Rechtstext und Textarbeit [1 ed.] 9783428491322, 9783428091324


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Rechtstext und Textarbeit [1 ed.]
 9783428491322, 9783428091324

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MÜLLER / CHRISTENSEN / SOKOLOWSKI Rechtstext und Textarbeit

Schriften zur Rechtstheorie Heft 179

Rechtstext und Textarbeit Von Friedrich Müller Ralph Christensen Michael Sokolowski

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Friedrich: Rechtstext und Textarbeit / von Friedrich Müller ; Ralph Christensen ; Michael Sokolowski. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 179) ISBN 3-428-09132-9

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09132-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Zum Gedenken an Bernd Jeand \Heur 1956-1997

HERAKLIT ΚΑΙ ΔΙΚΗ ΕΡΙΝ UND IST RECHT STREIT

Vorwort Was geschieht tatsächlich, wenn Juristen einen Rechtsfall entscheiden? Für den als Theorie schon lange nicht mehr haltbaren Positivismus ist die Antwort nicht schwer: Was im Gesetzbuch steht, sind schon die Normen. Ihr Inhalt ist als sprachliche Bedeutung objektiv erkennbar. Der Jurist legt die gesetzlichen Formeln aus, erkennt so die Bedeutung des Gesetzes für den gegebenen Fall und wendet es auf diesen an. Die Subsumtion ist dann gerechtfertigt, wenn er sie kognitiv richtig vollführt. Die Brücke zwischen der Geltung der Vorschrift und der Legitimität juristischen Entscheiden wird also von der Bedeutung gebildet; von der des Rechtstextes, der als Norm schon im Gesetzbuch steht. Für Anwendungsschlüsse solcher Art erübrigen sich Begriffe wie „Textarbeit. Die Sprache des Rechts - eine von fachsprachlichen Elementen durchsetzte natürliche Sprache - ist durch solche Erwartungen jedoch überfordert. Traditionelle Juristen achten nicht auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit natürlicher Sprache, zu sehr ist ihre unterstellte Sprachtheorie vom Bedürfnis nach Legitimierung bestimmt. So sehen sie nicht, daß nicht schon Gesetze die Gesetzbücher anfüllen. Was dort steht, sind nur Textformulare für später zu erzeugende Normen; sind nur „Normtexte" als nicht-normative Vorformen dessen, was dann einen bestimmten Konfliktfall auf bestimmte Weise verbindlich entscheiden wird: Vorform der Rechtsnormen. Diese können nur im Fall erarbeitet werden; im Rahmen eben des realen Falles, der sie überhaupt provoziert und den sie regeln sollen. Wenn es etwas gibt, das - zusätzlich zum avancierten Stand der wissenschaftlichen Debatte - geradezu dazu nötigt, das rechtstheoretisch/rechtsmethodische Paradigma zu wechseln, dann ist es das endlich zu leistende Eingehen auf Sprache: auf das, was natürliche Sprache nicht können kann und auf das, was sie wirklich kann.

8

Vorwort

Juristisches Entscheiden ist in all seinen Aspekten - auch in den vorgeblich „rein kognitiven" - Handeln; Handeln zudem, das auf Gewalt aufruht, das Gewalt umwandelt und das sie ausübt. Es erscheint nicht als austauschbar, nicht nur als Redensart, wenn das deutsche Grundgesetz von „Staatsgewalt", von vollziehender und rechtsprechender „Gewalt" spricht. Demgegenüber sind Terme wie „Macht" euphemistisch. Die in einem Staatsapparatriesig angehäufte Gewalt muß erst einmal domestiziert werden, und das immer wieder; sie ist nicht etwa durch ein ursprüngliches Berufen auf „verfassunggebende Gewalt des Volkes" und durch die rituelle Gestik, Legitimität global zu beschwören, ein für alle Mal aus „roher" Gewalt in wohltätige „Macht" transubstantiiert. In jedem rechtlich zu lösenden Fall eines sozialen Konflikts, der als solcher ein Potential an Gewalt in Bewegung setzt, ist nicht nur diese, sondern zugleich auch die des sich einmischenden Staates erneut zu domestizieren1: durch rechtsstaatliche Arbeit demokratischer Juristen. Deren Tim ist - erzwungen durch das, was natürliche Sprache nicht kann - notwendig eine semantische Praxis, ist Semantisierungsarbeit; ist Arbeit nicht nur mit, sondern an Begriffen, nicht nur mit Hilfe von Sprache, sondern mitten in ihr; nicht nur Arbeit über Texte (travail sur des textes), sondern unmittelbare Textarbeit (travail de textes).2 Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs ist der Normtext; zu Beginn dieser juristischen Textarbeit kann er nicht schon Bedeutung („Normativität") haben, sondern erst Geltung. Normativität fur den Fall, der zu regeln ist, kann dem juristischen Handeln nicht vorgeordnet sein; sie ist dessen Ergebnis. Es gibt keine lex ante casum. Geltung der legislatorischen Vorschrift, Bedeutung der zu entwickelnden Rechtsnorm und die Rechtfertigung des entscheidenden Juristen sind gesonderte Probleme; sie sollten demgemäß abgeschichtet und einzeln untersucht werden. Rechtsentscheidung ist Erzeugung von Rechtsnormen. Diese werden nicht im Gesetzbuch „gefunden"; auch nicht nur, als präexistente, auf den Einzelfall hin verengt, „individualisiert". Sie werden produziert. Der Richter ist Konstrukteur der Rechtsnorm, nicht Mund des Gesetzes. Er ist es, der spricht, nicht die Kodifikation. Er ist es, der entscheidet; und nicht der Normtext, der das Ergebnis der Vorarbeit in der Legislative gewesen war. Es muß auch so 1

In einem Staat wie dem des Grundgesetzes, der sich, um sich zu legitimieren, auf das Volk beruft, sollte der Satzfehler „demostizieren" stehen bleiben dürfen. 2

Dazu Jouanjan , Présentation du Traducteur, in: F. Müller, ; Discours de la Méthode Juridique, 1996, S. 5 ff, 20.

Vorwort

sein: anders könnte die stets latente, mit dem Konflikt aufgebrochenene und durch die im Verfahren hinzukommende staatliche nur noch verstärkte Gewalt nicht rechtsstaatlich gefaltet werden - bestimmt nicht durch einen stummen Tatbestandstext, den man beim Blättern im Gesetzbuch aufstöbert. Die Entscheidung, die zur Erzeugung von normativem Recht nötigt, spielt sich ab als semantischer Kampf um die Bedeutung der Vorschrift für den Konflikt - wie gesagt, eine nicht zufindende, sondern zu schaffende Bedeutung. Da dieser Vorgang produktiv ist, sollte es nicht verwundern, daß er nie dem Magnetfeld der Gewalt entkommt. Der Gang vom Normtext zum Text der Rechtsnorm ist zugleich der Weg, den die ursprüngliche Gewalt des Konflikts durch die Sprache zu nehmen hat. Dabei enthält Sprache selbst schon Gewalt, ist ferner überformt durch Gewaltverhältnisse und übt schließlich - als Ergebnis einer Arbeit mit Texten in der staatlichen Institution - selber Gewalt aus. Diesen Vorgängen gilt hier eine insistente Analyse des semantischen Kampfes, als der sich das gerichtliche Streitverfahren herausstellt, sowie eine linguistische und rechtstheoretische Untersuchung dazu, wie sich die Entscheidung in die rechtsstaatliche Textstruktur einschreibt. Einige Elemente dieser Vorgänge werden abschließend in sorgfältiger Darstellung und Kritik einer Serie kontroverser obergerichtlicher Urteile aus dem Verwaltungsrecht exemplifiziert. Diesseits der schrecklichen Vereinfachungen des Positivismus, der Resignation der Reinen Rechtslehre, der theoriefeindlichen Ubersteigerungen des Dezisionismus und jenseits der auf dem Markt befindlichen antipositivistischen Halbheiten wird - mit Blick auf allmählich auszuformulierende Theorie - induktiv die Realität der alltäglichen semantischen Kämpfe im Sprachspiel „Recht" untersucht; wird verfolgt, was in dem alles durchdringenden Medium der Sprache mit Rechtstext und Textaibeit tatsächlich geschieht, wenn eine Rechtsordnung in Tätigkeit ist, wenn sie „funktioniert". Heidelberg, im April 1997

Friedrich Müller

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang liegt mitten in den Texten L

15

Rechtstext: Der Rechtstext ist nicht Behälter der Rechtsnorm, sondern Durchzugsgebiet konkurrierender Interpretationen

19

1. Für den Positivismus bildet die objektivierbare Bedeutung die Brücke zwischen der Geltung des Gesetzes und der Rechtfertigung juristischen Handelns

19

1.1 Der Normtext repräsentiert die Rechtsnorm 1.2 1.3

19

Die juristische Textarbeit wird auf einen Erkenntnisvorgang eingeschränkt

21

Der Richter ist gerechtfertigt, soweit er die im Text verlorene Präsenz der Rechtsnorm wiederherstellt

22

2. Die sprachliche Bedeutung ist mit dieser Rolle überfordert 2.1

22

Die Sprachtheorie der Juristen ist von Legitimationsbedürfnissen bestimmt

22

Die sprachliche Ordnung kann die Erwartungen der Juristen nicht erfüllen

25

Legitimation ergibt sich nicht aus der Sprachtheorie, sondern allenfalls in der Sprachpraxis

26

3. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung sind als Probleme voneinander zu trennen

29

2.2 2.3

3.1

Die sprachliche Bedeutung ist dem juristischen Handeln vorgeordnet

nicht 30

3.2

Das juristische Handeln ist eine semantische Praxis

31

3.3

Der Normtext hat am Beginn juristischer Textarbeit nicht schon Bedeutung, sondern nur Geltung

32

Π. Textarbeit: Der Richter ist nicht der Mund des Gesetzes, sondern Konstrukteur der Rechtsnorm

37

1. Die Praxis der Rechtserzeugung hat ihren Sinn in der Semantik des Kampfs um die Bedeutung des Gesetzes

38

Inhaltsverzeichnis

12

1.1 Der Richter trifft auf die ursprüngliche Gewalt des Konflikts und kommt für eine Rechtsfindung zu spät 1.2

39

Der Richter zwingt den Konflikt in die Sprache und wendet ihn zu einem Kampf ums Recht

55

Der semantische Kampf um die Bedeutung des Gesetzestextes ist symbolische Gewalt und bringt das Recht zur Sprache

59

2. Das Gesetz ist nicht Gegenstand einer Rechtserkenntnis, sondern Arena für den Kampf um das Recht im Raum der Sprache

68

1.3

2.1

In der semantischen Praxis sind Sprache und Sprecher intern relationiert

69

Zwischen Normtext als Textformular und Rechtsnorm als Textbedeutung liegt das juristische Handeln als semantische Praxis

72

Die Bedeutung des Nonntextes wird nicht mechanisch angewendet oder frei erfunden, sondern durchgesetzt

74

3. Der Gang vom Normtext zum Text der Rechtsnorm ist der Weg, den die Gewalt durch die Sprache nimmt

76

2.2 2.3

3.1 3.2

Grund und Grundlage der Rechtserzeugung Sprache

ist die Gewalt der 77

Um des Rechts Herr zu werden, übt der Richter Gewalt über Text und Fall und gibt damit das Gesetz

80

Mit seinem Urteil schneidet der Richter das Wort zum Konflikt ab...

94

HL Die Textstruktur des Rechtsstaats: Von der Verleugnung zur Teilung und Kontrollerichterlicher Gewalt

99

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache begründet die Hoffnung auf das Recht

99

3.3

1.1

Die Gerechtigkeit kann die Gewalt nicht in einen Metacode einbinden 100

1.2

Die Wahrheit der Rechtsbehauptung hebt die Gewalt nicht auf.

1.3

Trotz seines Entscheidungscharakters ist das Recht mehr als reine Gewalt 112

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

104

116

2.1

Zurechnungstext ist der Normtext als „geltende" Zeichenkette

118

2.2

Der Rechtfertigungstext muß den Zusammenhang von Geltung und Bedeutung begründen 121

2.3

Der Anordnungstext wird mittels des Rechtfertigungszwangs in die rechtsstaatliche Textstruktur eingeschrieben 125

Inhaltsverzeichnis 3. Die richterliche Gewalt wird der Teilung und Kontrolle unterworfen 3.1

3.2

3.3

127

Läßt sich innerhalb der juristischen Textarbeit eine Praxis der Grenze denken?

128

3.1.1

Die Wortlautgrenze wird nicht von der Sprache definiert

129

3.1.2 3.1.3

Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt 130 Die Grenze juristischer Textarbeit ist ihr als Praxis aufgegeben 133

Die rechtsstaatliche Textstruktur erlaubt eine praktische Kritik der Legitimität richterlicher Gewalt 138 3.2.1

Die Dezision mit Normtextunterstellung verletzt den gewaltenteilenden Aspekt 139

3.2.2

Die Dezision durch Rechtsverbiegung verletzt den gewaltenkontrollierenden Aspekt 144

3.2.3

Methodenehrlichkeit verlangt, daß auch eine richtige Entscheidung ausreichend begründet wird 155

Die rechtsstaatliche Textstruktur bewirkt eine doppelte Faltung der Gewalt 166 3.3.1

Die Entscheidungsgewalt wird zwischen Gesetzgeber und Richter geteilt 166

3.3.2

Die Entscheidungsgewalt kann an den methodischen und verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Rechtserzeugung kontrolliert werden 167

3.3.3

Das Paradox der Gesetzesbindung liegt darin, daß sich die richterliche Gewalt selbst die Hände bindet 169

Das Ende liegt in einer praktischen Alternative

173

Literaturverzeichnis

175

Personenverzeichnis

185

Sachverzeichnis

189

Der Anfang liegt mitten in den Texten Die Strukturierende Rechtslehre ist keine abgeschlossene Theorie, die ausgehend von ihren Grundbegriffen deduktiv ableiten wollte, was ein Rechtstext seinem Wesen nach ist und wie eine darauf bezogene Tätigkeit juristischer Funktionsträger beschaffen sein müßte. Sie beginnt vielmehr inmitten juristischer Texte mit dem Wissen, daß auch die von ihr produzierte Zeichenkette die vorgefundene Vielfalt nicht auf den einzigen Text hin reduzieren kann, sondern nur unabschließbar vermehren. Der Ausgangspunkt ist folglich ein „induktiver"1. Die Strukturierende Rechtslehre versteht sich als begleitende Reflexion einer Praxis des Rechts, in der die entscheidenden Maßstäbe juristischer Rationalität als verstreute bereits vorhanden sind. Ihre Aufgabe sieht sie in der Bündelung dieser Momente zu einem vorläufigen und für neue Entwicklungen offenen Modell. Damit sind theoretische Annahmen nicht Voraussetzung, sondern Folge einer Analyse der Praxis und ist der Rationalitätsmaßstab kein aus der Philosophie importierter und nachträglich auf das Recht angewendeter2, sondern ein sprachspielimmanenter. Es ist daher im folgenden keine auf das sogenannte Wesen bezogene Doppelpunktdefinition von Rechtstext und Textarbeit zu erwarten, wohl aber eine Analyse des praktischen Funktionierens dieser Größen. Diese Analyse kann und braucht nicht bei Null zu beginnen. Es gibt schon immer Reflexion über die praktische Tätigkeit der Juristen3, allerdings mit politischen Legitimationsproblemen von großem Gewicht belastet. Denn Textarbeit und Interpretationsfragen haben in der Jurisprudenz eine besondere Dramatik. Es geht dabei um Entscheidungen, die den Betroffenen auch gegen ihren Willen aufgezwungen werden können. Deswegen spricht Art. 92 des Grundgesetzes von der „rechtsprechenden Gewalt", die er den Richtern anvertraut. Der Begriff Gewalt hat dabei im Deutschen nicht notwendig eine 1

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S.10.

2

Vgl. zur Kritik solcher Ansätze: ebenda, S. 309 ff.

3

Deswegen wird eine Systematisierung erst nach extensiver Diskussion des gegenwärtigen Standes der Methodik in der Rechtsprechung und in der Literatur entwickelt.

Vgl. ebenda, S. 34 ff.

16

Der Anfang liegt mitten in den Texten

pejorative Bedeutung. Auch der zu positiven Zwecken ausgeübte Zwang oder das Walten der guten Obrigkeit können als Gewalt bezeichnet werden.4 Im Unterschied zum Englischen, das mit violence , force , power, authority schon im Hauptwort Unterschiede markiert, benötigt das Deutsche Beiwörter, um legitime und illegitime Gewalt voneinander unterscheiden zu können. Umstritten ist allerdings nicht nur die Frage, wie die Abschichtung von legitimer und illegitimer Gewalt durchgeführt werden soll und kann, sondern schon die vorausgehende, ob der Richter mit seiner Entscheidung überhaupt Gewalt ausübt und weiterhin, ob es die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer Rechtfertigung dieser Gewalt gibt. Im Rahmen der früheren Ansätze zur Selbstreflexion juristischen Tuns behauptet der Positivismus, daß der Richter gar keine Gewalt ausübe, sondern nur das Gesetz anwende, während der Dezisionismus in der Entscheidung nur dierichterliche Gewalt sieht und dem Gesetz keine nennenswerte Rolle zubilligt. Einig sind sich beide Auffassungen aber darin, einerichterliche Entscheidung werfe keine Rechtfertigungsprobleme auf. Entweder, weil der Richter als Gesetzesanwender schon gar keine Gewalt ausübt, oder weil die unvermeidliche Gewalt nicht an einem Umstand gerechtfertigt werden kann, der außerhalb der Entscheidung liegt. Die Immunisierungrichterlichen Handelns ist somit der Konvergenzpunkt der scheinbar gegensätzlichen klassischen Theorien. Hier setzt die Strukturierende Rechtslehre mit der Frage ein, ob das rechtstheoretische Wissen wirklich auf der Höhe des praktischen Könnens ist.5 Wenn man die Komplexität von Begründungen in wirklichen Entscheidungen betrachtet, wird deutlich, daß die klassischen Positionen jeweils nur bestimmte und begrenzte Bestandteile des juristischen Handelns wahrnehmen und in ihrer Theorie zulassen können. So ist der Positivismus in keiner seiner Spielarten hinreichend positiv. Um das imaginäre Reichrichterlicher Selbstrechtfertigung zu errichten, müssen im Spiegel der Theorie alle die Umstände unterdrückt und systematisch verkannt werden6, die auf eine Definitionskompetenz des Richters für den 4

Vgl. als Beispiel für die positiv besetzten Varianten der Verwendung des Gewaltbegriffs: Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 4, 1. Abt., 3. Teil, 1911, Stichwort Gewalt, Spalte 4922 - 4926. Mit dieser Bandbreite des Gewaltbegriffs spielt auch W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Band Π 1,1980. 5

Vgl. dazu F. Müller y Fragen einer Theorie der Praxis, in: ders., Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, S. 128 ff 6

Vgl. zu einer zweiten Logik der Spiegelmetapher im Sinne einer systematischen Verkennung des Wiedererkannten: J. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: ders., Schriften Band 1, 1996, S. 61 ff.

Der Anfang liegt mitten in den Texten

„Inhalt" des Gesetzes hinweisen. Genauso opfert der Dezisionismus dem idealisierten Bild richterlicher Machtvollkommenheit: er läßt nur die eigene Entscheidimg des Richters zu und blendet die des Gesetzgebers und die Anschlußzwänge des juristischen Sprachspiels aus. Um die ganze Bandbreite des juristischen Könnens im theoretischen Wissen auftauchen zu lassen, muß sich die Analyse der Praxis von der theoretischen Vorentscheidung zugunsten eines bestimmten Richterbildes befreien. Das Richterbild und die Entscheidung über den Legitimationsbedarf juristischen Handelns dürfen nicht am Beginn, sondern erst am Ende der Rechtstheorie stehen.7 Am Anfang ist nur ein vorläufiges und für Korrekturen durch die Praxis offenes Modell juristischen Handelns möglich. Dabei kann sich ein Neuansatz zunutze machen, daß viele Beschreibungselemente in den klassischen Theorien schon vorhanden sind8, nur eben verteilt auf zwei gegensätzliche Theorien, die zur Aufrechterhaltung eines imaginären Richterbildes die jeweils anderen Komponenten juristischen Handelns systematisch verkennen. Die vorhandenen Elemente gilt es neu zu ordnen und in ihrer praktischen Ausprägung zu untersuchen. Dieser Aufgabe stellt sich die Strukturierende Rechtslehre ausgehend von drei Fragen: - Welche Vorgaben liefert der Gesetzestext für juristische Entscheidungen? - Wie funktioniert die auf Texte bezogene Arbeit juristischer Entscheidungsträger? - Gibt es dabei eine Festsetzungskompetenz der Gerichte, welche als Gewaltausübung der Teilung, Kontrolle und Rechtfertigung bedarf?

7

Deswegen wird neuerdings sogar das Wort vom „Richterbild" gemieden. Vgl. Schmidt-Jortzig, Aufgabe, Stellung und Funktion des Richters im demokratischen Rechtsstaat, in: NJW, 1991, S. 2377 ff sowie Hoppe (Hg, λ Rechtssprechungslehre, 1988. 8

Wenn auch nicht selten unter falscher Flagge; vgl. dazu etwa am Beispiel der Wirklichkeitselemente in juristischen Entscheidungen: F Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, S. 257 ff. 2 Müller u. a.

I. Rechtstext: Der Rechtstext ist nicht Behälter der Rechtsnorm, sondern Durchzugsgebiet konkurrierender Interpretationen Die drei Fragen nach Geltung und Bedeutung des Rechtstextes sowie nach der Rechtfertigung des juristischen Handelns werden von den älteren Rechtstheorien des Positivismus und Dezisionismus zu einer einzigen Struktur miteinander verschweißt. Unter anderem diese Verbindung will die Strukturierende Rechtslehre mit der Unterscheidung von Geltungs-, Text- und Legitimierungsstruktur in Frage stellen.

1* Für den Positivismus bildet die objektivierbare Bedeutung die Brücke zwischen der Geltung des Gesetzes und der Rechtfertigung juristischen Handelns Die Frage, welche Vorgaben der Gesetzestext für eine juristische Entscheidung macht, wird vom Positivismus eindeutig beantwortet: Der Gesetzestext bedeutet die hinter ihm stehende Rechtsnorm; und Geltung des Gesetzes heißt, daß man genau diese in der Textbedeutung objektivierbar vorgegebene Rechtsnorm auf den Fall anwendet.

1.1 Der Normtext repräsentiert

die Rechtsnorm

In der herkömmlichen methodischen Literatur wird betont, daß die Rechtsnorm nicht im Text liegt1. Damit ist jedoch nicht gesagt, die sogenannte ursprüngliche Bedeutung eines Textes sei immer ein nachträgliches Erzeugnis des daran anknüpfenden Sprachgebrauchs.2 Vielmehr will man im Sinn eines 1

Vgl. z.B. Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 211ff, 214. 2

Vgl. zur ursprünglichen Verspätung der Bedeutung: Sornek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 82 ff 2*

20

I. Rechtstext

Repräsentationsmodells hervorheben, daß die Norm „dahinter"3 liegt, als vom Wortlaut bloß Bezeichnetes.4 Der Gesetzestext ist demnach „Träger"5 oder „Ausdruck" des als stabile Grundlage hinter ihm stehenden Sinns6. Die Schrift des Gesetzes ist bloß Vordergrund. Entscheidend ist die Hinterwelt. Denn dem Schreiben gehen geistige Entitäten voraus, die vom Text nur nachgezeichnet oder ausgedrückt werden. Die juristische Sicht der Auslegung nimmt damit das alte theologische Modell von der Sprache als Kleid des Gedankens auf: um den Gesetzestext vollständig zu verstehen, muß der Rechtsanwendende den hinter dem bloßen Text verborgenen Gedanken, die Rechtsnorm, erfassen. Die Geltung des Normtextes, also die Summe der Anforderungen, die er an den Amtsträger stellt, wird damit gleichgesetzt mit einer durch den Text objektiv vorgegebenen Bedeutung als Rechtsnorm. Zentrum dieser Struktur ist eine demrichterlichen Sprechen von der Sprache objektiv vorgegebene Bedeutung. Sie wirkt als Brücke zwischen Normtext und repräsentierter Rechtsnorm. Diese Brücke besteht und funktioniert unabhängig von den normativen Anforderungen und Regeln des juristischen Handelns als objektiver sprachlicher Artefakt. Der Richter steht deshalb bei seiner Entscheidung nicht vor einem Gestaltungs-, sondern nur vor einem Erkenntnisproblem. Die in der Realität komplexe und von der sprachlichen Aktivität der Sprecher gerade nicht unabhängige sprachliche Ordnung wird damit zu einem abgeschlossenen Code stillgestellt. Wenn man „normativ" all die Umstände nennt, die der anstehenden Entscheidung ihre Richtung geben, so ist diese Normativität der herkömmlichen Konzepte sowohl vom Subjekt als auch vom Argumentationsprozeß vollkommen abgelöst und in die Sprache projiziert. Die Sprache wird zum Subjekt des Rechts und zur Quelle der Normati-

3

Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 74 f.

