wirklich als antilogikē klassifiziert hat, dann könnte er schon damit ein ungünstiges Licht auf sie geworfen haben. 14 Welche Theorieform also hat sich für die Redelehren der vorplatonischen Periode angeboten? Für diese Frage ist ein Blick auf die frühen Texten des Corpus Hippocraticum hilfreich. In ihnen wurde die Frage der technē bereits intensiv erörtert, und die Diskussionen um die sophistische Lehrpraxis waren allem Anschein nach eng mit der Methodendiskussionen in der Medizin verbunden. 15 Dabei lassen die überlieferten Schriften schnell erkennen, dass es nicht nur zu klären galt, wie die Heilkunst (iatrikē technē) im Einzelnen gestaltet werden soll. Der Status des ärztlichen Tuns als technē stand als solcher zur Debatte. Ein Blick auf die Medizin ist daher für die Interpretation der sophistischen Lehrpraxis äußerst aufschlussreich.

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Das Leitbild der Medizin und die Frage der technē

Dass eine ausführliche Betrachtung der Sophistik die frühen Hippokraten mit einbeziehen muss, ist nichts Neues. 16 Dies gilt erst recht, wenn man den Begriff der Sophistik auf eine kulturelle Gesamterscheinung bezieht, die eine mehr interdisziplinäre Optik verlangt. Hier sollen zwei Aspekte herausgehoben werden: Die Medizin liefert nicht nur für die Philosophie im engen, disziplinär verstandenen Sinn Gladigow zufolge hatte technē bei Pindar »geradezu die Bedeutung von übler List oder eines ›Tricks‹« (Sophia und Kosmos, 51 f., Anm. 2). Zu Gorgias’ technē-Skepsis vgl. unten, Kap. IV 1. 14 Zur Kritik der technē-Vorstellung sittlichen Wissens beim frühen Platon vgl. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 34–39. 15 Vgl. besonders Kube, Technē und Aretē, 52–57. 16 Vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 57 f. 13

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Das Leitbild der Medizin und die Frage der technē

ein Leitbild. Es ist für die frühgriechische Ethik-Reflexion insgesamt ein Modell, eingeschlossen jene, die später als Sophisten zwiespältige Berühmtheit erlangen. Zweitens liefert die Methodendiskussion in der Medizin Anhaltspunkte dafür, welche Typen der Lehrpraxis in dieser Zeit diskutiert wurden. Wie sich zeigen wird, war dabei neben der wissens- oder prinzipienbasierten technē die Option einer Kultivierung gegebener Lebenspraktiken mit im Spiel. Dass das griechische Denken vielfach dem Modell der Medizin verpflichtet und von einem therapeutischen Gedanken durchdrungen war, ist gut bekannt. Eine Fragment des Demokrit bringt den Grundgedanken, der lange bestimmend sein wird, prägnant zum Ausdruck: »Ärztliche Kunst (iatrikē) heilt die Krankheiten des Körpers (sōmatos nosous), Weisheit (sophiē) befreit die Seele von ihren Leiden« (psychēn pathōn aphaireitai, DK 68 B31). Was die Heilkunst für den Körper ist, ist die Weisheit für die Seele. Aber nicht nur Philosophen haben die sophia, von der Demokrit spricht, für sich beansprucht. Schon die vorplatonischen Redelehrer haben ihr Tun in Analogie zu dem der Ärzte begriffen. Für die Differenzierung zwischen Sophistik und Philosophie trägt das Medizinparadigma nichts aus. Das 5. Jahrhundert kennt diese unterschiedlichen Lager noch nicht, sondern nur Weisheitslehrer, die sich des Logos bedienen. Ein Kontrast wird eher zwischen den Therapeuten des Körpers und denen der Seele wahrgenommen. Doch auch dieser Kontrast ist keineswegs scharf. Wie nah sich Sophistik und Medizin tatsächlich gestanden haben müssen, wurde schon oft betont. Es ist bezeichnend, wenn in einer hippokratischen Schrift »Ärzte« (iētroi) und »Gelehrte« (sophistai) im selben Atemzug genannt werden (Vet. XX 1). Schon in ihrer äußeren Lebensweise weisen beide Gruppen enge Verwandtschaften auf: Beide reisen im Lande umher, um ihre Berufe auszuüben; beide mussten bei potentiellen Kunden um Vertrauen werben, indem sie glaubwürdig redeten. 17 Dies erklärt auch, warum beide Berufsgruppen regelmäßig ins Buxton schreibt in Persuasion in Greek tragedy, 20: »Like sophists, doctors were marginal figures in relation to the social structure of the polis. Like sophists, they traveled from city to city in the performance of their professional duties. Like sophists, they had to drum up a responsive group of clients by ›presenting‹ themselves as credibly and as persuasively as they could.« Lloyd macht in Magic, Reason and Experience darauf aufmerksam, dass die Grenze zum Magier ebenfalls erst langsam scharf wird. Eine Figur wie Empedokles illustriert, dass Arzt, Weisheitslehrer und Magier noch lange in Personalunion auftreten konnten.

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

Zwielicht geraten: Wie es unter den Gelehrten der vorplatonischen Zeit viele Blender gegeben haben dürfte, so war auch der Quacksalber zweifellos keine seltene Erscheinung. So standen Ärzte und Sophisten gleichermaßen in schwankendem Ansehen. (Diese Skepsis kann man leicht nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, man müsste sich mit gesundheitlichen Beschwerden an durchreisende Fremde wenden, deren einziger Qualifikationsnachweis Werbereden sind.) Gleichzeitig aber hat es auf beiden Seiten leuchtende Vorbilder gegeben; und es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die medizinische und die sophistische Praxis von ihrem Sinn her seriöse Bemühungen um die Verfassung des menschlichen Daseins waren. Ärzte vom Typ des Hippokrates und anerkannte Gelehrte vom Typ des Protagoras – seien sie aus heutiger Sicht Philosophen oder Sophisten – sind die Vertreter einer im weiten Verständnis ethischen Praxis, die das menschliche Leben zum Gedeihen bringen will. Nur sind die Trennlinien noch unscharf und die Zuständigkeiten noch nicht klar verteilt. 18 Es überrascht daher nicht, dass die Sophisten ihr Selbstverständnis als Weisheitslehrer nach dem Muster des Arztes artikulierten und, wie Antiphon, damit werben konnten, »den Leidenden durch Reden zu helfen« (dia logōn therapeuein, DK 87 A6). Diese Verwandtschaft dürfte bis in das methodische Vorgehen hineingereicht haben: Noch bei Platon referiert Sokrates die protagoreische Lehre so, dass sie die therapeutische Kraft des Logos in den Dienst der Bildung stellt: Analog zur Medizin gehe es nach Protagoras in der paideia darum, einen schlechten Zustand in einen besseren zu verwandeln und »umzuwenden« (metaballein), nur dass der Arzt die Umwandlung »durch Wirkstoffe« (pharmakois) erreiche, der Sophist »durch Reden« (logois, Tht. 166d). 19 Die enge methodische Verbundenheit zwischen sophistischer Redelehre und Heilkunst, die hier im Motiv des Umschlags (metabolē) besonders deutlich wird, verläuft in beide Richtungen: Die Texte des Corpus Hippocraticum, die ins 5. Jahrhundert gehören, zeugen nicht nur vielfach von einem Bewusstsein der Kraft des Logos, sondern verstehen das Redenkönnen offensichtlich

Schiefsky betont, dass ein Arzt mit dem selben Recht Thesen über die Natur des Menschen aufstellen kann wie ein Sophist oder Philosoph, solange klare Fächergrenzen zwischen der Medizin und anderen Disziplinen fehlen: vgl. Schiefsky, Hippocrates, On Ancient Medicine, 53 f. 19 Im Protagoras wird dieses Selbstverständnis ebenfalls gut fassbar: vgl. Prot. 334a-c. 18

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Das Leitbild der Medizin und die Frage der technē

als wesentliche ärztliche Kompetenz. 20 Ein guter Arzt muss gut kommunizieren können – eine noch heute nützliche Erinnerung. Wir wollen hier allerdings nur die eine Seite des Verhältnisses beleuchten: Welches Modell lieferte die Medizin des 5. Jahrhunderts für eine Redelehre, die noch keine rhetorische technē war? Dass die Frage der technē schon als solche eine Streitfrage war, schlägt sich in der sehr grundsätzlichen Weise nieder, in der sie in der Medizin der sophistischen Zeit erörtert wurde. In der Schrift über die ›Diät bei akuten Krankheiten‹ heißt es, »die ganze Kunst« (holē hē technē) habe »einen sehr üblen Ruf (diabolēn megalēn) bei den gewöhnlichen Leuten, so dass sie meinen, es gebe überhaupt keine Heilkunst« (Vict. VIII). Der erste Satz von De arte unterstreicht, dass diese Skepsis die Form der technē als solche betraf: »Einige haben eine Kunst daraus gemacht, die Künste zu verunglimpfen.« (tas technas aischroepein, Art. I 1) Daher ist überhaupt erst einmal geltend zu machen, dass eine ›Kunst‹ der Heilung wirklich möglich ist. So ist es zu verstehen, wenn der Autor von De arte antritt, einen »Aufweis« der technē vorzulegen (apodeixis, Art. III). Wer als fachmännischer Heiler auftritt, genießt nicht immer gleich Anerkennung; er kann stets auch in den Verdacht geraten, ein Trickser zu sein. In dieser Situation kann es nicht gleich um die Frage des richtigen Verfahrens gehen. Vordringlich ist die Rechtfertigung der ärztlichen Kunst überhaupt. Diese Rechtfertigung der ärztlichen technē ist ein wiederkehrendes Motiv der frühen Schriften des Corpus Hippocraticum. Dies erinnert daran, dass das Wort technē im vorplatonischen Jahrhundert noch einen ambivalenten Klang hatte und semantisch dem ›Kunstgriff‹ und der ›List‹ nahestand. Es wäre falsch, diese Skepsis gegenüber der iatrikē damit abzutun, dass der Prozess der Säkularisierung, den die Medizin zu dieser Zeit durchläuft, natürlicherweise von rückwärtsgewandten Kräften gehemmt wird. Vielmehr macht die Zwiespältigkeit der technē darauf aufmerksam, wie die Vorstellung eines linearen medizinischen Fortschritts von der Magie zur rationalen Vgl. z. B. Vet. II 3 oder De natura hominis, I 1–4. – Zur zeitlichen Einordnung der hippokratischen Schriften vgl. die Aufstellung bei Jouanna, Hippocrates, 373–416; zu den Schwierigkeiten Nutton, Ancient Medicine, 60–64. Gemäß der hermeneutischen Maxime, anachronistische Quellen möglichst auszuklammern, werde ich mich hier ganz an Schriften halten, für die die Einordnung ins 5. Jahrhundert relativ unstrittig ist. Darunter fallen insbesondere De arte, De flatibus, De vetere medicina, De victu acutorum und De natura hominis.

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

Methode in die Irre führen kann: Gerade in der Übergangsphase konnte ja noch nicht ausgemacht sein, was die technē genau sein sollte. So kann eine Verteidigung der iatrikē wie in der Schrift De arte in Erklärungen darüber münden, wie ein angemessenes Verständnis der Heilkunst aussieht. Dabei kommen gerade auch Vorstellungen zur Sprache, die sich vom formalen technē-Verständnis deutlich abheben. Für die Frage nach der Form der frühen Lehrpraktiken der Sophistik ist diese Diskussion von größtem Interesse. Besonders instruktiv in dieser Sache ist De vetere medicina. 21 Diese Schrift lässt sich ebenfalls als eine Verteidigung der Heilkunst lesen, aber sie wendet sich nicht gegen jene, die sie diffamieren oder ihre Existenz leugnen, sondern gegen jene, die sie zum Gegenstand naturphilosophischer Spekulation machen. Die iatrikē technē, so der zentrale Kritikpunkt, lasse sich nicht auf die Grundlage eines praxisunabhängig gewonnenen Prinzipienwissens stellen. Gleich die Anfangspassagen machen diese Stoßrichtung deutlich: Wer die Heilkunst auf allgemeine »Annahmen« (hypotheseis) aufbauen will, wer alle Krankheiten, wie es heißt, auf »ein oder zwei« Ursachen zurückführe, der stelle sie auf eine Grundlage, die ihrer Komplexität nicht gerecht wird (Vet. I 1–3). Mit dem Verfahren der hypothesis wird dabei auf das mathematische Vorgehen angespielt, axiomatisch von einer Prämisse auszugehen, die ihrerseits keine Begründung haben muss. 22 Der Kerngedanke von De vetere medicina ist also: Wer die iatrikē technē nach dem Muster der Mathematik versteht, als ein Können, das auf wenigen prinzipiellen Voraussetzungen oder allgemeinen physiologischen Theoremen beruht, wird sie grundlegend verfehlen. Wenn im Anschluss das Bild einer nichtspekulativen, erfahrungsbasierten Heilkunst entworfen wird, schwingt wiederum die Notwendigkeit mit, diese technē als solche ins rechte Licht zu rücken: Schon der Übergang vom tierischen zum menschlichen Leben, so gibt der Autor zu verstehen, sei unweigerlich mit Einsichten darüber einhergegangen, welche Nahrung zuträglich und abträglich ist. Denn dieser Übergang war wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass Menschen ihre Nahrung zuzubereiten begannen. Die unterschiedlichen Dieser Text stammt vermutlich aus dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts: vgl. Schiefsky, Hippocrates, On Ancient Medicine, 63 f. 22 Vgl. Schubert/Leschhorn, »Anhang zu Hippokrates, Ausgewählte Schriften«, 453– 455. 21

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Verträglichkeiten der Nahrungsmittel konnten also gar nicht erst unbemerkt bleiben; und es war unvermeidlich, dass der Mensch einen Umgang mit ihren Wirkweisen zu pflegen begann. Angesichts dessen habe man davon auszugehen, dass die »heutige Ernährungsweise« (ta nyn diatēmata) »über eine lange Zeit« (en pollō chronō) »entdeckt und kunstfertig gestaltet« wurde (heurēmena kai tetechnēmena, Vet. III 3). Schon die menschliche Ernährung ist also, genau betrachtet, eine urwüchsige Heilpraxis. Aber diese hat sich nicht entwickelt, indem der Mensch irgendwann in den Besitz eines formellen Methodenwissens gekommen ist, sondern indem er über Generationen hinweg Erfahrungen gesammelt hat. Damit ergibt sich nun erstens ein anderes Verständnis davon, was technē bedeuten kann: Wenn der Mensch, so könnte man die Argumentation verstehen, schon von Anbeginn seiner Existenz den Zufall (tychē) zu neutralisieren strebte, dann ist das Kunstmäßige schon im gewöhnlichen menschlichen Leben angelegt. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres Daseins, zwischen »Schmerz, Krankheit und Tod« auf der einen und »Nahrung (trophē), Gedeihen (auxēsis) und Gesundheit (hygieia)« auf der anderen Seite zu unterscheiden (Vet. III 5). Die alltägliche Ernährungsweise ist bereits ein Verhalten in diesem Spielraum und insofern eine »Erfindung für die Gesundheit, Erhaltung (sōteria) und Nahrung des Menschen« (Vet. III 6). Es wäre eigentlich gerechtfertigt, wie der Autor ausführt, schon diese alltägliche Ernährungspraxis als technē zu bezeichnen. Es ist nur deswegen unpassend, weil in dieser Kunst niemand »Laie« (idiōtēs) ist, sondern alle »Wissende« (epistēmones) sind, so dass es nicht eigentlich einen »Fachmann« (technitēs) gibt (Vet. IV 1). Gleichwohl setzt sich diese gewöhnliche Ernährungsweise in dem, was »anerkanntermaßen« (homologoumenōs) Heilkunst ist – in dem, was von allen iatrikē genannt und von Fachmännern betrieben wird –, eigentlich nur fort. Die professionelle Medizin unterscheidet sich ausschließlich dadurch von der alltäglichen Diätetik, dass sie komplexer ist, mehr Aspekte berücksichtigt und andere Anwendungsfälle hat (Vet. VII). Das ärztliche Können unterscheidet sich nur dem Grade nach vom gewöhnlichen Alltagswissen. Es ist keine Geheimwissenschaft, deren innere Prinzipien dem Laien unzugänglich wären. Die Heilkunst ist keine technē, welche dem Menschen erst von den Göttern gebracht werden müsste, wie es der PrometheusMythos beschreibt. Sie ist vielmehr eine verfeinerte Form der gewöhnlichen menschlichen Praxis oder, anders gesagt, Kultur. Medizi93 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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nische Expertise zu haben, bedeutet einfach, diese Kultur in ausgefeilterer Weise vollziehen zu können. Dass Diätetik und Medizin ineinander übergehen, zieht nicht zuletzt nach sich, dass die Medizin kein Kriterium hat, das der gewöhnliche Laie nicht auch hätte: Man wird »kein anderes Maß (metron), weder Zahl noch Gewicht, finden, auf das man sich beziehen könnte, um zu exakten Erkenntnissen (to akribes) zu gelangen, außer der Wahrnehmung des Körpers« (aisthēsis tou sōmatos, Vet. IX 3). Der Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit ist am Ende sinnlich bestimmt, die Grenze muss durch ein ästhetisches Urteil gezogen werden. Auffällig ist dabei, dass diese eigentümliche Plausibilität von Heilverfahren wiederum der Überzeugungskraft der Rede nahesteht: Der Prüfstein von Argumentationen im Feld der Medizin ist letztlich, ob sie den einfachen Leuten einleuchtet, die die Leiden, um die es geht, am eigenen Leib spüren. Diese sind damit gewissermaßen das Kriterium der Wahrheit: Wer das »Verständnis der Laien« (tōn idiōteōn gnōmēs) »verfehlt« (apoteuxeta), wird »das Seiende verfehlen« (tou eontos apoteuxeta, Vet. II 3). In der Welt der Medizin entscheidet die gewöhnliche, sinnliche Auffassungsweise, was etwas ist und was nicht. 23 Damit wird überdeutlich, worin der Irrtum der spekulativen Medizin liegt: Wer die Heilkunst auf den Boden von allgemeinen Hypothesen über das ›Warme‹, ›Kalte‹, ›Trockene‹ oder ›Feuchte‹ stellen will, lässt das vorhandene Erfahrungswissen, das sich seit Menschengedenken entwickelt hat, unbeachtet und überspringt das gewöhnliche Wissen um das eigene Wohlergehen. Das hypothetische Vorgehen stellt gleichsam eine Unterform der Leugnung der iatrikē dar, weil es die Tatsache ignoriert, dass es schon von alters her eine Form der Medizin gibt, die sich am Leitfaden der aisthēsis entwickelt hat und vielfach erprobt ist. Es missachtet die Autorität des kulturell gewonnenen Heilwissens. Damit tritt ein Konflikt vor Augen, der neueren Auseinandersetzungen zwischen theoriegeleiteter und evidenzbasierter Medizin überraschend ähnlich ist: Auf der einen Seite wird die Medizin als ein Verfahren verstanden, das auf einem außerpraktisch greifbaren Wissen beruht; hier ist ein rationalistischer Begriff Es ist wohl schon an dieser Stelle deutlich, dass der Autor von De vetere medicina Gedanken von Protagoras aufgreift. Gelegentlich wurde deswegen behauptet, er müsse ein Relativist sein. Dazu sowie zur Kritik dieser Lesart vgl. Schiefsky, Hippocrates, On Ancient Medicine, 48.

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der technē leitend. Auf der anderen Seite ist es ein Können, das aus der Praxis selbst heraus gewonnen wird; hier macht sich ein Erfahrungsbegriff der technē geltend, der als Kultur erläutert werden kann. Gegen Ende des erhaltenen Textes resümiert der Autor diese Konstellation, indem er ihr eine anthropologische Wendung gibt: Einige Ärzte und Gelehrte (iētroi kai sophistai) sagen, es sei nicht möglich, die Heilkunst zu verstehen, ohne zu wissen, was der Mensch ist (ti estin anthrōpos), sondern es sei nötig, dies zu lernen (katamathein), um den Menschen auf die rechte Weise helfen (orthōs therapeusein). […] Ich aber meine, was von einem Gelehrten oder Arzt über die Natur (peri physeōs) gesagt oder geschrieben wurde, gehört weniger zur Heilkunst als zur Schreibkunst (graphikē); ich meine, über die Natur lässt sich aus nichts anderem als aus der Heilkunst etwas Sicheres erkennen (gnōnai ti saphes). Dieses Wissen kann man erlangen, wenn man die Heilkunst selbst (autēn tēn iētrikēn) richtig und vollständig begreift (orthōs pasan perilabē) – bis dahin aber scheint mir noch vieles nötig zu sein […]. (Vet. XX 1–2)

Der Irrtum der neuen Medizin gegenüber der alten liegt darin, dass sie den Weg zum Heilwissen der iatrikē abkürzen will, indem sie Hypothesen an die Stelle eines generationenübergreifenden Erfahrungsprozesses setzt. Sie ist graphikē, weil sie lieber über Medizin schreibt, als sie zu praktizieren. Die Genauigkeit (akribeia), auf die es hier ankommt, ist aber von eigener Art: Sie liegt in einem konkreten und umfassenden Erfahrungswissen. Sofern man dies als Wissen darüber auffasst, ›was der Mensch ist‹, so ist es kein abstrakt-allgemeines Wissen, sondern die Kenntnis, wie es weiter heißt, »was der Mensch ist im Verhältnis zu (pros) dem, was er isst und trinkt, und was im Verhältnis zu seinen übrigen Geschäften (epitēdeumata) und was jedem durch jedes einzelne widerfährt« (symbēsetai, Vet. XX 3). Die Natur des Menschen zu kennen, heißt in dieser Perspektive nicht: wissen, was er ›vom Anfang her‹ (ex archēs) ist, sondern wissen, was er ›im Verhältnis zu etwas‹ (pros ti) ist. 24 Die aisthēsis geht aufs Einzelne und Relationale; und so muss auch das ärztliche Wissen ein Detailwissen sein, das Einzelfälle und die Beschaffenheit von Individuen berücksichtigt. Schon um einfachsten Problemsituationen Rechnung zu tragen, muss ein Arzt, wie der Text wiederholt betont, »Tausende« von Aspekten berücksichtigen (myria, Vet. XIV 1, XIV 4, XVII 2). Es liegt auf der Hand, dass ein solches Wissen 24 Zu diesem Kontrast vgl. den Kommentar von Schiefsky, Hippocrates. On Ancient Medicine, 295 f.

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nie vollständig ist. Als Kultur kann die Praxis der Heilung immer noch weiter verfeinert werden. Die Einsicht in die Natur des Menschen ist aus dieser Sicht unabschließbar. Wir dürfen festhalten: Was eine technē sein soll – und was von ihr zu halten ist –, war in der Blütezeit der Sophistik noch eine offene Frage. Die Erzählung, dass mit den Hippokraten eine Wissenschaftlichkeit einsetzt, die auf rationale Prinzipien gründet, greift zu kurz. Die Schrift De vetere medicina entwirft ein Verständnis, das die technē des Arztes nicht auf die Grundlage von Prinzipien, sondern auf die Grundlage eines Erfahrungswissens stellt, das im Laufe vieler Generationen erworben wird. Die Heilpraxis ist in dieser Sicht keine Anwendung vorab gegebener theoretischer Einsichten. Medizinisches Wissen zu haben, bedeutet hier vielmehr, sich mit der Praxis selbst, mit ihren unzähligen konkreten Aspekten auszukennen. Sokrates hätte eine solche Lehre bloße ›Geschicklichkeit‹ genannt, eine tribē oder empeiria (Gorg. 462c-465e). Eine solche Lehre scheint ihm kritikwürdig, weil sie das Kriterium des Richtigen in das sinnliche Auffassen dessen legt, der von solchen Betreibungen betroffen ist; und das Angenehme ist ja nicht unbedingt das nachhaltig Gesunde. Das Beispiel der Medizin macht jedoch evident, was dennoch dafür spricht, die Wahrnehmung des Körpers zum Leitfaden zu machen: Das Wohlergehen des Menschen bleibt eine Sache der aisthēsis tou sōmatos. Wo es um das leibliche Lebensglück geht, wäre es offenbar fragwürdig, die Kriterien in etwas anderem zu suchen als im Menschen und seiner sinnlichen Existenz. Es ist wohl deutlich, dass diese Hinweise für die Rekonstruktion der sophistischen Ethik der Rede von Interesse sind. Zwar wird sich nicht im Einzelnen klären lassen, wie ihre Repräsentanten zur medizinischen Methodendebatte gestanden haben. Aber dass unterschiedliche technē-Formen in Erwägung gezogen wurden, wird sich als wichtige Richtungsanzeige erweisen: Die Alternative ›entweder reflexionslose Redepraxis oder Rationalisierung der Rede‹, von der Thomas Cole ausgeht, ist keineswegs erschöpfend. Es gibt einen Raum zwischen der formellen technē tōn logōn und dem unreflektierten, unmittelbar aufgefassten Sprechen. 25 So erfolgt Bildung in der soIndem Cole voraussetzt, dass die Rationalisierung die einzige Möglichkeit ist, eine gegebene Diskurspraxis weiterzuentwickeln, kommt er zu dem Schluss, dass die sophistische Redelehre das natürlich gegebene Sprechen in keiner Weise weiterentwickelt haben könne. Der Gedanke ist: Die Sophistik war kein Erkenntnissystem, also

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phistischen Zeit nicht unweigerlich als Vermittlung theoriegeleiteter, regelbasierter Fertigkeiten. Wissen kann vielmehr ein praktisches Sich-Auskennen sein. Im Streit um die technē wurde die Option ins Auge gefasst, eine Praxis im Laufe ihrer Ausübung allmählich zu verfeinern. Man kann dies die Option der Kultivierung nennen. Dies ermutigt dazu, den Gedanken, dass die Redelehren der griechischen Antike auf Kultivierung, nicht auf Rationalisierung des Logos angelegt waren, zum Leitgedanken der weiteren Überlegungen zu machen. Das Wirken von Protagoras, Prodikos, Antiphon oder Gorgias – die seit je als Exponenten der Sophistik gelten – ist eine Bemühung um sittliche Bildung im Medium der Rede. Für ein solches Unternehmen wäre die Form der formell verstandenen ›prometheischen‹ technē von vornherein ein unpassendes Ideal: Sofern diese den Geruch des Kunstgriffs hatte, kam sie für die Formung eines Ethos unmöglich in Frage. Freilich ist die Umdeutung von bereits belegten Begriffen immer eine schwierige Sache; und so scheinen die Gelehrten der sophistischen Zeit Abstand davon genommen zu haben, den Ausdruck technē überhaupt für ihre Unternehmungen zu verwenden. Fest steht jedenfalls, dass man den Sinn der Lehren von Protagoras bis Gorgias besser versteht, wenn man sie als Kultivierungspraktiken auslegt. Diese Interpretationslinie lässt sich, wie sich zeigt, bis zu Sokrates ziehen, der in dieser Perspektive ohne Zweifel zur Sophistik zu rechnen ist.

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Kultivierung diskursiver Praxis: Protagoras

Mit Protagoras steht eine Person von höchstem Ansehen am Anfang der diskursiven Lehrpraktiken in Griechenland. Kaum eine Darstellung vergisst es, seine Reputation und seine Autorität als Politikberater zu erwähnen. Die Sonderstellung zeigt sich etwa in seinem angeblich sehr engen Verhältnis zu Perikles, von dem Plutarch berichtet (DK 80 A10). Von Sokrates erfahren wir, dass die Athener nie aufgehört haben, Protagoras in Ehren zu halten (eudokimōn, Men. 91e); und Platons Behandlung darf insgesamt als äußerst respektvoll gehört sie der mythopoetischen Tradition an. Eine Diskurspraxis zu reflektieren und zu verfeinern, heißt demzufolge notwendig, eine distanzierte, instrumentelle Haltung zur Rede einzunehmen, wie sie erst mit Platon und Aristoteles möglich werde (The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, z. B. 91–93, 111 f.).

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gelten. Unterstrichen wird all dies dadurch, dass Protagoras von den namhaften Sophisten der einzige ist, dem Diogenes Laertius ein Kapitel widmet: Darin findet sich auch der erstaunliche Hinweis, dass er der Initiator der »sokratischen Art der Reden« gewesen sei (DL IX 53). Diese hohe Anerkennung wäre unerklärlich, wenn die protagoreischen Lehren nicht dem Geist der demokratischen Debattenkultur entsprochen hätten: Wenn die Kultur der Rede und Gegenrede darauf gerichtet war, den besseren Logos zu bestimmen, dann ist dies für Protagoras eine verbindliche Vorgabe gewesen. Seine Gelehrtentätigkeit muss im Lichte dieser Zielsetzung überzeugt haben. Tatsächlich kann die Auffassung, dass Protagoras für einen extremen Relativismus oder Subjektivismus stehe, der jedes Wahrheitskriterium sinnleer sein lässt, kaum noch überzeugen. 26 Betont wird heute sein Einfluss auf die antike Sprachtheorie, etwa die Versuche, verschiedene Typen der Rede zu bestimmen (DK 80 A1 [53 f.]). Solche Versuche stehen im Kontext einer Lehre des ›richtigen Redens‹ (orthoepeia), die später bei Prodikos als Lehre von der ›Richtigkeit der Namen‹ (onomatōn orthotēs) weiterentwickelt wird. 27 Edward Schiappa, der in seiner Studie Protagoras and Logos eine gründliche Auswertung aller überlieferten Fragmente versucht, ordnet diese Bemühungen in vorsokratische Bestrebungen ein, einen »rational account of discourse, a logos of logos«, 28 zu erarbeiten. Deutlich ist, dass Protagoras um den richtigen Logos gerungen haben muss und dass dabei eine Bildungsabsicht leitend war. 29 In diesem Zusammenhang kommt Schiappa auch zu dem Schluss, dass die protagoreische Logoslehre im Zeichen einer ›Demokratisierung der aretē‹ 30 stehe. Ihr Ideal sei eine staatsbürgerliche Tüchtigkeit, die nicht durch Herkunft gegeben ist, sondern durch Bildung erworben wird. Protagoras’ Anspruch, die angemessene Form der Diskursivität zu fördern, dürfte aufs Engste mit dieser erzieherischen Intention verknüpft sein. Seine Auch eher traditionell gehaltene Darstellungen kommen heute zu dem Schluss, dass man den protagoreischen Relativismus falsch versteht, wenn man ihn als wahrheitsfeindlich einstuft: vgl. z. B. Woodruff, »Rhetoric and relativism«, 303 f. 27 Vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 68 f. 28 Schiappa, Protagoras and Logos, 162. 29 Die Bildungsabsicht der protagoreischen Lehre betonen neben Schiappa etwa Corradi, »Ton hēttō logon kreittō poiein« oder Woodruff, »Euboulia as the Skill Protagoras Taught«. Rademaker versucht in »The Most Correct Account«, einen Nexus zwischen der orthoepeia und der euboulia herzustellen. Die Lehre des richtigen Redens ist einer Bildungsabsicht verpflichtet. 30 Vgl. Schiappa, Protagoras and Logos, 168–170. 26

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Redelehre ist in diesem Fall eine frühe Form der logōn paideia: ein Versuch, denjenigen logoi zur Geltung zu verhelfen, die die aretē stärken. Diese Interpretationslinie soll in den folgenden zwei Abschnitten weiter entfaltet werden. Das primäre Interesse dabei besteht nicht darin, ein authentisches Bild von der Figur des Protagoras zu zeichnen, sondern darin, etwas über die Entwicklungstendenz zu erfahren, die mit den ersten formellen Kultivierungspraktiken der Rede verbunden ist. Die Ausführungen orientieren sich an vier Aussagen, die Protagoras selbst zugeschrieben werden: (a) dass es in jeder Sache zwei konkurrierende Reden gibt und (b) dass der ›schwächere logos‹ gestärkt werden muss sowie, im folgenden Abschnitt, (c) dass man über die Götter nichts wissen kann und (d) dass der Mensch das ›Maß aller Dinge‹ ist. Erkundet werden Möglichkeiten, die jeweiligen Sentenzen als Teil einer ethischen Redekultur zu verstehen. Zu abgeschlossenen Auswertungen dringen wir dabei nicht vor, und viele Spuren müssen unberücksichtigt bleiben. 31 Aber die Einordnung kann doch vor Augen führen, wie bei Protagoras wichtige Weichen für eine Bildungspraxis gestellt werden, die die Rede in den Dienst des gelingenden Lebens stellt. (a) In einem berühmten Fragment behauptet Protagoras, dass es »in jeder Sache zwei einander entgegengesetzte Reden gibt« (δύο λόγους εἶναι περὶ παντὸς πράγματος ἀντικειμένους ἀλλήλοις, DK 80 A1 [51]). Das Modell der Antilogie ist unmittelbar sichtbar. Wie gesehen, kann der agonale Charakter dieser Diskursform so zugespitzt werden, dass sich die Sache um die es geht, im Streit erst herausbildet: In der Praxis der Rede und Gegenrede gibt es schon deswegen zwei logoi zu allem, weil diese Diskursform durch Konflikte oder Unentschiedenheiten in Gang gesetzt wird. Die ›Sache‹ (pragma) ist kein gegebenes Ding, sondern ein zu lösendes Problem. Herangezogen werden wiederum nur die Fragmente, deren Authentizität vergleichsweise gesichert ist – wenn der genaue Wortlaut auch teilweise ungewiss ist, da die Sentenzen als leicht voneinander abweichende Paraphrasen überliefert sind. Zur philologischen Situation vgl. Schiappa, Protagoras and Logos, 89–153. Dieser diskutiert zusätzlich noch den bei Platon erwähnten Satz ›Es gibt kein Widersprechen‹ (ouk estin antilegein, Euth. 286c). Da dieser von den Protagoras zugeschriebenen Sätzen am schwierigsten einzuordnen ist und sein protagoreischer Ursprung letztlich zweifelhaft bleibt, werden wir dieses Rätsel hier ungelöst lassen. Von der bei Platon vorgeführten ›großen Rede‹ des Protagoras (Prot. 320c-328d), der häufig einige Authentizität zugetraut wird, wird in Kap. III 6 die Rede sein.

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In diesem Licht drückt sich in dem protagoreischen Satz von den ›zwei logoi‹ keine mutwillige Relativierung von Erkenntnisstandards aus, sondern zunächst schlicht die Einsicht, dass diskursive Auseinandersetzungen jeweils mit einer Differenz anfangen. Sofern sie einen Gegenstand haben, so ist es der Gegenstand eines Konflikts, ein ›Streitpunkt‹. 32 Sollte diese Interpretation stimmen, hätte der Ausdruck pragma zugleich eine betont weltliche Bedeutung: Die ›Sachen‹, um die es bei Protagoras geht, sind Dinge, die für Menschen von Belang sind und um die sie sich streiten. Es sind die Angelegenheiten der menschlichen Lebenspraxis. Mit der Aussage, dass es in jeder Sache ›zwei Reden‹ gibt, markiert Protagoras also gewissermaßen den harten Kern der Antilogie. Was aus der Retrospektive als erkenntnistheoretischer Relativismus erscheinen mag, konnte in einer Phase, in der die Option der diskursiven Handlungsorientierung überhaupt erst etabliert wird, schlicht daran erinnern, dass es über praktische Fragen stets zwei Meinungen geben kann. Wie gesehen, ist die Idee, dass Kontroversen unabhängig von Statusunterschieden nützlich sein können, in der vorplatonischen Zeit noch als solche rechtfertigungsbedürftig. Die Gegenrede steht naturgemäß in einer Spannung zu den Ansprüchen politischer Macht, welche die Verschiedenheit der Perspektiven zu unterdrücken tendiert. Darauf bezogen, bringt das Fragment zum Ausdruck, dass es tatsächlich immer zwei Reden geben kann und Differenzen für Diskurse konstitutiv sind. Dass es prinzipiell mehr als einen Logos gibt, könnte so gesehen der Leitsatz einer Verteidigung von Diskursivität als solcher sein: Was aus moderner Sicht selbstverständlich erscheint, war im Umfeld der attischen Demokratie – in der die Äußerung abweichender Ansichten zwar nicht mehr ganz und gar lebensgefährlich war, aber doch auch noch nicht überall begrüßt wurde 33 – durchaus ein aussagekräftiges Statement. Dass der Satz von den zwei logoi bei Protagoras ein Leitsatz für die Entwicklung verfeinerter Verfahren der praktischen Reflexion hätte sein können, für eine Praxis der Kultivierung also, wird sichtbar, Vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, 131: »Die Sache wird gewissermaßen erst dadurch konstituiert, dass sie in zwei widerstreitenden Perspektiven erscheint, als Kreuzungspunkt zweier Linien, die in unterschiedliche Richtungen verlaufen.« 33 Thukydides berichtet davon, wie einer aus dem dēmos dem Feldherrn Polydamidas widerspricht und dafür gehörig durchgeschüttelt wird (Thu. IV 130). Und sogar Perikles, der mit Protagoras bekannt gewesen sein soll, darf dem Volk nur widersprechen, weil er hohes Ansehen genießt (Thu. II 65). 32

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wenn man ihn ein klein wenig zuspitzt: Wenn Rede und Gegenrede damit anfangen, dass dasselbe unterschiedlich betrachtet wird, dann sollte die Ausarbeitung von Diskursverfahren vielleicht an diesem Faktum ansetzen und es methodisch fruchtbar machen. Praktische Diskurse werden durch einen Konflikt gegensätzlicher Sichtweisen in Gang gesetzt, und sie sind nichts anderes als ein offener Austrag solcher Konflikte. Wer die diskursive Praxis also fortentwickeln und veredeln will, hat den Konflikt zu verteidigen und hervorzuheben. Wer sich auf die Seite des Diskursiven stellt, muss die Konkurrenz der logoi zur Geltung bringen, anstatt sie zu verdrängen. So kann das Fragment von den zwei logoi mit gutem Sinn als Zeugnis einer Bildungspraxis ausgelegt werden: Wer sich daran gewöhnt, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten, übt sich damit in eine Kunst der praktischen Reflexion ein, die viele Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen vermag. Mit Hegel könnte man von der Fähigkeit sprechen, die Welt unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu betrachten. 34 Hegel könnte an Sextus Empiricus gedacht haben, der von Protagoras sagt, er habe das pros ti eingeführt, das ›Aufetwas-hin‹ (DK 80 A14 [216]). 35 Wie bereits gesehen, wird die Behauptung, dass etwas nur im Verhältnis auf etwas das ist, was es ist, in der Schrift von der ›Alten Medizin‹ später wiederkehren (Vet. XX 3). Dieser Gedanke steht dort für die Möglichkeit eines Wissens, das durch eine Kultivierungspraxis erworben wird: Heilwissen hat, wer es versteht, den unzähligen Einzelheiten konkreter Problemfälle Rechnung zu tragen. Platons Protagoras wird später geltend machen, dass man auf ›tausend‹ Dinge zu achten hat, wo es um Tugend geht (myria, Prot. 334a). Für eine Redelehre, die die Vorteile sorgfältiger Abwägung gegen die bloße politische Tatkraft durchsetzen will, ist dies offenbar ein geeigneter Ausgangspunkt. (b) Betrachten wir zweitens das Motto, »den schwächeren Logos stärker zu machen« (τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν, DK 80 B6b). Dass die Zeit des Bildungsgedankens mit den Sophisten beginnt, erklärt Hegel u. a. so, dass sie gezeigt hätten, wie man Gesichtspunkte unterscheidet; vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 411: »Ein gebildeter Mensch weiß etwas über jeden Gegenstand zu sagen, Gesichtspunkte daran aufzufinden. Diese Bildung hat Griechenland den Sophisten zu verdanken.« 35 Modern gesprochen, stellt Protagoras mit seinem Satz von den zwei logoi einen Gedanken der grundlegenden Relationalität oder Perspektivität ins Zentrum. Man kann darin eine Nähe zu Heraklit sehen: vgl. Schiappa, Protagoras and Logos, z. B. 90–98 oder 108 f. 34

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

Der Halbsatz wurde immer wieder als Ausdruck des erklärten Vorsatzes gelesen, die Verhältnisse im rationalen Diskurs auf den Kopf zu stellen und Argumentation durch rhetorische Kraftmeierei zu ersetzen. Bis heute kommt es zu verzerrenden Übertragungen, die ihn als Ausdruck der Absicht hinstellen, dem ›eigentlich schwächeren‹, nämlich falschen Logos zum Sieg zu verhelfen. 36 In dieser Bedeutung tritt der Gedanke explizit bei Aristophanes auf, für dessen Werk allerdings satirische Verdrehungen stilbildend sind. Michael Gagarin schreibt dazu: »Only Aristophanes speaks of the weaker logos winning, and this outcome is clearly motivated by his plot.« 37 Tatsächlich erweist es sich als unglaubwürdig, dass die Empfehlung, den ›schwächeren logos zu stärken‹, eine Anstiftung zur Eristik ist. Diese Deutung ist weder durch vorplatonische Quellen zu belegen noch mit der hohen Reputation des Protagoras in Athen zu vereinbaren. Eine plausiblere Interpretation ergibt sich, wenn man wiederum berücksichtigt, dass die diskursive Option und ihr Prinzip der Widerrede zu Protagoras’ Lebzeiten noch der Rechtfertigung bedurfte. Unter dieser Voraussetzung scheint es plausibel, dass sich auch in der Stärkung des schwächeren Logos eine Parteinahme für das Diskursive überhaupt ausdrückt. Spezifischer könnte es eine Empfehlung sein, die kritische Einrede gegen unmittelbar dominante Positionen zu unterstützen. Wie gesehen, war es ein Grundmotiv der frühgriechischen Diskurse, dass sich die autoritäre oder politisch ›starke‹ Position zuerst zu Wort meldet, so dass jede Gegenrede Mut erfordert und in diesem Sinn typischerweise aus einer Position der Stekeler-Weithofer fasst den Anspruch eines Sophisten so auf, »dass er die (objektiv) argumentativ schwächere Sache zur stärkeren machen könne, dass er mit seiner Redekunst also beim Zuhörer bewirken kann, dass ein schwächeres Argument als das stärkere erscheint« (Philosophiegeschichte, 176). Der Verdacht, dass Protagoras mit seiner Stärkung des schwachen logos böse Absichten verfolge, macht seit Aristoteles die Runde (Rhet. 1402a) und hält sich bis heute: Noch Thomas Schirren meint, die Sache gehöre »sicherlich in die Trickkiste des Eristikers« (Schirren/Zinsmaier, Die Sophisten, 35). Thomas Buchheim beschreibt dieses »gängige Mißverständnis« so, dass Protagoras »die eigentlich schwächere Rede zur scheinbar besseren machen« wolle (Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 17). Corradi macht plausibel, dass der Eristikverdacht erst mit Aristoteles ins Spiel kommt, während der erzieherische Zusammenhang von Protagoras’ Satz vom schwächeren Logos bei Platon noch gut sichtbar ist (»Ton hēttō logon kreittō poiein«). 37 Gagarin, Antiphon the Athenian, 25. – In Aristophanes’ Wolken wird der schwache logos als einer eingeführt, »der, indem er Ungerechtes spricht (tadika legōn), den stärkeren umstürzt« (anatrepei, Neph. 883 f.). 36

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Kultivierung diskursiver Praxis: Protagoras

Schwäche heraus erfolgt. Wer vor diesem Hintergrund eine Stärkung der schwachen Rede fordert, könnte damit einfach zum Ausdruck bringen, dass die Praxis der diskursiven Entscheidungsfindung unabhängig von Machtpositionen förderungswürdig ist. Der Satz, dass es stets ›zwei Reden‹ gibt, und der Satz, dass die ›schwächere Rede gestärkt‹ werden muss, hätten in diesem Fall ein- und dieselbe Stoßrichtung. Man muss also auch hier nicht daran zweifeln, dass Protagoras dem vorzugswürdigen gegenüber dem bloß durchsetzungsstarken Logos zum Sieg verhelfen will. Sein Telos muss der richtige oder ›gute‹ Logos sein, und im Rahmen einer Erziehungspraxis wird dies bedeuten, einen Diskurs zu entwickeln, der die ethisch-politische aretē unterstützt: Die protagoreische Arbeit am Logos muss eine Arbeit am Ethos sein, der es um die Einübung in die ›besten‹ Sichtweisen ging. Darüber, wie diese Bildungspraxis konkret ausgesehen haben mag, kann man nur spekulieren. Einen wichtigen Anhaltspunkt liefert aber wiederum die hippokratische Medizin: Für sie war vielfach die Vorstellung leitend, dass im Körper widerstreitende ›Kräfte‹ am Werk sind und Gesundheit ein Gleichgewicht dieser Kräfte ist. 38 Heilen heißt aus dieser Sicht, eine Balance zwischen Gegensätzen herzustellen. Der Autor des Traktats De flatibus beschreibt dies so, dass »das Entgegengesetzte (ta enantia) das Heilmittel des Entgegengesetzten« (tōn enantiōn iēmata) sei; die Heilkunst sei daher ein »Wegnehmen dessen, was zu viel ist« (aphairesis tōn pleonazontōn) und »Hinzufügen des Mangelnden« (prosthesis tōn elleipontōn, Flat. I 5). Den schwachen logos zu stärken, könnte in diesem Licht heißen, im Streit der Reden auf einen Ausgleich der Kräfteverhältnisse hinzuwirken. Sofern das Modell der Medizin für sophistische Redelehrer leitend war, könnten diese den protagoreischen Hinweis so aufgefasst haben, dass es in der logōn paideia darauf ankommt, das Spannungsverhältnis zwischen den Betrachtungsweisen so zu verändern, dass sich eine neue Gesamtbalance ergibt. Für diese Deutung kann Sokrates als Zeuge aufgerufen werden: Im Theaitetos, in seiner Erklärung der protagoreischen Lehre, geht dieser von dem Umstand aus, dass »dem Kranken (tō men asthenounti) bitter scheint und ist, was er zu sich nimmt, dem Gesunden (tō de hygiainonti) aber das Gegenteil ist und scheint.« (Tht. 166e) In solchen Fällen nun, so erläutert Sokrates die Pointe von Protagoras’ Pro38

Zum Folgenden vgl. Schiappa, Protagoras and Logos, 108 f.

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

gramm, ist »eine Umwandlung zum anderen nötig, denn der andere Zustand ist besser« (ameinōn gar hē hetera hexis). Dieses medizinische Vorgehen liefere auch »in der Erziehung« (paideia) das Modell, nur dass dafür andere Mittel in Anspruch genommen werden: »Der Arzt bewirkt Umwandlungen (metaballei) durch Arzneien (pharmakois), der Sophist durch Reden« (logois, Tht. 167a). Wenn das protagoreische Unternehmen auf sittlich-ethische Erziehung angelegt war, ist es wahrscheinlich, dass das Motto, den ›schwächeren logos zum stärkeren zu machen‹ in diesem Zusammenhang gestanden hat. Es war in diesem Fall keine Leitlinie für den Streit der Worte, sondern eine Empfehlung für den rechten Umgang mit den Kräften und Gegenkräften im diskursiven Sinngeschehen. Die Ethik der Rede, die sich darin abzeichnet, ist eine Einübung in eine Diskurspraxis, die die ›Gesundheit‹ der menschlichen Lebenspraxis sichert. Soweit die Analogie zum Heilungsprozess aussagekräftig ist, muss ihr Ziel darin bestanden haben, einen Zustand herzustellen, in dem die Dinge auf die rechte Weise aufgefasst werden: Wie der Arzt durch Arzneien darauf hinwirkt, dass das Essen nicht mehr bitter schmeckt, wirkt der sophistische Lehrer ›durch Reden‹ darauf hin, dass das praktisch Gute unmittelbar erkannt wird.

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Das protagoreische Maß

Die Skepsis gegenüber der sophistischen Redekultur ist häufig darin begründet, dass diese keine Mittel zu haben scheint, die ›falsche‹ von der ›richtigen‹, die ›gute‹ von der ›schlechten‹ Rede zu unterscheiden. Aus platonischer Sicht fehlt es ihr an Kriterien. Dieser Vorbehalt ist alt: Schon bei Sextus wird gesagt, dass Protagoras und Gorgias als Denker galten, die das ›Kriterium der Wahrheit‹ (kritērion tēs alētheias) aufheben. 39 Einer bis in die jüngste Zeit hinein verfolgten Argumentationslinie zufolge muss daraus resultieren, dass sich die Frage, welcher Logos vorzugswürdig ist, allein am Wettstreit der Reden selbst entscheiden kann. Thomas Buchheim fasst die Sache so auf, dass im sophistischen Diskurs der agōn an die Stelle der substantiellen Wahrheit tritt: Da es keinen »außerhalb liegenden Maßstab« gibt, keine Bewertungsgrundlage außerhalb wirklich vollzogener logoi, kann die »Scheidung von stark und schwach« aus Sicht des »tüchti39

Für Protagoras vgl. DK 80 B1, für Gorgias DK 82 B3 (65).

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gen Sophisten« nur durch die faktische Stärke der Rede selbst erfolgen. 40 Der Gedanke ist: Da es im Streit der Reden kein diskursunabhängiges Kriterium gibt, muss das Kriterium der bloße Streit selbst sein. Wenn es richtig ist, dass sich Protagoras am Modell der demokratischen Gegenrede orientiert, dann kann diese Lesart nicht überzeugen. Der ganze Witz des antilogischen Unternehmens liegt ja, wie erörtert, darin, die bloße Durchsetzungskraft durch eine Form der paränetischen Autorität zu ersetzen. Protagoras gehört zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von dem Gedanken inspiriert ist, dass das ›Gutsein‹ einer Person, ihre aretē, nicht schon durch ihre Herkunft oder ›Natur‹ allein festgelegt ist, sondern in einem Erziehungsprozess erworben wird. Sofern die Rede das Medium dieses Prozesses ist, kann sie nicht am Ende wiederum am Ideal der bloßen Durchsetzungskraft orientiert sein. Zwar kann sich der ›schwächere‹ logos dem agōn nicht entziehen: Er muss sich gegen den unmittelbar dominanten logos durchsetzen und ›gestärkt‹ werden. Doch gerade indem die Redelehre auf eine solche Stärkung zielt, muss sie einen Sinn dafür haben, dass die Widerrede immer an Machtverhältnissen scheitern kann. Sofern Protagoras in einer Welt gelebt hat, wie Thukydides sie beschreibt, wusste er, dass in den öffentlichen Debatten um das Gute und Richtige immer wieder die Impulsiven, Eigenmächtigen und Lautstarken mit den Umsichtigen, Nachdenklichen und Leisen aneinandergeraten. Wenn sein Ziel die ›Wohlberatenheit‹ (euboulia) ist, wie er es bei Platon sagt (Prot. 318e), dann müssen seine Sympathien in diesem Konflikt klar verteilt gewesen sein. Die durch Einübung in die Rede gewonnene Stärke muss aus protagoreischer Sicht von anderer Art sein als die Durchsetzungskraft des Mächtigen. Protagoras muss folglich einen Maßstab außerhalb der bloßen verbalen Kraftprobe vorsehen. Nach dem allseits bekannten ›Satz des Protagoras‹ ist dieser Maßstab (metron) der ›Mensch‹ (anthrōpos). Um das Bildungsideal der sophistischen Redelehren zu verstehen, wenden wir uns nun der Frage zu, wie er in das bisher Gesagte eingeordnet werden kann. 41 Leitend dafür werden nicht zuletzt die

Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 17. Es ist unnötig zu sagen, dass jede Deutung des Satzes des Protagoras nur eine von vielen ist. Der von Otto Neumaier herausgegebene Band Ist der Mensch das Maß aller Dinge? gibt einen Eindruck davon, wie unterschiedlich der Satz verstanden werden kann.

40 41

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aus der hippokratischen Medizin gewonnenen Hinweise sein: Es besteht eine Verwandtschaft zwischen dem homo-mensura-Satz und dem Gedanken, dass in der Heilkunst nicht ein spekulatives Prinzip, sondern die ›Wahrnehmung des Körpers‹ (aisthēsis tou sōmatos) das oberste Richtmaß sein muss. Diskutiert man die Frage des protagoreischen metron vor diesem Hintergrund, erweist sich, dass Protagoras durchaus Kriterien der Rede vorausgesetzt haben muss – nur dass es keine außerhalb der Redepraxis gegebenen Kriterien waren. (c) Als Ausgangspunkt kann eine kurze Erörterung eines anderen Fragments dienen, das den dritten der hier diskutierten Gedankensplitter des Protagoras zum Ausdruck bringt. In der bei Diogenes Laertius überlieferten Fassung lautet es: Von Göttern kann ich nichts wissen, weder wie/dass sie sind, noch wie/dass sie nicht sind; denn es gibt vieles, das dem Wissen entgegensteht, wie die Verborgenheit und dass das Leben des Menschen kurz ist. (περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω εἰδέναι οὔθ’ ὡς εἰσὶν οὔθ’ ὡς οὐκ εἰσὶν· πολλὰ γὰρ τὰ κωλύωντα εἰδέναι, ἥ τ’ ἀδηλότης καὶ βραχὺς ὢν ὁ βίος τοῦ ανθρώπου. DL IX 51)

In dieser Aussage, die man häufig als Bekenntnis zu einer agnostischen Haltung liest, wird dem menschlichen Verstehen (eidenai) eine Grenze gezogen. Dies unterstreicht noch einmal, dass Protagoras sehr dezidiert zwischen Wissen und Nichtwissen unterschieden hat. Sofern sich in diesem Fragment ein ›Skeptizismus‹ artikuliert, ist er bereichsspezifisch. Er beschränkt sich auf die Welt der ›göttlichen‹ Dinge. Dies bestätigt die Vermutung, dass die ›Sachen‹ (pragmata), um die sich Protagoras’ Lehre dreht, allein die weltlichen Dinge sind, über die wir uns auseinandersetzen, weil sie für das Leben bedeutsam sind. Es sind die Dinge, die den Sterblichen zugänglich sind und nicht für sie in ›Verborgenheit‹ (adēlotēs) liegen. Dem Fragment liegt deutlich ein Kontrast zugrunde zwischen den göttlichen und den menschlichen Dingen. Man kann es lesen als Empfehlung, sich nur um letztere zu kümmern. Es bringt eine antispekulative Haltung zum Ausdruck, wie sie sich auch bei Antiphon und Gorgias bemerkbar macht. 42 Nimmt man das Fragment ernst, dann wird man die protagoreische Diskurspraxis nicht aus dem Kontext der ›menschlichen Angelegenheiten‹ herauslösen können. Man verfehlt ihren Sinn, wenn man sie so rekonstruiert, als solle sie Antworten auf die Fragen eines ›eigentlichen Seins‹ geben, wie es Parmenides unternimmt. Eine an42

Vgl. Kap. I 4 sowie unten den Anfang von Kap. IV.

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gemessene Deutung wird von konsequenter Immanenz auszugehen haben, die mit einem Primat des Praktischen verbunden ist. Protagoras’ Lehre dürfte sich allein mit den ›Sachen‹ befasst haben, die in öffentlichen Debatten auf dem Spiel stehen: die Fragen des praktisch Ratsamen und Guten, die Fragen der Erziehung, der euboulia und der aretē. Dies kann auch für die Deutung des homo–mensura-Satz den Weg weisen. (d) Das berühmteste protagoreische Fragment ist der sogenannte ›Satz des Protagoras‹, der homo-mensura-Satz. Er lautet: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, wie/dass sie sind, der nichtseienden, wie/dass sie nicht sind.« (πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἀνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὺκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν. DK 80 B1) Im Anschluss an die Diskussion in Platons Theaitetos (Tht. 151e-163a) ist es üblich, den Satz als Ausdruck einer stark relativistischen oder subjektivistischen Position zu lesen, die Erkenntnis mit individueller Wahrnehmung gleichsetzt. Sokrates erläutert ihn so, dass Protagoras das jeweilige Ich zum Richter (kritēs) darüber mache, was etwas ist oder nicht ist: Meine Wahrnehmung (aisthēsis) ist immer die Wahrnehmung meines Seins; deswegen ist sie ›wahr für mich‹ (alēthēs emoi, Tht. 160c). 43 In diese Interpretationslinie darf man es einordnen, wenn Sextus bemerkt, dass Protagoras das ›Kriterium‹ der Wahrheit aufhebe (DK 80 B1). Welchen Ort hätte der Gedanke vom Menschen als ›Maß aller Dinge‹ in einer Redepraxis, die auf ethische Formung zielt? Eine solche Interpretation kann damit beginnen, dass die ›Dinge‹ (chrēmata), von denen Protagoras spricht, angesichts des Gesagten ganz alltägliche Dinge sein müssen. Der Mensch kann nicht für die ›göttlichen Dinge‹ das Maß sein, etwa indem es von ihm abhängt, ob es sie gibt oder nicht. Für diese Deutungsmöglichkeit spricht, dass das üblicherweise mit ›Dinge‹ übersetzte griechische Wort chrēmata einen sehr weltlichen Sinn hat: Zwar kann es sich, wie pragmata, in unbestimmter Weise auf ›Dinge‹ im allgemeinen beziehen. 44 Aber das alltägliche Wörtlich lautet die Stelle: »Wahr (alēthēs) also für mich (emoi) ist meine Wahrnehmung (hē emēs aisthēsis), denn sie ist immer die meines Seins (tēs emēs ousias). Ich also bin der Richter (kritēs), nach dem Protagoras, des für mich seienden, wie/dass es ist (tōn te ontōn emoi hōs esti), und des (für mich) nicht seienden, wie/dass es nicht ist (tōn mē ontōn te emoi hōs ouk estin).« 44 Sextus erläutert chrēmata eigens als pragmata (DK 80 A14 [216]). Das deutet an, dass die Ausdrücke zwar synonym verstanden werden konnten, aber nicht notwendig in jedem Fall bedeutungsgleich waren. 43

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Verständnis des Worts ist zunächst durch das semantische Feld des ›Gebrauchens‹ (chrēsthai) und ›Gebrauchs‹ (chreia) geprägt, und chrēmata bedeutet gewöhnlich ›Güter‹, ›Waren‹ oder ›Vermögen‹. Der Ausdruck könnte also durchaus einen spezifischen Klang haben, und in diesem Fall wäre es der von den Dingen des menschlichen Verkehrs. 45 Man darf dies als Hinweis nehmen, dass der homo-mensuraSatz nicht im Kontext einer spekulativen Theorie steht, die ein ontologisch verstandenes Sein oder Nichtsein thematisiert. Wenn es zutrifft, dass Protagoras einen Standpunkt der radikalen Immanenz bezieht, dann muss der Gedanke vom menschlichen Maß im Hinblick auf solche Angelegenheiten erläutert werden, die in der Lebenspraxis von Belang und möglicherweise Gegenstand von Konflikten sind. Der Mensch kann nur das ›Maß‹ all derjenigen ›Dinge‹ sein, mit denen er umgeht und über die er sich streitet. Es geht dann nicht um Seinserkenntnis, sondern um die richtige Auffassung des Naheliegenden. Die Aussagekraft des homo-mensura-Satzes sollte sich am besten vor dem Hintergrund der Praxis der Antilogie erschließen, in der nach dem Logos gefragt wird, der den Weg zum praktisch Richtigen anzeigt. Wie eine solche Interpretation konkret aussehen könnte, zeichnet sich ab, wenn man zweierlei zugrunde legt: Erstens bezieht sich metron, wie Tazuko van Berkel geltend macht, auf eine Maßeinheit, nicht auf das Messende. 46 Zweitens sind es im gewöhnlichen Verständnis Quantitäten oder Intensitäten, die gemessen werden, nicht aber die ›Existenz‹ von Gegenständen. Der homo-mensura-Satz drückt dann aus, dass der Mensch selbst am Ende die Vergleichsgrundlage für die Bestimmung eines graduierbaren ›Seins‹ der Dinge des menschlichen Umgangs ist. Man könnte diesbezüglich auch von einem prädikativen Sein sprechen, das hōs estin wäre in diesem Fall mit ›wie sie sind‹ zu übersetzen. 47 Genauer wäre eine lebenspraktiEine ökonomische Bedeutung von chrēmata als ›Vermögen‹ oder ›Güter‹ wird im Griechischen nicht zuletzt durch metron nahegelegt: vgl. die Diskussion bei Seaford, Money and the early Greek mind, 283–291. 46 Vgl. van Berkel, »Made to Measure«. Es ist also eine Umdeutung, wenn Platon ›Maß‹ mit ›Richter‹ (kritēs, Tht. 160c) gleichsetzt; dadurch wird unter der Hand aus der Maßeinheit das Messende oder Urteilende. Neben der ökonomischen Maßeinheit bezog sich metron auf das Versmaß, wie z. B. aus Aristophanes’ Wolken hervorgeht (Neph. 638–643). 47 Zu dieser Deutung vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 86. 45

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sche Qualität angesprochen: Nicht dass etwas ›der Fall ist‹, sondern was es in praktischer Hinsicht ist oder was etwas wert ist – dafür liefert der Mensch das Maß. Im Feld der Ökonomie ist dieser Gedanke leicht zu plausibilisieren: Etwas ist nur dadurch ein Wert, dass es eine bestimmte Rolle in unserem Leben spielt und ihm Wert beigemessen wird. 48 Auf diese Weise könnte der Mensch generell die Bewertungskriterien liefern, wo bestimmt werden muss, was etwas in lebenspraktischer Hinsicht ist oder nicht ist. Er wäre dann, anders gesagt, der Maßstab des Brauchbaren oder Guten. Diese Lesart gewinnt nun weiter an Plausibilität, wenn wir uns zurückerinnern an die Schrift ›Von der alten Medizin‹. Wie erörtert, macht der Autor geltend, dass es die ›Wahrnehmung des Körpers‹ (aisthēsis tou sōmatos) ist, an der sich entscheidet, ob ein Heilverfahren etwas taugt. Mit Blick auf Protagoras ist herauszuheben, dass die aisthēsis dabei ganz ausdrücklich als das ›Maß‹ medizinischer Erkenntnis eingeführt wird: »Man muss ein Maß (metron) suchen«, so heißt es dort, man wird aber »kein anderes Maß finden«, um »Genauigkeit« (akribes) zu erreichen, als die »Wahrnehmung des Körpers« (Vet. IX 3). Die Heilkunst muss auf die Basis von Kriterien gestellt werden, die im Menschen liegen, und sich, so könnte man den Gedanken verstehen, an einer letztlich sinnlichen Unterscheidung von Gesundheit oder Krankheit, Kräftigung oder Schwächung, Linderung oder Erschwerung orientieren. Wir nehmen wahr, was besser ist. Protagoras’ Redelehre scheint dies auf das Feld der ethischen Erkenntnis zu übertragen: Dass das Maß ein menschliches zu sein hat, bedeutet in diesem Fall, dass die Fragen des Guten und Richtigen entlang von wahrnehmbaren Auswirkungen auf Charaktere und Lebensführungen entschieden werden müssen, nicht aufgrund von spekulativen Prinzipien. Diese Lektüre verträgt sich gut mit der Weise, wie die protagoreische Position in Platons Theaitetos erläutert wird: Für Sokrates bedeutet der Satz des Protagoras, dass ›Erkenntnis‹ (epistēmē) nichts anderes ist als ›Wahrnehmung‹ (aisthēsis); nur sei die Ausdrucksweise eine andere (Tht. 151e f.). Dass der Mensch das »Maß von allem« (pantōn metron) ist, so drückt Sokrates es auch aus, bedeutet,

48 Aristoteles spricht später davon, dass das Geld »alles misst« (panta metrei), und dass in der Ökonomie eigentlich alles »an einem gemessen wird (metreisthai)«, nämlich am »Nutzen« (chreia, NE 1133a).

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dass er das Maß »des Hellen, des Schweren und des Leichten« ist, und dass es nichts gibt, wo es nicht so zugeht (Tht. 178b). Erkenntnisfragen sind demzufolge immer von der Art, ob etwas warm ist oder kalt, schwarz oder weiß, bitter oder süß. Das prädikative Sosein unmittelbar aufgefasster Phänomene liefert das Paradigma von Erkenntnis überhaupt. Wie der Mensch die Grundlage für sinnliches ›Sein oder Nichtsein‹ ist, so muss es auch in allen anderen Bereichen sein, wo von ›Wissen‹ oder ›Erkenntnis‹ (epistēmē) die Rede ist. Der Einwand, dass es der protagoreischen Position an unabhängigen Kriterien fehlt, ist seit je eine Kritik dieses sinnlichen Begriffs von Erkenntnis. Protagoras traut der aisthēsis mehr zu als Sokrates und mit ihm der Hauptstrom der philosophischen Tradition in Europa. Dabei versteht man die Auseinandersetzung falsch, wenn man sie als Streit um einen formellen Erkenntnisbegriff interpretiert, der dann sekundär auf das Feld der Ethik angewendet wird. Aus Protagoras’ Sicht wäre die Frage nach Erkenntnis und die Frage nach dem praktisch Guten ein- und dieselbe Frage gewesen; und auch für Sokrates ist ja vorausgesetzt, dass Erkenntnis am Ende ›Tugend‹ ist. Unter diesem Gesichtspunkt läuft der homo-mensura-Satz auf die Behauptung hinaus, dass man die Bestimmung des Gut- oder Schlechtseins der Dinge analog zu den affektiven Unterscheidungen von Wahrnehmungsurteilen auslegen sollte. Seine Pointe liegt darin, dass sich auf dem Feld der konkreten pragmata keine ›Erkenntnis‹ (epistēmē) oder ›Genauigkeit‹ (akribeia) erreichen lässt, die das sinnliche Auffassen übertrifft. Sollte dies Protagoras’ Position sein, so hat er damit jedoch nicht gemeint, dass die jeweils gegebene Sinnlichkeit immer schon den richtigen Weg weist. Als Bildungspraxis muss es ihm gerade darauf angekommen sein, für die richtige Verfassung der Wahrnehmung zu sorgen. Die diskursive Förderung des Logos, der zur ›Tugend‹ führt, wäre in diesem Fall eine Arbeit an der Wahrnehmung – ein Prozess, in dessen Verlauf das individuelle Auffassen verändert wird. Dies passt zu dem Hinweis, dass die ›Übung‹ (askēsis) in dieser Redelehre eine zentrale Rolle gespielt hat (DK 80 B3); und es spiegelt sich auch im Ideal des Arztes, der die ›unzähligen‹ (myria) Einzelaspekte von Problemsituationen zu sehen vermag. Auf andere Weise deutet es sich in der schon erwähnten Erklärung des Sokrates an, dass die sophistische paideia mit den Mitteln der Rede einen ›Umschlag‹ (metabolē) herbeiführe wie die Heilkunst einen Umschlag von Krankheit zu Gesundheit: Die Veränderung liegt dabei in einer Gesundung des 110 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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Geschmackssinns. Der gesunde Zustand ist einer, in dem das Essen nicht länger bitter erscheint (Tht. 167a). Das Modell der Medizin legt also nahe, dass die protagoreischen Redeübungen auf eine Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit zielten. Was hinsichtlich der Frage nach den Kriterien bis heute so viel Verwirrung stiftet, dürfte die Tatsache sein, dass Protagoras die Orientierungspunkte dieser Bildungspraxis in dieser selbst gesucht haben muss. Er muss daran gedacht haben, dass sich das Gutsein letztlich in der aisthēsis offenbart. Es wäre eine schwache Verteidigung dieser Auffassung, ins Feld zu führen, dass die Gleichsetzung des Guten mit dem Schönen (›Kalokagathia‹) im frühen Griechenland äußerst verbreitet war. Näher kommt man der Sache, wenn man sich vor Augen führt, wie die protagoreische Alternative zur prinzipiengestützten technē in der Schrift De vetere medicina erklärt wird: Man muss nicht zuerst ein allgemeines Wissen von der Natur des Menschen haben, um dann zur Heilkunst übergehen zu können, sondern findet dieses Wissen umgekehrt in der »Heilkunst selbst« (autē hē iētrikē), und zwar indem man sie umfassend praktiziert (Vet. XX 2). Das Wissen, ›was der Mensch ist‹ (ti estin anthrōpos), ist ein Detailwissen davon, was der Mensch ›im Verhältnis zu‹ (pros) etwas ist, das heißt zu den unendlich vielen Kleinigkeiten, mit denen er in Wechselwirkung steht (Vet. XX 3). Es ist ein von alters her gewonnenes Erfahrungswissen davon, was genau uns gut tut und was nicht. So hätte Protagoras seine Redelehre ebenfalls erklären können: Die Unterscheidung zwischen dem wirklich vorzugswürdigen und dem bloß starken logos könnte man als Aufgabe begreifen, die durch eine Arbeit an den Details und eine Schulung der Wahrnehmung gelöst werden muss. Diskursive Übungen können ein Tugendwissen dadurch erbringen, dass sie Erfahrungen mit dem Sinngeschehen des Logos erzeugen: Sie bringen die vielen Weisen, wie logoi sich zueinander verhalten, und die ›tausend‹ Aspekte, die dabei im Spiel sind, in die Aufmerksamkeit. Was gut und richtig ist, manifestiert sich ästhetisch, wenn jemand sehen gelernt hat und sich in Diskursen auskennt. Wer dies für einen haltlosen Relativismus hält, übersieht, dass man durchaus in einer Praxis selbst Halt finden kann. An welchen Aspekten Protagoras dieses sinnliche Erfahrungswissen im Umgang mit Diskursen im Einzelnen festgemacht hätte – und wie er seinen Anspruch konkret eingelöst hat –, lässt sich heute kaum noch beantworten. Deutlich ist aber, wie falsch die Prämisse ist, dass nur Kampf übrigbleiben kann, wo ›unabhängige‹ Maßstäbe feh111 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

len: Gäbe es keine praxisinternen Maßstäbe, so gäbe es auch kein kulturelles Wissen und keine Praktiken der Kultivierung, durch die dieses Wissen weiter verfeinert wird. Die Kultur der Rede ist eine systematische Alternative zur prinzipienbasierten Redelehre oder ›Logik‹. Es ist eine fundamentale Unterschätzung menschlichen Praxisverstehens, diese Option zu übersehen.