4

Vgl. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 29, 72 f und öfter, A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 49 f.; Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 105; Somlo, Juristische Grundlehre, 2. Aufl. 1927, S. 379 f.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1981, Rn. 66. 5

Vgl. die oft zitierte Wendung bei Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 299.; vgl. auch A. Keller, ebenda; Hinderling ebenda.; Roedig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 282. 6 Vgl. zur Kritik an den grundsätzlichen Implikationen dieses Repräsentationsmodells das 2. Kapitel in Somek, Rechtssystem und Republik, 1992, S. 149 ff.

1. Die Gleichsetzung von Bedeutung und Geltung

21

vität. Allerdings nur um den Preis, daß die Dynamik wirklicher Rede verdrängt wird und die Sprache einfriert zur statischen Ordnung eines Sprachgesetzbuchs.

1.2 Die juristische Textarbeit wird auf einen Erkenntnisvorgang eingeschränkt Die vom Repräsentationsgedanken ausgehende und zur objektiven Sprachordnung erweiterte Semantik des Positivismus wird dann deduktiv auf das juristische Handeln angewendet. Auslegung ist danach eine kontinuierliche und homogene Ableitung aus dem sicheren Ursprung einer dinghaft vorgegebenen und im Text repräsentierten Bedeutung. Die Auslegung muß „reduktiv"7 auf die Norm schließen. Indem sie das Gesetz präzisiert, benennt sie dessen vorgegebenen Sinn nur deutlicher, legt sie ihn, wie einen eingerollten Teppich, lediglich aus.8 Grundlage dieses Modells sicherer Ableitung ist die alte metaphysische Vorstellung, daß die Schrift die Gegenwart eines Gedankens oder Meinens ersetze9. Der Text ist demnach Ersatz oder Supplement für die volle Gegenwart des Sinns, welche in der schriftlichen Mitteilung zum bloßen Zeichen abgeschwächt sein soll. Die Aufgabe der Auslegung besteht dann darin, die ursprüngliche Gegenwart des Meinens, Gedankens usw. wieder herzustellen. Der ursprünglich mit sich selbst identische Sinn wird zwar durch die Schrift zunächst um seine Gegenwart gebracht, aber im Weg der Auslegung wird diese Gegenwart wieder hergestellt10.

7

Vgl. dazu Hassold, Struktur der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 211 fT, 215 f; Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 282 fT. 8

Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 299.

9

Vgl. dazu Derrida , Signatur, Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff, 126 ff. Derrida nimmt mit der Kritik am Repräsentationsmodell Gedanken auf, die schon Lacan entwickelt hat. Vgl. S. Weber, Rückkehr zu Freud, 1990, S. 39 ff; W. Welsch, Vernunft, 1995, S. 275 ff. 10

Vgl. dazu die Aufgabenbestimmung der Auslegung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 298 ff, 301: „Das Gesetz in seiner Wahrheit erkennen". Aus der Sicht der subjektiven Lehre vgl. Naucke, Vom Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: Engisch-Festschrift, 1969, S. 274 ff.

22

I. Rechtstext

1.3 Der Richter ist gerechtfertigt, soweit er die im Text verlorene Präsenz der Rechtsnorm wiederherstellt Damit sind für den klassischen Positivismus die Probleme gelöst. Die Fragen nach den Vorgaben des Textes für die Entscheidung, nach der Struktur juristischer Textarbeit und nach deren Rechtfertigung werden zu einem einzigen Zusammenhang kurzgeschlossen: Dem Normtext ist objektiv und eineindeutig die sprachliche Bedeutung zugeordnet, welche gleich einem Behälter die auf den Fall anzuwendende Rechtsnorm enthält. Wenn der Rechtsanwender über die Brücke der Bedeutung zu der hinter dem Text liegenden Rechtsnorm gelangt ist, hat er die Vorgaben des Textes ausgeschöpft, als Arbeitsleistung eine Bedeutungserkenntnis erbracht und ist genau insoweit legitimiert. Die Geltung des Normtextes verlangt eine Beachtung seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung; und soweit dies geschieht, reicht auch die Rechtfertigung richterlichen Sprechens. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung sind zu einer einzigen Struktur verbunden.

2. Die sprachliche Bedeutung ist mit dieser Rolle fiberfordert Aber die von der herkömmlichen Lehre hergestellte Verkettung von positivistischer Rechtsnormtheorie, juristischer Semantik und Legitimationsmodell weist eine entscheidende Schwachstelle auf: Die ganze Konstruktion beruht auf der Voraussetzung, daß sich eine volle und mit sich selbst identische Textbedeutung als sicherer Ausgangspunkt für weitere Ableitungen nachweisen läßt. Denn die Ordnung der Sprache soll hier dem Handeln der Juristen endlich den lange gesuchten objektiven Halt verschaffen. Der Sprache kommt danach die Aufgabe zu, die Rechtfertigungsfrage weg vom Richter und hin zu einer objektiven Instanz zu verschieben.

2.1 Die Sprachtheorie der Juristen ist von Legitimationsbedürfnissen bestimmt Die Fiktion vom Text als Repräsentant der Rechtsnorm und vön der Auslegung als Erkenntnis enthalten eine Sprachtheorie. Diese sehr spezielle Sicht auf die Sprache als Dienstmagd juristischer Legitimationsbedürfhisse wird

2. Die Oberforderung der Bedeutung

23

neuerdings expansiv vertreten und gibt sich als Theorie der Sprache überhaupt aus. Genau darin besteht die bizarrerweise so genannte „sprachphilosophische Wende" der juristischen Methodendiskussion. Es handelt sich dabei um Versuche zur zitatweisen Annexion sprachwissenschaftlicher Theoreme. Entschlossen sind die so gewendeten Juristen zum Transfer von Fremdautorität. Wahllos sind sie bezüglich des Gegenstands. Die Versuche zur Übernahme, oder besser gesagt zur gnadenlosen Anwendung1 reichen dabei von der einer an logischen Idealsprachen orientierten Semantik über die generative Transformationsgrammatik und die strukturalistische Textlinguistik, schließlich sogar bis zur Sprechakttheorie. Zumindest an Kühnheit läßt der juristische Zugriff auf die Sprachwissenschaft dabei nichts zu wünschen übrig. Man dringt blitzschnell mit Hilfe eines Einführungslehibuchs2 auf dasfremde Gebiet vor, erschlägt alle Differenzierungen, die sich immerhin auch bei handfesten Systemlinguisten noch finden, rafft einigermaßen handliche Formeln zusammen und pflanzt sie als Banner einer neuen Bedeutungstheorie in der Jurisprudenz auf. Und um die Rechtsgrundlagen des eigenen Vorgehens nie verlegen, rechtfertigt man das Ganze noch damit, daß man den Juristen das Amt des Sprachwächters3 zuweist. Es handelt sich beim Vorgehen dieser mutigen Juristen nicht eigentlich um einen Akt der Instrumentalisierung, sondern eher um eine polizeiliche Aktion, welche die von Verwahrlosung bedrohte Linguistik wieder zur grundlegenden Ordnung der Sprache zurückruft. Um die einzige Bedeutung des Rechtstextes zu garantieren, muß die juristische Theorie die Komplexität der Sprache vereinfachen. Die erste Vereinfa-

1

Typisch für diese Struktur, die mit einer allgemeinen Schilderung philosophischer Theoreme beginnt und anschließend die Jurisprudenz knapp subsumiert, ist das Buch von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978. Aber selbst noch eine reflektiertere Auseinandersetzung mit den sprachlichen Problemen, die sich in der Jurisprudenz stellen, beginnt zunächst mit einer ausführlichen Darstellung von Leben und Werk Wittgensteins. Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1995, S. 15 ff. 2

Als Beispiel ist etwa auf Koch hinzuweisen, der für seine Bemühungen, die Positionen von Carnap und Wittgenstein zu vermitteln, an das Lehrbuch „Sprachphilosophie" von F. v. Kutschern anknüpft. Vgl. dazu Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders., Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 13 ff, 139 Fn. 75. 3

Vgl. dazu etwa Honsel, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 207 m.w.N.

24

I. Rechtstext

chung liegt darin, daß man von der Sprache ausgeht, als sei diese eine überschaubare und homogene Größe mit Normen, die überall und für jeden gleich 'gelten'.4 Die zweite Vereinfachung betrifft den Kontext einer geäußerten Zeichenkette, welcher als endlich und beherrschbar vorausgesetzt wird, um so die Klarheit der Begriffe zu garantieren.5 Die dritte Reduktion will eine identische Wiederholung von sprachlichen Regeln ohne verschiebenden Charakter annehmen.6 Nur unter der Voraussetzung einer homogenen Sprache, deren Regeln in der Wiederholung stabil bleiben, und eines endlichen Kontextes kann dann behauptet werden, daß dort, wo ein Sprachgebrauch korrigiert werde, die „Sprachwidrigkeit" einer entsprechenden Deutung und die einzige Bedeutung feststehe.7 Wenn man diese grobe Vereinfachung der Sprachwirklichkeit aber aufgibt, wird klar, daß eine Äußerung auch dann, wenn sie „Kopfschütteln"8 oder sonstige Widersprüche hervorruft, noch nicht sprachwidrig ist.9 Solange sie verständlich bleibt, ist der Versuch zu ihrer Korrektur vielmehr ein Normierungskonflikt, der auf bestimmte Standards der Legitimierung verweist.10 Gerade Sprachnormen können nicht in der von der juristischen Rezeption nahegelegten Weise einfach festgestellt werden; weder dadurch, daß ein Mutter4 Vgl. dazu Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Koch (Hg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 155 ff, 160 f.: Auseinandersetzung mit der „natürlichen Wortbedeutung", ebenso die Beispielanalysen, wobei undifferenziert „der Sprachgebrauch" herangezogen wird, vgl. etwa S. 179. Zur Kritik vgl. auch Sang-Don Yi, Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung, 1992 S. 70 ff. 5

Vgl. dazu Priester, ebenda, S. 164 ff: Diskussion der Kontextabhängigkeit. Zur Kritik an der Vorstellung eines endlichen und beherrschbaren Kontextes vgl. Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 f, 126., 143 ff. 6

Vgl. dazu Priester, ebenda, S. 160 ff zur Auseinandersetzung mit der Position Arthur Kaufmanns. 7

Vgl. dazu Priester, ebenda S. 179.

8

Vgl. ebenda.

9

Zur Kritik an dieser verkürzten Auffassung von Sprachwidrigkeit: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 51. 10

Vgl. dazu Gloy, Sprachnorm, in: Althaus / Henne / Wiegand (Hg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, Bd. Π, 2. Aufl. 1980, S. 363 ff, 366; ders., Einige grundlegende Gedanken zu 'Norm' und 'Sprachnorm', in: Hansen (Hg.), Symposion, 1979, S. 121 ff.

2. Die Oberforderung der Bedeutung

25

sprachler am Schreibtisch nachdenkt, noch dadurch, daß man im Wörterbuch nachschlägt. Sprachnormen deuten vielmehr auf legitimatorische Standards hin. Zu deren Untersuchung muß man sich konkret auf das jeweilige Sprachspiel einlassen. Sprachnormen und die damit verbundenen Konflikte führen über die Vorstellung einer im Wortlaut vorgegebenen Bedeutung hinaus und machen ein gestaltendes Moment im Sprechen sichtbar, welches mit dem Prädikat sprachwidrig/sprachrichtig nicht einfach schon erfaßt ist.

2.2 Die sprachliche Ordnung kann die Erwartungen der Juristen nicht erfüllen Wie ist also die grundlegende Ordnung der Sprache beschaffen? Kann sie die Erwartungen der Juristen wirklich erfüllen? Die Ordnung der Sprache ist nichts, was im Belieben des einzelnen Sprechers stünde. Um „frei" sprechen zu können, muß dieser die Sprache schon voraussetzen. Diese Ordnung ist aber andererseits nicht als objektive Größe von der Sprache „selbst" vorgegeben. Genausowenig wie es eine Einheit der Rechtsordnung gibt, gibt es eine Einheit der Sprache, die etwa als System der langue einem einzelnen Sprecher verfügbar wäre. Sie liegt vielmehr als Erscheinung der dritten Art zwischen diesen Extremen: „Unsere Sprache ist, wie alle natürlichen Sprachen, weder natürlich noch künstlich. Sie ist weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt. Sie ist ein Phänomen der dritten Art, die unbeabsichtigte Konsequenz individueller (intentionaler) kommunikativer Handlungen. Während Naturphänomene kausale Erklärungen fordern und Artefakte intentionale (finale), ist der adäquate Erklärungsmodus eines Phänomens der dritten Art die invisible-hand-Erklärung"11. Die Ordnung der Sprache ist damit weder von objektiver Natur als geschlossenes System noch von subjektiver Natur als Vereinbarung freier Individuen. Sie ist vielmehr die unbeabsichtigte Nebenfolge individuellen Sprechens. Der juristischen Suche nach einer sprachlichen Ordnung läßt sich also nicht entgegenhalten, daß es eine solche Ordnung überhaupt nicht gebe. Die Juristen erwarten jedoch zuviel von der Kategorie „sprachliche Ordnung". Der in der Sprache aufweisbare Zusammenhang ist nicht von der Art, daß er die Probleme der Juristen hinsichtlich der Legitimation ihres Handelns stellver11

R. Keller; Bemerkungen zur Theorie des sprachlichen Wandels, in: ZGL 1984 S. 63 ff, 66 m.w.N. Vgl. auch ders., Sprachwandel, 2. Aufl., 1994, S. 87 ff.

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I Rechtstext

tretend für eben diese handelnden Juristen lösen könnte. Die Sprache ist nicht, wie das Bild vom Richter als Mund des Gesetzes nahelegt, dem Sprechen vorgeordnet. Vielmehr entsteht die Sprache aus dem Sprechen, aus Bedeutungserklärungen, Normierungen und Normierungskritik. Dabei läßt sich die gewordene Sprache als Werk nicht gegen das sprachliche Wirken als Herstellung dieses Werks ausspielen oder von dieser trennen: „Denn das Phänomen der dritten Art ist nicht eines von beiden - Bildungsprozeß oder Resultat sondern beides zusammen; zumal ja, was wir Resultate nennen (...) keine Endresultate von Bildungsprozessen sind, sondern Episoden in Prozessen kultureller Evolutionen, die weder einen angebbaren Beginn noch ein angebbares Ende haben."12 Die Sprache ist damit nicht eine apriorische Ordnung des Sprechens, sondern sie wird als kontingente Ordnung von bestimmten Sprachspielen in der jeweiligen semantischen Praxis verändert oder bestätigt.

2.3 Legitimation ergibt sich nicht aus der Sprachtheorie, sondern allenfalls in der Sprachpraxis Dem frommen Wunsch der Juristen nach der objektiven und stabilen Bedeutung können weder Sprachwissenschaft noch Sprachphilosophie nachkommen. Selbst die klassische Rechtstheorie hatte in denriskantenMomenten ihrer Reflexion schon deutlich erkannt, daß jeder Sinn nur in einem unendlichen Sinnzusammenhang existiert und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft. 13 Die Unbeherrschbarkeit „meines" Sinns, die des Sinnzentrums, das ich in den Text legen will, ist nicht eine Randerscheinung. Sie ist das Grundphänomen der Vertextung und wird durch die Verschriftung noch kategorial verschärft. Am schriftlichen Text ist ein Sinnzentrum nicht festzumachen und noch weniger sein einziger Sinn. Er wird durch andere Texte in einen ebenso unvermeidlichen wie unabbrechbaren Semantisierungsvorgang und in fortdauernde semantische Kämpfe hineingezogen. Diese Vorgänge und diese Kämpfe sind es, welche die Realität der Rechtsarbeit ausmachen, und nicht das kognitive Auffinden des einen richtigen „Nonnsinns" oder das getreue Anwenden des gesetzgeberischen „Willens". Die Ordnung des juristischen Sprachspiels wird nicht in der Spra-

12

Vgl. R. Keller, Zur Theorie sprachlichen Wandels, in: ZGL 1982, S. 1 ff, 11.

13

Vgl. dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 213.

2. Die berforderung der Bedeutung

27

che vorgefunden, sondern sie stellt sich im Sprechen der Juristen erst her.14 Diese Herstellung läßt sich jedoch auch nicht in die freie Entscheidung einzelner Individuen auflösen. Denn das Einhalten bestimmter Maximen wird im kommunikativen Handeln der Juristen nicht nur über die Rückmeldung von Erfolg und Mißerfolg, sondern zum Teil sogar explizit in Form verfassungsrechtlicher Anbindung der Methodenkultur vorgeschrieben. Deswegen sind die spezifisch juristischen Maßstäbe der methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts und der Entwicklung der Rechts- und Argumentationskultur im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu untersuchen. Eine unterstellte objektive Ordnung der Sprache kann diese Reflexion nicht ersetzen. Wenn man die Brille des klassischen Positivismus abnimmt und ohne vorgefaßte Rechtsnormtheorie die Entscheidungssammlung eines beliebigen Gerichts betrachtet, dann fällt auf, daß den einzelnen Entscheidungen Leitsätze sei es vorangestellt, sei es in zentraler Position der Begründungstexte eingeschrieben sind. Unter diese Leitsätze, nicht etwa unter den Normtext selbst, wird der zu entscheidende Fall subsumiert. Zwar sind die Leitsätze ihrerseits mit dem Normtext verknüpft, aber nicht im Weg einer Subsumtionslogik, sondern über die Standards einer bestimmten Argumentationskultur. Man müßte also bei realistischer Betrachtung sagen, daß der Normtext mit einer Vielzahl von Rechtsnormen verbunden wird und nicht etwa nur eine „enthält". Wenn der Positivismus statt dessen eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung, bzw. Gesetzestext und Rechtsnorm unterstellt, übersieht er nicht nur auf der rechtstheoretischen Ebene die Vielzahl von fallentscheidenden Leitsätzen. Vielmehr beachtet er auch auf der sprachtheoretischen Ebene nicht, daß man mit einer Textinterpretation nicht etwa die reine Bedeutung an die Stelle des Zeichens setzt, sondern nur eine Zeichenkette an die Stelle einer anderen.15 Sobald man die sprachtheoretisch/rechtsnormtheoretische Vorentscheidung als den blinden Fleck des Positivismus einer Befra14

Vgl. zu dieser Wendung zur Praxis in der amerikanischen Rechtstheorie: Patterson, Conscience and the Constitution, in: Columbia Law Review 93, 1993, S. 270 ff, 294: „Law is not a theory, it is a practice (...)." Patterson nimmt dabei in fruchtbarer Weise den Begriff Sprachspiel und Grammatik bei Wittgenstein auf. Vgl. auch Bobbitt, Constitutional Interpretation, 1991, S. 172; ders., Is Law Politics ? in Stanford Law Review 41, 1989, S. 1233 ff, 1244. 15

Schon Lacan hat in radikalisierter Weiterfilhrung der Sprachtheorie Saussures angenommen, daß der Signifikant gegenüber dem Signifikat den Primat innehat, und daß zwischen beiden eine Sperre besteht. Vgl. J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften Π, 4. Aufl., 1996, S. 15 ff Vgl. auch dazu Welsch, Vernunft, 1995, S. 280 ff.

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I. Rechtstext

gung unterzieht, fällt der gesicherte Ursprung weg, der die Kontinuität der dogmatischen Ableitungen und die Homogenität des juristischen Diskurses gewährleisten sollte. Es wird vielmehr deutlich, daß jede Entscheidung den Normtext einem neuen Kontext aufpfropft 16, welcher bei Erlaß des Textes nicht vorhersehbar war. Die mangelnde Einlösbarkeit der zur Semantik erweiterten herkömmlichen Rechtsnormtheorie hat aber auch Folgen für das von der älteren Lehre vorausgesetzte Legitimationsmodell. Die Notwendigkeit einer Rechtfertigung juristischen Handelns wird mit dem Hinweis auf die normative Ordnung der Sprache nur scheinbar befriedigt. Denn die mit großem Aufwand und etwas Ungeschick aus dem Zylinder der Sprachtheorie herausgezogenen juristischen Kaninchen mußten vorher in der Sprache griffbereit versteckt werden. Die Berufung auf die sprachliche Ordnung erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine Rechtfertigung juristischen Handelns zu stellen wären, sondern verkürzt lediglich deren Einlösung zugunsten einer Scheinbegründung. Statt in der Sprache die Legitimität ihres Handelns zu überprüfen, wollen die Juristen als angemaßte Sprachgesetzgeber die Bedingungen legitimen Sprechens selbst festlegen. Die verborgene Einheit von Positivismus und Dezisionismus17 findet ihre systematische Grundlage in einer Sprachtheorie, welche der ideale juristische Sprecher dem Wildwuchs laienhafter Rede entgegenhalten kann, ohne selbst an deren Standards überprüft werden zu können. Denn sobald man die Ordnung der Sprache unabhängig vom Wildwuchs des Sprechens festlegen will, wird unausweichlich eine subjektive und willkürliche Definition der sprachlichen Ordnung an die Stelle der wirklichen Zusammenhänge gesetzt. Tatsächlich hängt die Ordnung juristischen Sprechens von politischen Grundentscheidungen der Verfassung ab, ist nur in den entsprechenden Formen veränderbar und bedarf der ständigen Überprüfung in der öffentlichen Diskussion. Wenn man diese Ordnung zur normativen Sprachordnung überhöht, entzieht man sie jeglicher Kontrolle und überantwortet sie der Willkür zufälliger Machtkonstellationen.

16

Vgl. zu diesem Begriff Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff, 136. 17

Daß gerade Carl Schmitt den Bedeutungsidealismus des Positivismus nie prinzipiell überwunden hat, zeigt Forgo, Die Pathogenese einer Methodologie, in: Juridikum,2,1995, S. 30 ff

3. Die Trennung von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung Aus diesem Scheitern läßt sich lernen, daß die Herangehensweise der herkömmlichen Lehre an die Frage nach den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit umgekehrt werden muß: man kann nicht eine apriorische Theorie der Rechtstexte zu einer normativen Sprachtheorie erweitern und diese dann als deduktives Modell auf die juristische Textarbeit „anwenden". Vielmehr muß man zunächst bei der unvoreingenommenen Analyse der juristischen Textarbeit selbst ansetzen, um so die sprachlichen Bedingungen überhaupt erst zu bestimmen, innerhalb derer juristische Texte verwendet werden.18

3. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung sind als Probleme voneinander zu trennen Die Umkehrung der apriorisch deduktiven Herangehensweise führt zu der Folge, die Frage nach den Regeln und der Rechtfertigung juristischen Handelns von einem vorausgesetzten Verständnis der Rechtstexte abzulösen und auf der Ebene praktischer Rechtsarbeit neu zu stellen.