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Herakles am Scheideweg: Der Widerstreit der Lebensweisen bei Prodikos

Das Bisherige kann an einem weiteren Zeugnis zum sophistischen Denken vertieft werden: der Geschichte von ›Herakles am Scheideweg‹, die Prodikos von Keos vorgetragen haben soll. Xenophon, der sie in seinen Memorabilia referiert, indem er sie Sokrates erzählen lässt, weist selbst darauf hin, dass seine Version keine wortgetreue Wiedergabe ist (Mem. II 1.34). Dennoch ist das Textstück ohne Frage die wertvollste Quelle zu einem der einflussreichsten sophistischen Lehrer. 49 Wie sich zeigt, kann eine genauere Lektüre das Bild des sophistischen Kultivierungsprogramms weiter schärfen. Prodikos war, will man der antiken Auskunft trauen, ein Schüler des Protagoras (DK 84 A1). Sicher ist, dass er eine Generation jünger und damit ein Altersgenosse von Sokrates und Demokrit war. Umso mehr überrascht es vielleicht, dass Sokrates bei Platon gelegentlich so spricht, als sei er ein Schüler des Prodikos gewesen (Charm. 163d; Prot. 341a; Men. 9d). Dies dürfte aber einen wahren Kern haben: Nach allem, was man weiß, hat sich Prodikos nicht nur mit Fragen der Kosmologie, Religion und Ethik befasst, sondern auch die sprachtheoretische Arbeit des Protagoras fortgeführt, indem er ein Verfahren der ›Richtigkeit der Benennungen‹ (onomatōn orthotēs) entZur äußerst schmalen Basis der überlieferten Fragmente vgl. die neuere Edition von Robert Mayhew (Hrsg.), Prodicus the Sophist; zur Einordnung der HeraklesErzählung ebd., 203 f. und Sansone, »Heracles at the Y«. Sansone vertritt die optimistische These, dass die Passage bei Xenophon weitgehend ein Originaltext des Prodikos ist. Dafür spreche u. a. die allgemeine Bekanntheit des Vortrags und die präzise Ausarbeitung, etwa des Sprachgebrauchs der verschiedenen Figuren. Einspruch gegen Sansone erheben Gray, »The linguistic philosophies of Prodicus in Xenophon’s ›Choice of Heracles‹« und Wolfsdorf, »Prodicus on the Correctness of Names«. Sansone verteidigt seinen Fall aber recht überzeugend: »Xenophon and Prodicus’ Choice of Heracles«. Für die hier vorliegenden Zwecke kann diese Frage natürlich unbeantwortet bleiben.

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wickelt hat. Bei Platon wird in einer parodistischen Passage etwa auf seine subtilen semantischen Grenzziehungen zwischen Verben des Streitens angespielt (amphisbētein, erizein, Prot. 337a–c). 50 Andere berichten über feine Unterscheidungen zwischen terpsis (›Vergnügen‹, ›Genuss‹), chara (›Freude‹) und euphrosynē (›Frohsinn‹, ›Freude‹).51 Solche Untersuchungen darf man als Vorläufer dessen ansehen, was später bei Platon dihairēsis heißt. 52 Ob man deshalb von einer Schülerschaft des Sokrates sprechen will, kann hier offen bleiben. Fest steht, dass die sokratische Dialektik wichtige Impulse aus der Lehre der onomatōn orthotēs zieht. Berührungspunkte gibt es auch in der Ethik. Es ist keine Äußerlichkeit, dass die Herakles-Geschichte bei Xenophon von Sokrates vorgetragen wird. Dieser zieht sie heran, um seine eigenen Auffassungen der Tugend gegenüber seinem Gefährten Aristippos zu untermauern (Mem. II 1.1–20). Spezifisch greift Sokrates auf Prodikos zurück, um geltend zu machen, dass der Weg zum Gutsein immer beschwerlich ist. Dass er Prodikos dabei in eine Reihe mit Hesiod und Epicharm stellt (Mem. II 1.20), erlaubt Aufschlüsse darüber, wie die Ethik des Prodikos einzuordnen ist: An der von Sokrates zitierten Stelle aus Werke und Tage (Erg. 286–291) heißt es u. a., dass die Götter »vor die Tugend (aretē) den Schweiß gesetzt« haben. Diese Sentenz bringt in kürzester Form zum Ausdruck, für welche Art der Sittlichkeit der Name Hesiod steht: Ausgangspunkt von Werke und Tage ist die Mahnung, dass Stadt und Land nur dort gedeihen können, wo Recht und Rechtschaffenheit (dikē) statt Hochmut (hybris) herrschen (Erg. 224–246). Was damit gemeint ist, schlägt sich in dem für das Lehrgedicht prägenden Kontrast zwischen tüchtigem Fleiß und Liederlichkeit, zwischen Arbeit und Nichtstun, Sorgfalt und Nachlässigkeit deutlich nieder. 53 Ein Leben des weitsichtigen Sorgetragens (meVgl. auch Euth. 277e. – Mayhew versteht Prodikos so, dass er traditionelle Kosmogonien durch Kausalerklärungen und traditionelle Theogonien durch eine Psychologie des religiösen Glaubens ersetzen möchte; seine Sprachanalyse sei entsprechend ein Versuch, die eigentliche Referenz der Rede über die Götter zu bestimmen: vgl. Prodicus the Sophist, xiii–xxiii. 51 Vgl. dazu ausführlich Wolfsdorf, »Prodicus on the Correctness of Names«. Auch hier ergibt sich am Ende, dass es bei der Richtigkeit der Namen nicht um bloße Lexikographie, sondern um Begriffsbestimmung geht. 52 Zu Verbindungslinien und Differenzen zwischen Prodikos’ Lehre und der dihairēsis vgl. ausführlich Corey, »Prodicus«, 15–26. 53 Vgl. die Dichotomien von ergon auf der einen und aergiē oder amboliergos auf der anderen Seite (Erg. 305–310, 412, 497) oder zwischen euthymosynē und kakothymo50

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letē, Erg. 315, 379, 411, 456) steht dem Leben der kurzsichtigen Prokrastination scharf gegenüber. Das hesiodische Arbeitsethos steht für einen langwierigen, mühevollen Prozess der Haushaltung, bei dem viele konkrete Kleinigkeiten, von denen das Lehrgedicht ausführlich handelt, über Gelingen und Misslingen entscheiden und bei dem Gedeih und Verderb vom rechten Maß (metron, Erg. 719) und richtigen Timing (hōraios, kairos, Erg. 641, 693) abhängen. Eine Lektüre von ›Herakles am Scheideweg‹ macht sichtbar, dass Sokrates Prodikos mit Recht in diese Traditionslinie einordnet. Die Grundlinien der Geschichte sind schnell erzählt: Als Herakles alt genug ist, sein »eigener Herr« (autokratōr) zu werden, sucht er sich einen stillen Ort, um über seine Zukunft nachzudenken. In dieser Situation erscheinen ihm zwei Göttinnen namens Aretē (›Gutsein‹) und Kakia (›Schlechtigkeit‹), welche versuchen, Herakles für ihre jeweiligen Lebensweisen zu gewinnen. Es kommt zu einer Antilogie, bei der für Herakles auf dem Spiel steht, ob er »in seinem Leben« (epi ton bion) den »Weg der Tugend« (hē di’ aretēs hodos) oder den »des Lasters« (hē dia kakias) einschlagen wird (DK 84 B2 [21]). Beide Göttinnen legen die Vorteile der jeweils eigenen und die Nachteile der gegnerischen Lebensweise dar, wobei es, wie die Metaphorik des ›Weges‹ (hodos) sinnfällig zum Ausdruck bringt, um die Frage geht, welcher Stimme Herakles praktisch zu folgen bereit ist. Obwohl Prodikos uns nicht eigens erzählt, wie sich Herakles schließlich entscheidet, so lässt die gesamte Darstellung doch nicht die geringsten Zweifel daran aufkommen, dass der Weg der aretē die bessere Wahl ist. Es fällt auf, dass sich die Szene von denen der öffentlichen Antilogie darin unterscheidet, dass sie nicht nur unmittelbar anstehende Handlungen, sondern das Ganze eines Lebens betrifft. Einer antiken Inhaltsangabe zufolge rufen die Göttinnen den Herakles zu ihren »Lebensgewohnheiten« (epi ta ēthē, DK 84 B1). Diese treten in der verallgemeinerten Form eines Handlungstypus auf, als Gut- oder Schlechtsein überhaupt. Die Aufmerksamkeit geht damit vom jeweils richtigen Logos auf das staatsbürgerliche Gute im umfassenden Sinn über, auf die aretē als solche. Diese Generalisierung läuft bei Prodikos jedoch nicht auf depersonalisierende Abstraktion hinaus, sondern auf ein idealtypisch verkörpertes Bildungsideal.

synē (Erg. 470 f.). In der Episode von Prometheus und Epimetheus deutet sich dieser Widerstreit von ›Vorausbedenken‹ und ›Hinterherbedenken‹ bereits an (Erg. 70–105).

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Herakles am Scheideweg: Der Widerstreit der Lebensweisen bei Prodikos

Der Bildungsgedanke ist nicht nur für die Rahmenhandlung der Erzählung zentral, sondern auch in dieser selbst präsent: Dass Herakles im Begriff ist, wie es einleitend heißt, vom »Knabenalter« (ek paidōn) zum »Jugendalter« (eis hēbēn) überzugehen, beinhaltet, dass er einen elementaren Erziehungsprozess nun hinter sich hat. 54 Wenn er an diesem Punkt die »Ruhe« (hēsychia) außerhalb der Stadt sucht, um für sich zu klären, welchen Lebensweg er gehen soll (DK 84 B2 [21]), so markiert dies den Abschluss einer Phase der angeleiteten Bildung und den Beginn selbstständigen Handelns. Bereits diese Grundsituation lässt durchblicken, dass die Frage ›Tugend oder Laster?‹ keine wirklich offene Frage ist: Zwar wird Herakles als ›zweifelnd‹ oder ›ratlos‹ (aporōn) porträtiert, aber die Anlage der Erzählung verrät doch, dass es für ihn eher darum gehen wird, die bisherige Erziehung zur Tugend zu vollenden, indem er sich von ihr löst und sittliche Eigenständigkeit gewinnt. Es ist von zentraler Bedeutung, dass sich Herakles selbst die Frage stellt, ob er den Weg des Guten oder den des Schlechten gehen will, und damit den Reflexionsprozess in Gang setzt: Wenn sich vor seinen Augen ein göttliches Rededuell abspielt, so wird damit offenbar eine innere Gedankenbewegung gegenwärtig gemacht. 55 Mit Blick auf eine Bildungspraxis des protagoreischen Typs könnte man dies so deuten, dass Herakles bereits einige Vertrautheit mit der Praxis des Gegeneinanderredens mitbringt. Indem er es eingeübt und verinnerlicht hat, hat er eine Fähigkeit zum inneren Dialog erworben. Nur dadurch ist er imstande, eine Kontroverse zwischen zwei so radikal gegensätzlichen Alternativen in Gedanken bis ins Detail nachzuvollziehen. Herakles versteht sich auf die Kunst, die ›zwei logoi‹ zu sehen, die man für ›jede Sache‹ geltend machen kann. Und wenn dabei auch die Schlechtigkeit zu Wort kommt, so läuft dies am Ende nur darauf hinaus, die Sache der Tugend zu stärken. Später wird auf diesen Erziehungsprozess noch angespielt, wenn die Aretē erwähnt, sie habe die »Natur« (physis) des Herakles »in seiner Erziehung genau betrachtet« (en tē paideia katamathousa, DK 84 B2 [27]). Die Tugend war also bereits in der Nähe, als Herakles heranwuchs. 55 Die Darstellung von Denkprozessen als göttlicher Einflüsterung ist eine bis zu Homer zurückreichende Tradition. Snell schreibt in Die Entdeckung des Geistes, 28: »Vor allem echte, eigene Entscheidungen des Menschen kennt Homer noch nicht, auch in den Überlegungsszenen spielt deshalb das Eingreifen der Götter solche Rolle.« Im vorliegenden Fall würde sich dies gut mit der These vertragen, dass Prodikos religiösen Glauben psychologisch erklären wollte. Allerdings befindet man sich hier insgesamt auf eher dünnem Eis, wie Corey in »Prodicus«, 10–15, deutlich macht. 54

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Die Option der Kultivierung: Sophistische Bildungspraxis

Der konkrete Gang der Antilogie ist dadurch geprägt, dass die beiden Kontrahentinnen ihre jeweiligen Positionen sowohl in ihrem Reden als auch in ihrem Handeln verkörpern. Schon im Auftreten der beiden Göttinnen wird jeweils das Ethos sichtbar, für das Herakles gewonnen werden soll. Noch bevor das erste Wort gesprochen ist, liegen die Lebenshaltungen offen vor Augen: Die ›Tugend‹ gefällt durch eine würdevolle Gestalt, Reinheit, Schamhaftigkeit und Besonnheit; die Schlechtigkeit fällt durch Kosmetik, Falschheit und Eitelkeit auf (DK 84 B2 [22]). In der Erscheinung und im nichtsprachlichen Habitus zeichnet sich so bereits ab, was die Göttinnen verteidigen werden: auf der einen Seite ein Leben der Tugend, das durch Fleiß, redliche Bemühung und die daraus resultierende Ehre geprägt ist, und auf der anderen Seite ein Leben, das auf Lust und Liederlichkeit zielt. Diese detaillierte Charakterzeichnung ist kein literarisches Beiwerk: Sofern Prodikos erzieherische Absichten verfolgt, werden solche dichten Beschreibungen auch den Sinn haben, die Aufmerksamkeit auf das gesamte Verhaltensmuster von Reden und Handeln zu lenken, das Lebensweisen prägt. Die Lektion könnte sein, dass man auf das nichtsprachliche Verhalten zu achten hat, dass man einen Logos nicht versteht, wenn man die Person, die ihn vertritt, nicht sieht. Die Rede ist nicht auf das Sprachliche im engen Sinn begrenzt, im diskursiven Geschehen ist vielmehr auch Beobachtungsgabe gefragt. Entsprechend müssen die logoi konkret verkörpert werden: Sobald vom zugehörigen wahrnehmbaren Habitus des Sprechers abstrahiert wird, sind sie gar nichts mehr. Wie sich herausstellt, kommt es dabei nicht zuletzt darauf an, zwischen dem wohlwollenden und dem eigennützigen Sprechen zu unterscheiden. Darin manifestiert sich die Gegensätzlichkeit der Lebenshaltungen im diskursiven Verhalten von Anfang an deutlich: Es ist kein Zufall, dass die Kakia voranprescht, um zuerst auf Herakles einzureden; in Antilogien ergreifen, wie gesehen, die dreisteren Stimmen zuerst das Wort: »Ich sehe, Herakles, dass du zweifelst (aporounta), welchen Weg im Leben du einschlagen sollst.« (DK 84 B2 [23]) Die Schlechtigkeit will den scheinbar schwachen Moment ausnutzen. Ihr Angriffspunkt ist, was sie als ein Schwanken des Herakles wahrnimmt. Dies unterstreicht nicht nur den situativ-taktischen Charakter des folgenden Plädoyers, sondern deutet auch darauf hin, dass Kakia selbst nichts Gutes im Sinn hat: Wenn sie darlegt, was Herakles erwartet, wenn er ihrem Beispiel folgt – ein Leben des unbegrenzten Genusses und der instantanen körperlichen Lust, der Sorg116 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Herakles am Scheideweg: Der Widerstreit der Lebensweisen bei Prodikos

losigkeit und Bequemlichkeit (DK 84 B2 [23–25]) –, ist Herakles damit gleichzeitig aufgefordert, sich die Göttin zur »Freundin« zu machen (philē, DK 84 B2 [23]) und mit ihr »zusammenzusein« (syneinai, DK 84 B2 [25]). Es besteht kein Zweifel, dass die personifizierte Lasterhaftigkeit aus der Bekanntschaft mit Herakles selbst Lustgewinn ziehen will. Die Widerrede der Aretē repräsentiert, wie in Antilogien so häufig, die Stimme der Mäßigung und Überlegtheit, die sich gegen das Impulsive und Ungeduldige wendet. Kennzeichnend für sie ist von Anfang an eine Umsicht, die sich vom situativ Vorteilhaften zu distanzieren vermag: Wo die Schlechtigkeit Herakles mit Blick auf seine momentane Lage ansprach, ist der Ausgangspunkt der Aretē die Vertrautheit mit seinen »Eltern« und seiner »Veranlagung« (physis, DK 84 B2 [27]); hier findet sich auch der Hinweis, dass sie die Fortschritte des Herakles bereits seit Längerem verfolgt. Dieser weitsichtige Blick auf das Ganze des Lebens ist prägend, wenn die Tugendgöttin nun in aller ihrer Vertrauenswürdigkeit (met’ alētheias) darlegt, »wie die Götter die Dinge arrangiert haben« (DK 84 B2 [27]). Im Zentrum steht das, was für Sokrates die Lektion der ganzen Geschichte ist: dass alles Wertvolle nur unter Mühen erreichbar ist. Die Aretē malt Herakles eingehend aus, wie steinig der Weg ist, den sie vorschlägt: Es ist ein Weg der »Arbeit« (ponos) und »Sorge« (epimeleia). Wer ihn geht, hat »zu dienen« (therapeuteon), »Gutes zu tun« (euergetēteon), »sich nützlich zu machen« (ōphelēteon), »zu lernen« (mathēteon), »zu üben« (askēteon) und »zu trainieren« (gymnasteon, DK 84 B2 [28]). Dass Prodikos in der Tradition Hesiods steht, ist in diesen Passagen bis in die Wortwahl hinein deutlich. Allein das frühzeitige Sich-Kümmern und die geduldige Sorgfalt sichert das Glück. Das gelingt aber nur, wo der Sinn fürs große Ganze des Kosmos und des Lebens leitend ist und nicht nur kurzsichtige Neigungen die Regie führen. Für die Kakia genügt die Beschwerlichkeit des Wegs der Tugend bereits, um ihn als Lebensentwurf zu disqualifizieren. Sie unterbricht die Aretē, indem sie Herakles darauf aufmerksam macht, wie »lang« (makra) der Weg zur »Freude« (euphrosynē) ist, den die Tugend vorsieht, und wie »kurz« (bracheia) der Weg zum »Glück« (eudaimonia), den sie selbst weist (DK 84 B2 [29]). 56 Dies bleibt ihr einziges Die kurze Passage liefert zwei schöne Beispiele für die Einheit von Lebensform und Redeform: Indem die Kakia moniert, dass der Weg der Tugend ›lang‹, ihr eigener Weg hingegen ›kurz‹ sei, geht sie gleichzeitig von der langen, monologischen zur kurzen,

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Argument. Der Rest der Erzählung gehört der Aretē, die die Vorzüge ihrer Lebensweise nun ausführlich veranschaulicht. Ihre Replik folgt den Konventionen der Antilogie, indem sie erstens betont, wie niedrig das Leben der Schlechtigkeit ist: Kakia kenne nicht einmal das Angenehme, weil sie nicht abwarten kann, bis ein echtes Bedürfnis (epithymia) eintritt, sei es in der Ernährung oder in Liebesdingen (DK 84 B2 [30]). Den wirklichen Genuss, der aus dem Lob der Anderen und der Schönheit der eigenen guten Werke (ergon kalon) entspringt, kennt sie schon gar nicht. Allein dies macht die Schlechtigkeit als Leiterin für das Leben unglaubwürdig: 57 Wer sich auf sie einlässt, fällt auf das Versprechen der schnellen Lust herein und begibt sich auf einen Weg der Kurzsichtigkeit, des ›HinterherBedenkens‹, welcher sich erst als das zeigt, was er ist, wenn es schon zu spät ist, wenn nämlich nur Scham und Schande und die Mühen des Alters übrig bleiben (DK 84 B2 [31]). Abschließend hebt die Aretē in einer langen Rede hervor, warum allein ihre Lebensweise die eigentlich gute und glückliche ist: Sie ist den Göttern und guten Menschen nah, und sie ist die Voraussetzung für alle guten Werke und Geschäfte in Kunst und Haushalt, weswegen sie überall geehrt wird (DK 84 B2 [32]). Sie bringt ihren Anhängern Genuss (hēdeia), weil sie abwarten können und das Notwendige (ta deonta) nicht vernachlässigen. Und sie bringt ihnen Lob und Ehre, auch über den Tod hinaus. »Wenn du, Herakles, Sohn guter Eltern, solche Mühen auf dich nimmst, kannst du das größte Glück (eudaimonia) gewinnen.« (DK 84 B2 [33]) Die Göttin des Lasters hat dem nichts mehr entgegenzusetzen. So bleiben nicht die geringsten Zweifel daran, dass sie im Streit der Reden die unattraktivere Option verkörpert. Der Fall der Aretē, die aufrichtig um Herakles’ Glück bemüht ist, stellt sich um vieles überzeugender dar als der Fall der Kakia, die ihn nur benutzen will. Und lässt man gelten, dass die Antilogie eigentlich Herakles’ inneren Dialog repräsentiert, so darf man sagen, dass sich dieser die Vorzugswürausfragenden Rede über. Außerdem deutet sich ihre Falschheit darin an, dass sie gegen die Regeln der onomatōn orthotēs verstößt, indem sie »Freude« (euphrosynē) und »Glück« (eudaimonia) gleichsetzt. Die Aretē ist deutlich differenzierter, wenn sie das ›Gute‹ (agathon) und das ›Angenehme‹ (hēdy) voneinander zu trennen vermag (DK 84 B2 [30]). Zu dieser Dimension des Prodikos-Texts vgl. Sansone, »Heracles at the Y«, 135 f. 57 Vgl. DK 84 B2 (31): »Wer sollte dir wohl vertrauen (tis pisteuseie), wenn du etwas sagst?«

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Das Kultivierungsprogramm der ›großen Rede‹: Platons Protagoras

digkeit des tugendhaften Daseins vollkommen vergegenwärtigt hat. Die Ablösung am Ende der sittlichen Elementarerziehung verläuft für ihn erfolgreich: Er beginnt die Lebensphase der Selbstständigkeit, indem er sich in einem Akt der sittlichen Stärkung noch einmal in größter Klarheit vor Augen führt, dass der Weg zum Gutsein voller Mühen ist, aber genau diese Mühen am Ende das Glück sichern, während der unmittelbar verlockende Weg auf lange Sicht ins Unglück führt. Den ›schwachen logos stärker machen‹, bedeutet hier, das Sittliche gegenüber dem Unsittlichen zu stärken. Dafür muss man, wie Sokrates für Aristippos resümiert, an die Dinge »in der kommenden Zeit des Lebens (eis ton mellonta chronon tou biou) denken« (DK 84 B2 [34]). Der auf den ersten Blick dominante (stärkere) logos erweist sich nach sorgfältiger Abwägung als schlechtere Wahl, und der auf den ersten Blick unattraktive (schwache) logos als der bessere. 58

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Das Kultivierungsprogramm der ›großen Rede‹ : Platons Protagoras

Die Auseinandersetzungen mit Protagoras und Prodikos lassen ein Kultivierungsprogramm hervortreten, dessen Anfänge bis zu Hesiod zurückgehen und dessen Ausläufer, wie sich zeigen wird, bis in die hellenistische Zeit reichen. Dabei präsentiert Prodikos, wie gesehen, eine Szene der Rede und Gegenrede, die nicht auf eine situative Entscheidung, sondern auf die Wahl der besten Lebensweise zielt. Das Dass Prodikos nicht mehr ausdrücklich berichtet, wie sich Herakles schließlich entscheidet, hat dennoch dazu geführt, dass diese Frage in der Forschung eigens diskutiert wird: für einen Gesamteindruck vgl. Mayhew (Hrsg.), Prodicus the Sophist, 204 f. Auch wenn die meisten Interpreten zu dem Schluss kommen, dass Prodikos eine Verteidigung der Tugend vorlegen wollte, muss diese Diskussion doch schon als solche erstaunen: Es könnte kaum eindeutiger sein, dass sich die Aretē gegenüber der Kakia durchsetzt; und die antiken Berichte, dass Herakles der Tugend zugeneigt habe (DK 84 B1), geben nur wieder, was man bei Prodikos lesen kann. Trotzdem legt auch Mayhew selbst Wert darauf, dass Herakles vor einer echten Alternative steht: »the speech does not only contain a rational defense of the life of virtue, but […] it also implies that this is not the sole rational choice – and herein lies its sophistic character.« (Prodicus the Sophist, xix) Dass bei ›Sophisten‹ wie Prodikos irgendwo ein Haken an der Sache sein muss, bleibt aber nüchtern betrachtet die einzige Grundlage dieses Urteils. Wie eine Argumentation aussehen könnte, die den Weg der Tugend nicht nur als attraktiver, sondern als rational alternativlos erkennen lässt, behält Mayhew außerdem für sich.

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Problem des praktisch Richtigen wird damit generalisiert: Aufgeworfen wird die allgemeine Frage danach, welcher Charaktertypus ins Glück und welche Lebensweise ins Unglück führt. Eine solche Meditation hätte kaum darauf vorbereiten können, im rauen Klima des politischen Tagesgeschäfts zu bestehen. Xenophons Bericht belegt vielmehr, dass mit der sophistischen Kultur der Rede ein Übergang von der politischen Antilogie zur allgemeinen Ethik erfolgt. Das Interesse gilt nicht mehr dem situationsgemäß Guten oder praktisch Nützlichen. Es geht jetzt um das praktisch Richtige im situationsübergreifenden Sinn und um eine sittliche Orientierung, die für die Gesamtheit des Lebens gültig ist. 59 Die platonische Deutungstradition scheint nahezulegen, dass allgemeine Ethik erst dort beginnt, wo man fragt, ›was‹ die Tugend ist. Der Schritt von der Politik zur Ethik liegt aus dieser Sicht darin, dass man anfängt, nach dem Begriff des Guten zu suchen, der dem Handeln eine gesicherte sittliche Grundlage bietet. Tugendwissen ist diesem Verständnis zufolge im Kern theoretisches Wissen, die Einsicht geht der Praxis voraus. Die protagoreische Redekultur macht aber darauf aufmerksam, dass das Problem des richtigen Lebens einen allgemeinen Sinn haben kann, ohne dass deswegen auch die Lösung im Allgemeinen gesucht wird: Auf die Frage nach dem Guten kann der Verweis auf die unzähligen Kleinigkeiten der konkreten ethischen Praxis eine sinnvolle Antwort sein. Das Beispiel Prodikos führt sogar vor Augen, dass der Absicht einer Stärkung der vorzugswürdigen logoi durch eine Bildungspraxis bereits eine Generalisierung des ethischen Interesse vorausgeht: Sobald der Gegenstand der Mühen nicht mehr der jeweilige Logos, sondern das Selbst in seiner sittlichen Verfassung ist, ein Charaktertypus, treten bereits die Umrisse des Lebensganzen ins Blickfeld. Auf dem Spiel steht nicht mehr die BeEs lässt sich also nicht aufrechterhalten, dass ethische Fragen für das sophistische Bildungsprogramm nur situativen Sinn hatten. Diese Auffassung wird gleichwohl noch immer vertreten. Vgl. etwa Ursula Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 22 f.: Die »Frage, wie man leben soll«, werde in der Sophistik »eher punktuell gestellt […], indem man nach der in einer jeweiligen Situation vorteilhaftesten Handlung fragt. Die letzten Ziele der Person oder der Polis werden nicht genauer reflektiert. Es wird angenommen, dass man das Glück will und dass das Glück je nach Person und Stellung im Erfolg oder der Macht oder der Lust besteht. Die Frage ist dann, welches Mittel zum Ziel führt. Sofern es dabei meist um die Durchsetzung gegen andere, notfalls in unfairer Weise, geht, besteht das Können, das für das Gelingen des Lebens erforderlich ist, nicht in einem klar mitteilbaren Verfahren […].« Wolf identifiziert an dieser Stelle die Sophistik kurzerhand mit politischer Rhetorik.

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wältigung eines okkasionell anfallenden Problems, sondern die gesamte Sinnesart und damit das Glück als solches. Man ist hier eigentlich schon in die sokratische Frage verwickelt, was denn ›die Tugend‹ oder ›das Gerechte‹ sei. Nur liegt die Antwort eben nicht in begrifflichen Festschreibungen, sondern in einer unabschließbaren Praxis. Es wird sich später zeigen, dass dieser Gedanke noch bei Sokrates wirksam ist. Dass die graduelle Verfeinerung des Ethos durch die mühevolle Arbeit am Logos, die ihre Maßstäbe in sich selbst findet, eine mögliche Antwort auf die allgemeine Frage nach dem gelingenden Leben ist, macht verständlich, warum die protagoreische Ethik noch für Platon ein Konkurrenzprojekt ist. Wofür diese im 4. Jahrhundert stand, wird in der sogenannten ›großen Rede‹ greifbar, die die Figur des Protagoras im gleichnamigen Dialog hält (Prot. 320c-328d). Ein Blick auf diese Passage kann die Rekonstruktion der protagoreischen Bildungstradition daher abrunden. 60 Platons Protagoras tritt im Dialog an, die Lehrbarkeit der Tugend zu demonstrieren, und will dies in der Form einer ›Erzählung‹ tun (mythos, Prot. 320c). Er setzt mit der Prometheus-Mythologie ein und stellt damit, ähnlich wie Hesiod, die Motive der Weitsicht und Kurzsichtigkeit an den Anfang: Epimetheus – der ›Hinterherbedenker‹ – erhält von den Göttern den Auftrag, die Lebewesen des Kosmos mit besonderen Fähigkeiten auszustatten. Als er dabei versehentlich die Menschen grob vernachlässigt, muss Prometheus – der als ›Vorausbedenker‹ ohnehin besser für die Aufgabe geeignet gewesen wäre – nachbessern: Er schenkt den Menschen das Feuer und die Kunstfertigkeit (Prot. 321c–322a). Damit werden die Menschen überlebensfähig. Da es ihnen an politischem Können jedoch zunächst noch mangelt, gelingt es ihnen noch nicht recht, zusammenzuleben. Erst als Zeus sie zusätzlich mit ›Recht‹ (dikē) und ›Scham‹ (aidōs) versieht, werden sie fähig, Städte zu gründen (Prot. 322a–d). Der Mythos legt damit nahe, dass jeder Mensch im Prinzip zur Gerechtigkeit (dikaiosynē) und zum »übrigen bürgerlichen Gutsein« (hē allē politikē aretē, Prot. 323b) fähig und die Tugend mithin lehrbar ist.

60 Die Frage, inwieweit die ›große Rede‹ im Protagoras auf Originalmaterialien von Protagoras beruht, darf für die vorliegenden Zwecke offen bleiben. Als weitgehend authentisch stuft sie etwa Bernd Manuwald ein: vgl. ders., »Protagoras’ Myth in Plato’s Protagoras«. Hier ist aber nur von Interesse, welches Kultivierungsprogramm mit dem Namen Protagoras verbunden war.

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Und dass dies tatsächlich allgemein angenommen wird, sieht man dem platonischen Protagoras zufolge an der gewöhnlichen Praxis der Erziehung, die mit Lob und Tadel arbeitet, sowie an den Praktiken von Recht und Strafe. Maßgeblich ist also wiederum der Gedanke, dass eine Lehrpraxis im Bereich eines Kulturwissens nichts anderes ist als eine verfeinerte, vollkommenere Form des alltäglichen Wissens: Die ethische Erziehung baut im protagoreischen Verständnis auf bereits etablierte Bildungspraktiken auf. Protagoras erinnert in dieser Sache an das Auswendiglernen von Dichtungen, die nachahmenswerte Beispiele liefern, an die musikalische Erziehung und an gymnastische Übungen (Prot. 325e–326b). Die ethische Bildung findet ihr Modell an einem Unterricht, der darauf zielt, dass sich die »Seelen« der Schüler »die Zeitmaße« (rhythmous) und »die Harmonien« (harmonias) »zu eigen machen« (oikeiousthai); denn überall im menschlichen Dasein sind »richtiges Zeitmaß« (eurhythmia) und »Stimmigkeit« (euharmostia) von Bedeutung (Prot. 326b). Neben dem medizinischen deutet sich hier ein musikalisches Paradigma an – beide werden bei Gorgias wiederbegegnen. Zu nennen ist ferner der Hinweis auf den Schreibunterricht, auch wenn sich dieser nicht ausdrücklich auf ethische Bildung bezieht (Prot. 326d). Von einer Ethik, die auf einem einheitlichen Begriff von aretē beruht, unterscheidet sich ein solches Bildungsprogramm in vor allem zwei Hinsichten: Erstens ist diese Bildungspraxis graduell gedacht: Es gibt nicht so etwas wie eine singuläre Einsicht in das Gute, durch die sich der Tugendhafte scharf vom Noch-nicht-Tugendhaften unterschiede. Die Tugend zu lernen, bedeutet, richtig verstanden, einen langwierigen Prozess der allmählichen Besserung zu durchlaufen. Das Gutsein der Menschen verteilt sich entsprechend auf ein kontinuierliches Spektrum der Bildungsgrade, das vom kaum Lernfähigen über den etwas Besseren und halbwegs Anständigen bis hin zum Fortgeschrittenen und Vorbildlichen reicht. Die ›Wilden‹ (agrioi, Prot. 327d), die das eigentliche Gegenbild liefern, befinden sich jenseits dieses Spektrums. Und die Lehrer der Tugend schließlich, zu denen sich auch Protagoras zählt, sind einfach diejenigen, die »ein wenig« (oligon) besser verstehen, wie man jemanden zur aretē leitet (Prot. 328a). Der zweite Unterschied liegt darin, dass sich ›das Gute‹ (to agathon) in dieser Perspektive auf immer wieder neue Weise präsentiert: Das Gute, so wird Protagoras später sagen, ist »etwas Buntes (poikilon ti) und mannigfach« (pantodapon, Prot. 334b). Die Erklärung, die 122 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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er dazu gibt, trägt deutlich die Züge der Relationalitätslehre, die für De vetere medicina kennzeichnend war: Wie man in der Medizin und Agrarwirtschaft z. B. die Wirkung der jeweiligen Speisen und Getränke auf den Menschen und die einzelnen Tierarten oder Pflanzen kennen muss, wenn man urteilen will, was gut oder schlecht ist, so ist auch hier das Wissen vom Gutsein nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen zu suchen. Einmal mehr sind es die ›tausend‹ (myria, Prot. 334a) Kleinigkeiten, die im Blick zu behalten sind. Sofern man diese Art der Lehrpraxis überhaupt auf einen Begriff bringen will, so ist sie von der Art dessen, was bei Hesiod die meletē war. Platons Protagoras verwendet am liebsten das Wort epimeleia (›Sorge‹), und das ›Lernen‹ taucht so gut wie nie ohne die Beiwörter des Sorgetragens und Übens auf. 61 Das Wesentliche an der Bildung zur Tugend ist der unabschließbare Prozess der alltäglichen Verbesserung. Es liegt nicht in der Auffassung logischer Zusammenhänge, sondern in einer Erhöhung der Sensibilität für Nuancen, wie sie die ästhetische Erziehung leistet. Bedenkt man, dass Xenophons Sokrates diese Kultivierungstradition, indem er Prodikos heranzieht, explizit aufgreift, hat Platons Sokrates erstaunlich taube Ohren für sie, wenn er im Anschluss an die große Rede des Protagoras unmittelbar auf die Frage nach der Einheit der Tugend zu sprechen kommen will (Prot. 329c f.). Wenn das ›Gutsein lernen‹ für Protagoras gerade nicht die Einsicht in eine allgemeine Form, sondern ein unaufhörliches Ringen ist, dann geht diese Frage merklich an der Sache vorbei. Wie hat die Lehrpraxis von Protagoras und Prodikos und ihren Kollegen konkret ausgesehen? Immerhin lässt die Darstellung bei Platon Züge erkennen, die aus der humanistischen Bildungskultur bis heute vertraut sind: Vom Umgang mit Dichtung und Musik erhofft man sich nach wie vor eine günstige Wirkung auf den Charakter. Bereits der protagoreische Unterricht dürfte diese Idee verfolgt haben: Wie man Kinder zum Musikunterricht schickt, damit sie »nützlich« (chrēsimoi) im »Reden und Handeln« (legein te kai prattein) werden (Prot. 326b), so hat die Einübung in die Stärkung des schwächeren Logos und der Umgang mit den Kräften und Gegenkräften im diskursiven Sinngeschehen offenbar den Sinn, die Seele in ihre Vgl. Prot. 323c (didakton te kai ex epimeleias), 323d (ex epimeleias kai askēseōs kai didachēs), 324a (ex epimeleias kai mathēseōs), 324c (paraskeuaston einai kai didakton aretēn), 325b (didaktou de ontos kai therapeutou), 325c (didaskontai, epimelountai pasan epimeleian), 326e (epimeleia, didakton).

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beste Verfassung zu bringen. Es spricht außerdem einiges dafür, dass die Schrift für die protagoreischen Unterweisungen eine bedeutende Funktion hat: Dass die Praxis der Antilogie aus ihrem politisch-rechtlichen Kontext herausgelöst und für eine allgemeine Ethik fruchtbar gemacht wird, scheint mit der zunehmenden Verbreitung der Schriftlichkeit zusammenzuhängen. Vernant bezeichnet die Schrift gar als »Werkzeug für die Schaffung einer allgemeinen Kultur« und als »Grundelement der griechischen paideia«. 62 Immerhin fällt auf, dass die überlieferten Antilogien aus dem Umkreis der Sophistik, die ja Zeugnisse der Verschriftlichung von Überlegensprozessen sind, kaum je auf einfache singuläre Entscheidungen zielen, sondern, wie die Herakles-Erzählung des Prodikos, generalisierte Formen des praktischen Überlegens dokumentieren. 63 Wie die sittliche Praxis, so dürfte also auch die Lehrpraxis des Logos ›bunt und mannigfaltig‹ gewesen sein. Worin sie im Einzelnen bestand, kann die Rekonstruktion kaum zurückbringen. Aber es ist zu vermuten, dass Protagoras eben gerade nicht das eine Rezept hatte, wie man seine Schüler der Tugend näherbringt, sondern sein Unterricht eine Einübung in die ganz gewöhnlichen Logospraktiken des Redens und Schreibens war, in die diskursive Auseinandersetzung, die Verschriftlichung, den Umgang mit der Wirkung der logoi. Wie einem Musikunterricht kein Geheimnis davon zugrunde liegt, was gute Musik ist, sondern nur eine lange Reihe von Kostproben, die einen immer besser verstehen lassen, worauf es ankommt, so liegt auch dieser diskursiven Lehrpraxis kein Geheimnis davon zugrunde, worin das Gutsein besteht. Es gibt nur eine unabschließbare Reihe von Übungen mit dem Logos, die einen immer besser verstehen lassen, worauf es ankommt. Wer sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden geben will – wer meint, es müsste einen kürzeren Weg zur Tugend geben –, hat nicht verstanden, was es bedeutet, dass dieser Weg allein aus Mühen besteht.

Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, 47 und 48; vgl. auch Gagarin, Antiphon the Athenian, 24. 63 So geht es in Antiphons zweiter Tetralogie wie auch in Gorgias’ Helena-Rede um Grundfragen von Schuld und Verantwortung. Vgl. auch die Dissoi logoi I–III, die sich um die Fragen von ›gut und schlecht‹, ›edel‹ (kalon) und ›schändlich‹ (aischron) oder ›gerecht und ungerecht‹ drehen. 62

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Reden in Orientierung am Guten, Reden in Orientierung am Wahren

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Reden in Orientierung am Guten, Reden in Orientierung am Wahren

Das protagoreische Programm war eine Kultivierungspraxis, die auf eine kleinteilige Arbeit am Logos und eine sittliche Formung des Redners zielte. Für die Protagoreer war nicht die Theorie, sondern die Ethik der Rede das Wesentliche. Dass sich die Philosophie bis heute schwer damit tut, diese Option ernsthaft in Erwägung zu ziehen, möchte ich darauf zurückführen, dass sie diese Form der Redelehre als Rhetorik aus sich auszuschließen gewohnt ist. Das Gesagte hat bereits sichtbar werden lassen, wie tief die Schwierigkeit letztlich reicht: In gewisser Hinsicht steht das Unternehmen der diskursiven Kultivierung im Widerstreit mit jeder Bemühung der begrifflichen Systematisierung und Rationalisierung von Diskurspraktiken. Auf eine kurze Formel gebracht, könnte man diesen Widerstreit zunächst so beschreiben: Die Rationalisierung zielt auf eine sittliche Einsicht, die ein tugendhaftes Reden und Handeln mit sich bringen soll; die Kultivierung zielt auf ein tugendhaftes Reden und Handeln, das sittliche Wahrnehmung mit sich bringen soll. Für den Rationalisierer ist Ethik eine Frage der Erkenntnis, für den Kultivierer eine Frage der Bildung. Aus Sicht einer Logik der Rationalisierung wird man das Tugendwissen nicht finden, solange man nur die ethische Praxis selbst hat, aber keine gedanklichen Formen, die ihr Halt geben; aus Sicht einer Redekultur wird man das Tugendwissen verfehlen, solange man versucht, den Weg zur ethischen Praxis durch eine sittliche Einsicht abzukürzen, die einem den mühevollen Durchgang durch den wirklichen Prozess der Versittlichung erspart. Im Weiteren wird sich zeigen, dass die Motive der protagoreischen Diskurspraxis – das Bildungsanliegen, die diskursiven Übungen (askēsis), die zentrale Bedeutung der Wahrnehmung und des Ästhetischen – in den Diskussionen an der Schwelle zum 4. Jahrhundert v. Chr. virulent bleiben. Am Fall des Gorgias von Leontinoi, um den es im folgenden Kapitel gehen wird, kann das Profil der vorplatonischen Redelehre weiter geschärft werden. Die diskursive Kultur macht hier weitere Entwicklungen durch, insbesondere rückt das Thema der Wahrheit (alētheia) nun mehr in den Vordergrund. Die gorgianische Diskurspraxis ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der protagoreischen zur sokratischen Diskurspraxis. Man könnte freilich meinen, dass gerade die gorgianische Redelehre belegt, dass ein Reden in Orientierung am Guten letztlich un125 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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weigerlich mit dem Reden in Orientierung am Wahren in Konflikt gerät. Gorgias spricht von der ›Wahrheit‹ (alētheia) als kosmos der Rede (Enk. 1), und dies wird in aller Regel so verstanden, dass Wahrheit für Gorgias nicht mehr sei als ›Zier‹ oder ›Schmuck‹. Richtig daran ist zweifellos, dass der Begriff der Wahrheit für Gorgias ästhetische Konnotationen hat: Für ihn hat die Art und Weise, wie geredet wird, eine fundamentale Stellung. Selbst wenn man einräumt, dass es dabei um sittliche Kultivierung geht – ist damit nicht die Wahrheit dessen, was gesagt wird, bedeutungslos geworden? Wenn die Orientierung am ethisch Guten erstens zur wesentlichen Orientierung der Rede wird und das Urteil darüber, was konkret ethisch gut ist, zweitens unterhalb des Begrifflichen, auf einer Ebene von ästhetischen Nuancen erfolgt – sind dann nicht die Kriterien der Wahrheit aufgehoben? Gorgias wird weiteres Anschauungsmaterial dafür liefern, wie eine Diskurspraxis aussehen kann, die die Maßstäbe der Rede nicht in erster Linie aus der Sachlogik, sondern aus einer Logik der ethischen Kultivierung herleitet. Seine Redelehre dokumentiert indes, dass eine solche Diskurspraxis keineswegs wahrheitsindifferent sein muss. Dass in der Zeit der Sophistik im Gegenteil eine rege Auseinandersetzung über die Wahrheitsfrage stattfindet, 64 deutet eher darauf hin, dass erst noch Klarheit darüber zu gewinnen war, welche Bedeutung der alētheia für die ethische Kultur der Rede zukommt. Die vorplatonische Prämisse, dass es im diskursiven Geschehen nicht primär auf Gehalte ankommt, sondern darauf, welches Ethos sich in einem diskursiven Handeln manifestiert, dürfte bei dieser Klärung die Richtung angezeigt haben: Unter der Voraussetzung der Einheit von Redepraxis und Lebenspraxis liegt auch die Wahrheit der Rede in einem konkreten Redeverhalten. Das Verständnis von alētheia, das sich bei Gorgias abzeichnet, ist daher nicht weniger anspruchsvoll als der moderne Wahrheitsbegriff, sondern genau genommen anspruchsvoller: Das ›Wahre sagen‹ bedeutet für Gorgias nicht nur, sich an die ›Fakten‹ zu halten. Für ihn bedeutet es darüber hinaus und zuallererst, auf eine Weise zu sprechen, die ein sittliches Ideal wahrnehmbar macht und wirksam zur Geltung bringt.

Manfred Kraus schreibt in »The Making of Truth in Debate«, 35: »It may seem ironic that probably in no other period was there more written about truth than in the age of the Sophists.«

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IV Gorgias und die Kultur der wahren Rede

In diesem Kapitel soll die Redelehre des Gorgias von Leontinoi als Teil der diskursiven Bildungspraxis interpretiert werden, die in den vorhergehenden Kapiteln vor Augen getreten ist. Gorgias wurde immer wieder als Sophist par excellence und als einer der großen Antipoden des wahrheitsorientierten Denkens gedeutet. Tatsächlich aber ist seine Lehre fest in der intellektellen Kultur des Fifth Century Enlightenment verwurzelt. Sie weist Bezüge nicht nur zur parmenideischen Ontologie, sondern auch zur Dichtung Pindars, zur hippokratischen Medizin oder zur Naturphilosophie des Empedokles auf. In diesem Licht erweist sich die gorgianische Unternehmung als ethische Diskurspraxis eigener Art. Sie führt die protagoreische Redekultur weiter und gibt der sokratischen Diskurspraxis wichtige Impulse. Von den Vorurteilen, die den Umgang mit diesem Redelehrer erschweren, sind vor allem zwei herauszuheben, die vor dem Hintergrund der bereits erörterten Annahmen einer sophistischen Rhetorik und eines Antagonismus von Philosophie und Sophistik zu sehen sind: Erstens ist gerade für Gorgias unzählige Male geltend gemacht worden, dass er eigentlich nur ein Techniker der Rede gewesen sei, dem Effekte wichtiger sind als Argumente. Nicht selten gilt er als das Prachtexemplar eines Sophisten, der sich einzig mit Rhetorik befasst. Tatsächlich wird der Rede in dem Bild, das das ›Enkomion der Helena‹ zeichnet, eine geradezu unwiderstehliche Kraft zugesprochen. In einer berühmten Passage wird der logos als »großer Machthaber« (dynastēs megas) eingeführt, der »mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper (sōma) die göttlichsten Werke vollbringt« (theiotata erga apoteilei, Enk. 8). Es ist die Rede, »die die Seele für sich einnimmt« (psychēn ho peisas) und sie zur Zustimmung »zwingt« (Enk. 12). Solche Passagen hat man seit je so aufgefasst, dass sie sich auf eine Redetechnik beziehen, wie Gorgias selbst sie entwickelt. Dieser Lesart zufolge, die in jüngerer Zeit z. B. von Charles Segal exempla-

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risch formuliert wurde, 1 schildert Gorgias die Macht des Logos deswegen so emphatisch, weil er das manipulative Potential seiner eigenen Lehre hervorheben möchte. Ein Hinweis wie der auf die ästhetisch erzeugte »Umstimmung« (peithō), die »die Seele formt (etypōsato), wie sie will« (Enk. 13), ist demzufolge als Teil einer Werberede für die gorgianischen Geschäftspraktiken selbst zu lesen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Stimmen, die diese Deutung problematisieren und grundsätzlich in Zweifel ziehen, dass Gorgias überhaupt eine Kunst der Überredung im Sinn hatte. So macht Michael Gagarin mit Bezug auf Gorgias geltend: »For the most part the Sophists treated persuasion as ineffective or harmful, and they distanced themselves and their logoi from it.« 2 Insbesondere die neueren Entwicklungen in der Rhetorikgeschichte haben dazu beigetragen, dass das althergebrachte Bild von Gorgias merklich verblasst ist und eine Vielfalt von alternativen Interpretationsvorschlägen vorgebracht wurde. 3 Wenn die Rhetorikannahme bis heute für so viele Arbeiten zu Gorgias leitend bleibt – wobei in der Regel das Unzureichende der gorgianischen Doxastik gegenüber der philosophischen Rationalität betont, gelegentlich aber auch rhetorische Plausibilität gegen die unbescheidenen Wahrheitsansprüche der Philosophie ausgespielt wird 4 –, so sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Annahme inzwischen viele sachliche Gründe abhandengekommen sind. Darin kommt bereits die zweite Schwierigkeit der Antagonismusannahme zum Ausdruck: Man darf vermuten, dass sich erst dann Segal zufolge ist Gorgias »deliberately opposed to ›truth‹ and produces a logos which is τέχνῃ γραφείς, οὐκ ἀληθείᾳ λεχθείς« (»Gorgias and the Psychology of the Logos«, 112). 2 Gagarin, »Did the Sophists Aim to Persuade?«, 290. 3 So legt Pratt in »On the Threshold of Rhetoric« dar, dass Gorgias seine Zuhörer vor den Problemen einer formalen Überredungstechnik warnen will. Porter behauptet in »The Seductions of Gorgias«, dass er nicht auf ›Überredung‹ (persuasion), sondern auf ein ›Abraten‹ (dissuasion) ziele. Spatharas macht in »Patterns of Argumentation in Gorgias« plausibel, dass Gorgias ein Pionier der informellen Logik ist. 4 Vgl. neben Segal z. B. Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, 29–31; Wardy, The Birth of Rhetoric, 6–51 oder Pfau, »Encomium on Helen as Advertisement«. Autoren, die für die gorgianische ›Rhetorik‹ Partei ergreifen, sind etwa: Poulakos, »Gorgias’ Encomium to Helen and the Defense of Rhetoric«; Consigny, Gorgias und McComiskey, Gorgias and the New Sophistic Rhetoric. Indem sie sich auf die Seite der Sophisten oder Rhetoriker statt auf die der Philosophen stellen, reproduzieren diese ›neosophistischen‹ Deutungen traditionelle Dichotomien. 1

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eine überzeugende Alternativinterpretation von Gorgias’ Redelehre formulieren lässt, wenn es gelingt, sie aus dem Bannkreis des Schemas ›Philosophie versus Rhetorik‹ bzw. ›Philosophie versus Sophistik‹ herauszulösen. Die Widerstände bei diesem Unterfangen sind nicht zu unterschätzen: Die europäische Philosophie ist seit ihren Anfängen als Disziplin durch diese Abgrenzung geradezu definiert, und für ihr Selbstverständnis ist sie bis heute maßgeblich geblieben. Das Vorurteil eines Antagonismus ist insbesondere durch die Prämisse charakterisiert, dass Sophisten wie Gorgias, im Gegensatz zu Philosophen wie Sokrates, an Wahrheit nicht interessiert seien oder sich Wahrheitsmaßstäben sogar offen verweigern. Im Fall des Gorgias scheint sich dies durch das zu bestätigen, was er in seiner berühmtberüchtigten ›Rede über das Nichtseiende‹ (Peri tou mē ontos) vorgetragen haben soll: Einer oft wiederholten Inhaltsangabe zufolge wird darin behauptet, dass erstens nichts ist (ouden estin), dass das Seiende zweitens, selbst wenn es wäre, unerkennbar wäre und es drittens, selbst wenn es wäre und begreiflich wäre, nicht mitteilbar wäre. Bereits Sextus Empiricus fasst die Rede auf diese Weise zusammen. Gorgias gehört für ihn daher zu den Denkern, die »das kritērion aufheben« wollen, dem Maßstab der Wahrheit (alētheia) also den Boden entziehen (DK 82 B3 [65]). Bei genauerer Betrachtung stellt sich der Inhalt der Rede, deren Gedankengang in zwei Berichten überliefert ist, allerdings in einem anderen Licht dar. Dies gilt insbesondere, wenn man sie als Antwort auf das Lehrgedicht des Parmenides liest. 5 Dieser tritt an, die »Meinungen der Sterblichen« (brotōn doxas) scharf von dem zu trennen, was er »das unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« nennt (Alētheiēs eupeitheos atremes hētor, DK 28 B1). Maßgeblich dafür ist das Prinzip, ›dass etwas ist‹ (hopōs estin) und es »nicht ist, dass nichts ist« (ouk esti mē einai, DK 28 B2). Man wird nur dann, so die Empfehlung, den Weg der Wahrheit finden, wenn man sich an ›das Seiende‹ (to eon) hält. Spezifischer ist damit ein von allem sinnlichen Wahrnehmen getrenntes Sein gemeint: Seinserkenntnis verlangt die Lossagung von den Sinnen, von ›Auge‹, ›Gehör‹ und ›Zunge‹ (DK 28 B7). Das parmenideische ›Sein‹ ist ein rein gedachtes Sein; Sein (einai) und Denken (noein) sind letztlich dasDie Bezüge zu Parmenides sind eindeutig. Für eine ausführliche Analyse vgl. Newiger, Untersuchungen zu Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende, z. B. 19–21 und 29–37.

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selbe (DK 28 B3). Damit wird das »alleingelassene, rein logisch gefaßte on«, wie Thomas Buchheim es ausdrückt, 6 bei Parmenides zum obersten Richtmaß. Dass Gorgias diese Seinslehre kritisch sieht und eine ›meontologische‹ Antithese zu ihr formuliert, heißt nun nicht, dass er sich in der ontologischen Diskussion auf die Seite des Nichts schlägt. Der genaue Gedankengang von Peri tou mē ontos lässt eine ganz andere Absicht erkennen: Der erste Halbsatz des eigentlichen Referats der gorgianischen Rede lautet in beiden überlieferten Versionen »Wenn etwas ist …« (ei ti esti, MXG V 3; ei gar esti [ti], DK 82 B3 [66]). Der gesamte Vortrag hat damit die Form des Konditionals: Wenn ›etwas ist‹ – das heißt, wenn man ein ›Sein‹ im abstrakt-allgemeinen Sinn des Parmenides voraussetzt –, dann ergibt sich am Ende, dass ›nichts ist‹. 7 Und selbst wenn ein solches Sein wäre, so der Gedankengang weiter, wenn man also akzeptiert, dass es dieses reine Sein gibt, kommt am Ende doch nur heraus, dass es für den Menschen »unerkennbar« (agnōston) und »undenkbar« wäre (anepinoēton, DK 82 B3 [77]). Und auch dann noch, wenn man einräumt, dass es ein schlechthinniges Etwas gibt und es erkennbar ist, würde letztlich trotzdem nur resultieren, dass es »nicht mitteilbar« wäre (anexoiston, B3 [83]). Gorgias behauptet also keineswegs, dass ›gar nichts ist‹. Er führt vielmehr vor, was man sich einhandelt, wenn man die Seinslehre des Parmenides akzeptiert: Wer die Voraussetzung macht, dass nur das rein gedachte, unwandelbare Seiende eigentlich seiend ist, muss am Ende zugeben, dass es überhaupt nichts gibt. Der Gedanke vom bezugslosen Sein ist inkonsistent und hat nihilistische Konsequenzen: Ontologie schlägt in Meontologie um. 8 Gorgias demonstriert, anders gesagt, dass die Lehre vom schlechthinnig Seienden sinnleer ist. Selbst wenn die Fantasie vom bezugslosen, reinen Sein wahr wäre, bliebe sie bedeutungslos für uns, denn ein solches Sein wäre, ›unBuchheim, »Einleitung zu Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien«, XVII. 7 Es ist daher überraschend, wenn Kerferd behauptet: »On either version the first part opened with the claim that nothing is.« (The Sophistic Movement, 96) Genauso legt es sich auch Wardy zurecht in The Birth of Rhetoric, 16. 8 Die Gedankenentwicklung ähnelt der zu Anfang von Hegels Logik, wo gezeigt wird, dass das reine Sein in seiner Unbestimmtheit in das reine Nichts umschlägt: vgl. Wissenschaft der Logik I, 82 f. Hegel lobt das gorgianische Denken denn auch als »reine Dialektik«: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 435. 6

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erkennbar‹ und ›nicht mitteilbar‹. Gorgias leistet keinen Beitrag zum spekulativen Diskurs über das Sein, sondern betreibt die sinnkritische Auflösung dieses Diskurses. Darin liegt nun, dass man die Pointe der ›Rede vom Nichtsein‹ verfehlt, wenn man sie erkenntnistheoretisch liest. Sie zeugt vielmehr von der bereits früher erörterten antispekulativen Haltung, wie sie für viele der vorplatonischen Gelehrten typisch ist. In Gorgias’ Absage an die abstrakte Ontologie könnte sich daher nicht zuletzt ausdrücken, dass er sich an das Primat des Praktischen gebunden fühlt. Ein Nachdenken über ›das Sein‹ als solches ist in der Welt der konkreten pragmata ohne Belang. Es trägt in keiner Weise dazu bei, das menschliche Zusammenleben und das Gutsein der Staatsbürger zu fördern. Eine diskursive Praxis sollte sich keine Orientierungspunkte jenseits der menschlichen Angelegenheiten suchen. Sie ist immanent zu denken und muss ihren Halt an dem finden, was uns zugänglich und nah ist. Die folgenden Überlegungen werden damit beginnen, den Typus zu bestimmen, den Gorgias für seine Logoslehre vorsieht. Dabei erweist sich, dass auch er keinerlei Interesse daran hatte, eine ›Technik‹ der Rede zu etablieren. Es ist angemessener, seine Lehre als eine ethische Bildungspraxis zu begreifen, die eine diskursive Form annimmt (1). Die genauere Untersuchung dieser Diskurspraxis erlaubt Aufschlüsse über ihre konkreten Vorgehensweisen: Erstens kann sie als ästhetische Praxis interpretiert werden, als Arbeit an der Wahrnehmung (2); zweitens vollzieht sie sich im Modus des Zeigens und ist in diesem Sinn ›epideiktisch‹ ausgerichtet (3). Dabei kommt die Einheit von Diskurspraxis und Lebenspraxis, von Rede und Person nun in besondererer Deutlichkeit zum Vorschein: Die gorgianische Lehre verfolgt das Ideal einer Art und Weise des Redens, die vorbildliche Sittlichkeit zur Verkörperung und im diskursiven Verhalten zur Geltung bringt. Dieser Maßstab einer ›epideiktischen Richtigkeit‹ macht das gorgianische Verständnis von Wahrheit (alētheia) aus (4). Abschließend ist zu fragen, was sich daraus bereits für das Verständnis der sokratischen Intervention ergibt, die den Gegenstand von Kapitel V darstellt (5). 9

Dieses Kapitel basiert in Teilen auf Leeten, »Die Praxis der wahren Rede nach Gorgias«.

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Der Irrweg einer technē der Rede

Für eine Untersuchung der vorplatonischen Redekultur ist Gorgias schon deswegen eine wichtige Station, weil die Überlieferungslage in seinem Fall vergleichsweise günstig ist: Mit der Lobrede der Helena und der Verteidigung des Palamedes sind immerhin zwei Schriften aus erster Hand erhalten. 10 Die Frage, wie die gorgianische Lehre zu verstehen ist, wenn die Opposition von Philosophie und Rhetorik nicht mehr trägt, ist allerdings trotz einiger Fortschritte in philologischer Hinsicht weiterhin offen. 11 Wie angedeutet, reicht das Spektrum der Deutungen von solchen, die sie weiterhin als Technik der Manipulation werten, bis hin zu Autoren, die sie als legitimen Gegenentwurf zum alteuropäischen Rationalismus ansehen. Kaum einer der Arbeiten gelingt es aber, sich von der Dichotomie von ›Philosophie und Sophistik‹ zu lösen. Diese Dichotomie hängt freilich eng zusammen mit weiteren, die tief im europäischen Denken verankert sind: etwa ›Überzeugung versus Überredung‹, ›Theorie versus Praxis‹ oder ›Vernunft versus Sinnlichkeit‹. Ein horizontbildendes Schema dieser Art lässt sich nicht ohne weiteres unterlaufen. So ist kaum versucht worden, ein Verständnis des gorgianischen Denkens zu gewinnen, das die nachplatonische Perspektive auf kritischer Distanz hält. Edward Schiappa steht mit dieser Herangehensweise weitgehend allein. Seiner Arbeit deswegen allerdings den Vorwurf des ›Objektivismus‹ zu machen, 12 geht an der Sache vorbei. Vielmehr zeigt diese Probe aufs Exempel, wie produktiv die Infragestellung festgefahrener Einteilungen und Interpretationsschemata sein kann: Sie wirft ein neues Licht auf Gorgias und auf das vorplatonische Geistesleben. Um einen solchen, immer auch auf Konjekturen angewiesenen Versuch wird es auch im Folgenden gehen.

Zur Überlieferung vgl. den editorischen Bericht bei Buchheim, »Einleitung zu Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien«, XXXV–XLI. 11 Wichtige Impulse gaben vor allem Segal, »Gorgias and the Psychology of the Logos« und Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, Teil II. 12 Dieses Urteil fällt Consigny, Gorgias, 10–14. Consigny nimmt die methodischen Erörterungen bei Schiappa – besonders in The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 60–65 – allerdings gar nicht erst zur Kenntnis, und man gewinnt den Eindruck, dass sein Objektivismusvorwurf eher eine Lizenz zur Rückprojektion begründen will. 10

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Der Irrweg einer technē der Rede

Die ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels werden sich um Gorgias’ Verständnis des Logos drehen, das in der Lobrede der Helena markant zum Ausdruck kommt. Wie diese Rede als ganze zu interpretieren ist, ist umstritten; und die folgenden Überlegungen stellen keinen Beitrag zu dieser Diskussion dar. 13 Wir konzentrieren uns erstens auf den Lehrtypus, den die gorgianische Redelehre repräsentiert, und zweitens auf die Vollzugs- und Bedeutungsweisen des Logos, die bei Gorgias zum Vorschein kommen. Was die erste Frage angeht, so ist wiederum davon auszugehen, dass es eine Disziplin der Rhetorik im 5. Jahrhundert v. Chr. noch nicht gegeben hat. Zwar lassen sich einzelne Elemente der späteren Beredsamkeitslehren retrospektiv bei Gorgias schon ausmachen. Eine Klassifikation seiner Lehre als rhētorikē wäre ihm selbst aber noch fremd gewesen. Sie erfolgt erst bei Platon (Gorg. 448d), 14 und mit dieser Fremdzuschreibung könnte bereits eine polemische Zurückweisung verbunden sein. Dieser Eindruck ergibt sich vor allem dann, wenn man annimmt, dass das Etikett ›Rhetorik‹ die Vorstellung einer technē aufruft, deren zwiespältige Konnotationen auch in Platons Zeit noch präsent waren. Wie schon im Fall der ›Antilogik‹, ist im Sinn zu behalten, dass eine technē der Rede, die zu guten ebenso wie zu schlechten Zwecken eingesetzt werden kann, aus Sicht der vorplatonischen Bildungskultur etwas zutiefst Anrüchiges haben konnte. Für Gorgias lässt sich diese technē-skeptische Haltung in der Tat gut belegen: Sofern er bereits ein Bewusstsein von der Möglichkeit einer ›Redetechnik‹ hat – und das ist allem Anschein nach tatsächlich der Fall –, so ist sie für ihn eine Beunruhigung gewesen. Dieser auf den ersten Blick vielleicht überraschende Befund ergibt sich, wenn man seinen Gebrauch des Ausdrucks technē näher betrachtet. Es gibt bei ihm nicht nur keinen Fall, in dem er dieses Wort auf sein eigenes Unternehmen bezieht. Es

Schiappa schreibt in The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 114: »Despite the great interest the text has generated, there is remarkably little agreement even over the most rudimentary interpretative issues concerning the text […].« Tatsächlich sehen viele Autoren eine versteckte Bedeutung in der Helena, die nur hervorkommt, wenn man sie als kunstvolles Spiel von Allegorien oder Paradoxien liest: vgl. Poulakos, »Gorgias’ Encomium to Helen and the Defense of Rhetoric«; Consigny, »The Styles of Gorgias« oder Porter, »The Seductions of Gorgias«. 14 Gleiches gilt für den Ausdruck technē tōn logōn. Vgl. oben Kap. I 3 sowie Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 22 f. und 68–70 und Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, 98 f. 13

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

erweist sich sogar, dass die Verwendung dieses Ausdrucks bei Gorgias ein zuverlässiges Symptom von Distanzierung ist. 15 In der Helena-Rede taucht der Ausdruck einmal im Zusammenhang der beiden technai der »Zauberei und Magie« (goēteia kai mageia) auf, Gorgias nennt sie »Verfehlungen der Seele und Täuschungen der Meinung« (psychēs hamartēmata kai doxēs apatēmata, Enk. 10). Die Distanz und die sittliche Zurückweisung ist deutlich. An einer zweiten Stelle geht es um die Überzeugungskraft von Reden, die »mit technē geschrieben« (technē grapheis), aber nicht »mit Wahrheit gesprochen« (alētheia lechtheis) sind (Enk. 13). Auch hier klingt deutlich eine negative Bewertung an: Dass eine Schreibtechnik die Frage der alētheia gleichgültig werden lassen kann, ist kein koketter Hinweis auf die Überlegenheit der eigenen Kunstlehre. Ein solches Reden ist vielmehr ein exemplarischer Verstoß gegen die Forderung, der gleich zu Beginn der Helena-Rede mit der berühmten Wendung kosmos logō alētheia Nachdruck verliehen wird: Ihre ›Wohlgeformtheit‹ (kosmos) findet die Rede (logos) in der Wahrheit (alētheia). 16 Die Wahrheit ist für den logos das, was für die Seele die Weisheit und für das Handeln die aretē ist. Für eine Rede gehört es sich, im Sinne der alētheia ›wahr‹ zu sein; sie hat darin ihre Vollendung und ihren Glanz. Dass diese Forderung sittlicher Art ist, ist nicht nur daraus ersichtlich, dass alētheia in einer Reihe mit kallos, sophia und aretē steht, sondern auch daraus, dass ein Verstoß in dieser Anfangspassage als akosmia (›Ungehörigkeit‹) klassifiziert wird. Der Gebrauch des Logos gemäß eines Verfahrens, das keine Rücksicht auf die Anforderung der alētheia nimmt, wäre ein klarer Fall einer solchen akosmia. Diese Textbefunde lassen die Meinung, Gorgias hätte auf eine Technik der Rede stolz sein können, zweifelhaft werden. Das Wort technē hat bei ihm einen pejorativen Klang. 17 Das fügt sich gut in Die Skepsis des Gorgias gegenüber der technē der Rede ist bisher kaum aufgefallen. Eine Ausnahme ist: Ford, »Sophists without Rhetoric«, 95 f. 16 Die berühmte Passage in Enk. 1, von der später noch die Rede sein wird, lautet: »Ordnung (kosmos) findet die Polis in der guten Bürgerschaft (euandria), der Körper in der Schönheit (kallos), die Seele in der Weisheit (sophia), die Tat (pragma) in der Tugend (aretē), die Rede (logos) in der Wahrheit (alētheia); das Gegenteil davon ist Unschicklichkeit (akosmia). An Mann und Frau und Rede und Tat (pragma) und Stadt und Werk (ergon) ist das Lobenswerte zu loben und das Tadelnswerte zu tadeln. Denn es ist genauso Verfehlung und Unkenntnis (hamartia kai amathia), das Lobenswerte zu tadeln wie das Tadelnswerte zu loben.« 17 Zwei Stellen aus der ›Verteidigungsrede des Palamedes‹ unterstützen dieses Ergeb15

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die philologischen Befunde, die eine Bedeutungsverschiebung des Worts von Homer bis Platon diagnostizieren: Bezeichnet technē zunächst ein Können von Personen, so bezieht es sich mit der Zeit mehr und mehr auf die Kunst im Sinne eines Regel- oder Ordnungssystems, das der Mensch entdecken und einsehen kann. 18 In Gorgias’ Verständnis muss technē bereits die Kunst gewesen sein, aber für ihn konnte der Gebrauch solcher Kunst durchaus noch etwas Anrüchiges haben: Durch technē nämlich verschafft jemand sich ein Vermögen, das ihm im Grunde nicht zukommt. Prometheus liefert das mahnende Beispiel dafür, dass göttliches Können eigentlich nicht in die Hände der Menschen gehört. Wer einen solchen Wissenstransfer betreibt, verdient Strafe. Daran dürfte Gorgias auch denken, wenn er im Enkomion sagt, dass sich »menschliche Klugheit« nicht mit göttlichen Mächten messen sollte; die Formulierung anthrōpinē promēthia gibt einen deutlichen Hinweis in diese Richtung (Enk. 6). 19 Derselbe Zusammenhang spielt eine Rolle, wenn das Wirken »durch künstliche Vorkehrungen« (technēs paraskeuais) auf die Seite der »Verfehlung« (hamartēma) gestellt wird (Enk. 19). Wer etwas durch Gebrauch von technē bewerkstelligt, so ist festzuhalten, macht sich eine Macht zunutze, auf die er aufgrund seiner Wesensart kein Anrecht hat. Gorgias’ Lehre des Logos kann weder dem Wort noch der Sache nach eine technē sein. Man wird sie als Lehre eines anderen Typs interpretieren müssen. Unmittelbare Hinweise dazu finden sich bei Gorgias nicht. (Platons Charakterisierung eines Lehrers, der seine Weisheit nur zeigt, aber nicht sagen kann, was sie ist, ist in dieser Hinsicht durchaus glaubwürdig.) Man kommt der Sache aber näher, indem man sich klarmacht, was die Alternative zur technē sein musste: Trifft es zu, dass es für Gorgias anstößig war, sich ein Können durch Anwendung eines Systems künstlich zu verschaffen, so liegt die Vermutung nahe, dass er das Ideal eines Könnens verfolgte, das einem wirklich zu eigen ist. In diesem Fall wäre die wichtigste Frage für Gorgias nicht gewesen, was jemand bewerkstelligt, sondern welchen Charakter jemand hat. Dabei dürfte insbesondere Pindar nachgeklungen haben, bei dem technē in Spannung zu

nis: Pal. 3 (kakotechnia) und Pal. 25 (technēenta te kai deinon kai porimon). Wiederum ist der Beigeschmack deutlich. 18 Vgl. bes. Kube, Technē und Aretē. 19 Zur Frage des Bezugs auf Prometheus vgl. McComiskey, »Gorgias and the Art of Rhetoric«, 11 f.

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

phya steht: Das künstlich etablierte Können ist verdächtig, wo die angeborene Tüchtigkeit das Ideal darstellt. 20 Es ist aber entscheidend, dass bei Gorgias die Möglichkeit hinzutritt, sich solche Tüchtigkeit, im Rahmen jeweils gegebener Anlagen, zu erarbeiten. Das »Vermögen erworbener Weisheit« (sophias epiktētou dynamis) steht bei ihm ausdrücklich neben der »edlen Herkunft« (eugeneia, Enk. 4). Sofern seine Logoslehre dem Erwerb solcher Weisheit gedient hat, wäre verlangt gewesen, sich von dieser Weisheit durchdringen zu lassen und ein wirkliches Tugendwissen zu gewinnen. Nicht wer mit List und Tücke besteht, sondern wer sich in einen anderen Stand versetzt, hat aretē erworben. Mit anderen Worten: Auch Gorgias muss primär die Absicht verfolgen, wie es bei Platon (Apol. 19e) heißt, »Menschen zu bilden«. Wie die Redelehre seines Schülers Isokrates ist auch seine eigene Redelehre eine logōn paideia, die auf eine Bildung zur Tugend zielt, auf ein ethisches Gutsein. 21 Ein solches Gutsein lässt sich nicht durch methodische Klugheit herbeischaffen. Man muss es sich erarbeiten und verdienen. Wer nach einem System greift, will die Tugend unter seine Kontrolle bringen, ohne die Mühen der Erziehung auf sich zu nehmen. Ein solcher Mensch will gleichsam die nötige Arbeit an sich selbst vermeiden und fragt nach einer Abkürzung. Wo die technē als eine solche Abkürzung gilt, muss sie der Skepsis ausgesetzt sein. Lässt man gelten, dass dies die Auffassung des Gorgias war, so dürfte auch seine Logospraxis eine kleinteilige Übungspraxis gewesen sein, die nur allmählich zur Tugend führt. Sieht man sich nach Etiketten für eine solche Lehre um, gibt Pausanias einen Wink, dem zufolge das Anliegen des Gorgias die meletē logōn war, die sorgfältige Übung im Umgang mit logoi (DK 82 A7). 22 Die gorgianische Redelehre fügt sich, anders gesagt, in die pro-

20 Vgl. dazu Kube, Technē und Aretē, 32–36. Von der Nähe von technē und mēchanē war oben in Kap. III 1 bereits die Rede: Die Ausdrücke lassen die Bedeutung von ›Kunstgriff‹, ›List‹ oder ›Trick‹ mitschwingen. 21 Dass Gorgias’ Hauptanliegen die Erziehung zur aretē ist, wurde in jüngerer Zeit u. a. von Pratt, »On the Threshold of Rhetoric«, Buchheim, »Einleitung zu Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien«, bes. XXVI–XXXI oder Valiavitcharska, »Correct Logos and Truth in Gorgias’ Encomium of Helen«, z. B. 155 geltend gemacht. So hatte es bereits Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, bes. 406–427, verstanden. 22 Auch Sokrates’ Einschätzung, die Lehre des Gorgias sei keine technē, sondern empeiria oder tribē, darf man als Beleg heranziehen, sofern sie die Verhältnisse gebrochen widerspiegelt: vgl. Gorg. 462c-465e.

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Redepraxis als ästhetische Praxis

tagoreische Bildungskultur ein: Sie ist eine praktische Erkundung und Erprobung, die graduell eine ethische Besserung mit sich bringt. An dieser Stelle beginnt sich abzuzeichnen, wie Gorgias zu den Einwänden gestanden hätte, die man gemeinhin mit Platons Sokrates verbindet: Er hätte sich nicht getroffen fühlen können von dem Vorwurf, nicht sagen zu können, was er lehrt, weil es für ihn nie in Frage gekommen wäre, einen Begriff der Sache an die Stelle von Bildungsprozessen zu stellen. Tugendwissen kann nicht in in einer singulären Einsicht liegen: Man kann es sich nur allmählich erarbeiten, und genau daran zeigt sich sein Wert. Wo das Was einer Weisheit unmittelbar greifbar sein soll, muss aus gorgianischer Perspektive ein unerlaubter Kunstgriff im Spiel gewesen sein. In den folgenden Abschnitten soll genauer entfaltet werden, wie man sich die diskursive Bildungspraxis des Gorgias vorstellen darf.

2

Redepraxis als ästhetische Praxis

Wir beginnen mit dem Logosbild, das Gorgias im Enkomion der Helena zeichnet. Die Rede steht vor dem Hintergrund der Mythologie um den trojanischen Krieg, der bekanntlich dadurch ausgelöst wird, dass Paris die Helena nach Troja bringt. Es war in der Antike verbreitet, Helena eine Mitschuld an diesem Vorgang anzukreiden: Euripides’ Drama Die Troerinnen dokumentiert eindrucksvoll den Argwohn und sogar Hass, mit dem sie zuweilen betrachtet wurde. 23 Gegen diese Tendenzen nun bezieht Gorgias Stellung, indem er eine Apologie der Helena liefert. Er möchte, wie er anfangs ankündigt, jene »zuschand machen« (elenchein, Enk. 2), die die Frau zu Unrecht beschuldigen, und ihre »Verleumdung« oder »Schande« (dyskleia) so beenden. Dafür wird eine »Überlegung« (logismos, Enk. 2) ins Feld geführt: Die Helena wurde entweder von den Göttern nach Troja geführt oder mit Gewalt (bia) oder durch die Kraft des logos oder durch das Wirken des erōs (Enk. 6). In keinem dieser Fälle liegt die Schuld bei Helena, womit sie vollständig entlastet ist. Der Gedanke einer unwiderstehlichen Macht des Logos ist in dieser Grundstruktur bereits erkennbar: Die Rede steht auf einer Stufe mit den Göttern, roher Gewalt und der Verführungskraft des Eros; sie ist eine der großen Kräfte, die das menschliche Seelenleben 23

Vgl. insbesondere die Szenen in Tro. 860–1059.

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

leiten. Dabei ist der gorgianische Logos von vornherein durch eine Unverfügbarkeit charakterisiert, die ihn von einem Mittel in einem instrumentellen Verfahren deutlich unterscheidet: In den Passagen über den logos (Enk. 8–14), die sich, wie wir sehen werden, in den Passagen zum erōs (Enk. 15–19) fortsetzen, tritt die Rede wie ein selbstständiger Akteur auf. Sie erscheint, wie in der berühmten Bestimmung des ›großen Machthabers‹ (dynastēs megas, Enk. 8), als eigenständige, von sich selbst her bewegte Handlungsmacht. Unabhängig von seiner Indienstnahme durch den Menschen, hat der Logos Verführungskraft, Lebendigkeit und Eigensinn. Daran deutet sich an, dass der Logos für Gorgias ein Grundphänomen war, eine Totalität, die die Welt erfüllt, wie Sinn und Bedeutung es tun. Die Praxis des Logos muss auch deswegen eine meletē logōn sein, weil man sie nie vollends unter Kontrolle bringen kann. Man kann nur üben, mit dem Logos umzugehen. Wer genauer bestimmen will, was dieser logos genau ist, kann damit beginnen, dass er sich als sinnliches Geschehen präsentiert. 24 In den Schriften des Gorgias wird dies ausdrücklich betont: Der Logos ist Teil der körperlich-materiellen Welt, er manifestiert sich im Ästhetischen. Sextus Empiricus zufolge wurde in der ›Rede über das Nichtseiende‹ behauptet, dass sich der logos »aus den von außen auf uns einströmenden Sachen zusammensetzt«, also »aus dem Wahrnehmbaren (tōn aisthētōn, DK 82 B3 [85])«. Der gorgianische Logos ist im Sinnlichen am Werk. Er ist nicht aufgrund einer Repräsentationsfunktion bedeutsam, sondern aufgrund seiner inneren Verfasstheit und Ausdruckshaftigkeit. Mit Händen zu greifen ist dies am Stil des Gorgias, der für die Rekonstruktion seiner Position deswegen keineswegs äußerlich ist. 25 Diese Materialität ist allerdings eigentümlicher Art: Sie fällt nicht einfach mit den anderen sinnlichen Formen – den Gestalten des Hörbaren und Sichtbaren – zusammen, sondern muss im Verhältnis zu ihnen bestimmt werden. Im anonymen Bericht der ›Rede über das Nichtseiende‹ heißt es (MXG VI 22): »Denn erstlich (archēn) redet der Redende keinen Ton (psophon) und auch keine Farbe

Zur Sinnlichkeit des gorgianischen logos vgl. allgemein Buchheim, »Einleitung zu Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien«, bes. XI–VV. 25 In diesem Punkt kommen ganz unterschiedliche Interpretationen überein: vgl. Consigny, »The Styles of Gorgias« und Schiappa, The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, Kap. 6. 24

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Redepraxis als ästhetische Praxis

(chrōma), sondern eine Rede (logos).« Wir reden weder Klänge, noch reden wir Farben oder Formen – und erst recht reden wir keine Sachen –, sondern wir reden zunächst einmal Reden. Gorgias sieht offenbar einen eigenen Sinn für die Rede vor. 26 Diese Denkfigur könnte er von Empedokles übernommen haben, der in einem Fragment dazu auffordert, zu »erkennen« (noein), »auf welche Weise jedes einzelne deutlich (dēlon) ist« (DK 31 B3), also sich klar zu bleiben, was die einzelnen Sinne jeweils offenbaren, anstatt ihnen das Vertrauen zu entziehen, weil sie nicht offenbaren, was sie gar nicht offenbaren können. Aber was soll es bedeuten, dass der Logos eine eigene Form der Sinnlichkeit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten ist? Wie wäre der besondere ›logische‹ Sinn zu bestimmen? Im Enkomion wird der logos als etwas eingeführt, das einen ›Körper‹ hat (sōma, Enk. 8). Offensichtlich ist der Bezug zur erotischen Attraktionskraft der Helena in ihrer körperlichen Schönheit (Enk. 4). Dabei steht sōma für den lebendigen Leib und im Kontrast zu psychē. 27 Das Verhältnis ist freilich nicht dualistisch gedacht: Das Psychische ist ein innerweltliches Phänomen wie das Somatische auch, andernfalls könnte der Logos mit seinem Körper nicht auf die Seele wirken. Fragt man konkreter nach den Erscheinungsformen dieses körperlichen logos, so sieht man sich zunächst auf das Feld des Hörens verwiesen: Die Rede ist, wie es zu Beginn heißt, eine Intervention auf einem Feld des »Gleichklangs« (homophōnos) und der »Übereinstimmung« (homopsychos), des »durchs Hören gebildeten Glaubens« (akousantōn pistis, Enk. 2). ›Körper‹ hieße demzufolge ›Klangkörper‹. Gorgias’ Erläuterungen zum Logos weisen in dieselbe Richtung: An erster Stelle steht die poiēsis, die als gemessene Rede, als logos mit ›Maß‹ (metron) gilt (Enk. 9). Das Modell der Dichtung ist für Gorgias also maßgeblich, 28 wobei ein musikalischer Begriff von Dichtung leitend ist. Das Beispiel der ›Beschwörungen‹ (epōdai) ver26 Vgl. Buchheim, »Einleitung zu Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien«, XII: »Das bloße Hören ist nur unspezifisch der Rede-wahrnehmende Sinn, der Rede als Rede ist noch eine andere Eingängigkeit eigens geöffnet.« 27 Zur allmählichen Entwicklung des Kontrasts von sōma und psychē vgl. die nach wie vor aufschlussreiche Darstellung bei Snell, Die Entdeckung des Geistes, 16–28. 28 Gorgias ist häufig als Figur des Übergangs von der Dichtung zur Philosophie aufgefasst worden. Schiappa schlägt vor ihn als ›Prosa-Rhapsoden‹ (prose rhapsode) zu verstehen: vgl. ders., The Beginnings of Rhetorical Theory in Classical Greece, 101 f. Zur Bedeutung der Dichtung insbesondere Pindars für Gorgias vgl. Buchheim, »Einleitung zu Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien«, XXI–XXV.

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weist ebenfalls auf Verfahren, bei denen die Kraft des logos als Gesang zum Tragen kommt (Enk. 10). Und auch ein Ausdruck wie hymnos (Enk. 12) zeugt davon, dass Dichterisches und Musikalisches ineinander übergehen. Insgesamt scheint die Auffassung durch, dass dem logos durch seine musikalische Kraft eine besondere Wirkung auf die Seele zukommt – ein Gedanke, der für die ethische Musiklehre in Griechenland grundlegend war. 29 Da die Sphäre der Harmonie und des Rhythmus mit dem Seelenleben in inniger Verbindung steht, kann die affektive Kraft der Musik die Seele bewegen, sie formen und reinigen. Sie hat therapeutische Wirkung und kann die Haltungen einer Person umgestalten. Darin ist die Musik allen anderen Künsten überlegen – eine Einschätzung, die noch Aristoteles vertraut ist. 30 Die Rede steht also zunächst dem Hören und der Hörkunst nahe. In seiner Musikalität hat der logos ein Moment, das vor jedem Gehalt ethopoietische Wirkung hat. 31 Dieser Befund scheint sich im weiteren Verlauf zunächst zu bestätigen: Sobald der erōs zum Thema wird, wechselt Gorgias wie selbstverständlich das mediale Register und geht zum Visuellen über. Die erste Erläuterung beginnt unvermittelt mit »Denn was wir sehen …« (ha gar horōmen, Enk. 15), im Zentrum der weiteren Ausführungen steht dann der Blick oder Anblick (opsis). – Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Dinge komplizierter liegen: Wie die Bemerkungen über die körperliche Anziehungskraft der Helena vorwegnehmen, ist die Wirkkraft der opsis Pythagoras ist hier eine entscheidende Figur. Dazu sowie zur musikalischen Ethoslehre insgesamt vgl. Koller, Die Mimesis in der Antike, 130–142. Anderson verfolgt in Ethos and Education in Greek Music die ethisch-pädagogischen Aspekte der griechischen Musiklehren von Pindar bis Aristoteles. Aufgrund ihres Materialreichtums hilfreich ist außerdem die ältere Arbeit Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik von Abert. Wenn Walsh von einer »magical psychology of language« spricht, bleibt der ethische Sinn der antiken Musiklehre ganz ausgeblendet: vgl. The Varieties of Enchantment, 81. 30 Vgl. Aristoteles, Politik 1340a: »In den Sinnesdingen gibt es sonst [sc. außerhalb der Musik] nirgends eine solche Beziehung zu den Charakteren, weder im Tastbaren noch im Schmeckbaren, höchstens ein wenig bei den Gesichtseindrücken […].« Vernant macht plausibel, dass musikalische Reinigungsriten sogar für die Verbrechensbekämpfung eingesetzt wurden: vgl. Die Entstehung des griechischen Denkens, 74– 76. 31 In diese Richtung geht Koller, Die Mimesis in der Antike, 157–162. Ähnlich die Lesart von Segal, »Gorgias and the Psychology of the Logos«, 127, dem es allerdings allein auf die psychologische Wirkung des Logos im Sinne eines ästhetisch-emotionalen Wirkens ankommt. 29

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der des logos eng verwandt. Die opsis kann die psychē bis in ihre »Charakterzüge« (tropoi) hinein »prägen« (typoutai), mit diesem Wort beschreibt Gorgias kurz vorher auch den Vorgang der peithō (Enk. 15, 13). Der logos wirkt, so heißt es, auf »die Augen der Ansicht« (tois tēs doxēs ommasin). Die opsis kann psychische Gewohnheiten verändern und Bilder in das Denken »einschreiben« (en tō phronēmati engraphein, Enk. 16 f.). Was über den erōs in seiner Sichtbarkeit gesagt wird, ist mithin eine Ergänzung zu dem, was über den klingenden logos gesagt wird; der logos hat auch erotische Kraft. 32 Die Wirkung des Sichtbaren ist mit der des Hörbaren verschlungen. Und wie Musiker und Dichter das Vorbild für den Umgang mit der musikalischen Wirkung des Logos liefern, so muss man sich, wenn man den Gebrauch der Macht des Bildes studieren will, an die Maler (grapheis) halten, die aus »Farben und Körpern« einen neuen »Körper und Umriss« schaffen (Enk. 18). Gedacht ist dabei an die Gestaltung von sichtbarer Materialität und nicht zuletzt an die Umbildung von etwas, das in seiner rohen, unbearbeiteten Präsenz schrecklich und furchterregend ist. Mit dem Wort graphein charakterisiert Gorgias am Ende auch sein eigenes Verfahren, wenn er sagt, er habe seinen logos »geschrieben« (Enk. 21). Mag der Redner auch nicht buchstäblich mit Farben und Formen arbeiten, so lässt sich sein Tun doch nach dem Modell der visuellen Gestaltung verstehen, als eine Erzeugung von ›Sprachbildern‹. 33 Die rednerische Leistung liegt in der Komposition von Materialien, die in ihrer Rohform desintegrierend wirken. Die ›logische‹ Tätigkeit vollzieht sich im Medium von zeitlich strukturierten Tönen und klingenden Bildern: Selbst die Elemente des beziehenden Denkens, wie der logismos des Enkomion (Enk. 2), entfalten ihre Wirksamkeit in diesem umfassenderen Sinngeschehen. Die Praxis des Logos ist also eine ästhetische Praxis, eine Formung des Hörbaren und Sichtbaren, ein Erklingenlassen und Sichtbarmachen. Gorgias’ Wendung logon plattein (Enk. 11) charakterisiert diese Vollzüge zutreffend: logoi müssen ›gebildet‹ werden. Reden sind ›Sprachplastiken‹, im Sinnlichen erzeugte Formen, in de-

32 Diese Lesart ist besonders plausibel, wenn man, wie Poulakos vorschlägt, das Enkomion im Ganzen als eine Verteidigung von Gorgias’ Logosdenken liest; vgl. »Gorgias’ Encomium to Helen and the Defense of Rhetoric«. 33 Vgl. Buchheim, »Maler, Sprachbildner«; zum weiteren Kontext auch Worman, »The Body as Argument«, bes. 171–180, und Shaffer, »The Shadow of Helen«.

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nen sich die musikalische Kraft der Dichtung mit der Macht der Bilder vereint. Die Meinung, dass sich rhetorisches Sprachdenken allein auf die Stimme bezieht, erweist sich damit als ebenso einseitig wie der Glaube, die Rhetorik sei schriftfixiert, wie man ihn oft mit Platon oder Alkidamas verbindet. Beide Einschätzungen sind darin unzureichend, dass sie voraussetzen, die Medialität des ›rhetorischen‹ Logos müsse an einer Gestaltungsform hängen. Tatsächlich entsteht für das Bewusstsein von Medialität gerade dort Raum, wo der Logos kein monomediales Abstraktum mehr ist. 34 Die spezifische Sinnlichkeit des logos wird im Durchgang durch unterschiedliche Medien erfahrbar. Wo ästhetischen Formen in ihrer medialen Verschiedenheit unmittelbare Wirkungen auf die menschliche Seele zugetraut werden, stellt sich die Frage, wie sich diese Wirkungen kanalisieren lassen. Es überrascht daher nicht, dass die so prägenden Modelle der Dichtung, Musik und Malerei wiederum durch das Leitbild der Medizin ergänzt werden. Im Falle des Gorgias, der nicht nur ein Schüler des Empedokles, sondern auch der Bruder eines Arztes gewesen sein soll, liegt dies besonders nahe. 35 Eine berühmte Stelle aus der Lobrede der Helena führt vor Augen, wie eng er sich an das medizinische Muster anschließt: »Dasselbe Verhältnis hat das Vermögen der Rede (tou logou dynamis) zur Ordnung der Seele (tēn tēs psychēs taxin) wie die Ordnung der Arzneien (tōn pharmakōn taxis) zur Natur der Körper« (tēn tōn sōmatōn physin, Enk. 14). Die Rede wirkt auf die Seele wie

Dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, dessen Bedeutsamkeit für das Thema hier spürbar wird, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Gorgias wäre in den Transformationsprozess von der oralen zur literalen Kultur einzuordnen, wie ihn Havelock etwa in The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences beschreibt. Allerdings scheint es sinnvoll, von einem allmählichen Prozess auszugehen, der typischerweise Mischformen mit sich bringt. Rosalind Thomas schreibt in Literacy and Orality in Ancient Greece, 4: »Fifth-century Athens was not a ›literate society‹, but nor was it quite an ›oral society‹ either.« Auf dieses Thema werden wir in Kap. VI 5 zurückkommen. 35 Zur Nähe des Gorgias zur Medizin vgl. etwa Jouanna, Hippocrates, 422 f. Schollmeyer zeigt in »Gorgias’ Lehrmethode«, dass nicht nur eine große stilistische Nähe, sondern sogar eine direkte Abhängigkeit der hippokratischen Schrift De flatibus von der gorgianischen Helena besteht. Die Luft (aēr) tritt dabei an die Stelle des logos und wird als ›größter Herrscher‹ (dynastēs megistos) hingestellt. Spatharas versucht in »Gorgias and the Author of the Hippocratic Treatise De arte« plausibel zu machen, dass auch der Autor von De arte ein Schüler des Gorgias war. 34

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Arzneimittel auf den Körper: Wie diese physiologisch wirken, wirkt jene in ihrer hör- und sichtbaren Gestalt ästhetisch. Die früheren Ausführungen zur Medizin haben gezeigt, dass eine solche Patenschaft nicht auf ein Programm der Technisierung der Rede hindeuten muss. Es lädt zu Missverständnissen ein, die gorgianische Konzeption einen »logischen Chemismus« zu nennen. 36 Vielmehr ist davon auszugehen, dass Gorgias die medizinische Kraft der Rede in den Dienst seines Bildungsprogramms stellen wollte: Wenn er eine Analogie zur Heilkunst sieht, so deswegen, weil der Logos seiner Auffassung nach ethische Potentiale zur Entfaltung zu bringen vermag. Es geht ihm um eine Medizin, die die auf das Seelenleben wirkenden Kräfte nicht nur zur situativen Beeinflussung nutzt, sondern nachhaltig in die richtigen Bahnen lenkt und so richtiges Leben fördert. Die Unterscheidung zwischen dem, was uns gut tut, und dem, was uns nicht gut tut, ist daher auch für das gorgianische Verständnis des Logos zentral. Diese Unterscheidung prägt etwa die Erläuterung der soeben zitierten Analogie: Wie im Fall der pharmaka, so gibt es auch im Fall der logoi förderliche und schädliche Wirkungen: Auf der einen Seite können sie »betrüben«, auf der anderen Seite »erfreuen«; einerseits können sie »Angst machen«, andererseits »Mut machen« (Enk. 14). Die gesamte Helena-Rede, so schlägt sich hier nieder, führt eindringlich vor Augen, dass der Logos eine helle und eine dunkle Seite hat: Er kann die göttlichsten Taten vollbringen (Enk. 8), aber die Seele eben immer auch »mit übler peithō berauschen und bezaubern« (Enk. 14). Gerade die Tatsache, dass Gorgias seinen Zuhörern die dunkle Seite des Logos so schonungslos präsentiert, unterstreicht, dass er kein Beeinflussungsprogramm im Sinn haben kann. Für Gorgias zielt die Einübung in die unterschiedlichen medialen Formen des Logos nicht auf ein Instrumentarium, das zu guten oder schlechten Zwecken gebraucht werden kann. Für ihn dürfte die Steigerung der aretē, auf die seine Lehre hinwirkt, vielmehr darin liegen, dass jemand mit den Wirkungen der Rede so umzugehen lernt, dass die sittlichen Potentiale der Lebenspraxis von innen her befördert werden. Das heißt nicht zuletzt, dass seine Praxis des Logos eine Arbeit an der Wahrnehmung beinhalten muss. Als Kultivierungspraxis muss sie auch eine sinnliche Erziehung leisten. Dies wird deutlicher, wenn man fragt, wie die gorgianische Rede ihre Wirkung genau ausübt. 36

Vgl. Buchheim, »Maler, Sprachbildner«, z. B. 418.

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

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Der Modus des Sich-Zeigens

Gorgias zufolge ist der Logos eine ästhetische Erscheinung. Er ist kraft seiner sinnlichen Gestalt bedeutsam. Wie sich gezeigt hat, ist diese Sinnlichkeit nicht auf die von Auge und Ohr reduzierbar, sondern von eigentümlicher Art. Aber wie ist das genau zu verstehen? In welcher Weise ›bedeutet‹ der gorgianische Logos? Ich möchte diese Frage so beantworten, dass der Grundmodus der Rede bei Gorgias ein Sich-Zeigen ist. Der Sinn der Rede liegt für ihn gewissermaßen in einer ›gestischen‹ Funktion. Diese Auslegung wird sowohl der ästhetischen Verfasstheit der Rede als auch ihrer erzieherischen Funktion Rechnung tragen können; und sie wird auch verständlich machen, in welcher Bedeutung die Rede bei Gorgias der Wahrheit (alētheia) verpflichtet ist. Gorgias behauptet in seiner ›Rede über das Nichtseiende‹, wie schon zitiert, dass der logos »aus dem Wahrnehmbaren« zusammengesetzt sei. In Sextus’ Bericht nun folgt daraufhin bald die Bemerkung, die Rede sei nicht »Beisteher des Äußeren« (tou ektos parastatikos), sondern das Äußere umgekehrt »Offenbarer« oder »Verkünder der Rede« (tou logou mēnytikon, DK 82 B3 [85]). Man kann dies als Wegweiser für eine Rekonstruktion der gorgianischen ›Bedeutungstheorie‹ nehmen: Die Rede in ihrer ästhetischen Gestaltung ist kein Vehikel von etwas, das außerhalb der Rede läge. Ihr Sinn wird im Gegenteil an ihrer Gestaltung selbst offenbar. Der erste Teil der Erläuterung drückt aus, dass der gorgianische Logos keine Repräsentationsfunktion hat: Die Rede vermittelt weder externe Gehalte noch diskursunabhängige Sachen. Sie ist nicht dazu da, den äußeren Dingen ›beizustehen‹ oder zur Hilfe zu kommen. Der zweite Teil der Erläuterung gibt einen Hinweis, wie die Bedeutungsweise des Logos positiv begriffen wird: Dass es ›das Äußere‹ ist, das den logos ›offenbart‹, darf man so auffassen, dass etwas durch seine ästhetischen Qualitäten sinnvolle Rede wird. Ein Logos ist durch seine konkrete sinnliche Formung das, was er ist. Es ist die jeweilige Bildungs- oder Kompositionsweise selbst, die ihn sowohl erzeugt als auch bedeutsam und wirksam sein lässt. Der erste Aspekt, dass die Rede keine Repräsentationsfunktion haben kann, hatte sich in Gorgias’ Kritik der parmenideischen Ontologie bereits angebahnt: Wenn der Gedanke von einem schlechthinnigen Sein sinnleer ist, dann ist es ebenso sinnleer, auf ein solches Sein Bezug nehmen zu wollen. Es gibt nichts jenseits oder ›hinter‹ 144 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Der Modus des Sich-Zeigens

der wahrnehmbaren Welt, das durch logoi widergespiegelt werden könnte. Wenn Gorgias nun außerdem Wert darauf legt, dass die Sinne in ihrer spezifischen Modalität klar auseinandergehalten werden müssen, so fällt damit auch die Möglichkeit weg, dass die sinnliche Erscheinung der Rede andere sinnliche Erscheinungen der Welt repräsentiert: Eine Rede ist weder ›Farbe‹ noch ›Ton‹ oder ›Ding‹, sondern eben ›Rede‹ und kann daher nur sich selbst sagen (MXG VI 21 f.; DK 82 B3 [83–86]). Wie immer wir sein Wirken genau beschreiben: Der gorgianische logos repräsentiert nicht. Angesichts dessen wurde gelegentlich gesagt, dass die Rede für Gorgias prinzipiell dysfunktional ist. Kerferd etwa versteht die Sache so, dass ein Logos, der von der Welt durch eine radikale Kluft getrennt ist, als solcher trügerisch sein müsse. 37 Vorausgesetzt bleibt dabei, dass die Rede eigentlich Repräsentationsfunktion übernehmen sollte: Sofern sie nicht äußere Gegebenheiten darstellt, tut sie ihren Dienst nicht. Es wurde bereits bemerkt, dass diese Interpretation mit der geradezu göttlichen Macht der logoi bei Gorgias unvereinbar ist. 38 Sie ist schon deswegen problematisch, weil sie gar nicht erst in Betracht zieht, dass dem Logos eine ganz andere Aufgabe zugeschrieben werden könnte. Einen Schritt weiter geht Alexander Mourelatos, der die kategorielle Differenzierung von Logos und Welt zum Anlass nimmt, die Passagen in der ›Rede über das Nichtseiende‹ als Kritik der referentiellen Sprachfunktion zu lesen. 39 Dass der Logos prinzipiell nicht dazu gemacht ist, etwas außerhalb seiner selbst zu repräsentieren, heißt nicht, dass er einen prinzipiellen Mangel aufweist, sondern dass er eine prinzipiell andere Funktion erfüllt. Das Urteil, dass die Täuschung in der Natur der Rede liegt, zeugt von einer falschen Idee davon, was es überhaupt heißt, zu reden. Wenn die Rede hingegen gar nicht für ›Sachen‹ steht, dann kann sie auch nicht an der ›Sache‹ vorbeigehen oder über sie hinwegtäuschen. Mag man sich Vgl. Kerferd, The Sophistic Movement, 81 f. Kerferd hält dennoch daran fest, dass logoi trotz allem auf gegenständliche Wahrheit abzuzielen haben. Sofern diese Sichtweise kohärent ist, ist sie zumindest höchst unplausibel: vgl. Porter, »The Seductions of Gorgias«, 271, Anm. 11. 38 Zu dieser Diskussion vgl. Mourelatos, »Gorgias on the Function of Language«, 135 f. oder Porter, »The Seductions of Gorgias«, 270 f. 39 Vgl. Mourelatos, »Gorgias on the Function of Language«, etwa 151–155. Der Autor hält sich allerdings an den Rahmen der sprachanalytischen Semantik, was ihn letztlich zu der Auffassung bringt, Gorgias habe eine behavioristische Bedeutungstheorie vertreten. 37

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

über die Grundfunktion der Rede bei Gorgias also auch streiten, so darf man doch soviel sagen, dass sie nicht-repräsentationaler Art ist. Gorgias ist in dieser Hinsicht eigentlich recht klar – und dass seine Vorstellung von Sinn und Bedeutung so vielen Interpreten Schwierigkeiten bereitet, dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass solide Alternativen zur Repräsentation nicht gleich auf der Hand liegen. 40 Wie also ist die Bedeutungsfunktion des gorgianischen Logos dann zu erklären? Ich möchte davon ausgehen, dass der Modus der Signifikation bei Gorgias allgemein als ein Zeigen charakterisiert werden kann. Das bietet sich schon deswegen an, weil er das Reden selbst häufig so kennzeichnet (deixai, epideixai, Enk. 2, 8, 9; Pal. 5). Da ein ›Zeigen auf etwas‹ dabei wegen der Zurückweisung der Repräsentationsfunktion ausfällt, muss es genauer gesagt ein ›Sich-Zeigen‹ in der Rede selbst sein, ein Aufweisen oder Sichtbarwerdenlassen. Ein Redner lässt kraft der ästhetischen Gestaltung von logoi etwas zutage treten. Bedeutsam wird die Rede also nicht primär durch das, was gesagt oder wovon gesprochen wird, sondern durch die Art und Weise, wie jemand redet und was im Reden vor Augen tritt. Dies scheint sich gut mit der traditionellen Auffassung zu vertragen, dass Gorgias dem Modus der Epideixis anhänge. Vor allem die ›Lobrede der Helena‹ wird in der Regel als epideiktische Rede verstanden. 41 Oft ist dabei das von Platon auf den Weg gebrachte Urteil im Spiel, dass eine Rede, die die Art und Weise des Redens ins Zentrum treten lässt, nicht mehr als eine Kostprobe rednerischer Kunstfertigkeit sein kann. Die Epideixis scheint ihren Ort in der ›Festrede‹ oder ›Prunkrede‹ zu haben. Gegen diese Auffassung ist allerdings einzuwenden, dass die Theorie der Redegattungen (genera dicendi), aus der dieser Begriff des Epideiktischen stammt, erst im 4. Jahrhundert Form annimmt. Für Gorgias ist das Zeigen oder Aufzeigen kein besonderer Modus der Rede unter anderen, sondern der Grundmodus Der nicht-repräsentationale Charakter des gorgianischen Logos ist häufig aufgefallen, aber nur selten ernst genommen worden. Während Kerferd ihn, wie gesehen, als Defizit versteht, hält z. B. Robert Wardy daran fest, dass die Sprache auch bei Gorgias, allem Anschein zum Trotz, repräsentationale Funktion haben muss. Daraus ergeben sich besonders für die ›Rede über das Nichtseiende‹ schwere Interpretationsprobleme: vgl. The Birth of Rhetoric, 19–24. 41 Vgl. Segal, »Gorgias and the Psychology of the Logos«, 100 oder Giombini, Gorgia epidittico. Die Einstufung geht auf antike Vorgaben zurück, vgl. DK 82 B6 oder Aristoteles, Rhet. 1414b. 40

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allen Redens. Als das Wort ›epideiktisch‹ lange nach Gorgias zur Gattungsbezeichnung wird, 42 ist dem bereits eine grundlegende Verwandlung des Bilds von Sprache und Sinn vorausgegangen. Soweit Gorgias die Möglichkeit der formellen Rhetorik schon gesehen hat, wäre wiederum anzunehmen, dass er ihr mit größter Skepsis begegnet ist: Sollte es stimmen, dass die rhetorische Epideixis aus Gorgias’ Sicht, wie Pratt meint, schon im Entstehen begriffen war, so hätte er sie in der Tat abgelehnt. 43 Die Einstufung des gorgianischen Logos als epideiktisch ist also anachronistisch, sofern damit das genus dicendi der späteren rhetorischen Kunstlehre gemeint ist. Dennoch liegt in dieser Klassifikation etwas, das Beachtung verdient, weil es auf die ursprüngliche Funktion zeigender Rede hindeutet: Der Epideixis wird in der späteren Gattungslehre eine erzieherische Funktion zugesprochen. Dass die Rede zeigend funktioniert, heißt, dass sie Weisen des richtigen Handelns und sittliche Vorbilder gegenwärtig machen kann. Noch für Aristoteles ist die Epideixis derjenige Redetypus, der »die Größe der Tugend erstrahlen lässt« (emphanizein, Rhet. 1367b). Betrachtet man Gorgias’ Redepraxis also wiederum als Bildungskultur statt als Kunstlehre, so wirft dies auch Licht auf ihren epideiktischen Sinn: Gerade ein zeigendes Sprechen kann erzieherische Funktion übernehmen, indem es sittliche Paradigmen vergegenwärtigt, Vorbilder liefert, zur Nachahmung empfiehlt und dadurch ethische Wirksamkeit entfaltet. Die Praxis der Epideixis kann selbst als Bildungspraxis ausgelegt werden. Dieses Verständnis ist älter als die Institution der epideiktischen Rede, wie sie in späteren Rhetoriktheorien beschrieben wird. 44 Vgl. Buchheit, Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles. 43 Pratts Lektüre zufolge will Gorgias in der Helena-Rede »the shallowness of epideixis as mere technical display« ans Licht bringen, wofür er seine Zuhörer in etwas hineinzieht, »what appears (at first) to be a display of just this kind«: vgl. »On the Threshold of Rhetoric«, 171. Diese Ausführungen sind allerdings eher spekulativer Natur. 44 Jeffrey Walker beschreibt die Epideixis als eine Weise der Rede, »which shapes and cultivates the basic codes of value and belief by which a society or culture lives; it shapes the ideologies and imageries with which, and by which, the individual members of a community identify themselves; and, perhaps most significantly, it shapes the fundamental grounds, the ›deep‹ commitments and presuppositions, that will underlie and ultimately determine decision and debate in particular pragmatic forums« (Rhetoric and Poetics in Antiquity, 9). Vgl. auch Sullivan, »A Closer Look at Education as Epideictic Rhetoric«. 42

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

Die Auslegung von Gorgias’ Redepraxis als Zeigepraxis erlaubt es, dem Bild von seiner Redekultur mehr Tiefenschärfe zu verleihen: Wenn er keine technē im Sinn hatte, sondern ein Bildungsprogramm, dann dürfte es ihm darauf ankommen, dass durch die Art und Weise, wie geredet wird, die rechte Haltung zum Leben gestützt wird. Das Können, das in der Redeweise ›epideiktisch‹ hervortreten soll, ist, wenn man so will, ein sittliches Können; und das Ziel liegt dabei darin, diese Sittlichkeit weiter zu befördern. Dass das Wesentliche der Rede in ihrem Handlungscharakter liegt, heißt also nicht, dass sie für Gorgias nichts weiter ist als perlokutionäre Bewirkung. Der logos hebt sich gerade deswegen so deutlich von anderen Handlungsmächten ab, weil er erzieherische Wirksamkeit hat und so Weisen des Handelns zu bahnen und den Weg zum rechten Leben aufzuzeigen vermag. Mit der Epideixis ist eine Redeweise verbunden, die aufgrund ihrer inneren Bedeutsamkeit eine nachhaltige ethische Orientierung stiftet: In der Rede zeigt sich idealerweise, wie es zu sein hat. Das richtige diskursive Handeln ist insofern der Anfang aller Sittlichkeit. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, auch die Frage zu behandeln, welche Kriterien in der gorgianischen Redekultur greifen. Dabei ist zweierlei zu beachten: Erstens wird das Zeigen als primärer Modus der Rede auch der erste Bezugspunkt der Bewertung sein. Vom Standpunkt der Repräsentation erscheint ein zeigendes Reden als sachlos und damit maßlos. Tatsächlich unterliegt es als zeigendes Reden aber eigenen Maßstäben: Es gelten die Kriterien einer spezifisch ›epideiktischen Richtigkeit‹. Zweitens steht das zeigende Reden, obwohl es kein instrumentelles Bewirken ist, doch als Handlungsvollzug zur Debatte, nämlich als ein Wirken, das Lebensweisen anbahnt und formt. Der Maßstab der Epideixis ist daher der einer Kultivierungspraxis, die epideiktische Richtigkeit ist eine ethische Richtigkeit. Dieser ethische Maßstab eines epideiktischen Vollzugs hat bei Gorgias denselben Namen wie der Maßstab späterer Logoslehren oder ›Logiken‹ : alētheia.

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Alētheia: Die vollendete Form der Rede

Wie schon erwähnt, lässt sich das Urteil, Gorgias hebe jedes Wahrheitskriterium auf, bis zu antiken Kommentatoren zurückverfolgen. Die ästhetische Verfasstheit seiner Redepraxis kann den Anschein erwecken, dass diese sich an nichts halten und bestenfalls auf die Evi148 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Alētheia: Die vollendete Form der Rede

denz des jeweiligen Augenblicks verweisen kann. Wie im Fall des Protagoras sind solche Einschätzungen aber voreilig. Es erweist sich, dass Gorgias’ Lehre sehr wohl Kriterien unterworfen ist, nur sind es die Kriterien einer epideiktischen Bildungspraxis. In einer solchen Praxis liegt der Sinn der Rede nicht in dem, wofür sie steht, noch in dem, was sie bewirkt, sondern in dem Ethos, das in ihr zur Erscheinung kommt. Dies ist es, was zur Bewertung steht. In der Anfangspassage der Helena-Rede wird die normative Forderung formuliert, man solle »das Lobenswerte loben und das Tadelnswerte tadeln«. Dieses Prinzip, das Gorgias am Ende der Rede (Enk. 21) auch ein Gesetz (nomos) nennt, lässt sich auf Pindar zurückführen. 45 In seiner achten Nemeischen Ode bekennt dieser, dass es zwar schon immer Hass- und Schmeichelreden gegeben habe, er aber ein Dichter sein will, der nicht von dieser »Art« (ēthos) ist, sondern auf »schlichten Wege« geht und dafür geschätzt wird, dass er »das Lobenswerte lobt und die Sünde mit Tadel besät«. 46 Die zu Beginn des Enkomion formulierte Norm ist also die Neuauflage eines dichterischen Ideals. Man darf dies als weiteren Beleg nehmen, dass Gorgias primär an Bildung gelegen ist: Nicht nur vollzieht sich Erziehung von je her als Loben und Tadeln. Auch Pindar selbst beschreibt sein Tun explizit als erzieherisch: In derselben Ode erklärt dieser sein Prinzip von Lob und Tadel als eines, dass die Tugend zur Blüte bringen wird: Es »wächst das Gutsein« (auxetai d’ areta), so heißt es dort, »wie durch frischen Tau ein Baum«, wenn es »bei Weisen und Gerechten (en sophois […] en dikaiois) heranreifend emporgehoben« wird (Nem. VIII, 40–42). Nimmt man an, dass sophoi hier für Dichter Vgl. Buchheim, »Einleitung zu Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien«, bes. XXIII und XXVI–XXIX. Für Buchheims Versuch, den Zusammenhang zwischen dem pindarischen Gesetz und der gorgianischen Auffassung von Wahrheit zu klären: ebd., XXIX f. 46 Pindar, Nem. VIII 32–39: »ἐχθρὰ δ᾽ ἄρα πάρφασις ἦν καὶ πάλαι, / αἱμύλων μύθων ὁμόφοιτος, δολοφραδής, κακοποιὸν ὄνειδος: / ἃ τὸ μὲν λαμπρὸν βιᾶται, τῶν δ᾽ ἀφάντων κῦδος ἀντείνει σαθρόν. / εἴη μή ποτέ μοι τοιοῦτον ἦθος, Ζεῦ πάτερ, ἀλλὰ κελεύθοις / ἁπλόαις ζωᾶς ἐφαπτοίμαν […] ἐγὼ δ᾽ ἀστοῖς ἁδὼν καὶ χθονὶ γυῖα καλύψαιμ᾽, / αἰνέων αἰνητά, μομφὰν δ᾽ ἐπισπείρων ἀλιτροῖς.« Die Übersetzung von Eugen Dönt lautet: »Gehässige Darstellung gab es also auch früher / die einhergeht mit verschlagenen Reden listig schmäht und Übles anrichtet / das Strahlende vergewaltigt und für Glanzloses morschen Ruhm bereit hält. / Von der Art möchte ich niemals sein, Vater Zeus, sondern auf unverschlungenen / Pfaden des Lebens möchte ich wandeln […] daß ich auch im Grabe bei den Bürgern Ansehen habe / indem ich lobe, was des Lobes wert, Tadel streue dem Frevel.« 45

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steht, welche sodann als gerecht (dikaioi) qualifiziert werden, dann sind es die ›gerechten Dichter‹, die das Gutsein gedeihen lassen. 47 Man darf daher sagen, dass der Kern dieses Erziehungsmodells im gerechten Loben und Tadeln liegt. Die erste Pflicht eines Dichters besteht darin, das Gute zu befördern und das Schlechte klein zu halten. Dies verträgt sich gut mit Pindars Grundüberzeugung, dass der Dichter das Edle und Hervorragende als solches darzustellen und erstrahlen zu lassen hat. Er hat die aretē hervorzuheben, Vorbilder leuchtend zu machen und die Erscheinungen des Göttlichen ins helle Licht zu stellen. Diese Leistung, für die es eine besondere dichterische sophia braucht, ist deswegen nötig, weil das Großartige nicht ohne weiteres als solches gesehen wird. Seine Schönheit ist aber nur vollkommen, wenn es als hervorragend und schön wahrgenommen und das heißt schon: gerühmt und gepriesen wird. 48 Die Darstellung kann sich nicht durch neutrale Beschreibung auf das sittlich Große und Schöne beziehen, sondern allein ›emphatisch‹, indem sie es zur Geltung bringt und dadurch weiter vergrößert. An diese Grundüberzeugung knüpft sich nun gleichzeitig Pindars Verständnis von alētheia. Gladigow, der auf diesen Umstand aufmerksam macht, formuliert es so: »Zur areta gehört unabdingbar das Sich-Zeigen; so kann Pindar die alatheia, das Offenbarwerden, geradezu als Ursprung der areta bezeichnen.« 49 Die aretē ist bei Pindar keine innere Einstellung, sondern an ihre Erscheinungsformen gebunden. Sie muss verkörpert werden. Und in der Dichtung kann sie eigens festgehalten und zu bleibender Anwesenheit gebracht werden. Das sittlich Hochwertige wird kraft der poetischen Gestaltung vor dem Vergessen bewahrt und zu dauerhaftem Glanz gebracht. Eine solche Gestaltung erzeugt dann eine eigene Form der Objektivität: Die Dichtung hat insofern alētheia, als sie bleibende Manifestation des Gutseins ist. Geht man davon aus, dass dieses Verständnis bei Gorgias nachwirkt, dann ergibt sich eine aufschlussreiche Interpretation der Anfangspassage der Helena. Vor allem erhält Gorgias’ Begriff der Wahrheit vor dem Hintergrund von Pindars dichterischer Bildungspraxis

Eugen Dönt übersetzt Nem. VIII 40 f.: »Wahre Leistung wächst wie durch schimmernden Tau ein Baum […] / erhoben durch das Wort gerecht lobender Dichter […].« 48 Vgl. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 87. 49 Gladigow, Sophia und Kosmos, 45. Zu Pindars eigentümlichem Begriff von alētheia vgl. auch Park. »Truth and Genre in Pindar«, etwa 20 f. 47

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einen eigentümlichen Sinn. Die Passage sei zunächst in Erinnerung gerufen: Ordnung (kosmos) findet die Polis in der guten Bürgerschaft (euandria), der Körper in der Schönheit (kallos), die Seele in der Weisheit (sophia), die Tat (pragma) in der Tugend (aretē), die Rede (logos) in der Wahrheit (alētheia); das Gegenteil davon ist Unschicklichkeit (akosmia). An Mann und Frau und Rede und Tat (pragma) und Stadt und Werk (ergon) ist das Lobenswerte zu loben und das Tadelnswerte zu tadeln. Denn es ist genauso Verfehlung und Unkenntnis (hamartia kai amathia), das Lobenswerte zu tadeln wie das Tadelnswerte zu loben. (Enk. 1)

Wie das Wort alētheia in dieser Passage gewöhnlich aufgefasst wird, dokumentieren viele Übersetzungen, die das erläuternde kosmos als ›Schmuck‹ oder ›Zier‹ wiedergeben. 50 Die Wahrheit könne für Gorgias nicht mehr sein als eine oberflächliche ästhetische Wohlgeformtheit. Dabei bleibt unbeachtet, wie eng das Wahrheitsmotiv am Anfang der Helena-Rede mit Pindars Gesetz vom gerechten Loben und Tadeln verflochten ist. Genau genommen erläutert das eine das andere. Gorgias erinnert zu Beginn daran, was von jeder Rede sittlich zu erwarten ist: Ihre gelungenste Gestaltung oder vollendete Form (kosmos) findet eine Rede in der Wahrheit; und das heißt, sie ›hat Buchheim übersetzt kosmos mit ›Zier‹, Schirren und Zinsmaier mit ›Schmuck‹. Diese Lesart dominiert auch den englischsprachigen Raum: So vertritt Wardy die These, dass Gorgias’ Vorstellung von alētheia rein ›kosmetisch‹ sei: vgl. The Birth of Rhetoric, 29 f. Ähnlich fasst Pratt ›Ordnung‹ als Nebensinn von kosmos in Enk. 1 auf, während ›Schmuck‹ (adornment) explizit der Hauptsinn bleiben soll: vgl. »On the threshold of rhetoric«, 177 f. Cole behauptet gar, dass der Eröffnungssatz der Helena im Grunde bedeutungslos sei: vgl. The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, 76. Diese Deutung wird nur zögerlich in Frage gestellt, aber wo dies geschieht, kommt gewöhnlich ins Spiel, dass der Ausdruck kosmos eine soziale oder ethische Dimension hat, was sich auf alētheia auswirken müsste. Ein Beispiel dafür scheint MacDowell zu liefern, der kosmos als ›grace‹ übersetzt und damit eine ästhetisch-ethische Bedeutung zum Ausdruck bringt. Halliwell, der sich MacDowell anschließt, erklärt kosmos in Between Ecstasy and Truth, 267, als »a state both internally ordered and externally attractive«. Dabei fasst er ausdrücklich eine ethische Bedeutung mit ins Auge, wie aus ebd., 283, fn. 39, hervorgeht: »The start of the work [sc. der Helena-Rede] might be thought to connect truth with evaluative or normative correctness, i. e. praising and blaming the right things, though Gorgias does not formulate the point as an explicit principle.« Da auch er den gorgianischen logos als prinzipiell trügerisch versteht, verfolgt Halliwell diese Konnotation des Wahrheitsbegriffs jedoch nicht weiter: Dass Gorgias eine Bedeutung von alētheia voraussetzen könnte, die nicht eigens mit normativer Richtigkeit verbunden werden muss, weil sie solche Richtigkeit bereits impliziert, wird nicht in Erwägung gezogen.

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alētheia‹ insofern, als sie angemessen oder gerecht lobt und tadelt. 51 Dieses Prinzip ist offensichtlich das gorgianische Kriterium der alētheia und damit Maßstab seiner Redepraxis. Es ist das Kriterium eines zeigenden Sprechens, das eine sittliche Absicht verfolgt. Der Ausdruck alētheia bezeichnet mithin ein ethisches Ideal, das im Vollzug der Rede realisiert werden soll, so dass diese das sittlich Schöne zur Geltung bringt. Dies sei nun mit Blick auf die epideiktische Form der Rede (a), das Ethos des Redenden (b), die Möglichkeit eines inneren Maßes (c) und die Dimension der Wirksamkeit (d) genauer entfaltet. (a) Wo der Modus der Rede das Zeigen ist, dort muss auch Wahrheit etwas sein, das epideiktisch aufgewiesen wird. Dies entspricht der Absicht des Enkomions, »das Wahre zu zeigen« (deixai talēthes, Enk. 2). Die Wahrheit der Rede liegt hier nicht, wie im Falle der apodeiktischen Wahrheit, in dem, was gesagt wird: Es gibt unter den Prämissen der Epideixis keinen Gehalt der Rede, der wahr sein könnte. Will man den Ausdruck ›wahr‹ in diesem Zusammenhang verwenden, so hat man dabei vor allem an eine Qualität des diskursiven Verhaltens zu denken. Es ist die Art und Weise des Redens – die Form des logon plattein –, in der die alētheia zur Erscheinung kommen muss. ›Wahrheit‹ ist der Name für eine vorbildliche Vollzugsform der Rede. Das verweist zunächst auf die Deutungen, die die alētheia als ein Offenbarmachen fassen: Wo eine Rede im genannten Sinne wahr ist, macht sie zugänglich, was im Normalfall verborgen oder entzogen bliebe. 52 Aber wie nun einsichtig ist, muss das nicht bedeuten, dass die Rede einen Seinsbereich außerhalb der Rede eröffnet oder der Wahrheitsbegriff ontologisch auszulegen ist. 53 Im vorliegenden Fall muss der Unterschied innerhalb der Praxis der Rede liegen: Durch alētheia hebt sich die vortreffliche Rede von der gewöhnlichen oder schlechten Rede ab. Im wahren rednerischen Verhalten eröffnet sich keine Sache außerhalb des Logos, sondern die höchste Form des Logos In Enk. 20 ist das Gerechte (dikaion) auch ausdrücklich ein Maßstab, der auf Lob und Tadel angewendet wird. Ein solcher Gebrauch von alētheia im Kontext von Lob bzw. Ehre und Tadel bzw. Schande mit Bezug auf Helena begegnet auch bei Euripides, Helena, 270 f. 52 Die Diskussion um Heideggers Unverborgenheit sei hier ganz beiseitegelassen. Für den Vorschlag, alētheia mit ›Unentzogenheit‹ zu übersetzen, vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 195–201. 53 Zu dieser oft wiederholten Auffassung vgl. exemplarisch Szaif, »Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike«. 51

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selbst. Die alētheia ist in der epideiktischen Praxis des Gorgias eine Erscheinung innerhalb der Totalität eines Sinngeschehens. Die Rede ist gegebenenfalls insofern wahre Rede, als sie von etwas zeugt, das sich allein im Verhalten einer Person verwirklichen kann: eine sittliche Haltung in ihrer Schönheit. Dazu müssen freilich Voraussetzungen erfüllt sein. Der oben angesprochene eigene Sinn für die Rede ist nicht einfach natürlich gegeben, sondern muss immer erst entwickelt und ausgebildet werden. Die gorgianische Einübung in den Logos wird der Kultivierung des ethisch-ästhetischen Könnens gegolten haben, das nötig ist, um die alētheia sowohl wahrzunehmen als auch selbst zu erzeugen. Erst wo sich jemand die ethische Redepraxis zu eigen gemacht hat, kann sich die wahre Rede, als vollendete Form dieser Redepraxis, ereignen. Der Maßstab der Rede ist bei Gorgias also ein Maßstab der epideiktischen und damit der ethischen Richtigkeit. Mit ihr wird in der Rede nicht gegenwärtig, wie es ist, sondern wie es zu sein hat. – Dies macht nun verständlich, warum dieses Kriterium durch das Prinzip ausgedrückt werden kann, ›das Lobenswerte zu loben und das Tadelnswerte zu tadeln‹. Wenn sich in der Rede zeigen soll, wie es richtig ist, muss sie von ihrem Sinn her ein Stellungnehmen sein. Rednerisches Verhalten muss im Kern ein Werten sein – aber keine Bewertung, bei der gesagt wird, ob etwas gut oder schlecht ist, sondern ein wertendes Ausdrucksverhalten, eine Geste der Beistimmung oder Ablehnung. Wo dies auf die rechte Weise geschieht, enthüllt sich in der Rede selbst das sittlich Gute. In diesem Fall wird ›Wahres gezeigt‹. Die alētheia kommt also kraft eines Vollzugs zur Erscheinung, der eine sittliche Haltung epideiktisch verkörpert. Das angemessene Loben und Tadeln ist darum das eigentliche Redehandeln. Es lässt ein vorbildliches Ethos in seiner Schönheit exemplarisch aufscheinen. Die Objektivität einer solchen alētheia liegt in der dauerhaften Gültigkeit solcher Vorbildlichkeit als praktischer Orientierung. Die epideiktisch richtige Rede stellt das sittlich Gute nicht einfach dar, sondern befestigt, befördert und erweitert es. Auch in diesem Sinn kann Gorgias sagen, dass die Rede in der alētheia ihren kosmos findet: Indem die Rede eine Ordnung nicht nur nachvollzieht, sondern zeigend und aufzeigend zur Geltung bringt, bringt sie sie weiter zur Entfaltung. Wenn diese Deutung stimmt, wird man Gorgias’ Ankündigung, er werde ›das Wahre (alēthēs) zeigen‹, so verstehen dürfen, dass er in seiner Rede eine edle Haltung sichtbar werden lassen will, die als Vor153 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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bild gelten und wirksam werden kann. Das Kernthema des Enkomion wäre die exemplarische Aufzeigung eines sittlich angemessenen Verhaltens gegenüber Helena – unter Zurückweisung einer Haltung der maßlosen Verurteilung und Dämonisierung, die zur Zeit des Gorgias verbreitet war. In diesem Fall geht es darum, wie Gorgias es formuliert haben soll, das »gegenwärtig Angemessene« (to paron epieikes) gegenüber der »anmaßenden« oder »selbstgewissen Gerechtigkeit« (tou authadous dikaiou) anzumahnen (DK 82 B6). Wenn Gorgias dabei die Zurückweisung derjenigen, die Helena in so überzogener Weise beschuldigen, als ein elenchein bezeichnet (Enk. 2), dann schwingt die Bedeutung des Tadelns und Beschämens deutlich mit. Nicht Helena hat Tadel verdient, sondern jene, die sie ungerechterweise beschuldigen. Gorgias’ Apologie soll daran erinnern, dass sich eine unbarmherzige Haltung gegenüber Helena nicht gehört, dass sie eine akosmia ist. Aus diesem Blickwinkel hat die ›Verteidigung des Palamedes‹ ein ganz ähnliches Thema: Palamedes spricht gegenüber den Richtern, die sein Todesurteil vermutlich bereits gefällt haben, deswegen von alētheia, weil er in seiner Rede sein edles und unbescholtenes Wesen offenbar werden lassen will. Sein Ziel bestimmt er zu Anfang ausdrücklich so, dass er sich nicht gegen seine Tötung verteidigen wolle – dies wäre ein hoffnungsloses Unterfangen –, sondern gegen Unehre und Schande (atimia, oneidos, Pal. 1). Da seine Sittlichkeit jedoch genau bezweifelt wird und vorauszusehen ist, dass Palamedes hingerichtet wird, kann er nur noch auf die »alētheia selbst« hoffen (Pal. 4) und sich, was sich im Normalfall nicht schickt, »selbst loben« (Pal. 32). Das Problem ist also nicht, dass die Wahrheit ›privat‹ wäre, wie Thomas Buchheim vorschlägt. 54 Es liegt darin, dass die Bedingungen für die alētheia dort, wo der Sprecher gerade genau der Schlechtigkeit bezichtigt wird, äußerst ungünstig sind: Der Rede ist der »Weg versperrt« (Pal. 4); sie kann sein Gutsein nicht aufscheinen lassen, wo die »Wahrheit der Taten« (Pal. 35) in Frage steht. Es ist dem Redner so gut wie unmöglich, die Situation, entgegen dem Kairos, umzuwenden. Es bleibt ihm nur, seine Ehre zu retten, indem er sein Ethos so gut als eben möglich noch einmal zur Geltung bringt. 55

Vgl. Buchheim, »Anmerkungen zu Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien«, 175 f. 55 Dem Muster begegnet man auch bei Isokrates, der in der Antidosis schreibt, dass 54

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(b) Die alētheia der Rede kann nicht unabhängig sein vom Ethos des Sprechers. In der Rede kann nur dann aretē aufscheinen, wenn der Redende sich selbst durch solche aretē auszeichnet. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. So will Palamedes sein ganzes bisheriges Leben als »glaubwürdigen Zeugen« (martyra piston) dafür aufbieten, dass er »Wahres« sagt (Pal. 15). Angesprochen ist damit wiederum nicht das Überzeugungsmittel, das die spätere Rhetorik als ēthos tou legontos kennt. Im vorliegenden Fall geht es um das grundlegendere Phänomen, dass sich in einem Sprechen immer die Person zeigt, die spricht, so dass in ihm nur dann Sittlichkeit aufscheinen kann, wenn sich die sprechende Person selbst durch solche Sittlichkeit auszeichnet. Der Sprecher kann nur gerecht loben und tadeln, wenn er selbst tugendhaft ist. Er muss das Gutsein nicht nur mit Worten unterstützen, sondern es selbst exemplifizieren und plastisch werden lassen. Es überrascht daher nicht, dass Pindars Prinzip bei Gorgias auch als generelle Erläuterung von ethischer Tugend auftritt: Im Epitaphios, von dem uns einige Fragmente erhalten sind, erwähnt er »das göttlichste und allgemeinste Gesetz« (theiotatos kai koinotatos nomos), welches darin bestehe, »das Nötige (to deon), wo es nötig ist, zu sagen (legein) und zu verschweigen (sigan) und zu tun (poiein)« (DK 82 B6 [2]). 56 Die höchste Sittlichkeit besteht darin, in der rechten Weise zu sprechen – sprich: gerecht zu loben und zu tadeln – und in der rechten Weise zu handeln. Sie besteht darin, das Gutsein durch Reden zu unterstützen und selbst zu vollziehen, es in Worten und Taten zum Gedeihen zu bringen. Dass die alētheia in der Rede selbst liegt, heißt also nicht, dass sie mit Blick auf eine sprachliche Form sichtbar wird. Das Reden im engeren Sinn und das mit ihm einhergehende Verhalten des Redners bilden vielmehr einen Gesamtkomplex. Die wahre Rede ist ein Beispiel für das richtige Verhalten im Sinngeschehen des Logos, ein vorbildliches ›Zeigehandeln‹. Was sie ist, ist sie nur innerhalb eines Ganzen, zu dem der soziale Kontext, die politischen Verhältnisse, die Haltungen der Beteiligten sowie die Unwägbarkeiten der Situation genauso gehören wie der leibliche Vollzug, die sprachliche Form der diese zwar als Verteidigungsrede fürs Gericht verfasst wurde, eigentlich aber die »Wahrheit über mich« (peri emou tēn alētheian) offenbar machen soll (Or. XV 13). 56 Dass hier das Schweigen (sigan) ins Spiel kommt, lässt sich ebenfalls mit Bezug auf Pindar erklären: Dort ist das Schweigen eine Weise, sein Missfallen auszudrücken, mit anderen Worten: eine Weise des Tadelns. Vgl. dazu Walsh, The Varieties of Enchantment, 42 f.