18

Die „paradigmatische Grundeinstellung", die „das Bundesverfassungsgericht, (...) die Rechtsprechung (...) und aufweite Strecken die juristische Dogmatik und Methodenlehre" prägt, wird bei Grasnik, Falsche Philosophie - richtiges Recht?, in: Merkur, 1996, S. 154 f. gekennzeichnet mit „Gemeinplätzen, Basisüberzeugungen, Commonsense-Annahmen und schlichten Glaubenssätzen", kurz mit „Alltagstheorien"; näherhin als: „realistische Bedeutungstheorie", „Abbildtheorie der Sprache als ihrer (sc. der Bundesverfassungsrichter) Alibitheorie", „metaphysische(m) Realismus", „Korrespondenztheorie der Wahrheit": „Offenbar kommt das alles ihrem (sc. der Juristen des mainstream) Sicherheitsbedürfiiis entgegen", besonders aber dem der „selbsternannte(n) Bedeutungskontrolleure", als welche der Autor vornehmlich die Richter des Bundesverfassungsgerichts festhält - und zwar zu Recht nicht wegen ihrer Kontrollbefugnisse, die vom Grundgesetz normiert sind, sondern wegen ihrer positivistisch-illusionären Sprachauffassung. - Demgegenüber werden die Arbeiten auf der - nicht zuletzt sprachwissenschaftlichen - Grundlage der Strukturierenden Rechtslehre in ihrer paradigmatischen Abkehr vom positivistischen Credo des mainstream als „wahre Überzeugungsarbeit" begrüßt, „Es gibt aber auch Methodiker, die angefangen haben, sich aus den Fesseln der überkommenen Mann-auf-der-Straße-Philosophie zu befreien, die nicht länger hineintappen in die Fallen, die uns die Sprache stellt, indem sie uns zum Beispiel vorgaukelt, es gäb 'etwas', nur weil wir einen Namen 'dafür' haben"; ebenda, S. 154. Vgl. nicht zuletzt in Hinblick auf die Rede von „der Bedeutung" auch schon Wittgenstein, Das Blaue Buch. Werkausgabe, Band 5, Das Blaue Buch, S. 15 zu „einer der großen Quellen philosophischer Verwirrung": „ein Substantiv läßt uns nach einem Ding suchen, das ihm entspricht."

I. Rechtstext

30

3.1 Die sprachliche Bedeutung ist dem juristischen Handeln nicht vorgeordnet Eine Analyse der Praxis zeigt eine Diskrepanz zwischen dem, was die Gerichte tun, und dem, was sie zu tun glauben. Praktisch geltende Regeln und ihre theoretische Formulierung stimmen nicht überein.1 Die Vorschläge zur Regelformulierung beziehen die Gerichte aus der methododologischen Literatur. In der Praxis können sie sich aber nicht damit begnügen, psychologische Forschungen über einen dem Text zugrundeliegenden Willen des Gesetzgebers anzustellen, den vom Gesetzgeber geschaffenen einen Sinn des Textes nachzuvollziehen oder gar auf die Inspiration durch den objektiven Geist zu warten. Das tatsächliche Vorgehen der Praxis ist wesentlich komplexer als die einlinigen Konstruktionen, welche die herkömmliche Methodenlehre aus ihren bedeutungstheoretischen Spekulationen ableitet. Während die Gerichte durch Einbeziehen anderer Normtexte oder der Materialien die Textbasis ihrer Entscheidungen erweitern und Auslegungscanones zur weiteren Profilierung der Bedeutung der fraglichen Ausdruckskette heranziehen2, sollen sie von der methodischen Theorie darauf verpflichtet werden, eine hinter dem Gesetz liegende Substanz zu erfassen. Die Praxis juristischer Auslegung vollzieht sich außerhalb ihrer ererbten Theorie und die Theorie juristischer Auslegung kommt in der Praxis nicht vor. Die Statik einer substantiell gefaßten Bedeutung und die Dynamik eines praktischen Herstellungsprozesses lassen sich auch nicht miteinander vermitteln, sondern als Gegensatz höchstens hinter rhetorischen Fassaden verstecken. Eine Theorie der Praxis muß deswegen den Bezugsrahmen herkömmlicher Methodik aufgeben: man kann nicht von einer theoretischen Spekulation über die Textbedeutung aus die Regeln der juristischen Auslegung festlegen. Vielmehr gewinnt man umgekehrt über die Bedeutung juristischer Texte dadurch Klarheit, daß man die praktischen Regeln juristischer Textarbeit auf den Begriff bringt. Zu fragen ist nicht, wie die Bedeutungsdoktrin juristischer Texte die Regeln der Auslegung determiniert, sondern wie die von den Juristen geübte Praxis der Textarbeit die Bedeutung juristischer Texte begründet.

1

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 64.

2

Ebenda, S. 35.

3. Die Trennung von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung

3.2 Das juristische Handeln ist eine semantische Praxis Es wird deutlich, daß juristische Textarbeit eine semantische Praxis darstellt. Juristen stehen als praktische Rechtsarbeiter vor der Aufgabe, ausgehend von einer Sachverhaltserzâhlung und einem Normtext zu einer Entscheidung zu gelangen.3 Die sich aus den canones der juristischen Methodik ergebenden Fragerichtungen4 verknüpfen diese Ausgangstexte mit weiteren Kontexten, um so durch Abgrenzung und Verbindung die Bedeutung des Normtextes zu bestimmen. Die unvoreingenommene Analyse der juristischen Praxis ermöglicht endlich eine realistische Einschätzung der sprachlichen Bedingungen juristischen Handelns. Dabei läßt sich das Scheitern des positivistischen Modells an den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit nicht länger über Mängel oder Unzulänglichkeiten der Sprache rechtfertigen. Vielmehr ist die Vieldeutigkeit und Beweglichkeit, mit der sich die Sprache jeder geschlossenen Herrschaftsordnung entzieht, eine positive Voraussetzung dafür, daß man eine unabgeschlossene Fülle praktischer Streitfragen anhand der wenigen vom Gesetzgeber hergestellten Normtexte überhaupt diskutieren kann. Statt von den Bedingungen des Subsumtionsmodells her Sprachtheorie zu betreiben, sollte man also die Bindungenrichterlichen Handelns in den realen Argumentationsvorgängen alltäglicher Rechtsarbeit einfordern. Mit diesem Ansatz läßt sich endlich genauer erklären, was unter dem oft beschworenen schöpferischen Anteilrichterlicher Tätigkeit zu verstehen ist: unveränderlich vorgegeben ist der Konkretisierung nur der Normtext als Zeichenkette. Die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung muß demgegenüber in einem von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturierten Vorgang erst erzeugt werden. Diese Neuformulierung des Problems führt in der Strukturierenden Rechtslehre zum Unterschied von Geltung und Bedeutung eines Normtextes. Wir wissen am Beginn der Konkretisierung, daß der Normtext etwas bedeutet. Darin liegt seine Geltung.5 Wir wissen aber vor

3

Zu den Eingangsdaten der Rechtsarbeit vgl. F. Millier , Strukturierende Rechtslehre, 2.Aufl. 1994, S. 264. 4

Zu den canones als ,,abkürzende(n) Bezeichnungen" für bestimmte Untersuchungsrichtungen vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 180. 5

Das übersieht die Kritik von Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 60: Die Trennung von Zeichenkette und Bedeutung mache das semiotische Grundproblem unsichtbar, ob überhaupt ein Zeichen vorliege. Durch entsprechende Veröffentlichung in Gesetzblättern ist die Erkennbarkeit eines Normtextes als Zeichen je-

32

I. Rechtstext

seiner methodengerechten Verarbeitung nicht, was er bedeutet. Denn diese Bedeutung des Normtextes wird als Rechtsnorm erst von den Gerichten und gerade nicht vom Gesetzgeber erzeugt. Die Rechtsnorm ist in dem Zeitpunkt, da ein Jurist mit der Prüfung eines Sachverhalts beginnt, nicht nur deshalb und insoweit unfertig, als sich „ihr Sinn" dann jeweils erst Jn der Konkretisierung vollendet". Das ist die unzulängliche Problemformulierung der Hermeneutik. Sie ist vielmehr, genau gesagt, in bezug auf diesen Fall und in dieser Phase der Entscheidung noch nicht vorhanden. Denn der Normgeber hat, realistisch gesehen, nicht Normen gegeben, sondern nur Vorläufer, Eingangsdaten; der Gesetzgeber nur Normtexte, nicht bereits selbst normativ wirkende Größen. Der Normtext als Textformular kann die Textbedeutung nicht vorgeben. Die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette definiert keinen Ort stabiler Sprache, welcher als punktuelle Größe von der Auslegung nur verfehlt oder getroffen werden könnte. Eher legt sie ein Durchzugsgebiet mit Raum für konkurrierende Interpretationen fest, welche topographisch verortet werden können. In diesem Rahmen gibt es keine notwendige Verknüpfung zwischen Normtext und vom Rechtsarbeiter hergestellter Rechtsnorm, zwischen Textformular und Text, sondern nur im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur miteinander vergleichbare Plausibilitäten.

3.3 Der Normtext hat am Beginn juristischerTextarbeit nicht schon Bedeutung, sondern nur Geltung Die Texte in den Gesetzbüchern sind aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre somit Vor-schriften: Schriften, schriftliche Texte vor dem Stadium, in dem die Texte der Gesetze, die Texte der Rechtsnormen geschrieben werden können - das ist erst innerhalb der Bearbeitung des Rechtsfalls nach eingehender Entscheidungs- und Semantisierungsarbeit möglich. Die „Vorschriften" sind Vorformen der Gesetzesschriften. Sie heißen in der Strukturierenden Rechtslehre Normtexte.

doch sichergestellt. Es gibt also auch Schwierigkeiten, die sich den Juristen nicht stellen und die diese den Archäologen usw. überlassen dürfen.

3. Die Trennung von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung

33

Ein Normtext hat zwei Aufgaben. Die erste: Er verpflichtet, sozusagen als ein Merkposten, die „Betroffenen", das heißt die Teilnehmer am Rechtsverkehr, deren Handeln in einer bestimmten Konstellation jener eines „gesetzlichen Tatbestandes", das heißt der in einer Vorschrift, einem Normtext grob umschriebenen Konstellation, anscheinend entspricht. Auch diese Prüfung ist in der Regel grob, da die Betroffenen typischerweise kein juristisches Fachpersonal sind; also „über den Daumen gepeilt", typisch und umgangssprachlich erfaßt, „Parallelwertung in der Laiensphäre", alltagstheoretisch und ähnliches. Der Normtext verpflichtet sie also dann, wenn ihr Verhalten anscheinend tatbestandlich „einschlägig ist", einem gesetzlichen Tatbestand unterfällt, dazu, rein praktische Rechtsnormen in nuce („das darf ich nicht", „das darf ich", etc.) und vor allem praktische Entscheidungsnormen zu setzen („das mache ich also nicht", „das mache ich also", „das mache ich so und nicht anders", etc.). Genau genommen sind dies Handlungsdirektiven und nicht Rechtsnormen bzw. Entscheidungsnormen. Aber diese Verhaltensdirektiven entsprechen - als die informellen praktischen Entscheidungen über das tatsächliche Tun der Betroffenen selbst - in einem gewissen Sinn den formellen Rechtsnormen und Entscheidungsnormen und sind daher zur Illustration für einen kurzen Moment hier so bezeichnet worden. Denn die zweite Aufgabe eines Normtextes ist diese: Er verpflichtet die „Betreffenden", die rechtlich zuständigen Amtsträger, wiederum als Merkposten dazu, elaborierte und begründete, rechtsstaatlich korrekte Rechtsnormen („Gesetze", die nicht im Gesetzbuch, sondern in den Entscheidungsbegründungen - „Gründen" - stehen) hervorzubringen und sie im Rahmen des Falles als die formelle juridische Entscheidung über andere durchzusetzen. Vergleichbar damit haben die „Betroffenen" die Verhaltensdirektive, zu der sie sich in Orientierung am alltagstheoretisch erfaßten Recht entschlossen haben, in ihrem Fall, ihrer eigenen Handlungskonstellation ebenfalls „durchgesetzt", indem sie sich bemühen, rechtstreu zu agieren. Die Vorgabe des Rechtstextes für die Entscheidung ist damit nicht ein fertiger und anwendungsbereiter Obersatz, sondern nur ein Textstück als Zeichenkette, die als Ausgangs- und als Zurechnungspunkt der Entscheidungen fungiert. Vom klassischen Positivismus bleibt damit nur die Komponente des Rechtsgeltungspositivismus übrig.6 Dieser optiert in der Frage des sogenannten Geltungsgrundes, also in der Frage, warum diese und jene rechtliche Norm 3 Müller u. a.

34

I. Rechtstext

überhaupt gilt, gegen das Naturrecht, gegen alle auch pseudonaturrechtlichen Argumente und für die feststellbare, nachprüfbare Tatsache einer verfassungsrechtlich korrekten Setzung. In diesem besonderen Sinn sind heute so gut wie alle Rechtswissenschaftler und Rechtspraktiker Positivisten. Sie gehen davon aus, daß sie sich als praktische Entscheidungsträger bei der Produktion von Entscheidungs- oder Begründungstexten an die Zeichenketten halten müssen, die ihnen der demokratisch legitimierte Gesetzgeber geliefert hat, technisch gesagt an die Normtexte. Alles „höhere", insbesondere Moral- oder Naturrecht, darf dabei nicht in Erscheinung treten. Der Richter hat die Dienstpflicht, bei dem schöpferischen Prozeß, der zu Herstellung der Rechtsnorm führt, von den Normtexten auszugehen, die der Gesetzgeber hervorgebracht hat. Die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter darf dabei weder zu stark noch zu schwach gefaßt werden. Zu stark wäre sie gefaßt, wenn man vom Gesetzgeber verlangte, daß er alle künftigen Lesarten und damit die Bedeutung seiner Teste determinieren solle. Diese Forderung des Positivismus scheitert an den sprachlichen Realitäten. Zu schwach gefaßt wäre diese Verknüpfung, wenn die Wahl des Ausgangspunktes für die Rechtsnormsetzung ins freie Belieben des Richters gestellt wäre. Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes den schöpferischen Prozeß der Rechtsnormsetzung immerhin nachdrücklich „irritieren". 7

6 Vgl. dazu F. Müller, Gespräch über strukturierende Rechtslehre und praktische Semantik, in ders. (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik 1989, S. 189flf, 204. Zum soeben formulierten Konzept von Geltung und Normtextfunktionen: ders., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 31 f; 138 ff, 167ff, 267, 303 f, u. ö. - Zur Entfaltung der Begriffe von „Positivismus": ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 15 ff. 7

Wenn man auf diese Verknüpfung Wert legt, könnte man das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter als strukturelle Kopplung bezeichnen. Zu den Dienstpflichten des Richters, den Normtext als Ausgangspunkt zu nehmen, müssen noch die methodenbezogenen Normen der Verfassung und ihre Präzisierung durch die Wissenschaft hinzutreten. Dadurch entsteht eine dreigliedrige Kette zwischen Gesetzgeber, Wissenschaft und Richter. Einzelheiten dazu unten in ΙΠ. Die über die methdodenbezogenen Normen der Verfassung vermittelte Bedeutung der Wissenschaft übersieht N. Schulte, Zur Lage und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVB1, 1996, S. 1009 ff u. 1012. Zum Begriff „strukturelle Kopplung" vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 440 ff, insbes. zur Irritation S. 442; ders., Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9, 1990, S. 176 ff mit dem gelungenen Bild zweier Billardkugeln, die sich gezielt anstoßen, aber dann in verschiedene Rieh-

3. Die Trennung von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung

35

Ein Textstück kann im Rahmen einer bestimmten methodischen Kultur zur Formierung von Lesarten nicht jede beliebige Bedeutung annehmen. Die vom Bundesverfassungsgericht immer wieder verwendete Formel vom Verbot richterlicher Normgebung8 muß also präzisiert werden: die Rechtsnorm als Bedeutung des geltenden Rechts für den Fall setzt notwendig der Richter. Hier ist der Gesetzgeber mit der Determination überfordert. Den Ausgangspunkt dieses Prozesses als Normtext muß sich der Richter aber von außen vorgeben lassen. Sonst wäre die Beeinflussung durch den Gesetzgeber als rationaler Kern von Gewaltenteilung undrichterlicher Bindung aufgehoben. Sowohl die Strukturierende Rechtslehre als auch die auf ihr aufbauende Juristische Methodik entwickeln rechtstheoretisch bzw. methodologisch die Unterscheidung zwischen Geltung (des Normtexts) und Normativität (des Texts der Rechtsnorm). Wenn im folgenden zusätzlich dazu auch rechtslinguistisch „Geltung/Bedeutung" gegenseitig profiliert werden, so nicht etwa in dem Sinn, als sei „Geltung" (des Textformulars gleich des Normtexts) frei von semantischen Elementen; und als erscheine Semantik erst im Zusammenhang mit der die rechtliche „Bedeutung" des Falles formulierenden Rechtsnorm. Aufgrund seiner juristischen Ausbildung und des aus ihr folgenden Vorwissens, linguistisch gesagt dank hergebrachter Verwendungsweisen der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe hat der Jurist Übung darin, die für den Fall (wahrscheinlich) einschlägigen Normtexte am Beginn der Konkretisierung im Rahmen einer sozusagen vorläufigen Semantik zusammenzustellen. Die „Bedeutung" des Textes der Rechtsnorm bietet als Ergebnis der Konkretisierung die im Fall anhand der Provokation, die er für die Rechtsordnung bildet, elaborierte semantische Stufe. Und alltagssemantisches Vorwissen, also wiederum hergebrachte (laienhafte) Verwendungsweisen, prägt das Verhalten der nicht-juristischen Rechtsunterworfenen, die sich an den „geltenden" Normtexten (meist: an dem, was sie darüber gehört haben) im Sinn von mehr oder weniger ungenauen Handlungsdirektiven zu orientieren haben. Auch hierbei handelt es sich um Vorläufiges: die am Fall Beteiligten können von den entscheidenden Fachjuristen „eines Besseren belehrt werden".

tungen rollen. Außerdem Scheemann, Strukturelle Kopplung. Zur Festlegung und normativen Bindung offener Möglichkeiten sozialen Handelns, in: Krawietz / Welker (Hg), Kritik der Theorie sozialer Systeme, 1992, S. 215 ff, u. 221. 8

Vgl. BVer/GE, 57,220 ff, 248; 59, 330 ff, 334; 63,266 ff, 289; 65 182 ff, 199; 69, 1888 ff, 203; 69, 315 ff, 371 f; 71, 108 ff, 115. Dazu auch J. Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten. Auf der Suche nach Funktion und Methodik, in: DVB1,1996, S. 1028 ffu. 1035. 3*

I I . Textarbeit: Der Richter ist nicht der Mund des Gesetzes, sondern Konstrukteur der Rechtsnorm Rechtsarbeiter in der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt haben die Aufgabe, Entscheidungs- und Begründungstexte hervorzubringen. Sie gehen dabei von den einschlägigen Normtexten aus und halten sich auch in der Frage zulässiger Normkonkretisierung an das vorgegeben Vertextete, eben an Gesetzeswortlaute.1 Aber mit diesem Bekenntnis zum Rechtsgeltungspositivismus hat sich die für die Erarbeitung von Recht am Text zentrale Frage der Gewalt richterlichen Handelns nun nicht etwa erledigt. Vielmehr stellt sie sich damit erst in aller Schärfe. Die Frage der Gewalt stellt sich zur Seite der Sprache hin, in der allein Recht werden soll und werden kann. Sie stellt sich als Frage nach der Gewalt, deren es bedarf, um dem Normtext seine Bedeutung für eine Entscheidung über das Recht in dem jeweils zur Lösung anstehenden Konflikt überhaupt erst zu geben. Und sie stellt sich als Frage nach der Gewalt, die nötig ist, um dem Normtext in solcher Bedeutung dann auch als Recht Gehör und den gehörigen Gehorsam zu verschaffen. Mit dem Bekenntnis zum Rechtsgeltungspositivismus stellt sich die Frage nach der Gewaltrichterlichen Handelns in Gestalt juristischer Textarbeit praktisch semantisch? Sie stellt sich praktisch als Frage des Umgangs mit Gewalt im Medium der Sprache. Und sie stellt sich zugleich semantisch als Frage des gewaltförmigen Umgangs miteinander mit den Mitteln der Sprache.

1 2

F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 129.

Dazu Wimmer / Christensen, Praktisch-semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie, in: F. Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 27 ff

Π. Textarbeit

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1. Die Praxis der Rechtserzeugung hat ihren Sinn in der Semantik des Kampfs um die Bedeutung des Gesetzes Das Gesetz ist, um zum Recht zu werden, unausweichlich auf Sprache angewiesen. Nur in der Sprache kann das Spiel des Rechts dahingehend ausgetragen werden1, der unvermittelt ungebrochenen Gewalt sozialer Konflikte zu begegnen, sie aufzusplittern, sie zu hemmen und zu erschweren, sie (im Sinn eines Prismas) zu brechen, und vielleicht im Glücksfall eines nachhaltigen Erfolgs auch einmal im nachhinein wieder abzugleichen oder gar rückgängig zu machen. Damit auch nur fallweise die Aussicht auf ein Gelingen bestehen kann, hat sich der Richter indes im Verfahren der Entscheidung über den Konflikt aller Gewalt zu bedienen, deren Sprache fähig und der sie gefügig ist. Damit ist dem Sprachspiel juristischer Textarbeit ein ganzes 'Netz von Ähnlichkeiten9 mit dem Spiel der Gewalt im Konflikt eingezogen, 'die einander im Großen wie im Kleinen übergreifen und kreuzen9. Um dies sehen zu können, ist allerdings der unverstellte Blick auf die 'Realien9 des Verfahrens der Rechtserzeugung notwendig. Erst eine klare Sicht vermag der Praxis juristischer Entscheidungstätigkeit den Schleier zu nehmen, den positivistisches Denken2 über die Gewalt von Recht in seiner Sprachlichkeit legt.

1

Vgl. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4, 1984, § 95. Einschlägig zum Sprachspielkonzept Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, §§ 7, 23 u. 130. Zur Darstellung J. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 1989, S. 130 ff. Zum Recht als Spiel Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 12 ff. Zu Sprachspiel und Methodologie F. Müller, Recht - Sprache Gewalt, 1975, S. 12. Zu Sprachspiel und juristischer Methodik ders., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 283. 2

Allgemein so zum Blick auf die Sprachspiele Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 66 mit der Aufforderung: „denk nicht, sondern schau!"

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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1.1 Der Richter trifft auf die ursprüngliche Gewalt des Konflikts und kommt für eine Rechtsfindung zu spät Nehmen wir also für einen Augenblick noch einmal die Perspektive des klassischen Positivismus ein. Was ist von hier aus von der Praxis und dem Gerichtsverfahren zu erkennen? Zunächst sehen wir nichts, wir hören etwas3: das Gemurmel eines Gesprächs. In seinem An- und Abschwellen, skandiert von Hammerschlägen, sind jetzt schon einzelne Stimmen zu unterscheiden. Einige sind laut, klar und schneidend, andere sind leise, unsicher stockend und werden häufig unterbrochen. Aus unserer Perspektive hat das Gespräch einen Gegenstand und ein Ziel: es dreht sich um die Nacherzählung eines Vorgangs, der von den Beteiligten in unterschiedlicher Weise geschildert wird, und um verschiedene Sichtweisen des Gesetzes. Ziel des Gesprächs ist es, das Recht zufinden, das heißt seine Aussage für diesen Fall zu erkennen. Konversation also, wenn auch themenzentriert. Von Gewalt dagegen keine Rede4. Der Hammer des Richters trifft lediglich den Tisch, und die Verschiedenheit der Gesprächsrollen kommt je nach Verteilung der Temperamente auch im Alltag vor. Gespräch und Erkenntnis sind schließlich etwas grundlegend anderes als Schlagen, Treten, Fesseln, Töten und ähnliche Gewaltakte. Diese kommen nur als Gegenstand des Gesprächs vor, das Sprechen selbst ist gewaltfrei. Betrachten wir den zwanglosen Zwang des Gespräch etwas näher. Für den Betroffenen mag das Ganze beginnen mit einer Vorladung5. Die Nachteile, die entstehen, wenn er sich entschließt, den vorgegebenen Termin nicht wahrzu3 Damit entgeht uns vieles von dem, was man sehen könnte. Ganz naheliegend und deswegen oft übersehen: die Architektur der Gerichtsgebäude und ihrer Innenräume. Vgl. dazu die erhellende Analyse bei Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 155; ders., Geschichten aus dem Altbau. Zur Semantik öffentlicher Räume, in: Henrichs /Stephan (Hg.): Ein Jahrhundert Frankfurter Justiz. Gerichtsgebäude A: 1889 - 1989, 1989, S. 62 ff; ders., Orte der Wahrheit. Zur Semantik der Räume von Hauptverhandlung und Psychoanalyse, in: Rotter (Hg.), Psychiatrie, Psychotherapie und Recht. Diskurse und vergleichende Perspektiven, 1994, S. 157 ff 4

Vgl. dazu die Formulierung der juristischen Normalperspektive bei Dworkin, Law's Empire, 1986, S. 13 f. Die dort sogenannte „ i n t e r n a l perspective" läßt nur das Rechtsgespräch zu und schließt jede Möglichkeit einer Wahrnehmung der damit verbundenen Gewalt aus. 5

Vgl. dazu Yablon, Formblatt, in: Haferkamp Derrida - Benjamin, 1994, S. 94 ff.

(Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit.

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Π. Textarbeit

nehmen, sind dabei in der Regel größer, als wenn er Karten für ein Konzert verfallen läßt. Die Rolle, die er im Verfahren einzunehmen hat, mag aktiver sein als die des Konzertbesuchers, aber die Verletzung ihrer Grenze ist auch wesentlich sçhârfer sanktioniert. Auch die anderen Verfahrensbeteiligten sind nicht vollkommen souverän. Sie haben als Anwalt ihre Vertragspflichten, als Richter und Staatsanwalt ihre Amts- und Dienstpflichten, die gegebenenfalls disziplinarrechtlich und strafrechtlich abgestützt sind. Für den Richter vor allem besteht der Zwang, zu entscheiden. Denn eine solche Entscheidung darf er dem Rechtssuchenden nicht verweigern. Die Liste der das Rechtsgespräch durchziehenden Zwänge ließe sich leicht verlängern. Trotzdem sind wir mit der Aufzählung von Zwängen noch nicht unbedingt bei Gewalt. Auch wenn es Zwänge gibt, so liegt doch die Gewalt aus klassischer Sicht erst am Ende des Rechtsgesprächs, wenn sein Ergebnis vollstreckt werden muß. Wenn auch Phänomene von Zwang im Gespräch einzuräumen sind, scheint doch die Gewalt etwas dem Rechtsgespräch, dem Verstehen des Rechts, äußerliches zu bleiben. Das soll sogar für das Ende des Gesprächs gelten: dann, wenn nur noch einer spricht, der Richter. Das Recht ist jetzt durch die gemeinsame Bemühung aller erkannt. Der Richter ist dazu berufen, das Ergebnis vor uns hinzustellen, es auszusprechen. Auch dabei übt er aus positivistischer Perspektive keine Gewalt aus, er entscheidet nicht, er faßt nur das Ergebnis der Erkenntnis zusammen. Es entscheidet und verantwortet allein das durch den Mund des Richters sprechende Gesetz, nicht etwa der Richter als wirkliches Subjekt. Das Modell geht theoriegeschichtlich bekanntlich auf Montesquieu zurück: der Richter als bouche de la loi - als könnte der Normtext außerhalb seines legislatorischen Verfahrens und in künftigen kontingenten Fällen als automatisches Subjekt über eine von ihm vorweggenommene Situation entscheiden. Danach erscheint dierichterliche Gewalt als en quelque façon nulle, so als füge der Richterspruch dem Gesetz normativ nichts hinzu, als sei er kein verantwortliches Handeln, eben keine Äußerung von Gewalt. Mit dem Ausspruch des Urteils sind wir am guten Ende der Rechtsfindung angekommen und überlassen den Rest dem Vollstreckungsbeamten. Die im Ausgangspunkt des Konflikts vorhandene Gewalt wurde aufgehoben in die Erkenntnis des Rechts. Es ist die vom Richter verlautbarte Sprache des Rechts, die diese Leistung vollbracht hat. Ist es aber wirklich eine Aufhebung und nicht vielmehr eine Metamorphose der Gewalt, die sich in der Sprache des Rechts vollzieht?

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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Die Gewalt des Richters haben wir bisher nicht untersucht, noch nicht einmal bemerkt. Das liegt an unserer Perspektive: wir sehen vom Richtertisch herab auf das Gewimmel der Rechtsfragen. Dierichterliche Gewalt ist damit der Punkt, von dem aus wir wahrgenommen haben, ohne diesen Standpunkt selbst wahrzunehmen. Wenn wir umgekehrt von unten nach oben dem Richter ins Auge blicken, nehmen wir die Gewalt wahr. Genau diese Gewalt des Richters bildet den blinden Fleck in der juristischen Selbstwahrnehmung. Wenn wir dierichterliche Gewalt und ihr Verhältnis zur Sprache verstehen wollen, müssen wir also die Perspektive wechseln. Gewalt und Sprache sind dann, anders als die herkömmlichen Auffassungen nahelegen wollen, gerade nicht klar geschieden. Es handelt sich nicht um zwei Welten, die sich allein an der Pforte des Justizpalastes berühren. Vielmehr bilden Sprache und Gewalt im Rechtssystem ein inniges Mischungsverhältnis, das genauer Analyse bedarf. Am Anfang des Rechtsstreits liegt die aktuelle oder potentielle Gewalt eines gesellschaftlichen Konflikts. Das Recht reagiert auf sie, indem es sie auf seine spezifische Weise aufnimmt, lenkt, verändert und suspendiert. Es antwortet damit auf die gesellschaftliche Störung. Zwar mag je nach Temperament und Durchsetzungsvermögen die Kooperation als höherwertig gegenüber dem Konflikt erscheinen. Kooperation setzt aber Einigung der Beteiligten über gemeinsame Ziele voraus. Eine pluralistische Gesellschaft verzichtet jedoch gerade auf gemeinsame Ziele als erzwungene Grundlage der Vergesellschaftung. Konflikt ist damit nicht ein in Kooperation zu überführender Unwert, sondern eine normale Vorgabe für ein derartiges Rechtssystem. Diesem bleibt nur die Wahl, den Konflikt zu eskalieren oder zu kultivieren. Um allerdings erst einmal sehen zu können, wie die Rechtsordnung die Gewalt wirklich verarbeitet, müssen wir zunächst unabhängig vom Bedürfnis ihrer Bewältigung und Kultivierung die Realität der Gewalt analysieren, die der gesellschaftliche Konflikt dem Richter vorgibt. Was in jedem Sinn Vor dem Gesetz' ist, das ist der 'Krieg der Bürger'. Es ist der unvermittelte Kampf der Bürger untereinander, in dem sie aufeinander losgelassen sind. In ihm kennen sie kein anderes Gesetz als das des Sieges. Nach diesem Gesetz heißt es für jeden Schlag, den sie einander versetzen, nur „Ich oder Du".6 Dieser 'Krieg', und sei er im Anlaß noch so kleinlich, ist alles andere als friedlich gesitteter Wettstreit um die Sache. In ihm gewinnt nicht der Bessere und nicht 6

Vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 141 im Anschluß an die begriffliche Exponierung der 'Idealgestalt' des Krieges bei Clausewitz.

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Π. Textarbeit

einmal der Geschicktere. In ihm siegt der Stärkere und der in der Wahl und im Einsatz seiner Mittel Skrupellosere. Diesen 'Kampf auf Leben und Tod', und sei dies auch ein noch so geringer Teil des ganzen Lebenslaufs, bzw. ein noch so 'kleiner Tod', tragen die Bürger vor die Schranken des Gerichts. Sie tragen ihn in die Mitte des Gerichtssaals und lassen selbst dort nicht von ihm ab. Sie suchen ihn ganz im Gegenteil mit den 'Mitteln des Rechts' fortzusetzen und für sich zu entscheiden. Dem muß der Richter nicht nur Einhalt gebieten. Um des feindseligen Antagonismus des gesellschaftlichen Konflikts Herr zu werden, muß er ihn der Ordnung des rechtsförmigen Verfahrens unterwerfen. Er muß den Konflikt in die Schranken weisen. Er muß auf die Sache lenken, an der er sich entzündet hat. Nur so kann er den 'lebendigen Stoß der Körper gegeneinander'7 von diesen ablenken und damit dem Streit die rohe Brachialität des unmittelbaren Zusammenstoßes nehmen. Er muß ihm mit dem Gesetzbuch in der Hand die Regel geben, nach der zu entscheiden ist. Und er ist es, der sich diese Entscheidung vorbehalten muß. Dazu hat er den Konflikt zur Sprache zu bringen, ihm dadurch seine Bedeutung für eine rechtsförmige Entscheidung zu geben und diese Entscheidung dann im Verdikt über den Konflikt auch zu treffen. Für all das hat der Richter nur das Gesetzbuch in der Hand. Und einen „Fall" im Sinn der Rechtsordnung muß er sich aus dem 'Krieg der Bürger' erst machen. Die im Rechtsgang alles entscheidende Norm ist mit dem Gesetz nicht vorgegeben. Sie ist nicht schon im Gesetz als vielversprechender Gehalt enthalten, der nur drauf warten würde, von den buntscheckigen Umhüllungen gesetzestechnischer Formeln befreit und den Kontrahenten vor Gericht als Recht präsentiert und dargereicht, „ausgelegt" zu werden. Und ebensowenig ist der Rechtsfall vorgegeben. Er kommt nicht etwa schon fertig gleichsam des Weges daher, auf daß die Norm wie eine Falle um die Maus herum zuschnappen und ihn regeln könnte.8 Was vielmehr „vorgegeben" ist, vor allem Gesetz nämlich, das ist der Konflikt im Freilauf seines unmittelbar feindseligen Antagonismus, in dem die Kontrahenten einander ihren Willen aufzuzwingen, einander ihren Interessen zu unterwerfen und sich so gegenseitig 'das Gesetz zu geben' suchen. Es ist der Konflikt, in dem die Kontrahenten einander das Gesetz des Handelns

7 8

Vgl. Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 20.

Vgl. F. Müller, Juristische Methodik - Ein Gespräch im Umkreis der Rechtstheorie, in: Verwaltungsrundschau 4,1994, S. 136.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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aufoktroyieren wollen.9 Was so daherkommt und seinen Lauf nimmt, das ist der Konflikt in der ihm eigenen Logik widerstreitender Kombattanz. Was so 'zuschlägt9 und über die Kontrahenten hereinbricht, das ist der in dieser Logik sich überlassene Selbstlauf des gegenseitigen Totschlags. Und sei dieser noch so subtil, „nur" Verletzung, Beugung, Behinderung und Unterwerfung. Gleichgültig auch, ob er sich „nur" verbal vollzieht. Er macht sich dann eben die der Sprache eigene Gewalt gefügig, indem die Kontrahenten einander 'übers Maul fahren 9, anstatt sich gleich darauf zu schlagen. Die Kontrahenten fallen sich gegenseitig ins Wort, um sich das Wort abzuschneiden und zu entziehen. Sie stellen einander zur Rede, um sich gegenseitig zum Schweigen zu bringen. Das macht den combat im Zweifelsfall nicht harmloser, sondern eher schlimmer.10 Denn es geht den Gegnern doch immer wieder darum, den anderen möglichst effektiv mundtot zu machen. Immer geht es darum sich ein 'Recht' herauszunehmen, und sei es das auf die nackte Existenz, indem man auf eigene Faust dem anderen nimmt, was einem selbst recht ist, und dem anderen in Wechselwirkung alles an dem seinem abspricht und verwehrt.11 Und sei es nur das bescheidene Recht auf das, was es jeweils wert macht, das eigene Dasein zufristen. Immer geht es darum, den anderen in seinem Recht zu beschneiden, indem er insoweit wehrlos gemacht, 'niedergeworfen', zum Opfer des eigenen Anspruchs auf ein Recht gemacht wird.12 Es geht darum, sich ein Recht dadurch zu setzen, daß der 9

Grundsätzlich zur Praxeologie des 'reinen Konflikts" begrifflich anhand der Idealgestalt des Krieges Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 17 ff. Clausewitz definiert: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen." Und fährt im übrigen auch für das Recht überaus treffend fort: „Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen." S. 17. 10

Dazu die Reflexion zu Rimbauds Wort von dem combat spirituel bei F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 198. Vgl. auch das Gespräch über Strukturierende Rechtslehre und praktische Semantik, in: ders. (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 205 f. 11

Auch zu diesem Nullsummencharakter des reinen Konflikts schon Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 28 f. Spieltheoretisch durchgehend M D. Davis, Spieltheorie für Nichtmathematiker, 1972. Zum Zusammenhang von Krieg und der darin liegenden Entscheidung über die ansonsten sich als gleichermaßen wahr widerstehenden Rechte schon Hegel in der „Verfassung Deutschlands". Vgl. Hegel, Politische Schriften, 1966, S. 208 ff. Dazu Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 1976, S. 240 ff. 12

„Soll der Gegner zur Erfüllung unseres Willens durch den kriegerischen Akt gezwungen werden, so müssen wir ihn entweder faktisch wehrlos machen oder in einen

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Π. Textarbeit

andere ganz ins Unrecht gesetzt wird, ohne daß er noch in der Lage wäre, dieses und überhaupt ein Unrecht für sich zu beklagen.13 So versetzt denn selbst der kleinlichste Krieg der Bürger um den Zwerg im Vorgarten14 die Streithähne praxeologisch in den Zustand der 'rohen Natur' Zustand versetzen, daß er nach Wahrscheinlichkeit damit bedroht sei." Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 20. 13

So bestimmt Lyotard , Der Widerstreit, 1987, S. 27 den Widerstreit schon in Hinblick auf die „Klage bei Gericht" als den Fall, „in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird." Und er erläutert: „Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die Beilegung des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert." 14

Was Gartenzwerge der Unschuld ihrer Geschmacklosigkeit zum Trotz an kritischer Masse von Kombattanz in sich bergen können, zeigen die folgenden beiden Entscheidungen. Nach der des OLG Hamburg, Beschluß v. 20.4.1988, in: NJW, 1988, 1053 stellt die Aufstellung von Gartenzwergen ,4m gemeinschaftlichen Garten einer Wohnanlage" „eine übermäßige Nutzung des gemeinschaftlichen Eigentums bzw. eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechte anderer Wohnungseigentümer dar." Die Aufstellung von Gartenzwergen hat nach Meinung des Gerichts alle für den kombattiven Akt wesentlichen Ingredienzen des Widerstreits, des Übergriffs und der Verletzung bei sich; und zwar nicht erst die massenhafte Mobilisierung ganzer Armeen von Gartenzwergen. Es reichen vielmehr deren zwei. Sie bereits vermögen den anderen ins Mark von Person und Eigentum zu treffen, indem sie „gegensätzlicher Beurteilung im ästhetischen Bereich unterliegen, die nicht wenige Menschen in ihren Gefühlen berührt und auch Einfluß auf einen Kaufinteressenten für eine Eigentumswohnung haben." Denn Gartenzwerge sind, so folgt das Gericht zum Sachverhalt dem obsiegenden Antragsteller, „Symbole der Engstirnigkeit und Dummheit". Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, den Gartenzwerg förmlich als eine Waffe gegen den anderen einzusetzen. Dies zeigt die zweite Entscheidung AG Grünstadt, Urt. V. 11.2.1994, in: NJW, 1995, 889 zu den sogenannten „Frustzwergen", „deren Gestik, Körperhaltung oder Gestaltungsweise im übrigen ehrverletzende oder beleidigende Wirkung zugesprochen werden kann." Das Gericht präzisiert zum Sachverhalt: „Es handelt sich um ca. 30 bis 35 cm große gartenzwergartige Gebilde. Im Gegensatz zu den üblicherweise bieder und brav wirkenden Gartenzwergen handelt es sich bei den vom Kl. aufgestellten 'Frustzwergen' um solche, die verschiedene, für einen Gartenzwerg untypische Posen und Gesten einnehmen." Von denen sind die ausgestreckte Zunge, der spätestens seit dem Skandal um den Fußballspieler Effenberg während der Fußball-WM 1994 einschlägig bekannte ausgestreckte Mittelfinger und die heruntergelassene Hose noch die harmloseren. Die Angriffe scheinen dem Gericht so schwerwiegend, daß selbst ein Grundrechtsschutz für solche Manifestationen verwirkt ist: „Der Frustzwergenschöpfer kann sich gegenüber seinem massiven Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Nachbarn nicht auf die Freiheit der Kunst berufen." Dafür erkennt das Gericht in seinen Gründen scharfsinnig, daß derlei symbolisch figurierte Akte in ihrem praktischen Sinn der unvermittelt körperlichen Attacke in nichts nachstehen: „In

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des Konflikts. 15 Das zeigt sich auch darin, daß es keinen qualitativen Sprung braucht, um zum Knüppel statt zum Wort zu greifen. Es braucht dazu nur den Sprung mit Gebrüll über den Gartenzaun des Nachbars. Der allerdings wird in den seltensten Fällen geneigt sein, seine Sache von vornherein verloren zu geben, das Feld zu räumen, sich als willfähriges Opfer zur Schlachtbank fuhren zu lassen: sich als Lamm in die Fänge des Wolfes zu begeben.16 Vielmehr wird er in der Regel alles daran setzen, dem Gegner in die Parade zu fahren. Er wird sich seiner Haut zu wehren wissen und alles dafür tun, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Und sei es „nur" um der schieren Selbstbehauptung und Selbstachtung willen. Und das beste, was er dafür tun kann, ist natürlich, dem anderen zuvorzukommen, bevor der auch nur zur Drohung werden kann. 17 Den anderen anzugehen, bevor der zum Wafifengang auch nur in der geringfügigsten Bataille des Alltags antritt. Sich den anderen gefügig zu machen, bevor der auch nur zu erwägen wagt, sich irgend ein Recht auf das Eigene herauszunehmen. Nur, daß eben jeder der beiden Gegner so denkt und vor allem, wohl wissend um die Logik des Konflikts, ebenso handelt. Wenn also eine Falle zuschnappt, dann ist es nicht etwa die des „Gesetzes" um den „Fall", sondern die des Gesetzes der Wechselwirkungen im reinen Wirklichkeit stellt sich der Fall vielmehr so dar, daß der Bekl. seine zweifellos vorhandene künstlerische Begabung dazu mißbraucht hat, um seiner Absicht, den Kl. zu kränken, eine feste Form zu geben. Letztlich ist hier nichts anderes geschehen, als daß der Bekl. sich nicht selbst hingestellt hat, um entsprechend ehrverletzend und beleidigend gegenüber dem Kl. zu gestikulieren, sondern dies durch tönerne Stellvertreter getan hat. Es macht daher keinen Unterschied, ob der Bekl. sich selbst vor das Haus des Kl. gestellt hätte, um diesem beispielsweise sein bloßes Hinterteil hinzustrecken, oder dem Kl. die Zunge herauszustrecken bei (sie) dem oben bereits erwähnten 'Fuckyou-Zeichen'. Da dies dem Bekl. aus naheliegenden Gründen nicht permanent möglich ist, hat er sich entschlossen, die hier streitgegenständlichen Zwerge zu schaffen und diese für ihn 'handeln' zu lassen." Man hüte sich allerdings, dies alles nur für Realsatire zu halten. Es zeigt die 'Gewöhnlichkeit' von Kombattanz. Sie nur dort zu vermuten, wo eine ganze Gesellschaft in Zwietracht und Haß zerbricht und Panzer rollen, hieße, sie in ihrer ganzen Gegenwart, Härte und Feindseligkeit zu verkennen. Es ist die Omnipräsenz im Kleinen, die den 'Krieg der Bürger' durch die ihm immanente Tendenz der Eskalation dann allerdings bis hin zum Griff zur Pistole so brisant macht. 15

Und zwar hier nur praxeologisch. Ansonsten rechtsphilosophisch „Über Naturzustände" F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 137 ff. 16

Klassisch bei Hobbes. Dazu F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 138 f. 17

Zum eskalativen Moment im wechselseitigen präventiven Zuvorkommen und Überbieten Clausewitz, Vom Kriege, 1991, S. 20 f.

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Π. Textarbeit

Konflikt. 18 Denen liefern sich die Kontrahenten mit dem Augenblick aus, in dem auch nur einer von ihnen den Streit vom Zaun bricht und bis zu seinem 'bitteren Ende' nicht mehr von ihm zu lassen gedenkt. Von diesem Moment an diktieren sich die Streitenden Zug um Zug die Regeln ihres Spiels. Denn der reine Konflikt ist nicht regellos.19 Er ist als Praxis nicht etwa a-morph, ohne Bedeutung und Charakter.20 Sondern er unterliegt im Gegenteil einer strikten Inter-Aktivität. Mit der unbeherrscht an-archischen Regelschöpfung in actu seines Fortgangs21 ist der reine Konflikt allenfalls im Sinn des Wortes zügellos. Jeder Schlag, den die Parteien gegeneinander führen, setzt ihnen zugleich die Bedingungen, unter denen zu handeln ihnen möglich bleibt. Und einmal losgelassen, erschöpfen sich die Wechselwirkungen des reinen Konflikts erst im Äußersten des (symbolischen) Todes wenigstens eines der Kontrahenten; und sei es ein noch so 'kleiner Tod', indem die Befähigung oder auch nur die Berechtigung, weiter zu handeln, abgeschnitten und versagt ist. Erst darin bricht die ihn definitiv konstituierende negative Binarität des reinen Konflikts in sich zusammen, da jeder weitere Vorstoß buchstäblich ins Leere liefe. Die Furcht vor dieser praxeologisch unerbittlichen Konsequenz mag es denn auch sein, die die Gegner dazu bewegt, im Rechtsgang einen Ausweg aus dem Selbstlauf des reinen Konflikts zu suchen. Dort jedenfalls, wo nicht ohnehin die Staatsgewalt in mißtrauischem Bedacht ihres Monopols die Streitenden vor die Schranken des Gerichts zwingt. Einmal in den Gerichtssaal versetzt, lassen die Kontrahenten keineswegs voneinander ab. Vielmehr ma18

Nach ebenda, S. 17 ff sind dies, hier praxeologisch, also praxisgrammatisch, aufgefaßt die folgenden Wechselwirkungen und das jeweils ,Äußerste" als ihr Effekt: „der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz" S. 19. „Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe", S. 20. Die dritte Wechselwirkung besteht in der Steigerung der eingesetzten Mittel bemessen an der Einschätzung der „Widerstandskraft" des Gegners und verursacht durch die Notwendigkeit, die zu überbieten, vgl. S. 20 f. 19

Entsprechend praxissemantisch zum kompetitiven Handeln Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 69. 20

Zum „Charakter des Spiels" und der Bedeutung als „Physiognomie" Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 566. 21

Allgemein zum „Make up rules as we go along" Wittgenstein, Tractatus logicophilosophicus, Werkausgabe, Band 1,1984, Philosophische Untersuchungen, § 83.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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chen sie sich daran, sich den Gerichtssaal als Bühne für das kleinere oder größere 'Drama ihres Krieges' 22 herzurichten. Sie beginnen, sich mit ihrem Konflikt auf diesem Schauplatz als ihrer 'Walstatt', ihrem 'Marsfeld' einzurichten und sich für die 'Fortsetzung des Konflikts' nunmehr im Waffengang 'mit den Mitteln des Rechts' in Szene zu setzen.23 So mag zwar die Furcht vor einem Untergang, vor einem 'gewaltsamen Ende' im Konflikt, bzw. der Zwang, sich der Justiz zu stellen, für die Streitenden subjektiver Antrieb sein, die Entscheidung nicht mehr auf dem Feld der eigenhändig gestalteten sozialen Beziehungen zu suchen, sondern innerhalb der Mauern des Gerichts. Objektiver Beweggrund ihres Handelns aber bleibt, die Entscheidung im Konflikt herauszufordern. Mit ihrem Auftritt auf dem Parkett des Gerichtsaals bleibt das Handeln der Gegner dem Zweck unterworfen, sich zur offensiven Wahrnehmung, bzw. zur defensiven, aber alles andere als passiven Wahrung 24 ihres eigenen Interesses symbolisch zum 'Herrn über Leben und Tod' des anderen zu machen. Der 22 Vgl. zur Exponierung einer Dramatologie des Krieges im Anschluß an den Clausewitzschen Begriff des „Kriegstheaters" Grawert-May, Das Drama Krieg, 1987, v.a. S. 9 ff. Zum Begriff selbst Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 267 f. 23

Für das Verhältnis von Konflikt und Rechtsstreit stellt sich das Gewaltverhältnis also erstmal in Umkehrung der berühmten Clausewitzschen Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln dar. Zur authentischen Formulierung vgl. Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 34. Zur Interpretation der „Formel" Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, 1980, S. 154 ff Im Grunde wiederholt und realisiert sich so immer wieder im 'Kleinen' des alltäglichsten Eintritts in das Gerichtsverfahren für die Gewalt, was Foucault im 'Großen' des Geschichtlichen als Folge der 'Transformation' des Krieges durch seine „Verstaatlichung" am Beginn der Neuzeit sieht. Dadurch nämlich „verschwand aus dem Gesellschaftskörper, aus den Verhältnissen zwischen den Gruppen, das, was man den Alltagskrieg nennen könnte, was man den Privatkrieg nannte." „Aber das heißt nicht, daß die Gesellschaft, das Gesetz, der Staat gleichsam der Waffenstillstand in diesen Kriegen ist, die endgültige Besiegelung der Siege. Das Gesetz ist nicht Befriedung. Unter dem Gesetz geht der Krieg weiter, er wütet weiter innerhalb aller Machtmechanismen, auch der geregeltsten." Foucault , Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, 1986, S. 8 fu. S. 11 f. 24

Im Anschluß an Clausewitz weist Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 139 auf den äußerst aktiven Charakter der Verteidigung hin: „Schon hinhaltender Widerstand ist Kampf. Er nutzt die Zeit, um die Obermacht auszugleichen und die Kräfte des Gegners auszuzehren." Denn: „Auch die Verteidigung will den Sieg." Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 29 f selbst sieht dann die „Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff' geradezu darin, daß die erste in 'Aufzehrung' des zweiten die ganze Dynamik des Krieges zum Stillstand zu bringen und so den Angreifer der Vergeblichkeit all seines Bemühens preiszugeben vermag.