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Rede und die gesamte Lebensweise des Sprechers. 57 Die sittliche Haltung strahlt nur dort hervor, wo die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind und sich jemand in diesem komplexen Geschehen situativ angemessen zu bewegen versteht. Nur dann wird die Rede ›wahre Rede‹ sein. Wie die apodeiktische Wahrheit ihre sachlichen Erfüllungsbedingungen hat, hat die epideiktische Richtigkeit ihre ethischen Erscheinens- und Gelingensbedingungen. Dies unterstreicht noch einmal, warum die Praxis der Rede bei Gorgias eine ethische Kultivierungspraxis sein muss: Der Redende kann nicht darauf hoffen, dass sich das Wahre von der Sache her zeigt und die Wahrheit der Rede von selbst einstellt. Er muss gelernt haben, logoi richtig zu bewerten und zu gestalten, sie in die rechte Ordnung zu bringen. Dafür genügt formale Kunstfertigkeit nicht, ein solches diskursives Verhalten setzt vielmehr ein gefestigtes, vorbildliches Ethos voraus. Die ethische Bildung des Sprechers gehört folglich zu den wichtigsten Gelingensbedingungen der epideiktischen Richtigkeit. Die Entfaltung des kosmos kraft der Rede ist eine Tugend, die geübt sein will. Man könnte auch sagen, dass alētheia hier selbst ein Tugendbegriff ist: Der Redner muss zu einer bestimmten Haltung gefunden haben, um zur Wahrheit fähig zu sein. Nur durch die Einübung in die Praxis der wahren Rede kann sich die ethische Bildung realisieren, die wiederum die Bedingungen für wahre Rede schafft. Dieser Hintergrund dürfte mitklingen, wenn Gorgias das, was nur »kunstmäßig geschrieben« ist, von dem abhebt, was »mit Wahrheit gesprochen« wird (Enk. 13). Es ist vielleicht verlockend, dieses Moment der gorgianischen alētheia so zu verstehen, dass es die ›subjektiven‹ Bedingungen wahrer Rede betrifft. 58 In diesem Fall könnte man alētheia entsprechend mit ›Wahrhaftigkeit‹ oder ›Unverstelltheit‹ übersetzen wollen. Es ist aber wichtig, zu sehen, dass Wahrheit und Wahrhaftigkeit hier gerade noch nicht voneinander getrennt sind. Im Rahmen der ethischen Redepraxis des Gorgias ließe sich die Frage, ob eine Rede wahr ist, nicht durch eine separate Betrachtung der inneren Haltung oder der Aufrichtigkeit eines Sprechers klären. Wo es um die Qualität eines Rede-

Dieser Gedanke scheint bei Gorgias häufiger durch, vgl. z. B. Enk. 11: ouk an homoiōs homoios ēn ho logos. Unter veränderten Bedingungen wirkte derselbe logos nicht mehr auf dieselbe Weise. 58 Für diesen Erklärungsversuch vgl. stellvertretend McComiskey, »Gorgias and the Art of Rhetoric«, 10. 57

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vollzugs in Situationen geht, lassen sich subjektive Einstellungen nicht als gesondertes Element der Rede herausfiltern. Das Ethos des Sprechers ist keine Haltung hinter der Rede, sondern eine rednerisch verkörperte Haltung und damit selbst eine konkrete Erscheinung, die den Sinn der Rede mitkonstituiert. Darin liegt, dass das Offenbarwerden des Ethos nicht in der Hand des Redners allein liegt: Dieser kann sich weder einfach entscheiden, wahr zu sprechen, noch kann er eine wahre Rede durch Verstellung vortäuschen. Der Glaube, Wahrheit ließe sich vortäuschen, steht und fällt mit dem Glauben, sittliche Unzulänglichkeit könnte unbemerkt bleiben. Die fragliche Erscheinensbedingung der alētheia, die aretē des Sprechers, ist aber selbst öffentlich. Die wahre Rede ist Teil eines ethischen Verhaltens, das für jeden sichtbar ist, der sehen gelernt hat. Nur ein vornehmer, gebildeter Charakter kann sie zur Erscheinung bringen. 59 (c) Entgegen der althergebrachten Einschätzung, Gorgias kenne kein Kriterium der Rede, hat sich inzwischen gezeigt, dass die gorgianische Rede dem Maßstab der alētheia verpflichtet ist, welche als eine Art der epideiktischen Richtigkeit bestimmt werden kann. Doch vielleicht möchte man einwenden, dass ein solcher Maßstab nicht eigentlich ›Kriterium‹ genannt werden darf. Die alētheia liegt, anders als man es von der sachlichen Wahrheit glauben möchte, im Redevollzug selbst. Sie ist eine Erscheinung an der Rede, welche damit ein inneres Maß haben soll. 60 Aber müssen Kriterien der Rede nicht unabhängig sein? Wie im Fall des Protagoras stellt sich auch hier die Frage, welchen Halt eine Kultur der Rede finden kann, wenn es nichts gibt außer der ästhetisch verstandenen diskursiven Praxis selbst. Die gorgianische Perspektive gewinnt an Plausibilität, wenn man sich klarmacht, dass externe Kriterien hier schon deswegen nicht greifbar sein können, weil der ganze Bildungsprozess an ihre Stelle tritt: Das Ziel der Übungspraxis der Rede muss darin liegen, den Sinn für die Rede zu schulen und die alētheia wahrnehmen zu lernen. Dies Es führt daher auch nicht zum Ziel, die alētheia allein von der Korrektheit oder ›Geradheit‹ (orthotēs) der Rede her zu deuten. Für diesen Versuch vgl. Valiavitcharska, »Correct Logos and Truth in Gorgias’ Encomium of Helen«. Valiavitcharska kommt ebenfalls zu der Auffassung, dass Gorgias ein ethisches Redeideal verfolgt, scheint die Bedeutung der Kontextualität und sozialen Einbettung der Rede jedoch zu unterschätzen: Die alētheia stellt sich nicht von der orthotēs der Rede ein, sondern beide Qualitäten stellen sich jeweils gemeinsam ein, wo eine Vielzahl von Bedingungen erfüllt ist. 60 Vgl. auch Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, 403 f. 59

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lässt sich nur erreichen, indem man die Sensibilität für logoi durch Ausübung diskursiver Praktiken selbst vertieft und entwickelt. Wer die Praxis der Rede Standards unterwerfen will, die außerhalb dieser Praxis liegen, verfehlt daher von vornherein die eigentliche Aufgabe: Das Tugendwissen kann nur aus der Arbeit am Logos selbst kommen. Wie bei jeder ethischen Erziehung muss es sich dabei um einen langwierigen Prozess handeln. Alles Wertvolle will mühsam errungen werden. Die Frage nach Kriterien, die unabhängig vom Durchgang durch die Praxis formuliert werden und dem Weg zur Tugend gewissermaßen vorhergehen, ist daher von Anfang an die falsche. Der einzige Zugang zur Sittlichkeit ist der allmähliche Prozess der Versittlichung selbst. Nur wer die Bedeutung dieser Bildungsidee unterschätzt, wird auf den Gedanken verfallen, dass sich die gute, ethisch vorbildliche Rede in nichts von der oberflächlich schönen, betörenden Rede unterscheidet. Tatsächlich ist bei Gorgias mit der alētheia die Idee einer wahrhaft schönen Rede verbunden. Die Rede ist wohlgeformt, wenn in ihr das Ethos manifest wird, aus dem ihre ordnende Kraft entspringt. Wer sich in den Logos eingeübt hat, dem wird dies als ›Wahrheit‹ der Rede offenbar. Eine solche Wahrheit kommt jedoch nicht ohne vorhergehende Kultivierung zustande; und sie lässt sich nicht an etwas knüpfen, das außerhalb des Diskursiven liegt. Während ein Denken, das sich an unabhängigen Wahrheitsgründen orientieren will, also dazu tendieren wird, das Fehlen solcher Gründe als Symptom von Kriterienlosigkeit zu deuten, liefert Gorgias ein weiteres Beispiel dafür, wie sich jenseits der Alternative ›entweder externe Kriterien oder gar keine Kriterien‹ Fuß fassen lässt. Wo das Sich-Zeigen der bestimmende Modus der Rede ist, kann ihr Maßstab nur innerhalb ihrer selbst liegen. Dabei gilt als selbstverständlich, dass sittliche Größe allein in etwas evident werden kann, das selbst in einem ethischen Spielraum steht. Aus dieser Warte wagt sich jemand, der die Frage, ob eine Rede richtig oder gut ist, durch ein externes Kriterium erledigen möchte, an die eigentliche Aufgabe gar nicht erst heran. Wer so fragt, verhält sich wie ein Klavierschüler, der in seiner ersten Klavierstunde wissen will, was gutes Klavierspielen ist, ohne sich etwas zeigen lassen zu wollen. (d) Die Rede, so sagt Palamedes, ist der »Anfang« allen Handelns (archē, Pal. 6). Alles sprachliche Handeln, so könnte man dies erläutern, stellt für weiteres, nichtsprachliches Handeln die Weichen. Dies gilt auch für die im dargelegten Sinne wahre Rede: Ihre ›Wohl158 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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geformtheit‹ (kosmos) könnte man so auffassen, dass sich in ihr der Anfang des guten Handelns zeigt. Sie findet ihre vollendete Form dort, wo sie das ethische Ideal schon sehen und, auch im Sinne erotischer Anziehungskraft, attraktiv werden lässt. Sie ›hat kosmos‹, sofern sie zur weiteren Entfaltung von Ordnung leitet. Die wahre Rede ist also exemplarisch auch darin, dass sie als Vorbild dient; und sie ist zeigend auch darin, dass sie den Weg zum richtigen Leben weist. Wenn die Rede die aretē zur Geltung bringt, so heißt dies nicht nur, dass sie selbst vollendete Gestalt hat, sondern auch, dass sie weitere aretē befördert. Sittliche Schönheit gebiert sittliche Schönheit. In der alētheia der Rede liegt damit gleichzeitig eine Wirksamkeit. Im Lichte der ›epideiktischen‹ Auslegung der Rede macht der Blick auf diese Wirksamkeit deutlich, warum alētheia auch etwas von der Bedeutung hat, die sich nahelegt, wenn man lēthē, das ›Vergessen‹, als Gegenbegriff versteht. 61 Die Vergegenwärtigung des ethisch Richtigen realisiert eine Funktion der praktischen Orientierung, die stets auch als Anmahnung und Erinnerung an das wirklich Gute gehört werden kann. Die epideiktisch richtige Rede ist ein gestischer Vollzug des sittlich Guten und gleichzeitig ein ›Zur-Ordnung-Rufen‹, ein Herausstellen dessen, was bedeutsam ist und worauf man in seinem Tun zu achten hat. Die in diesem Sinn wahre Rede stiftet weiteres sittliches Tun – aber weniger, indem sie praktische Einstellungen neu erweckt, sondern mehr, indem sie bereits vorhandene Sittlichkeit anspricht und wachsen lässt. Darin, nicht im Sinne der Repräsentation, ist sie Vergegenwärtigung: erinnerndes Aufzeigen eines Verhaltenstypus, in dem sich ein ethisches Gutsein realisiert und dieses gleichzeitig intensiviert wird. Damit ist das gorgianische Ideal der Rede nun, entlang des Begriffs der Wahrheit oder alētheia, so rekonstruiert worden, dass sich ein Profil mit hinreichendem Wiederkennungswert geben lässt: Die Rede hat sittliche Schönheit zeigend zur Geltung zu bringen, indem sie sie exemplarisch verkörpert und damit gleichzeitig wirksam macht und steigert. Formuliert ist damit das innere Maß einer Praxis der Rede, das nur durch den Redevollzug selbst erfüllt werden kann. Dieses innere Maß nimmt bei Gorgias den Rang ein, den in späteren Logiken die unabhängig begründete Wahrheit beansprucht. Dass die Dass der Kontrast von alētheia und lēthē den Griechen in der frühgriechischen und auch noch in der klassischen Zeit präsent war, legt Heitsch in »Die nicht-philosophische alētheia« dar.

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Rede der Wahrheit verpflichtet ist, bedeutet hier, dass ein Sprecher vor allem anderen der ›epideiktischen Richtigkeit‹ verpflichtet ist, er hat sich im Diskurs vorbildlich zu verhalten. Der gorgianische Diskurs ist in der Tat nicht primär an einem sachlich Wahren, sondern an einem ethisch Guten orientiert – aber da eine solche alētheia ein zur sichtbaren Haltung gewordenes Gutsein voraussetzt, ist für sie nicht weniger, sondern mehr gefordert als bloße Faktentreue. Für Gorgias ist zur Wahrheit nur fähig, wer in seinem Reden ein ethisches Ideal sinnlich wahrnehmbar machen und dadurch weiter zur Blüte bringen kann.

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Ethische Redepraxis und Begründungsdenken

Einem alten philosophiehistorischen Narrativ zufolge, das gleichzeitig häufig als Gründungsmythos des Fachs dient, beginnt philosophische Rationalität dort, wo der Logos auf die Kriterien der sachlichen Wahrheit verpflichtet wird. Konstitutiv für diesen Wahrheitsbegriff ist der Gedanke, dass es nicht darauf ankommt, wie man redet oder welche ›rhetorische‹ Qualität ein Logos hat, sondern auf das, was man sagt, und ob man dafür ›Gründe geben‹ kann. Den Anfang solchen Begründungsdenkens macht man gern an Sokrates fest: Dessen Auseinandersetzung mit Gorgias läuft in dieser Perspektive auf den Nachweis hinaus, dass der sophistische Logos letztlich ohne Kriterien und daher maßlos bleibt. Wenn Sokrates eine Trennlinie zwischen ›lehrender‹ und ›glaubenmachender‹ peithō (Gorg. 454e) zieht, scheint er der sachlosen und unbegründeten Rede – dem Überreden – eine sachbezogene und begründete Rede – das Überzeugen – entgegenzustellen. Der Konflikt zwischen Sophistik und Sokratik dreht sich in dieser Perspektive im Kern um Erkenntnisfragen: Sokrates kann die gorgianische Redepraxis deswegen nicht gelten lassen, weil sie am Ende nichts weiter ist als ein geschickter Umgang mit Worten. Die vorangegangen Überlegungen machen darauf aufmerksam, dass diese Deutung zu einfach ist und der Streit von anderer Art gewesen sein muss: Für Gorgias hätte es gar kein Einwand sein können, dass es seiner Lehre an unabhängigen Gründen fehlt. Für ihn verlief die entscheidende Frontlinie zwischen der ethischen Redekultur und ihrer Verfallsform. 62 Seine Bemühung geht auf eine ethische Kulti62

In der Apologie des Palamedes wird ausdrücklich in solcher Weise unterschieden,

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Ethische Redepraxis und Begründungsdenken

vierungspraxis, die ihren Halt in sich selbst finden muss. Der Gedanke, dass die alētheia an etwas anderes geknüpft sein kann als an die konkrete Sittlichkeit des Sprechers, wäre für ihn beunruhigend gewesen, weil er aus seiner Sicht beinhaltet hätte, dass man sich die aretē durch Kunstgriffe verschaffen will. Der wirkliche Gorgias hätte das Problem also überhaupt nicht darin sehen können, sachlich im Unrecht zu sein. Soweit die Möglichkeit, ein wahres Reden durch die Einführung von Sachgesichtspunkten herzustellen, in seinen Horizont gekommen ist, war sie ihm fragwürdig. Die Kultur der sich zeigenden Wahrheit kennt letztlich keine tiefere Garantie als das richtige Reden selbst. Eine ihrer Gelingensbedingungen liegt darin, dass der Logos gar nicht erst als Gegenstand distanzierter theoretischer Betrachtung und damit als mögliches Mittel in Betracht kommt. Wer nach äußeren Kriterien fragt, will aus der Redepraxis eine technē machen. Wie die Zurückweisung der technē schon zeigt, war die bedrohliche Möglichkeit, den Logos unter die Kontrolle eines Kalküls zu bringen, in der Tat von Anfang an Teil der gorgianischen Denkwelt. Die Anspielung auf Prometheus (Enk. 6) erinnert daran, dass schon der Mythos das formale Sachwissen kennt, das manchmal geradezu als sokratisch-platonische Errungenschaft hingestellt wird. Die Metapher vom pharmakon (Enk. 14) ist eine Warnung, dass Diskurse nicht immer an die ethische alētheia gebunden sind: Ein logos kann Heilmittel sein oder Gift. Wie gerade das Modell der Medizin verdeutlicht, war damit nicht gemeint, dass logoi ›unterschiedlich gebraucht‹ werden können, wie Platon es Gorgias in den Mund legt. 63 (Dies wäre etwa so, als würde man sagen, dass die Heilkunst instrumentelle Mittel zur Heilung und Tötung bereitstellt: Auch wenn das ärztliche Wissen zu gegensätzlichen Zwecken verwendet werden kann, liegt der Sinn der Medizin in der Heilung.) Wo Potentiale des richtigen wenn dieser seine Richter nicht durch Hilfsmittel wie etwa Zeugen »für sich gewinnen« (peithein) will, sondern »durch die offenbarste Gerechtigkeit« (tō saphestatō dikaiō), nämlich durch »Vermittlung des Wahren« (didaxanta talēthes, Pal. 33). Im zweiten Fall entspringt die peithō daraus, dass in der Rede die Sittlichkeit des Sprechers aufscheint; dies ist gleichzeitig das Ideal der epideiktischen Richtigkeit bzw. der gorgianischen Wahrheit. 63 Der platonische Gorgias spricht an der einzigen Stelle, an der Platon ihn länger zu Wort kommen lässt, vom ›Gebrauch‹ (chreia) des logos: Die Redekunst kann gerecht oder ungerecht gebraucht werden. Genau darauf wird Sokrates’ Widerlegung zielen, vgl. Gorg., 455e-457c sowie 460d-461b.

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Gorgias und die Kultur der wahren Rede

Lebens zur Entfaltung gebracht werden sollen, ist es per se verfehlt, eine formale Technik der Rede auszubilden, ganz gleich, was jeweils die Ziele sein mögen. Das Problem liegt also am Ende darin, dass technische Effekte nicht leicht von der ethischen Wirksamkeit der wahrhaft schönen Rede abzugrenzen sind. Die peithō ist zwiespältig. 64 So hat man die Gefahr zu verstehen, der Helena erlegen ist, falls es denn der logos war, der sie »gewann und ihre Seele betrog« (Enk. 8). Die Gefahr geht von einer ›verdorbenen peithō‹ aus (peithō kakē, Enk. 14), nicht von einem ›schlechten Gebrauch‹ der peithō, welcher auch ›gut‹ sein könnte. Es ist lohnenswert, die in Platons Gorgias dargestellte Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Sokrates, eines der wichtigsten Beispiele für die Auseinandersetzung zwischen Sophistik und Sokratik, unter diesen Prämissen noch einmal genauer zu betrachten. Denn auch bei Platon dreht sich der Konflikt um die Frage der ethischen Redekultur. Sokrates beschreibt den Konflikt in Platons Gorgias als ethischen Konflikt um die Frage, ob ein Mensch »die Redekunst übend« (rhētorikēn askounta) leben soll oder »im Streben nach Weisheit« (en philosophia, Gorg. 500c). Die bisherigen Überlegungen haben erkennen lassen, dass die gemeinsam geteilte Basis für eine solche Auseinandersetzung viel solider ist, als häufig kolportiert wird: Nicht erst Sokrates, der für sein praktisch-ethisches Anliegen berühmt ist, sondern schon Protagoras und Gorgias ging es um die Entfaltung sittlicher Ideale. Beide Seiten teilen also ein ethisches Grundanliegen. Ferner scheint für alle Beteiligten gesetzt, dass diese Absicht durch eine diskursive Praxis realisiert werden muss. Diese gemeinsamen Prämissen erlauben den Figuren in Platons Gorgias eine vielschichtige Form der Argumentation, die dort, wo die Fixierung auf sachliche Begründung leitend ist, nur äußerst verzerrt in Erscheinung treten kann. Wie sich zeigt, wird die Grundfrage der Ethik, ›wie zu leben ist‹, auch für Sokrates durch eine Praxis der Rede entschieden, aber nicht so, dass man aus einer wertneutralen Argumentation heraus erfährt, was das ethisch richtige Leben ausmacht, sondern so, dass sich im Vollzug der Rede selbst erweist, welchem Ethos sie entspringt und auf welche Lebensweise sie hinwirkt. Diese immanent ethische Weise der Argumentation gilt es erst noch wieder zurückzugewinnen. Auch die Ambiguität der peithō ist ein Motiv, das nicht erst bei Gorgias auftritt: vgl. Buxton, Persuasion in Greek tragedy, 63–66.

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Ethische Redepraxis und Begründungsdenken

Welche Form die Kontroverse zwischen Gorgias und Sokrates in dieser Perspektive annimmt, zeichnet sich in Grundzügen bereits ab: Gorgias’ Problem liegt darin, dass die Grenze zwischen der ethischen Redepraxis und ihrer technischen Verfallsform äußerst fein ist, vielleicht zu fein. Die Trennlinie scheint letztlich vor allem durch sittliche Zurückweisung gezogen zu werden. Das würde aber bedeuten, dass Gorgias dem Denken der formalen Kriterien eigentlich nicht mehr entgegenzusetzen hat als die Versicherung der eigenen Sittlichkeit. Man kann sich gut vorstellen, dass dies die Kerbe ist, in die Sokrates schlägt: Sein Haupteinwand gegen die gorgianische Redelehre wäre es in diesem Fall gewesen, dass diese nicht die aretē verkörpert, die sie verkörpern will: Wer Mühe hat, die Linie zwischen ethischer Redepraxis und formaler Redetechnik zu ziehen, der meint nur zu wissen, wo diese Grenze liegt. Die Forderung, sich ›auf die Sache‹ (pros to pragma, Gorg. 457ef.) zu beziehen, richtet sich gegen die selbstgewisse Rede, die nur an sich selbst Maß nimmt und keine kritische Instanz vorsieht. Ein solcher sittlicher Mangel lässt sich jedoch nicht einfach beseitigen, indem sachliche Gründe vorgebracht werden. Vielmehr hat der Dialektiker zu zeigen, dass seine Redekultur eine sittliche Schönheit aufweist, die der gorgianischen Redekultur fehlt. Auch Sokrates überzeugt durch die Art und Weise, wie er lebt und redet. Setzt man voraus, dass ihm der ethische Begriff der Wahrheit vertraut war, so kann er seine Dialektik ohne weiteres als Transformation und Fortentwicklung der gorgianischen Diskurspraxis begriffen haben. Gorgias selbst wiederum hätte es ähnlich sehen können. Wie im nächsten Abschnitt sichtbar wird, findet sich in dem Bild, das Platon von ihm gibt, nichts, was darauf hindeutet, dass er sich dagegen gesträubt hätte, Sokrates zuzustimmen. Ganz im Gegenteil: Die gorgianische Diskurspraxis erfährt durch das sokratische Verfahren des Fragens und Antwortens die sittliche Wirksamkeit einer anderen ethischen Redekultur, die sie ergänzt und ihr geradezu zur Hilfe kommt. 65

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Das folgende Kapitel basiert in Teilen auf Leeten, »Rhetorik der Mäßigung«.

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V Sokratische Kultur der Rede

Indem wir nun zu Sokrates übergehen, geraten wir unweigerlich in den Einflussbereich von Platons Darstellung und damit in den Sog der von ihr ausgehenden alteingesessenen Deutungstradition. In dieser Perspektive werden die Diskussionen zwischen Sokrates und den Gelehrten seiner Zeit als Streit zwischen ›Sokratik und Sophistik‹ oder zwischen ›Philosophie und Rhetorik‹ stilisiert. Der Ausdruck rhētorikē, den der historische Sokrates selbst vermutlich noch nicht kannte, tritt im Gorgias erstmals in Erscheinung (Gorg. 448d) und dient seitdem dazu, die Sophistik als Kunst der Rede von philosophischer Argumentation abzuheben. Die sokratische Dialektik ist in dieser Sicht das erste Diskursverfahren, das ›mehr‹ ist als Redepraxis: Der philosophische Logos soll nicht Rede, sondern ratio sein. Bei genauerer Betrachtung wird freilich schnell sichtbar, dass diese Interpretation nicht aufgeht. Der Streit zwischen Rhetorik und Philosophie ist auch in Platons Dialogen ein Konflikt zwischen zwei Redepraktiken, der sophistischen und der dialektischen. Erstere wird porträtiert als ›lange Rede‹, als Praxis des Monologs und der großen epideiktischen Vorführung; letztere als ›kurze Rede‹, als Praxis des Fragens und Antwortens, als gemeinsame Wahrheitssuche. Platons Sokrates zieht nicht gegen die Redepraxis als solche zu Felde, sondern gegen die Redepraxis in einer bestimmten Ausformung. Am deutlichsten wird dies dort, wo er nach einer philosophischen Rhetorik fragt, nach der »wahren Redekunst« (alēthinē rhētorikē, Gorg. 517a) oder der »echten Rede- und Überzeugungskunst« (hē tou tō onti rhētorikou te kai pithanou technē, Phdr. 269cf.). Sokrates setzt der Redekultur seiner Zeit nicht etwa ein Ende. Die diskursive Praxis, die er entwickelt, bleibt der sophistischen Bildungsidee verpflichtet: Die Dialektik transzendiert die Praxis der Rede aus sokratischer Sicht nicht, sondern ist deren Weiterentwicklung. Tatsächlich wird inzwischen kaum noch bestritten, dass das sokratisch-platonische Unternehmen zutiefst in ›Rhetorik‹ verwickelt ist. Die Kontinuitäten in der Entwicklung von der vorsokratischen 164 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Sokratische Kultur der Rede

zur sokratischen Diskurspraxis werden dennoch erstaunlich selten erörtert. Obwohl immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass sich Sokrates kaum von der sophistischen Bewegung abgrenzen lässt, 1 bleibt bisher weitgehend offen, inwiefern genau die sokratische Dialektik an die Redepraxis ihrer Zeit anknüpft und sie vervollkommnen will. In gewisser Hinsicht scheinen die Erklärungen, dass Philosophie und Rhetorik oder Philosophie und Sophistik keineswegs unversöhnliche Antagonisten sind, die traditionellen Dichotomien sogar eher zu festigen: Indem die begriffliche Unterscheidung nicht hinterfragt wird, wird die Prämisse, dass beide Parteien wesensverschieden sind, auch im Vermittlungsversuch noch fortgeschrieben. Das Verhältnis, in dem die dialektische und die sophistische Redepraxis zueinander stehen, kann in diesem Denkschema nur ein äußerliches sein. Der innere Zusammenhang bleibt unbegriffen. Illustriert wird dies durch die Weise, wie die rhetorische Verfasstheit der philosophischen Rede bei Platon generell aufgefasst wird. Verbreitet ist in dieser Sache die Auffassung, die wahre Redekunst der Philosophie stehe deswegen höher als frühere Diskurspraktiken, weil sie eine Verankerung außerhalb der Redepraxis hat. Während der sophistische Logos letztlich nicht über sinnliche Phänomene hinausreiche, habe der sokratische Logos einen Halt in einem Raum sprachunabhängiger Begriffe. Geprägt ist diese Sichtweise durch die Konzeption der philosophischen Rhetorik im Phaidros: Dass die dialektische Rede überredende Kraft hat – dass sie von der Seele Besitz ergreifen und sie zur Tugend führen kann –, wird hier so erklärt, dass die Seele vor ihrer Geburt an einem »überhimmlischen Ort« (hyperouranios topos, Phdr. 247d) einen Blick auf die Ideen selbst erhascht hat. Damit wird eine ideale Form der Rede ins Auge gefasst, die über die Dimension des Ästhetischen hinausgreift und alle bisherigen Redepraktiken überflügelt. Die ›wahre Rhetorik‹ beruht auf höheren Einsichten: Gut redet, wer sich erinnert, was die Dinge eigentlich sind. 2 Die Philosophie ist im Besitz des wahren Logos, weil sie ein Wissen hat, das der diskursiven Aushandlung entzogen bleibt. Doch es gibt noch eine zweite Weise, die Rhetorizität des phi-

Zu dieser Diskussion vgl. z. B. Broadie, »The Sophists and Socrates« oder Woodruff, »Socrates among the Sophists«. Zur These, dass die Sokratik selbst von der Eristik noch schwer abzugrenzen ist, vgl. Nehamas, »Eristic, Antilogic, Sophistic, Dialectic«. 2 Vgl. auch Phdr. 270b-274a sowie dazu z. B. Szlezák, »Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹«, bes. 121–124. 1

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Sokratische Kultur der Rede

losophischen Diskurses zu denken. Für sie scheint der Gorgias, um den es in diesem Abschnitt gehen wird, exemplarisch zu sein. In diesem Dialog spielt die Option der idealen Rhetorik keine Rolle. Das Etikett rhētorikē ist hier stattdessen für eine Redekunst reserviert, die ohne Erkenntnis bleibt und bestenfalls Geschicklichkeit ist. Wenn sich Philosophie und Sophistik in diesem Dialog durchdringen, so auf den ersten Blick in dem Sinn, dass sich Sokrates in auffälliger Weise auf die Mittel der ›sophistischen Rhetorik‹ verlegt und im Laufe der Auseinandersetzung wiederholt auf Diskursverfahren zurückgreift, die man eher von seinen Gesprächspartnern Gorgias, Polos und Kallikles erwartet hätte: von Makrologie über Schmeichelei bis hin zu blanker Überredung. Diese Entwicklung, die im Disput zwischen Sokrates und Kallikles ihren Höhepunkt erreicht, wurde so erklärt, dass Sokrates’ Verfahren in der gereizten Atmosphäre des Dialogs und angesichts zunehmend widerspenstiger Gesprächspartner nicht mehr greift: Es ist behauptet worden, Sokrates stelle im Gorgias unter Beweis, dass er, wenn nötig, auch sophistische Kampfkünste beherrscht. 3 Man hat gesagt, dass er eine eigene Kunst der rhetorischphilosophischen Selbstverteidigung entwickle 4 und dass er seine Kontrahenten mit ihren eigenen Waffen schlagen will. 5 Es wurde sogar gemutmaßt, Sokrates habe beabsichtigt, die instrumentelle Redetechnik für seine philosophischen Anliegen zu funktionalisieren: Sokrates mache sich im Gorgias formale Verfahren der Sophisten zu eigen, welche nur der Wahrheit untergeordnet werden müssen, um respektabel zu werden. 6 All diese Interpretationen setzen fraglos voraus, dass sich die sokratische und die sophistische Redepraxis antagonistisch zueinander verhalten: ›Rhetorik‹ oder ›Sophistik‹ sind Namen für eine Technik, die bestenfalls ein äußerliches Hilfsmittel von Philosophie sein darf. So bleibt die Idee einer philosophischen Rhetorik eigentümlich leer: Auch wenn der Dialektiker zuweilen von der rhētorikē Gebrauch macht, die er vorfindet, muss beides doch scharf getrennt sein. Worin also liegt der innere Zusammenhang? Obwohl die Dialektik des Sokrates eine Innovation war, hat sie in dem Rahmen opeVgl. z. B. Gentzler, »The Sophistic Cross-Examination of Callicles in the Gorgias«. Vgl. Stauffer, The Unity of Plato’s Gorgias. 5 Vgl. Levett, »Platonic Parody in the Gorgias«. 6 Vgl. Carone, »Socratic Rhetoric in the Gorgias«. – Für den Versuch eines Überblicks über die neuere Diskussion zum Gorgias, unter den Gesichtspunkten von Rhetorik und Dialektik, vgl. Renaud, »Zwischen Dialektik und Rhetorik«. 3 4

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Sokratische Kultur der Rede

riert, der durch die Bildungskultur der Rede im 5. Jahrhundert v. Chr. gesetzt war. Es ist daher anzunehmen, dass sie deren Ideen aufnimmt, fortschreibt und weiterentwickelt. Dieser Rahmen lässt sich aus Platons Dialogen nicht ohne weiteres herauslesen. Es wäre aber erstaunlich, wenn er bei ihm ganz unsichtbar geworden wäre. Das Sophistikverständnis, das Platon zu seiner Zeit vorausgesetzt hat, kann noch nicht das gewesen sein, das durch die Wirkungsgeschichte seiner Dialoge erst geprägt wird. Gerade in den früheren Werken muss die sokratische Redepraxis als eine Modifikation der Redelehren erkennbar gewesen sein, die aus der sophistischen Zeit noch gut bekannt waren. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, inwiefern die sokratische Dialektik ein Teil der diskursiven Bildungskultur war, die in den vorhergehenden Kapiteln vor Augen getreten ist. Als Teil einer diskursiven Praxis, an der die Figuren in Platons Dialogen gemeinsam beteiligt waren, konnte die Dialektik wesentlich affirmativer an die gegebenen ›sophistischen‹ Verfahren anknüpfen, als es aus der Platon-Lektüre allein ersichtlich wird. In dieser Sache erweist sich der Gorgias als äußerst lehrreich: In diesem Dialog ist gut sichtbar, dass die Opponenten eine ethische Intention teilen und sich der Streit daran entzündet, welche Diskurspraxis zur Sittlichkeit führt. Zwischen Sokrates und seinen Kontrahenten besteht kein Dissens darüber, was das gemeinsame Thema ist: Es geht um »das, welches zu wissen, das Schönste (kalliston), nicht zu wissen aber das Schändlichste« ist (aischiston), nämlich, »wer glücklich (eudaimōn) ist und wer nicht« (Gorg. 472cf.). Übereinstimmung scheint außerdem auch darüber zu bestehen, dass dies eine Frage nach der richtigen Diskurspraxis ist: Es ist gesetzt, dass die Ethik eine Ethik der Rede ist, und der Streit dreht sich nur darum, welche Ethik der Rede es sein soll. Dass sich das Problem des richtigen Lebens auf dem Feld der diskursiven Kultur entscheidet, ist also für alle Beteiligten ein vertrauter Gedanke: Redeweisen sind Lebensweisen; und das Gelingen des Lebens hängt davon ab, welche Redeweise sich jemand zu eigen macht. 7 Ein Dissens Wie eng Redepraxis und Lebenspraxis im Gorgias beieinander stehen, deutet sich daran an, dass der Untertitel des Dialogs im Laufe der Zeit sowohl ›Von der Rhetorik‹ als auch ›Vom guten Leben‹ lautete; vgl. dazu Kobusch, »Wie man leben soll: Gorgias«, 47 f. Das hat dazu geführt, dass gelegentlich gefragt wurde, worin eigentlich die Einheit des Dialogs besteht, der sich zuerst um die Redekunst, später um die Gerechtigkeit zu drehen scheint; vgl. z. B. Stauffer, The Unity of Plato’s Gorgias. Darauf kann man antworten, dass beide Themen gar nicht erst getrennt sind. Vgl. auch die Klarstellungen bei Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, 82–85 oder Benardete, 7

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Sokratische Kultur der Rede

besteht allein darüber, welche Diskurspraxis das Leben gelingen lässt. Wenn im Gorgias zur Debatte steht, wie Sokrates sagt, ob man auf rhetorische Weise, »die Redekunst übend« leben soll, oder aber »in Liebe zur Weisheit« (Gorg. 500c), dann steht konkret zur Entscheidung, ob die gorgianische oder die sokratische Diskursform als Lebensform zu empfehlen ist. Vor diesem Hintergrund sei nun am Gorgias gezeigt, wie sich der innere Zusammenhang von gorgianischer und sokratischer Redepraxis bei Platon darstellt. Ein wichtiger Bezugspunkt dabei wird das aus dem Enkomion hervorgehende Verständnis des Logos sein, das im vorigen Kapitel rekonstruiert wurde. Dort hat sich gezeigt, dass die gorgianische Praxis der Rede darauf zielte, vorbildliche Rede- und Lebensweisen exemplarisch gegenwärtig und wirksam zu machen. Wenn es Sokrates nun mit dieser Redekultur aufnehmen will, dann hat seine Redepraxis sich auf eben diesem Feld zu bewähren. Die Dialektik hätte sich kaum je durchsetzen können, wenn ihre logische Überlegenheit mit einer lebenspraktischen oder sittlichen Unterlegenheit einhergegangen wäre. 8 Zwar darf man die sokratische Innovation in dem Vorschlag sehen, sich im Leben an guten Gründen zu orientieren, an dem Logos, der sich im dialektischen Fragen und Antworten bewährt. Das heißt jedoch nicht, dass die sinnlich-ästhetische oder ›rhetorische‹ Funktion nicht mehr wesentlich sein darf. Im Gegenteil: Obwohl bei Sokrates ein logisches Verfahren die Regie übernimmt, ist Gorgias’ Gedanke, dass sich Tugendideale durch Gestaltungsformen der Rede selbst in Kraft setzen lassen, weiterhin von zentraler Bedeutung. Auch die Dialektik hat der Tatsache Rechnung zu tragen, dass jedes Reden eine Lebensweise exemplarisch vergegenwärtigt und wirksam macht. Auch sie bringt ethische Haltungen ›epideiktisch‹ zur Geltung; und dass sie der gorgianischen Praxis überlegen ist, muss sich daran erweisen, dass sich ein höheres Ethos in ihr zeigt. The Rhetoric of Morality and Philosophy, 5–7. Einige Interpreten gehen freilich nach wie vor davon aus, dass die philosophische Kritik der Rhetorik im Gorgias Lebensformen der Rede als solche unmöglich machen will; vgl. Doyle, »Socrates and Gorgias«, bes. 4 f. 8 Man kann den Eindruck haben, dass beides in Spannung zueinander steht: vgl. Benardete, The Rhetoric of Morality and Philosophy, 13: »We thus seem forced to choose between a dialectic that alters no one’s convictions and a rhetoric that is effective but knows neither how it is effective nor what it effects. Rationality is empty; rhetoric is blind.«

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Die sokratische Prüfung der Seele

Die Untersuchung, wie die Dialektik im Gorgias Motive der gorgianischen Redepraxis fortschreibt, kann mit der Erinnerung beginnen, dass die sokratische Rede auf eine Prüfung der Seele zielt (1). Mit der ›Stimmigkeit‹ der Reden steht dabei stets auch die sinnliche Gesamtgestalt der Rede auf dem Prüfstand, die Art und Weise, wie jemand redet; die sokratische Prüfung lässt sich nicht auf logische Widerlegung reduzieren, sondern hat eine ethisch-ästhetische Dimension (2). Konkretisiert werden kann dies an Sokrates’ Auseinandersetzung mit Gorgias (3). Im Ausgang davon kann die sokratische Dialektik als sittliche Bildungspraxis interpretiert werden, die sich – wie der Härtefall des Kallikles deutlich zeigt – auch durch eine eigentümliche ethische Wirksamkeit behaupten muss (4). Vertiefen lässt sich dieser Befund mit Blick auf den Übungsgedanken (5). Abschließend wird das Motiv der idealen Rhetorik noch einmal aufgegriffen (6).

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Die sokratische Prüfung der Seele

Die gorgianische Kultur der Rede liefert ein Koordinatensystem, in das sich sowohl diese selbst als auch die sokratische Redepraxis einzeichnen lassen. Beide repräsentieren ein erzieherisches Sprechen, das sich im Spielraum des Lobens und Tadelns bewegt. Während der Akzent bei Gorgias auf dem Loben zu liegen scheint, auf der Beförderung vorbildlichen Lebens, liegt er bei Sokrates allerdings auf dem Tadel: Die Dialektik wird im Gorgias in die Nähe von Heil- und Strafverfahren gerückt. Sie dient der ›Zügelung‹ oder ›Züchtigung‹ (Gorg. 504b–505c), man muss sich ihr »wie dem Arzte hingeben« (Gorg. 475df.). Ihre sinnliche Wirksamkeit ist von der unangenehmen Art und macht sich als Schmerz geltend. Der Sinn dieser Therapie ist offensichtlich: Die ›Zügelung‹ (kolasis) korrespondiert im Griechischen zwanglos mit dem Übel der Maßlosigkeit (akolasia). Parallel dazu spannt sich das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit (dikaiosynē) – welche ihrerseits dem Maßvollen, der sōphrosynē verwandt ist – und der Ungerechtigkeit (adikia) auf (Gorg. 477e–478b). Die dialektische Therapie ist damit der gerechten Strafe verwandt, sie ist eine »Anwendung der Gerechtigkeit« (Gorg. 478a). 9 Während Hier ist daran zu erinnern, dass dikē selbst schon ›Strafe‹ oder ›Buße‹ bedeuten kann.

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Sokratische Kultur der Rede

Sokrates und Gorgias also gemeinsam einer Redekultur angehören, in der ethischen Haltungen spürbare Geltung verschafft wird, ist Sokrates dezidiert einer Ethik der sōphrosynē verpflichtet, wie sie zu seiner Zeit bereits eine lange Tradition hatte. 10 Die sokratische Dialektik kann als korrektive Variante der gorgianischen Diskurspraxis interpretiert werden. Während letztere eher auf Lebenssteigerung zielt, zielt erstere eher auf Mäßigung. Die ethische Stoßrichtung der Dialektik wird bei Platon so dargestellt, dass die sokratische Rede eine Prüfung der Seele ist. 11 Die Motive sind aus der Apologie vertraut: Die höchste »menschliche Weisheit« (Apol. 20d) liegt für Sokrates in der Einsicht, dass der Mensch »in Wahrheit nichts wert ist, was die Weisheit angeht« (Apol. 23b). Leitend dabei ist das kritische Bewusstsein der Differenz von Glauben und Wissen: Der Weise glaubt nicht, weise zu sein, ohne es zu sein. Der Kampf gegen die Selbsttäuschung charakterisiert gleichzeitig die Lebensform, der Sokrates sich verschreibt: Er sieht sich eingesetzt, »sein Leben im Streben nach Weisheit zu verbringen«, was konkret heißt, sich selbst und andere zu »untersuchen«, »auszufragen«, zu »ermahnen« und zu »prüfen« (Apol. 28e, 29d– 30b). Für Sokrates steht fest, dass dies die rechte Art ist, für sich und Andere zu »sorgen« (epimeleisthai, Apol. 30a f.). Jede Unklarheit in der Seele und überhaupt alle falsche Lebensführung resultiert letztlich daraus, dass jemand meint zu wissen, ohne zu wissen. 12 Nur wer sich der kritischen Prüfung aussetzt, wird davor geschützt sein, das Maß zu verlieren, und seine Seele in Ordnung halten. Die sokratische Prüfung der Seele, die sich in den frühen Dialogen Platons immer wieder als Prozedur der intensiven Befragung vollzieht, ist als elenchos bekannt. Dabei bestehen von der Sache her keine Zweifel, dass sich diese Prüfung auf die Seele des Befragten richtet, nicht auf personunabhängige Behauptungen. Harold Tarrant macht deutlich, dass der personbezogene Sinn von elenchein und elenchos schon allein aus quantitativen Gründen gegenüber dem lo-

Zur Vorgeschichte seit Homer vgl. die Darstellung bei Snell, Die Entdeckung des Geistes, 151–177. Vernant betont in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Bedeutung der sōphrosynē: vgl. ders., Die Entstehung des griechischen Denkens, bes. 86–92. 11 Für den Gorgias vgl. 487a, wo Sokrates erklärt, was man braucht, um eine Seele zu prüfen (basaniein). 12 Besonders prägnanten Ausdruck findet diese Denkfigur in Alk. I 116e-118b. 10

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Die sokratische Prüfung der Seele

gosbezogenen Sinn als der primäre gelten darf. 13 Trotzdem gerät dieser Aspekt zuweilen in den Hintergrund, wenn das elenktische Verfahren als eines der ›Widerlegung‹ diskutiert wird. Die auffälligste Errungenschaft des sokratischen Verfahrens besteht darin, dass die ethische Besserung aus logischer Kritik resultieren soll, und gefragt wird dann oft nur danach, wie das, was gesagt wird, gerechtfertigt werden kann. Da es für diese ›Prüfung der Seele‹ offenbar wesentlich ist, dass sie sich als Prüfung von Aussagen, als eine Art der wahrheitsbezogenen Argumentation vollzieht, erfährt die logische Dimension der platonischen Dialoge natürlicherweise die größte Aufmerksamkeit. Gleichzeitig liegt der Akzent damit auf dem, wodurch sich die dialektische Rede von ihren sophistischen Vorläufern unterscheidet, während Kontinuitäten nur wenig in Betracht kommen. Die von Gregory Vlastos angestoßene Diskussion um den sokratischen Elenchos ist das wichtigste Beispiel dafür: Vlastos sieht den Kern des Verfahrens darin, dass eine Annahme des Gesprächspartners als Teil eines Systems von Annahmen erwiesen werden soll, die nicht gemeinsam wahr sein können. 14 Dialektische Kritik zielt demzufolge darauf, Überzeugungssysteme als inkonsistent zu erweisen. Zwar ist dabei vorausgesetzt, dass sich das Verfahren mit ethischen Überzeugungen (moral beliefs) befasst und damit eine ›existentielle Dimension‹ hat. 15 In der Rekonstruktion bleibt aber zugrunde gelegt, dass sich diese existentielle Dimension ganz von der logisch-semantischen Seite des Gesprächs her aufschlüsseln lässt. Die dialektische Rede trägt dieser Lesart zufolge zur Besserung der Person bei, indem sie sich, anders als ihre sophistischen Vorläufer, eines rein sachbezogenen Verfahrens bedient. Sie erreicht eine ethische Transformation vermittels logischer Kritik. Die Schwäche dieser Interpretation wird daran sichtbar, dass Redeformen bei Platon nicht als Systeme von Überzeugungen auftreten, aus denen sodann Handlungen erst resultieren, sondern ganz unmitTarrant, »Socratic Method and Socratic Truth«, 258: »Up to nine examples of logoi being tested or refuted compare with 74 cases of persons being tested or refuted overall, making it clear that elenchos, qua process of refutation, is primarily aimed at persons, and less commonly thought of as refuting something said.« 14 Vgl. Vlastos, »The Socratic Elenchus«; zur Debatte vgl. die Beiträge in Scott (Hrsg.), Does Socrates Have a Method? 15 Vgl. Vlastos, »The Socratic Elenchus«, 32 sowie 37: »But those who know him [sc. Socrates] best understand that the elenchus does have this existential dimension – that what it examines is not just propositions but lives.« 13

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Sokratische Kultur der Rede

telbar als Lebensformen. Geprüft werden ›Seelen‹, wie sie in einem Habitus offenbar werden, in der Weise, wie jemand lebt. Zu dieser Lebensweise gehören wiederum Taten und Worte: Die Weise, wie jemand redet, gibt eine Probe davon, wie jemand handelt. Deswegen bleibt die elenktische Prüfung schlecht verstanden, wenn sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das richtet, was in Platons Dialogen gesagt wird. Ein Reden kann nicht auf seine Gehalte reduziert werden, wenn es immer gleichzeitig eine Haltung exemplifiziert. Geprüft werden muss, ob die Worte mit sich und mit den Taten einer Person im Einklang stehen. Die Stimmigkeit einer Lebensweise manifestiert sich in der Stimmigkeit von Reden und Handeln sowie im Verhältnis der Redenden zu ihren Reden. 16

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Die Stimmigkeit der Reden

Die elenktische Prüfung wird im Gorgias im Zusammenhang mit der Frage eingeleitet, ob die Reden des Gorgias ›zusammenstimmend‹ (symphōna) sind. 17 Sie wird also zuerst durch ein Motiv der klanglichen Harmonie erläutert. Dies dürfte kein Zufall sein: In der musikalischen Sicht der geordneten Rede, die sich auch anderswo in Platons Dialogen findet, 18 schlägt sich die Vorstellung nieder, dass ästhetisch wahrnehmbar ist, ob jemand richtig oder falsch redet: eine Vorstellung, die für das gorgianische eu legein grundlegend war. In dieser Sicht schlägt sich die Verfasstheit der ›Seele‹ in der Art und Weise nieder, wie eine Person spricht, und wird dadurch buchstäblich hörbar. Dass sich die elenktische Prüfung im Medium des Klangs, der Stimmungen und der Harmonien vollzieht, weist darauf hin, dass Sokrates diesen Gedanken aufnimmt: Obwohl er dem pythagoräischen Verständnis der Seele als Stimmung (harmonia) skeptisch geDass beim sokratischen Elenchos die Einheit von Redeweise und Lebensweise auf dem Spiel steht, ist eine Pointe bei Kahn, Plato and the Socratic Dialogue, 133–137. 17 Vgl. die erste Nennung in Gorg. 457e sowie die beiden zentralen Stellen Gorg. 461a (synadein) und 482b–c (diaphōrein, asymphōnon). Das Motiv der musikalischen Harmonie steht auch am Anfang des Gesprächs zwischen Sokrates und Kallikles: vgl. Gorg. 482bf. 18 Vgl. Prot. 333a f.: »Denn zugleich können diese beiden Reden (logoi) nicht sehr musikalisch (mousikōs) vorgetragen werden, denn sie stimmen und klingen nicht zusammen (ou synadousin oude synarmottousin allēlois).« Vgl. auch Lach. 188c f. sowie Dalfen, Platon, Gorgias, 315. 16

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Die Stimmigkeit der Reden

genüberstand, 19 konnte die Seele für ihn doch eine mehr oder weniger harmonische Ordnung haben. Eine solche Stimmigkeit muss sich von formaler Konsistenz unterscheiden: Die ›Ordnung‹ (taxis, kosmos) der Seele, von der Sokrates sagt, dass sie etwas tugendhaft sein lässt (Gorg. 506df., 504b), ist ein charakterliches Gefüge, das auf seine innere Zweckmäßigkeit und ästhetische Qualität hin beurteilt werden kann. Deshalb besteht eine Person die sokratische Prüfung, wenn die Gesamtgestalt ihrer Reden unter dem Druck kritischer Nachfragen in sich harmonisch und die Lebensweise, die sich in den jeweiligen logoi zeigt, mit sich im Einklang bleibt. Wo hingegen Dissonanzen auftreten, werden Unförmigkeiten einer Seele hörbar. Der Mythos gegen Ende des Gorgias erinnert daran, dass sich das philosophische Weisheitsstreben eigentlich an einer anderen, höheren Form der Seelenprüfung orientiert: Sokrates erzählt hier, dass die am Sterbetag fällige Prüfung der Seele einst von Lebenden durchgeführt wurde, die über noch Lebende urteilten. Da dieses Prüfverfahren jedoch unzuverlässig blieb, ersetzte Zeus es durch ein anderes, bei dem ein toter Richter schon Gestorbene beurteilt, indem er »mit der Seele selbst (autē tē psychē) die Seele selbst (autēn tēn psychēn) schaut« (theōrounta, Gorg. 523e). Gegenüber dem ursprünglichen, durch die Einflüsse des Leibes ständig getrübten Charaktertest hat dieses im buchstäblichen Sinn des Wortes ›theoretische‹ Verfahren den Vorzug, mit geometrischer Zuverlässigkeit zu funktionieren. Missbildungen der Seele werden unmittelbar, als Asymmetrien gegenwärtig (Gorg. 525a). Die reine Schau der Seele, die hier nach dem Modell der Geometrie gedacht wird, ermöglicht ein vollendet gerechtes Urteil. Was man sieht, ist stets zuverlässiger als das, was man nur hört. Gleichwohl bleibt die dialektische Praxis auf Kriterien der klanglichen Harmonie verwiesen: Einen reinen Anschauungszugang zur Seele hat sie nicht. Deren Ordnung kann nur im Durchgang durch Reden überprüft werden. So bleibt das sokratische Verfahren eines nach Menschenmaß: Bei den Sterblichen sind die Seelen, wie es im Mythos heißt, »hinter Augen, Ohren und dem ganzen Leib versteckt« (Gorg. 523d). Der Philosoph weiß zwar, dass die Seele am besten »denken« würde (logizetai), wenn sie »ganz für sich« wäre. 20 Aber er weiß auch, Im Phaidon ist die Vorstellung, die Seele sei eine Harmonie, das gewichtigste Argument gegen ihre Unsterblichkeit: vgl. den Gedankengang in Phaid. 85e–89a. 20 Vgl. Phaid. 65c: Das durch Gehör (akoē) und Sicht (opsis) getrübte Denken bildet 19

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Sokratische Kultur der Rede

dass sich dieses Ideal im irdischen Leben nicht erfüllt, da Menschen mit logoi operieren, sie gebrauchen müssen. 21 Es gibt im Medium der Rede weder reine Gedanken noch reine Begriffe. Das Verfahren des logon didonai bleibt deswegen immer eine zweitbeste Form der Seelenprüfung. Der Gegenstand der Prüfung ist nicht unmittelbar sichtbar, für die Sterblichen zeigt sich die Seele nur im Reden und Handeln einer Person. Damit hat sich ein erster Eindruck davon ergeben, wie die sokratische Dialektik Motive der gorgianischen Redepraxis im Gorgias fortschreibt. Auch die dialektische Prüfung hat eine ethisch-ästhetische Dimension. Sie richtet sich auf das Ethos, das sich im diskursiven Verhalten einer Person abzeichnet und nur im Durchgang durch logoi greifbar werden kann. Aus demselben Grund genügt es in diesem Zusammenhang nicht, einzelne Behauptungen einer Person in Betracht zu ziehen. Man hat stets auf die Rede- und Lebenspraxis in ihrer Gesamtgestalt zu achten, wie sie sich erst im Laufe eines Fragens und Antwortens abzeichnet und welche gleichzeitig den Stoff für die dramatische Form der Unterredungen bildet. 22 Dies sei nun am Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias verdeutlicht.

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Unstimmige Reden: Das Drama des Gorgias

Was bedeutet es, logoi als Teil einer Lebensweise zu verstehen? Bei der Prüfung der Seele steht ein diskursives Verhalten zur Kritik, das zum praktischen Gesamtverhalten einer Person gehört. Das heißt, es steht nicht als Gehalt zur Debatte, sondern als etwas, das aus einer ethischen Haltung entspringt. Dies kommt etwa zum Vorschein, wo das Verhältnis zu den eigenen Reden, wie in der Hebammenmetawiederum den Kontrast. Eng verwandt ist die Opposition Hören und Wissen, die Sokrates in Gorg. 515d gegenüber Kallikles andeutet. 21 Vgl. dazu auch Alk. I 129c–e. – Die Passage zum philosophischen Unterricht im Siebten Brief weist in dieselbe Richtung. Logoi, so gibt der Autor zu verstehen, sind nicht viel zuverlässiger als austauschbare Namen, da sie über das ›Was‹ einer Sache keine verlässliche Auskunft geben. Gleichzeitig kann man sich nur im Bereich des Hörbaren und Sichtbaren um Erkenntnis bemühen, indem man mit Namen, Reden und Bildern operiert und zwischen ihnen hin- und hergeht: vgl. Ep. VII 343a–c. 22 Auf die Bedeutung des dramatischen Moments der platonischen Dialoge hat besonders Kahn in »Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias« hingewiesen. Auf diese Deutungsfigur wird in der Platonforschung inzwischen häufig zurückgegriffen: vgl. exemplarisch Blondell, The Play of Character in Plato’s Dialogues.

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Unstimmige Reden: Das Drama des Gorgias

phorik, als eines der Elternschaft charakterisiert wird. 23 Reden ist ein Erzeugen. Weil die logoi aus einem Charakter hervorgehen, erlauben sie Aufschluss über ihre Quelle; und in dieser Hinsicht werden sie zum Gegenstand der dialektischen Prüfung. Wer ›Gründe gibt‹, rechtfertigt nicht sachliche Festlegungen, sondern sich selbst. Die Rechtfertigung (logon didonai) ist, wie es andernorts formuliert wird, eigentlich ein ›Sich-Rechtfertigen‹ (logon peri hautou didonai). 24 Daher muss derjenige, der die Prüfung durchführt, ein Auge darauf haben, wie sich das diskursive Verhalten des Prüflings unter dem Druck der kritischen Fragen entwickelt: Die jeweilige rednerische Lebensform hat sich im Vollzug dieser Form zu bewähren. Das Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias liefert ein gutes Beispiel dafür. ›Meinen zu wissen, ohne zu wissen‹ – dies ist Sokrates zufolge das schlimmste aller Übel. Dass der platonische Gorgias in dieser Hinsicht eine Angriffsfläche liefern wird, deutet sich schon daran an, wie diese Figur eingeführt wird: Hervorstechende Eigenschaft des Sophisten ist zunächst sein übersteigertes Selbstbewusstsein. Als Sokrates ihn in sein Frage- und Antwortspiel hineinzieht, macht er Gebrauch davon, indem er nicht ohne Schmeichelei an Gorgias’ Überzeugung anknüpft, niemand könne kürzer antworten als er (Gorg. 448d-449d). Dieser Appell an die Eitelkeit gewinnt entscheidende Bedeutung: Sokrates leitet die Widerlegung ein, indem er ihn fragt, wie Gorgias seine Kunst potentiellen Schülern erklären würde. Als dieser daraufhin die »Macht« (dynamis) seiner Redekunst darlegt, ohne auf die Form der Frage zu achten, die sich auf das »Worüber« (peri tinōn) dieser Kunst bezieht, stachelt Sokrates ihn noch weiter an, indem er vorgibt, dass ihm gerade diese Macht unerklärlich sei (Gorg. 455c-456a). Es folgt der längste Redebeitrag des Gorgias im Dialog. Schon in der Eröffnung wird die Bruchstelle sichtbar: Dass die gorgianische rhētorikē »alle Vermögen (dynameis) zusammengefassst unter sich hat« (Gorg. 456a), impliziert bereits, dass sie zu Gegensätzlichem befähigt. Sie hat immer erst noch einen »Gebrauch« (chreia) und kann daher an sich selbst kein Tugendwissen sein. In dem Beispiel, das Gorgias gibt, ist der Rhetoriker einmal der Verbündete eines Arztes, der dafür sorgt, dass dessen Fachwissen sich durchsetzt; einmal wird er als jemand präsentiert, der den SachverständiVgl. z. B. auch Tht. 160e–161a oder Symp. 209c–e. Vgl. Lach. 187e f.: Nikias erklärt an dieser Stelle Lysimachos die sokratische Vorgehensweise.

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gen (dēmiourgos) übertrumpfen kann (Gorg. 456bf.). Zwar soll der Redner sich nach Gorgias’ Vorstellung der Redekunst nur »auf rechte Weise« (dikaiōs) bedienen. Im Prinzip aber ist er fähig, »zu allen und über alles so zu reden, dass er überzeugender (pithanōteros) ist beim Volk« und dies »worüber er will« (Gorg. 457af.). So führt gerade die eindringlichste und stolzeste Darstellung der Macht der Rhetorik vor Augen, dass diese letztlich das Gerechte und das Ungerechte umfasst. An diesem Punkt kann Sokrates ansetzen: Hat die Rhetorik einen Gebrauch, der gut oder schlecht sein kann, dann kann sie kein Wissen über das Gerechte umfassen; denn wer Erkenntnis vom Gerechten hat, handelt gerecht (Gorg. 460d-461a). 25 Die Redepraxis des Gorgias umfasst folglich kein sittliches Wissen, sondern bestenfalls ein instrumentelles Können. Der Fall macht sichtbar, dass die Unstimmigkeiten, die die elenktische Prüfung zum Vorschein bringt, unmittelbar aus einer Persönlichkeitsstruktur hervorgehen. Gerade der besondere Nachdruck, mit dem die Macht der Rhetorik präsentiert wird, lässt zutage treten, dass Gorgias mit sich selbst nicht übereinstimmt. Genau die Entgrenzung des Anspruchs, zu der er sich hinreißen lässt, führt ihn dahin, Unvereinbares zu beanspruchen. Die kühnen Behauptungen, der Redner verfüge über ›alle Vermögen‹, könne jederzeit ›über alles‹ sprechen und dies ›überredender‹ als jeder Fachmann, illustrieren nicht nur sein übersteigertes Selbstbewusstsein. Vor Augen geführt wird vielmehr, wie eine Haltung der Maßlosigkeit notwendig Inkonsistenzen aus sich heraus gebiert. Die Hybris ist keine Begleiterscheinung der rhetorischen Lebensauffassung, sondern das wesentliche Moment ihrer Unzulänglichkeit. Der Mangel ist nicht logischer, sondern sittlicher Art: Nicht Worte werden widerlegt, sondern eine Person und ihre Lebensweise werden als in sich falsch entlarvt. Das dialektische Verfahren sieht, wie man weiß, vor, den Antwortende zum ›Zeugen‹ (martyra) der Wahrheit zu machen, was konkret bedeutet, dass er dazu gebracht werden muss, ›zuzustimmen‹ Die Inkonsistenz wurde darauf zurückgeführt, dass Gorgias nicht öffentlich zugeben kann, eine formale Technik zu lehren: vgl. Kahn, »Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias«, 84: »The purely instrumental amoral conception of rhetoric can be consistently stated; but Gorgias himself cannot make this statement without incurring public hostility and grave personal risk. This is what lies behind the ›shame‹ which prevents him from saying what he thinks.« Legt man zugrunde, dass der wirkliche Gorgias ein formales Rhetorikverständnis abgelehnt hätte, hätten ihn Sokrates’ Einwände noch viel empfindlicher getroffen.

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(homologein). 26 Legt man den Akzent auf den ethischen Sinn der Prüfung, bedeutet das aber, dass der Antwortende zum Zeugen des eigenen sittlichen Mangels gemacht werden muss. Ist die Überschätzung der eigenen Weisheit die Wurzel allen Übels, muss die wirksamste Therapie in dem Aufweis bestehen, dass genau diese Selbstüberschätzung in die Niederlage führt. Gorgias muss aus dem Vollzug seiner Rede- und Lebensweise heraus evident werden, dass er das gesunde Maß verloren hat. Das erklärt, warum Sokrates sich des Mittels der Schmeichelei bedient und Gorgias durch die Bemerkung, die Macht der Redekunst komme ihm geradezu »göttlich« vor (Gorg. 456a), zu einer überschwenglichen Rede anreizt: Die Versuchung der Macht, von der Gorgias sich mitreißen lässt, muss zunächst aktiviert werden, damit die Inkonsequenz seiner Lebensführung in actio offenbar werden kann. Die dialektische Heilmethode basiert darauf, dass Gorgias die Erfahrung macht, dass er sich mit seinem diskursiven Ethos ins Verderben stürzt. So macht die sokratische Kritik sichtbar, dass eine Lebensführung nicht mit sich im Reinen ist und jemand ein unschönes Ethos hat. Wenn eine Person auf diese Weise, wie Schleiermacher gern übersetzt, ›überführt‹ wird, so wird ihr eine unedle Haltung nachgewiesen, was notwendig Scham und Schande mit sich bringt. 27 Es ist dieser Vorgang, den das griechische elenchein, das ebenso ›schmähen‹, ›beschämen‹, ›beschimpfen‹, ›zurechtweisen‹ oder ›tadeln‹ bedeuten kann, stets mitbezeichnet. 28 Man befindet sich hier nah bei der Helena-Rede, in der Gorgias das Ziel verfolgen will, diejenigen, die Helena ungerechterweise verunglimpfen, »zurechtzuweisen« (elenchein); diesen Wortsinn verrät dabei der unmittelbare Bezug zum Gesetz des gerechten Lobens und Tadelns. 29 Bei Platon hat sich Vgl. bes. Gorg. 471e–472c. Zur Differenz zwischen elenktischem und rhetorischem Beweisverfahren, die zwischen Sokrates und Polos ausgetragen wird, vgl. etwa die Darstellung bei Moser, Buchgestützte Subjektivität, 92–95. 27 Vgl. zum Thema der Scham z. B. Race, »Shame in Plato’s Gorgias« oder Kobusch, »Sprechen und Moral«. 28 Für entsprechende Beiordnungen vgl. Gorg. 522d oder Apol. 17b; vgl. auch Xenophons Beschreibung des sokratischen Tuns in Mem. IV 4, 9, bei der elenchein gemeinsam mit katagelan (›verlachen‹, ›verspotten‹) auftritt. Sokrates setzt katagelan in Gorg. 473e explizit von elenchein ab: Die elenktische Beschämung ist dem Auslachen so ähnlich, dass sie eigens von ihm unterschieden werden muss. Vgl. auch Hipp. I 286e. 29 Vgl. Enk. 2: »Derselbe Mann, der berufen ist, das Gebotene richtig zu sagen, hat auch diejenigen, die Helena tadeln (tous memphomenous Helenēn), zurechtzuweisen 26

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Sokratische Kultur der Rede

die Semantik des Worts keineswegs unvermittelt zur logischen Widerlegung verschoben. 30

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Sich selbst rechtfertigen: Der Fall des Kallikles

Die dialektische Unterredung, so darf festgehalten werden, bringt Unstimmigkeiten im Redeverhalten zum Vorschein, die in der Unstimmigkeit einer Lebensweise wurzeln. Anders als eine logische Überprüfung von Aussagen kommt ein solcher Elenchos mit dem Aufweis eines Widerspruchs bereits ins Ziel: Wer Unvereinbares aussagt, widerspricht ›sich selbst‹, 31 und dies genügt, damit ein Anspruch auf Integrität fraglich wird. Deswegen braucht Sokrates nur eine Inkonsistenz zum Vorschein zu bringen, um zu urteilen, dass eine Person »etwas Unwahres redet« (ti mē alēthes legein, Gorg. 458a). Gorgias’ Gedanke, dass die ›Wahrheit‹ der Rede als ästhetische Qualität wahrnehmbar wird, bleibt hier im Hintergrund: In der alētheia findet ein logos seinen kosmos. Die Frage, welche der miteinander inkompatiblen Aussagen falsch sind und welche beibehalten werden können, 32 kann dann zurückgestellt werden: Auch Wahrheit oder Unwahrheit kommt einer Rede insofern zu, als sie einen Verhaltenstypus repräsentiert. Eine Haltung zum Leben zeigt sich am gesamten Umriss eines diskursiven Handelns, nicht an einzelnen Überzeugungen, die sich propositional repräsentieren lassen. Obwohl es aus aussagenlogischer Sicht noch Ausfluchtmöglichkeiten gegeben hätte, zeigt Gorgias keine Anzeichen von Gegenwehr, (elenchein).« Der Sinn der Zurechtweisung oder Verhöhnung und der logischen Widerlegung sind hier eng miteinander verschränkt. Dass dieses Verständnis im Gorgias präsent bleibt, zeigt auch Sokrates’ Gebrauch von nouthetein in Gorg. 488a oder 497b: Was hier funktional an die Stelle der Widerlegung tritt, ist semantisch eine ›Zurechtweisung‹ oder ›Ermahnung‹. 30 Diese Annahme ist weit verbreitet; vgl. dazu die Skizze zur Geschichte von elenchein bei Lesher, »Parmenidean Elenchos«, bes. 22–28. 31 Vgl. Gorg. 482b und bes. 487b. 32 Vgl. Vlastos, »The Socratic Elenchus«, bes. 48–50: Da von zwei inkompatiblen Aussagen eine wahr sein kann, ist der Befragte aus aussagenlogischer Sicht noch nicht vollständig ›widerlegt‹, wenn eine Inkonsistenz aufgewiesen wurde. Dass ein solcher Aufweis für den Elenchos offenbar genügt, muss Vlastos daher so erklären, dass Sokrates beibehaltene Annahmen wiederum widerlegen könnte. Sieht man den primären Sinn der elenktischen Kritik in einer ethischen Desavouierung, ist diese sehr konjuktivlastige Zusatzannahme nicht mehr nötig.

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wie es später Polos und Kallikles tun. Bei Platon deutet nichts darauf hin, dass er sich sträubt, den Widerspruch einzugestehen, obwohl dies dem Eingeständnis eines charakterlichen Defizits gleichkommt. Gorgias zeigt sich als Person ansprechbar und ist für ethische Kritik empfänglich. In seinem diskursiven Verhalten bestätigt sich, was er vorher versichert hat: dass er einer von denen ist, die sich gern von Irrtümern kurieren lassen. 33 Er überwindet seine ungereimte Haltung, indem er sich in eine Übereinstimmung zu Sokrates begibt. 34 Er gesteht die Niederlage auch in seinem diskursiven Handeln ein, indem er die dialektische Sache unterstützt: Er springt für Polos ein, als dieser nicht mehr weiter weiß (Gorg. 463a-464b); er ermahnt Kallikles, weiter zu antworten (Gorg. 497b); und er fordert Sokrates auf, den Dialog allein weiter zu führen (Gorg. 506af). Weitere Wortbeiträge von ihm gibt es keine. Darin deutet sich an, dass Gorgias das sokratische Verfahren als konsequente Fortführung seiner eigenen Unternehmungen verstehen kann. Sokrates’ Gespräche mit Polos und Kallikles lassen sich entsprechend als Demonstration der dialektischen Redepraxis unter den Augen des Redelehrers Gorgias lesen. 35 Im Gespräch mit Kallikles, auf das nun ein Blick geworfen sei, steht auf dem Spiel, ob sich die Elenktik auch dort als wirksam erweist, wo Erziehung am nötigsten ist. Für Sokrates ist Kallikles der entscheidende »Prüfstein« (basanos, Gorg. 486df.). Man könnte dies auch so lesen, dass die Dialektik hier, angesichts des Schülers, der sich entziehen will, ihr ganzes Potential zeigen kann. Kallikles versucht, der ethischen Prüfung auszuweichen, indem er sie in einen formalen Konsistenztest umwidmet. Er distanziert sich im Verlauf des Gesprächs laufend von seinen Reden und nimmt ein offen instrumentelles Verhältnis zu ihnen ein; er flüchtet sich in »Worte« (onomata). 36 Sokrates’ Vorschlag, »die Rede anzugreifen« (epicheirein tō logō), »als ob« (hōs) Kallikles es »ernst« meine (Gorg. 495c), ist kennVgl. Gorg. 458af. Der Zusatz, man müsse aber auch an die anderen Anwesenden denken, wird als Beleg gedeutet, dass es sich um ein Lippenbekenntnis handelt, und als Versuch, dem Elenchos im letzten Moment noch zu entfliehen, so bei Benardete, The Rhetoric of Morality and Philosophy, 26 f. oder Stauffer, The Unity of Plato’s Gorgias, 33 f. Falls dies zutrifft, ist es ein vereinzelter Versuch: Während des gesamten dialektischen Prozesses zeigt Gorgias keine weiteren Anzeichen von Widerstand. 34 Hin und wieder steht synchōrein synonym für homologein, etwa in Gorg. 501c oder 506a. 35 Vgl. auch Stauffer, The Unity of Plato’s Gorgias, 41 f. und Weiss, »Oh, Brother«. 36 Vgl. Gorg. 489af. sowie Gorg. 489e, wo Sokrates sagt: »Siehst du nun, dass du selbst nur Worte redest (onomata legeis) und nichts erklärst (dēlois de ouden)?« 33

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zeichnend für diese Veräußerlichung: Sokrates muss, wie er sagt, »nehmen, was er kriegen kann«. 37 Allerdings verfehlt die dialektische Rede auch in dieser veräußerlichten Form ihr Ziel nicht: Obwohl Kallikles nicht im Ernst sprechen mag, wird er doch in den »ernsthaftesten« Dingen in seine Schranken gewiesen (Gorg. 499b–500c). Als schließlich endgültig erwiesen scheint, dass das ›in Zucht halten‹ (to kolazesthai) besser ist als die Ungezügeltheit (akolasia), ist er nicht länger bereit, den Diskurs weiterzuführen. Sokrates muss die Unterredung vorerst allein fortsetzen, indem er in einen Dialog mit sich selbst tritt (Gorg. 505b–505e). Für die gorgianische Grundkonstitution der Dialektik ist es aufschlussreich zu sehen, welche Rolle ihre Begründungsfunktion dabei spielt. Obwohl die Stärke der sokratischen Redepraxis in der Möglichkeit der logischen Kritik zu liegen scheint, findet sie ihre höchste Form doch gerade nicht dort, wo ein rein sachliches, allein auf den Gehalt der Rede bezogenes Sprechen an die Stelle eines persönlichen, mit einem praktischen Verhalten verknüpften Sprechen tritt. Wenn sich die Auseinandersetzung im Laufe des Gorgias vom Gespräch zwischen Personen, die in ihren Reden ihre Lebenshaltung offenbaren, fast ganz auf die Ebene der logoi verschiebt, so schlagen sich darin nicht sachlogische Fortschritte, sondern erzieherische Schwierigkeiten nieder. 38 Wo sich das elenktische Fragen und Antworten ausschließlich auf das bezieht, was gesagt wird, dort ist es keineswegs am meisten bei sich selbst. In dieser Form bereitet es erst den Boden für das dialektische ›Gespräch der Seelen‹. Die Logik in ihrer formalen Gestalt markiert nur die äußerste Grenze des sokratischen Bildungsverfahrens. Seinen Schwerpunkt hat dieses Verfahren in einem ethischen Verhalten von Personen zueinander. Gorg. 499c: »[…] nun aber bin ich betrogen und muß schon, nach dem alten Spruch, nehmen was ich bekommen kann, und aus dem, was du mir gibst, so viel machen als möglich.« 38 Erstaunlicherweise reflektiert der Gebrauch von elenchein im Laufe des Dialogs diese Wandlung: Wird der Ausdruck im Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias noch ausnahmslos personbezogen verwendet (Gorg. 457e, 458a, 461a, 462a, 464a, 466b, 467a, 470c, 470d, 471d, 471e, 472c und 473a), bezieht sich das Wort im Gespräch mit Polos, als der Diskurs langsam problematischer wird, erstmals auf Gesagtes (Gorg. 473b). Von da an wird er durchgängig mit Bezug auf Personen oder ihre logoi verwendet, wobei sich beide Verwendungsformen die Waage halten (Gorg. 473d, 473e, 473e, 482b, 497b, 506a, 506b, 508a, 522d und 527b). Man darf daher sagen, dass der personbezogene Gebrauch von elenchein der primäre ist, während der logosbezogene Gebrauch gewissermaßen auf eine Verlegenheitslösung hindeutet. 37

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Sich selbst rechtfertigen: Der Fall des Kallikles

Es ist häufig betont worden, dass es Sokrates nicht gelingt, Kallikles zu überzeugen. 39 Sollte er jedoch Gorgias vorführen wollen, dass die Dialektik die überlegene Bildungspraxis ist, würde es ihm völlig genügen, deren erzieherische Wirkung zu demonstrieren. Dazu reichen die Anzeichen von Veränderung bei Kallikles, die sich in der späteren Phase des Gesprächs finden: Nachdem sich Kallikles aus dem Gespräch zurückgezogen hatte, lässt er sich langsam wieder in es hineinziehen. Er zeigt nun echtes Interesse und stimmt gelegentlich aufrichtig zu. 40 Die Wirkung der Dialektik bei Kallikles beginnt sodann ästhetisch: Er wisse nicht, bemerkt er, »auf welche Weise« ihm Sokrates »gut zu reden« (eu legein) scheint, wo er doch »gar nicht überzeugt« sei (ou panu soi peithomai, Gorg. 513c). Obwohl er sich nicht erklären kann, wie ein Plädoyer für Selbstbeschränkung ein Beispiel gelingenden Redens sein kann, nimmt er das Gehörte doch als ein solches Beispiel wahr. Sokrates nimmt dies als Hinweis, dass sich die peithō schon bald einstellen würde, wenn sie »dasselbe« nur »oft und besser« (tauta tauta pollakis kai beltion) betrachten (Gorg. 513c f.). 41 Die Grundfrage des Dialogs, welche Redepraxis die überlegene Lebenspraxis ist, ist damit entschieden, denn es ist offenbar geworden, dass die ethische Kraft der Dialektik auch in diesem Härtefall nicht versagen wird. Diese Kraft, so sollte deutlich geworden sein, liegt nicht so sehr im schlagenden Argument, sondern darin, dass sich im Durchgang durch die logoi eine Einheit und Stimmigkeit der dialektischen Praxis zeigt, die ihrem Gegenüber fehlt. In dem Moment, in dem sie in dieser Weise ›epideiktisch‹ sprechend wird, beginnt sie, zu Kallikles durchzudringen. Man könnte deswegen sagen, dass die Dialektik mit ›Überredung‹ beginnt. 42 Das würde jedoch nicht heißen, dass sie als bloße Rhetorik beginnt, um später zur rational begründenden Rede zu werden. Der Gorgias führt vor Augen, dass die veräußerlichte, von Vgl. Woolf, »Callicles and Socrates«, 1: »Callicles’ conflicts, evidencing his disharmonious soul, are the ›hard case‹ which reveals the limits of Socratic methods.« In eine ähnliche Richtung geht auch Klosko, »The Insufficiency of Reason in Plato’s Gorgias«. 40 Vgl. Gorg. 510a f., wo Kallikles Sokrates dafür lobt, »schön« (kalōs) zu reden, Gorg. 513c, wo er ihm »gut zu reden« (eu legein) scheint, oder Gorg. 516c, wo er unter der expliziten Voraussetzung, dass Sokrates »Wahres« gesagt hat, zustimmt. 41 Die Stelle macht immer wieder Schwierigkeiten. Sie wurde etwa so verstanden, dass Sokrates hier die Vorläufigkeit des Ergebnisses markiere, so bei Dalfen, Platon, Gorgias, 446. 42 Das ist das Grundmotiv bei Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. 39

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Sokratische Kultur der Rede

der Person getrennte Logik im Gegenteil eine besonders hässliche Form der Streitkunst sein kann, bei der Personen sich hinter bloßen Aussagen verstecken. Die dialektische Prüfung legt gerade auch die Inkonsistenz dieser Haltung offen: Als Prüfung der Einheit von Leben und Reden ist sie immer auch schon eine Prüfung der Aufrichtigkeit der Rede. Kallikles wird also nicht von der Überredung zur Begründung geleitet, sondern gleichsam von der formalen Rechtfertigung zu einer wirklichen Rechtfertigung seiner selbst geführt, dem logon peri hautou didonai. Der Katalysator dieser Entwicklung ist die epideiktische Signifikanz der sokratischen Rede. Die irritierende Selbstverständlichkeit, mit der Sokrates davon ausgeht, dass die Erkenntnis des Gerechten den Menschen gerecht macht (z. B. Gorg. 460af.), wäre im Ausgang von dieser ethischen Grundkonstitution der Dialektik zu erklären: Soweit diese eine erzieherisch wirksame Redepraxis ist, muss sie an ihrem Bildungseffekt gemessen werden. Es ist gerade diese transformative Kraft der Dialektik, die Sokrates im Gorgias vorführt. Die sittliche Verwandlung, auf die seine Rede zielt, kann für ihn unmöglich etwas sein, was zur ethischen Einsicht noch hinzukommt. Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn sie durch ein separates Argument eigens abgesichert werden müsste: An den Fragen der Tugend und Gerechtigkeit entscheidet sich der eigentliche Wert der Dialektik; was sie angeht, muss sie als ganze sprechend werden. 43 Gerade in den höchsten Dingen muss auch Sokrates durch die Art und Weise überzeugen, wie er lebt und redet.

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Sokratische Dialektik als Einübung in die Wahrheit

Der Gedanke, dass die Dialektik in sich selbst ethisch transformative Kraft birgt, steht in Spannung zu der traditionellen Auffassung, das Besondere des dialektischen Verfahrens liege darin, auf diskursunabhängige Wahrheiten gerichtet zu sein. Man grenzt die dialektische Rede von der ›sophistischen‹ Rede häufig ab, indem man geltend macht, dass erstere über externe Maßstäbe verfügt, während letztere Vgl. ähnlich Kahn, »Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias«, 119: »So far as this dialogue [sc. the Gorgias] is concerned, the most cogent argument for the Socratic moral philosophy is the total collapse of the Calliclean alternative, with a positive counterpart in the portrayal of Socrates himself. […] Socrates’ ideal of psychic excellence is established by the only support which elenctic testing can give: in his case alone does his life and his death turn out to be in harmony with his doctrines.«

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nur das bloße Reden kennt. Für die dialektische Bildung scheint dies zu bedeuten, dass sie aus einem Sachwissen hervorgehen muss, das von materiellen Logosphänomenen strikt getrennt bleibt. Als Beispiel für viele Interpretationen dieser Art kann Martha Nussbaums Lektüre dienen. 44 Leitend für sie ist die Analogie zur Medizin: Wie die ärztliche Heilkunst auf einem Wissen über die Ordnung des Körperlichen beruht, so soll die philosophische Heilkunst auf einem Wissen über die ›Ordnung der Seele‹ beruhen. Das dialektische Verfahren stützt sich dieser Ansicht nach auf eine höhere Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Geistes. Demgemäß hätte es zuerst auf ewige Wahrheiten zuzugreifen, um anschließend im zweiten Schritt zur Therapie der Seele überzugehen. So scheint es auch der Tatsache zu entsprechen, dass Sokrates in seinen Forschungen stets darauf insistiert, zunächst danach zu fragen, was etwas ist (ti esti). Aus dieser Perspektive besteht das Problem der ›sophistischen‹ Lehren scheinbar darin, dass diese nicht recht wissen, wovon sie eigentlich handeln. Dies ist der Grund, warum etwa die gorgianische Lehre in sokratischer Sicht bestenfalls empeiria oder tribē sein kann (Gorg. 462c–465e). Sie ist eine bloße ›Übung‹, wie Schleiermacher empeiria häufig übersetzt, weil ihr die Einsicht in das Was der Sache fehlt. Das Vorangegangene hat gezeigt, dass diese Lesart, obwohl es ihr freilich nicht an Berechtigung fehlt, das Ausmaß unterschätzt, in dem die dialektische Redekultur die sophistische Redekultur fortschreibt. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, inwiefern die ethische Wirkung der dialektischen Rede schon aus dieser selbst, und nicht erst aus einem Sachwissen resultieren soll. Die Dialektik ist eine eigenständige Übungspraxis, die das Ethos auch dann schon formt, wenn sich die Einsicht in das Was bis auf weiteres nicht einstellt. Für Sokrates, der der Möglichkeit sittlichen Wissens in Platons früheren Dialogen ja gerade skeptisch gegenübersteht, muss die dialektische Rede schon als Redepraxis charakterbildende Wirkung haben, andernfalls würde sich die Lehre vom wissenden Nichtwissen kaum mit der erzieherischen Funktion der Dialektik vertragen. Wie Gorgias muss auch Sokrates die ›wahre Rede‹ als eine ethische Praxis kennen, deren Wert nicht davon abhängt, ob sie eine diskursexterne ›Sache‹ trifft. Auch für ihn kann das Verständnis der Wahrheit (alētheia) nicht auf Sachlogik begrenzt sein.

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Dazu vgl. Nussbaum, The Therapy of Desire, 16–19.

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Sokratische Kultur der Rede

Die Bestimmung der konkreten Vollzugsformen eines philosophischen Denkens ist wie erörtert ein heikles Unterfangen, da diese Formen in den überlieferten Texten oft nicht mehr als Spuren hinterlassen. Was Platons Akademie angeht, lassen sich solche Spuren immerhin im ›Siebten Brief‹ finden: Dass die Erkenntnissuche einen Umgang mit Namen, Reden und Bildern erfordert, deutet auf eine Praxis, bei der Wissen auf mühevolle und anstrengende Weise errungen werden muss. 45 Heraus sticht die Logosskepsis, die hier im Kontext der Schriftkritik steht, ohne sich auf sie zu reduzieren: logoi, so gibt der Autor zu verstehen, sind nicht viel zuverlässiger als austauschbare Namen; sie geben keine Auskunft über das Wesen von etwas (Ep. VII 343a–c). Gleichzeitig aber zeigt er sich fest davon überzeugt, dass man sich ausschließlich im Medium des Hörbaren und Sichtbaren um Erkenntnis bemühen kann, indem man mit Namen, Erklärungen und Bildern operiert und zwischen diesen Formen hinund hergeht. Gedacht ist dabei an ein Leben der gemeinschaftlichen Forschung und des Dialogs: Erkenntnis erwachse »aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben« (ek pollēs synousias gignomenēs peri to pragma auto kai tou syzēn, Ep. VII 341c). Diese Praxis, die der Verfasser des Briefs selbst als tribē (Ep. VII 344b) 46 klassifiziert, ist gut als die kooperative Erkenntnissuche erkennbar, die das Ideal der dialektischen Praxis ausmacht. In dieser hat die über die Sinnlichkeit erhabene, theoretische Schau zunächst keinen sichtbaren Raum. Es handelt sich um ein Wahrheitsstreben, dessen Erfüllung stets noch aussteht und Gegenstand der Hoffnung bleibt. Der Gedanke des mühevollen Strebens oder der Übung kann verständlich machen, warum Sokrates aus seiner mythischen Erzählung gegen Ende des Gorgias ähnliche Konsequenzen zieht wie aus der göttlichen Anweisung in der Apologie: Er entschließt sich zu einem Leben, das darauf gerichtet ist, »die Wahrheit zu üben« (tēn alētheian askōn), und sich selbst und Andere zu einem möglichst guten Leben und Sterben anzuhalten (Gorg. 526df.). 47 Die kritischen Prüfungen Diese Akzentsetzung ist deutlich, vgl. bes. Ep. VII 340b–341a. Etwas später ist vom »Leben in Sorge um Einsicht und Tugend« die Rede (phronēseōs te kai aretēs zēn epimeloumenos, Ep. VII 345b). Vgl. dazu Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen I, 317–320. 47 Wie in der Eigler-Ausgabe vermerkt ist, konkurriert tēn alētheian askōn mit tēn alētheian skopōn. Hier wurde also für die erste Variante Partei ergriffen. Vgl. Dalfen, Platon, Gorgias, 497 f. 45 46

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Sokratische Dialektik als Einübung in die Wahrheit

und Ermahnungen, die Sokrates im Gorgias vorführt, sind demzufolge Übungen der Wahrheit. Dies macht darauf aufmerksam, dass der Sachbezug der Dialektik nicht ohne weiteres zur Erklärung ihrer spezifischen Differenz herangezogen werden kann: Die Unterscheidung der peithō in ›belehrende‹ oder ›glaubenmachende‹ (Gorg. 454c–455a, 500d–501b) scheint ihre Pointe darin zu haben, dass ein begründendes Denken im Gegensatz zur bloßen Überredung auf sachlichen Fundamenten steht. Man sollte diesen Anspruch aber nicht voreilig auf die Dialektik übertragen: Wenn diese wesentlich gemeinsame Bemühung um Erkenntnis ist, kann sie nicht Anwendung einer privilegierten, geschauten Erkenntnis sein. Andernfalls wäre der Dialog im Prinzip verzichtbar. Die dialektische Praxis beginnt nicht, nachdem die Wahrheit erkannt wurde, sondern sie ist wesentlich Einübung in die Wahrheit. Der Dialektiker orientiert sich an der Wahrheit, er besitzt sie nicht. Dass die Dialektik eine Übung der Wahrheit ist, heißt konkret, dass das Kriterium der Wahrheit nur darin bestehen kann, dass die Beteiligten in ihren Reden zu einer Übereinstimmung (homologia) finden. In diesem Sinn beruht Sokrates’ Verfahren darauf, seinen jeweiligen Gesprächspartner zum Zeugen der Wahrheit zu machen. Dies geschieht, wie man weiß, in einer langen Folge von Fragen und Antworten, bei der die Befragten jeden Schritt einer kleinteiligen Gedankenentwicklung mitvollziehen müssen. Dass ein Großteil der Aufgabe dabei darin besteht, explizite Zustimmung zu offensichtlichen Wahrheiten zu äußern, ist im Lichte des Übungsgedankens mehr als eine kuriose Äußerlichkeit: Gerade hier erweist sich die Dialektik als ein Verfahren der ethischen Transformation, bei dem durch den wiederholten Vollzug eines Handlungstyps allmählich ein Habitus verändert wird. Dabei gilt das übliche Prinzip, Schritt für Schritt von leichten zu schwierigeren Fällen überzugehen: Wer sich daran gewöhnt, einem Anderen zuzustimmen, wo der Widerstand klein ist, wird mehr und mehr bereit sein, auch dort zuzustimmen, wo der Widerstand größer ist. Er wird es sich schließlich sogar gefallen lassen, ›widerlegt zu werden‹. Im Gorgias findet man viele Passagen, an denen sich dies veranschaulichen lässt: Wie auch in anderen Dialogen fordert Sokrates seine jeweiligen Gesprächspartner hier nicht selten zunächst zur Zustimmung zu einer Reihe von Überlegungen auf, die offensichtlich zustimmungsfähig sind. Selbst in einem so harten Fall wie dem des Kallikles kommt es dabei immer wieder zu längeren Passagen, in de185 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Sokratische Kultur der Rede

nen Sokrates auf keinerlei Einwände stößt. Ein Beispiel dafür ist das Zwiegespräch, das Kallikles zu dem Eingeständnis bringen soll, dass das Gute und das Angenehme nicht einerlei ist: In der Anfangsphase dieser Passage lässt sich Sokrates zunächst die Verschiedenheit von fraglos verschiedenen Phänomenen wie Tapferkeit und Erkenntnis oder Tapferkeit und Lust bestätigen sowie die Gegensätzlichkeit von Gegensätzen wie ›wohlleben‹ (eu prattein) und schlecht leben (kakōs prattein), Gesundheit und Krankheit oder Stärke und Schwäche (Gorg. 495c–496b). Auf diese Weise muss Kallikles sich darin üben, seinem Gegenüber zuzustimmen, wenn dieser Richtiges sagt. In Platons Dialogen lässt sich immer wieder beobachten, wie es Sokrates durch diese recht einfache Technik gelingt, seine Gesprächspartner in eine Situation zu bringen, in der sich auch dann noch zustimmen müssen, wenn ihnen dies weniger leicht fällt, da die Themen allmählich strittiger werden. Im Fall des Kallikles gibt es immer wieder deutliche Anzeichen, dass ihm diese Folge von Zustimmungsakten unangenehm ist: In der vorliegenden Passage will er die Übung abbrechen, indem er formell eine generelle Übereinstimmung signalisiert: »Ich stimme zu (homologō), nur frage nicht weiter.« (Gorg. 496d) Wer sich auf das Spiel des homologein erst einmal eingelassen hat, ist bald so weit in die Sichtweise des Gegenübers verwickelt, dass er sie kaum mehr nicht ernstnehmen kann. Dass die Zustimmung oft bald nur noch widerwillig erfolgt – vor allem dort, wo die Widerlegung der eigenen Position droht –, wird nicht selten daran sichtbar, dass die Signale der Zustimmung einsilbiger ausfallen (Gorg. 496d– 497a). Dennoch weiß auch ein so widerspenstiger Opponent wie Kallikles keinen anderen Ausweg als den Abbruch des Diskurses. Er widersetzt sich der weiteren Befragung, und sein Lehrer Gorgias muss einschreiten, damit Kallikles das Gespräch fortsetzt (Gorg. 497a f.). Mit Blick auf solche Entwicklungen könnte man die dialektische Redepraxis als Übung der Homologie charakterisieren. Diese ist eine Gewöhnung daran, den beschränkten eigenen Standpunkt zu überschreiten und sich auf etwas zu besinnen, was von allgemeiner Geltung ist. Deswegen spricht ›zur Sache‹ (pros to pragma), wer das Ziel zurückstellt, für sich selbst den Sieg zu erringen (Gorg. 457e f): Es geht um die Übung, eine übergreifende Ordnung gelten zu lassen. Diese (selbst)kritische Haltung ist es, die den Sachbezug der dialektischen Praxis ausmacht. Das Telos der dialektischen Redepraxis beginnt sich dort zu erfüllen, wo jemand lernt, sich an der Wahrheit zu orientieren, weil dies verlangt, den eigenen Siegeswillen zurück186 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Sokratische Dialektik als Einübung in die Wahrheit

zustellen und transsubjektive Verbindlichkeiten anzuerkennen. Ihrem konkreten ethischen Sinn nach ist diese Übung der Wahrheit wiederum als Übung der sōphrosynē erkennbar: Wer sich am Allgemeinen misst, gewöhnt sich daran, das rechte Maß zu behalten. Das sokratische Fragen unterscheidet sich von der gorgianischen Redepraxis nicht dadurch, dass es von einem überlegenen Wissen her erfolgt. Der Unterschied liegt darin, dass es sich in ein Verhältnis zu einem solchen Wissen stellt. Es bleibt hinter seinen Kriterien immer zurück, weil es sich einem unendlichen Anspruch aussetzt. Das heißt aber gerade, dass die Dialektik ihre ethische Wirkung aus sich selbst heraus erzeugen muss. Sie kann nicht darauf vertrauen, dass sich diese Wirkung vermittels einer Sache einstellt, die der Rede insgeheim zugrunde liegt, sondern muss sie als Lebenspraxis der Rede selbst generieren können. Wäre es richtig, dass sich die wahre Redekunst dadurch auszeichnet, auf sachlichem Wissen bereits zu beruhen, so wäre ihre therapeutische Wirksamkeit eine nützliche Folge ihrer logischen Überlegenheit. Tatsächlich liegt bei Platon keine Kluft zwischen Einsicht und Sittlichkeit. So dürfte sich die Selbstverständlichkeit erklären, mit der Sokrates voraussetzt, dass die Erkenntnis des Gerechten den Menschen gerecht macht (Gorg. 460a f). 48 Die dialektische Praxis beherrschen zu lernen, heißt schon, seine Seele in Ordnung zu bringen – und zwar auch dann, wenn der Vollzug nur partiell gelingt und man zur letzten Wahrheit nicht vordringt. Der therapeutische Effekt stellt sich nicht erst ein, wenn die Sache selbst endlich ihre heilsame Wirkung entfaltet. Die ethische Wirkung der dialektischen Praxis muss bereits in der Übung der Homologie selbst liegen. Die Erzeugung des Sachbezugs und die Erzeugung der ethischen Wirkung gehen Hand in Hand. Wäre die Gesundung der Seele eine sekundäre Folge der Einsicht in eine wahre seelische Ordnung, liefe Sokrates Gefahr, in dieselbe Falle zu tappen wie Gorgias, der immer erst noch auf einen guten Gebrauch seines Wissens hoffen muss. Der Mangel der gorgianischen Rhetorik ist es in seiner Sicht, dass man diese Kunst lernen und dennoch ungerecht bleiben kann. Will die Dialektik

Es verwundert nicht, dass darin häufig eine Argumentationsschwäche gesehen wurde. Doch dieser Vorzug der Dialektik ist genau der, für den Sokrates nicht eigens argumentieren kann. Die Frage, ob die Dialektik gerecht macht, ist für ihn identisch mit der Frage, ob sie zum guten Leben führt bzw. die wahre ethische Redepraxis ist. Dies aber muss sich in der Ausübung dieser Rede- und Lebenspraxis erweisen.

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Sokratische Kultur der Rede

diesem Urteil entgehen, muss ihre logische Kraft gleichzeitig ihre Heilkraft sein.

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Der Mythos der idealen Rhetorik

Hätte sich Sokrates mit dieser Deutung einverstanden erklärt? Unter dem Einfluss der traditionellen Platoninterpretation wird man zögerlich sein. Ihr zufolge bilden gorganische und sokratische Redepraxis kein Komplementärverhältnis, sondern einen Antagonismus. Im Verhältnis der ungezügelten und der gemäßigten ›Rhetorik‹ könnte man gerade den Widerstreit von vernunftloser Begierde (hybris) und Selbstbeherrschung (sōphrosynē) wiederkennen wollen, um die es in der ersten Rede im Phaidros geht (Phdr. 237d–238c). Sokrates verwirft diese Rede später als frevelhaft, weil sie die göttliche Natur der Liebe leugnet. Dies ist so gelesen worden, dass er sich an dieser Stelle von der Redekultur des isokratischen Typs, die eine sittliche Ordnung aus der Kraft der Rede selbst entspringen lässt, absetzt. 49 Unter der Voraussetzung eines Antagonismus von sōphrosynē und erōs ist letzterer immer auf der Seite der hybris und der krankhaften Manie. In diesem Schema hätte man geradezu eine Lobrede auf den Nicht-Liebenden zu halten, welche Sokrates jedoch nicht über die Lippen kommen will (Phdr. 241df). Wer nur die profane Verrücktheit kennt und daher immer nur tadeln kann, hat keinen positiven Entwurf vom guten Leben. Es muss eine edle Art der Liebe, einen »freien Eros« (Phdr. 243c) geben, eine göttliche Form der mania. Nur so ist die wahre Redekunst möglich. Der Dialektiker hat seinen sophistischen Konkurrenten – im Phaidros konkurriert Sokrates mit Lysias um die Gunst des Phaidros – erst aus dem Feld geschlagen, wenn er, wie man sagen könnte, über eine eigene Form der Epideixis verfügt. An dieser Stelle beginnt die sokratische Erzählung von den himmlischen Seelenfahrten: Eine ideale Rhetorik kann ihre Kraft nicht aus sich selbst ziehen, sondern muss auf die Erinnerung an das bauen, was sie an einem »Ort über dem Himmel« gesehen hat (Phdr. 247c). Angesichts dessen könnte man sagen wollen, dass die Interpretation der elenktischen Rede, für die hier Partei ergriffen wurde, das Ideal der ›wahren Rhetorik‹ zu leichtfertig aus der Hand gibt. Platons Sokrates muss mehr gewollt haben als eine Kultur der Rede, die 49

Vgl. dazu Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, 165–170.

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Der Mythos der idealen Rhetorik

ethisch-ästhetische Sinnformen entwickelt und in Kraft setzt. Was wäre darauf zu erwidern? Schon dass Sokrates im Phaidros nicht eine, sondern zwei Reden hält, weist freilich auf eine Ambivalenz hin. So wäre hier zumindest zu berücksichtigen, dass der Glaube an die ideale Rhetorik keineswegs ungebrochen ist. Insbesondere ist zu beachten, dass sich Sokrates gerade dort, wo er die letzten Gründe seiner wahren Redekunst zur Sprache bringt, in besonderem Maße der Form des Mythos bedient. Darin deckt sich der Gorgias mit anderen Dialogen wie dem Symposion oder der Politeia. 50 Auch im Phaidros greift Sokrates an der entsprechenden Stelle zum Mittel des Gleichnisses. Solche Mittel sind nötig, so gibt er zu verstehen (Phdr. 250b), weil »in den hiesigen Abbilder« (en tois tēde homiōmasin) der Gerechtigkeit und Mäßigung kein Glanz (phengos) liegt. Wer wirklich die Natur der Seele erkunden wollte, hätte eine »göttliche und große Untersuchung« zu machen, eine »menschliche und leichtere« Untersuchung ist es, wenn man nur fragt, womit sie verglichen werden kann. »Auf diese Art also«, sagt Sokrates, »müssen wir davon reden« (Phdr. 246a). So tritt die Kunst der Rede dort, wo es um höchste Wahrheiten geht, nicht etwa zurück, sondern im Gegenteil ganz in den Vordergrund. Lässt man die vorangegangenen Überlegungen gelten, könnte auch dies der Ausdruck einer Haltung des rechten Maßes sein: Wer für seine Seele sorgen möchte, sollte sich in ein angemessenes Verhältnis zur idealen Rhetorik setzen, und das heißt: sich an die irdische Praxis der Rede halten. Die ›Sachangemessenheit‹ der Rede kann manchmal auch darin liegen, dass sie sich als Erzählung zu erkennen gibt. Wie auch immer diese exegetischen Fragen letztlich zu beurteilen sind, sollte dieser Abschnitt gezeigt haben, dass sich in Platons Dialogen ein Verhältnis zweier Redepraktiken, der gorgianischen und der sokratischen, abzeichnet, das sich keinesfalls als schroffer Antagonismus präsentiert. Mit Gorgianik und Sokratik stehen sich nicht eine Rhetorik und eine Kunst des reinen Denkens gegenüber, sondern zwei Diskursverfahren mit komplementären Wirksamkeiten: Wie die gorgianische Rede eine Praxis der Selbststeigerung und Erhöhung ist, ist die Elenktik eine Praxis der Selbstbeschränkung und Mäßigung. Der Widerstreit deutet auf eine Spannung im Logos selbst: Eine Kultur des Umgangs mit der Rede hat mit dieser SpanZum Thema des Mythos bei Platon vgl. z. B. Kobusch, »Die Wiederkehr des Mythos«.

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Sokratische Kultur der Rede

nung umzugehen. Wirkliche Diskurse leben von einem gelungenen Zusammenspiel von rednerischer Intensivierung und logisch-begrifflicher Disziplinierung. Das gute Leben verlangt beides. Der Stoiker Zenon soll den Unterschied zwischen Rhetorik und Dialektik dadurch zum Ausdruck gebracht haben, dass er seine Faust ballte und wieder öffnete. Sextus, von dem diese Geschichte überliefert ist, erläutert die Geste so: »Mit der Faust kennzeichnete er die Zusammenballung und Knappheit (to strongylon kai brachy) als eine Besonderheit der Dialektik (dialektikē), mit der Öffnung der Hand und dem Spreizen der Finger deutete er die Breite (ta platy) der Rhetorik (rhētorikē) an.« (Math. II 7) Solche Hinweise deuten darauf, dass auch die nachplatonische Zeit Redekulturen kannte, in der die ›lange‹ epideiktische und die ›kurze‹ dialektische Rede zusammenspielten. Epikur soll gar behauptet haben, dass sie »auf dasselbe zielen« (Vat. 26). Wo eine scharfe Opposition von Rhetorik und Philosophie leitend bleibt, wird eine solche Zusammengehörigkeit unverständlich bleiben. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Frage, welche Formen philosophische Diskurse annehmen können, wo sich der Anspruch auf Wahrheit weiter gefestigt hat, die Ideale der ethischen Kultur der Rede aber dennoch wirksam bleiben.

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VI Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

Der werdenden Philosophie an der Schwelle zum 4. Jahrhundert v. Chr., so hat sich bei Sokrates gezeigt, ist die Redekultur der sophistischen Zeit nicht nur wohlbekannt. In ihrem sokratischen Anfang sind ihre eigenen Diskursverfahren zutiefst von dem Verständnis der Redepraxis als Lebenspraxis geprägt: Was als ›wahr‹ oder ›überzeugend‹ gilt, entscheidet sich nicht ohne Bezug auf die ethischen Haltungen, die sich im jeweiligen diskursiven Verhalten manifestieren. Rede und Person, Diskurs und Leben bleiben eng miteinander verbunden. Lässt sich ähnliches auch noch für spätere Diskurse behaupten? Was wird in der klassischen und hellenistischen Zeit aus der vorplatonischen Ethik der Rede? Für das Bisherige konnten die Einteilungen, die sich nach Platon einbürgern und bis heute Bestand haben, ausgeklammert werden. Wo der Beschreibungsrahmen durch die Begrifflichkeiten der sich ausdifferenzierenden Disziplin der Philosophie geprägt ist, ist dies nicht mehr in derselben Weise möglich. In der klassischen Zeit entsteht die Ordnung des Wissens, an der sich geistesgeschichtliche Erzählungen bis heute orientieren. Insbesondere bildet sich die folgenschwere Unterscheidung von Philosophie und Rhetorik heraus. Während die vorplatonische Redekultur die Einheit von Reden und Leben in den Vordergrund stellt und die ›redende Person‹ noch als ungeschiedenes Phänomen betrachten kann, werden die analytischen Trennungen von Rede und Sprecher, Wahrheit und Vermittlung oder Form und Inhalt nun geläufiger. Die formale Redetechnik erscheint zunehmend als reale Möglichkeit. Spätestens seit Aristoteles stehen Begriffe zur Verfügung, um die Verhältnisse neu zu beschreiben: Die Rhetorik wird als die »Fähigkeit« (dynamis) bestimmt, das »Überzeugende« (pithanon) jeder Sache zu »erkennen« (theōrēsai); ihre »Aufgabe« (ergon) ist nicht das Überzeugen selbst (to peisai), sondern die Auffindung oder das »Sehen« (idein) dessen, was zu überzeugen vermag (Rhet. 1355b). Kann die alte diskursive Kultur unter diesen Bedingungen fortdauern? Und wenn ja, wie? 191 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

Die letzten Kapitel wollen einen Eindruck davon geben, wie auch die philosophische Wahrheitssuche als ethische Redekultur ausgelegt werden kann. Man kann eine direkte Linie ziehen von der vorplatonisch-sokratischen Ethik der Rede zur Diskurspraxis der schulisch organisierten Philosophie. Die Elemente der alten Redekultur – die ethosbildende Wirksamkeit, die sinnlich-ästhetische Dimension, die Funktion des Zeigens, das Geschehen der Wiederverkörperung, das Ideal der Harmonie von Leben und Reden, der ethische Wahrheitsbegriff – sind auch für die spätere philosophische Praxis essentiell und nicht nur kulturgeschichtliches Beiwerk. Um dies zu herauszuarbeiten, wird nun das in der Einleitung angesprochene Thema der Philosophie als Lebensform ins Zentrum rücken. Die Motive der diskursiven Kultur schließen in vielerlei Hinsicht an dieses Thema an: In beiden Perspektiven ist Philosophie primär konkrete Praxis, nicht nur rationales Verfahren; in beiden geht es um die Verwandlung des philosophierenden Selbst, nicht nur um die Gewinnung objektiven Wissens. Nach der hier vertretenen Auffassung ist den Redepraktiken in der Lebensform der Philosophie sogar eine Schlüsselrolle zuzuweisen: Das Diskursive ist nicht nur die Grundlage des antiken philosophischen Lebens, sondern konstitutiver Bestandteil dieses Lebens. Es ist weder rationale Vorübung der Ethik noch Mittel der Verinnerlichung vorab gewonnener ethischer Erkenntnisse. Die philosophische Rede ist eine ethische Praxis sui generis. Foucault hat in seinen späteren Arbeiten geltend gemacht, dass die Transformation des Subjekts und der Wahrheitsbezug in der antiken Diskurspraxis unmittelbar Hand in Hand gehen. Die Selbsttransformation ist sowohl Bedingung als auch Folge der Wahrheitserkenntnis. Foucault selbst spricht von einer »Subjektivierung der wahren Rede«, welche darin bestehe, dass »ich selbst diese wahre Rede halten kann« und »das Subjekt des Aussprechens dieser wahren Rede werde«. 1 Ein Ergebnis der vorliegenden Studie könnte man darin sehen, dass dieser Befund durch die konsequente Einbeziehung des vorplatonischen Denkens bestätigt und vertieft werden kann: Schließt man ›Sophistik‹ und ›Rhetorik‹ nicht aus der Betrachtung aus, wie Foucault es überraschenderweise selbst tut, 2 wird umso deutFoucault, Hermeneutik des Subjekts, 406. Foucault hält erstaunlicherweise an der Entgegensetzung von Philosophie und Rhetorik fest. Das Wahrsprechen der Philosophie, die parrhēsia, könne man vom Standpunkt der Rhetorik aus nicht verstehen. Nur erstere sei in der Antike für die ›Regie-

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

licher, warum seine Analyse etwas für sich hat. Ein Tugendwissen erschließt sich nur im Durchgang durch eine ethische Transformation. Es kann nicht durch ein Begreifen erlangt werden, zu dem jede hinreichend intelligente Person immer schon in der Lage ist. Entsprechend wird ethische Erkenntnis nicht erworben und dann vermittels diskursiver Verfahren in die Seele eingearbeitet, sondern im ständigen Vollzug dieser Verfahren errungen, welche mithin aus sich selbst heraus eine Besserung der Person bewirken müssen. Wahrheitssuche und sittliche Transformation sind so gar nicht erst voneinander getrennt. Wo das Gebot der Ausgrenzung alles Rhetorischen aus der Philosophie gilt, fällt die Diskussion um diskursive Kultur etwas vertrackter aus als in den bisherigen Zusammenhängen. Es ist daher nötig, sich anfangs Klarheit darüber zu verschaffen, wie ein Standpunkt jenseits des Schemas ›Philosophie versus Rhetorik‹ gelagert ist (1). Nachdem der mögliche Ort diskursiver Kultur in der Philosophie damit klarer ist, werden einige Motive in Erinnerung gebracht, die mit dem Verständnis von philosophischer Praxis als ›Lebensform‹ seit Hadot verbunden sind (2). Vor diesem Hintergrund wird dann sichtbar, wie diskursive Vorgänge ein Element alltäglicher philosophischer Arbeit an sich selbst sein können: Wird die gängige Interpretation, diskursive Verfahren seien formalrhetorische Hilfsmittel der Kultivierungspraxis (3), außer Kraft gesetzt, tritt deren eigener Lebensformstatus hervor (4). Auf dieser Basis kann schließlich nach den medialen Formen der diskursiven Kultur der Philosophie gefragt werden (5), die den Gegenstand des folgenden Kapitels darstellen (Kap. VII).

rung des Selbst‹ verantwortlich, während letztere ausschließlich auf die ›Regierung der anderen‹ ziele: »Die Rhetorik stellt das Inventar und liefert die Analyse der Mittel, durch die man mittels der Rede auf die anderen einwirken kann. Die Philosophie ist das Ensemble der Grundsätze und Praktiken, die einem zur Verfügung stehen bzw. die man anderen zur Verfügung stellt, damit man sich angemessen um sich bzw. um die anderen sorgen kann.« (Hermeneutik des Subjekts, 177) Foucault folgt in diesem Punkt also der philosophischen Doxographie und übersieht die ethische Bedeutung dessen, was zur Rhetorik gerechnet wird. Zu diesem Thema vgl. auch Möller, »Am Nullpunkt der Rhetorik?«

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

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Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik

Das Profil der ethischen Redekultur der Antike wird bis heute dadurch verzerrt, dass man die Wirksamkeit der Rede als ausschließlich rhetorisches Problem versteht. Das gilt vor allem dort, wo die Philosophie zur Disziplin geworden ist und im Gegensatz zur Disziplin der Rhetorik stehen soll. Angesichts dessen empfiehlt es sich, den möglichen Ort der diskursiven Kultur unter den neuen Bedingungen zunächst vorläufig zu bestimmen. Die These wird sein, dass die Denkfiguren der alten Redekultur auch nach Sokrates virulent bleiben, und zwar in den Wahrheitspraktiken der Philosophie selbst. Konkret gezeigt werden soll dies für die Bildungspraxis, die seit Gründung der Akademie Platons in den verschiedenen philosophischen Schulen der Antike entwickelt wird, wobei wir uns freilich mit exemplarischen Betrachtungen zufrieden geben müssen. Zu Anfang jedoch sei die zugrunde liegende These, dass sich die ethische Redekultur in den Wahrheitspraktiken der Philosophie selbst fortsetzt, erläutert. Im Horizont der Trennung von Philosophie und Rhetorik wird man es schwer haben, die Erscheinungen der diskursiven Kultur in die Begrifflichkeiten des philosophischen Denkens einzuordnen. Da diese Trennung mit Platon und Aristoteles ihre bis heute verbindliche Form findet, scheint die vorplatonische Ethik der Rede seit der klassischen Zeit keine wirkliche Rolle mehr spielen zu können. Zwei Varianten, ihre Bedeutung für die Philosophie zu leugnen, bieten sich an: Erstens könnte man sagen, dass die alte Kultur der Rede ganz in einer Tradition aufgeht, die außerhalb der Philosophie steht und die man heute als ›rhetorische Bildungskultur‹ kennt (a). Zweitens könnte man die ethosbildende Kraft des Logos, sofern man sie nicht völlig aus der Philosophie ausschließt, doch aus den philosophischen Wahrheitspraktiken im engeren Sinne heraushalten, indem man sie auf die pädagogische Vermittlung philosophischer Erkenntnis begrenzt (b). (a) Anschauungsmaterial für die erste Variante liefert Isokrates: Es ist nicht schwer zu sehen, warum sich sein Erziehungsprogramm unter den Titel einer diskursiven Kultur stellen ließe. Wie schon die Redelehren der sophistischen Zeit, so zielt auch die isokratische Bildungstradition nicht auf eine Technik der Rede, sondern auf die Entfaltung ethischer Potentiale. Leitend ist der Gedanke, dass Menschen »besser und wertvoller« werden, wenn sie danach streben, »gut zu 194 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik

reden« (eu legein) und »ihre Hörer überzeugen zu können« (peithein dynasthai, Or. XV 275). Die Erziehung zur Rede ziele eigentlich auf Anständigkeit (epieikeia), nicht auf rednerische Kunstfertigkeit (rhētoreia, Or. XIII 21). 3 Dabei scheint die Tugend den Vorrang auch noch vor der Erkenntnis zu beanspruchen: Alle seine Reden, versichert Isokrates, streben ausschließlich nach Sittlichkeit (aretē) und Gerechtigkeit (dikaiosynē, Or. XV 67). Und sofern sie auf »Wahrheit« (alētheia) zielen, ist damit wiederum ein Tugendideal angesprochen: Der »wahre, rechtschaffene und gerechte logos ist das Bild der guten und vertrauenswürdigen Seele« (Or. XV 255 f.). Noch die Orientierung an der Wahrheit ist im Kern eine Orientierung am Guten. Was ›richtiges‹ oder ›gutes‹ Reden konkret ist, bestimmt sich für Isokrates ganz aus der Ethik der Rede selbst: So wendet er sich wiederholt gegen Redelehrer, die behaupten, über feste Methoden oder eine ›Wissenschaft‹ der Rede zu verfügen. Für ihn sind solche Versprechungen ein sicheres Zeichen von Unredlichkeit (Or. XIII 9). Die gorgianische Skepsis gegenüber der logischen technē setzt sich bei Isokrates, der ja ein Schüler des Gorgias gewesen sein soll, also fort. Und so ist es auch wiederum die praktische Einübung in den Diskurs, die das Kernstück seiner Lehre ausmacht: Das richtige Reden lernt man nicht, indem man Vorschriften lernt. Man lernt es, indem man redet. Nur im wirklichen und wiederholten Vollzug – in der diskursiven askēsis – kann das Versittlichungspotential, das dem logos eigen ist, zur Entfaltung kommen. 4 Gleichzeitig soll diese logōn paideia, diese Bildungspraxis der Rede, auf die übrige gesellschaftliche Praxis ausstrahlen, indem sie ein kollektives Subjekt konstituiert und die Einheit der polis stärkt. Die konkrete, performativ verfasste Diskurspraxis ist bei Isokrates die letzte Grundlage des gelingenden Gemeinschaftslebens. Man kann Isokrates also unschwer als Repräsentanten der alten ethischen Redekultur in der klassischen Zeit identifizieren. Doch geVgl. auch die sehr deutliche Formulierung in Or. I 4. Zur Übung vgl. bes. Or. XV 209–214. – Die sozialisierende Funktion der Rede bringt Isokrates an einer berühmten Stelle in Or. III 6 so zum Ausdruck: »Denn in dem, was wir sonst besitzen, sind wir den anderen Lebewesen nicht überlegen, sondern sind ihnen unterlegen an Schnelligkeit und Kraft und anderen Fähigkeiten (euporiais). Da es uns aber gegeben ist, einander zu überreden (peithein allēlous) und uns zu verstehen zu geben (dēloun), was wir wollen, sind wir dem tierischen Leben entkommen und haben uns zusammengetan und Städte gegründet, Gesetze gemacht und Künste (technas) erfunden.« 3 4

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

rade deswegen scheint seine Redelehre außerhalb der Philosophie zu stehen. Der Erkenntnisaspekt der wahren Rede scheint bei ihm völlig zu fehlen. Bei Isokrates ist das Vertrauen in die Stiftungskraft der Rede so stark ausgeprägt, dass die kritische Nachfrage und die dialektische Prüfung als diskursive Verfahren keinerlei Bedeutung gewinnen. Eindeutiger noch als bei Gorgias soll die monologische Rede des sittlichen Vorbilds der maßgebliche Katalysator sittlicher Bildung sein. Platon macht Sokrates einmal zum Sprachrohr der Hoffnung, dass Isokrates »in reiferem Alter« irgendwann von den »Reden, auf die er jetzt seinen Fleiß verwendet«, ablassen werde (Phdr. 279a). Dazu ist es nicht gekommen. Der isokratische Anspruch, selbst philosophia zu betreiben, markiert letztlich ein ausschließendes Verhältnis zu anderen Formen des Sprechens. Indem er auf einem gorgianischen Standpunkt beharrt, schließt sich Isokrates von der dialogischen Transformation ab, die die diskursive Kultur mit Sokrates durchläuft. Wer sich mit Fragen und Antworten befasst, muss Isokrates zufolge zu den ›Antilogikern‹ gehören (antilogikoi, Or. XV 45 f.). Dieser blinde Fleck führt dazu, dass der Kultivierungsaspekt der Rede bei Isokrates gegen die Art der Wahrheitsorientierung zum Tragen gebracht werden muss, die philosophische Diskurse prägt. Von diesem Selbstverständnis lassen sich noch neuere Kommentare leiten, die bei Isokrates ein alternatives Paradigma zur Philosophie ausmachen. In diesem Sinn hat Ekaterina Haskins seine Lehre als Korrektiv zur philosophischen Rhetorik des Aristoteles gedeutet. Im Zentrum steht dabei die Bedeutung der Performativität der Rede: Während wirkliche Diskurse für Aristoteles stets nur die sekundäre Funktion der Wahrheitsvermittlung haben könnten, habe der Vollzug der Rede für Isokrates konstitutive Bedeutung: Aristotle’s interest in rhetoric as technē, his understanding of language and performance places rhetoric and its power outside the domain of ethical and political deliberation, thus asserting an extralinguistic nature of human agency. Isocrates on the other hand, promotes rhetoric as a discourse that constitutes both culture and human agency. Isocratean prose underscores the performative – that is, active and continually born anew – quality of human agency. 5

Diese Einschätzung ist aus mehreren Gründen problematisch: Der Hinweis auf ein alternatives Paradigma zur Philosophie übersieht, 5 Haskins, Logos and Power in Isocrates and Aristotle, 3. – Vgl. auch die ähnlich gelagerte Interpretation von Chase, »Constructing Ethics through Rhetoric«.

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Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik

dass die Idee einer Kultur der Rede nicht auf Isokrates, sondern auf die sophistische Zeit zurückgeht und auch ein Anknüpfungspunkt für die sokratische Dialektik ist. Isokrates steht also weniger für eine Alternative zur philosophischen Tradition, sondern eher für die überkommene Form einer alten Redekultur, die bei Sokrates bereits entscheidende Modifikationen erfahren hatte. Ferner überzeichnet Haskins sicher den technischen Charakter der aristotelischen Rhetorik: Auch in der aristotelischen Rhetorik bleibt die Rede in das ethisch-politische Handeln eingebettet, wie immer wieder zu Recht betont wird. 6 Die ethische Dimension diskursiver Praxis ist Aristoteles noch völlig präsent. Wer die Differenz zwischen Isokrates und Aristoteles, wie Haskins, also darin sieht, dass ersterer der lebendigen Rede konstitutiven, letzterer nur sekundären Status für die Lebensführung zuspricht, reißt eine Kluft zwischen Redekultur und Erkenntnisorientierung auf, die es so in der Antike nicht gegeben hat. Dass Philosophen rhetorische Bildung hatten und haben sollten, ist hinreichend bezeugt. Die Rhetorik war seit der klassischen Zeit – was die missverständliche Einteilung in die ›Disziplinen‹ der Philosophie und der Rhetorik vergessen machen kann – als Bildungskultur allgegenwärtig. Damit war der Boden bereitet für die weitere Tradierung der ethischen Redekultur, für die es weder darauf ankommt, sich von der Rhetorik wie von einer Konkurrenzdisziplin zu distanzieren, noch darauf, einen Vorrang der Rede gegenüber der Vernunft zu behaupten. Philosophie kann in diskursive Kultur eingebettet sein und ihre Elemente in sich integrieren. (b) Das Verständnis der Rhetorik als Gegenprogramm zur Philosophie zementiert das Schema der Opposition und verschleiert die Bedeutung der Redekultur für die philosophische Praxis selbst. Doch natürlich gehört die Voraussetzung des Antagonismus von Rhetorik und Philosophie auch zu den Standardannahmen der Philosophie selbst. Dies führt zu der zweiten Weise, die Rolle der diskursiven Kultur in den Wahrheitspraktiken der antiken Philosophie zu leugnen: Das Wissen um die Bildungsmacht des Logos gehört durchaus zum philosophischen Bewusstsein – daraus erklärt sich ja überhaupt der Schrecken, der mit der Rhetorik verbunden ist. Aber die Philosophie reagiert darauf seit je so, dass sie der Rede die sekundäre pädagogische Aufgabe der Erkenntnisvermittlung zuweist. Diese BeVgl. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles oder Garver, Aristotle’s Rhetoric.

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

schränkung ist immer schon die Methode der Wahl gewesen, wenn es darum ging, die rhetorische Neutralität philosophischer Erkenntnispraxis auszuweisen. Indem eine konstitutive Bedeutung des Vollzugs von diskursiven Praktiken für die Wahrheitssuche von vornherein ausgeschlossen wird, bleiben die ethischen Fundamente philosophischer Erkenntnis unthematisch. Die bis heute verbindlichen Vorgaben für diesen formalen Begriff der Rede – darin liegt der Kommentar von Haskins sicher richtig – sind bei Aristoteles zu finden. Obwohl Aristoteles der konkreten Diskurspraxis selbst vielleicht einen wichtigeren Status zugewiesen hätte, als man es in späteren Zeiten tun wird, hat sein Verständnis der Rhetorik als ›Vermögen‹, das Überzeugende jeder Sache zu ›erkennen‹ für die Ausblendung der Ethik der Rede doch entscheidende Weichen gestellt: Indem er die alte Redelehre in den Kanon der Wissenschaften eingliedert, wird das Diskursive zum Gegenstand theoretischer Bemühungen; der Kultivierungsaspekt tritt damit zurück. Verfolgt wird die Rhetorik insoweit, als sie wissenschaftsfähig ist und ein Plausibilisierungsgrund (pithanon) zum Gegenstand von Erkenntnis werden kann. In diesem Rahmen kann die Praxis der Rede keinen konstitutiven Rang mehr beanspruchen. Durch sie kann nicht eigentlich etwas zur Geltung gebracht werden. Sie macht nur geltend, was unabhängig von ihr als gültig erkannt wird. Diesen Schritt kann man anhand der aristotelischen Erläuterung der Epideixis gut nachvollziehen: Zwar spricht Aristoteles dem epideiktischen Redemodus ebenfalls ethische Funktion zu. Die Lobrede habe die Aufgabe, »die Größe der Tugend sichtbar werden zu lassen« (emphanizōn, Rhet. 1367b f.). 7 Gleichzeitig ist dabei jedoch vorausgesetzt, dass sich die epideiktische Rede von der politischen Beratungsrede allein durch die Ausdrucksweise unterscheidet und beide ein gemeinsames eidos haben. Das aufzeigende Sprechen lässt sich nach dieser Lesart verlustfrei in ein deliberatives Sprechen übersetzen. Ein wesentliches Moment der genuin ethischen Plausibilisierung fällt damit aus: Das emphanizein oder ›Leuchtenlassen‹ des praktisch Guten gilt nicht als eigenständiges Überzeugungsmittel. Die Steigerung richtigen Verhaltens ist eine sekundäre Sache. Es ist nicht mehr vorgesehen, nachahmenswerte Lebensformen kraft der Rede zur Geltung zu bringen: Diese Geltung kann veranschaulicht und für die

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Vgl. auch Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, bes. 208.

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Im Spannungsfeld von rhetorischer Bildungskultur und philosophischer Rhetorik

Sinne wirksam gemacht werden, nicht aber auf Rede gründen. 8 Aristoteles stellt damit die Weichen für ein Verständnis der praktischen Argumentation, für das politische Deliberation und juristische Beweisführung die maßgeblichen Modelle sind und das die Argumentationstheorie bis zum heutigen Tag dominiert: Auch die handlungsleitende Rede hat sich auf ›sachliche‹ Gesichtspunkte zu beschränken. Die Verkörperung einer Handlungsform scheidet als wirkliches Argument von vornherein aus. Auch wenn die aristotelische Redelehre selbst in das soziale und politische Handeln eingebettet bleibt, leistet sie also aus heutiger Sicht einer Perspektive Vorschub, in der die ethische Eigenlogik von Diskursen kaum noch Raum hat. Man könnte sagen, dass die Rationalisierung der Rede – ihre Erschließung aus einem vergegenständlichenden, theoretischen Blickwinkel – damit zu einer ständigen Möglichkeit wird. Die enge Verbundenheit von legein und prattein, 9 die dem modernen Leser auffallen mag und an der man das rhetorische Bewusstsein des Aristoteles dennoch festmachen könnte, dürfte das Normalmaß des griechischen Denkens eher unter- als überschreiten. Das Ergebnis der doppelten Abgrenzung dieses Abschnitts lässt sich so formulieren: Für die Frage, welchen Ort die ethische Kultur der Rede in der Philosophie hat, ist es nicht hilfreich, auf das alternative Paradigma der rhetorischen Bildungstradition zu setzen. Ebenso wenig sind jedoch Positionen als Bezugspunkt hilfreich, die die Redepraxis zur Sache theoretischer Betrachtung machen oder ihr eine bloße Vermittlungsaufgabe zusprechen. Ein Diskurs, der kein kritisches Nachfragen kennt, fällt in vorsokratische Einseitigkeit zurück; doch das Thema ist ebenso verfehlt, wo die Orientierung der Rede am ethisch Guten durch eine Sachlogik ersetzt werden soll. Dabei stimmen beide Varianten, wie gesehen, darin überein, dass sie Philosophie und Rhetorik als systematisch voneinander getrennte Bereiche ansehen. Demgegenüber wird für das Folgende die Prämisse leitend sein, dass der geschulte Umgang mit der Rede die philosophische Praxis der Antike durchwirkt und nicht in Konkurrenz mit ihr steht. Besonders im Hellenismus zielte die paideia auf rhetorisch-philosophische Diese Denkfigur scheint eine Parallele in der Überzeugung zu haben, dass die Wirkung einer Tragödie von der wirklichen Aufführung (opsis) weitgehend unabhängig ist und primär auf der Struktur des geschriebenen Dramas, der ›Zusammensetzung der Geschehnisse‹ (synthesis tōn pragmatōn) oder der ›Erzählung‹ (mythos), beruht: vgl. Aristoteles, Poetik, 1450a–b. 9 Vgl. exemplarisch Aristoteles, NE 1124b oder NE 1127a f. 8

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

Erziehungsideale. 10 Die Philosophie seit Platon ist eine diskursiv geschulte Philosophie, die die Macht der Rede nicht zu neutralisieren versucht, indem sie sie schlicht ignoriert, sondern die einen Umgang mit dem wirksamen Logos pflegt, und dies nicht erst sekundär, bei der Vermittlung oder Verinnerlichung philosophischer Erkenntnis, sondern bereits dort, wo bestimmt wird, was als wahr gelten soll. Momente der ethischen Redekultur lassen sich auch in den Wahrheitspraktiken selbst finden.

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Philosophie, Lebensform, Übung

In den vorangegangenen Kapiteln haben sich folgende Elemente der diskursiven Kultur der antiken Philosophie herauskristallisiert: Sie ist eine Arbeit am Selbst, die sich kraft diskursiver Vollzüge realisiert; sie zielt nicht auf singuläre Einsichten, die ein bestimmtes Handeln ermöglichen, sondern auf eine kleinteilige tägliche Mühe, durch die sich allmählich ethische Besserung und Erkenntnis einstellt; sie hat eine ästhetische Seite und sieht eine Arbeit an der Wahrnehmung vor; in ihr hat die Rede auch zeigende Bedeutung und ist ein lebendiges Beispiel, das eine Lebensweise sichtbar macht und zur Geltung bringt; sie beruht auf dem Prinzip der Wiederverkörperung und darauf, dass Beispielen gefolgt wird; ihr liegt ein Ideal der Übereinstimmung von Leben und Reden zugrunde; und sie versteht die Wahrheit nicht einfach als korrekte Repräsentation, sondern darüber hinaus als ethische Idealform der Rede, in die man sich einzuüben hat. Es soll nun ein Bild davon entwickelt werden, wie diese Elemente in der Philosophie nach Sokrates fortdauern. Dafür wird nach ihrer Bedeutung für die Wahrheitspraktiken der philosophischen Schulen gefragt, die ab der klassischen Zeit entstehen und die hellenistische Zeit prägen. Zu nennen sind hier neben der Akademie die Schulen der Skeptiker und der Epikureer sowie die Stoa, auf der im Folgenden ein

Vgl. exemplarisch Scholz, »Zur Bedeutung von Rede und Rhetorik in der hellenistischen Paideia und Politik«, bes. 103–118. Für eine Darstellung, die die herausragende Bedeutung der Rhetorik in diesem Kontext eindringlich vor Augen führt, vgl. Morgan, Literate Education in the Hellenistic and Roman World, 240–273. Dabei wird insbesondere die Rolle der imitatio betont. Wie selbstverständlich Dialektik und Rhetorik gemeinsam das Fundament philosophischer Bildung ausmachten, zeigt sich z. B. bei Epiktet: Diatr. II 23, 34–47.

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Schwerpunkt liegen wird. 11 Damit befinden wir uns nun in dem Bereich, für den Hadot seine These von der ›Philosophie als Lebensform‹ geltend gemacht hat. Die ethische oder therapeutische Grundverfassung, die die Philosophie dieser Epoche schulübergreifend auszeichnet, ist häufig betont worden: Ganz unterschiedliche Studien zum Thema wie diejenigen Martha Nussbaums und Pierre Hadots stimmen darin überein, dass das hellenistische Denken der alten Idee von der Philosophie als ›Medizin des Geistes‹ verpflichtet ist und auf eine ›Gesundheit der Seele‹ zielt. Man könnte sagen, dass die Philosophie in dieser Phase in einem grundlegenden Sinn Ethik ist. Selbst noch die Naturerkenntnis soll dem sittlichen Fortschritt dienen. Die vordringliche Frage der folgenden Abschnitte wird lauten, wie die Diskursverfahren der philosophischen Schulen in diese Ethik eingebettet sind. Gezeigt wird, dass die Philosophie in diesen Schulen eine ethische Kultur bleibt, in der Lebensweisen durch konkrete Redepraktiken in Kraft gesetzt werden. Philosophie ist auch nach dem sokratisch-platonischen Einschnitt Bildungskultur; und sofern sie diskursive Praxis ist und primär redend geschieht, ist sie diskursive Bildungskultur. Mit der Formel ›Philosophie als Lebensform‹ ist eine Konzeption angesprochen, der zufolge das Philosophieren, weitgehend unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung der jeweiligen Schule, primär auf die Verwandlung der Person zielt und dafür Methoden der Habitualisierung einsetzt, die in einer umfassenden Übungspraxis (askēsis) geregelt sein können. »Die Philosophie stellt eine Lebensweise dar, was nicht nur bedeutet, daß sie einem bestimmten moralischen Verhalten gleichkommt […], sondern daß sie gleichzeitig auch eine Daseinsform ist, die zu jedem Augenblick gelebt werden und das ganze Leben verändern soll.« 12 Dies beinhaltet, dass es keine Diese Schwerpunktsetzung wird nicht nur durch die Quellenlage nahegelegt, sie trägt auch den stoischen Anknüpfungen an die Sokratik am besten Rechnung. Dass die Stoa sokratische Elemente in sich aufnimmt, wird inzwischen häufig betont, so durchgängig bei Gill, The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought oder bei Brouwer, The Stoic Sage, 136–176 sowie Long, Epictetus, 67–96 für die frühe und späte Stoa. Im Mittelpunkt steht hier also eine sokratisch-stoische Traditionslinie. Epikur wird nur punktuell berührt, die Skeptiker werden ganz ausgeklammert. Auch die Kyniker scheinen für unsere Untersuchung weniger interessant zu sein. Foucault wertet den Kynismus als eine Position, die ganz auf das Moment des ›wahren Lebens‹ (alēthinos bios) zugespitzt ist: vgl. Der Mut zur Wahrheit, 290–299. Das geht vielleicht notwendig mit einer etwas einseitig rauen Redekultur einher. 12 Hadot, Philosophie als Lebensform, 165. 11

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strikte Trennung zwischen philosophischer Beschäftigung auf der einen und dem Privatleben auf der anderen Seite gibt. Einer von vielen Zeugen dafür ist Epikur, der empfohlen hat, man solle, »gleichzeitig lachen, philosophieren, sein Haus verwalten, allen seinen sonstigen Gewohnheiten nachgehen« (Vat. 41). Als Lebensform begriffen ist das Philosophieren die Existenzweise einer Person, kein wissenschaftliches Tun, das unabhängig von anderen Lebensvollzügen stattfindet. Es ist verständlich, dass die Untersuchung der konkreten Form des philosophischen Lebens nur begrenzt auf die traditionelle Doxographie bauen kann. Wenn sich der Lebensformcharakter der Philosophie – und damit ihre diskursive Kultur – in erster Linie in ihren Alltagspraktiken zeigt, dann werden schriftliche Quellen meist nur indirekt von ihnen zeugen. Gerade das kulturell Selbstverständliche wird bestenfalls am Rande erwähnt. Unverzichtbar sind hier daher die Zeugnisse aus der römischen Zeit, von denen einige als einigermaßen repräsentativ für die Bildungstradition seit Sokrates angesehen werden dürfen und Einblicke in ihre diskursiven Verfahren geben. Eine dieser Quellen ist Plutarch; weitere wichtige Hinweise lassen sich bei Epiktet und Seneca sowie, mit Einschränkungen, bei Diogenes Laertius finden. Diese Quellenlage verlangt einige Behutsamkeit und erlaubt bestenfalls eine Annäherung an die philosophische Lebenspraxis der Antike. Ein verwandtes methodisches Problem besteht darin, dass sich das Thema häufig nur bearbeiten lässt, indem man das historische Bezugsfeld sehr weit fasst. Da die Beweislage vergleichsweise dünn ist, ist man immer wieder auf Musterkennungen angewiesen, die mit recht weit auseinanderliegenden Texten operieren. Hier ist ein maßvoller Geltungsanspruch und eine Zurückhaltung mit starken Einheitlichkeitsannahmen angezeigt. An der Rolle der askēsis wird dies sichtbar: Die Untersuchung der antiken ›Lebensform Philosophie‹ ist seit Hadot eng mit der Untersuchung der Übungsformen verbunden, die im römischen Denken besonders auffallen. In der Tat ist die askēsis, wie schon erörtert, 13 seit frühgriechischer Zeit in der Antike präsent. Nichtsdestotrotz könnte man zweifeln, ob Systeme der Übung wirklich so allgegenwärtig waren, wie Hadot es oft suggeriert. »Die Philosophie«, so schreibt dieser in Philosophie als Lebensform, »hat im Laufe ihrer Geschichte in der Antike ihr Wesen nicht ver13

Vgl. oben, Kap. I 4.