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Π. Textarbeit

Gewinn, den sie aus dem Gerichtsverfahren zu ziehen versuchen, ist die ungeteilte Verfügung über das Ganze der 'Sache', die den Zündstoff ihres Konflikts bildet. Sie möchten auch noch vor Gericht diese Sache dadurch ganz für sich, daß allein sie sich auf dem ihnen mit dem 'sozial' institutionellen 'Raum' des Gerichts vorgezeichneten Feld der Auseinandersetzung darum25 zu behaupten trachten. Den Gewinn in der Sache suchen die Parteien aus dem Sieg über die Person zu ziehen. Sie sind bestrebt, den anderen aus dem Feld zu schlagen, ihn zumindest gefügig zu machen und ihn, wenn schon nicht zur Aufgabe, so doch zumindest zum Nachgeben zu zwingen. Auch mit der Stilllegung eines sich in der Ausweglosigkeit einer Patt-Situation festfressenden Kampfes etwa durch den gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich suchen die Gegner kompetitiv wenigstens noch ihren Vorteil auf Kosten des anderen, um den eigenen Schaden möglichst gering zu halten.26. Auch der Vergleich hat nichts mit einem Verhandeln, bzw. Aushandeln27 im Sinn des Bemühens um einen fairen Interessenausgleich zu tun. So oder so sind die Kontrahenten darauf aus, möglichst unbeschadet und unangefochten mit dem Pfund des in der Sache steckenden handfest materiellen oder aber symbolischen Kapitals28 wuchern zu können. Dem Unterlegenen wird damit letztlich ein Stück seines Lebens genommen, indem es sich aus dieser Ressource29 jedenfalls nicht mehr speisen kann. 25

Zum Begriff des Feldes Bourdieu , Sozialer Raum und „Klassen", in: ders., Sozialer Raum und „Klassen" Leçon sur la leçon, 1985, v.a. S. 27 f. Eine umfassendere Darstellung gibt Schwingel, Analytik der Kämpfe, 1993, S. 60 ff. 26 Rational entscheiden die Streitenden so angesichts der Ausweglosigkeit und Erfolglosigkeit ihrer Züge, das heißt angesichts der Drohung, daß der Nutzen der Züge bei maximalen Kosten gegen Null läuft, pessimistisch auf die Maximierung eines Minimums an Nutzen hin, um ein hybrid partielles Substitut der Nullsumme zu erreichen. Vgl. zum Maximin-Prinzip Meggle, Grundbegriffe der rationalen Handlungstheorie, in: ders. (Hg.), Analytische Handlungstheorie. Band 1. Handlungsbeschreibungen, 1977, S. 419. 27 Zum Verhandeln (negotiating) und Aushandeln (bargaining) in der sozialen Interaktion Dieckmann / Paul, „Aushandeln" als Konzept der Konversationsanalyse. Eine wort- und begriffsgeschichtliche Analyse, in: Linguistische Arbeiten und Berichte, 19, 1983, v.a. S. 164 ff. 28

Zur Analyse der Konkurrenzkämpfe um materielles und symbolisches Kapital bei Bourdieu vgl. Schwingel, Analytik der Kämpfe, 1993, S. 86 ff. 29

Allgemein zum Zusammenhang von kompetitivem Handeln und der Knappheit von Ressourcen R. Keller, Kooperation und Eigennutz, in: Liedtke / ders. (Hg.), Kommunikation und Kooperation, 1987, S. 1 ff.

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Jeder Vorstoß in der Sache zielt auf den Gegner. Selbst im Prozeß um die geringfügigste Übervorteilung fechten die Parteien ein ihnen vitales Interesse aus. Der Kampf gilt den der Sache abzugewinnenden Spielräumen und Entfaltungsmöglichkeiten des eigenen Handelns auf Kosten des anderen. Dem sind sie zu entwinden und vorzuenthalten, möglichst ohne selbst irgend etwas dafür zu geben und zuzugeben, möglichst ohne sich irgend etwas dafür vergeben zu müssen. Mit diesem Grundzug einer auch sachförmig durchschlagenden negativ personalen Auslegung ihres Handelns nehmen die Gegner die ursprüngliche Gewalt des reinen Konflikts in die gerichtliche Auseinandersetzung mit hinein.30 Das gilt insoweit für das Strafverfahren ebenso wie etwa für das Verfahren in Zivilsachen, bei allen gravierenden juristischen Unterschieden, wie sie in den ganz unterschiedlichen Prozeßordnungen ihren Niederschlag finden. Für die Parteien ist die gerichtliche Auseinandersetzung praxeologisch von der kalkuliert effektiven Grausamkeit bestimmt, die sie einander zum Wohl der eigenen Sache zufügen. Und der Umgang, den sie vor Gericht einander angedeihen lassen, den sie miteinander 'pflegen9, unterliegt einer Grammatik und Ökonomie der unbedingten Effizienz. 31 Vor Gericht wollen sie nicht ihr Recht. Sie wollen den Erfolg. Wenn ihnen jenes in aller Form zugesprochen wird, dann ist ihnen das gerade recht dafür, den Erfolg zu besiegeln. Darin unterscheidet sich ihre Auseinandersetzung vor Gericht gar nicht so sehr von der profanen Kommunikation sonst. Gewöhnlich reden die Menschen nicht miteinander, nur um sich 'auszutauschen9 und zu verständigen; jedenfalls dort nicht, wo es irgend 'um etwas geht'.32 Sprachliche Verständigung dient vielmehr dazu, das zu erreichen, was sich die Beteiligten jeweils davon versprechen, erwarten und dafür vornehmen; sowie auch umgekehrt dazu, sich 30

Allgemein zum Krieg als „Macht der Negativität" Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 1976, S. 242. 31

Zur Praxeologie als einer Theorie alltäglichen effizienten Handelns, die nicht von ungefähr im Kampfeinen ihrer hervorragenden Gegenstände findet Pszczolowski, Die Praxeologie von Tadeusz Kotarbinski und ihre Fortsetzung, in: Stachowiak (Hg), Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens. Band 2,1987, S. 334 ff 32

Ein Paradebeispiel der Zielorientiertheit von Verständigung sind 4 Wittgensteins Bauarbeiter'. Vgl. Wittgenstein, Das Blaue Buch. Werkausgabe, Band 5, 1984, Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), S.117 ff; sowie ders., Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe, Band 1,1984, Philosophische Untersuchungen, §§ 6 ff Dazu auch Rhees, Wittgenstein's Builders, in: Fann (Hg.), Ludwig Wittgenstein. The Man and his Philosophy, 1967, S. 251 ff. 4 Müller u. a.

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Π. Textarbeit

überhaupt klar darüber zu werden. Sprachliche Verständigung dient in diesem Sinn dazu, „sozial erfolgreich" zu sein.33 Die Sprache gibt den Menschen die Mittel, das „Werkzeug" und die „Technik"34 in die Hand, sich dafür einzusetzen und das ihre dazu zu tun, um dieses Ziel zu erreichen. Verständigung öffnet ihnen den Weg, ihren Einfluß dafür geltend zu machen. Das gilt auch dort, wo es das Ziel ist, einander zu verstehen; dann jedenfalls, wenn es um ein Verstehen über den schlicht lapidaren Sinn hinaus geht, die Worte des anderen zu hören, seine Äußerungen als solche zu erfassen. Damit soll nicht gesagt sein, daß Kommunikation nie Selbstzweck sein könne Die juristische Kommunikation mit ihrem Zweck der Auseinandersetzung um das Recht begründet mit dessen Wissenschaft ein Unternehmen eigener Art. Sie hat einen ganzen Berufsstand hervorgebracht. Dessen Verständigung darüber, was denn nun wie zum Recht zu sagen sei, führt nicht gerade in die Idylle einer durch Selbstlosigkeit ausgezeichneten Gelehrtenrepublik. Sie bringt vielmehr ihre eigenen Animositäten um Prestige, Titel, Geltung und Einfluß hervor, von Finanzen gar nicht erst zu sprechen. Vor Gericht jedenfalls, und das heißt dort, wo in der Entscheidung über Recht der Schwur auf seine Realität getan werden soll, ist die Auseinandersetzung darum alles andere als Selbstzweck. Auf Seiten des Richters nicht, der seine Aufmerksamkeit und Arbeit darauf zurichtenhat, das Recht zur Wirksamkeit zu bringen; und schon gar nicht auf Seiten der Streitparteien. Es geht diesen in der gerichtlichen Auseinandersetzung nicht darum, ihr Recht zu bekommen. Das „haben" sie längst. Sie haben es sich vor ihrem Erscheinen vor den Schranken des Gerichts schon herausgenommen. „Ihr Recht" steht für sie gar nicht mehr zur Debatte, sondern es soll ihnen in aller Form verbrieft werden. Ihrer Sache soll dort zum Durchbruch verholfen werden, wo ihnen die Staatsgewalt einen umstandsloseren Weg verwehrt, oder wo

33 34

Vgl. R. Keller, Sprachwandel, 2. Aufl., 1994, S. 116 ff.

Zum Vergleich von Sprache und Werkzeug siehe Wittgenstein, Tractatus logicophilosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, §§ 10 u. 53 f. Zum Sprache sprechen als einer Technik ebenda, § 199, sowie ders., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe, Band 6, 1984, S. 346. Zum besonderen Instrumentalismus in Wittgensteins Sprachauffassung Meggle, Wittgenstein - Ein Instrumentalist?, in: Burckhardt / Birnbacher (Hg.), Sprachspiel und Methode, 1985, S. 71 ff Zur instrumentalistischen Zeichenauffassung anhand von Wittgenstein R. Keller, Zeichentheorie, 1995, S. 58 ff

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

S1

es ihnen erfolgversprechender erscheint, sich mit der Amtlichkeit ihres Rechts einen Revers auf den Einsatz staatlicher Gewalt ausstellen zu lassen. Das gilt im übrigen auch dort, wo deren Vollzugsorgane, ob nun genötigt oder aus freien Stücken, selbst als Streitparteien vor Gericht auftreten. Das Recht ist für die Parteien nicht nur nicht Selbstzweck. Es ist ihnen nicht einmal ein eigener Zweck über den 'eigentlichen9 ihres Kampfes um die strittige Sache hinaus. Das Recht, in dessen Formalitäten sich der Kampf vor Gericht faßt und forttreibt 35 und in dessen Termen er sich ausbuchstabiert, ist ihnen überhaupt nicht Zweck der Übung36, weder „primär" noch „sekundär"; eine Differenz, die in Hinblick auf die sprachlichen Verhältnisse ohnehin nur mit Vorsicht zu benennen ist. „Recht" als Titel, Rhetorik und Prämie ihrer Manöver und Scharmützel im Gerichtssaal ist den Gegnern im Durchzug der prinzipiell instrumenteilen Ratio tätiger Gewalt37 vor allem das Mittel dafür, den Kampf in eigener Sache siegreich zu bestehen. „Recht" als Titel, mit dem sie ihr Handeln überschreiben, ist ihnen unter der Ägide der Staatsgewalt, unter die sie unter dem Plafond des Gerichtssaals gezwungen sind, das Medium, regulär kombattant ihre Vorstöße gegeneinander vorzutragen. „Recht" als Rhetorik38 ihrer Vorträge und Einlassungen zur 35

Als Denkanstoß dafür das Gedankenexperiment, daß „auf dem Mars die Menschen so Krieg führen, wie wir Schach spielen", das Wittgenstein, Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe, Band 3, 1984, S. 163 anregt. Des näheren anhand des auch Saussureschen Vergleichs von Sprache und Schachspiel Ducrot, Der Strukturalismus in der Linguistik, in: Wahl (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, 1973, S. 87 f zu „Regeln" als dem „institutionellen Rahmen eines friedlichen Kampfs"; wobei sich allerdings das „friedlich" allenfalls darauf beziehen kann, daß kein Blut fließt, nicht aber auf eine allgemeine Suspendierung von Härte und Feindseligkeit. 36

Entsprechend gilt für eine Beschreibung und Selbstdarstellung des Handelns der Parteien in juridischen Termen, was Wittgenstein, Das Blaue Buch, Werkausgabe, Band 5, 1984, Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), S. 148 f zur Beschreibung von Turnübungen als Praxis einer Einübung in die „Tauglichkeit für den Kampf 4 sagt. 37 38

Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, 1987, S. 8 fu. S. 47.

Es ist hier ersichtlich die traditionell als 4böse' verschrieene eristische Rhetorik gemeint, „par excellence44 das „Feld von Balgerei, von Beleidigung und Verletzung, Zank, Streit, Bosheit und Lüge, hinterhältiger Bosheit und gekaufter Lüge44. So A. Strauss , Spiegel und Masken, 1974, S. 26 mit Burke, The Grammar of Motives, 1945, S. 19. Seriös zur Eristik der Artikel in Oeding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, 1994. Zur 'Vertreibung des Sophisten' für die Teilung von wahrem und falschem Diskurs Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 11 f. 4*

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Π. Textarbeit

Sache ist ihnen das Mittel, einander aggressiv argumentativ39 die Wunden jenes Ansehens- und Gesichtsverlusts beizubringen, einander jenen Verlust an „Image"40, an 'Erscheinung und Größe' zuzufügen, der den Äußerungen des jeweils anderen den kommunikativen Kredit an Seriosität, Akzeptanz und Prestige nimmt. „Recht" ist für die Streitenden der Weg, durch die gegenseitige Demontage ihrer Äußerungen, gegenseitige Delegitimierung ihres Handelns und durch gegenseitige Diskreditierung als Akteure einander in eine Lage zu manövrieren, in denen ihnen nichts bleibt als die schlechte Alternative, um den Preis der Selbstaufgabe ihres Rechts in ein blind verbales Wüten zu verfallen. 41 „Recht" als Rhetorik wird von den Streitparteien zum Mittel dafür gemacht, einander in eine Lage zu bringen, in der sie als Sprecher in eigener Sache nichts mehr zu gewinnen haben, damit einander 'außer Gefecht' zu setzen. Und so ist schließlich „Recht" als Prämie ihrer deklamatorischen Anstrengung im Verfahren das Instrument dafür, die Staatsgewalt für sich einzunehmen, indem vom anderen nichts bleibt als das geschlagene Opfer. Was sich im ganzen Lauf des Verfahrens vor dem Forum des Gerichts für die Kontrahenten 'ändert', das ist die Gewalt über das Recht als einem Mittel zu diesen Zwecken. Die wird ihnen vom Richter genommen. Für ihren Teil betreiben sie die Instrumentalisierung von Recht bis in den finalen Moment des Verfahrens hinein, in dem der Richter ihnen demnächst den Rücken kehrt,

39

Allgemein zu aggressiven Mustern sprachlicher Verständigung Holly , Imagearbeit in Gesprächen, 1979, S. 81 ff mit zahlreichen Detailanalysen im weiteren. Zu den Formen offensiver und defensiver, von ihm so genannter „strategischer" Argumentation Völzing, Begründen, Erklären, Argumentieren, 1979, v.a. S. 135 ff. Grundsätzlich zu der den praktischen Sinn des Argumentierens stiftenden Metaphorik des argument is war Lakoff / Johnson, Metaphors we live by, 1980, S. 4 ff. 40

Mikrosoziologisch zu diesem Begriff Goffman, Interaktionsrituale, 1971, S. 10 ff. Linguistisch dazu als „Selbstbild" im „ E r g e b n i s einer Typisierung auf ein sozial anerkanntes und gängiges Schema" hin auch Holly, Imagearbeit in Gesprächen, 1979, S. 35 ff. Zum Kampf um „Klassifizierung und Bewertung" auf „dem rhetorischen Schlachtfeld" in Hinblick auf Identität A Strauss, Spiegel und Masken, 1974, S. 24 ff. 41

Ducrot, Der Strukturalismus in der Linguistik, in: Wahl (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, 1973, S. 87 vermerkt für den Zusammenhang von „Sprache und Spiel" hierzu im besonderen: „Die Kunst des Spiels besteht nun darin, dem Gegner Situationen aufeuzwingen, in denen sich die einzig zulässigen Manöver am Schluß für ihn als katastrophal erweisen."

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

um sich für seine Urteilsfindung in den Winkel des Beratungszimmers42 zurückzuziehen. Dann werfen sie mit den Plädoyers, die sie dem Richter mit auf den Weg in seine Entscheidung geben, noch einmal alles in die Waagschale, dessen sie in Auszahlung ihrer Züge gegeneinander43 an Recht habhaft zu sein meinen. Die Kontrahenten versuchen dadurch noch einmal, das Blatt endgültig zu ihren Gunsten zu wenden. Sie versuchen, den Richter delegativ als Befürworter ihrer Sache zu gewinnen, ihn als Agenten ihres Sieges mit Sitz 'im Herzen des Rechts' zu vereinnahmen.44 Die Gegner machen mit diesen letzten Zügen, in denen dann allerdings auch ihr Konflikt seiner ursprünglichen Gestalt nach in diesem Stadium des gerichtlichen Verfahrens liegt, den Versuch, die Gewalt negativer Personalität in die Gestalt des Richters einzutragen und sie so in dessen Entscheidung des Konflikts hinüberzuretten. Mehr können sie dann auch schon nicht mehr für sich tun. Der Richter kann ihnen getrost den Rücken zudrehen. Den 'letalen' Stoß in ihrem Kampf vor Gericht können sie nicht selbst führen. Sie können ihre Schlußerklärungen nicht mehr unmittelbar gegeneinanderrichtenund vortragen, sondern müssen sich mit diesen dem Richter erklären. An diesem Punkt des Verfahrens haben die Parteien, vom Eintritt in den Rechtsgang her gesehen, zumindest eines verloren: die Souveränität einer 'Kriegführung' in eigener Sache, die Souveränität einer Strategie45 der proklamativen Zurichtung der Rechtsmaterie und einer Handhabung der ihnen zugestandenen Rechtsmittel, die allein dem Gebot aggressiver Effizienz gehorcht. Der Richter hat sie wenigstens darin schon in ein prinzipielles Unrecht gesetzt, hat ihnen insoweit die Herrschaft über den Konflikt entwunden; hat den Konflikt zu seiner Sache gemacht, über die er allein in der 'Macht und Herrlichkeit' seiner Amtsgewalt entscheidet.

42

Zur Semiotik des Beratungszimmers als dem 'geheimen', vom 'öffentlichen' der Verhandlung abgetrennten Raum Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 175 f. 43

Im Sinn des strategisch gegenüber der Gewinnerwartung jeweils erzielten Nutzens. Vgl. allgemein zu Strategie und Auszahlung M D. Davis, Spieltheorie für Nichtmathematiker, 1972. 44

Zum Zusammenhang von Delegation und Usurpation bezüglich des politischen Feldes Bourdieu, Delegation und politischer Fetischismus, in: ders., Rede und Antwort, 1987, S. 174 ff, v.a. 183 ff. 45

„Strategie" hier im Sinn von Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 148 als „Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges".

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Π. Textarbeit

Dahin muß der Richter im Parcours des Prozsses allerdings erst einmal kommen. Bei seinem Eintritt in den Rechtsgang, gewandet in die Ròbe, hat er mit dem Stuhl hinter dem Richtertisch und dem Gesetzbuch vor sich nichts bei sich als die Insignien seiner Herrschaft über das Verfahren. Den Ausdruck seines Amtswaltens muß er in dessen Bedeutung als Entscheidungsgewalt für den Prozeß immer wieder etablieren und durchsetzen. Denn alle 'Realität der Gewalt9 hat der Richter in der Arena der Justiz46 in Gestalt des Konflikts erst einmal gegen sich, der durch die Streitparteien in den Gerichtssaals getragen wird und den diese unter Ausnutzung aller Möglichkeiten auszutragen gedenken. Die Regel, an der sich die ursprüngliche Gewalt des Konflikts brechen soll, indem sie die Kombattanten mit ihren Ambitionen ins Unrecht setzt und ihnen so die Berechtigung nimmt, namens des Rechts zu handeln, muß der Richter erst einmal schaffen. Er hat das Gesetzbuch in die Hand zu nehmen, um Recht geschehen zu lassen. Wenn der Rechtsaibeiter als Subjekt des Textes, als Herr über den Normtext qua Amtsgewalt und Rolle im leeren Raum der Sinnmitte seinen Platz einnehmen will, erweist sich dieser aber bereits als eingenommen. Die Parteien haben diesen Raum bereits ftir sich als Arena ihres Kampfes, als „Kriegstheater" ihrer bürgerlichen Bataille okkupiert. Um die Bedeutung des Normtextes für den Konflikt ist es - in ihrer Sicht - bereits geschehen. In ihren Erklärungen dazu haben ihn sich die Parteien als Mittel für ihren Sieg im Konflikt schon angeeignet. Diese Aneignung stellt zugleich den entscheidenden 'Angriffspunkt' dafür dar, die ursprüngliche Brachialität des Konflikts in die Sprache zu zwingen; in eine 'Sprache des Rechts', für die der Normtext dem Richter eine Grammatik zuliefert. Mit der Verbalisierung des Konflikts als der Eintrittsbedingung in das Verfahren hat sich die ursprüngliche Gewalt des Streits zugleich selbst 'zur Sprache' gebracht; und hier bietet sie sich als eine solche zur Thematisierung und Be-Handlung nunmehr mit den 'Mitteln der Sprache' dar. Bei ihrer Sprache ist die ursprüngliche Gewalt des Konflikts 46

Der Begriff,Arena der Justiz" als Praxisfeld entsprechend dem der,Arena" als „politisches Entscheidungsfeld" bei Sorcine Iii, Symbolische Politik, 1987, S. 138: „Der zugrunde gelegte 'Arenen'-Begriff impliziert die Vorstellung von 'Orten der Konflikttransformation', eines variablen kommunikativen Bezugsrahmens, in dem die politische Argumentation durch spezifische strukturelle Charakteristika gekennzeichnet ist. Damit verbindet sich schließlich die Vorstellung, daß sich die Akteure mit dem Wandel des kommunikativen Bezugsrahmens Argumentationsvorteile versprechen." Letzteres im Bereich des Rechts vor allem dann, wenn die Kontrahenten aus der 'Not' des Zwangs zum Gerichtsverfahren die 'Tugend' eines um so wirksameren Mittels für den Sieg über den anderen in der Sache zu machen trachten.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

55

zu 'packen9 und zu 'ergreifen 9, 'dingfest9 zu machen, und einem Urteil über sie zu unterwerfen.

1.2 Der Richter zwingt den Konflikt in die Sprache und wendet ihn zu einem Kampf ums Recht Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, ein Mittel, sondern zugleich aktives Medium (Ver-Mittlung), das sich im Einsatz von Sprache mit deren Mitteln schafft. Der Verfassungsstaat braucht die Sprache allerdings als die zentrale Instanz seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimation. Diese besteht darin, möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierende 'bloße9, d.h. die aktuelle Gewalt einzusetzen.47 Der Preis dafür ist, sich der ganzen Gewalt der Sprache als Praxis überantworten und sich ihrer bedienen zu müssen. Das Recht kultiviert den Konflikt, indem es den drohenden körperlichen Zwang oder auch nur die unmittelbar verletzende verbale Attacke suspendiert, die Beteiligten zum Reden zwingt und vor die Entscheidimg ein Verfahren und sprachliche Anschlußzwänge setzt. Die Bedeutung des Normtextes als Recht liegt aber in nichts anderem als in den Erklärungen der Gegner zu seiner Bedeutung. Bedeutung des Normtextes ist zunächst, was die Erklärungen in eigener Sache zur Bedeutung des Normtextes erklären. Dies ist allerdings keine unabhängige Metainstanz der Entscheidung über Bedeutung, es sei denn eine solche würde qua Durchsetzung einer Regel gesetzt. Die Aufgabe, die sich dem Richter stellt, ist die Wendung des Widerstreits, den die Gegner in das Verfahren hineingetragen haben, in einen geregelten Konflikt über die Bedeutung des Normtexts. Um dafür seinen Platz als Herr des Verfahrens einnehmen zu können, um sich also als der entscheidende Rechtsarbeiter zu etablieren, muß sich der Richter erst den dafür nötigen Raum schaffen: er muß den Normtext von den konkurrierenden Ansprüchen der Parteien im Weg einer negativen Hermeneutik freiräumen. Dadurch ist er es nun, der eine Regel setzt.

47

Vgl. F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975, S. 20 f.

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Π. Textarbeit

Um zu dieser zu gelangen, muß der Richter alles andere aus der Sprache des Rechts ausschließen. Er erklärt zur Regel, was als Erklärung der Bedeutung gilt. Darin liegt die Gewalt der Bedeutung. Die ursprüngliche Gewalt des Konflikts wird damit in die Tonart des Rechts transponiert. Gewalt wechselt dadurch in das Medium der Sprache hinüber. Sie wird in Sprache umgebrochen und erfährt so ihre Faltung. Faltung heißt zunächst, daß das äußere im Inneren wieder auftaucht.48 Die äußere auf den Körper bezogene Gewalt muß im Inneren des Rechtssystems als auf Sprache bezogene Gewalt wieder erscheinen. Das durch den Konflikt eröffnete Gewaltpotential wird vom Recht aufgenommen und vom Körper auf die Sprache umgebogen. Ist mit dieser ersten Faltung des Konflikts vom Körper auf die Sprache die Gewalt aber schon bewältigt? Mit der Transponierung der ursprünglichen Gewalt des Konflikts in die Sprache wird deutlich, daß die Frage nach der Bedeutung die Rede in eine Krise stürzt. Aus dieser Krise vermag die Rede nicht mehr mit rein sprachlichen Mitteln herauszufinden. Genau darin liegt die der Bedeutung eigene Gewalt. Ausgetragen wird diese Gewalt als Kampf um eben diese Bedeutung. Die Rechtserzeugung muß die zwischen den Parteien streitige Bedeutung des Normtextes für den Fall entscheiden und nimmt dazu die Gewalt in sich auf. Und zwar genau mit der Sprache, auf die sie den Konflikt bringt. Die Rechtserzeugung arbeitet damit zwangsläufig auch als Sprachgewalt über den Konflikt. Semantisch wird die Gewalt der Bedeutung eingesetzt, um den aggressiv verzehrenden Kampf der Kombattanten gegeneinander in einen produktiv agonalen Kampf zu verwandeln. Statt ihm bis zum Sieg seinen Lauf zu lassen, soll der Konflikt mit einem Gewinn an Recht entschieden werden. Recht soll in der Sprache zur Entscheidung des Konflikts erzeugt werden. Es soll an die Stelle des auch nur verbalen 'Totschlags' treten. Mit der Umstimmung der Gewalt in die Tonart des Rechts hört Gewalt allerdings nicht auf. Sie wandelt sich ebenso, wie sich der ursprüngliche Konflikt einem semantischen Kampf um die Bedeutung des Normtextes anverwandelt. Die Frage der Bedeutung wird zur 'Lebensfrage' der Einlassungen und Äußerungen in der zur Entscheidung anstehenden Sache.

48

Vgl. zum Einschluß des Äußeren im Inneren der Falte: Deleuze , Die Falte: Leibniz und der Barock, 1995, S. 41 f, 46 - 48.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

57

In dem Moment, in dem in solchem Zusammenhang von Bedeutungen die Rede ist, kommt es nicht mehr darauf an, welchen Sinn unsere Äußerungen machen, sondern darauf, ob sie zählen; nicht mehr darauf, was wir zum Thema zu sagen haben, sondern, ob wir zum Thema reden. Sobald dann die Frage nach der Bedeutung von „Bedeutung" aufgeworfen wird, kommt es nicht mehr darauf an, welche semantischen Aussagen wir machen, sondern darauf, ob wir Aussagen zur Semantik machen. Alles, was wir im Moment der Bedeutung sagen, zählt einzig und allein dafür, zu erklären, daß alledem so sei. „Die Bedeutung eines Wortes" ist eben genau das, „was die Erklärung der Bedeutung erklärt." 4 9 Bedeutung ist nicht anders zu haben. Bedeutung kann nur dadurch auf den Plan treten, daß wir angesichts der Alternative des Absturzes in das unbedeutend Bedeutungslose unserer Rede uns zur Bedeutung unserer Worte erklären. Im Moment der Bedeutung zählen alle Erklärungen nur dafür, sich zu erklären. In diesem Moment stürzt die Rede in die existentielle Krise einer Entscheidung über Sinn oder Unsinn. Die Situation der Bedeutung ist eine des elementaren Antagonismus. Bei der Entscheidung über Sinn und Unsinn geht es um nichts weniger als darum, wer mit seinen Worten etwas zu sagen hat; und darum, wer nichts von sich gibt als Worte, bloße Worte ohne Sinn und Verstand, soziales Geräusch allenfalls; und nur im besten Fall geht es darum, wer mit seinen Worten Profundes zu sagen hat und wer nur krauses Zeug daherredet. Die Frage nach der Bedeutung provoziert den Antagonismus, um die Erklärungen zur Bedeutung der Entscheidung über Sinn und Unsinn auszusetzen. Einer Entscheidung, die doch wieder nur ihren Grund in den „Erklärungen" hat: „Die Bedeutung, in unserem Sinn", ist in aller Schärfe „in der Erklärung der Bedeutung niedergelegt." Unseren Sinn für Bedeutung müssen wir mit dieser Erklärung, herausgefordert durch den Antagonismus des Zeichens bei seiner Verneinung, beweisen. Wir müssen durch unsere Erklärung beweisen, daß wir sprachlich überhaupt noch 'bei Sinnen' sind. Diese Erklärung der Bedeutung ist nun allerdings „kein Erfahrungssatz" und schon gar nicht eine „Kausalerklärung, sondern eine Regel, ein Übereinkommen."50 Dementsprechend entscheidet sich die 'Richtigkeit' unserer Erklärung auch nicht an irgendeiner Übereinstimmung mit der Erfahrung,

49

Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4,1984, S. 59.

50

Ebenda S. 68.

58

Π. Textarbeit

sondern sie ist eine, „die akzeptiert \vird. Man muß eine Erklärung geben, die akzeptiert wird. Daraufkommt es beim Erklären an."51 Das scheint nun angesichts der Verhältnisse des semantischen Kampfes vielleicht allzu schwacher Tobak zu sein. Immerhin ist bereits deutlich, daß die Erklärung der Bedeutung dort keine Sache des Entdeckens oder Herausfindens sein kann, wo erst einmal alles getan werden muß, um solches auf den Weg zu bringen: „Philosophen sprechen häufig davon, die Bedeutung von Wörtern zu untersuchen, zu analysieren. Aber laßt uns nicht vergessen, daß ein Wort keine Bedeutung hat, die ihm gleichsam von einer von uns unabhängigen Macht gegeben wurde, so daß man eine Art wissenschaftlicher Untersuchung anstellen könnte, um herauszufinden, was das Wort wirklich bedeutet. Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat."52 Vor dieser Wirklichkeit der Bedeutung löst sich auch jenes Problem der Duplizität auf, das mit dem Einschränken der Bedeutungsfrage auf eine des Wissens und der Erkenntnis einhergeht. Durch dieses Verkürzen um die Praxis von Bedeutung wird der Frage nach ihr immer wieder bis zur Unentscheidbarkeit der Boden entzogen. Die Bedeutungsfrage wird in der sie kognitivierenden Reduktion immer wieder als Frage dadurch ad absurdum geführt, daß sie als ihren Gegenstand voraussetzen muß, wohin sie als die Antwort einer Aussage über Bedeutung erst gelangen soll. Zur Entscheidung nämlich über den Sinn, den ein Zeichen macht, gegen einen Unsinn, dem es als Zeichen verfallen und zum Opfer fallen würde. Genau diese Entscheidung macht aber eben die ganze Wirklichkeit der Bedeutung aus. Der, der dem Zeichen Bedeutung gibt, nimmt im gleichen Atemzug andere unter den Möglichkeiten des Zeichens, überhaupt Sinn zu machen, aus. Diese ganze Wirklichkeit der Bedeutung hebt die lähmende Duplizität einer Kognitivierung der Frage nach der Bedeutung auf. Sie verweist praktisch auf den einen Akt der Entscheidung, dem der Antagonismus der Situation des Zeichens den Boden bereitet. Dieser Antagonismus nimmt sich das Zeichen als das Feld her, auf dem er sich ausspielt. Das Zeichen wird zu dem Plateau, auf dessen Ebene Bedeutung als Spaltung des Zeichens dadurch wirkt, zugleich auch 'Angriffspunkt' für eine Negierung des Zeichens als bedeutungslos und für seine Ausstreichung als unbedeutend zu sein. 51

Wittgenstein, gion, 1971, S.42. 52

52.

Wittgenstein,

Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und ReliDas Blaue Buch, Werkausgabe, Band 5, Das Blaue Buch, 1984, S.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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In dem Maß, in dem es dann dem Sprecher als dem dieses Feld beherrschendes (zugleich aber auch von ihm als gespielter Spieler beherrschtes) Subjekt gelingt, sich mit seinen Erklärungen dazu, was Bedeutung ist, durchzusetzen, in dem Maß setzen sich diese als das Recht, zu erklären, was Bedeutung ist. In demselben Maß machen sie sich auch als Sprache vergessen. Das Ereignis der Bedeutung drängt die Sprache in die Bedeutung. Die Bedeutung in der Erklärung des anderen sucht der Sprecher, der sich durchsetzt, aus dem Spiel auszusondern und damit aus der Semantik auszubürgern. Die Praxis dessen ist der semantische Kampf.

1.3 Der semantische Kampf um die Bedeutung des Gesetzestextes ist symbolische Gewalt und bringt das Recht zur Sprache Juristische Textarbeit formiert sich als Entscheidungstätigkeit in einem Gewaltverhältnis. Gewalt arbeitet schon in der Versprachlichung des Konflikts: eine Vielfalt verschiedener Erzählungen dessen, was vorgefallen ist53, muß zunächst reduziert werden zu einer Version und dann im Verlauf der Beweiserhebung durch die privilegierte Erzählung, die das Gericht im weiteren zugrunde legt54, ersetzt werden. Gewalt arbeitet aber nicht nur von vornherein in Richtung des Rechtsfalls, in dessen Rahmen das Konfliktgeschehen auf den Begriff gebracht und damit als eine 'Sachlage9 überhaupt erst für eine rechtsförmige 'Behandlung9 und Regelung 'greifbar 955 und handhabbar gemacht werden soll. Sondern Gewalt wirkt mit dem Eintritt in das gerichtliche Verfahren auch schon zur Seite des Gesetzes hin, anhand dessen der Konflikt zu regeln ist. Kläger und Beklagte wollen nicht etwa das Recht finden. Sie glauben im Gegenteil, es schon zu

53

Vgl. dazu Seibert, Erzählen als gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität, in: Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, 1991, S. 73 ff. 54

Zum Gewaltmoment in dieser doppelten Reduktion Schlag, Normativity and the Politics of Form, in: UPaLRev, 139, S. 801 ff. 55

„Und Begriffe dienen zum Begreifen. Sie entsprechen einer bestimmten Behandlung der Sachlagen." Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Werkausgabe, Band 6,1984, S. 431.

Π. Textarbeit

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haben: einander entgegengesetzte Versionen dessen, was Recht ist. Und es kann sich, von daher, höchstens eine von ihnen durchsetzen, wenn überhaupt eine Entscheidung zustande kommen soll. „Recht" ist also nicht nur im ganzen, im allgemeinen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darum „wesentlich umstritten"56. Sondern es ist 'in der Sache9 auch und gerade im 'kleinen9, in der einzelnen Auseinandersetzung vor Gericht mit jedem Begriff im Streit, mit dem es zur Sprache gebracht wird. Die Interpretationen des Gesetzes, die dafür bemüht werden, verdanken sich allem anderen als einem Textverstehen in geisteswissenschaftlicher Manier. Den Prozeßbeteiligten geht es nicht um ein Verständnis des Gesetzestextes, das dann für eine 'Feststellung' oder 'Festlegung' seiner Bedeutung57 in ihrem Konflikt nur noch des hermeneutischen Feinschliffs bedürfte. 58 Durch die Erklärungen, mit denen sie jeweils für sich dem Gesetzestext Bedeutung geben, bringen sie praktisch auf den Begriff, was sie als ihr Recht beanspruchen und damit als das Recht im Fall anerkannt wissen wollen. In ihren Bedeutungsgebungen artikulieren59 die Beteiligten ihr Interesse an einer Entscheidung des Konflikts. Ihre Deklarationen einer Semantik des Gesetzestextes 'sind Ausdruck' genau ihres 'Interesses' an einer Regelung. Sie wollen mit diesen gegenläufigen Deutungen die 'Untersuchimg' und damit

56

Vgl. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991, S. 20 ff im Anschluß an die Theorie der „wesentlich umstrittenen Begriffe" bei Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society, 46,1955/56, S. 167 ff Diskurstheoretisch dazu auch Conolly, The Terms of Political Discourse, 2 n d Ed., 1983, S. 9 ff u. 211 ff. 57

Prinzipiell gegen die Alternative von „Bedeutungsfeststellung und Bedeutungsfestlegung" in Hinblick auf den normativen Gehalt von Rechtstexten D. Busse, Semantische Regeln und Rechtsnormen - Ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Sicht, in: Meilinghoff / Trute (Hg), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 38 f gegen erne solche Unterscheidung bei Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979. 58

Vgl. zu dem Fortwirken des aufklärenden Moments der Hermeneutik in der Strukturierenden Rechtslehre F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 28. 59

Im Sinn des „expressivistischen" Sprachbegriffs bei Ch. Taylor, Bedeutungstheorien, in: ders., Negative Freiheit?, 1988, S. 74 ff.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

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auch erst die Erzeugung einer Rechtsform des Konflikts durch seine Verhandlung vor Gericht präzise auf eine Bahn in ihrem Interesse 'lenken'.60 Vor Gericht sind die Interpretationen des Gesetzestextes Strategie. Sie sind strategisches Handeln, abgestellt auf die Durchsetzung der jeweiligen Rechtsversion. In den sprachlichen Schlägen, die sie zur Konfigurierung des Falls gegen den Gegner austeilt, in den Schnitten, die sie zum Ausschluß von Widerworten setzt und in den wechselseitig begrifflichen Enteignungen von Text, die sie für dessen Positionierung als Ausdruck von Recht vornimmt, ist die juridische Strategie61 mit ihrem Ziel, den Gewinn an Recht aus der Entscheidung über die Bedeutung des Gesetzestextes zu ziehen, der Logik des Kamp' fes62 unterworfen. Mit der rechtsstaatlichen Faltung des Konflikts ist solche Entscheidung allerdings nicht mehr dem bloßen Spiel der Kräfte in verbaler Attacke und Gegenattacke überlassen. Vielmehr ist die juridische Strategie unter der Ordnung des Verfahrens darauf verwiesen, sich im semantischen Kampf um die Sprache in dieser den Raum zu schaffen 63, den die jeweilige Rechtsversion als einzig legitimes Sprechen im Fall in aller Form64 für sich einnehmen soll.

60

Zu einem entsprechenden praktischen Begriffsbegriff Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 570: ,3egriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse." 61

„Strategie" hier im Sinn der diskursiven Strategien nach Foucault. Die „beziehen sich auf die Diskursobjekte, Äußerungsformen, Begriffsmanipulation: im ersten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, die Objekte abzuhandeln; im zweiten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, über Äußerungsformen zu verfügen; im dritten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, die Begriffe zu manipulieren; in jedem Fall handelt es sich um regulierte Weisen, Diskursmöglichkeiten anzuwenden." Kremer-Mari etti, Michel Foucault - Der Archäologe des Wissens, 1976, S. 155. 62 Vgl. Serres, Der Parasit, 1981, S. 338: „Die Logik des Kampfes ist die der Entscheidung: Man schlägt zu, man schneidet, man säbelt nieder." 63

Die Ausführungen folgen in wesentlichen Zügen dem Manuskript der in Vorbereitung befindlichen Erarbeitung der Grundlagen einer Theorie des Sprachkampfs bei M. Sokolowski, Im Kampf mit der Sprache. Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens. 64

Dazu Bourdieu , Was heißt Sprechen?, 1990, S. 16: „Das rechte, das formal richtige Sprechen erhebt von daher - mit durchaus nennenswerten Aussichten auf Erfolg den Anspruch, Recht zu sprechen, das heißt zu sagen, was sein soll." Vgl. weiter auch ebenda, S. 18 ff.

62

Π. Textarbeit

Dabei geht es den Parteien an erster Stelle darum, in der Darlegung des Konflikts diesen so zu modellieren, daß er sich für die von ihnen erstrebte Regelung anbietet. Für den Rechtsfall nutzen die Prozeßbeteiligten für sich aus, was in gesellschaftlichen Kommunikationsvorgängen und Debatten ohnehin üblich ist. Dort werden ständig mittels Sprache „Wirklichkeitsmodelle" aufgebaut, formiert und stabilisiert, aber auch verändert, demontiert und verworfen. 65 In solchen Versionen werden ganze Welten „erzeugt"66 und bieten sich in dem Sinn, auf den sie festgelegt werden, dem tätigen Zugriff dar. Allen Prozeßbeteiligten, und zwar den Parteien wie dem Richter, geht es mit ihren Figurierungen des Konflikts im Widerspiel der Fallerzählungen67 darum, den Konflikt als eine Sachlage zu fassen, welche den Bezug des Normtextes auf sich zu ziehen, oder aber auch sich diesem zu sperren vermag. Es geht ihnen darum, den Gesetzestext in seinen Referenzen auf den Konflikt zu verlegen und zu fixieren 68, so daß der Streit einen 'Angriffspunkt' 69 für einen Umgang mit ihm im jeweils abweichenden Interesse an Recht bietet. Der Kampf um Benennungen und Klassifikationen70, den die Prozeßbeteiligten austragen, ist nicht bloß der „Streit um Worte"71, als den er sich zu65

Vgl. S. J Schmidt, Sprache und Politik, in: Rucktäschel (Hg..), Sprache und Gesellschaft, 1972, S. 86. Grundsätzlich auch ders., Das kommunikative Handlungsspiel als Kategorie der Wirklichkeitskonstitution, in: Schweisthal (Hg..), Grammatik Kybernetik Kommunikation, 1971, S. 215 ff. 66 Vgl. grundsätzlich Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1993. Zum Zusammenhang „der Art von Aussagen", die wir machen können mit den „Möglichkeiten der Erscheinungen" auch Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1,1984, Philosophische Untersuchungen, § 90. 67

Zum Begriff F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 30 fu. 267.

68

Zur „Theorie der Referenzfixierung" Wimmer, Referenzsemantik, 1979, S. 109 ff; im engeren rechtslinguistischen Sinn Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 121 ff 69

Im Sinn von Wittgenstein, Band 3,1984, S. 168 f.

Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe,

70

Allgemein dazu A. Strauss, Spiegel und Masken, 1974, S. 24 ff; Bourdieu , Sozialer Raum und „Klassen", in: ders., Sozialer Raum und „Klassen" Leçon sur la leçon, 1985, S. 35. Zu entsprechenden „Typen des Kampfes um Wörter" im öffentlichen Sprachgebrauch auch J. Klein, Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik, in: ders. (Hg..), Politische Semantik, 1989, S. 3 ff 71

Vgl. A. Strauss, Spiegel und Masken, 1974, S. 25. Weiter auch Lübbe, Der Streit um Worte, in: Heringer (Hg..), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 48 ff.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

63

nächst einmal darbietet. Es geht ihnen um nicht weniger als darum, sich der Sprache als Reservoir und Medium von Signifikanz strategisch zu bemächtigen; und darum, sich so der „Sprache als einem ausgezeichneten Verfahren der Konstitution von Bedeutung"72 und Bedeutsamkeit zu versichern. Im besonderen bemühen sie sich, sich die juridische Nomenklatur anzueignen, und zwar wegen der in der juristischen Sprechweise liegenden symbolischen Macht zur Erzeugung von 'Welten an Recht'73. Und es geht ihnen darum, sich dabei die Wortführerschaft im Verfahren zu sichern.74 Mit den „terminologischen Prämien"75, die die Beteiligten dabei erringen, steht nicht weniger auf dem Spiel als der Bestand, den ihre Sache vor Gericht hat und als der Stand, den sie als Person im Prozeß haben. All das gilt aber nicht nur für die Seite der Realdaten innerhalb der Rechtserzeugung. Der semantische Kampf betrifft nicht nur die soziale Wirklichkeit, die zu einem Fall für die Justiz wird und die auf die juristisch professionelle Form eines Sachverhalts zu bringen ist.76 Sondern der semantische Kampf gilt ebenso dem Text, der die Sprachdaten der Konkretisierung als deren andere Eingangsgröße liefert. Er gilt den Worten des Gesetzes, im Ausgang von denen eine Norm für die Entscheidung des Falls zu konkretisieren, das heißt zu konstruieren ist.77 Der semantische Kampf betrifft das Gesetz in seiner ganzen Reichweite, geht auf das Ganze der Bedeutung des Normtextes aus. Das Element des Kampfes liegt dabei darin, daß sich nicht nur die zur Formulierung des jeweiligen Interesses ins Spiel gebrachten Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke wechselseitig ausschließen; sondern die Auseinandersetzung darum ist von einer prinzipiellen Unversöhnlichkeit gekennzeichnet, die, in der 'Logik des Kampfes', den Ausgleich der Interessen an der

72

S. J Schmidt, Sprache und Politik, in: Rucktäschel (Hg.), Sprache und Gesellschaft, 1972, S. 81. 73

Allgemein dazu Bourdieu , Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders., Rede und Antwort, 1987, S. 151 mit Verweis auf Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1993. 74

Zum Begriff des „Wortführers" Bourdieu , Delegation und politischer Fetischismus, in: ders., Rede und Antwort, 1987, S. 183. 75

A. Strauss , Spiegel und Masken, 1974, S. 25.

76

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 30f, 267.

11

Ebenda, z.B. S. 166 f, 266 f.

64

Π. Textarbeit

Bedeutung des jeweiligen Ausdrucks durch die Einigung auf ein Drittes, ein sprachliches Äquivalent des Interessenausgleichs, ausschließt.78 Es wird deutlich, daß es den Streitparteien nicht um einen hermeneutischen oder linguistischen Disput geht; nicht darum, Aufschluß über den Sinn des Gesetzestextes zu gewinnen oder lexikologische Überlegungen zur Erkenntnis der Bedeutung seiner Wörter anzustellen. Es geht ihnen nicht um ein richtiges Verständnis des Gesetzes. Im allgemeinen handelt es sich bei semantischen Kämpfen überhaupt nicht um simple Querelen um die Eigentliche9 oder auch die übliche Bedeutung eines Wortes, die sich prinzipiell mit dem Griff zum Wörteibuch beilegen ließen.79 Semantische Kämpfe werden nicht darüber geführt, welche Bedeutung ein Ausdruck hat, sondern darum, welche Bedeutung einem Ausdruck nach dem Willen der Kontrahenten zukommen 'soll ', 80 Entsprechend geht es den Prozeßgegnern vor Gericht nicht um ein richtiges Verständnis des Gesetzestextes; sondern darum, von all den möglichen Gebrauchsweisen der sprachlichen Ausdrücke jeweils die in ihrem Interesse liegende zu der maßgeblichen zu machen, sie so als „die Bedeutung" des betreffenden Ausdrucks durchzusetzen. Es geht ihnen also nicht einmal um die Sprache; sondern um das Recht auf Sprache, auf eine Sprache, die sie sich mit den Worten des Gesetzestextes samt dem das Gesetz umgebenden Feld eines juridischen Idioms zurechtlegen. In diesem Sinn ist die Bedeutung des Gesetzestextes genau genommen nicht einmal 'Gegenstand9 der Auseinandersetzung vor Gericht. Sie ist es allenfalls in dem Sinn, in dem etwa die Ressourcen eines feindlichen Landes 'Gegenstand9 eines darum geführten Krieges sind. Für den semantischen Kampf vor Gericht markiert die Bedeutung der fraglichen Ausdrücke eher den

78

Grundsätzlich vermerkt Serres, Der Parasit, 1981, S. 338 f zur derart treibenden Logik: „Die Logik des Kampfes ist die des ausgeschlossenen Dritten." 79

Dies soll nur als Hinweis auf eine verbreitete Übung dienen, ohne hier die Problematik juristischer Bedeutungsermittlung anhand des Wörterbuchs aufrollen zu wollen. Dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 77 ff. Sprachwissenschaftlich zum Problem der „Kodifizierung von Gebrauchsweisen in Wörterbüchern" Wimmer, Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, in: Heringer / öhlschläger / Streicher/ Wimmer, Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 34 ff. 80

Auch hier soll nur eine gängige Redeweise angesprochen sein und nicht das bedeutungstheoretische Problem aufgeworfen werden. Eine Analyse von Bedeutung haben gibt Lutzeier, Linguistische Semantik, 1985, S. 12 ff. Zur grundsätzlichen Kritik Wittgenstein, Das Blaue Buch, Werkausgabe, Band 5, 1984, Das Blaue Buch, S. 52.