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Philosophie, Lebensform, Übung

ändert.« 14 Epiktet, Seneca und Marc Aurel werden so zu Modellfällen für die antike philosophische Praxis in ihrer Gesamtheit. Gerade solche Generalisierungen deuten indes darauf hin, dass man den Gedanken von der Philosophie als Lebensform und Übung besser als Forschungsperspektive versteht. Der Übungsgedanke hat mehr den Status eines Denkmodells, von dem her sich die antike philosophische Alltagspraxis erschließt. Er bietet eine Möglichkeit, den Kultivierungsaspekt auch dort zu beschreiben, wo es keine organisierte askēsis gibt, sondern nur ganz konventionelle Lehrpraktiken, die naturgemäß bestimmte Habitusformen hervorbringen. Die historische Frage, wie die Funktion der Übungen in den verschiedenen Epochen der antiken Philosophie selbst aufgefasst wurde, wäre unabhängig davon von Fall zu Fall gesondert zu behandeln. Hier spricht vieles dafür, dass sich eine eigenständige Übungspraxis erst langsam über die Jahrhunderte entwickelt hat, wie Foucault es beschreibt. 15 Insofern ist es heikel, historisch frühere Praktiken nach dem Muster von späteren zu deuten, und in vielen Fällen wird es angemessener sein, von einer gesteigerten Aufmerksamkeit für das Moment der Habitualisierung zu sprechen. Gleichwohl ist es sinnvoll, alltägliche philosophische Gewohnheiten nach dem Muster von methodisierten Verfahren zu deuten. Die Perspektive der Übung schärft, anders geHadot, Philosophie als Lebensform, 170. Die schwierige Quellenlage verlockt hier leicht zu übermäßiger Vereinheitlichung. So erschließt sich die alte Stoa nur durch spätere Berichte. Was die Übungspraxis anlangt, liegt es nahe, die früheren Praktiken ebenfalls nach den späteren Mustern der römischen Kaiserzeit zu interpretieren: vgl. Hadot, »Forms of Life and Forms of Discourse in Ancient Philosophy«, 488. Zu den methodischen Problemen in diesem Kontext vgl. auch z. B. Nussbaum, The Therapy of Desire, 6 f.; zu einem Versuch der Differenzierung Horn, Antike Lebenskunst, 18– 31. 15 Vgl. Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 102 f.: »Im klassischen griechischen Denken und jedenfalls in der von Sokrates ausgehenden Tradition spielt also die askēsis, verstanden als praktische Übung, die unerläßlich ist, damit sich das Individuum als moralisches Subjekt bildet, eine wichtige und nachdrückliche Rolle. Gleichwohl ist diese ›Asketik‹ nicht so organisiert und reflektiert, als wäre sie ein Korpus besonderer Praktiken, das eine bestimmte Kunst der Seele mit ihren Techniken, Verfahren und Rezepten bildete. Einerseits ist sie nicht unterschieden von der Praktik der Tugend selbst; sie ist deren vorwegnehmende Wiederholung. Andererseits bedient sie sich derselben Übungen, die auch den Staatsbürger formen; der Herr seiner selber und der anderen formiert sich in einem. Bald wird diese Asketik allmählich ihre Unabhängigkeit oder zumindest eine teilweise und relative Autonomie erlangen.« Erst die ersten zwei Jahrhunderte nach Christus waren nach Foucault die »Periode des goldenen Zeitalters der Selbstkultur« (Hermeneutik des Subjekts, 52). 14

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sagt, den Blick für das an einer philosophischen Praxis, was an ihr nicht Lehre, sondern Kultur ist. 16 Trotz der genannten Probleme ist also sichtbar, warum diese Perspektive fruchtbar ist. Indem die moderne Differenzierung von Philosophie und Alltag, von Wissenschaft und Privatleben suspendiert wird, tritt ein existentieller Grundzug hervor, durch den sich das antike Studium der Philosophie in auffallender Weise von späteren Formen unterscheidet. Die Entscheidung für eine philosophische Schule war nicht selten die Entscheidung für ein Leben mit Gleichgesinnten, in einer geschlossenen Gemeinschaft, nach einem festen Rhythmus und genauen Vorschriften für die gewöhnlichsten Verrichtungen. Dies ist bereits für die vorklassische Zeit belegbar, insbesondere für die Pythagoreer. Kennzeichnend ist es ebenso für die platonische Akademie, die Epikureer und die Stoa Welche Aspekte für den philosophischen Fortschritt für wichtig gehalten werden, lässt sich leicht bei Epiktet, Plutarch oder Seneca sehen, die Ratschläge für den Umgang mit Alkohol und Geld genauso bereithalten wie für Hygiene, körperliche Ertüchtigung, Kleidung, Zeitmanagement, Schlaf, Ehe, Ernährung, Gesundheit oder für die Bewältigung von Ärgernissen wie Menschenansammlungen oder Ruhestörung. Das Curriculum der antiken Schulen war darauf angelegt, eine bestimmte Lebensführung, die als sittliches Ideal gilt, konsequent umzusetzen und praktisch einzuüben. So war das Studium nicht nur eine kognitive Herausforderung, sondern verlangte die strenge Regelung des Alltags, eine Kontrolle des gesamten Verhaltens und sogar die Disziplinierung der Gedanken und Gefühle. In dieser Perspektive ist ein Philosophieren, das von den praktischen Lebensvollzügen und Handlungsgewohnheiten getrennt bleibt, ein leeres Spiel mit Worten. Es kommt, wie Plutarch es ausdrückt, für den Fortschritt in der Tugend alles darauf an, dass »die Reden nicht nur Reden« sind, sondern »Handlungen hervorbringen (praxeis poiein, Mor. 84b). Es sollte nicht passieren, so bringt Seneca denselben Gedanken zum Ausdruck, dass die Philosophen am Ende »gründlicher zu reden als zu leben wissen« (diligentius loqui scirent quam vivere, Luc. 88, Von Interesse ist also vor allem der besondere Reflexionsmodus hellenistischer Philosophie: Alles Philosophieren – auch das gegenwärtige – lässt sich als Lebensform auslegen, die Habitusformen pflegt. So ist auch zu verstehen, dass Hadot sich immer wieder auf die akademische Philosophie seiner Zeit bezieht und sie im Licht des Übungsgedankens betrachtet. Vgl. dazu auch Chase, »Observations on Pierre Hadot’s Conception of Philosophy as a Way of Life«.

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42). Einsichten der Philosophie werden nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern schlagen sich in einem gelebten Ethos nieder. Die antiken Philosophiepraktiken zielen auf eine Umbildung des Selbst, die sämtliche Persönlichkeitsschichten erreicht und sich in Affekten und Wahrnehmungsweisen sedimentiert. Sie sind, wie Hadot formuliert, »nicht nur das Werk des Denkens, sondern des gesamten seelischen Bereichs des Individuums«. 17 Gerade letzteres unterscheidet die antike Philosophie in besonders auffälliger Weise von der modernen Philosophie: Da sie sich nicht auf das Intellektuelle beschränkt, ist auch das Repertoire ihrer Methoden wesentlich umfassender. Neben kognitiven Verfahren im engeren Sinn sind Techniken der Habitualisierung, die dem Aufbau von praktischen Haltungen dienen, ein fester Teil der institutionalisierten Ausbildung. Diese reichen von der schon erwähnten Umstellung der täglichen Gewohnheiten, über Aufmerksamkeitsübungen, Imaginationspraktiken und Meditation bis hin zu Techniken der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung. Der Zähmung der Leidenschaften, der Besänftigung der Affekte und dem Umgang mit Begierden kommt dabei eine herausragende Bedeutung im philosophischen Alltag zu, am ausgeprägtesten in der Stoa. In diesem Zusammenhang macht sich auch immer wieder eine Nähe der philosophischen Übungen zu den gymnastischen Übungen des Leibes bemerkbar. Die philosophische Therapie bedient sich nicht nur zu Darstellungszwecken der Metaphorik der Gymnastik und Medizin, tatsächlich ist sie auf erstaunliche Weise mit der Sorge um den Körper verflochten. Das philosophische Leben umfasst geistige und körperliche Übungen. Zwischen beiden soll stets, so rät etwa Plutarch, die rechte Balance bestehen (Mor. 8c). Tatsächlich scheint der Alltag der Philosophieschulen nicht selten einer diätetisch-medizinischen Disziplin unterworfen gewesen zu sein, die mit genauen Tagesplänen, Waschvorschriften oder Ernährungsgeboten verbunden sein konnte. Foucault geht dieser engen Verzahnung der Sorge um die Seele mit der Sorge um den Körper, zwischen leiblicher Selbstbeherrschung und sittlicher Festigkeit in Der Gebrauch der Lüste eingehend nach. 18 Die Herrschaft des Logos über die Sinne, die für die innere Freiheit des PhiHadot, Philosophie als Lebensform, 14. Vgl. besonders die Ausführungen zur enkrateia sowie zur antiken Diätetik in Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 84–160. Für einen ausführlichen kritischen Abgleich zu diesen Analysen vgl. Detel, Foucault und die klassische Antike.

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losophen so wesentlich ist, kann in dieser Sicht nicht durch eine rein geistige Anstrengung errungen werden. Man braucht Verfahren, die auch das leibliche Dasein einer Person berühren. Angesichts dieses Szenarios stellt sich nun eine Frage, die für das übergeordnete Problem, wie die Diskurspraktiken in das ethische Programm der antiken Philosophie integriert sind, ganz entscheidend ist: In welchem Verhältnis stehen die konkrete Lebensform der antiken Philosophie und ihr Erkenntnisinteresse? Wie verhalten sich Übungspraxis und Wahrheitssuche zueinander? Ist die Arbeit an den Leidenschaften ein Teil der philosophischen Wahrheitssuche oder ein pädagogisches Anhängsel? Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass philosophische Rationalität im Kern eher auf einer Neutralisierung der Sinnlichkeit beruht als auf deren Transformation. Philosophische Übungen wären in diesem Fall ein Instrument der philosophischen Rationalität. Martha Nussbaum bringt diese Sichtweise auf eine explizite Form, wenn sie unmissverständlich den Akzent darauf legt, dass »philosophy – reasoning and argument – is what is required to diagnose and to modify the passions«. 19 Obwohl Nussbaum in ihrer aristotelischen Deutung den Vorrang des Praktischen und den therapeutischen Zweck der hellenistischen Philosophie betont, besteht sie darauf, dass diese Bildungspraxis nur deswegen als ›philosophisch‹ gelten darf, weil sie durch eine privilegierte Ratio kontrolliert wird. Dabei richtet sich diese Deutung ausdrücklich gegen diejenige Foucaults. Dieser gehe über den entscheidenden Umstand hinweg, dass das hellenistische Denken ein Versuch war, die Lebensgestaltung durch ein ›Gründegeben‹ zu realisieren: Foucault »fails to confront the fundamental commitment to reason that divides philosophical techniques du soi from other such techniques«. 20 Selbst wenn es angemessen sein mag, die Philosophie dieser Zeit als Lebensform zu beschreiben, so sei diese doch gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie der Disziplin eines philosophischen Logos untersteht. Dieser ist bei Nussbaum selbst nicht Teil der übrigen Lebensvollzüge. Das ethische Moment des Diskursiven, das in dieser Lesart kaum weiter konkret werden kann, geht ganz in dem Prinzip auf, dass die (subrationalen) Lebensvollzüge einer (rationalen) Kontrolle unterstehen. Die Nussbaum, The Therapy of Desire, 38. Nussbaum, The Therapy of Desire, 5 f.; vgl. auch ebd., 353. Dass Foucault zu wenig Wert auf »reason (logos)« lege, ist auch die Kritik von Gill, The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, 335. 19 20

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Lektion der hellenistischen Philosophie liegt demzufolge darin, dass sie ein Modell liefert, wie sich argumentativ gewonnene Einsichten im alltäglichen Leben wirksam machen lassen; aber die Rationalität der Argumentation berührt dies nicht. Für Nussbaum steht, anders gesagt, von vornherein fest, dass Theorie nicht Teil der Praxis sein kann, sondern nur auf Praxis angewendet wird. Von diesem Beispiel her lassen sich ähnliche Voraussetzungen auch in weniger einseitigen Deutungen der antiken Ethik sichtbar machen. So gewinnen die praktischen Übungen in dem Bild, das Christoph Horn zeichnet, einen wesentlich prominenteren Status als bei Nussbaum. Die askēsis ist unverzichtbar, wo ein Habitus umgebildet werden soll. Doch auch Horn zweifelt nicht daran, dass diese Praxis auf einer rationalen Grundlage stehen muss, die selbst nicht von der Art der Übung ist: »Ein argumentativ als richtig erwiesenes Lebensideal soll fest in der Person des Philosophen verankert werden; die rationale Einsicht soll zum persönlichen Habitus werden.« 21 Wiederum dominiert die Vorstellung einer vorab gegebenen Rationalität, die kein eigentlicher Bestandteil der askēsis ist – oder doch nur im Sinne einer stillen Meditation, die von jeder sinnlich-leiblichen Kultivierung streng getrennt bleibt. Wenn Horn diesbezüglich auf Diogenes von Sinope verweist, welcher ebenfalls »eine doppelte Art der Übung« zugrunde gelegt habe, »eine geistige und eine körperliche«, 22 so ist dabei unter der Hand eine rationale Einsicht vorausgesetzt, die aller Übung, sie sei geistig oder körperlich, vorhergeht, um ihr eine Grundlage zu liefern. Die askēsis ist ein pädagogisches Mittel, um die philosophische Erkenntnis handlungswirksam zu machen. Sie ist nicht Träger der philosophischen Rationalität. In den folgenden Abschnitten soll eine alternative Sichtweise durchgespielt werden: Die Wahrheitssuche und die Übungspraxis sind in der antiken Philosophie nicht zwei voneinander getrennte Bereiche, die sich zueinander verhalten wie Theorie (als vorpraktisches Überlegen) und Praxis (als Anwendung der Theorie). Die Suche nach der Wahrheit und das Üben fallen vielmehr in eins. Wie schon erwähnt, ist eine Deutung dieser Art insbesondere von Foucault vertreten worden. »Die askēsis«, so bemerkt dieser in seinen Vorlesungen zur antiken Übungspraxis, »ist in Wirklichkeit eine Wahrheitspraxis. Die askēsis ist nicht eine Weise, das Subjekt einem Gesetz zu 21 22

Horn, Antike Lebenskunst, 34. Horn, Antike Lebenskunst, 33; vgl. DL VI 70.

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unterwerfen; die askēsis stellt vielmehr eine Art und Weise dar, das Subjekt an die Wahrheit zu binden.« 23 Es geht nicht um ein objektives Wissen, das sodann auch zu einem Handeln befähigt, sondern gewissermaßen darum, den Bezug zur Wahrheit in einer Lebensweise zu realisieren. Man darf davon ausgehen, dass solche Thesen der Grund sind, warum sich eine Autorin wie Nussbaum in erster Linie polemisch auf Foucaults Interpretation bezieht. Tatsächlich aber könnte man in der Kongruenz von Wahrheitssuche und Übungspraxis eine Fortsetzung der sokratischen ›Einübung in die Wahrheit‹ sehen. »Philosophie«, so bringt Seneca dieses alte Verständnis zum Ausdruck, ist die »Bemühung um Tugend (studium virtutis)«, nicht ihr Besitz (Luc. 89, 4–8); dabei sind, wie es andernorts mit Verweis auf Sokrates heißt, »Wahrheit und Tugend dasselbe« (idem esse dicebat veritatem et virtutem, Luc. 71, 16). In dieser Perspektive kann die askēsis, nüchtern betrachtet, kein Instrument der Wahrheit sein. Sie ist das Ringen um Wahrheit und Sittlichkeit selbst. Dies wird umso deutlicher, wenn wir nun nach der Stellung der diskursiven Praxis in der Lebensform der Philosophie fragen. Gegen die pädagogische Interpretation der Übungspraxis spricht, dass die Idee einer ihr vorhergehenden Rationalität abstrakt bleibt. Doch die antiken Schulen, so könnte man sagen, kennen keine vom philosophischen Leben getrennten Argumentationsverfahren. Dieses Leben ist nicht nur diskursiv geregelt, es ist in sich diskursiv verfasst und zu einem erheblichen Teil ›diskursives Leben‹. Dies ist natürlich schon deswegen so, weil Philosophie stets wirkliche logoi verwenden und ihre Diskurse als konkrete Praxis organisieren muss. Für die antike Philosophie ist aber charakteristisch, dass sie ihre Redepraktiken als Lebenspraktiken versteht, die ihrerseits geübt werden wollen, denen eine ›ethopoietische‹ Wirksamkeit eigen ist und die daher in Orientierung am Guten zu gestalten sind. Die ›Therapie der Seele‹ geschieht nicht durch einen Logos, der über der konkreten Alltagspraxis steht und Prinzipien vernünftiger Lebensführung liefert. Als lebendige Praxis ist die philosophische Rede selbst eine Form der Lebensführung.

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Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 389.

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Trennung von Rede und Leben?

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Trennung von Rede und Leben?

Wer die Bedeutung des Diskursiven in der Übungspraxis bestimmen will, braucht sich nicht lange mit der Frage zu befassen, ob die antike philosophische Übungspraxis diskursive Formen beinhaltet. Es liegt auf der Hand, dass Redepraktiken für das philosophische Leben von grundlegender Bedeutung sind. Epikur bringt dies so zum Ausdruck, dass die Philosophie eine Unternehmung ist, die »durch Reden und Diskussionen (logois kai dialogismois) das glückliche Leben bringt« (Adv. Math. XI 169). Ebenso ist unstrittig, dass auch die askēsis zu ganz wesentlichen Teilen redend erfolgt: Die diskursiven Übungen haben offensichtlich herausragende Bedeutung. Für Hadot sind »Redenlernen« und »Lesenlernen« ebenso Leitmotive wie das »Sterbenlernen«, und Christoph Horn führt in einer typologischen Aufstellung der antiken Übungen fast ausschließlich diskursive Techniken auf, nämlich literarische (Schreib- und Leseübungen), dialogische (besonders Lehrgespräche) und monologische Übungen (Selbstgespräche, Rezitation von Lehrsätzen). 24 Das philosophische Leben war also ohne Zweifel ein Leben im Zeichen des ständigen Sprechens, Diskutierens, Fragens, Antwortens, Zuhörens, Schreibens und Lesens. Geübt wurden schriftliche genauso wie mündliche Formen. Der Gemeinplatz, dass das philosophische Leben ein rationales, vom Logos beherrschtes Leben ist, hat seine konkrete Bedeutung darin, dass es um eine diskursive Kultivierungspraxis kreist. Dass diese Seite philosophischer Diskurse so selten diskutiert wird, dürfte maßgeblich auf das Deutungsschema der Opposition von ›Rhetorik und Philosophie‹ zurückzuführen sein. Die pädagogische Auslegung der Übungspraxis geht mit einer rhetorischen Auslegung der diskursiven Übungen einher: Da ethisch wirksame Redepraktiken aus der Philosophie exkludiert und der formalen Redekunst zugeordnet werden, die eine bloße Vermittlungsaufgabe hat, muss es so aussehen, als seien die diskursiven Kultivierungspraktiken nur Anhängsel einer eigentlichen Wahrheitspraxis, die selbst keine konkrete Erscheinungsform im philosophischen Leben hat und eigentümlich unsichtbar bleibt. Die abstrahierende Deutung des Logos als ratio führt zu einer Trennung von Rede und Leben. Die schon skizzierte Position von Martha Nussbaum liefert ein Vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform, 23–47 und Horn, Antike Lebenskunst, bes. 34–39.

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Beispiel für diese Betrachtungsweise: Symptomatisch ist, dass Nussbaum den griechischen Ausdruck logos von Anfang an als ›argument‹ übersetzt: Der Effekt der Rede dürfe allein auf Gründen beruhen, die von der Wirkweise des ›rhetorischen‹ logos, für den Gorgias steht, strikt getrennt bleiben müssen. 25 Diese übliche Frontstellung zwischen Rhetorik und Philosophie stellt die Weichen dafür, dass die konkrete Diskurspraxis bei Nussbaum kaum vorkommt. Die Philosophie realisiere ihre ethischen Absichten durch eine eigene Form des ›therapeutischen Argumentierens‹. 26 Diese hat dann keine innere Verbindung zur askēsis mehr, welche bei Nussbaum ohnehin so gut wie keine Rolle spielt. Das Diskursive ist eine logische Gegebenheit, die das Leben gleichsam von außen ordnet und ihm letztlich dualistisch gegenübersteht. Man könnte sagen, dass Nussbaum das alte stoische Bild von der Logik als einer festen Mauer, die den »Garten der Philosophie« umgrenzt (Math. VII 17–19), 27 buchstäblich nimmt: Die logika gehört bei ihr nicht zu dem, was eigens kultiviert werden muss. Der Tendenz nach ist diese Perspektive auch für Hadots Analyse prägend. Zwar gibt dieser der ethosbildenden Funktion philosophischer logoi recht großen Raum, wenn er etwa sagt, dass die antiken Texte »weniger dazu bestimmt« gewesen seien, »Informationen über abstrakte Theorien zu vermitteln, als dazu, die Seelen der Schüler zu formen«. 28 Das Lesenlernen, Schreibenlernen und Sprechenlernen hat bei Hadot ohne Zweifel den Rang einer ethischen Arbeit an sich selbst. Doch gleichzeitig scheint ein formeller Rhetorikbegriff leitend zu bleiben, der die Rede zum Mittel der Wahrheitsvermittlung macht. Maßgeblich für Hadot ist, dass die Rhetorik »in der Antike nur ein Hilfsmittel unter anderen im Dienste von geistigen Übungen war, welche im eigentlichen Sinn philosophische Übungen waren«. 29 An anderer Stelle wird erklärt, dass die geistigen Exerzitien in der Zur Übersetzung von logos vgl. die Erläuterung in Nussbaum, The Therapy of Desire, 13, Anm. 1; zum vorausgesetzten Verständnis von Argumentation z. B. ebd., 8 f. oder 52 f. 26 Vgl. Nussbaum, The Therapy of Desire, 45–47, wo Nussbaum diese Argumentationsform auf aristotelischer Grundlage zu charakterisieren versucht. 27 Hier wird auch berichtet, dass Poseidonios dieses Bild der frühen Stoa später korrigiert habe, weil es der Untrennbarkeit der einzelnen Bereiche der Philosophie nicht angemessen Rechnung trage. 28 Hadot, Philosophie als Lebensform, 9. 29 Hadot, Philosophie als Lebensform, 49. 25

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Trennung von Rede und Leben?

europäischen Philosophie nie eine ›körperliche‹ Dimension hatten, sondern ausschließlich ›rationale‹, ›imaginative‹ und ›intuitive‹ Übungen waren. 30 Diese Voraussetzungen, in denen sich die traditionelle Einteilung von Philosophie und Rhetorik, von übersinnlicher Rationalität und wirksamer Rede deutlich bemerkbar macht, bringen es mit sich, dass die diskursive Übungspraxis bei Hadot wenig Tiefenschärfe erlangt. Obwohl er darauf insistiert, dass das antike Denken nicht Lehre, sondern Lebensform ist, bleiben die Redepraktiken in seiner Sicht doch auf die untergeordnete Aufgabe einer Verinnerlichung von Erkenntnis beschränkt. Wie der formale Rhetorikbegriff und die damit verbundene Trennung von Reden und Leben die Forschung zur hellenistischen Asketik prägt, lässt sich auch schon der Arbeit von Paul Rabbow entnehmen, auf die sich Hadot häufig bezieht – und dies obwohl Rabbow die konträre These vertritt, dass die philosophische Übungspraxis der Antike durch und durch rhetorischer Natur und letztlich gar auf Rhetorik gegründet sei. 31 Wenn Hadot Wert darauf legt, dass die Rhetorik ›nur ein Hilfsmittel unter anderen‹ war, so wendet er sich damit vermutlich gegen genau diese Deutung. Rabbow versucht, seine Sichtweise mit Blick auf Techniken der Steigerung und der Zerlegung, des Kontrasts und der Veranschaulichung plausibel zu machen, mit denen die geistigen Exerzitien operieren. 32 Der Befund, zu dem er auf diese Weise gelangt, hat seine Pointe darin, dass die meditatio in hohem Maße am Leitfaden von formalen Verfahren organisiert ist: »Die Rhetorisierung ist stärkster Ausdruck der Methodisierung der abendländischen Meditation.« 33 Rabbow bestreitet den ethischen Sinn der Übungen keineswegs; aber ihm zufolge soll die Transformation des Ethos gleichsam durch technische Mittel erreicht werden, die die Rhetorik der Philosophie liefert. So bleibt es bei der strikten Trennung zwischen den Disziplinen und bei den üblichen Hierarchien: Die Vgl. Hadot, »Forms of Life and Forms of Discourse in Ancient Philosophy«, 494: »Unlike Buddhist meditation practices of the Far East, Greco-Roman philosophical meditation is not linked to a corporeal attitude but is a purely rational, imaginative, or intuitive exercise […].« 31 In eine ähnliche Richtung geht Moser, z. B. in Buchgestützte Subjektivität, 203: »Die ethischen Selbstpraktiken sind ihrem Ursprung nach rhetorische Verfahrensweisen.« Für Moser bedeutet das allerdings dann wieder, dass diese Traditionslinie bei Isokrates beginnt. 32 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 81–87. 33 Rabbow, Seelenführung, 89. 30

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

rhetorisch gestützte Übung der Meditation verhilft dem Philosophen dabei, »einen Inhalt so in sich auf[zu]nehmen«, dass er »Leben«, dass er »ein Stück Seele wird«. 34 Die Philosophie gewinnt inhaltliche Einsichten; der Rhetorik kommt die Aufgabe zu, diese handlungswirksam zu machen. 35 Auch wenn die Vorzeichen bei Rabbow umgekehrt liegen und die Rhetorik als entscheidende Grundlage der Übungspraxis gilt, bleibt den diskursiven Übungen, wie schon bei Hadot, doch nur die Rolle des Hilfsmittels. In beiden Fällen ist gesetzt, dass jede ethisch wirksame Rede der formalen Rhetorik zugehören muss; und der Streit dreht sich dann allein um die Frage, welcher Rang diesem Hilfsmittel zukommt. Es ist also abermals der scharfe Schnitt zwischen Rhetorik und Philosophie, der den Kultivierungsaspekt der Praxis der Rede verstellt. Wo Diskurspraktiken stets nur ein Vehikel philosophischer Erkenntnis sind, kann ihre innere Ethizität gar nicht erst thematisch werden. Ist wirksame Diskursivität immer nur Mittel zum Zweck, bleiben Rede und Leben, Wahrheitssuche und Übungspraxis voneinander getrennt. 36 Dies macht einen großen Teil der Schwierigkeit der Aufgabe aus, die anhaltende Bedeutung der ethischen Redekultur in den philosophischen Schulen genauer zu fassen. Allzu leicht sieht es so aus, als müsse die Redepraxis der Philosophie ›mehr‹ sein als Lebensform, damit ihr Anspruch auf Rationalität nicht getrübt wird.

Rabbow, Seelenführung, 24. Rabbow belegt diesen Punkt eindrucksvoll, indem er einige antike Beschreibungen der Meditation zusammenträgt: Demzufolge ist diese »ein ›Verdauen‹ der überdachten Inhalte; ein ›Wiederkäuen‹, ›Zerkauen‹, ›Draufbeißen‹ ; ein ›Nicht nur gefärbt, sondern getränkt werden mit ihrer Farbe gleich der Wolle‹ ; ein ›Saugen wie die Biene‹ ; ein ›Schmecken‹ der Vorstellungen, ein ›Sehen, Hören, Fühlen, Riechen‹, ihren Geschmack ›Verkosten‹, von ›ihrem Duft sich durchdringen lassen‹«, ein »›ins Mark einsenken‹ ; ›zu einem Stück von sich machen‹« (Seelenführung, 23 f.; zu den Belegen vgl. den Nachtrag ebd., 325). In all diesen Beschreibungen gibt es zunächst einen zu verinnerlichenden Stoff, der in einem zweiten Schritt in die Seele eingearbeitet wird, um eine Verwandlung herbeizuführen. 36 Umgekehrt spielt die philosophische Übungspraxis auch keine Rolle in den Porträts, die von der hellenistischen Rhetorik gezeichnet werden. Das zeigt das umfangreiche Handbuch von Porter (Hrsg.), Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B.C. – A.D. 400. 34 35

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Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung

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Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung

Ein erster Schritt, dieses Denkschema außer Kraft zu setzen, besteht darin, sich vor Augen zu führen, dass die Separierung von Reden und Leben auch der hellenistischen und kaiserzeitlichen Philosophie noch fremd bleibt. Wenn Seneca schreibt »So wollen wir leben, so sprechen« (sic vivamus, sic loquamur, Luc. 107, 12), so dokumentiert dies, dass das Prinzip der Einheit von Reden und Handeln auch 400 Jahre nach Sokrates noch vertraut war. Im Hintergrund steht dabei die Idee, dass sich am Stil der Charakter verrät: »So sprechen die Menschen wie sie leben.« (Luc. 114, 1). Die Rede ist eine sprechend gewordene Lebensweise und als solche entfaltet sie ihre Wirkung: Reden heißt etwas vorleben. Wie schon in der alten Redekultur wäre eine formelle Auffassung des Logos vermutlich als Symptom der Unredlichkeit und des mangelnden Ernsts gewertet worden. Nadelstiche gegen das gekünstelte, auf Effekt bedachte Sprechen braucht man in den hellenistischen Schriften nicht lange zu suchen. 37 Die diskursive Asketik bleibt durch das Prinzip einer Einheit von Leben und Reden geprägt. Der Platz des Diskursiven in der Ordnung der Lebensform der Philosophie wird greifbar, wenn man betrachtet, wie das Diskursive in den philosophischen Alltag eingebettet ist und wie Redeweisen und Handlungsweisen zusammenspielen. Anders als es die moderne Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre erscheinen lässt, zwingt aus antiker Sicht zunächst gar nichts dazu, philosophische Diskurse von anderen Lebensvollzügen abzutrennen. Für hellenistische Bildungsunternehmungen ist es im Gegenteil charakteristisch, dass der Umgang mit logoi fest in das Tagesgeschäft des Weisheitsstrebens eingelassen ist. Wie die Philosophie eine Lebensform ist, so sind auch ihre Diskurse nicht vom Leben getrennt. Man sieht dies äußerlich daran, dass der logos im Umkreis der antiken Philosophie weniger in abstracto begegnet, sondern auffallend häufig in seinen besonderen Aktualisierungsformen, die in die Lebenswirklichkeit integriert werden wollen. Greifbar wird dies bei Kleanthes, der sich noch im hohen Alter täglich dem »Schreiben und Lesen« gewidmet haben will (DL VII 174), oder bei Epiktet, der dazu auffordert, seine Lehren Tag und Nacht »zur Hand« (procheiron) zu Im Falle Senecas ist dabei maßgeblich, dass eine oberflächliche Redekunst dem Bildungszweck zuwiderläuft: Geformt werden soll »der Charakter, nicht die Worte« und geschrieben wird »für die Seele, nicht für die Ohren« (Luc. 100, 2).

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

haben, sie zu »schreiben« (graphein), zu »lesen« (anagignōskein) und über sie zu »sprechen« (logous poieisthai, Diatr. III 24, 103). Dass die Philosophie den täglichen Vollzug diskursiver Praktiken verlangt, ist dabei überdeutlich. Sokrates’ Überzeugung, dass es das »größte Gut« (megiston agathon) sei, »jeden Tag (hekastēs hēmeras) über das Gutsein zu reden« (peri aretēs tous logous poieisthai), kann als Leitsatz dafür gelten (Apol. 38a). Der Sokratiker Menedemos soll einen Herrscher, der sich einmal »einen ganzen Tag« freihielt, »um den Philosophen zuzuhören«, zurechtgewiesen haben, man müsse »die Philosophen die ganze Zeit hören« (chrē panta kairon philosophōn akouein, DL II 130). Und Epiktet soll gesagt haben: »Um solches müssen sich die Philosophierenden kümmern (meletan), solches täglich schreiben (kath’ hēmeran graphein) und sich darin üben.« (gymnazeisthai, Diatr. I 1, 25) Dass die diskursiven Praktiken auf diese Weise neben andere Alltagstätigkeiten treten und gemeinsam mit ihnen die gewöhnliche Existenz konstituieren, illustriert auch der schon zitierte Satz des Epikur, man solle »zugleich lachen, philosophieren, das Haus verwalten (oikonomein), allen übrigen Gewohnheiten nachgehen und niemals aufhören, die Stimmen aus der richtigen Philosophie erklingen zu lassen« (phōnas aphientas, Vat. 41). Die Diskurse um das Wahre und Richtige sind kein unabhängiges strukturierendes Element der philosophischen Lebensvollzüge, sondern ein fester Bestandteil derselben. Wie sich noch zeigen wird, bedeutet dies auch, dass sie in einer geregelten Ökonomie zusammenspielen. In ihrer konkreten Form beanspruchen die Übungen des Zuhörens, Schreibens und der Lektüre, das epilegein, das Selbstgespräch oder das Gespräch mit Anderen nicht selten einen spezifischen Platz im empfindlichen Haushalt der philosophischen Bildungspraxis: Sie können mit anderen, nicht-diskursiven Praktiken zusammenwirken und auch untereinander in einem Wechselverhältnis stehen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer diskursiven Ökonomie sprechen. Explizit wird diese z. B. dort, wo geraten wird, zwischen Vollzügen wie Lesen und Schreiben oder Schweigen und Sprechen ein gesundes Gleichgewicht einzuhalten. Solche Empfehlungen lassen sich reichlich finden, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird. Die Verfahren der ethischen Selbsttransformation bauen auf Vorstellungen davon, wie die unterschiedlichen Konkretionsgestalten der Rede wirken und wie sie untereinander und mit anderen alltäglichen Verrichtungen zusammenwirken. Das Diskursive kann nicht aus der Ganzheit des philosophischen Lebens herausgelöst werden. 214 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung

Am Verhältnis zwischen den geistigen und den körperlichen Übungen sei dies kurz veranschaulicht. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Gymnastikmetaphern – etwa der Vergleich der philosophischen askēsis mit dem Training des Ringkämpfers 38 – für die antike Philosophie mehr als nur metaphorische Bedeutung haben. Zur Lebensform der Philosophie gehört auch die Übung des Körpers. Ein mögliches Prinzip dahinter bringt Musonius wie folgt zum Ausdruck: »Da der Mensch weder nur Seele (psychē) ist noch nur Körper (sōma), sondern etwas Zusammengesetztes aus diesen beiden, ist es nötig, dass sich der Übende um beides kümmert (epimeleisthai) […].« Dabei kommt der Seele zwar der Vorzug zu, doch muss »der Körper des Philosophen auf die Werke (erga) des Körpers gut vorbereitet (pareskeuasthai kalōs) sein, weil die Tugenden ihn oft als notwendiges Werkzeug (organō anankaiō) gebrauchen für die Handlungen des Lebens (tou biou praxeis).« (Mus. VI 4). Musonius hat dabei vor allem Abhärtungsübungen im Sinn, wie das Ertragen von Kälte, Hitze, Hunger und Durst oder das Schlafen auf harter Unterlage. Diese Übungen, so seine Überzeugung, härten nicht nur den Körper, sondern auch die Seele ab. Eine weniger rigorose Auffassung vertritt Seneca, der empfiehlt, die geistigen Übungen nicht wegen zu vieler körperlicher Übungen zu vernachlässigen: Ratsam seien kurze intensive Trainingseinheiten, die zuverlässig und schnell zur körperlichen Erschöpfung führen, so dass man sich nach kurzer Zeit wieder um den Geist (animus) kümmern kann, um ihn »bei Nacht und Tag zu üben« (noctibus et diebus exerce, Luc. 15, 4–5). Dass die geistigen Übungen wesentlich diskursive Form haben, wird deutlich, wenn Seneca vor dem entgegengesetzten Fehler warnt, der darin besteht, den Körper aufgrund von einseitiger geistiger Übung zu vernachlässigen. Man solle, so die Aufforderung, auch wiederum nicht »immer an Buch oder Schreibtafel sitzen« (semper imminere libro aut pugillaribus), sondern Pausen machen; ideal seien z. B. Spaziergänge, die es erlauben, dabei zu »lesen« (legere), »sich vorzusprechen« (dictare), zu »reden« (loqui) und zu »hören« (audire, Luc. 15, 6). Hier gehen leibliche Bewegung und Redepraxis bereits eine gewisse Verbindung ein. Noch weiter durchdringen sich das Seelische und das Sportliche bei Epiktet, der über eine geistige Übung, bei der es um die Kontrolle der Vorstellungen geht, sagt: »Und hast du dich daran gewöhnt, so zu üben (gymnazeisthai), so siehst du, wie 38

Vgl. z. B. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 394–397.

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

sich die Schultern entwickeln, wie die Sehnen (neura) und die Kräfte (tonoi).« (Diatr. II 18, 26). 39 Bei Plutarch schließlich findet sich sogar eine Passage, in der das Sprechen selbst als Leibesübung in Erscheinung tritt: Der »tägliche Gebrauch der Rede durch die Stimme« (kath’ hēmeran tou logou chreia dia phōnēs), so heißt es in den Moralia, ist ein »wunderbares Training« (thaumaston gymnasion, Mor. 130a): Die »Stimme (phōnē), welche Bewegung des Atems (pneumatos kinēsis) ist […], vermehrt die Wärme und verdünnt das Blut und reinigt alle Adern, öffnet alle Arterien, verhindert die Ansammlung und Verfestigung ausgeschiedener Flüssigkeiten am Grund der Gefäße zur Aufnahme und Verdauung der Speisen. Deshalb muss man sich bei der Übung vor allem zum ständigen Begleiter und Gesellen des Redens (legontas) machen, wenn aber jemand an körperlichem Unwohlsein oder Müdigkeit leidet, des Lesens und Redens.« (Mor. 130b f.)

Es könnte sein, dass man solche Bemerkungen unterschätzt, wenn man sie als kuriose Randnotizen liest. Die Selbstverständlichkeit, mit der Seneca den logos mit der Stimme und diese wiederum mit dem Körper verbindet, ist in der Stoa, für die man eine solche Denkfigur vielleicht nicht erwartet, vermutlich Gemeingut gewesen. Diogenes Laertius berichtet über die alten Stoiker, dass sie »in der Theorie der Dialektik (tēs dialektikēs theōrias)« in der Regel »vom Ort der Stimme« (phōnē) ausgegangen seien, wobei die Stimme als »Körper« gilt (sōma, DL VII 55). Darin macht sich ein ausgeprägtes Bewusstsein der Materialität sprachlicher Vollzüge bemerkbar. 40 Welche enorme Bedeutung die vernehmbare Stimme in der hellenistischen und römischen Redekultur gehabt haben muss, wird sich später noch öfter zeigen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Hören. 41 Die genannten Beispiele deuten nur an, wie geistige und körperliche Übung in der philosophischen Lebensform miteinander verschlungen sein konnten. Sie genügen hier aber als weiterer Hinweis, warum die Vorstellung von einer Rationalität, die gleichsam außerhalb der philosophischen Alltagswelt und ihrer täglichen Arbeit am Zum Verhältnis von körperlicher und geistiger Übung vgl. auch Diatr. III 12, 16 f. oder Luc. 80, 2–3. 40 Es verwundert angesichts dessen nicht, dass Zenon und Kleanthes auch Abhandlungen über das Hören und die Wirkung von Dichtung verfassten: vgl. DL VII 4 sowie bes. SVF I 468. 41 Vgl. Kap. VII 1–2. 39

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Diskursives Leben: Reden als alltägliche Übung

Logos steht, unangemessen ist. Als diskursives Geschehen hat die ›geistige Übung‹ eine körperliche Seite. Sie muss in das System der übrigen Lebenspraktiken integriert werden, und nur in Verbindung mit ihnen entfaltet sie ihre transformative Kraft. Reden und Leben sind auch in der hellenistischen Philosophiepraxis eng miteinander verzahnt. Weitere Zweifel an der Voraussetzung einer lebensformunabhängigen Wahrheit, welche erst nachträglich durch eine Diskurspraxis handlungswirksam gemacht wird, ergeben sich, wenn man sieht, dass das Reden auch in der hellenistischen Zeit selbst als Handeln gilt. Reden bringen eine sittliche Verwandlung nur zusammen mit den dazugehörigen Lebensweisen auf den Weg; nur im Verbund mit Handlungen haben sie belehrende Wirkung. Seneca macht dieses Prinzip mit Blick sowohl auf die Stoa als auch die Akademie geltend: »Kleanthes hätte Zenon nicht nachgeahmt (expressisset), wenn er ihn nur gehört hätte: er nahm an seinem Leben teil, sah seine Geheimnisse, beobachtete ihn, ob er nach seiner Regel (formula) lebte«. In derselben Weise hätten Platon und Aristoteles »mehr aus den Gewohnheiten als aus den Worten (plus ex moribus quam ex verbis) des Sokrates gezogen« (Luc. 6, 6). Die wesentliche Lektion bleibt am Ende der Lebenswandel des Philosophen, den man als Lehrer wählt. Das Reden ist hier einmal mehr Teil eines umfassenden Gesamtverhaltens, das sowohl das Ohr als auch das Auge anspricht. Dabei muss »das Sprechen mit dem Leben übereinstimmen« (concordet sermo cum vita), so dass »was du siehst und was du hörst, dasselbe ist« (Luc. 75, 4). Ein solcher Lehrer, bei dem Reden und Handeln harmonieren, »lehrt durch sein Leben« (vita docent, Luc. 48, 8). Das Reden ist nur eine unter vielen Vollzugsformen dieses Lebens. Ein aus dem Leben herausgelöster, weltloser Logos hat keine erzieherische Wirkung. Derselbe Gedanke scheint für Epiktets Empfehlungen leitend zu sein, dass sich ein Philosoph nicht durch sein Reden, sondern durch sein Handeln auszeichnen sollte. Sittlichkeit begegnet zunächst als Verhaltensform: Nenn dich niemals einen Philosophen und rede (lalei) mit den Leuten (idiōtais) möglichst nicht über die philosophischen Lehren (peri tōn theōrēmatōn), sondern handle nach ihnen (alla poiei to apo tōn theōrēmatōn). So sag auch beim Gastmahl nicht, wie man essen soll, sondern iss, wie man soll. […] Und ist bei den Leuten einmal von einer philosophischen Lehre die Rede, so schweige (siōpa), so gut es geht. (Ench. 46)

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

Darin klingt an, dass die Überzeugungskraft philosophischer Lehren wesentlich von der Überzeugungskraft der Lebensweise abhängig gemacht wird, die mit ihr einhergeht. Sie steht und fällt damit, welche ›Wahrheit‹ eine Redepraxis bereits insofern in sich trägt, als sie eine Lebenspraxis ist. Das sittliche Gutsein resultiert daraus, dass Lebensund Redeweisen als vorbildlich anerkannt und nachgeahmt werden. Die Aneignung einer Redeweise – wie die Aneignung der logoi eines Lehrers durch den Schüler – liefert nicht nur ein Wissen davon, wie zu leben ist. Die Einübung in den Diskurs ist bereits der Eintritt in eine Lebensweise.

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Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen

Der philosophische Logos, so das Ergebnis dieses Kapitels, ist von der übrigen Kultivierungspraxis der antiken Philosophie keineswegs abgetrennt. Er liefert nicht die Prinzipien für eine Arbeit am Ethos, sondern ist selbst Arbeit am Ethos. So ist das Diskursive auch bereits Manifestation des Habitus, in den es sich einzuüben gilt: Es weist selbst eine ethische Form auf. Bei Platon wird darauf hingewiesen, dass man Dialektik praktiziert, um selbst in allem »dialektischer« zu werden (Polit. 285d, 287a). Dabei geht es nicht um intellektuelle Gewandtheit, sondern um eine Form der Tugend. Spuren in diese Richtung finden sich auch in den Lehren der Stoiker, die die dialektikē als ein Gutsein (aretē) klassifizieren (DL VII 46) und für die dieses Gutsein wesentlich das »logische Gutsein« (aretē logikē) mit umfasst (SVF II 35). Diese immanent ethische Konstitution der Diskurspraxis bringt es mit sich, dass die Wahrheitspraxis ohne die Übungsprozesse und ihren materiellen Logos nicht bestehen kann. Diskurse sind vielmehr selbst eine Form der Habitualisierung. An einer interessanten Stelle bringt Epiktet etwas davon wie folgt zum Ausdruck: Jede Haltung und Fähigkeit (hexis kai dynamis) wird durch die ihr zugehörigen Handlungen (ergai) erhalten und gefördert, das Herumgehen (peripatētikē) durch das Herumgehen, das Laufen durch das Laufen. Willst du ein guter Leser (anagnōstikos) sein, so lies, wenn ein Schreiber (graphikos), dann schreib. Wenn du aber dreißig Tage lang nicht liest, sondern etwas anderes tust, wirst du sehen, was geschieht. […] Überhaupt, wenn du etwas tun willst, mach es zur Gewohnheit (hektikon). Wenn du etwas nicht tun willst, dann tue es nicht, sondern gewöhne dir an (ethison), stattdessen lieber etwas anderes zu tun. (Diatr. II 18, 1–4)

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Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen

Wenn Philosophie wesentlich diskursives Leben ist, dann ist es eine ständige Übung im Lesen und Schreiben, Sprechen und Hören. Im Laufe dieser Übung verändert sich allmählich die Person: Die Arbeit am Logos ist als solche wirksam, sie ist ein Prozess der ständigen Besserung, nicht ein Weg zur plötzlichen Erleuchtung. Sie ist eine ethische Praxis, die die anderen Handlungszusammenhänge durchdringt, nicht aber ein neutrales Verfahren, das das Leben unter rationale Kontrolle stellt. Wie schon des Öfteren deutlich wurde, setzt diese Verflochtenheit von Leben und Reden voraus, dass dem Diskursiven eine gewisse Materialität eigen ist. Tatsächlich war das Wissen um die Körperlichkeit sprachlicher Vollzüge im Hellenismus stark ausgeprägt: Die diskursive askēsis hat, wie gesehen, eine Nähe zu praktischen und letztlich gar zu gymnastischen Übungen. Will man sagen, dass die therapeutische Wirkung der Rede durch ›Argumente‹ erzielt wird, so wären diese nicht von den durch Übungen erzeugten Erfahrungen unabhängig. Systematisch ist dabei von Interesse, dass die antike Philosophie ein ausgeprägtes Bewusstsein der Medialität der Rede hatte. Sie macht auffallend häufig klare Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ebenso wie zwischen Rezeption und Produktion oder Monolog und Dialog. In der Übungspraxis des Hellenismus erfährt jede dieser Formen eigens Berücksichtigung und spielt eigentümliche Rollen. Das diskursive Leben hat konkrete Vollzugsformen. Für die Erkundung dieser Formen, die uns im folgenden Kapitel beschäftigen wird, sind medienwissenschaftliche Studien hilfreich, die darauf hinweisen, wie schriftliche und mündliche sowie nichtsprachliche Praktiken in der Antike miteinander verzahnt waren. Auszugehen ist dabei inzwischen von differenzierten Deutungen, die weder einseitig ein Primat des Mündlichen propagieren noch Havelocks These folgen, dass die Entwicklung des griechischen Denkens allein am Leitfaden der Logik der Schriftlichkeit erklärt werden muss. 42 Tatsächlich scheint die antike Philosophie mehr durch eine eigentümliche Stellung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit geprägt zu sein, die mit uneindeutiger Medialität einhergeht. Rosalind Thomas spitzt dies in Literacy and Orality in Ancient Greece dahingehend zu, dass nicht eine dieser Formen, sondern das Ineinandergreifen der Formen selbst die grundlegende mediale Verfasstheit der antiken Diskurspraxis ausmacht. Diese ist demzufolge durch eine 42

Vgl. die Beiträge in Johnson/Parker (Hrsg.), Ancient Literacies.

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

hybride Medialität charakterisiert. »Neither literacy nor orality are constants, and their roles can be extraordinarily diverse […].« 43 Wer die Funktion der Schrift etwa auf die Aufzeichnung von Informationen einschränkt, geht über eine Pluralität von Verwendungsweisen hinweg, die Schrift in der Antike haben konnte: Sie konnte ornamentalen Zwecken dienen, magische oder religiöse Funktion haben oder auf Intensivierung (z. B. von Verfluchungen) zielen. Ähnlich konnten öffentliche Inschriften vermutlich dazu dienen, Gesetze oder Dekrete nicht einfach nur bekannt zu machen, sondern überhaupt in Geltung zu setzen. 44 Als Element mündlicher Praktiken hatte Geschriebenes keineswegs textuelle Eigenständigkeit. Nach Thomas bedeutet das aber weniger, dass das Mündliche hier den Vorrang genießt, wie mitunter gesagt wird, 45 sondern eher, dass Vorrangthesen überhaupt problematisch werden: Da es stets Zwischenformen gibt, lassen sich die Eigenarten der Medien kaum unabhängig voneinander bestimmen. Auszugehen ist stattdessen von einer mündlich-schriftlichen Mischverfassung. Aus dieser Sicht ist es äußerst heikel, moderne Vorstellungen von Medialität in die Antike hineinzuprojizieren. Was das Schriftliche hier ist, versteht nur, wer die Spuren zu lesen gelernt hat, die das Mündliche in ihm hinterlässt. Damit ist ein Kontrapunkt gesetzt zur im Phaidros so prominent formulierten Schriftkritik: Buchstaben, so der Verdacht bei Platon, werden »Vergessenheit (lēthē) in die Seelen der Lernenden hineinbringen, durch Vernachlässigung (ameletēsia) des Gedächtnisses« (Phdr. 275a). Fatal ist die Schrift (graphē) Sokrates zufolge vor allem dadurch, dass ein geschriebener Text den Dialog unterminiert, der den ganzen Bildungsprozess trägt: Anders als ein wirklicher Lehrer bleibt er in gewisser Hinsicht leblos und stumm, da er nichts erklären oder antworten kann. 46 So steht die Schrift bei Platon paradigmatisch für einen logos, der sich von der redenden Person abgetrennt hat. Das Thomas, Literacy and Orality in Ancient Greece, 14. Vgl. Thomas, Literacy and Orality in Ancient Greece, 74–88. Thomas liefert Belege, die von der archaischen bis zur klassischen Zeit reichen, beansprucht aber Geltung darüber hinaus. 45 Einen Vorrang des Gesprochenen in der Übungspraxis behauptet Rabbow, Seelenführung, 213 f.; vgl. dagegen Hadot, Philosophie als Lebensform, 178 oder Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 139 f. 46 Vgl. z. B. Phdr. 275d: »Es könnte dir scheinen, dass sie [sc. die geschriebenen logoi] verständig sprächen, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, enthalten sie (sēmainei) doch nur immer dasselbe.« 43 44

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Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen

Idealbild hingegen ist, wie Phaidros feststellt, »die lebendige und beseelte (empsychos) Rede des Wissenden« (Phdr. 276a). Der Hinweis auf die enge Einbindung der Schriftpraxis in die Tradition der Mündlichkeit macht nun darauf aufmerksam, dass es sich hier um eine Zuspitzung mit einem engen Anwendungsbereich handelt. 47 Für eine vollständige Abkopplung schriftlicher Äußerungen von ihren Urhebern haben in der antiken Bildungspraxis kaum die Voraussetzungen bestanden. Auch Geschriebenes dürfte Teil eines lebendigen Kommunikationszusammenhangs gewesen sein. Für das Studium der überlieferten Texte, von denen das Studium der antiken Philosophie nolens volens ausgehen muss, ist dies von größter methodischer Bedeutung: Ist die philosophische Diskurspraxis eine Lebensform, so sind auch ihre schriftlichen Zeugnisse in die Praktiken einzuordnen, aus denen sie hervorgehen. Diese Einsicht ist nicht neu; und doch ist es eine noch weitgehend ungelöste Aufgabe, eine entsprechende Textpragmatik für die antike Literatur zu entwickeln. Auch das macht das doxographische Vorgehen für die Philosophie scheinbar so alternativlos. Nichtsdestotrotz ist ein zumindest rudimentäres Bild davon nötig, welche Funktion die überlieferten Texte in den jeweiligen außerschriftlichen Praktiken hatten. Es gilt, über die Feststellung hinauszukommen, dass antike Texte häufig paränetische Form haben und mit rhetorischen Stilmitteln arbeiten, um die Prägnanz und Memorierbarkeit der jeweiligen Einsichten zu steigern. 48 Wo der Textgebrauch eng in mündliche und außersprachliche Praktiken eingebunden ist, ist es denkbar, dass die Wirkweise der Schrift auf etwas anderes gründet als auf die Logik sachlicher Einsichten; und es ist äußerst wahrscheinlich, dass ihre Überzeugungskraft in wesentlich höherem Maße durch außerschriftliche Gegebenheiten gestützt wird als es in einer akademischen Praxis der Fall ist, deren institutionelle Dynamik primär durch schriftliche Prozesse bestimmt wird. In dieser Sache bietet sich die Tatsache als Richtungsanzeige an, dass antike Texte auffallend häufig Merkmale der adressierten Rede aufweisen. Eine große Zahl der überlieferten Schriften ist durch ein

Szlezák legt in seiner Analyse dar, dass Platons Schriftkritik nur komparativ zu verstehen sei: Der wahrhafte Philosoph philosophiert primär mündlich, weil Geschriebenes stets der ›Hilfe‹ (boētheia) bedarf: vgl., ders., Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 7–23. 48 Vgl. Horn, Antike Lebenskunst, 46–49. 47

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Diskursive Kultur in der Lebensform der Philosophie

Sprechen in der ersten und zweiten Person sowie durch Elemente der Anrede geprägt; daran wird ihre Verankerung in ein Umfeld mündlicher Praktiken gut greifbar. 49 Auf der Hand liegt dies bei den persönlich adressierten Lehrbriefen, wie man sie von Epikur kennt, oder bei Epiktet, dessen Encheiridion durchgängig in der zweiten Person geschrieben ist. Doch der Modus der Aufforderung oder des Appells ist für antike Texte oft auch dort ein prägendes Element, wo sie keinen expliziten Gebrauch von der zweiten Person machen. Dies lässt sich von den frühen, fragmentarisch überlieferten Sentenzen der Vorsokratik, über die geschriebenen Reden der frühgriechischen und klassischen Zeit, die dialogischen Texte Platons, bis hin zu den Lehrsätzen und verschriftlichten Lehrgesprächen der hellenistischen Zeit verfolgen. 50 Wie sich ein Leser von Diatriben laufend persönlich angesprochen und in Frage-Antwort-Szenen hineingezogen sieht, so lassen sich auch Dialoge, wie es Hadot vorschlägt, als ›Übungsmodelle‹ 51 auslegen, die u. a. dazu dienen, auf die Begegnung mit konkreten Anderen vorzubereiten. Sollte es richtig sein, dass diese Textformen auf eine mündlich-schriftliche Pragmatik hindeuten, die merklich von der uns vertrauten Diskurspraxis abweicht, so würde man den Sinn des antiken Schrifttums verfehlen, wenn man solchen Eigenarten bloße didaktische Funktion zuspricht. Sie wären keine bloßen Vermittlungsformen einer eigentlichen Lehre, die hinter ihnen liegt und eine neutrale Beobachterperspektive verlangt. Vielmehr wäre die Häufung von appellativen Elementen in den textlichen Spuren antiken Denkens ein Zeichen dafür, dass Adressierung und persönliche Anrede konstitutiv sind für das, was Philosophie hier ausmacht. Vor diesem Hintergrund soll das Bild der diskursiven Kultur der antiken Ethik im folgenden Kapitel am Leitfaden ihrer medialen Verfasstheit geschärft werden. Was es bedeutet, philosophische Diskurse als ethische Praxis zu begreifen, tritt konkreter vor Augen, wenn man sie als Bündel von Vollzugsformen beschreibt, die geübt werden wollen und denen unabhängig von den Wahrheiten der jeweiligen Lehren bereits versittlichende Wirkung zugetraut wird. Als Leitfaden Für eine Analyse dieser Dialogizität bei Epiktet und Marc Aurel vgl. van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels I, 188–206. Betont wird hier, dass die Adressierung häufig den Sinn einer paränetischen Ermahnung hat. 50 Zur Vielfalt der schriftlichen Formen in der antiken Philosophie vgl. etwa NiehuesPröbsting, Die antike Philosophie, 38–94. 51 Hadot, Philosophie als Lebensform, 26. 49

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Hybride Medialität: Die Frage nach den Vollzugsformen

dienen dabei die Modi des Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens. Der Alltag der Philosophenschulen scheint maßgeblich durch den bewussten Einsatz von mündlichen und schriftlichen Verfahren geprägt zu sein, die auf spezifische Weise zusammenwirken und teilweise mit nichtsprachlichen Übungspraktiken verbunden sind. Als ›Lebensform‹ ist Philosophie in hohem Maße ›diskursive Lebensform‹. Diese sei nun konkreter vor Augen gestellt, indem ihre medialen Formen vom Hören bis zum dialogischen Sprechen gesondert betrachtet werden. In jedem Fall ist darauf zu achten, wie die besonderen Vollzugsweisen immanent ethische Übungen sind, die aus sich heraus auf Habitusformen hinwirken.

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VII Vollzugsformen diskursiven Lebens: Philosophie als mündlich-schriftliche Bildungspraxis

Philosophische Übungspraktiken zielen auf die Formung des persönlichen Habitus, auf eine Arbeit an Gewohnheiten und Wahrnehmungsweisen, die das je situative Handeln leiten. Wo Bildung zur Verwandlung von Personen führen soll, müssen Verhaltensweisen eingeübt und muss ein Ethos im unmittelbaren Weltbezug verankert werden. In eher rationalistisch orientierten Darstellungen ist das Subrationale dabei ausschließlich das Objekt der Veränderung. Die ethische Therapie wird nach dem Modell einer medizinischen Technik gedeutet, die das Körperliche bearbeitet. Nach diesem Schema wird auch die Funktion von diskursiven Verfahren erklärt: Sie sollen eine Ratio liefern, die ein vernünftiges Leben anzuleiten vermag. Nicht vorgesehen ist, dass schon kraft der Diskurspraxis selbst Lebensweisen ausgebildet und generiert werden. Dies ist indes die Perspektive, die nun entfaltet werden soll: Der konkret vollzogene Logos ist für die philosophische Lebensführung grundlegend, denn die philosophischen Redepraktiken haben eine eigenständige Kultivierungsfunktion. Sie liefern nicht nur die Leitlinien für eine ethische Praxis. Sie sind selbst eine ethische Praxis. Vorausgesetzt ist dabei, dass der philosophische Logos kein körperloses Verfahren ist. Eine genuin ethische oder therapeutische Wirkung kann die Rede nur entfalten, wenn ihr neben ihrer logischen Funktion eine Materialität zukommt und sie in enger Wechselwirkung mit den konkreten Vorgängen der nichtsprachlichen Welt steht. Eine ethische Transformation kommt nicht einfach dadurch zustande, dass Worte auf die Sinne wirken. Um das gelebte Ethos handlungswirksam umformen zu können, muss der Logos selbst eine ästhetische Konstitution haben. Diese wird greifbar, wenn man fragt, wie die Redepraxis in ihrer konkreten Bestimmtheit aussieht: In Erscheinung tritt dann ein Komplex von besonderen Vollzugsformen, die einer je eigenen inneren Logik folgen. Nicht der Logos als solcher ist das Medium der Arbeit am Ethos, sondern der Logos in seinen innerweltlichen Gestalten. 224 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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Spezifischer spielt sich die Transformation des Ethos durch den Logos in den mündlichen und schriftlichen Formen des Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens ab. »Zuhören, verstehen, in rechter Weise zuhören, in rechter Weise lesen und schreiben und auch in rechter Weise sprechen: All das wird als Technik der wahren Rede der ständige Träger und unablässige Begleiter der asketischen Praxis sein.« 1 In diesem Kapitel werden diese Formen vom Hören bis hin zur dialogischen Rede nacheinander behandelt. Das Ziel dabei ist es, etwas von dem Regelsystem, das sie gemeinsam bilden – ihre diskursive Ökonomie –, sichtbar zu machen. Um die Analyse zu strukturieren, wird davon ausgegangen, dass die einzelnen medialen Formen gleichzeitig den Verlauf eines Bildungsgangs vorzeichnen, so dass mit ihrer sukzessiven Behandlung auch eine Art Bildungsgeschichte skizziert ist. Diese Voraussetzung dient nicht nur Darstellungszwecken. Sie hat ihr fundamentum in re darin, dass das Zuhören als erste, elementare Grundvoraussetzung philosophischer Bildung gilt, während der Dialog deren anspruchsvollste Form repräsentiert, die Fortgeschrittenen vorbehalten ist. 2 Zu Anfang eines jeden philosophischen Werdegangs dürften die Rollen klar verteilt gewesen sein: Es ist das Verhalten des Lehrers, sein Leben und Reden, das das von den Schülern anzueignende Paradigma liefert. Im Laufe des Studiums aber, so ist anzunehmen, erlangt ein Schüler allmählich die Fähigkeit, von sich her auf die gewünschte Weise zu reden und zu handeln. Das Sittlichkeitsideal wird in ihm verankert und neu verlebendigt. Am Ende des Bildungsgangs ist der Schüler schließlich ein vollwertiger Teilnehmer des philosophischen Lebens. Für die Rekonstruktion der mündlich-schriftlichen Bildungspraxis der antiken Ethik, deren innere Komplexität in den folgenden Abschnitten nur angedeutet werden kann, können dies Eckpunkte sein. Der Akzent liegt dabei auf elementaren Übungen, wie sie mutmaßlich in die philosophische Grundausbildung gehören. Wir betrachten zunächst die fundamentale Stellung der Fähigkeit des Zuhörens (1) und die Praxis des Zuhörens (2) sowie im Anschluss

Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 407. Übungen des Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens gehören auch zum Bestand der Schulrhetorik; für einen Eindruck vgl. Ueding/Steinbrink, Abriß der Rhetorik, 329–333. Umso mehr muss sich die folgende Darstellung auf die Frage konzentrieren, wie solche Übungen funktionale Elemente von Wahrheitspraktiken sein können und nicht erst auf sie folgen.

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daran die Übungen des Lesens (3), des Schreibens (4), des Sprechens mit sich selbst (5) und des Sprechens mit Anderen (6).

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Sich etwas sagen lassen können: Die Fähigkeit des Zuhörens

Es könnte überraschen, dass das Hören hier eigens als Vollzugsform diskursiver Praxis aufgegriffen wird. Eine Kultur der Rede dreht sich natürlicherweise um den Redner, während die jeweiligen Hörer im Hintergrund stehen. Hinzu kommt der bekannte Umstand, dass unsere Denktradition seit ihren Anfängen in Griechenland auf die Augen fixiert zu sein scheint: Bis heute werden Erkenntnisvorgänge nach dem Modell des Sehens konzipiert, Vernunft ist eine Sache der ›Einsicht‹. Man darf sicher sagen, dass die Weichen für diesen Vorrang des Sehens in der griechischen Antike gestellt werden. Dass Gesehenem aus ihrer Sicht größere Glaubwürdigkeit zukommt als Gehörtem, hatte sich etwa im Kontext des Themas ›Worte und Taten‹ angedeutet. 3 Die Augen sind, so Heraklits Motto, verglichen mit den Ohren »die genaueren Zeugen« (akribesteroi martyres, DK 22B 101a). Das Hören steht also im Schatten sowohl des Redens als auch des Sehens. Dennoch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die griechische Philosophie tatsächlich größte Hochachtung vor dem Hören hatte, genauer: vor dem Hören als einem sozialen Verhalten gegenüber Sprechenden, dem Zuhören. Dies wird oft an Kleinigkeiten offenbar, die man leicht übersieht. Ein Beispiel dafür findet man in Platons Dialog Protagoras: In der Anfangsszene wird Sokrates von einem namenlosen Freund darum gebeten, von seinen Gesprächen mit dem berühmten Sophisten zu erzählen. Sokrates hatte vorher schon erzählt, er habe bei seinem Besuch bei Protagoras vieles »geredet und vieles gehört« (polla kai eipōn kai akousas, Prot. 310a); und nun soll er genau berichten, was er geredet und gehört hat. Dass es sich bei dieser Form der Genauigkeit, ein Gesprächsgeschehen in ein redendes und ein hörendes zu unterscheiden, nicht um eine Zufälligkeit handelt, wird deutlich, wenn Sokrates im Anschluss seine Bereitschaft erklärt, von der Begegnung zu berichten: Er wolle das gern tun, so gibt er zu verstehen. Doch er fängt nicht an, ohne sich von seinem 3

Vgl. Kap. II 4.

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Gegenüber bestätigen zu lassen, dass auch er seinen Teil beitragen will: »Und ich wäre dir dankbar, wenn du mir zuhörst.« Sein Freund gibt ihm sodann zu verstehen, dass er in der Tat gewillt ist zuzuhören. Sokrates stellt schließlich fest, dass beide Beteiligten ihre jeweiligen Beiträge leisten wollen; und erst dann beginnt er seinen Bericht (Prot. 310a). 4 Was bei flüchtigem Hinsehen wie eine Einverständniserklärung des Sokrates aussieht, dass er berichten wird, was er mit Protagoras besprochen hat, ist bei genauerem Hinsehen die doppelte Verabredung, dass Sokrates erstens erzählen wird, was er mit Protagoras geredet und von ihm gehört hat, und dass sein Freund diesem Bericht zweitens auch zuhören will. An solchen Details verrät sich ein ausgeprägter Sinn dafür, dass in jeder Diskurspraxis nicht nur gesprochen, sondern gleichzeitig zugehört werden muss, wenn sie gelingen soll. In der Sokratik wird dies nicht zuletzt mit der bereits erörterten Übung der Homologie in Verbindung stehen, welche daran gewöhnen soll, Allgemeingültiges gelten zu lassen, auch wo dafür innere Widerstände überwunden werden müssen: Wer lieber widerlegt wird, als selbst zu widerlegen, muss vorher gelernt haben, sich etwas sagen zu lassen; und dies ist gleichzeitig, wie sich zeigt, der Kern des Zuhörenkönnens. Dabei könnte man Sokrates seinerseits in eine Traditionslinie einordnen, die bis zur riskanten Widerrede der politischen Antilogien zurückreicht: Ein Gründegeben ist gar nichts, wenn es niemanden gibt, der es über sich bringt, Reden nachzuvollziehen, die etwas von einem verlangen. Die natürliche Reaktion auf kritische Ermahnungen besteht darin, die Ohren zu verschließen. Um Belehrungen als solche zu akzeptieren, bedarf es größter Selbstdisziplin und eines ausgeprägten Willens zur eigenen Infragestellung und Besserung. Das Bewusstsein dieser Schwierigkeit ist von großer Bedeutung für das griechische Geistesleben. Eine Konsequenz davon ist die fundamentale Stellung des Hörens in der diskursiven Ökonomie der philosophischen Schulen. Das Zuhörenkönnen gilt hier als Grundfähigkeit, ohne die philosophische Bildung gar nicht erst anfangen kann, und als ein Können, das man vernachlässigen oder perfektionieren kann. So wird erklärlich, warum antike Texte Spurenelemente einer regelrechten Kultur des Zuhörens aufweisen, welche in den philosoNach Abschluss von Sokrates’ Erzählung kehrt das Motiv wieder. Der letzte Satz des gesamten Dialogs lautet: »Nachdem wir dies gesagt und gehört hatten (eipontes kai akousantes), gingen wir.« (Prot. 362a) Für ein ähnliches Beispiel vgl. Symp. 173b.