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

65

Einsatz in einem doppelten Sinn. Die Faltung des Konflikts zwingt die Parteien, aber auch den von Amts wegen damit befaßten Richter in die Sprache. Ab dann ist jedes auf den Konflikt bezügliche Anliegen in Worte zu fassen. Und das Gelingen der Passage vom semantischen Krieg in das Recht hängt davon ab, über diese Worte dann auch im jeweiligen Interesse verfügen zu können. Deren Bedeutung wird so Anlaß und 'Zündstoff für den nun sprachlich auszutragenden Kampf. Zugleich steht Bedeutung auch für den 'Preis', der in die Waagschale geworfen und riskiert wird. Die Bedeutung eines gesetzlichen Ausdrucks ist der „Einsatz"81, um dessentwillen der semantische Kampf geführt wird. „Der mit einer Diskursart verbundene Einsatz möchte die Verkettungen zwischen Sätzen bestimmen. Er bestimmt sie aber nur so, wie ein Zweck Mittel bestimmen kann: durch Ausschluß derer, die nicht angebracht sind."82 In dem Maß, in dem es den Prozeßbeteiligten gelingt, sich mit ihren Bedeutungsgebungen für den Gesetzestext durchzusetzen, verfügen sie zugleich darüber, was als Einlassung in der Sache zählt. Der semantische Kampf vor Gericht zielt auf die Entscheidung von Recht durch Entscheiden über die Bedeutung des Gesetzestexts. Alles in allem handelt es sich weder um bloße Wortklauberei noch um sprachliche Rechthaberei83; und zwar deshalb, weil diese Kämpfe allen Ernstes geführt werden und nicht nur als rhetorische Scheingefechte.84 Der Kampf geht darum, die Gebrauchsweisen der relevanten Normtextausdrücke 81

Im Sinn von Lyotard , Der Widerstreit, 1987, S. 11 fund öfter.

82 Lyotard , Der Widerstreit, 1987, S. 149. In der deutschen Ausgabe heißt es „vermöchte" (sie). 83 Stötzel, Semantische Kämpfe im öffentlichen Sprachgebrauch, in: IdS-Jahrbuch 1989, 1990, S. 45 macht darauf aufmerksam, daß solche Dispute in der Öffentlichkeit häufig so empfunden werden: „Mit semantischen Kämpfen hat die sog. Öffentlichkeit ihre Schwierigkeiten. Manche Zeitgenossinnen und -genossen nennen es freiweg dekadent, daß sich Leute allen Ernstes darüber streiten, mit welchem Wort irgendwas oder irgendwer zu bezeichnen sei, oder auch darüber, was eigentlich ein Wort bedeutet. Warum nur - sofragen sie - streitet man sich nur um Worte (oder Wörter) statt gleich über die Sachen zu reden, statt 'zur Sache zu kommen'." Zu diesem Vorurteil schon bei Aristoteles siehe Lübbe, Der Streit um Worte, in: Heringer (Hg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 48. Es ist sicher aufgrund der Hermetik des juridischen Idioms und damit verbunden aufgrund der Undurchsichtigkeit des praktischen Sinns juristischer Wortkämpfe für den Bereich des Rechts noch eher verbreitet. Wie berechtigt es ist, sei hier dahingestellt. 84

So wie etwa häufig in Wahlkämpfen, dazu Gruner, Inszenierte Polarisierung,

1990. 5 Müller u. a.

66

Π. Textarbeit

im eigenen Sinn durchzusetzen;85 er ist „Mittel und Weg"86, in dem zur Lösung anstehenden Fall zum Recht zu kommen. Semantische Kämpfe vor Gericht werden durch die mit der Versprachlichung des Konflikts erzeugte Unvereinbarkeit im Sprachgebrauch von den Parteien provoziert. Mit dem Antagonismus der Bedeutungen erklären diese einander vor dem Forum des Gerichts jenen 'semantischen Krieg9, den ihnen der Übergang des Streits in das juristische Spiel tun das Recht erlaubt. Entsprechend geht es ihnen auch nicht darum, bloß einen semantischen Streit zu schlichten, indem sie zu einer gemeinsamen Sprache finden. Es handelt sich nicht um einen Wettstreit um die 'Sache' der Bedeutung; wenigstens solange nicht, als sich der semantische Kampf frei entfaltet und nicht etwa durch ihn konterkarierende Vergleichsangebote unterlaufen wird. Es geht den Kontrahenten darum, den im Streit um die Worte des Gesetzestextes angezettelten 'Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst'87 für sich zu entscheiden; und auch die Taktiken von Entlastungsverhandlungen, wie sie in Prozeßabsprachen in den Kanzleien und bei Vereinbarungen auf den Fluren des Gerichts durchaus üblich sind, bleiben noch diesem strategischen Ziel unterworfen. Solange er ausgetragen wird, geht es im semantischen Kampf darum, den Sprachgebrauch des Gegners aus dem Feld der berechtigten Redeführung zu schlagen. Wenn es denn ein hermeneutisches Moment juristischer Textarbeit geben sollte, so ist es ein negatives: eines, das die Negativität der Praxis von Gewalt, überführt in Sprache, semantisch in sich aufhebt. Der Kampf um die Bedeutung des Gesetzes geht darauf aus, mittels negativer Semantisierung durch den Ausschluß des Sprachgebrauchs des Gegners den eigenen ins alleinige Recht zu setzen. Die Sprechweise des Gegners soll in ihrer Bedeutung diskreditiert und als „unsinnig", als sprachlich ausgeschlossen delegitimiert werden88. Ziel

85

R. Keller, Kollokutionäre Akte, in: Germanistische Linguistik, 1/2,1977, S. 24.

86

Vgl. D. Busse, Semantic Strategies as a Means of Politics, in: Ahonen (Hg.), Language and Politics, 1990. 87

Zum „Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst" Lyotard , Der Widerstreit, 1987, S. 234. 88

Zum Begriff des Unsinnigen hier Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4, 1984, § 137: „Zu sagen, 'diese Wortverbindung hat keinen Sinn', schließt sie aus dem Bereich der Sprache aus und umgrenzt dadurch das Gebiet der Sprache."

1. Rechtserzeugung als Kampf um die Bedeutung des Gesetzes

67

ist es, mit der eigenen Sinngebung sich auf dem Feld der 'Artikulation' 89 in Sachen Recht zu behaupten. Semantische Kämpfe „dienen funktional der Rechtsgewinnung im System sprachlicher Selbstverständlichkeiten"90; Selbstverständlichkeiten, die sich in den Standards des juristischen Idioms und in den Gepflogenheiten der juridischen Sprechweise am Leben halten. Der semantische Kampf hat also zum Ziel, auf dem Weg der Durchsetzung der eigenen Bedeutungsvariante für den Gesetzestext auch die ganze Wahrheit des entsprechenden Bezugsrahmens91 (des mit dem fraglichen Gesetz formulierten und durch seinen Erlaß in Geltung gesetzten sachgesprägten Ordnungsmodells) für sich einnehmen zu können. Ist dem semantischen Kampf der Erfolg beschieden, eine bestimmte Ausdrucksverwendung als einzig berechtigte durchzusetzen, so ist auch die damit vorgebrachte, ehedem partikular parteiliche, Rechtsversion zur wahren erhoben. Sie zurückzuweisen fehlen im wahrsten Sinne die Worte; es sei denn, der Kampf um die Sprache wird - in einem weiteren Verfahren - erneut aufge-

89

Zum Begriff der,Artikulation" vgl. Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus, 1981, S. 207: „Der typische Fall der Artikulation ist das Zeichen, in welchem die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat völlig arbiträr (...) ist. Jede Artikulation ist deshalb eine S/wibeziehung." Siehe auch Ch. Taylor, Bedeutungstheorien, in: ders., Negative Freiheit?, 1988, S.74: ,3s sind somit drei Dinge, die durch die Sprache zuwege gebracht werden: die Erzeugung von Artikulationen und damit das Hervorbringen expliziten Bewußtseins; das Hineinstellen der Dinge in den öffentlichen Raum und auf diese Weise die Konstitution eines solchen öffentlichen Raums; das Treffen von Unterscheidungen, die grundlegend für die menschlichen Anliegen sind und uns daher für diese Anliegen öffnen. Dies sind Funktionen, für die die Sprache unentbehrlich scheint." 90

Frese, Politisches Sprechen, in: Rucktäschel (Hg.) t Sprache und Gesellschaft, 1972, S. 105 allgemein zum „politischen Handeln". 91

Zum Begriff des Bezugsrahmens im Zusammenhang mit dem der Weltversion Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1984, S. 14. Zur Frage der Wahrheit dann weiter ebenda, S. 44: „Sofern eine Version sprachlicher Natur ist und aus Aussagen besteht, kann Wahrheit relevant sein. Wahrheit kann jedoch nicht durch Übereinstimmung mit 'der Welt' definiert werden. Denn nicht nur ist in verschiedenen Welten Verschiedenes wahr, sondern darüber hinaus ist bekanntermaßen unklar, was Obereinstimmung einer Weltversion mit einer davon unabhängigen Welt sein soll. Vielmehr wird eine Version (...) dann für wahr gehalten, wenn sie keinen hartnäckigen Oberzeugungen widerspricht und keine ihrer eigenen Vorschriften verletzt." a.a.O. S. 31 Grundsätzlich gegen eine Korrespondenztheorie von Wahrheit zugunsten einer Kohärenztheorie D. Davidson, Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis, in: Bieri (Hg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, 1992. 5*

68

Π. Textarbeit

nommen. Dank der Sprachgewalt kann sich so die Gewalt als Sprache vergessen machen. Damit ist Rechtserzeugung in der juristischen Textarbeit von allen Zügen symbolischer Gewalt gezeichnet. Symbolische Gewalt ist eben genau jene „Macht", „der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen"; und die damit „diesen Kräfteverhältnissen ihre eigene, d.h. eigentlich symbolische Kraft hinzufügt."92 Ebendas ist die Funktion der Kämpfe in der semantischen Praxis der Rechtsarbeit.

2. Das Gesetz ist nicht Gegenstand einer Rechtserkenntnis, sondern Arena fur den Kampf um das Recht im Raum der Sprache Der Gegensatz konkurrierender Bedeutungsvarianten macht den semantischen Kampf als einen Kampf um das Recht in der Sprache aus. Das Element des Kampfes bricht sich darin Bahn, daß die in der fraglichen Auseinandersetzung vorgeschlagenen Gebrauchsweisen des betreffenden juristischen Ausdrucks sich wechselseitig ausschließen. Dabei stehen hinter dem Unterschied der grammatischen Bedeutungserklärung grundlegendere Differenzen: „Der Streit geht um Gegenstände und Tatsachen in der Welt, und er kann letztlich nur dadurch geführt werden, daß man sich über die Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke auseinandersetzt."1 Gerade im Streit um die Bedeutung des Normtextes tritt dieses Moment klar hervor, und zwar als Moment von Gewalt 'in der Sprache9. Alle Gewalt des Konflikts, der zur Lösung als Rechtsfall ansteht, wendet sich erst einmal in die Sprache. Das Ziel der an dem semantischen Kampf Beteiligten liegt darin, den jeweils eigenen Interpretationsvorschlag auf Kosten des Gegners so durchzusetzen, daß die eigene Bedeutungserklärung als einzig legitimes Verständnis des Normtextes im Hinblick auf den Fall akzeptiert wird. Ein Drittes gibt es nicht, es sei denn der Kampf wäre aufgegeben oder der Rechtsgang als Streit in einem Vergleich erledigt. Die Semantik des Kampfes als die praktische der Rechtserzeugung verweist auf die konstitutive Wirkung der Gewalt. Die Produktion des Rechts im konkreten Fall und für seine verbindliche Entscheidung beruht auf dem Gang der Gewalt

92

Bourdieu /Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1973,

S 12. 1

Wimmer, Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, in: Heringer / öhlschläger / Strecker/ Wimmer, Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 24 ff, S. 33.

2. Das Gesetz als Arena für den Kampf um das Recht

69

durch die Sprache, eingefangen in den semantischen Kampf um die Bedeutung des Normtextes. Die Struktur dieser Einhegung des Kampfes ist näher zu untersuchen.

2.1 In der semantischen Praxis sind Sprache und Sprecher intern relationiert

Auf die Frage nach dem Ort der Textbedeutung und deren Verhältnis zum richterlichen Handeln gibt die alte Schule theoretisch gegensätzliche, aber praktisch komplementäre Antworten: Der klassische Positivismus bestimmt als Ansatzpunkt allein das geschriebene Recht. Schon der Normtext lege unter Berücksichtigung des Sprachsystems die zwischen den Parteien streitige Bedeutung objektiv fest. Auf den Sprecher bzw. den Richter könne es von Rechts wegen nicht ankommen. Der Dezisionismus bestimmt als Angelpunkt für die Bedeutung dagegen das gesprochene Recht. Der Spruch des Richters emanzipiere sich als Dezision, als konkrete Einzeläußerung von der Bedeutung des Normtextes. Das Textformular könne demgegenüber vernachlässigt werden: die Entscheidung komme normativ „aus einem Nichts".2 Trotz ihrer vordergründigen Gegensätzlichkeit ist beiden Positionen gemeinsam, daß sie die Spanne, die das geschriebene Recht vom gesprochenen Recht trennt, aus der Betrachtung ausklammern. Diese Gemeinsamkeit ermöglicht das praktische Zusammenwirken der gegensätzlichen Theoreme. Positivismus und Dezisionismus treffen sich damit auf einem Gebiet, das man als implizite Sprachtheorie3 bezeichnen kann. Diese abstrahiert von der Arbeit der Sprache im Recht, von der semantischen Praxis der Juristen. An die Stelle einer Analyse der Sprachpraxis tritt eine apriorische Bestimmung des Verhältnisses von Sprecher und Sprache. Sowohl Positivismus als auch Dezisionismus stellen zwischen Sprecher und Sprache eine externe Relation her, wonach eine Seite als die allein bestimmende gilt und die andere Seite auf ein bloßes Mittel reduziert wird. Die Annahme eines solchen instrumentellen Verhältnisses führt aber sprachtheoretisch in eine Aporie, die Wittgenstein klar herausgearbeitet hat: 2

C. Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausg., 1934, S. 42; vgl. a. 6. Aufl., 1993, S.

37 f. 3

Vgl. zu den impliziten Sprachtheorien aus linguistischer Sicht D. Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 101 ff.

70

Π. Textarbeit

„Wenn beim ersten Lernen der Sprache gleichsam die Verbindungen zwischen der Sprache und den Handlungen hergestellt werden - also die Verbindungen zwischen den Hebeln und der Maschine - , so ist die Frage, können diese Verbindungen reißen, wenn nicht, dann muß ich jede Handlung als die richtige hinnehmen, wenn ja, welches Kriterium habe ich, die ursprüngliche Absicht mit der späteren Handlung zu vergleichen?66.4 Wittgenstein nimmt hier das herkömmliche Maschinenmodell einer technisch-instrumentellen Relation zwischen Sprecher und Sprache zunächst ernst, nennt seine Implikationen und zeigt dann, daß diese Vorstellung in die Aporie des fehlenden Kriteriums mündet.5 Der juristische Ausdruck dieser sprachtheoretischen Aporie ist die Konvergenz von Positivismus und Dezisionismus, die trotz gegensätzlicher Rhetorik im Ergebnis beide das Fehlen eines sprachlichen Kriteriums für die Richtigkeit juristischer Streitentscheidungen eingestehen müssen. Wenn aber das Maschinenmodell als unangemessene Verdinglichung durchschaut ist und das tatsächliche Funktionieren von Sprache ohne diese Vorentscheidung analysiert wird, dann kann die Relation zwischen Sprecher und Sprache genauer bestimmt werden: „Ist denn die Bedeutung wirklich nur der Gebrauch des Wortes? Ist sie nicht die Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift? Aber ist denn sein Gebrauch nicht Teil unseres Lebens?!"6 Wittgensteins Hinweis auf den Sprachgebrauch wiederholt nicht die technischinstrumentelle Relation7, sondern weist auf die Sprachprax/s als Gegenstand der Analyse hin. Wenn die Bedeutung bei Wittgenstein als „Teil unseres Lebens" bestimmt wird, dann sind Sprecher und Sprache in der Sprachpraxis nicht extern, sondern intern relationiert. Das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Konzept der Textstruktur wählte einen analogen Ausgangspunkt. Entgegen der sowohl positivistischen als auch dezisionistischen Vereinfachung der Beziehung von Sprecher und Sprache zu einem einseitig linearen Kausalnexus werden auch 4

Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Werkausgabe, Band 2, 1984, S. 64; vgl. auch ders., Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, §§ 201 - 208. 5

Vgl. zur Charakterisierung des von Wittgenstein gewählten Vorgehens als „Dekonstruktion" und zu Parallelen zu dem späteren Ansatz von Derrida : Staten, Wittgenstein and Derrida, 1984, S. 64 ff und öfter. 6 7

Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4,1984, S. 65.

Vgl. zu einem entsprechenden „empirischen" Mißverständnis Lyotard, Wittgenstein, in: ders., Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 68 ff u. 73.

„Nach"

2. Das Gesetz als Arena für den Kampf um das Recht

71

hier Sprecher und Sprache in der Sprachpraxis intern in Beziehung gesetzt. Die Bedeutung von Normtexten konstituiert sich danach im tatsächlichen Handeln der Rechtsarbeiter. Dieses Handeln ist als semantische Praxis aber nicht freier Beliebigkeit überantwortet. Die Bedeutungskonstitution muß unter rechtsstaatlichen Bedingungen einem vom Gesetzgeber vor-geschriebenen Textformular zugerechnet werden können. Daraus ergeben sich im Rahmen einer bestimmten juristischen Argumentationskultur praktisch wirksame Einschränkungen für die Möglichkeitenrichterlichen Entscheidens. Das Konzept der Textstruktur verabschiedet damit die apriorische Bestimmung des Verhältnisses von Sprecher und Sprache und analysiert statt dessen das wirkliche Funktionieren und die tatsächlichen Bindungen des juristische Sprachspiels. Damit kommt das von der herkömmlichen Auffassung weithin verdrängte Problem der Verknüpfung von gesprochenem und geschriebenem Recht durch die semantische Praxis zentral in den Blick. Entgegen der impliziten Sprachtheorie des Positivismus ist die Rechtsnorm dem handelnden Juristen nicht als eine im Sprachsystem fixierte Bedeutung vorgegeben.8 Eingangsdatum ist vielmehr nur das in den amtlichen Sammlungen enthaltene Textformular oder, rechtstheoretisch ausgedrückt, der Normtext. Dieser Ansatzpunkt für die Frage nach Bindungenrichterlichen Handelns bleibt bestehen, auch wenn das abstrakte System sprachlicher Bedeutungen als illusionäre Grundlage ausfällt. Die Bindungen müssen sich also in der richterlichen Textarbeit entfalten, die den Normtext als Eingangsdatum mit der konkret fallbezogenen Bestimmung seiner Bedeutung im tragenden Leitsatz der Entscheidung (d.h. im Text der Rechtsnorm) verknüpft. Entgegen der herkömmlichen Auffassung ist weder der Sprecher das bloße Organ eines vorgegebenen Sprachsystems noch umgekehrt die Sprache das beliebig formbare Instrument des Sprechers. Als Phänomen der „dritten Art" liegt sie vielmehr zwischen diesen Extremen.

8 Zur Gebrauchstheorie der Bedeutung vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 47; vgl. auch ders., Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4, 1984, Teil 1. Ausführliche Darstellung in der Sekundärliteratur Wuchterl, Struktur und Sprachspiel, 1969, S. 89 ff; Gebauer, Wortgebrauch, Sprachbedeutung, 1971; Kenny , Wittgenstein, 1974, S. 164 ff. Zusammenfassend Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 18 ff; zu der an Wittgenstein anschließenden Bedeutungskonzeption der praktischen Semantik vgl. Öhlschläger, Linguistische Überlegungen zu einer Theorie der Argumentation, 1979, S. 7 ff; Wimmer, Referenzsemantik, 1979, S. 35 ff.

72

Π. Textarbeit

Dem Dezisionismus ist zuzustimmen, soweit er gegen den Positivismus einwendet, daß das abstrakte Sprachsystem keine demrichterlichen Sprechen vorgegebene Textbedeutung garantieren könne. Der Dezisionismus ist aber abzulehnen, soweit er aus dieser Kritik die Folgerung ableitet, es könne überhaupt keine sinnvolle oder methodisch überprüfbare Beziehung zwischen geschriebenem und gesprochenem Recht hergestellt werden. Zwischen der illusorischen Lösung und der abstrakten Abwehr der Frage nach der Textbedeutung liegt das hier verfolgte Programm einer Analyse der praktischen Textaibeit. Die Konstitution der Bedeutung des Normtextes muß aus der Praxis der Textarbeit verstanden werden. Weil mit Hilfe der Normtexte lebenspraktische Aufgaben bewältigt werden, ist die Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution in den wirklichen Zusammenhängen der Ingebrauchnahme dieser Textformulare zu untersuchen. Das gesprochene Recht kann dabei vom geschriebenen nicht isoliert werden, denn der Kern der von den Juristen ausgeübten semantischen Praxis besteht gerade in der Verknüpfung dieser beiden Größen. Auf der Grundlage des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Gedankens der Textstruktur läßt sich der Ansatzpunkt der Frage nach der sprachlichen Bedeutung des Normtextes bestimmen. Er liegt bei der Spanne, die das geschriebene vom gesprochenen Recht trennt. In dieser Spanne entfaltet sich dierichterliche Textarbeit, welche den Streit um die Textbedeutung unter den erschwerten Bedingungen verfassungsrechtlich-methodischer Anforderungen entscheidet.