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phischen Schulen verankert ist. Für einen erfolgreichen Bildungsgang braucht es eine tribē tou akouein, wie Epiktet es ausdrückt (Diatr. II, 23). Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür ist Plutarchs Schrift Über das Hören (peri tou akouein). Darin wird das Zuhören als Diskurspraxis sui generis profiliert, die für die anderen Diskurspraktiken die Basis bildet. Plutarch will in seiner Abhandlung den Aufweis führen, dass das »richtige Hören« (kalōs akouein) der »Anfang« (archē) des »richtigen Lebens« (kalōs biōnai) sei (Mor. 48d). Dass er dazu an das alte Sprichwort erinnert, dass der Mensch »zwei Ohren und eine Zunge« habe, weil er »weniger reden (legein) als hören (akouein)« soll (Mor. 39b), 5 ist ein Anzeichen dafür, dass diese Grundstellung des Zuhörens einige Tradition hat. Auch wenn man sich hüten muss, Plutarchs Beschreibungen allzu sehr zu verallgemeinern, fällt eine Eigentümlichkeit besonders auf: Das Zuhören ist keine primär kognitive Fähigkeit, es macht sich nicht nur an der Auffassungsgabe des Schülers fest. Das Hörenkönnen gilt vielmehr von Anfang an als ethische Disposition, als Merkmal eines für Tugendwissen und sittliche Veredelung empfänglichen Charakters. Die fundamentale Stellung des Zuhörenkönnens erklärt sich zunächst so, dass jemand, der nicht hören kann, gar nicht erst in eine diskursive Bildungspraxis eintreten kann. Die Empfänglichkeit für logoi ist die erste Quelle und die wichtigste Grundlage für den Erwerb von Weisheit; es ist deren archē oder Prinzip, weil es überhaupt erst die Ansprechbarkeit konstituiert, die philosophische Unterweisung ermöglicht. Ein wichtiger Erfahrungshintergrund für diese Anschauung dürfte die Kindeserziehung gewesen sein: Ein Kind muss zuallererst ›hören lernen‹, vorher hat die eigentliche Erziehung keinen Ansatzpunkt. (Das klassische Problem der Erziehung tritt nicht auf, wenn Kinder nicht sehen können, sondern wenn Kinder nicht hören können.) Dieses Muster lässt sich für Bildungsprozesse generalisieren und gilt dann auch für die philosophische Bildung: Hier hängt ebenfalls alles davon ab, ob jemand das Mindestmaß an Zuhörfähigkeit mitbringt, das eine ethische Verwandlung überhaupt ermöglicht. Dies scheint im Spiel zu sein, wenn vielversprechende Schüler bei Platon »lernfreudig« (philomathēs) und »hörfreudig« (philēkoos) sind (Pol. 535d) oder wenn Isokrates seinem Demonikus die Empfehlung an die Hand gibt, er solle seine »Hörliebe für die logoi« (tōn

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Diogenes Laertius zufolge ist dies ein Ausspruch des Stoikers Zenon: vgl. DL VII 23.

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logōn philēkoia) entwickeln (Or. I 18). 6 Diese philēkoia ist das Merkmal eines bildsamen Charakters. Sie ist die Empfänglichkeit, mit der Philosophie anfängt und die im Bildungsprozess weiter verfeinert wird. Am Anfang eines Bildungsgangs steht damit immer die Frage, ob eine grundlegende Bedingung für den Erwerb von Weisheit erfüllt ist: die Fähigkeit, logoi aufzunehmen. Das Schreckbild des Geschwätzigen, das in griechisch-römischen Texten immer wieder begegnet, kann diesen Gedanken illustrieren. Theophrast definiert die Geschwätzigkeit (lalia) als »Unmäßigkeit im Reden« (akrasia tou logou, Char. 7.1). Plutarch nennt sie »selbst gewählte Taubheit« (Mor. 502c). Der Geschwätzige kann nicht nur deswegen nicht zuhören, weil er redet, während Andere reden. Weil er alles, was er hört, gleich weitererzählen will, ist er vor allem unfähig, eine rezeptive Haltung einzunehmen. Sein Hören folgt nicht der Absicht, das Gehörte in seinen Geist aufzunehmen, sondern er hört nur zu, um das Gehörte bei nächster Gelegenheit weiterzuerzählen und es so gleichsam wieder loszuwerden. Seit Zenon findet man den Spruch, dass beim Geschwätzigen das Ohr nicht mit der Seele, sondern direkt mit der Zunge verbunden ist (DL VII 21; Mor. 502d). Was immer das Ohr hört, schwatzt die Zunge gleich wieder heraus, ohne dass das Gehörte irgendeine Spur im Geist hinterlassen kann. Das übermäßige Redenwollen ist das untrügliche Zeichen eines unterentwickelten Zuhörenkönnens. Solche Denkfiguren unterstreichen, dass das Zuhörenkönnen in der griechischen Bildungstradition eine charakterliche Qualität ist. Die Spuren der Zuhörkultur in den Quellen zeugen immer wieder davon, dass es um eine bestimmte Haltung geht. Wenn Plutarch das richtige Zuhören, wie oben erwähnt, zum ›Anfang des richtigen Lebens‹ erklärt, dann nicht zuletzt deswegen, weil dieses Können darin besteht, den Worten einer anderen Person zu folgen, während man die eigene Person zurücknimmt. Das heißt, die Herausforderung liegt nicht in der Aufnahme möglicherweise schwieriger Sachzusammenhänge. Sie liegt in der Zumutung einer fremden Rede, die einen Anspruch auf sittliche Autorität erhebt und eine Veränderung der Le-

Vgl. auch Platon, Euth. 304c, wo Kriton von sich selbst sagt, er sei »hörfreudig« (philēkoos) und lerne gern. – Schon eine Empfehlung des Kleoboulos aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. lautet, »hörfreudig (philēkoos) zu sein und nicht geschwätzig (polylalos)« (DK10 3α [4]). Bei Thukydides wird die »Hörlust« (akoēs hēdonē) von antidemokratischer Seite durch Kleon kritisiert (Thu. III 38).

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bensweise verlangt. Es passt ins Bild, wenn Epiktet sagt, der »Anfang der Philosophie« (archē philosophias) liege, wenn man die Sache »auf rechte Weise und vom Eingang her« (kata thyran) angeht, in der »Wahrnehmung (synaisthēsis) der eigenen Schwäche und Unfähigkeit bezüglich des Notwendigen« (Diatr. II 11, 1). Dieses Urteil fügt sich leicht in die Idee einer Kultur des Zuhörens: Wer sich nicht etwas sagen lassen kann – wer von den eigenen Mängeln nichts hören will –, braucht mit Philosophie gar nicht erst anzufangen. Wer den Wert des Widerlegtwerdens nicht zu schätzen vermag, ist für die Weisheit verloren. In einem sittlichen Erkenntnisprozess kann Wahrheit recht schmerzhaft sein; und es gehört daher schon etwas dazu, sie sich überhaupt nur anzuhören. Allein deswegen kann die Wahrheitspraxis von der Übungspraxis nicht getrennt sein. In der antiken Bildungspraxis klingt dabei mit, dass Zuhörenkönnen eine Form der Folgsamkeit ist: Wo die Rede stets an die redende Person gebunden bleibt, ist das Zuhören auch ein ›Hören auf‹ jemanden; akouein bedeutet nicht zuletzt ›gehorchen‹. Als Fähigkeit, sich auf einen Logos einzulassen, der das Paradigma einer ›wertvolleren‹ Lebensweise setzt, beinhaltet das Zuhörenkönnen die elementare Bereitschaft, ein Vorbild zu akzeptieren und eine Autorität anzuerkennen. 7 Philosophische Bildung beginnt hier mit dem Willen eines Schülers, die Worte eines Lehrers, der etwas vorlebt, gelten zu lassen. Da ein Ethos in griechischer Sicht stets ein sichtbarer Habitus ist, gehört zu dieser ethischen Deutung der Zuhörfähigkeit auch der Glaube, dass sich die philosophische Ansprechbarkeit am äußeren Verhalten einer Person ablesen lässt. Dies lässt sich etwa dem Bericht des Aulus Gellius über die Aufnahmeprüfungen an der Schule des Pythagoras entnehmen, welche mit einer eingehenden Betrachtung von Gesichtsausdruck und körperlicher Erscheinung des Kandidaten begonnen haben sollen (Noct. att. I 9.1–3). Diese Praxis des physiognomein scheint noch Epiktet vertraut zu sein, der einen Bewerber einmal mit der Erklärung abweist, er hätte sich als jemand »zeigen« (deiknymi) sollen, der sich auf die »Fähigkeit zu hören« (empeiria bzw. tribē tou akouein) versteht. Das Urteil bezieht sich dabei deut-

Dass es traditionell als Vorzug galt, auf Höhergestellte hören zu können, belegt schon die Hesiod-Stelle, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik zitiert: Erg. 292–296; vgl. NE 1095b. Das Motiv begegnet auch bei Sophokles, Ai. 1069–72. Der Stoiker Zenon soll das Gehorchen sogar höher geschätzt haben als das eigene Erkennen: vgl. DL VII 26.

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lich auf die Gesamterscheinung des Betreffenden. 8 Es geht um eine persönliche Qualität, die sich im lebendigen Gesamtverhalten manifestiert, »in Bewegung und Ruhe« (en kynēsei kai schesei), wie Musonius es vom anständigen Charakter sagt, zu dem er auch die Kontrolle der Zunge zählt (Mus. VIII 5). So könnte man das Zuhörenkönnen als eine beobachtbare Lernbereitschaft beschreiben, als der im körperlichen Habitus bereits angelegte Wille, dem Logos zu folgen und, anders gesagt, zu gehorchen. Seneca beschreibt dieses Verhältnis zu philosophischen Unterweisungen so: »Seid leise, schweigt (tacete, favete) und überlasst euch der Behandlung (praebete vos curationi).« (Luc. 48, 10) Wer Philosophie studiert, verkörpert idealerweise das diametrale Gegenbild zum Geschwätzigen. Das Zuhörenkönnen, so darf man resümieren, ist in der antiken Bildungstradition eine Grundvoraussetzung, ohne die ein philosophischer Bildungsgang nicht auf den Weg gebracht werden kann. Nicht ein ursprünglich erkenntnisfähiges Subjekt oder ein Gründegeben steht am Anfang aller Weisheit, sondern die Offenheit für paradigmatische logoi und die Fähigkeit, sich etwas sagen zu lassen. Wo Denkprozesse als konkrete Diskurspraktiken gedacht werden, macht diese Ansprechbarkeit die Einsichtsfähigkeit aus, die ihrer abstrakten Bestimmung nach ›Vernunft‹ genannt wird. Doch wie wurde diese Hörfähigkeit, wo sie grundsätzlich vorhanden war, nun weiter kultiviert? Wenn das Zuhören nicht als etwas verstanden wird, das automatisch geschieht, wenn es denn geschieht, so ist es eine Praxis, die man richtig oder falsch angehen kann und um die man sich folglich kümmern muss. Es ist eine regelrechte Schulung des Gehörs nötig: eine philosophische Gehörbildung.

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Philosophische Gehörbildung: Einübung ins Zuhören

In seiner Schrift über das Zuhören weist Plutarch darauf hin, dass man auf keinen Fall meinen darf, das Ohr bringe »Nutzen« (ōphelia), wie auch immer man es »gebraucht« (chrēstai, Mor. 38d). Man kann das Ohr richtig oder falsch gebrauchen und muss es folglich erst geVgl. den Abschnitt »An einen, den er nicht für würdig hielt« (Diatr. II 24), aus dem vorhin schon zitiert wurde. Belege für solche Aufnahmeprüfungen findet man auch im Bericht über Kleanthes bei Diogenes Laertius (DL VII 173) sowie bei Plutarch (Mor. 39b–d).

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brauchen lernen. Es spricht vieles dafür, dass Plutarch damit ein Motiv aufgreift, das in der philosophischen Lehrpraxis der Antike schon lange kursierte. 9 Die Indizien, dass die Fähigkeit des Zuhörens bewusst gepflegt wurde, reichen bis in die vorsokratische Zeit; am bekanntesten dafür ist die Schule des Pythagoras. Wie lernt man aber, das Ohr ›richtig zu gebrauchen‹? Wenn die Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen, der Dreh- und Angelpunkt der Hörasketik war, dann wird sich diese nicht als reine Konzentrationsübung abgespielt haben. Im Zentrum des Interesses steht mehr die soziale Beziehung zum Sprecher und die Haltung, die man zu der Person einnimmt, der man zuhört. In dieser Hinsicht besteht eine der ersten Lektionen des philosophischen Hörens darin, sich damit abzufinden, dass die Sache keineswegs immer angenehm ist. Wer nur kommt, »um seine Ohren«, wie Seneca schreibt, »an Rede oder Stimme oder Theaterstücken zu erfreuen« (Luc. 108, 6), wird kaum Lernfortschritte machen. Ausführlich wird bei Epiktet beschrieben, dass philosophische Unterweisungen, gerade für Anfänger, keine schöne Sache sind: Wie der Unterricht in der Musik »äußerst unerfreulich« (aterpestaton) erscheint, so ist auch die tägliche »Arbeit (ergon) des Philosophen« ein sehr zähes Geschäft (Diatr. II 14, 6–9). Das liegt weniger an der Trockenheit des Stoffs, sondern in erster Linie daran, was sich ein Schüler dort anhören muss. Das Prüfen und Geprüftwerden (basaniein, exelenchesthai, Diatr. II 14, 16 f.) geht an die Substanz. So besteht immer die Gefahr, dass sich der philosophische Anfänger persönlich angegriffen fühlt und entnervt aufgibt. 10 Obwohl aufgrund der Quellenlage kaum zu ermitteln ist, welche Ausprägung die Zuhörkultur in der Lebensform der Philosophie jeweils genau annahm, scheint es plausibel, dass die erste Übung darin bestanden haben muss, die unmittelbaren Reaktionen, die das GeFür die Stoa ist das leicht belegbar: vgl. z. B. Epiktet, Diatr. II 23, 10 f.: Es ist nicht das »Hörvermögen« (akoustikē dynamis), an dem sich entscheidet, ob Menschen »neugierig« (periergoi) oder »interessiert« (peuthēnes) oder aber auch »unbewegt« (akinētoi) sind, wenn sie einen Logos hören, sondern »das Vermögen der Entscheidung« (hē prohairetikē dynamis). Das Gehör hat dienende Funktion und will richtig verwendet werden. 10 Vgl. Diatr. II 14, 22: »Wenn du jemandem sagst: ›Dein Verlangen (orexis) brennt, deine Ausflüchte sind unwürdig, deine Absichten (epibolai) sind ungereimt, deine Begehren (hormai) stehen nicht im Einklang (asymphōnoi) mit der Natur (physis), deine Annahmen (hypolepseis) sind planlos und falsch‹, dann läuft er sofort weg und sagt: ›Er hat mich beleidigt‹.« 9

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hörte auslöst, unter Kontrolle zu bringen. Das bedeutet, dass die philosophische Gehörbildung, als Arbeit an der lebendigen Haltung, zu Anfang auf die Domestizierung der Affekte gezielt haben muss. Dies gilt umso mehr, als das Gehör, wie Plutarch es beschreibt, nicht nur eine rationale, einsichtsfähige Seite hat, sondern gerade auch eine Prädisposition für Ablenkung, sinnliche Zerstreuung und emotionale Ergriffenheit. Man sieht nicht unmittelbar, dass das Gehör eigentlich »mehr ein ›logos-bezogener‹« (logikōtera) Sinn ist, der zur Einsicht befähigt, und weniger »ein ›leidenschaftlicher‹ (pathētikōtera)« Sinn, der das Gemüt für Erregung und Verwirrung öffnet (Mor. 38a). 11 Die lernfähige, vernünftige Seite muss durch Schulung der Hörfähigkeit erst eigens aktiviert, die leidenschaftliche Seite gleichzeitig in die richtigen Bahnen gelenkt werden. 12 Diese Doppelnatur des Hörens ist es auch, die die schon erwähnte tribē tou akouein bei Epiktet nötig macht: Der Erwerb von moralischer Vollkommenheit führt notwendig über den Gebrauch von Reden, die immer mit einer bestimmten äußeren Form in Erscheinung treten. Epiktet nennt hier nicht nur die sprachliche Form, die lexis, sondern ebenso die eindrucksvolle Wirkung von logischen Schlussfolgerungen (syllogismoi). Da solche Mittel immer auch ästhetischen Eindruck machen, besteht beim Hören die Herausforderung, dass man sich vom eigentlichen Zweck (prokeimenon) nicht ablenken lässt: Es nützt nichts, wenn man »so reden kann wie Demosthenes«, aber »trotzdem kein Glück hat«, oder »Schlussfolgerungen auflösen kann wie Chrysipp«, aber doch »unglücklich« (athlios) bleibt (Diatr. II 23, 44 f.). Die Schwierigkeit besteht darin, das herauszuhören, was für das eigene Selbst nützlich und für die persönliche Verfassung wertvoll ist. Sofern an der Eintrittspforte zum philosophischen Diskurs nicht das legein, sondern das akouein steht, ist daher zunächst ein Umgang mit einem sehr zweischneidigen Sinn zu finden. Man kann darin die Janusköpfigkeit des logos wiedererkennen, wie sie seit sophistischer Zeit gut bekannt ist. Dabei wird auch das richtige Hören mit einer einfachen Unterscheidung von Form und Inhalt nicht auskommen: Diesen Aspekt betont auch Foucaults Behandlung des Themas in Hermeneutik des Subjekts, 408–413. 12 Dies scheint gerade im Fall der menschlichen Stimme nicht ganz einfach zu sein, wie eine Bemerkung Senecas in Luc. 56, 4 unterstreicht: »Mehr scheint mir eine Stimme (vox) abzulenken (avocare) als ein Lärmen (crepitus): denn jene lenkt den Geist ab (animum abducit), dieses tut nur in den Ohren weh (aures implet et verberat).« 11

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Vollzugsformen diskursiven Lebens

Da die Schwierigkeit beim akouein darin liegt, sich unangenehme Mahnungen zu Herzen zu nehmen, setzt die Differenzierung von wahren und falschen logoi ebenfalls einige Selbstüberwindung voraus. Die Absonderung des Zuträglichen vom Schädlichen, von der in den Quellen immer wieder die Rede ist, verlangt gut geschulte Sinne sowie einige Klarheit über sich selbst. Im Idealfall, so soll Musonius gesagt haben, werden Zuhörer eines philosophischen Vortrags »erschaudern«, »sich still schämen«, »bereuen«, »sich freuen und wundern«, »vielfältige Gesichtsausdrücke« (varios vultus) annehmen und »verschiedenste Gefühle« (dispariles sensus) durchlaufen; in so einem Fall folgen auf den Vortrag dann »nicht Worte (verba), sondern Schweigen (silentium)« (Frgt. 49). Zu dieser Einstellung muss der angehende Philosoph aber erst noch finden: Du musst dich immer fragen, so rät Plutarch, »ob du eher nur auf die Wörter achtest als auf die Sache oder mehr auf das Schwierige und Gekonnte reagierst als auf das Brauchbare (chrēsimon) und Gehaltvolle (sarkinon) und Nützliche« (ōphelimon); dafür sei es wesentlich, »sich selbst im Blick zu behalten« (paraphylatte seauton), damit einem »nichts entgeht«, was »zur Besserung des Charakters (pros epanorthōsin ēthous) oder zur Besänftigung der Leidenschaften« dienen könnte (Mor. 79b f.). 13 Für das gute Zuhören ist es also nötig, das Gehörte mit der eigenen persönlichen Verfassung abzugleichen und seine spontanen Gefühlsreaktionen auf Distanz zu halten. Die Transformation der Leidenschaften muss damit einen festen Platz im Training der Zuhörfähigkeit gehabt haben. Dieses Training könnte man geradezu als ein Paradigma der sinnlichen Arbeit auffassen, als die sich ethische Bildung notwendig vollzieht. Da der logos zunächst im Klanglichen liegt und seine Wirkung nur als Stimme (phōnē) entfalten kann, besteht die erste Lektion darin, aus dem Gehörten das für die eigene Person wirklich Wertvolle herauszufiltern. Darin liegt, wie bei Plutarch deutlich wird, der Kern des richtigen Zuhörens: Die plausibilisierende Kraft der Rede (peithō) kann sich nur entfalten, wenn sie richtig aufgenommen wird, wenn sie also auf ein ›richtiges Hören‹ (orthōs Deswegen ist das Studium von Dichtung eine Vorstufe der Philosophie, wie aus Mor. 15f-16a hervorgeht: »Daher sollen die angehenden Philosophen nicht vor den Dichtungen fliehen, sondern sich durch Poesie auf Philosophie vorbereiten (prophilosophēteon), indem sie sich gewöhnen, im Angenehmen das Nützliche zu suchen (en tō terponzi to chrēsimon zētein) und zu lieben (agapan); andernfalls aber dagegen zu kämpfen und es unerträglich zu finden. Denn das ist der Anfang der Bildung (archē paideuseōs).«

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Philosophische Gehörbildung: Einübung ins Zuhören

akouein) trifft, wie gleich zu Anfang von peri tou akouein deutlich wird (Mor. 37c). Es ist nicht die Rede allein, an der sich entscheidet, ob sie überzeugend ist. Es entscheidet sich ebenso daran, ob jemand mit dem Gehörten umzugehen vermag. Wie könnte die Einübung in das Zuhören nun konkret ausgesehen haben? Das Grundprinzip der philosophischen Gehörbildung dürfte recht einfach gewesen sein: Man lernt das Zuhören, indem man zuhört. Die pythagoreische Schule ist das deutlichste Beispiel dafür: Bei Pythagoras, der als ein Urheber der ethischen Musiklehre gelten darf, von der schon die Rede war, 14 hatten Neulinge zunächst kein Rederecht und galten als bloße ›Hörer‹ (akoustikoi). Nach dem Bericht des Aulus Gellius sollten sie so »das Schwerste von allem« lernen, nämlich »ruhig zu bleiben und zuzuhören« (tacere audireque), und sich ein Stillsein (silentium) zu eigen machen, das auf Griechisch echemythia geheißen habe, also die Kunst, ›Worte für sich zu behalten‹ (Noct. att. I 9.5). 15 Schüler mussten das Zuhören lernen, indem sie zunächst lange nichts anderes übten als zuzuhören, was freilich vor allem bedeutet, dass sie im philosophischen Unterricht nicht reden – und vermutlich auch nicht schreiben – durften. 16 Dass es sich dabei keineswegs um eine Kleinigkeit handelt, wird daran deutlich, wie lange die Schulung des Gehörs durch stilles Zuhören bei Pythagoras dauerte: Die für das Zuhörstudium vorgesehene Zeit, welche für jeden Anfänger nach einem kleinen Charaktertest (bei dem angeblich u. a. geprüft wurde, ob der Kandidat an den richtigen Stellen lacht) individuell festgelegt wurde, betrug den Berichten zufolge zwischen zwei und fünf Jahren. 17 Man darf also davon ausVgl. Kap. IV 2. Vgl. die Hinweise bei Iamblichos, wo man auch das Verb echemythein findet, etwa Vit. Pyth. VI 32, XVI 68 oder XX 94. Eine extreme Form nimmt die Kontrolle der Zunge im Fall der Timycha an, die sich die Zunge abbeißt, um auch unter der Folter nichts von den Geheimnissen (tōn echemythoumenōn) der pythagoreischen Lehre zu verraten: Vit. Pyth. XXXI 193 f. Nach Plutarch, Mor. 505d, soll es Zenon gewesen sein. 16 Gellius liefert einen Hinweis, dass die akoustikoi auch nicht schreiben durften, wenn er berichtet, dass es den Schülern des Pythagoras erst nach Erwerb der echemythia erlaubt war, ihre Gedanken und Fragen zu äußern »und aufzuschreiben, was sie gehört hatten« (quaeque audissent scribere, Noct. att., I 9, 5 f.). Noch Seneca ist skeptisch gegenüber Schülern mit Schreibtafeln, weil sie ihm zu kommen scheinen, »nicht um Sachen, sondern um Worte aufzufassen« (Luc. 108, 6). 17 Dieses Bild ergibt sich jedenfalls, wenn man die Berichte des Aulus Gellius (Noct. att. I 9, 1–4) und des Iamblichos (Vit. Pyth. XVII 71 f.) kombiniert. 14 15

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gehen, dass durchschnittlich begabte Schüler bei Pythagoras drei bis vier Jahre akoustikoi waren und kein Wort sagen durften. Erst wer diese Phase hinter sich gebracht hatte, wurde zu einem fortgeschrittenen Studenten, zum mathēmatikos, erklärt und durfte nun Gehörtes kommentieren, Fragen stellen und schriftliche Aufzeichnungen machen. Wie verlässlich solche Berichte sind, ist nicht leicht zu sagen. Evident ist aber der Einfluss des pythagoreischen Modells noch in der hellenistischen Zeit. Dies gilt insbesondere für die Fähigkeit des Schweigens, die als Basis allen Zuhörenkönnens galt und in den Philosophenschulen der Antike sorgfältig gepflegt wurde. In der pythagoreischen Schule dürfte dies mit strengster Disziplin verbunden gewesen sein. Wenn es bei Gellius heißt, das Ruhigbleiben und Zuhören sei ›das Schwerste von allem‹, so ist dies wörtlich zu nehmen: Der Hinweis auf die echemythia, auf das ›Beisichbehalten von Worten‹, deutet an, dass das Bildungsziel vor allem in der Fähigkeit lag, auch dann nicht zu sprechen, wenn ein Redebedürfnis besteht. Bei Pythagoras spielt hier eine Rolle, dass man niemanden in Geheimlehren einweihen sollte, der Geheimnisse nicht für sich behalten kann. Allgemein gesprochen ist die echemythia die Fähigkeit, auch dann nicht zu sprechen, wenn etwas nicht verstanden wurde und eine Frage auf den Nägeln brennt. Das diskursive Ideal, das sich darin abzeichnet, ist eine bestimmte Geduld oder Zurückhaltung, die Fähigkeit, ein Nichtverstehen aushalten zu können und nicht sofort zum Ausdruck zu bringen. Für Pythogaros scheint diese ›Beherrschung der Zunge‹ (glōttēs kratein) – ein Motiv, das in der vorplatonischen Literatur in vielen Varianten zu finden ist – die höchste Form der Selbstbeherrschung gewesen zu sein (Vit. Pyth. XVII 72). Die Zunge, so könnte man den Gedanken erklären, ist von allen Körperteilen am schwersten im Zaum zu halten, weil sie am leichtesten in Betrieb gesetzt werden kann. Während man sich bei den meisten Tätigkeiten anstrengen muss, um sie auszuüben, muss man sich beim Reden häufig anstrengen, um es sein zu lassen. Die vollendete Selbstkontrolle zeigt sich folglich in der ›Beherrschung der Zunge‹. 18 Diese Fähigkeit ist 18 Zum Motiv des glōttēs kratein vgl. schon z. B. Aischylos, Choēphoroi, 581 f. oder die verwandte Ausdrucksweise ›mit dem Reden maßhalten‹ (sōphronein eirēmenon) in Ag. 1620. Bei Euripides gilt das Schweigenkönnen als Tugend (Tro. 654) und das Nichtschweigenkönnen als Untugend (Orestes, 902 ff.). Das Beispiel des Orestes in Aischylos’ Orestie belegt, dass der Verlust der Fähigkeit zu schweigen als Verlust von Selbstkontrolle gedeutet werden konnte: Als Orestes, der seine Mutter Klytaim-

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Philosophische Gehörbildung: Einübung ins Zuhören

auch für Plutarch ganz entscheidend: »Zur rechten Zeit zu schweigen (eukairos sigē) ist nämlich weise und besser als jede Rede.« (pantos logou kreitton, Mor. 10e) 19 Es gibt vereinzelte Hinweise, dass das bewusste Stillbleiben nicht nur für Anfänger der Philosophie zum Tagesprogramm gehörte. So wird von Xenokrates berichtet, er habe gewöhnlich eine Stunde des Tages für das Schweigen reserviert (DL IV 11). Das Schweigenkönnen tritt hier nicht mehr nur als Vorbedingung von Weisheit, sondern als Kennzeichen höchster philosophischer Bildung in Erscheinung. Weiter illustrieren kann dies eine Anekdote über den Stoiker Zenon: Während einer feuchtfröhlichen Abendgesellschaft mit königlichen Gesandten soll dieser einmal beharrlich geschwiegen haben. Als man ihn zum Abschied fragte, was man denn nun dem König zu Hause über ihn, den berühmten Philosophen, erzählen soll, gab Zenon ihnen mit auf den Weg, sie sollen berichten, »dass es in Athen einen alten Mann gibt, der es schafft, beim Trinken zu schweigen« (siōpan dynamenos, SVF I 284). Die Naivität der Besucher liegt darin, dass sie meinen, die Weisheit müsse eine Sache kluger Reden sein, und die grundlegende philosophische Tugend des Schweigenkönnens nicht als solche erkennen. Das Thema das Schweigens untermauert, dass das Zuhörenkönnen, als Haltung der Offenheit gegenüber Reden, die als bittere Medizin wirken sollen, eine wesentlich charakterliche Herausforderung ist: Wie schon bei den akoustikoi, so dürfte auch beim fortgeschrittenen Schweigenkönnen die Unterdrückung eigener Redebedürfnisse und die dafür nötige Zurücknahme der eigenen Person generell die entscheidende Schwierigkeit darstellen. Man könnte sich sogar vorstellen, dass es gerade dem voll ausgebildeten Philosophen, der es bereits zu einigem Ansehen als Lehrer gebracht hat, besonders schwer fallen wird, seine Zunge im Zaum zu halten. Der bereits annestra ermordet hat, dem Wahnsinn nahe ist, kann er es kaum noch lassen, von seiner Bluttat zu sprechen. Der Chor muss ihn eigens durch die Erinnerung »Nimm das Unheil nicht auf deine Zunge!« von dem Frevel abhalten (Choēphoroi, 1045). Dass Orestes später wieder einigermaßen zur Besinnung kommt, drückt sich dadurch aus, dass er wieder weiß, »wann zu reden recht ist und wann zu schweigen« (Eum. 277 f.). Er hat seine Selbstkontrolle zurückgewonnen. Vgl. dazu Gödde, Euphēmia, 133. 19 Überhaupt begegnet im Stoizismus häufig die Empfehlung, eher wenig zu sagen. So sagt z. B. Epiktet: »Schweige meistens und rede (laleisthō) nur das Notwendige und das mit wenigen Worten.« (Ench. 33) Seneca erklärt in Luc. 38, 2: »Wenig ist es, was man sagt, aber wenn es die Seele gut aufgenommen hat, gewinnt es an Kraft und erhebt sich (convalescunt et exsurgunt).«

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gesprochene Fall des Gorgias, der im gleichnamigen platonischen Dialog ab einem bestimmten Punkt fast durchgängig schweigt, könnte ein Beispiel dafür sein, wie sich philosophische Ansprechbarkeit gerade darin zeigt, dass jemand lange Zeit nicht spricht. Obwohl dies einer Figur wie Gorgias, der zu Anfang des Dialogs als hervorragender Redner (Gorg. 449a) eingeführt wird, besonders schwer gefallen sein muss, verhält dieser sich während großer Teile des Dialogs völlig still. Man könnte darin eine erstaunliche Achtungsbezeugung Platons sehen: Wenn der berühmte Rhetor sich nur noch vereinzelt zu Wort meldet, um die sokratische Sache zu unterstützen, 20 so wird ihm damit philosophische Qualität attestiert. Die Kunst, sich nicht vom eigenen Redebedürfnis ergreifen zu lassen, spielt auch im lebhaften Wortwechsel eine Rolle, wo es darauf ankommt, den Gesprächspartner jeweils ausreden zu lassen. Plutarch weist darauf hin, dass man sich diese Fähigkeit antrainieren kann, indem man im Gespräch übt, immer noch einen Moment Zeit vergehen zu lassen, nachdem der Andere aufgehört hat zu reden, bevor man selbst anfängt zu reden (Mor. 39bf.). Auch hier ist es vor allem die Notwendigkeit, die eigene Agenda für einen Moment zurückzustellen, die die Sache so schwierig macht: Die Gefahr liegt in einer Form der Mitgerissenheit, die dem richtigen Zuhören im Wege steht, da sie der dafür nötigen temporären Rücknahme der eigenen Person, der Zurückstellung eigener Anliegen und der Suspension von Kritik im Wege steht. Die askēsis des Zuhörens, so könnte man zusammenfassen, ist eine Übung des Schweigens, der Rücknahme der eigenen Person und der Trennung oberflächlichen Wohlklangs vom wirklich Nützlichen. 21 So war die Zuhörpraxis, wie immer sie im Einzelnen ausgeseVgl. oben, Kap. V 4. Foucault nennt drei Mittel, mit denen die Hörasketik operiert: Schweigen, Körperhaltung und Ausrichtung der Aufmerksamkeit: vgl. Hermeneutik des Subjekts, 415– 429. Der zweite Aspekt der Körperhaltung hat sich hier eher nicht bestätigt. Foucault zeichnet das Bild einer leiblichen Praxis des Zuhörens, bei der verlangt ist, sowohl sprachlich als auch körperlich Ruhe zu halten, subtile Signale zu geben, an denen Sprecher sich orientieren können, seine Aufmerksamkeit von der äußeren Form der Rede auf ihre Bedeutung zu lenken und sein Gedächtnis für Gehörtes zu schulen. Dies dürfte eine Überzeichnung sein, die wohl dadurch zustande kommt, dass sich Foucault in dieser Sache sehr auf Philon von Alexandria stützt: Dieser hatte in De vita contemplativa, 64–90, ein Treffen der Religionsgemeinschaft der ›Therapeutiker‹ (therapeutai) beschrieben, das sich aus Vortrag, ritueller Mahlzeit und Gesängen zusammensetzt. Es ist äußerst gewagt, von diesem Bericht auf philosophische Schulen zu

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hen hat, eine genuin ethische Bildungspraxis. Wenn die Arbeit am Gehörsinn den Zweck hatte, die zunächst ›leidenschaftlich‹ veranlagte akustische Wahrnehmung so zu schulen, dass sie sich auf das an den Reden ausrichtet, was zum guten und wahren Leben leitet, so konnte diese Umbildung auch über die elementare Ausbildung hinaus eine Arbeit an der eigenen Eitelkeit sein, eine Übung in Geduld und Wohlwollen. Das Hören findet sein Telos nicht erst dort, wo außersinnliche logoi zum Geist durchdringen, sondern bereits im Laufe der askēsis des Hörens selbst, indem jemand lernt, ein aufmerksamer Mensch zu werden und einen Habitus der Ansprechbarkeit weiter ausbildet. Die Übung des Hörens kann so unmittelbar eine Übung des gelingenden Lebens sein.

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Der philosophische Bildungsgang, dessen Ziel ein praktisches Gutsein ist, beginnt mit einer Charakterleistung: Man muss sich etwas sagen lassen können. Nur wer diese grundständige Fähigkeit mitbringt, ist für das Studium geeignet, welches dann anfangs darauf zielt, die Ansprechbarkeit weiter zu schulen. Die entscheidende Weichenstellung, so wird darin sichtbar, liegt in der Auswahl des Lehrers und der Lebensweise, die er verkörpert. Sobald die Auswahl getroffen ist, kommt alles auf die Bereitschaft an, das eigene Selbst in Orientierung am Vorbild umzubilden. Es ist inzwischen deutlich geworden, inwiefern die Diskurspraktiken ein eigenständiger Schauplatz dieser Arbeit am Selbst sind: Am Beginn der Praxis des Logos liegt eine Offenheit für eine sittliche Korrektur, die man nicht mit reiner Auffassungsgabe verwechseln darf. In diesem Sinne beginnt die Redepraxis unmittelbar als ethische Praxis. Schon bevor das erste Wort gesprochen ist, geht es um die aktive Einübung erwünschter Habitusformen. Im weiteren Verlauf des Bildungsgangs wird sich dieses Moment vertiefen: Dass der logos ein »dem Menschen ureigenes« (philantrōpon) und »angeborenes« (syngenes) »Werkzeug der Tugend« (tēs aretēs

schließen. Philon berichtet offenbar gerade deswegen so detailreich von dieser Gruppierung, weil sie auf ihn überaus ungewöhnlich und sektenhaft wirkt. Das entsprechende Zuhörverhalten dürfte folglich wenig repräsentativ sein. Foucaults Ausführungen zur »körperlichen Reglementierung der Aufmerksamkeit« (Hermeneutik des Subjekts, 421) scheinen dadurch etwas überzeichnet.

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organon) ist, wie Plutarch sagt (Mor. 33f), bedeutet nicht, dass gewonnene Einsichten vermittels der Rede nachträglich handlungswirksam gemacht werden. Der Umgang mit logoi, der die tagtägliche philosophische Arbeit prägt, zielt auf eine unmittelbarere, performative ethische Übung. Es geht um die Aneignung eines Ethos durch den Nachvollzug von Haltungen, die sich in den jeweiligen logoi, seien sie gesprochen oder geschrieben, realisieren. Dieser Nachvollzug setzt sich in Formen des aktiven eigenen Redegebrauchs fort; das heißt konkret: lesend, schreibend und sprechend. Den Anfang macht dabei das Lesen. Dass die Lektüre in der alten Welt nicht einfach der Zurkenntnisnahme von Inhalten diente, ist bereits häufig festgestellt worden. Christian Moser kommt in seiner Studie über die ›buchgestützte Subjektivität‹ gar zu der Auffassung, dass das Lesen von der Antike bis in die Neuzeit hinein einen »privilegierten Modus der Selbstbearbeitung, der moralischen Formung der eigenen Persönlichkeit« darstellt. 22 »Das vormoderne Subjekt«, so die These, »konstituiert sich, indem es liest.« 23 Auch wenn sich die vorliegende Studie auf die Annahme stützt, dass das Lesen nur eine der Weisen ist, in der diese Selbstformung von statten geht, und das Besondere des vormodernen Denkens mehr in dem Bewusstsein der formativen Funktion von Diskurspraktiken überhaupt liegt, dürfte zutreffen, dass die Praxis des Lesens eine zentrale Stellung im diskursiven Haushalt der antiken Bildungspraxis hat. Wie ist diese Stellung zu beschreiben? Es wurde oft darauf hingewiesen, dass die Lektüre von Texten in der Antike nicht im Stillen erfolgte, sondern höchstwahrscheinlich eine Verbalisierung beinhaltete. Da die Übergänge zwischen lautem, subvokalem und stillem Lesen fließend sind, sollte man diese These vom lauten Lesen nicht allzu zu buchstäblich nehmen, so als wäre der antike Mensch unfähig gewesen, leise zu lesen. Recht verstanden, lautet die These vielmehr, dass das hörbare (Sich-)Vorlesen die Standardvorstellung des Lesens in der Antike war. Wie die monologischen Praktiken, von denen später noch die Rede sein wird – die Repitition von Merksätzen (epilegein) oder das Selbstgespräch –, wurde das Lesen, nach allem, was man weiß, als etwas verstanden, was in der Regel mit hörbarer Stimme vollzogen wird. 24 Dies dürfte sich leicht in eine 22 23 24

Moser, Buchgestützte Subjektivität, 5. Moser, Buchgestützte Subjektivität, 9. Für einen Überlick vgl. Busch, »Lautes und leises Lesen in der Antike«. Gavrilov,

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Optik gefügt haben, in der die verändernde Kraft philosophischer Diskurse nicht allein durch innerliche Meditation, sondern immer auch durch sinnlich wirksame Rede zustande kommt. Im Ausgang von diesen Motiven lässt sich der Ort des Lesens in der diskursiven Ökonomie in einem ersten Schritt so beschreiben, dass das Lesen eine Mittelstellung zwischen dem Hören und dem Sprechen einnimmt: Sofern das Lesen laut geschieht, umfasst die Lektüre die Aktivität des Sprechens und damit gleichzeitig des Hörens. Mit Blick auf den vorangegangenen Abschnitt darf man die Bedeutung des Hörens dabei darin sehen, dass der Lesende seine Rezeptivität und Lernbereitschaft in der Lektüre dauernd aktiv hält. Kraft des lauten Lesens wird der Habitus der Empfänglichkeit für sittliche Kritik, den das richtige Zuhören verkörpert, weiter geübt und gestärkt. Allerdings wird aus dem Sich-etwas-sagen-Lassen nun allmählich ein ›Sich-selbst-Sagen‹ : Während beim Zuhören natürlicherweise verlangt ist, sich still zu verhalten, erlaubt das Lesen den Gebrauch der Stimme. Zwar sind es noch immer die Worte einer Autorität, die gesprochen und lesend nachgebildet werden; aber es ist die eigene Stimme, die diese Worte hörbar macht. Sofern die gelesenen Schriften, wie häufig der Fall, den Leser adressieren, geht das Angesprochensein durch den Lehrer damit nun partiell in ein Sichselbst-Ansprechen über. Diese eigentümliche Mischform, die den ersten Schritt der aktiven Aneignung paradigmatischer Reden darstellt, beschreibt Plutarch einmal so: Das »Lesen« (anagnōsis) sei »für das Gespräch« (pros dialexin) das, was »die Schaukel für die körperliche Ertüchtigung« ist (pros gymnasion): »wie auf dem Wagen fremder Rede (ep’ ochēmatos allotriou logou) wird die Stimme schonend bewegt und sanft aufgelockert« (Mor. 130c). Die für den Lesenden vernehmbare Lektüre markiert demzufolge den behutsamen Beginn einer eigenen Sprechpraxis, in ihr findet eine erste Erprobung des angestrebten diskursiven Verhaltens statt. Beim Lesen werden vorbildliche Reden erstmals in der eigenen Stimme hörbar und durch sie wirksam gemacht. Obwohl das eigene Sprechen auf den engen Rahmen der Textvorlage beschränkt bleibt, ist damit ein Anfang gemacht. Das Lesen ist ein erster Schritt weg vom reinen Hören auf der entgegen der herrschenden Meinung für das stille Lesen in der Antike Partei ergreifen will, weist selbst darauf hin, dass anagignōskein in der Regel das laute Lesen oder Vorlesen bezeichnet und dann gegebenenfalls eigens als stilles Lesen qualifiziert wird: vgl. ders., »Techniques of Reading in Classical Antiquity«.

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einen anwesenden Anderen hin zum eigenständigen Sprechen ohne Vorgaben. Im Ausgang davon wird erklärlich, warum Texte, wie Foucault es beschreibt, in der antiken Übungspraxis oft scheinbar mehr ein »Anlaß zum Meditieren« 25 sind: Texte haben nicht in erster Linie die Funktion, Erkenntnisse zu fixieren, sondern bieten vor allem eine Möglichkeit, sich ein philosophisch vorbildliches Verhalten aktiv anzueignen. Durch ihre Lektüre kann die Stimme des Lehrers internalisiert werden und allmählich in das eigene Sprechen eingehen. Bedenkt man, dass die sittliche Fortentwicklung im Idealfall durch die Teilnahme am schulischen Leben und dem persönlichen Umgang mit dem Lehrer geschehen soll, so wird klar, dass Schriften dabei oftmals eine Ersatzfunktion übernehmen, wie in Senecas Briefen an Lucilius gut zu beobachten ist. 26 Geschriebene Reden, so sagt Isokrates, sind deswegen so wertvoll, weil sie im Gegensatz zu »Denkmälern« (mnēmeia) und den »Bildern der Körper« (ta tōn sōmatōn eikona) Verbreitung »in ganz Griechenland« finden, so dass die in ihnen dargestellten »Handlungen und die Gesinnung« (dianoia) überall »nachgeahmt werden« (mimeisthai, Or. IX 73–76). Die besondere Rolle von Texten beruht also darauf, dass ein Vorbild oder Paradigma ortsunabhängig vergegenwärtigt und zur Geltung gebracht werden kann. 27 Dies beinhaltet auch, dass die für sich selbst vollzogene Verbalisierung in der Textlektüre der Anfang einer gewissen Unabhängigkeit von der Präsenz des Lehrers sein kann. Der ›mimetische‹ Nachvollzug philosophischer Lehren anhand einer Textvorlage ersetzt nicht nur die abwesende Stimme des Lehrers, er schafft auch etwas Raum für die eigene Stimme. Schriftliche Unterweisungen erlauben es dem Schüler, sich selbst zu helfen: Epikur formuliert es zu Anfang seines Briefs an Herodotos so, dass er einen »Auszug der gesamten Lehre« (epitomēn tēs holēs pragmateias) vorlegen wolle, damit seine Schüler »bei jeder Gelegenheit (hekastous tōn kairōn) in den wichtigsten Punkten (en tois kyriōtatois) sich selbst helfen können« (boēthein hautois dynōntai, DL X 35). Hadot liest dies so, dass die systematische Kohärenz damit einer »spiritual effectiveness« un-

Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 434. Allerdings hat ein Brief für eine geistige Gemeinschaft auch seine Vorteile, wie Seneca in Luc. 55, 9 erläutert: Er begünstigt die Konzentration auf das Wesentliche und erlaubt eine Dosierung, die im wirklichen Zusammensein schwieriger ist. 27 Zur Rolle des paradeigma vgl. auch Or. XIII 17 f. 25 26

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tergeordnet wird. 28 Doch es wäre zu ergänzen, dass diese nicht einfach durch eine Verdichtung von Lehrinhalten bewirkt wird, die den Zugang erleichtern, sondern indem der Kern der Sache und gewissermaßen das Gesicht einer Denkweise herausgestellt wird: Es ist der ›Entwurf‹ (epibolē) der Lehre, wie Epikur an der zitierten Stelle erläutert, den der Schüler vor Augen haben muss, nicht die Details, sondern der Ausgriff aufs Ganze. Bloße Gelehrsamkeit versetzt niemanden in die Lage, sich selbst zu helfen. Dazu muss man einen Sinn dafür entwickeln, in welchem Geiste etwas gesagt wird. So ist es zu erklären, dass sogar weniger begabte Schüler aufgrund der brieflichen Darstellung Epikurs in die Lage versetzt werden sollen, »sich ohne mündliche Unterweisung« (kata ton aneu phtongōn tropon) den Überblick »über das Wichtigste (tōn kyriōtatōn) zu verschaffen, um zu innerer Ruhe (pros galēnismon) zu kommen« (DL X 83). Obwohl es sich hier um einen naturphilosophischen Zusammenhang handelt, ist das Ziel nicht intellektuelle Meisterschaft, sondern das gute Leben. Wenn die Lehren der hellenistischen Schulen auf kurze Merksätze gebracht wurden, die immer wieder gelesen werden wollen, so dürfte dies in dieselbe Kerbe geschlagen haben. Auf die Bemerkung, dass die »Sprüchlein« (ta logaria) der Philosophie allzu »kurz« (mikra) erscheinen, soll Zenon einmal geantwortet haben, dass sie und ihre »Silben« notwendig so kurz sein müssen (DL VII 20). Darin zeigt sich nicht nur ein stoisches Stilideal. Im Hang zur Kürze verrät sich eine Lehrpraxis, in der wesentliche Einsichten schriftlich so extrahiert werden, dass man sie sich durch wiederholte Lektüre einprägen und in sich handlungswirksam machen kann. Man kann sich auch gut vorstellen, dass Schriften dabei auswendig gelernt werden, wie es die Schüler Epikurs tun sollen (DL X 12). Vom Lesen zum Rezitieren memorierter logoi ist es nur ein kleiner Schritt, so dass sich auf natürliche Weise ein Übergang zu einem Sprechen ergibt, das von Textvorlagen nach und nach unabhängiger wird. Wo die verwendeten Schriften dabei Elemente der Adressierung aufweisen, wird sich im Lesen und im Sprechen unweigerlich ein Modus der Selbstadressierung einstellen: Was man sich vorher sagen ließ, sagt man sich nun selbst. In seiner charakteristischen Mittelstellung zwischen dem Hören, das den Erwerb von Weisheit auf den Weg bringt, und dem Sprechen, das in der vernehmbaren Lektüre seine erste Form findet, kann das 28

Vgl. Hadot, »Forms of Life and Forms of Discourse in Ancient Philosophy«, 495.

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Lesen als keimhafter Beginn der aktiven Teilnahme am philosophischen Diskurs aufgefasst werden. Die Entwicklung zum sprechenden Subjekt setzt damit ein, dass man zum Sprecher geschriebener logoi wird, die man durch wiederholte Lektüre im eigenen Geist verankert. Wie schon bei der Wahl des Lehrers, so ist auch hier von entscheidender Wichtigkeit, wie die zu lesenden Schriften ausgewählt werden; und auch in dieser Hinsicht hat die Leitung durch die Lehrperson größte Bedeutung: Foucault macht in seiner kurzen Analyse der Leseübungen darauf aufmerksam, dass in den antiken Quellen stets empfohlen wird, nur wenig zu lesen und sich auf gut ausgewählte, bedeutende Passagen zu beschränken. 29 Solche Empfehlungen lassen sich in der Tat leicht finden. Seneca vergleicht das übermäßige Lesen von allzu verschiedenen Texten mit einem ständigen Umherreisen, bei dem der Reisende nirgendwo eine Heimat findet: »Bei bestimmten Geistern (certis ingeniis) soll man verweilen und von ihnen ernährt werden (innutriri), wenn du etwas mitnehmen willst, was sich zuverlässig in die Seele einprägen soll.« (Luc. 2, 2) Bei Büchern komme es »nicht darauf an, dass du viele, sondern gute besitzt: treffsichere Lektüre nützt (lectio certa prodest), vielfältige erfreut (varia delectat).« (Luc. 45, 1) 30 Bei Marc Aurel heißt es: »Dies soll für dich genügen, wenn es Lehrsätze (dogmata) sind.« (M. Aur. II 3) Sofern es beim Lesen um die Einübung in einen Habitus geht, von dem ein Text ein Exemplum gibt, so ist diese Beschränkung auf ausgewählte Passagen gut erklärbar: In einer Lesepraxis, die auf die mimetische Fortschreibung eines Ethos angelegt ist, kommt es auf die Intensität des Nachvollzugs an, nicht auf lückenlose Kenntnis der Literatur. Das beinhaltet natürlich wiederum, dass alles auf die Absonderung des Wertvollen vom Wertlosen ankommt. Gerade am Anfang des philosophischen Ausbildungsgangs wird diese Auswahl durch den Lehrer erfolgt sein: Ein junger Mann, so Plutarch, braucht bei der Lektüre »Leitung« (kybernēsis, Mor. 37a). Man müsse aufpassen, so heißt es, dass die jungen Leuten »nicht nur beim Essen und Trinken« Maß halten, sondern vor allem auch, dass sie sich »beim Hören und Lesen angewöhnen (ethizein) […], dem Nützlichen darin und Vgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 433 f. Solche Warnungen vor dem übermäßigen Konsum von allzu viel Philosophie lassen sich auch für das Hören finden: Bei Platon etwa gibt es die »Vielhörenden« (polyēkooi), welche notwendig »Scheinweise« werden (doxosophoi, Phdr. 275a f.). Bekannt ist auch die ›Vielwisserei‹, die eng mit der Vielhörerei und Vielleserei verwandt sein dürfte.

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dem Heilsamen (to chrēsimon ap’ autou kai to sōtērion) nachzugehen« (Mor. 14e f.). Eine ähnliche Haltung findet man bei Seneca, der für Lucilius gleich die brauchbaren Stellen in den Schriften markiert, die er ihm schickt, damit dieser nicht überall herumsuchen muss (Luc. 6, 5). Generell dürfte für die Auswahl geeigneter Textvorlagen der Rat gegolten haben, auf Bewährtes zu vertrauen: Plutarch empfiehlt, sich an »die Schriften der Alten« (tēs tōn palaiōn syngrammatōn) zu halten und sie »sorgfältig zu sammeln« (toutōn poieisthai syllogēn kata to geōrgōdes, Mor. 8b). Nach Seneca soll man vor allem »anerkannte« oder »bewährte« Autoren (probatos) lesen und immer wieder zu ihnen zurückkehren (Luc. 2, 4). Was gelesen wird, wird wesentlich durch Erfahrung und Anerkennung festgelegt. Welche Schriften vertrauenswürdig sind, macht sich am Ansehen der Person des Lehrers fest. Im Vordergrund steht dann das Ziel, dessen Reden und Handeln neu zu verlebendigen. Man darf sich vorstellen, dass die Lektürepraxis unterschiedliche Schwierigkeitsstufen vorsah, so dass ein Schüler von den Abhandlungen eines Lehrers allmählich zu fortgeschrittenen Formen überging, z. B. zur Lektüre von Dialogen, bei der unterschiedliche Sprechweisen und Haltungen lesend nachvollzogen werden. Allen voran ist hier an die platonischen Dialoge zu denken, die unterschiedliche Stimmen in sich aufnehmen. 31 Am Ende der Ausbildung wird jemand dann vielleicht in der Lage sein, von der Lektüre der Schriften konkurrierender Schulen zu profitieren. So bemerkt Seneca, der immer wieder auf Epikur verweist, einmal, dass er bei der Lektüre das »fremde Lager« (aliena castra) besucht, »nicht als Überläufer (transfuga), sondern als Kundschafter« (explorator, Luc. 2, 5). Das wiederholte Sich-selbstVorlesen der Worte eines Lehrers, so deutet sich hier an, ist noch nicht die ganze Übung. Vielmehr ist zu vermuten, dass die avancierte Lektürepraxis einen noch deutlicher dialogischen Charakter hat. Die Festigung der philosophischen Daseinsform geschieht im Durchgang durch viele Stimmen und logoi. Wo Weisheit nicht nur nachgeahmt werden soll, muss eine Vielheit von Einflüssen und Vorbildern in »eines« (unum) zusammenfließen, so dass sich ein harmonischer Chor aus vielen Stimmen ergibt (Luc. 84, 7–10). Moser schreibt hierzu in Buchgestützte Subjektivität, 728: »Ohne sich dessen bewußt zu sein, ahmt der Leser das Sprachgebaren der handelnden Personen nach. Er verlebendigt und vergegenwärtigt sich die Dialogfiguren und übt sich somit mimetisch in ihre logoi ein.«

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Schriftliche Selbstformung: Das Schreiben

In das Bild, das nunmehr einige Konturen angenommen hat, lässt sich auch die Praxis des Schreibens einzeichnen. Mehr noch als beim Lesen steht hier zunächst das Urteil im Wege, dass das Schriftliche in der Antike hinter mündlichen Formen zurücksteht. Einige Kommentatoren nehmen an, dass die Schreibpraxis keinerlei Funktion für die Arbeit an sich selbst übernehmen und bestenfalls sekundäre, pädagogische Bedeutung gehabt haben kann. 32 Im Lichte der Annahme der hybriden Medialität wirkt dieser Schluss voreilig: Trifft es zu, dass schriftliche Praktiken in der Antike im Normalfall in mündliche Praktiken eingebettet waren, so wäre im Gegenteil zu erwarten, dass das Schreiben sehr viel selbstverständlicher ein Teil der diskursiven Alltagspraxis war. Eine Empfehlung wie die von Epiktet, jeden Tag zu »schreiben« (graphein), zu »lesen« (anagignōskein) und zu »reden« (logous poieisthai, Diatr. III 24, 103), vermag dies zu illustrieren. Das Schreiben hat einen festen Platz in der diskursiven Ökonomie der antiken Ethik. Will man diesen Platz bestimmen, so kann man mit der Beobachtung beginnen, dass das Schreiben oft gemeinsam mit dem Lesen in Erscheinung tritt und regelmäßig auf es zu folgen scheint. Diese Abfolge scheint bei Seneca durch, der berichtet, dass er einmal, als er sich einen Tag nicht wohl fühlte, erstmal mit Lektüren angefangen habe, um dann, als es ihm langsam besser ging, zum Schreiben und schließlich zum Gespräch (sermo) überzugehen (Luc. 65, 1–2) An anderer Stelle gibt Seneca auch den Rat, das Verhältnis zwischen Schreiben und Lesen gut auszubalancieren: Man dürfe »weder nur lesen noch nur schreiben«, sondern müsse sich »hierhin und dorthin begeben und das eine mit dem anderen im rechten Verhältnis mischen« (Luc. 84, 2). Lesen und Schreiben stehen also in einem engen Verhältnis, und die Lektüre scheint im Schreiben ihre natürliche Vgl. Rabbow, Seelenführung, 212–214: Die antike Psychagogik habe ganz auf das Verbale gebaut, während der »graphische Akt« allein schulischen Zwecken gedient habe. Gedacht ist an Schreibübungen aus dem Rhetorikunterricht. Allerdings dienten auch diese der Verfeinerung der sprachlichen Sorgfalt, die mehr umfasst als die Schulung einer technischen Fertigkeit, wie bei Cicero, De or. I 149–153, deutlich wird. Quintilian erwähnt in Inst. X 5, 2–11 Übungen der Übersetzung zwischen Griechisch und Lateinisch, Übungen der Paraphrasierung, der Übertragung zwischen Textsorten (z. B. zwischen Prosa und Dichtung oder kurzen und langen Reden und jeweils umgekehrt) sowie die Übung, Dialoge zu Streitfragen zu schreiben.

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Schriftliche Selbstformung: Das Schreiben

Fortsetzung zu finden. Christian Moser beschreibt diese Sachlage wie folgt: Das Lesen findet seine Ergänzung im Schreiben, ja das Schreiben ist notwendiger Bestandteil eines Lektürevorgangs, der mehr sein will als ein kognitiver Akt. Schreibend macht sich der Leser das Gelesene ganz zu eigen; schreibend festigt er die Überzeugungen, die er durch Lektüre gewonnen hat; schreibend legt er davon Zeugnis ab, daß er sich mit den aufgenommenen Wahrheiten identifiziert und sie als identitätsstiftende Elemente verinnerlicht hat. 33

Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass vieles von dem, was oben über das Lesen gesagt wurde, auch auf das Schreiben zutrifft. Die Schrift kommt als Grundlage für eine Verbalisierung gegebener Reden ins Spiel, bei der eine abwesende Stimme durch das eigene Sprechen reaktualisiert wird. Dieses Prinzip bleibt für das Schreiben gültig, denn auch selbst Geschriebenes kann ja später wieder gelesen und kraft des vernehmbaren Sprechens und aktiven Hörens verinnerlicht werden. 34 Man braucht also nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass sich die Einübung in das Sich-selbst-Ansprechen, die das Lesen charakterisiert, in der Praxis des Schreibens fortsetzt und weiter vertieft. Das Schreiben hält, wie das Lesen, eine Mittelstellung zwischen Hören und Sprechen. Allerdings kommen neue Aspekte hinzu: Erstens sind eigene Formulierungs- und Ordnungsleistungen verlangt. Die Selbstbildung, bei der die eigene Stimme fremde Worte wirksam macht, wird im Schreiben langsam in eine Form der Selbstbildung überführt, die durch selbstgewählte Worte geschieht. Wo der Schüler beim Lesen noch auf dem ›Wagen fremder Rede‹ fahren konnte, wie Plutarch es ausdrückt, muss er nun eigene Worte finden. Auch diese Entwicklung dürfte recht allmählich verlaufen sein: Auf ihrer ersten Stufe wird sich die Schreibpraxis weiterhin nah an Gegebenes gehalten haben, so dass am Anfang ein eher reproduzierendes Schreiben stand, bei dem Gehörtes und Gelesenes notiert wird. Erst später wird das Kommentieren hinzugekommen sein. Ein solches Aufzeichnen wird sich oberflächlich nicht sehr von den Notizen unterschieden haben, die bis Moser, Buchgestützte Subjektivität, 9. Foucaults Analyse bestätigt diesen engen Zusammenhang von Lesen und Schreiben: vgl. Hermeneutik des Subjekts, 437. 34 Marc Aurel weist skeptisch darauf hin, dass der Vorsatz, die eigenen Aufzeichnungen später wiederzulesen in aller Regel uneingelöst bleibt: M. Aur. III 14. Dies bestätigt allerdings, dass das Schreiben ein selbstzweckhaftes Tun ist. 33

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Vollzugsformen diskursiven Lebens

heute in Vorlesungen oder beim Exzerpieren von Texten gemacht werden. Eine wichtige Differenz dürfte aber darin liegen, dass diese Notizen nicht nur als Erinnerungsstütze dienten, sondern auch die Funktion hatten, das Gehörte und Gelesene später neu zur Wirkung zu bringen. So muss man sich z. B. vorstellen, dass der appellative Ton und die Anredeformen der aufgezeichneten logoi in diesem Schreiben nicht zugunsten der sachlichen Berichtsform getilgt wurden. Davon zeugt ein großer Teil der Schriften, in denen die Lehren der antiken Philosophen überliefert sind. Hier geschieht der Aufbau des Reservoirs von hilfreichen Reden, die der Schüler möglichst stets ›bei der Hand‹ (procheiron) haben soll. 35 Hilfreich sind solche geschriebenen Reden nur, indem sie die Praxis des Ansprechens und Angesprochenwerdens fortsetzen und vertiefen. Foucault versucht, die Praxis eines alltäglichen, verinnerlichenden Schreibens mit Blick auf formlose Notizbücher zu rekonstruieren, in die nützliche Gedanken und Beobachtungen (Gelesenes, Gehörtes, Gesehenes, Gedachtes) eingetragen wurden (hypomnēmata). 36 Nach seiner Darstellung folgt ein solches Schreiben keinen festen Regeln und ist primär für den persönlichen Gebrauch des Schreibenden bestimmt. Die hypomnemata zielen nicht auf Originalität oder eigene Gedankenentwicklung, sondern auf die Inkraftsetzung bereits kursierender logoi. Doch bereits diese einfache Praxis verlangt eine Ordnungs- und Formulierungsleistung. So bringt es das Aufzeichnen mit sich, dass eine Auswahl getroffen wird: Schriftlich fixiert werden soll, was der Aufmerksamkeit würdig ist, und dies entscheidet sich nicht von selbst. Hinzu scheint die Anforderung zu treten, das Vorgefundene selbst in eine Ordnung zu bringen und auf eigene Weise anzueignen: In Senecas Beschreibung darf die Transformation des Gelesenen und Gehörten in »Kräfte und Blut« und die Herstellung eines corpus nicht zu einem bloßen »Bild« (imago) führen, weil dieses ein »toter Gegenstand« (res mortua) sei. Stattdessen soll das Geschriebene seinem Vorbild auf eine Weise ähnlich sein wie ein Sohn seinem Vater ähnlich ist (Luc. 84, 6–8). Dieses Schreiben ist also keine unpersönliche Reproduktion. Es gilt vielmehr, in Orientierung an einem persönlichen Vorbild eine Form neu lebendig werden

Vgl. etwa Epiktet, Diatr. III 24, 103. Vgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 437–441 sowie ders., »Über sich selbst schreiben«, 140–145.

35 36

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zu lassen, durch eigenen aktiven Vollzug, nicht durch pure Imitation. 37 Schon am Fall der elementaren Form des relativ ungeregelten Notierens lassen sich also Elemente einer Aneignungspraxis aufzeigen, die die Praxis des Lesens ergänzt und erweitert. Das Schreiben ist eine Praxis, bei der hörbare oder gelesene logoi auf eigene Weise nachvollzogen und neu verlebendigt werden, so dass die so erzeugte Stimme etwas weiter aus ihrer Abhängigkeit vom Lehrer herausgelöst wird. Dies führt nun zu einem zweiten wichtigen Aspekt, durch den sich das Schreiben vom Lesen unterscheidet: Da alles, was geschrieben wird, später gelesen werden kann, ist auch beim Schreiben ein abwesender Anderer mit im Spiel. Nur ist es nun nicht mehr die abwesende Stimme, von der sich der Leser Worte leiht, sondern mehr ein virtueller Blick, der als Instanz möglicher Prüfung wirkt. Der Abstand zwischen Lehrer und Schüler vergrößert sich also, aber das heißt auch, dass der Schüler nun für das einsteht, was sich in seinen schriftlichen Äußerungen zeigt. Beim Schreiben kommt also ein Moment der Selbstobjektivierung hinzu, das beim Hören oder Lesen so nicht gegeben ist. Wie die Lektüre die Adressierung des Lehrers in einer Selbstadressierung reaktualisieren kann, so erzeugt die Verschriftlichung eine gedankliche Gemeinschaft, von der eine disziplinierende Wirkung ausgeht. Es ist daher plausibel, wie Foucault geltend macht, dass das Schreiben Elemente der Selbstprüfung in sich aufgenommen hat, die mit der imaginierten Anwesenheit von Autoritäten operieren. Bei diesen Verfahren geht es darum, wie Zenon einem jungen Mann, der tugendhaft sein wollte, erklärt haben soll, »sich die Menschen vor Augen zu halten«, die man »am meisten achtet« und vor denen man »sich am meisten schämt« (SFV I 319). Dies lässt sich leicht auf das Schreiben übertragen, welches, wie Hadot bemerkt, »den Eindruck [verschafft], sich in der Öffentlichkeit zu befinden, sich zur Schau zu stellen«. 38 Anders als die mündliche Verbalisierung, insbesondere bei der einsamen Lektüre, hinterlässt die

Bei dem, »wodurch der Geist genährt wird« (quibus aluntur ingenia), so schreibt Seneca in Luc. 84, 6, möge es sich verhalten wie beim Stoffwechsel: nämlich »was immer wir aufgenommen haben«, sollen wir »nicht unverändert (integra) lassen, damit es nicht fremd sei«. Gerade die so häufige Metaphorik der Verdauung kann also illustrieren, dass es bei den Verinnerlichungsübungen nicht um bloßes Memorieren ging. 38 Hadot, Philosophie als Lebensform, 59. 37

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Vollzugsformen diskursiven Lebens

schriftliche Aneignungspraxis eine Spur, die der späteren Prüfung durch einen selbst und durch Andere zugänglich ist. Dieser Aspekt der ethischen Schreibpraxis wird besonders klar, wenn man über das private Schreiben hinausgeht und interpersonale Verhältnisse ins Spiel bringt, wie sie insbesondere die Korrespondenz kennzeichnen. Einen Brief schreiben bedeutet, wie Foucault formuliert, »sich zeigen, sich sehen lassen, sein eigenes Gesicht vor dem des Anderen erscheinen lassen« und damit »ein Verhältnis von Angesicht zu Angesicht« schaffen. 39 Das persönlich adressierte Schreiben erzeugt einen virtuellen Blick des Anderen, der der kritischen Selbstbildung und Selbstprüfung zu weiterer Durchschlagskraft verhilft. Die Schilderung des eigenen Alltags, des Gesundheitszustands oder des gewöhnlichen Tagesablaufs bei Seneca, auf die Foucault aufmerksam macht, 40 lässt dabei sinnfällig werden, dass es nicht um die Prüfung von Lehrinhalten geht: Was sich im Geschriebenen zeigt und zur Bewertung steht, ist der Umriss der jeweiligen Lebenshaltung. Hier rückt ganz in den Vordergrund, was auch in Lehrschriften nicht selten mitklingt, sofern sie ebenfalls Elemente der Anrede enthalten, oder gar selbst, wie bei Epikur oder Seneca, die Form von Briefen annehmen, in denen ein Lehrer einen Schüler persönlich anspricht. Man darf davon ausgehen, dass auch das Schreiben avancierte Formen kennt. Zu denken ist hier wiederum an das Schreiben von Dialogen, von dem z. B. Marc Aurel berichtet (M. Aur. I 6). Man könnte darin den Schritt zum schriftlich geführten Selbstdialog sehen, der für Marc Aurels Werk charakteristisch ist. Dabei zeigt sich schnell, dass ein solches Schreiben, welches Elemente der Selbstadressierung, eine Vielfalt von Stimmen, verschiedene Positionen, Fragen und Antworten usw. in sich aufnimmt, in sich höchst komplex und variantenreich ist. 41 In dieser Form ist es nun nicht nur nötig, eigene Formulierungen zu finden und das Nebensächliche vom Berichtenswerten zu trennen. Hier werden sich auch die Funktionen der Selbstobjektivierung und Selbstprüfung noch einmal komplexer mit-

Foucault, »Über sich selbst schreiben«, 148. Vgl. Foucault, »Über sich selbst schreiben«, 149–153. 41 Für Marc Aurel vgl. dazu van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels I, 260–287. Der Autor wertet die Selbstbetrachtungen als »selbstdialogischen Text«, in dem z. B. Funktionen der Selbstkontrolle, Selbstdistanzierung, Selbstanalyse und Selbsterkenntnis ineinanderspielen. Dabei sei deutlich, dass dies keine bloße literarische Form ist, sondern Marc Aurel »unbezweifelbar sich selbst anspricht« (ebd., 281). 39 40

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Schriftliche Selbstformung: Das Schreiben

einander verzahnen. Eine solche schriftliche Ausarbeitung von Dialogen kann die bald zu erörternde Übung des mündlichen Selbstdialogs begleiten, bei dem sich das Spiel des Fragens und Antwortens, der kritischen Ermahnung und des besserungswilligen Hörens in die individuelle Person verlagert. Es könnte sich als fruchtbar erweisen, auch die Schriften der Schüler des Sokrates in dieses Licht zu stellen: Sie verdanken sich einer Praxis, in der dialektische Bildungsprozesse mit Blick auf ein lebendiges Paradigma nachvollzogen und schriftlich verobjektiviert werden. Das würde gleichzeitig etwas davon erklären, warum sokratische Dialoge nicht nur von Platon, sondern ebenso von Xenophon, Aischines von Sphettos oder Antisthenes verfasst wurden. 42 Man hat hier Spuren von schriftlich vollzogenen Selbstdialogen vor sich, von einer Aneignungs- und Kultivierungspraxis, bei der es darum ging, sich eine Haltung des ständigen Fragens und kritischen Prüfens zu eigen und in sich wirksam zu machen. Anstoßpunkt dabei sind nicht Sachprobleme, sondern die nachahmenswerte Person des Sokrates. 43 Wo das Schreiben ein Üben ist, das der Verarbeitung von Gelesenem oder Gehörtem dient, sind nicht die Ergebnisse, die fertigen Texte, entscheidend, sondern die Prozesse des Schreibens, von denen das Geschriebene jeweils eine Spur ist. Die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung solcher Prozesse liegen auf der Hand. Dennoch darf festgehalten werden, dass auch die schriftlichen Praktiken des Lesens und Schreibens wie schon die Übungen des Hörens darauf zielen, in Habitusformen einzuüben und sie neu zu verlebendigen. Schlüsselbedeutung für die Formung des Selbst im Umgang mit Geschriebenem hat dabei die imaginierte Gegenwart der Person eines Lehrers, der etwas vorlebt, den Schüler anspricht, therapeutische logoi liefert und als sittliches Ideal und Kontrollinstanz fungiert. Der personifizierte Maßstab ist eine entscheidende Figur für ein Denken, das den lebendigen Logos weder entgrenzen noch übersteigen will.

Zu diesem Thema, dem hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann, vgl. den Vorstoß von Lampe, »›Socratic Therapy‹ from Aeschines of Sphettus to Lacan«. 43 Vgl. auch DL II 61, wo berichtet wird, dass die Dialoge »den sokratischen Charakter« (to Sokratikon ēthos) wiedergeben. 42

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Vollzugsformen diskursiven Lebens

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Monodialoge: Die Kunst des Selbstgesprächs

Es drängt sich auf, das Sprechen als Zentrum der antiken Redepraxis anzusehen. Wenn zutrifft, dass der philosophische Bildungsgang mit dem Hören anfängt und allmählich, über das Lesen und Schreiben, zum eigenen Sprechen übergeht, dann handelt es sich in der Tat um die fortgeschrittenste Diskursform. In diesem Licht erweist sich manches, was beim ersten Lesen als generelle Schriftkritik wirkt, als die Mahnung, dass man sich auf einer gewissen Stufe der philosophischen Ausbildung von schriftlichen Formen unabhängig machen sollte. So könnte man verstehen, wenn Marc Aurel, der andernorts für eine sorgfältige Auslegung von Texten wirbt (M. Aur. I 7), einmal dazu aufruft, den »Durst nach Büchern wegzuwerfen« (tēn de tōn bibliōn dipsan rhipson, M. Aur. II 3). Und wenn Diogenes von Sinope dem Hegesias, der sich Schriften ausleihen will, die Abfuhr erteilt, er solle sich statt der »geschriebenen« (gegrammenēn) lieber »der wahren Übung« (askēsin tēn alēthinēn) widmen (DL VI 48), so könnte er damit signalisieren, dass Hegesias eigentlich längst über die Entwicklungsstufen, auf denen man noch Geschriebenes benötigt, hinaus sein sollte. 44 Tatsächlich macht Seneca nachdrücklich geltend, dass man sich im Laufe seiner philosophischen Studien von den geschriebenen Vorlagen und Worten des Lehrers lösen muss: Das Auswendiglernen von »Sprüchen« (sententiae) sei nur etwas für »Knaben« (pueris) und für einen »kindlichen Geist« (puerilis animus); der Fortgeschrittene soll sich nicht auf Sprüche, sondern »auf sich selbst stützen« (sibi innitatur); er soll solche Dinge selbst »sagen« (dicere) können und nicht nur im Gedächtnis haben (Luc. 33, 7); er soll nicht Autoritäten zitieren, sondern etwas »von dem seinen vorbringen« (de tuo proferre); er soll sich nicht nur erinnern, sondern »wissen« (scire), wobei ›wissen‹ bedeutet, sich etwas selbst »anzueignen« (sua facere) und nicht mehr vom Beispiel des Lehrers abhängig zu sein (Luc. 33, 8). Schon die Schriftkritik des Alkidamas zielt darauf, Schriftlichkeit und Mündlichkeit ins rechte Verhältnis zu setzen: Das Sprechenkönnen ist wertvoller, weil es das Schreibenkönnen umfasst. »Es ist ungeheurlich (deinon), wenn jemand, der Philosoph sein will und andere zu erziehen verspricht, seine Weisheit nur vorführen kann, wenn er eine Schreibtafel und ein Buch hat, wenn sie ihm aber abhanden kommen, um nichts besser als die Ungebildeten dasteht […].« (Alkid. 15) Die philosophische Bildung erfüllt sich im Sprechen, weil es eine Unabhängigkeit mit sich bringt, die bei schriftlichen Formen nicht gegeben ist.

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Monodialoge: Die Kunst des Selbstgesprächs

Dich muss etwas vom Buch unterscheiden […]. Warum soll ich von dir hören, was ich lesen kann? ›Viel‹, sagt man, ›bewirkt die lebendige Stimme (viva vox)‹. Aber nicht die, die sich fremden Worten überlässt und das Geschäft eines Protokollführers betreibt. (Luc. 33, 9)

Aus dem Sich-etwas-sagen-Lassen und dem Sich-selbst-sagen fremder Reden wird nun also vollends ein Zu-sich-selbst-Sprechen. Allerdings bewegt sich auch diese Sprechpraxis in ihren Anfängen noch nah an Vorgaben. Der Übergang vom flüsternden Lesen und der schriftlichen Assimilierung von Lehren zum eigenen Sprechen ohne Textvorlage verläuft kontinuierlich, als allmähliche Erweiterung der diskursiven Fähigkeiten. Plastisch wird dies an einer Praxis, bei der die Besonderheiten der alten Redekultur besonders gut sichtbar werden: das sogenannte epilegein, das wiederholte Aussprechen von Lehrsätzen. Marc Aurel beginnt die Aufzeichnung der dogmata, nach denen leben will, mit der Formel »Früh morgens sich selbst vorsagen: …« (heōten prolegein heautō, M. Aur. II 1). Es ist sehr wahrscheinlich, dass solche Übungen gewöhnlich wiederum mit vernehmlicher Stimme erfolgten. Dies belegt etwa Senecas Erzählung, er habe einmal, als er bei einem schweren Asthmaanfall anfing, sich Merksätze zu sagen, um die Todesfurcht zu überwinden, ausnahmsweise auf ein lautloses Sprechen zurückgegriffen, weil »für Worte keine Gelegenheit war« (verbis locus non erat, Luc. 54, 6). Die Repitition von Leitsätzen präsentiert sich als eine Fortsetzung des lauten Lesens. Sie besteht darin, Gelerntes durch die eigene Stimme hörbar zu machen. Der Vorzug des Gesprochenen gegenüber der Schrift wäre nach dem Bisherigen darin zu sehen, dass der selbst gesprochene – nicht nur gehörte, abgelesene oder schriftlich hergestellte – Logos einer ist, den sich eine Person in höherem Maße zu eigen gemacht hat. Das Misstrauen gegenüber der Schrift war ja u. a. so begründet, dass geschriebene Gedanken nicht zeigen, in welchem Geiste sie geäußert werden: Einem von der Person abgelösten Logos ist nicht zu trauen. Entsprechend führt der philosophische Bildungsgang zu einem Punkt, wo der Schüler selbst zu sprechen beginnt oder genauer: wo in seinen Reden seine Person sprechend wird. Das epilegein bildet nur den Anfang der eigenen Sprechpraxis. Auch für das Sprechen ließe sich wieder eine Fortschrittsgeschichte vom bloßen Nachreden über das avanciertere Zu-sich-selbst-Sagen bis hin zum wirklichen Dialog erzählen. 253 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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Dies kann an einer Praxis dargelegt werden, die zu den vielleicht auffälligsten Eigenheiten der antiken Philosophie gehört: der Praxis des Selbstdialogs. Neben dem ›Reden mit Anderen‹ steht, als dessen natürliche Vorstufe, nicht selten das ›Reden mit sich selbst‹. Was mit dem Sich-Aufsagen von Lehrsätzen beginnt und sich möglicherweise in Verfahren des Selbstlobs und Selbsttadels fortsetzt, 45 mündet schließlich in anspruchsvolle Formen, in denen jemand allein Gespräche nachvollzieht oder in lebendige Dialoge mit sich selbst eintritt. Dass dies tatsächlich eine Üblichkeit in den Philosophenschulen gewesen ist, bezeugt etwa eine Episode über Kleanthes, der einem ins Selbstgespräch vertieften Schüler im Vorübergehen einmal gut zugeredet haben soll: »Du sprichst mit keinem üblen Menschen.« (ou phaulō anthropō laleis, DL VII 174) Dass hohe philosophische Bildung sich an einer fortgeschrittenen Selbstgesprächskompetenz zeigt, passt auch zu dem, was in den schon erörterten Passagen im Gorgias (Gorg. 505a–505e) sichtbar wird, in denen Sokrates den Dialog allein bestreitet. 46 Sokrates ist ein Meister dieser Disziplin, wie bei Platon immer wieder durchklingt. Dieses Vorbild bleibt für die stoische Hochschätzung des Selbstdialogs leitend: »Mensch, wenn du jemand bist«, so Epiktet, »dann musst du allein herumgehen und mit dir selbst reden (sautō lalēson) und nicht im Chor verstecken.« (Diatr. III 14, 2 f.) 47 Dass die individuelle Meditation nicht als stilles Nachdenken, sondern als hörbare Unterredung eines einzelnen auftritt, erinnert an das, was schon beim Lesen und Schreiben deutlich wurde: Wie der Gebrauch der Schrift ein hörbares und für das Gehör wirksames Vorlesen beinhaltet, das die ethisch-philosophische Ansprechbarkeit aktiviert, die regelrechte Wiederverkörperung eines diskursiven Verhaltens, so ist die Sache auch hier durch die konkrete Habitualisierung geprägt. Ein Prinzip der ursprünglichen Innerlichkeit hat hier keinen Platz. Indem Gedanken unmittelbar als verbalisierte Äußerungen auftreten, lösen sie sich von den in ihnen manifesten persönlichen Haltungen und Ansprüchen gar nicht erst ab. In der VerbaliHadot verweist auf eine Erzählung über Kleanthes, der sich häufig selbst beschimpft haben soll, als Beleg für die Übung des Selbstgesprächs: vgl. Philosophie als Lebensform, 26 und DL VII 171. Das könnte eine Überbewertung dieser Anekdote sein. 46 Vgl. oben, Kap. V 4. 47 Ausführlich zum mündlichen Selbstdialog, besonders in der späteren Stoa, vgl. van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels I, 233–259. 45

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Monodialoge: Die Kunst des Selbstgesprächs

sierung müssen diese Haltungen bis ins Leibliche hinein nachvollzogen und mitsamt ihren appellativen Formen aktualisiert werden. Gleiches gilt für den Habitus der Aufmerksamkeit, der mit dem Hören verbunden ist, welches auf dieser Stufe der diskursiven Übungspraxis in das Spiel von Rede und Gegenrede hineingezogen wird. Mehr noch als das Schreiben könnte man das Selbstgespräch als eine Vorbereitung auf die wirkliche Begegnung mit Anderen verstehen, gewissermaßen als deren letzte Phase. So legt es die Art und Weise nahe, wie das dialogische Selbstgespräch in den Quellen bewertet wird: Bekannt ist die Anekdote des Pyrrhon, den man einmal beim Reden mit sich selbst antraf und der dieses Verhalten damit erklärte, er »übe sich, wertvoll zu werden« (meletan chrēstos einai, DL IX 64). Es geht nicht um die körperlose Meditation über einen Erkenntnisgegenstand: Die Reflexion zielt in erster Linie auf eine dialogische und damit zutiefst soziale Fähigkeit. Antisthenes soll gesagt haben, dass das ›Mit-sich-selbst-verkehren-Können‹ (to dynasthai heautō homilein) die wesentliche Frucht des Philosophierens sei (DL VI 6). Die eigentümliche Mischform des monologisch vollzogenen Dialogs, die man vielleicht ›Monodialog‹ nennen könnte, ist eine individuell vollzogene Übung in Sozialität. So ist die Übung des Selbstgesprächs als Vertiefungsübung erkennbar, die die Praxis der Selbstadressierung weiterentwickelt und zu einer echten kritischen Unterredung mit sich selbst werden lässt. Impulsgebend ist hier einmal mehr Sokrates, der dazu auffordert, das »Kind in euch […] jeden Tag zu bereden« (Phaid. 77e). Seneca rät, »mit sich selbst zu sprechen« (ipse tecum loquaris), wenn man sich zurückzieht, und »bei sich selbst schlecht von sich zu denken« (de te apud te male existima), wodurch man sich daran gewöhne, »die Wahrheit zu sagen und zu hören« (dicere verum et audire, Luc. 68, 6). Wie es nicht angenehm ist, die Wahrheit zu hören, so ist es auch nicht leicht, sie sich zu sagen. Das vernehmbare Mit-sich-selbstBesprechen ist dafür ein hilfreiches Training. Die virtuelle Präsenz der anderen Person, die beim Lesen und Schreiben noch die Kontrolle hat, wird im Gespräch mit sich selbst zu einer virtuellen Zweiteilung der eigenen Person, welche sich auf diese Weise immer eigenständiger selbst prüfen lernt. Das höchste diskursive Ethos ist nach dieser Vorstellung erreicht, wenn jemand ganze Dialoge mit sich selbst führen kann und schließlich dort, »wo vorher zwei Männer sprachen«, wie es im Gorgias heißt, einer allein genügt (Gorg. 505d). 255 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Vollzugsformen diskursiven Lebens

In Platons Symposion lässt sich nachvollziehen, wie tief diese Idee in der antiken Diskurspraxis verankert ist: Was beim Gastmahl gesprochen wurde, so stellt es die Eröffnungsszene dar, wurde durch eine lange Folge von Erzählungen und Weitererzählungen übermittelt. Als Apollodoros gleich zu Beginn bemerkt, er sei »nicht unvorbereitet« (ouk ameletētos), von den Geschehnissen beim Gastmahl zu berichten (Symp. 172a, 173c), so meint er, dass er den gesamten Bericht bereits am Tag vorher einmal durchgegangen war. An prominenter Stelle wird diese bemerkenswerte Gedächtniskunst mit einem Unterbau versehen: Weil sich Wissen unter den Sterblichen stets wieder verliert, so offenbart Diotima Sokrates, muss es der Seele immer wieder »eingebildet« werden. Nötig ist ein »Üben« (meletan), eine Praxis der Erinnerung, die sich als ein ständiges Ringen mit dem Vergessen (lēthē) darstellt. Durch diesen »Kunstgriff« (mēchanē), so Diotima, »hat alles Sterbliche an der Unsterblichkeit teil« (Symp. 208af). Auch wenn der Ausdruck alētheia an dieser Stelle fehlt, ist die Praxis wiederholter Erinnerung doch gut als die sokratische Übung der Wahrheit erkennbar. Wenn Sokrates die empeiria von der technē absetzt, indem er sagt, sie sei »nur eine sich erhaltende Erinnerung« (Gorg. 501a), kommt er Diotimas Beschreibung der menschlichen Erkenntnispraxis bemerkenswert nahe. In der Kette des Erzählens und Weitererzählens im Symposion manifestiert sich eine dialogische Übungspraxis, bei der die Wahrheit nach und nach als das, was ›der Erinnerung würdig‹ ist, Gestalt annimmt. 48 Wenn Apollodoros zu Anfang sagt, er sei, was den Bericht über das Gastmahl angeht, ›nicht ungeübt‹ (ouk ameletētos), so ist seine Wortwahl also kein Zufall. Die ganze Erzählung gehört in eine immer wieder aufs Neue zu vollziehende Kunst des Selbstgesprächs, in der Personen ganze Dialoge in ihrer Mehrstimmigkeit allein für sich (nach)vollziehen. Auch beim individuellen Sprechen mit seiner auffälligen Tendenz zur Verbalisierung ist also mehr im Spiel als das Wirken des gesprochenen Wortes auf das Ohr. Es ist eine Praxis, bei der ein philosophischer Habitus des kritischen Prüfens, Fragens und Hinhörens nach all seinen Seiten hin performativ eingeübt und zur zweiten Natur gemacht wird. Das Verhältnis zum Anderen ist dabei weiterhin Vgl. Symp. 172a-174a sowie 178a: axiomnēmoneuton. Es ist sicher kein Zufall, dass Xenophons Darstellung mit demselben Motiv beginnt: vgl. Xenophon, Symposion, I 1.

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Mit Anderen reden: Dialogisches Leben

präsent, aber es siedelt sich jetzt fester im Selbstverhältnis des Individuums an, das das Spiel des Zuhörens und Ansprechens nun allein realisieren kann: So ist es nicht erstaunlich, dass die Rede letztlich das Modell für das Denken liefert, welches bei Platon ja als »Gespräch der Seele mit sich selbst« 49 aufgefasst wird. Zugrunde liegt dabei ein durch und durch dialogisches Verständnis des Logos, die Vorstellung einer personalen Rede, die sich an einen Adressaten richtet – und sei es auch die eigene Person. In einer solchen Praxis ist die Abstraktion von der hörbaren Stimme und den diskursiv sich manifestierenden Verhaltens- und Lebensweisen von Personen keine Option.

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Mit Anderen reden: Dialogisches Leben

Kommen wir schließlich zum Sprechen mit Anderen und zu den intersubjektiven dialogischen Formen. Es ist auf den ersten Blick naheliegend, den wirklichen Dialog als die höchste Form der philosophischen Diskurspraxis anzusehen. Man könnte meinen, dass die Übung des Selbstgesprächs, welche Pyrrhon zufolge dazu führt, dass man ›wertvoll‹ (chrēstos) wird, im Gespräch mit Anderen seine Fortsetzung und höchste Veredelung findet. Dies scheint Hadots Lesart zu sein, der dem ›Mit anderen Reden‹ ein eigenes Kapitel widmet: Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Gespräch mit sich selbst und dem Gespräch mit einem anderen. Nur derjenige, der einer echten Begegnung mit sich selbst fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit anderen fähig, und das Umgekehrte ist gleichfalls wahr. […] So gesehen ist jede geistige Übung in dem Maße ›dialogisch‹, wie sie die Übung eines echten Gegenwärtigseins darstellt, eines Gegenwärtigseins für sich selbst und für andere. 50

Das bisher Gesagte kann diese Lesart im Wesentlichen stützen. Aber wie haben die dialogischen Übungen konkret ausgesehen? Im seltsamen Kontrast zur überragenden Bedeutung des Dialogischen und der Anrede in den Diskurspraktiken steht der Umstand, dass man Vgl. Soph. 263e: »Also Gedanke und Rede (dianoia kai logos) ist dasselbe, nur dass das innere Gespräch der Seele mit sich selbst (ho entos tēs psychēs pros hautēn dialogos), das ohne Stimme (aneu phōnēs) vor sich geht, von uns Gedanke genannt wurde.« Wie oben bereits erwähnt wurde, sind die Grenzen zwischen dem stillen, subvokalen und lauten Lesen allerdings nicht scharf. 50 Hadot, Philosophie als Lebensform, 26. 49

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Berichte über Übungen, in denen das Gespräch zwischen Personen gesondert trainiert wird, in den Schriften der antiken Philosophie vermisst. 51 Auch bei Hadot wird nicht viel Konkretes über dieses Thema berichtet. Und bei Foucault, der die Formen des Hörens, Lesen, Schreibens und Sprechens mit einiger Ausführlichkeit abhandelt, findet das dialogische Sprechen auffallenderweise kaum Behandlung. In seiner Darstellung genießt das Sprechen überhaupt eine überraschend untergeordnete Rolle. Insbesondere sei es weniger wichtig als das Schweigen: Der Schüler »hat zu schweigen, und es reicht, daß er schweigt«. 52 Solche Urteile scheinen sich auf den ersten Blick nicht mit dem herausragenden Status des Dialogs im philosophischen Leben zu vertragen. Wie sind sie zu erklären? Die Dialektik kommt in dieser Sache als Bezugspunkt weniger in Frage, als man spontan meinen könnte: In der Lehrpraxis der hellenistischen Zeit treten andere Formen wie der Lehrvortrag mehr ins Zentrum, wenn auch die Dialektik durchaus nicht völlig verschwindet, wie Foucault es darstellt. 53 Solche Entwicklungen könnte man als Zeichen der Erstarkung autoritativer Formen philosophischer Unterweisung deuten. Es ist aber zu beachten, dass die Dialektik nach Platon den Charakter der Gesprächskunst langsam einbüßt, während sich ihre logischen Aspekte mehr in den Vordergrund schieben. Tatsächlich gerät die dialektikē in der nachsokratischen Zeit häufig in den Ruf einer Kunst der Spitzfindigkeit. 54 Das Zurücktreten der Dialektik hat offenbar eher etwas mit der Wandlung ihres Charakters zu tun. Sie darf also nicht mit einem Zurücktreten des Dialogs in der alltäglichen philosophischen Diskurspraxis verwechselt werden. Sollte es zutreffen, dass der Dialog keinen Ort in der diskursiven askēsis hat – wie wäre das zu erklären? Nach dem Gesagten scheint die folgende Erklärung plausibel: Das Gespräch war im Rahmen der ›Lebensform Philosophie‹ nicht so sehr eine gesonderte Praxis, die eigens geübt wurde und neben andere Übungen trat. Als soziale Praxis und Vollzug von Gemeinschaft war sie vielmehr in gewisser Hinsicht deckungsgleich mit der philosophi-

Dies spiegelt sich auch in der rhetorischen Bildungstradition wider: Cicero schreibt in De officiis, I 132: »Für das Streitgespräch (contentionis) gibt es Vorschriften von Rhetorikern (praecepta rhetorum), für das Gespräch (sermonis) aber nicht […].« 52 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 444. 53 Vgl. dazu Moser, Buchgestützte Subjektivität, 255–259 sowie 263 f. 54 Vgl. Seneca, Luc. 45, 5 und 13 oder Epiktet, Diatr. II 12 (Peri tou dialegesthai). 51

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Mit Anderen reden: Dialogisches Leben

schen Lebensform selbst. Die diskursiven Übungspraktiken, von denen bisher die Rede war, waren durchgängig dialogisch verfasst. Sie bereiten allesamt auf das Gespräch im Sinne eines philosophischen Zusammenseins vor, das eine ethische Empfänglichkeit, die Bereitschaft, wahre Reden zu hören und zu sagen, einen Sinn für das Wertvolle, ein vorbildliches Diskursverhalten bereits voraussetzt. In ihrer Gesamheit bilden diese mündlich und schriftlich kultivierten Fähigkeiten ein Ethos, das im konkreten Gespräch nicht mehr einfach geübt wird, sondern in einen wirklichen sozialen Bezug zu anderen Personen tritt. In der auffälligen Abwesenheit eigener dialogischer Übungen zeigt sich in dieser Sicht, dass es beim Gespräch nicht mehr um eine Vorübung ging, sondern um einen wirklichen sittlichen Umgang miteinander. Wenn die Selbsttransformation in wirklichen Dialogen ihre Erfüllungsgestalt hat, können diese kein bloßes Training mehr sein. Man könnte sich sogar vorstellen, dass hinter der so oft begegnenden kritischen Haltung gegenüber der Dialektik gerade die Skepsis gegenüber einer Methodisierung des Gesprächs steckt. Die ›logische Tugend‹, wie die Stoiker es nennen, ist keine formallogische Meisterschaft. Und wenn Pyrrhon sich im Selbstgespräch übt, um ein wertvoller Mensch zu werden, so strebt er offensichtlich keine argumentative Raffinesse an. Man könnte versuchen, der Idee von der Philosophie als Lebensform die Pointe zu verleihen, dass die antiken philosophischen Schulen einen Versuch darstellen, die Fähigkeiten des Hörens, des Schriftgebrauchs und des Mit-sich-Sprechens als Basis einer Lebensgemeinschaft zu perfektionieren, in welcher Gespräche möglich sind, die sich als wahre Rede vollziehen und am sittlichen Gutsein orientieren. Ein solches Verständnis könnte sich auf den Siebten Brief berufen, dem zufolge die Erkenntnis aus »gemeinsamer Bemühung (synousia) um die Sache« und aus »dem gemeinsamen Leben« (syzēn) entstehe (Ep. VII 341c). Wichtiger als alle schriftliche Unterweisung oder überhaupt die oratio, so formuliert Seneca denselben Gedanken, sei in jedem Fall »die lebendige Stimme und das Zusammenleben« (viva vox et convictus), weil »die Menschen mehr den Augen als den Ohren trauen« und »weil der Weg über Lehrsätze (per praecepta) lang ist, über Beispiele (per exempla) aber kurz und erfolgreich« (Luc. 6, 5). Es wäre gut verständlich, wenn die Diskurspraxis in ihrer entwickeltsten Form vom tugendhaften Umgang miteinander nicht mehr zu unterscheiden wäre. Ist die Philosophie wesentlich Gespräch, so muss dieses Gespräch ebenfalls eine Lebensform sein, und das heißt eine Form 259 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Vollzugsformen diskursiven Lebens

des Zusammenlebens. Die Philosophie ist am Ende eine dialogische Daseinsform. Wie erläutert, konnte die historische Erforschung der askēsis der klassischen und hellenistischen Zeit nicht das Ziel dieses Kapitels sein; diesbezüglich konnte im günstigsten Fall eine Richtung für weitere Studien angezeigt werden. Der Sinn der Rückwendung der Kultivierungsperspektive auf antike philosophische Diskurse lag darin, das Bild der ethischen Redekultur der Antike mit Tiefenschärfe zu versehen und einige der Möglichkeiten, die sich für eine solche Redekultur unter den veränderten Bedingungen ab dem 4. Jahrhundert ergeben, zu umreißen. Die entscheidende Veränderung dabei ist die Disziplinbildung der Philosophie, die mit dem Aufbau der Opposition von Philosophie und Rhetorik einhergeht und die erzieherische Kraft der Rede unter den Verdacht sekundärer Pädagogik stellt. Die vorangegangenen Abschnitte sollten einen Eindruck davon geben, was mit dieser Perspektive unweigerlich ausgeblendet wird. Der Blick auf die diskursive Lebensform der antiken Philosophie macht sichtbar, wie eine Diskurspraxis, die sich um die Wahrheit dreht, in sich eine Praxis der ethischen Transformation sein kann: Die Praxis der Wahrheit geht der diskursiven Übungspraxis nicht voraus; diese ist im Gegenteil selbst schon Wahrheitspraxis. Wer den Begriff der ›rationalen Argumentation‹ in diesem Zusammenhang nicht fallen lassen will, hätte sich darunter etwas vorzustellen, was erst dem Geübten wirklich gelingen wird. Wahrheit setzt ein sittliches Können voraus. Der wahrheitsorientierte Logos ist von Anfang an eine ethische Praxis.

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VIII Ausblick: Diskursive Kultur und Gegenwartsphilosophie

Eine Ethik der Rede, wie sie die antike Philosophie entwickelt, wird in der Gegenwart nicht mehr in Betracht gezogen. Zwar bestreitet auch heute niemand, dass die menschliche Rede eine ethische Dimension hat. Es gibt eine ganze Reihe von Ansätzen – von der universalpragmatischen Diskursethik, über poststrukturalistische Positionen, bis hin zur responsiven Ethik der Phänomenologie und ihren dialogphilosophischen Verwandten –, die sich in der einen oder anderen Weise unter die Überschrift ›Sprache und Ethik‹ stellen ließen. 1 Gleichwohl erinnert das antike Modell an einen Zugang, der in diesen Ansätzen bestenfalls am Rande vorkommt. Die Trennung von Rede und Leben, von Logos und Ethos ist für die Gegenwartsphilosophie grundlegend. Welche Habitusformen und Lebensweisen eine diskursive Praxis hervorbringt, ist für sie kein eigener Gegenstand der Reflexion. Die Kultivierungsformen, mit denen Philosophie, sofern sie Lebensform ist, unweigerlich einhergeht, bleiben im modernen Denken weitgehend unbeobachtet. Das Spannungsverhältnis zwischen antiker Redekultur und moderner Philosophie macht sich bereits am Motiv der Philosophie als Lebensform bemerkbar: Ein Curriculum, das in den Alltag eingreift und asketische Übungen vorsieht, scheint aus unserer Sicht gewisse religiöse Züge zu haben. Nach heutigem Verständnis verlangt Philosophie unzweideutig ethische Neutralität. Sie kann nicht als Bildungsprogramm auftreten, das bestimmte Existenzformen etablieren will, wie es bei Pythagoras oder Epikur geschah. Hadot erklärt das Verschwinden der spirituellen Praktiken aus der Philosophie denn auch so, dass diese in Religion aufgegangen seien. 2 Indem der Geltungsbereich der Lebensformperspektive auf das Thema der DiskursVgl. exemplarisch die 2010 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie dokumentierte Diskussion zum Thema: Esser, »Einleitung zum Schwerpunkt ›Sprache und Ethik‹«. 2 Vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform, 10 oder 170 f. 1

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praktiken ausgedehnt wird, dürfte sich das Unbehagen weiter verstärken, denn hier ist der Kernbereich philosophischer Rationalität berührt. Im Horizont modernen Denkens werden Erkenntnis und Ethos, Diskurs und Leben strikt auseinandergehalten. Im Zentrum stehen nicht Bildungspraktiken, die auf eine Umformung des Selbst zielen, sondern Erkenntnisregeln, denen gefolgt werden soll, um in den Besitz gesicherten Wissens zu gelangen. Versteht man Diskursverfahren, etwa im Ausgang von Descartes, als reine Methoden, so muss die Wahrheitssuche ohne Rückwirkung auf Erkenntnissubjekte bleiben. 3 Die mit ihr verbundene ethische Transformation fällt als Gegenstand der erkenntnistheoretischen Reflexion aus. Die enormen Schwierigkeiten, vor die eine Ethik der Rede die Gegenwartsphilosophie stellt, lassen sich auch mit Blick auf die moderne Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit veranschaulichen: Wer sich ernsthaft damit auseinandersetzt, welche Lebensform diskursive Vollzüge jeweils zur Geltung bringen, spricht über etwas, das nach unserem Verständnis in den Bereich des Privaten fällt. Wo das Gebot der ethischen Neutralität gilt, ist bereits die Thematisierung der mit einer philosophischen Praxis verbundenen Existenzweise heikel, weil sie das Privatleben der Beteiligten berührt. Eine verstärkte Aufmerksamkeit für Habitusformen kann in eine Verletzung von Intimsphären münden. 4 Mit der Trennung von Logos und Ethos ist nicht nur ein bedauernswerter blinder Fleck, sondern auch eine Schutzfunktion verbunden, die verteidigenswert erscheint. In dieser Studie stand von Anfang an eine andere Schwierigkeit im Mittelpunkt, die noch in den Arbeiten von Hadot und Foucault spürbar wird: Zugrunde gelegt wurde, dass der Gedanke einer Redepraxis als Praxis gelingenden Lebens deswegen keinen Ort in der modernen Philosophie findet, weil diese darin eine Figur der Rhetorik erblickt, die sie traditionell aus ihren Denkmöglichkeiten ausschließt. Es hat sich gezeigt, warum diese Ausblendung der Macht der Rede letztlich auf eine Leugnung der ethischen Dimension des Diskurses Foucault spitzt dies einmal dahingehend zu, dass »die Neuzeit der Geschichte der Wahrheit in dem Augenblick beginnt, wo das, was den Zugang zur Wahrheit gewährt, die Erkenntnis und die Erkenntnis allein ist« (Hermeneutik des Subjekts, 35). 4 Wie persönlich eine Reflexion über Habitusformen ausfallen und welche konkrete Form sie annehmen kann, wo es um die akademische Welt geht, zeigt sich eindringlich bei Didier Eribon. Vgl. z. B. dessen Erinnerungen an Raymond Aron in Rückkehr nach Reims, 91–94, die wohl kaum zu dessen Lebzeiten hätten veröffentlicht werden können. 3

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hinausläuft. Indem die Philosophie ihren Logos als ein der Lebenswelt enthobenes, gleichsam immaterielles Geschehen verklärt, schneidet sie sich den reflexiven Zugang zu den Verhaltensweisen ab, die sie ihrer eigenen diskursiven Grundverfassung nach ständig zur Geltung bringt. Damit liegen die Haltungen, aus denen heraus jeweils ›philosophisch‹ gesprochen wird, in einem toten Winkel. Diese Untersuchung wollte in erster Linie Bausteine für eine Genealogie dieser Ausgrenzung liefern. Aber welche Bedeutung könnte der Gedanke der Redepraxis als Lebenspraxis nun angesichts der genannten Widerstände für das gegenwärtige Denken haben? Wie kann er für aktuelle Debatten fruchtbar werden? Generell war die Vermutung leitend, dass es ein blinder Fleck der modernen Philosophie ist, dass sie von vornherein nur Verfahren der Systematisierung oder Rationalisierung als Möglichkeiten der Diskursverfeinerung in Erwägung zieht, die Möglichkeit der Kultivierung aber außer Acht lässt. Die Studie wollte ein Bild davon zeichnen, wie eine philosophische Praxis aussehen kann, für die diese Option maßgeblich ist. Dabei ist nun aber auch deutlich geworden, wie tief die Widerstände gegen die Kultivierungsoption im modernen Denken verankert sind. Es ist kein Zufall, dass die Offenlegung dieser Option einige historische Arbeit erfordert. Doch würde man den Zweck einer Genealogie, wie sie diese Studie versucht hat, falsch verstehen, wenn man ihn darin sähe, das antike Denkmodell auf gegenwärtige Diskurse ›anzuwenden‹. Wenn hier abschließend die Frage nach dem Ort der Redekultur in der Gegenwart gestellt wird, so ist dies keine Frage nach den Möglichkeiten, neue ethische Sprachpraktiken zu installieren oder die gegebenen Diskursverfahren zu moralisieren. Es ging vielmehr um eine Veränderung der Optik, in der Redepraktiken gesehen werden. Welches Licht werfen die vorangegangenen Rekonstruktionen nun also auf die Diskurse der Gegenwartsphilosophie und der modernen Ethik? Zunächst ist offenbar klarer, inwiefern die heute übliche Weise, das Thema ›Sprache und Ethik‹ anzugehen, an einer Verengung leidet: Man sagt, dass es zu den großen Einsichten der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört, dass die menschliche Sprache nicht als System von Zeichen, sondern als Praxis zu begreifen ist. Es ist der ›Gebrauch‹ der Sprache, auf den man zu achten hat. Von hier aus ist es nicht weit zu der Einsicht, dass der Umgang mit Sprache von sich her ethische Fragen aufwirft; diese stellen sich nicht erst dort, wo ethischmoralische Probleme zu bewältigen sind. Jede sprachliche Äußerung 263 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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ist ein konkretes Verhalten mit wirklichen Konsequenzen und damit eine Handlung, die verantwortet werden will wie andere Handlungen auch. Doch schon diese kurze Charakterisierung erinnert daran, wie sehr die dominante Weise, das Sprachhandeln und seine ethischen Implikationen auszubuchstabieren, auf den Sprechakt als individuell zurechenbare Handlung fixiert ist. 5 Besonders gilt dies für Ansätze, die von der Sprechakttheorie in der Fassung John Searles ausgehen, wie es Jürgen Habermas in seiner Diskursethik tut. 6 Das Sprachhandeln ist hier das zielgerichtete Tun von Individuen, die auf der Basis von Konventionen und in hinreichend festgefügten sozialen Strukturen mit Sprachformen operieren. Damit wird der Raum der Ethik der Rede von vornherein in entscheidender Hinsicht eingeengt: Die Reflexion über den Zusammenhang von Sprache und Ethik legt von Anfang an eine intentionalistische Handlungstheorie zugrunde. 7 So kann kaum noch in den Blick kommen, dass Formen der Subjektivität, soziale Beziehungen und Weltverständnisse im Zuge von Diskursen geformt werden und dass die im Sprachgebrauch exemplifizierten Handlungsformen entscheidend dazu beitragen. Für diskursive Vollzüge ist es charakteristisch, dass sie die Struktur der Diskurspraxis, in der sie stattfinden, nicht unberührt lassen. Die Rede hat Wirksamkeit nicht nur insofern, als sie singuläre Effekte nach sich zieht, sondern auch in dem grundlegenderen Sinn, dass sie Lebensformen in Kraft setzt: Ein Sprechen kann an gewohnte Sprechweisen anknüpfen und sie bestätigen oder neue Formen erzeugen, es kann sich in Kontexte fügen oder mit ihnen brechen; es kann Wahrnehmungsmuster festigen oder in Frage stellen; sprachliche Äußerungen können Beziehungen stärken oder stören; sie können eine Person aufbauen oder angreifen. In jedem Sprachgebrauch zeigt sich ein Habitus, eine Haltung zur Welt, die sich zur Übernahme anbietet. Die abstrakte Von Zugängen der analytischen Metaethik, die das Thema ›Sprache und Ethik‹ auf die Semantik von Wertbegriffen begrenzen, sei hier ganz abgesehen. Die Debatte reicht von Moores Principia Ethica bis heute. Für einen Versuch, den semantischen Zugang unter den Prämissen eines pragmatisch gewendeten Sprachdenkens weiter zu verteidigen, vgl. Tugendhat, »Sprache und Ethik«. Der Autor hat diese revidierte Moralsemantik später nicht weiterverfolgt: vgl. die »Retraktationen« in ders., Probleme der Ethik, 132–176. 6 Vgl. Searle, Speech Acts, z. B. Kap. I 3–4 und II 7; für Habermas exemplarisch den Aufsatz »Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt«. 7 Zur Kritik dieses Ansatzes vgl. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, 54–68. 5

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Auffassung von Diskursen, die den Sinn einer Äußerung in ihren Gehalt verlegt, kann von diesem alltäglichen Umstand absehen, aber sie schafft ihn nicht aus der Welt. Die Gesamtform eines Diskurses ergibt sich nicht allein aus der Wahrheitsorientierung, die in diesem Diskurs verbindlich ist: Jede Diskurspraxis ist Resultat von Diskursen und Schauplatz weiterer Diskurse, kraft derer sie mit der Zeit weiter umgestaltet wird. Ohne Rücksicht auf diese formative Kraft der Rede bleiben Überlegungen zum Thema ›Sprache und Ethik‹ unvollständig. 8 Indem jedes Reden von seiner inneren Grundverfassung her auf Welt- und Selbstverständnisse, praktische Orientierungen und soziale Formationen hinwirkt, ist es eine Form der Lebensgestaltung. Darin liegt der Keim einer Verpflichtung, die für sprechakttheoretische Mittel unzugänglich bleibt. Was trägt nun die angesprochene Veränderung der Optik, durch die diese ethische Tiefendimension der Rede sichtbar wird, in dieser Sache aus? Natürlich geht es hier nicht darum, die alten diskursiven Übungspraktiken und überkommene Vorstellungen des guten Redners wieder neu aufzulegen. Doch erlaubt das Bewusstsein der historischen Weichenstellungen, die zur Trennung von Rede und Leben geführt haben, eine bestimmte Form der Kritik: Es versetzt in die Lage, die vertrauten Diskurspraktiken daraufhin zu befragen, welche Lebensweisen durch sie angebahnt werden und auf welches Ethos sie hinwirken. Im Zuge der Überlegungen zum Begriff der Übung (askēsis) wurde vorgeschlagen, dieVon der Sache her sind diese Themen dem modernen Sprachdenken natürlich nicht fremd: Die konstruktive Kraft der Sprache kann Weltauffassungen transformieren, Erfahrung neu organisieren und die Wahrnehmung bahnen. Wo sie darin erfolgreich war, sieht es, wie Merleau-Ponty ausführt, so aus, als hätte es nie eine andere Welt gegeben (Die Prosa der Welt, 33–38). Ebenso können aus Diskurspraktiken bestimmte Formen des Zusammenlebens erwachsen; intersubjektive Beziehungen können im Zuge sprachlicher Geschehnisse neue Gestalt annehmen. Auf verstörende Weise wird dies dort deutlich, wo ein Sprechen deformierend oder verletzend wirkt, wie es Judith Butler z. B. in Excitable Speech heraushebt. Schließlich verwandelt sich auch die redende Person selbst, indem sie sich in Formen des Sinns einübt: Ein Diskursverhalten zu habitualisieren heißt, die eigene Person zu formen. Der Diskurs ist Schauplatz der Bildung eines Selbst. Hierher gehört der früher schon zitierte Satz von Arendt, dass es ein »[w]ortloses Handeln« nicht gibt, »weil es ein Handeln ohne Handelnden wäre« (Vita Activa, 168). Auch die philosophische Auseinandersetzung mit Sprache kann sinnvoll als »Arbeit an Einem Selbst« begriffen werden, wie der späte Wittgenstein seine Arbeit einmal kennzeichnet (Vermischte Bemerkungen, 472). Indem geredet wird, transformieren sich die Verhältnisse zur Welt, zu den Anderen und zum Selbst, auf denen die weiteren Lebensvollzüge jeweils beruhen.

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sen als Begriff der Perspektive, nicht der Beschreibung zu verstehen: Die Frage ist nicht, ob wir üben oder nicht, sondern wie aufmerksam wir für das Moment der Habitualisierung sind und ob wir es in den Horizont einer Ethik stellen wollen oder nicht. Dieser Gedanke hat allgemeinere Geltung: Nicht ob die Diskurse der Gegenwartsphilosophie wirklich Kultivierungspraktiken sind, sondern wie sie sich mit Gewinn so verstehen lassen, ist die entscheidende Frage. Es gibt keine Philosophiekonzepte ohne Bildungsideale. Redeweisen exemplifizieren immer auch Lebensweisen, und wo sie eingeübt werden, hängen sie mit Weisen der Lebensgestaltung zusammen. Der Unterschied liegt darin, was man bereit ist, zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Wie die antike Ethik die moderne Moralphilosophie daran erinnert hat, dass die Moral immer in eine Lebenspraxis eingebettet bleibt und nicht von Fragen des guten Lebens abgelöst werden kann, so kann die diskursive Kultur der antiken Ethik uns vielleicht daran erinnern, dass auch Diskurse in Lebenspraktiken verankert und mit Vorstellungen des guten Lebens verbunden sind. Zwar ist es keine neue Einsicht, dass sich hinter einer bestimmten Form der Argumentation ein partikulares Ethos verbergen kann. Die antike Redekultur liefert aber konkretes Anschauungsmaterial, wie es aussehen kann, wenn die Philosophie die immanente ethische Verfasstheit und die Wirkweisen von Redeweisen zu ihrem Zuständigkeitsbereich zählt. Sie liefert auch konkrete Gesichtspunkte, auf die zu achten ist, wenn man sich vergegenwärtigen will, wie philosophische Rationalitätsansprüche in diskursiven Praxisformen verankert sind: Es ist kein abstrakter Logos, der das Fundament von Erkenntnis bildet. Am Grunde philosophischer Einsicht liegen vielmehr die täglich wiederholten Redeverfahren, die allmählich Habitusformen hervorbringen, die fein nuancierten Weisen, wie in einem Diskurs gehört, gelesen, geschrieben und gesprochen wird, die Sensibilität für jeweilige Autoritäten und Paradigmen, komplexe Prozesse der Wiederverkörperung und subtile Wechselwirkungen zwischen den Rede- und Lebensweisen von wirklichen Personen. Der Wahrheitsbegriff hat angesichts dieser Gegebenheiten, die den eigentlichen konkreten Grund philosophischer Rationalität ausmachen, nicht nur eine Sachdimension. Er hat immer auch ethischen Sinn. Die antike Philosophie zeigt, dass es durchaus eine Option für eine Wahrheitspraxis ist, dieses Moment mitzureflektieren. Sobald Diskurse als Bildungsgeschehen begriffen werden, kann an die Stelle des abstrakten Logos die Aufmerksamkeit 266 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

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für eine soziale Praxis treten, in der die Beteiligten auf bestimmte Weise miteinander umgehen. Es wird greifbar, dass die formative Potenz der Rede auch im philosophischen Diskurs selbst am Werk ist, so dass es einiger Sorgfalt in ihrem Gebrauch bedarf: Was als wahr gelten wird, bleibt immer abhängig von dem Grad der Bereitschaft des Zuhörens, von der Fähigkeit, die eigene Rede zu unterbrechen und das Gründegeben zurückzustellen, von der Auswahl und Sorgfalt der Lektüre, von der Form ganz alltäglicher Schreibprozesse oder von den scheinbar selbstverständlichen Weisen, wie wir Gespräche führen. Diese diskursive Ökonomie hat für Erkenntnispraktiken fundamentale Bedeutung. Während ihre Ausblendung zur unreflektierten Favorisierung von bestimmen Habitusformen führt, erlaubt die Sensibilität für sie einen kritischen Umgang mit ihr. Darin dürfte die antike Perspektive der Redepraxis als Lebenspraxis ihr Potential für die philosophische Reflexion der Gegenwart haben: Jeder Diskurs ist gleichzeitig diskursive Kultur; und um diese muss man sich kümmern. Ist der philosophische Logos konkret, dann braucht er eine ganz andere Art der Zuwendung. Eine Redepraxis, die für die Lebenspraxis, die sie selbst verkörpert, blind bleibt und die ihr eingeschriebene ethische Konstitution sich selbst überlässt, wird auf Dauer ihre Überzeugungskraft verlieren.

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Verwendete Abkürzungen

Ag. Ai. Alk. I Alkest. Alkid. Ant. Apol. Art. Batr. Char. Charm. De or. Diatr. DK DL Elek. Ench. Enk. Ep. VII Erg. Eum. Euth. Flat. Gorg. Hdt. Hik. Hipp. I Hipp. II Il. Inst. Lach. Luc. M. Aur. Math. Mem. Men. Mor.

Aischylos, Agamemnon Sophokles, Aias Platon, Alkibiades I Euripides, Alkestis Alkidamas, Peri tōn tous graptous logous graphontōn Sophokles, Antigone Platon, Apologie des Sokrates [Hippokrates], De arte Aristophanes, Die Frösche (Batrachoi) Theophrast, Charakteres ēthikoi Platon, Charmides Cicero, De oratore Epiktet, Diatriben Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker Diogenes Laertius, Vitae Philosophorum Sophokles, Elektra Epiktet, Encheiridion Gorgias, Enkomion der Helena [Platon], Siebter Brief Hesiod, Werke und Tage Aischylos, Eumeniden Platon, Euthydemos [Hippokrates], De flatibus Platon, Gorgias Herodot, Historien Aischylos, Die Schutzflehenden (Hiketides) Platon, Hippias Major Platon, Hippias Minor Homer, Ilias Quintilian, Institutiones oratoriae Platon, Laches Seneca, Ad Lucilium Epistulae Morales Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (Ta eis heauton) Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos Xenophon, Memorabilia Platon, Menon Plutarch, Moralia

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Verwendete Abkürzungen Mus. MXG NE Nem. Neph. Noct. att. Od. Oid. R. Ol. Or. Pal. Phaid. Phdr. Philok. Pol. Polit. Prom. Prot. Pyth. Rhet. Soph. SVF Symp. Tht. Thu. Tro. Vat. Vet. Vict. Vit. Pyth. Vit. soph.

Musonius, Diatriben [Aristoteles], De Melisso Xenophane Gorgia Aristoteles, Nikomachische Ethik Pindar, Nemeische Oden Aristophanes, Die Wolken (Nephelai) Aulus Gellius, Noctes Atticae Homer, Odyssee Sophokles, Ödipus Rex Pindar, Olympische Oden Isokrates, Orationes Gorgias, Palamedes Platon, Phaidon Platon, Phaidros Sophokles, Philoktetes Platon, Politeia Platon, Politikos Aischylos, Der gefesselte Prometheus Platon, Protagoras Pindar, Pythische Oden Aristoteles, Rhetorik Platon, Sophistes von Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta Platon, Symposion Platon, Theaitetos Thukydides, Der Peleponnesische Krieg Euripides, Die Troerinnen Epikur, Gnomologium Vaticanum [Hippokrates], De vetere medicina [Hippokrates], De victu acutorum Iamblichos, Vita Pythagorae Philostrat, Leben der Sophisten

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Literaturverzeichnis

Antike Quellentexte werden in eigener Übersetzung zitiert. Die unten aufgeführten Ausgaben wurden als Orientierung herangezogen; bei längeren wörtlichen Übernahmen ist der Übersetzer angegeben. Um die Studie allgemein zugänglich zu halten, werden griechische Begrifflichkeiten in der Regel latinisiert wiedergegeben. Längere Zitierungen bleiben untranskribiert, um die grammatischen Verhältnisse durchschaubar zu halten.

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281 https://doi.org/10.5771/9783495820872 .

Namenregister

Aufgeführt werden ausschließlich Namen aus den antiken Quellentexten. Bloße Nennungen von Werktiteln (z. B. Platons Gorgias) bleiben unberücksichtigt. Achilles 58 Admetos 78 Agamemnon 58, 72 Aischines von Sphettos 251 Aischylos 26, 53, 59–60, 62–66, 71, 76–77, 88, 236 Alkidamas 142, 252 Anonymus Iamblichi 50–51 Antigone 88 Antiphon 42, 47–48, 50, 84, 90, 97, 106, 124 Antisthenes 251, 255 Apollodoros 256 Aristippos 113, 119 Aristophanes 26, 59, 62, 71, 76–77, 102, 108 Aristoteles 25, 41, 50, 77, 97, 102, 109, 140, 146–147, 191, 194, 196– 199, 217, 230 Arkesilaos 84 Artabanos 66 Artemesia 72 Athene 71 Chrysippos 233 Cicero, Marcus Tullius 47, 51, 55, 246, 258 Corax 39 Demokrit 19, 44, 76–77, 80, 89, 112 Demonikus 228 Demosthenes 233 Diodotos 64, 68

Diogenes Laertius 84, 87, 98, 106, 202, 216, 228, 231 Diogenes von Sinope 207, 252 Diomedes 72 Dionysodoros 85 Diotima 256 Elektra 68, 77–78 Empedokles 89, 127, 139, 142 Epicharm 113 Epiktet 200, 202–204, 213, 215, 217, 222, 228, 230, 232–233, 237, 246, 254, 258 Epikur 190, 201–202, 209, 214, 222, 242–243, 245, 261 Epimetheus 114, 121 Euripides 63, 66, 71, 74, 78, 80, 86, 137, 152, 236 Euthydemos 85 Gellius, Aulus 230, 235–236 Gorgias (Platon) 21, 29–30, 38, 161– 162, 164, 166–170, 172, 174–182, 184–185, 189, 238, 254–255 Gorgias von Leontinoi 20–21, 42–44, 55, 78, 82, 84, 88, 97, 104, 106, 122, 124–151, 153, 155–160, 162–163, 168–169, 177–178, 183, 187, 195– 196, 210 Hegesias 252 Hekabe 75 Helena (Euripides) 74, 80, 137, 152

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Namenregister Helena (Gorgias) 20, 124, 127, 132– 134, 137, 139–140, 143, 149, 151, 154, 162, 177 Hephaistos 62 Herakles (Prodikos) 20, 83–84, 112– 119, 124 Heraklit 25, 76, 101, 226 Herodot 18, 44, 59–65, 69–70, 77 Hesiod 76, 113, 117, 119, 121, 123, 230 Hippias (Platon) 85 Hippokrates/Hippokraten 20, 44, 77, 79, 83, 88–92, 94–96, 103, 106, 109, 111, 123, 127, 142 Homer 29, 56, 58–59, 76, 115, 135, 170 Iamblichos 235 Isokrates 55, 136, 154, 188, 194–197, 211, 228, 242 Kallikles 29, 166, 169, 172, 174, 178– 179, 181, 185–186 Kambyses 65 Kleanthes von Assos 213, 216–217, 231, 254 Kleoboulos 229 Kleon 64, 68, 78, 229 Klytaimnestra 237 Kriton 229 Kroisos 65, 72 Lysimachos 175 Marc Aurel 203, 222, 244, 247, 250, 252–253 Mardonios 64 Menedemos 214 Menelaos 74–75 Musonius Rufus 215, 231, 234

Palamedes 75, 132, 134, 154–155, 158, 160 Parmenides 25, 106, 127, 129–130, 144 Pausanias 136 Periandros 51 Perikles 44, 46, 68, 97, 100 Phaidros 221 Philon von Alexandria 238 Philostratos 37 Pindar 26, 53, 76, 88, 135, 139, 149– 151, 155 Platon 20–21, 30, 32, 36, 38, 40–41, 44, 48, 50–51, 55, 57–58, 75, 82–86, 88, 90, 97, 99, 101–102, 105, 107– 109, 112, 119, 121, 123, 133, 135– 137, 142, 146, 161–165, 167–168, 170–172, 174, 177, 179, 181, 183– 184, 186–189, 191, 194, 196, 200, 217–218, 220, 222, 226, 228–229, 238, 244, 251, 254, 256–258 Plutarch 97, 202, 204–205, 216, 228– 229, 231, 233–235, 237–238, 240– 241, 244 Polos 166, 177, 179–180 Polydamidas 100 Poseidonios 210 Prodikos von Keos 20, 42, 82–84, 97– 98, 112–117, 119–120, 123 Prometheus 87, 93, 114, 121, 135, 161 Protagoras (Platon) 51, 83, 90, 107, 119, 121–123, 226–227 Protagoras von Abdera 17, 20, 42, 44, 48, 51, 57, 63, 82–83, 87, 90, 94, 97–112, 119, 123–124, 149, 157, 162 Pyrrhon von Elis 255, 257, 259 Pythagoras 140, 230, 232, 235–236, 261 Quintilian, Marcus Fabius 51, 246

Nestor 72 Nikias 175 Ödipus 67 Odysseus 72 Orestes 59–60, 71, 236

Sandanis 72 Seneca, Lucius Annaeus 202–204, 208, 213, 215–217, 231–233, 235, 237, 242, 244–246, 248, 252–253, 255, 258–259

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Namenregister Sextus Empiricus 101, 104, 107, 129, 138, 144, 190 Sokrates 14, 16–17, 21, 29, 36, 38, 40, 43–44, 47–48, 51, 69, 73, 75, 81, 85–88, 90, 96–97, 103, 107, 109– 110, 112–114, 117, 119, 121, 123, 129, 136–137, 160–170, 172–185, 187–189, 196–197, 200, 202–203, 208, 213–214, 217, 220, 226–227, 238, 254–256, 274 Sophokles 19, 44, 53, 67–68, 76–80, 230 Strepsiades 63

Teiresias 67 Teisias 39 Theophrast 229 Thersites 72 Thrasymachos 80 Thukydides 18, 44, 46, 59–60, 62, 64– 65, 67–68, 70, 73, 77–78, 100, 105, 229 Timycha 235 Xenokrates 237 Xenophon 48, 77, 112–113, 120, 123, 177, 251, 256 Xerxes 61, 66 Zenon von Kition 190, 216–217, 228– 230, 235, 237, 243, 249

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Begriffsregister

Das Verzeichnis beschränkt sich auf thematisch relevante altsprachliche Begriffe, die in den antiken Bezugstexten vorkommen. Abgeleitete eigene Gebräuche wie ›Logos‹ oder ›Ethos‹ sind nicht aufgenommen. Griechische Ausdrücke sind kursiviert, lateinische in Regularschrift aufgeführt. agathon 50, 64, 73, 118, 122, 214 agōn 18, 55, 63, 104–105 agōn logōn 59, 86 aidōs 121 aischros 79–80, 124, 167 aisthēsis 95, 107, 109–111, 138 aisthēsis tou sōmatos 94, 96, 106, 109 akoē 173, 229 akolasia 169, 180 akolaston 70 akosmia 134, 151, 154 akouein 62, 139, 214, 228, 230, 235 –, kalōs, orthōs 228, 235 –, tribē tou akouein 228, 230, 233 –, und legein 226–228 akoustikoi 235–237 akribeia 95, 110 akribes 94, 109, 226 alētheia 15, 21, 47, 64, 117, 125–126, 128–129, 134, 148, 150–157, 159– 161, 178, 183–184, 195 alēthinos bios 201 alēthēs 107, 152–153, 161, 178 ameinōn 64, 66, 104 anagignōskein 214, 241, 246 anagnōsis 241 animus 215, 252 anthrōpos 50, 55, 95, 105–107, 111 antilegein 19, 58, 62, 64–68, 73, 86, 99 antilogia 62 antilogikē 20, 57–58, 82–88

antilogikoi 196 archē 50, 95, 158, 228 –, paideuseōs 234 –, philosophias 230 –, tou kalōs biōnai 228 aretē 14, 17, 49, 55, 98, 103, 105, 107, 113–114, 121–123, 134, 136, 149– 151, 155, 157, 159, 184, 195, 214, 218, 239 aretē logikē 218 askein 29, 55, 117, 162, 184 askēsis 14, 22, 51, 110, 123, 125, 195, 202–203, 207–208, 210, 215, 265 askēsis alēthinē 252 atimia 75, 154 audire 215, 235, 255 basaniein 170, 232 basanos 179 bia 82, 137 bios 30, 48, 50, 106, 114, 119, 215 boētheia 221 chreia 108–109, 161, 175, 216 chrēmata 107–108 chrēsimon 64, 123, 234, 245 chrēsthai 108, 231 chrēstos 64, 66, 255, 257 convictus 259 deinon 19, 80, 88, 135, 252 deixai, epideixai 29, 77, 146, 152, 230

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Begriffsregister dialektikē 84–85, 87, 190, 216, 218, 258 dialexis 241 dialogismos 209 dialogos 257 dianoia 242, 257 dicere 208, 252 dicere verum 255 dictare 215 didaskalia 51 didaskalos 26, 48, 87 dihairēsis 113 dikē 64, 73, 113, 121, 169 dikaion 64–65, 74, 149, 152, 154, 161, 176 dikaiosynē 47, 121, 169, 195 dēmos 61, 70, 100 dogmata 244, 253 doxa 129, 134, 141 dynamis 136, 175, 191, 218 dynastēs megas 127, 138, 142 dyskleia 137 echemythein 235 echemythia 235–236 einai, to on 94, 107, 129–130 ekklēsia 60, 62 elenchein 71, 85, 87, 137, 154, 170, 177–178, 180, 232 elenchos 170–172, 178 empeiria 96, 136, 183, 230, 256 emphanizein 147, 198 epilegein 214, 240, 253 epimeleia 117, 123 epimeleisthai 123, 170, 184, 215 epistēmē 51, 109–110 epos 60, 72, 76, 80 ergon 29, 76, 113, 118, 127, 134, 151, 215, 218, 232 eristikē 57–58, 84–87, 102, 165 erōs 137–138, 140–141, 188 ethizein 244 euboulia 51, 64, 66, 68, 98, 105, 107 eudaimōn 167 eudaimonia 117–118 eugeneia 136 euphrosynē 113, 117–118

exemplum 259 exercere 215 exercitatio 51 favere 231 gennaios 50, 79 glōttēs kratein 236 gnōmē 64, 66, 94 graphē 220 graphein 128, 134, 141, 214, 246 graphikē 95 gymnasion 216, 241 gymnazeisthai 117, 214–215 hamartēma, hamartia 134–135, 151 harmonia 122, 172 hodos 114 homologein 177, 179, 186 homologia 185 horan 140 hybris 70, 113, 188 hymnos 140 hypothesis 92 iatrikē 88–89, 91–95, 111 kairos 114, 154, 214, 242 kakos 79, 88 kallos 134, 151 kalos, kalōs 50, 80, 118, 124, 167, 181, 215 kolasis 169 kolazesthai 180 kosmos 19, 126, 134, 151, 153, 156, 159, 173, 178 kratein 63–64, 67 kritērion tēs alētheias 104, 129 kritēs 74, 107–108 kybernēsis 244 lalia 229 lectio 244 legein –, eu legein 76, 181, 195 –, und prattein 19, 75–77, 81, 123, 155, 199

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Begriffsregister lexis 233 logika 210 logikos 233 logismos 137, 141 logos 12, 43, 195, 208–209, 257 –, Argument 12, 102, 210 –, Handlungsmacht 77, 127, 137– 138, 142, 145, 148 –, kosmos logō alētheia 134, 151 –, logōn paideia 55, 99, 103, 136, 195 –, logon askein 19, 80 –, logon didonai 36, 69, 174–175, 182 –, logon plattein 141, 152 –, logous poieisthai 14, 214, 246 –, Materialität 138–139, 144–146, 172, 216, 234 –, Medialität 139–142, 213, 220 –, starker, schwacher 63, 82, 99, 101– 105, 111, 119–120 –, und ergon 68–69, 76–79 –, und Person 79, 174, 180, 195, 220 –, Wirksamkeit 90, 104, 124, 140– 143, 156, 161 –, zwei logoi 57, 61, 66, 71, 86, 99– 101, 115 –, Zwiespältigkeit 128, 161–162, 184, 233–234 loqui 204, 213, 215, 255 lēthē 159, 220, 256 mania 188 martyra 155, 176, 226 mathēmatikos 236 mē on 129–130 mēchanē 88, 136, 256 meditatio 211 meletē 51, 114, 123, 136, 138 meletan 214, 255–256 metabolē 90, 104, 110 metrein 109 metron 83, 94, 105–109, 114, 139 mimeisthai 242 myria 95, 101, 110, 123 mythos 29, 76, 121, 149, 199 nikan 63, 65 nomos 46–47, 149, 155

nouthetein 65, 178 oneidos 154 onomata 179 onomatōn orthotēs 98, 112–113, 118 ōphelia 231 ōphelimos 64, 234 opsis 140, 173, 199 organon 215, 240 orthoepeia 98 orthotēs 157 paideia 27, 49–50, 55, 90, 104, 110, 115, 124, 199 paideusis 50, 234 paradeigma 242 parrhēsia 15, 65, 192 pathētikos 233 peithō 52, 82, 128, 141, 143, 160–162, 181, 185, 234 peithein 55, 62, 73, 127, 161, 181, 195 pharmakon 90, 104, 142–143, 161 philēkoia 229 philēkoos 229 philosophia 29, 39, 162, 196 phōnē 214, 216, 234, 257 physiognomein 230 physis 46–47, 49, 51, 95, 115, 117, 142, 232 pithanon 164, 176, 191, 198 poiein 76, 155, 204, 217 polis 46, 49, 89, 134, 151, 195 polylalos 229 praecepta 258–259 pragma 61, 66, 85, 99–100, 134, 151, 184 pragmata 106–107, 110, 131, 199 procheiron 213, 248 pros ti 95, 101, 111 pros to pragma 163, 186 pseudos 53 psychē 55, 89, 127, 134, 139, 141– 142, 173, 215, 257 rhētoreia 195 rhētorikē 29, 31–33, 37–39, 57, 133, 162, 164, 166, 175, 190

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Begriffsregister rhētōr 29, 33 rhythmos 122 scire 252 scribere 235 sermo 217, 246, 258 sigan 19, 155, 237 silentium 234–235 siōpan 217, 237 sōma 89, 127, 139, 142, 215–216, 242 sophia 89, 134, 136, 150–151 sophos 26, 149 sōphrosynē 169–170, 187–188 syllogismos 233 synaisthēsis 230 syneinai 117, 184, 259 syzēn 184, 259 tacere 231, 235 taxis 142, 173

technē 20, 31–32, 38–39, 51, 57, 87– 89, 91–93, 95–97, 111, 128, 132– 136, 161, 195–196, 256 technē tōn logōn 38, 96, 133 therapeuein 90, 95, 117, 123 ōthismos logōn 63 ēthos 15, 19, 114, 149, 155, 234, 251 timē 75 tribē 96, 136, 183–184 tychē 93 verba 234, 253 veritas 208 virtus 208 vita 217 vivere 204, 213 vox 233, 253, 259 zēn 29, 184

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