2.2 Zwischen Normtext als Textformular und Rechtsnorm als Textbedeutung liegt das juristische Handeln als semantische Praxis Der zweite Schritt einer sprachtheoretischen Klärung muß zunächst einmal das Feld juristischen Handelns entlang sprachwissenschaftlicher Begriffe strukturieren. Dem dient die in der Überschrift vorgeschlagene Zuordnung juristischer und linguistischer Begriffe. Der Normtext als Ausgangspunkt juristischer Tätigkeit wird dem Begriff Textformular zugesellt, die Rechtsnorm als wichtiges Zwischenergebnis der Konkretisierung dem Begriff Textbedeutung.9 Das Textformular bezeichnet dabei die bloße Zeichenkette, wäh-

9

Vgl. zur Verknüpfung der Oppositionen Textformular / Textbedeutung und

2. Das Gesetz als Arena für den Kampf um das Recht

73

rend Textbedeutung die Semantik der Zeichenkette darstellt. Zwischen beiden vermittelt das juristische Handeln, welches hier als semantische Praxis aufgefaßt wird. Diese begriffliche Zuordnung bewährt sich in der Analyse praktischer Rechtsarbeit. Die Untersuchung der Judikatur ergibt, daß die Subsumtion unter Rechtsbegriffe nur der unproblematische Endpunkt einer sehr viel komplexeren Struktur ist, die sich in jedem problematischen - also im typischen Fall nicht in der Arbeit mit Begriffen erschöpft, sondern eine Arbeit am Begriff umfaßt. Während im Normalfall gelingender Kommunikation die Sprachregeln blind befolgt werden und nicht selbst Gegenstand der Kommunikation sind, liegt die Schwierigkeit für praktische Rechtsarbeit anders. Eine wesentliche Schicht des zur Entscheidung vorgelegten Falls bildet ja gerade der „Streit um Worte", etwa um die Formulierung eines Vertrags oder die Bedeutung eines gesetzlichen Ausdrucks. Die Aufgabe der Rechtsarbeit liegt also im Formulieren einer Regel, die diesen Streit entscheidet. Nun zeigt aber die linguistische Diskussion10, daß keine Regelformulierung in die bloße Erkenntnis des vorhandenen Systems der Sprachregeln aufgelöst werden kann. Weil das System der Sprachregeln kein geschlossenes System in der Weise ist, daß es unvorhersehbare Transformationen seiner Regeln ausschließen könnte, enthält jede Regelformulierung die strukturelle Möglichkeit einer solchen Transformation. Eine Regelformulierung ist deswegen kein bloßer Erkenntnisakt als Übergang vom Zeichen zur vorgegebenen und feststehenden Bedeutung; sondern ein Gestaltungsakt, der eine Zeichenkette durch eine andere ersetzt. Wenn diese Sprachgestaltung, wie im Fall praktischer Rechtsarbeit, mit einem Verbindlichkeitsanspruch gekoppelt ist, handelt es sich um eine Sprachnormierung.11

Normtext / Rechtsnorm Wimmer, Bemerkungen zum Exposé von Christensen und Jeand'Heur in: F. Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 13 ff 10

Vgl. dazu R. Keller, Zur Epistemologie der Semantik, in: L. Jäger (Hg..), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 22 ff, insbes. S. 34 ff. 11

Vgl. zum Begriff der Sprachnorm Wimmer, Sprachliche Normen, in: H.-J. Heringer u.a., Einführung in die praktische Semantik, 1974, S. 40 ff: „Normen sind Regeln, die vorgeschrieben werden. Sie haben - vorschreibenden Charakter (...), - eine Tendenz zur Ausweitung ihres Geltungsbereichs, - und sie zielen auf die Herstellung von Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Regeln ab." S. 45 Vgl. zu einem engeren, an der textstrukturalistischen Sicht orientierten Begriff der Sprachnorm Cose-

74

Π. Textarbeit

2.3 Die Bedeutung des Normtextes wird nicht mechanisch angewendet oder frei erfunden, sondern durchgesetzt Der dezisionistischen Kritik am positivistischen Modell der Rechtsarbeit ist beizupflichten, soweit sie sich gegen die vom Positivismus vorausgesetzte Verdinglichung sprachlicher Regeln wendet. Aber der Dezisionismus verfehlt die Eigenart von Rechtsarbeit als Textarbeit, wenn er die Möglichkeit von Bindungen in der Sprache überhaupt bestreitet. Normierungen oder methodische Standardsrichterlichen Sprechens werden zwar nicht schon durch objektive Regeln der Sprache selbst gesetzt und garantiert. Aber sie können an sprachliche Regeln und deren Veränderung im praktischen Sprechen anknüpfen. Wenn die dezisionistische Kritik nur die Veränderung des Sprachgebrauchs in der sprachlichen Praxis wahrnehmen will und die Kategorie sprachlicher Regeln als Gegenstand dieser Veränderung und als Bezugspunkt von sprachlichen Normierungsprozessen in Abrede stellt, dann widerspricht sie den von ihr selbst angenommenen Voraussetzungen. Denn von Veränderungen des Sprachgebrauchs kann man nur reden, wenn man den Begriff der Regel voraussetzt.12 Mit der Auflösung des Regelbegriffs wäre auch zugleich die vom Dezisionismus selbst beanspruchte Möglichkeit einer Sprache als Mittel intersubjektiver Verständigung aufgelöst. Denn der Begriff der Sprache ist mit der Möglichkeit der Wiederholung verknüpft und setzt damit einen Regelbegriff voraus, den Wittgenstein folgendermaßen formuliert: „Das Wort 'übereinstimmen' und das Wort 'Regel' sind miteinander verwandt. Sie sind Vettern. Lehre ich Einen den Gebrauch des einen Wortes, so lernt er damit auch den Gebrauch des anderen."13 Die Kritik am Regelplatonismus löst also nicht den Begriff der sprachlichen Regel selbst auf. Der Fehler des Regelplatonismus besteht vielmehr darin, daß riu, Norm und Rede, in: ders., Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft, 1975, S. 11 ff. 12

Vgl. zum Zusammenhang von Regel und Abweichung Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 25. Wie Wittgenstein herausgearbeitet hat, kann das Abweichen nicht als Befolgen einer privaten Regel angesehen werden. Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1,1984, Philosophische Untersuchungen, §§ 199,243 - 248,261 - 280; sowie Kenny, Wittgenstein, 1974, S. 208 ff. 13

Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 224. Vgl. auch ebenda § 225 u. §§ 215 ff. Zur Argumentation Wittgensteins gegen die Möglichkeit „privaten" Regelbefolgens auch Winch, Die Idee der Sozialwissenschaften und ihr Verhältnis zur Philosophie, 1974, S. 36 ff

2. Das Gesetz als Arena für den Kampf um das Recht

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er die Regel von der sprachlichen Praxis isoliert, indem er sie als reine Konvention faßt, welche sich identisch in jeder Wiederholung reproduziere. Der entgegengesetzte Fehler des Regelskeptizismus liegt darin, daß er die sprachliche Praxis von der Regel isoliert. Die subjektive Intention gilt danach als alleinige Quelle einer bei jeder Zeichenwiederholung neuen Bedeutung. Das Hervorbringen sprachlicher Bedeutung als praktischer, als zwischen Regelbefolgung und Regelerweiterung anzusiedelnder Prozeß14 wird von beiden Positionen einseitig verkürzt. Diese Verkürzung prägt auch die unausgesprochenen sprachtheoretischen Unterstellungen von Positivismus und Dezisionismus. Während der Positivismus einseitig die Regel hervorhebt und von jeder sprachpraktischen Verschiebung absieht, betrachtet der Dezisionismus allein die Veränderung und sieht dabei von der Regel ab. Eine realistische Sicht der Möglichkeiten einer Bindungrichterlichen Handelns muß demgegenüber sowohl den Regelplatonismus als auch den Regelskeptizismus vermeiden. Es stellt sich daher die Frage, ob zwischen den extremen Auffassungen des Verhältnisses von juristischem Handeln und textueller Bedeutung eine präzisere Bestimmung dieses Verhältnisses möglich ist. Ausgangspunkt dafür muß der geschilderte Streit um die Verknüpfung von Normtext und Sachverhaltserzählung mit dem tragenden Leitsatz der Entscheidung (dem Text der zu produzierenden Rechtsnorm) sein. Dieser Streit kann einfacher als Auseinandersetzung über die Bedeutung des Normtextes für den Fall bezeichnet werden. Das Problem für die Parteien besteht darin, ein bestimmtes Verständnis der Textbedeutung gegen andere Verständnisweisen mit spezifischen Argumenten durchzusetzen. Der Streit dreht sich also im Kern um sprachliche Gebrauchsweisen, um unterschiedliche Bedeutungserklärungen. Das Gesetz eröffnet dem Konflikt als dem widerstreitender Anspruch auf das eigene Recht seinen Raum. Mit dem Gesetz kann der Konflikt zur Sprache gebracht werden. Ausgetragen werden kann er nur in der Sprache; er muß es sogar. Denn in diesem Streit stehen sich zwei unversöhnliche Ansprüche auf die Bedeutung des Gesetzes für die eigene 'Sache' gegenüber; er verlangt also nach der semantischen Praxis einer Entscheidung über sie. Subjekt des Textes in seiner Bedeutung für den Konflikt, und damit 'Sitz' der Gewalt über die 14

D. Busse, Historische Semantik, 1987, S. 103. Vgl. Dort auch S. 193 ff zum Begriff der Analogie als Regelbefolgung und Regelerweiterung verknüpfende Figur.

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Π. Textarbeit

Bedeutung des Normtextes, ist der mit Entscheidungskompetenz ausgestattete Jurist als Herr über den Normtext. Er 'verkörpert' die Regel und führt das Wort in der Frage, was an den Einlassungen der Beteiligten für die Bedeutung als Recht zählt, was als 'Erklärung der Bedeutung' gilt und ausschlaggebend sein soll. Das Gesetz bietet den Rahmen für den Kampf um das Recht in der Sprache, der durch das Durchsetzen einer bestimmten Bedeutung des Gesetzestextes für den verhandelten Konflikt entschieden wird.

3. Der Gang vom Normtext zum Text der Rechtsnorm ist der Weg, den die Gewalt durch die Sprache nimmt Gewalt ist dem Recht nicht äußerlich und nicht 'unnatürlich'. Recht ist Gewalt; eine Gewalt indes, die sich dadurch exponiert, daß sie sich in der Sprache vollzieht Eine Gewalt also, die zur Sprache gebracht werden muß, dadurch thematisch ist und so an der Sprache auch ihre Grenze erfährt. Eine Gewalt aber, die sich darin treu bleibt, sich zur Entscheidung über den Streitfall Sprache anzueignen, sich zu eigen zu machen. Eigentlich sollte jeder Umgang mit den „Verhältnissen unsrer Sprache"1 unter der Devise stehen, die Wittgenstein ursprünglich seinen Philosophischen Untersuchungen voranstellen wollte, nämlich sich immer die Unterschiede, die Differenzen klar zu machen. Für die juristische Textaibeit ist allerdings aufgrund der ihr immer wieder eigenen Verleugnung der Gewalt eher das gegenteilige Vorgehen angeraten. Hier kommt es zunächst einmal darauf an, juristische Textarbeit als ein Gewaltverhältnis herauszuarbeiten; darauf, Licht in ein Gewaltverhältnis zu bringen, das gern im Dunkeln gelassen wird. Die Frage bleibt offen, ob dann die Unähnlichkeiten, die juristische Textarbeit eben auch als eine Arbeit an Sprache gegenüber 'bloßer' Gewalt aufweist, ausreichen, um durch sie das säkulare Versprechen des Rechts der Moderne eingelöst zu sehen, die unvermittelt illegitime Gewalt in legitime zu bannen, Gewalt rechtsförmig zu beherrschen, anstatt ihr ausgeliefert zu sein.

1

Das folgende in Anspielung auf Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1,1984, Philosophische Untersuchungen, § 130.

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3.1 Grund und Grundlage der Rechtserzeugung ist die Gewalt der Sprache Die Verhältnisse des semantischen Kampfes in juristischer Textarbeit machen klar, daß die Sprache nicht das lautere Reich der Gehaltlosigkeit ist, als das sie Juristen gern sehen und hinstellen. So wollte zwar Jhering, der dem Recht nur eine Entstehung im Kampf und unter Schmerzen zuschrieb, demgegenüber der Sprache einen schmerzlosen, auf freiwilliger Einsicht beruhenden Ursprung zubilligen.2 Und die alltägliche Erfahrung, daß man nicht schlägt, solange man redet, scheint ihm recht zu geben. Indes weiß der Alltag ebensogut um die Gewalt, die damit einhergehen kann, daß Sprechen prinzipiell Handeln und Sprache immer Praxis ist. Er weiß um das verletzende Wort, das zur Waffe gerät3, mit der bei der Hand es auch schon mal auf einen Rufmord nicht ankommt; vom Totschweigen als allzu beredter Form des 'geistigen' Totschlags ganz abgesehen.4 Um den zu bewerkstelligen, kennt der Alltag das Rededuell und das Wortgefecht und nicht zuletzt den verbalen Schlagabtausch, in dem es meist darauf ankommt, einander mundtot zu machen. Dem Alltag ist das in diesem Sinn schlagende Argument durchaus geläufig. Sprechen und Sprache sind nicht das schmerzfreie Gebiet freier Einsicht.5 Vor allem ist Sprache nicht rein kognitiv.6 Sprache trägt Spuren von Gewalt an sich und übt selbst Gewalt aus. Sprache als parole im Sinne Saussures ist von unseren Handlungszielen, Strategien, Taktiken und Verantwortlichkeiten kontaminiert. Und wenn Sprache von mächtigen Institutionen zum System der langue eingefroren und dem einzelnen durch Erziehung und Korrektur auferlegt wird, tritt sie als vor-geschriebenes, auferlegtes, verfugtes System auf, 2

Jhering, Der Kampf ums Recht, Neudruck, 1992, S. 34. Dazu Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 62: „Man würde den Unterschied zwischen Sprach- und Rechtsveränderungen hundert Jahre nach Jherings Festvortrag bei der Wiener juristischen Gesellschaft anders ausdrücken." 3 Eine umfangreiche, linguistisch aufgearbeitete Sammlung der in der Sprache so 'aufgehobenen' Gewalt bei Kiener, Das Wort als Waffe, 1983. 4

Dazu F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 198 f.

5

Barthes, Leçon / Lektion, 1980, S. 19 u. 21.

6

Gegen dieses im übrigen auch in der Linguistik verbreitete Vorurteil Hermanns, Kognition, Emotion, Intention, in: Jahrbuch 1993 des Instituts für deutsche Sprache, 1994.

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Π. Textarbeit

ganz entgegen der auch Saussureschen „Illusion des Sprachkommunismus" einer Gemeinschaft der allesamt frei und gleich über sie Verfügenden.7 Sie ist als ein solches System immer schon von massiver sozialer Gewalt durchwirkt. Die Äußerungen Wittgensteins über die Dressur, die „Ablichtung" zur Sprache sind einschlägig und werden ihm von zarter besaiteten Interpreten als Zynismus angekreidet8; dagegen gehen Formulierungen von Barthes noch erheblich weiter.9 So ist denn Sprache nicht von jener Unschuld, die ihr Juristen gerne nachsagen, um die Unschuld der eigenen Wortgewalt zu beteuern. Die Sprache des Rechts, in die Recht verfaßt und durch die Recht verordnet wird, ist im Gegenteil zusätzlich verhärtet, durch komplexen Gruppendruck und fast allgegenwärtige Staatsgewalt überformt. Gerade die Sprache des Rechts ist kein Hort purer, 'unbefleckter9 Erkenntnis, schon gar nicht der reinen Erkenntnis des Rechts aus dem Gesetz. Sie ist kein Refugium, das dem Widerstreit10, dem „brutalen" semantischen Kampf um die Sprache entzogen wäre.11 Wie alle Sprache verdankt sich auch die des Rechts immer wieder dem Kampf darum, was in ihr Bestand haben und von Bedeutung sein kann. Gerade für die Sprache des Rechts ist Wittgensteins Hinweis in all seiner Doppelbödigkeit zu lesen, daß 'wir mit der Sprache kämpfen9, daß 'wir im Kampf mit der Sprache stehen'.12 7

Zu dieser Illusion als einer bezeichnenderweise zunächst positivistischen bei Comte siehe Bourdieu , Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, 1990, S. 18 f. 8

Vgl. z.B. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe; Band 1,1984, §§ 5 u. 6. Gegen eine solche Kritik, die glaubt, „Wittgenstein rede damit einer zynischen Erziehungsmethode das Wort", J. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 1989, S. 143 ff. 9

Siehe z.B. das Wort vom „Faschismus der Sprache" bei Barthes, Leçon / Lektion, 1980, S. 19. 10

Im Sinne von Lyotard , Der Widerstreit, 1987.

11

Vgl. Jeand'Heur, Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft, in: F. Müller (Hg..), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 25. Zur Brutalität des semantischen Kampfes vermerkt A. Strauss , Spiegel und Masken, 1974, S. 25: „Kampf um terminologische Prämien ist nicht nur Streit um Worte, denn Worte sind Handlungsmandate, und manchmal ist eine klassifikatorische Entscheidung eine Sache von Leben und Tod. Zumindest sind die menschlichen Interessen tief darin verstrickt." 12

Wittgenstein, kungen, S. 30.

Ober Gewißheit, Werkausgabe, Band 8, 1984, Vermischte Bemer-

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Gewalt der Textarbeit namens des Rechts ist in der Sache unvermeidlich. Sie kann allenfalls verleugnet werden. Sie folgt schon aus der unabdingbaren Sprachlichkeit von Recht. Die diskursive Gewalt juristischen Tuns ist aufgrund der endlos möglichen Semantisierung sprachlicher Zeichen13 mit einer jeden verbindlichen Entscheidung über Sprache notwendig gegeben; denn es soll dort Recht werden, wo sich sonst die ursprüngliche Brachialität des Konflikts Bahn zu brechen droht. Der Text gibt nichts her als nur Worte, Ketten von Zeichen. Um jede Bedeutung des Textes als Recht muß im Fall des Konflikts buchstäblich gerungen werden. Es ist der 'Kampf mit der Sprache', dem das Recht seine 'Entstehung' verdankt. Die Sprache sperrt sich jeder gültig entschiedenen Festlegung auf nur eine Bedeutung des Textes schon dadurch, daß die Negierbarkeit eines jeden dem Text für die Fallentscheidung abgewonnenen Satzes Bedingung dafür ist, daß dieser Satz Sinn machen kann.14 Zugleich ist der 'Kampf mit der Sprache' das Mittel im Widerstreit des Konflikts, der erst mit Hilfe des Normtextes zu einem Rechtsstreit zu machen ist15, sich sein Recht zu verschaffen. Die Sprache bietet allein schon durch ihre prinzipielle Unentschiedenheit die Möglichkeit, durch Negation eines jeden Satzes diesen für die verbindliche Entscheidung auszuschließen und damit der eigenen Textbedeutung zum Sieg zu verhelfen. Seine Rechtfertigung findet ein solcher 'Kampf mit der Sprache' unter den Bedingungen des modernen Rechts- und Verfassungsstaats darin, daß Recht anders nicht zur Sprache zu bringen und daß es anders nicht zu haben ist. Nur so wird dem Gesetz Genüge getan. Auf die 'Freiwilligkeit' und auf die 'Einsicht' des entscheidenden Juristen mag die Rechtsordnung dabei allerdings nicht bauen. Sie mag sich nicht darauf verlassen, daß der Richter schon den guten Willen aufbringen werde, nichts anderes zu tun, als dem Gesetz Gehör und Gehorsam zu verschaffen. Vielmehr nimmt der moderne Rechtsund Verfassungsstaat durch die unbedingte Bindung der juristischen Textar13

Zur „Unendlichkeit der Sprache" und über die „entgrenzte Ökonomie semantischer Oppositionen" Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983 und auch schon Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 1977. 14

Den logischen Zusammenhang von Negierbarkeit und Möglichkeit in Hinblick auf den Satzsinn exponiert Sokolowski, Abhandlung zum Begriff der logischen Form, Typoskript, 1996, S. 15. 15

Grundsätzlich zur Transponierung des Widerstreits in den Rechtsstreit Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 27 f.

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Π. Textarbeit

beit an das Gesetz16 dem Richter gleich wieder jene Gewalt, die er ihm mit dem Amt doch übertragen und überantwortet hat. Um dieses Amtes jedoch walten zu können, um Recht zu sprechen, muß der Richter genau das tun, was ihm von Rechts wegen eigentlich verwehrt ist: Er muß das Gesetz in die Hand nehmen und es selbst geben, dem er doch eigentlich zu allen Teilen unterworfen ist.

3.2 Um des Rechts Herr zu werden, übt der Richter Gewalt über Text und Fall und gibt damit das Gesetz Die Rechtsprechung ist dem Gesetz unterworfen, ist unabdingbar auf das Gesetz verpflichtet; und zwar dort, wo der Konflikt in der Gesellschaft aufgebrochen ist und wo vom Richter eine Lösung verlangt wird. In einem weiteren, auch materiellrechtlichen Sinn unterliegen dieser Verpflichtung auf das Gesetz überhaupt die Rechtsverhältnisse und der Rechtsverkehr von Bürgern, Organisationen und Institutionen. Das Gesetz setzt den Rahmen, in dem sie mit einem Anspruch auf Recht erst auftreten können. Es steckt das Feld ab, auf dem sie ihren Anspruch als ihr Recht behaupten können. Mit dem Prözeßgesetz sind auch die Bahnen vorgezeichnet, auf denen um das eigene Recht zu kämpfen ist. Normtexte sind ihrerseits auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren angewiesen, um amtliche Geltung beanspruchen zu können. Was immer an Recht über das Gesetz als zunächst bloßem Zeichen dafür 17 hinaus erst erzeugt werden muß, maßgebliche Instanz dafür, was legal ist und damit legitim sein kann, ist 'das Gesetz9 im Sinn der Gruppierung der in Normtexten niedergelegten Prädispositonen des politischen Souveräns darüber.18 Und dieser hat sich selbst vor dem Gesetz als rechtmäßig zu

16

Dazu ausführlich Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 18 ff.

17

Grundsätzlich zur Doppelbödigkeit der Rede vom Gesetz darin, „sich einmal auf den bloßen Wortlaut als Zeichenfolge oder auf die Zeichenbedeutung als 'objektiven Inhalt' [zu] beziehen" Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S.19. 18

Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1994, S. 272: „'Gesetzgebung9 erscheint nämlich als vorweggenommene Fallösung, Normtextsetzung folglich als gleichsam umgekehrte und den späteren Entscheidungsvorgang in seiner

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erweisen, sich im Recht des Gesetzgebers zu beweisen. So wenigstens will es, alles in allem, die im Stand der Moderne erreichte "Herrschaft des Rechts9, wie sie im entwickelten Rechts- und Verfassungsstaat Gestalt angenommen hat. Dabei ist das Postulat der Gesetzesbindung zur Begründung dieses Staatswesens nicht etwa nur als Ideologie jener Herrschaft des Rechts zu lesen, sondern selbst wieder als Rechtstext zu nehmen.19 So folgt im deutschen Grundgesetz dem Art. 92, der die „rechtsprechende Gewalt" in die Hände des Richters legt, sogleich Art. 97, der dem Richter die Hände bindet, indem er ihn in seiner Arbeit am Recht „nur dem Gesetz" unterwirft. 20 Wie jeder Rechtstext ist auch dieser Artikel erst einmal Text. Allein die Praxis vermag ihm seinen Sinn zu geben.21 Den semantischen Wechsel, den Artikel 97 Abs. 1 GG auf die Bindung juristischer Textarbeit an das Gesetz ausstellt, umstandslos für die bare Münze einer Bindung durch das Gesetz im Sinn einer Erkenntnis seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung zu nehmen22, hieße allerdings in eine ideologisierende Lesart der verfassungsrechtlichen Bestimmung zurückzufallen. Überhaupt bewirkt es eine positivistische Ideologisierung des Rechts, wenn man das Gesetz als eine durch die Autorität seines Erlasses bedeutsame Zeichenkette ohne weiteres für die Bedeutung eines objektiven Gehalts an Recht nimmt.

Umkehrung vorwegnehmende Setzung von Entscheidungsnormen." Eine Setzung im übrigen, die sich wiederum dem „Kampf um Wörter" verdankt. Ausführlich differenziert zum Problemkreis „Norm als sachbestimmtes Ordnungsmodell" ebenda, S. 168 ff. 19

Dazu anhand der Formel von der „verfassungsgebenden Gewalt des Volkes" F. Müller, Fragment (über) Verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1995, v. a .S. 11 ff. 20 Dazu F. Müller, Richterrecht - rechtstheoretisch formuliert, in: Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1996, S. 67 f. 21

Vgl. insistent als eine Art ceterum censeo der praktischer Semantik juristischer Textarbeit Wittgenstein, Ober Gewißheit, Werkausgabe, Band 8, 1984, Bemerkungen über die Farben, § 317. 22

Auch zu dieser „Mehrdeutigkeit [...] im Begriff der Gesetzesbindung" Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 19. 6 Müller u. a.

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Π. Textarbeit

Gesetzesbindung ist dem Richter unter dem normativen Druck23 einer Forderung abverlangt, die zurückzuweisen ihn seine Identität als Rechtsarbeiter kostet. Er kann sich der Bindung seiner Textaibeit an das Gesetz nur unter dem Preis seiner Rolle entziehen, um den Preis seines 'Rechts auf Recht'. Er muß sich mit jedem Wort zum Fall an der Elle des Normtextes messen lassen. Er muß seine Semantisierung des Normtextes darin ausweisen, daß er mit der von ihm für den Fall zu bildenden Entscheidungsnorm nur über das Recht entscheidet, das mit der Rückbindung an das Gesetz vom amtlichen Wortlaut vorbedeutet ist. Er darf in seiner semantischen Praxis bei aller nötigen Erarbeitung des Textes doch nichts anderes tut, als mit dem Text zu arbeiten24, und insofern dem sprichwörtlichen Buchstaben des Gesetzes zu folgen. Der aber bleibt ebenso sprichwörtlich solange toter Buchstabe, als sich der Richter nicht mit aller ihm mit dem Amt übertragenen Gewalt des Normtextes annimmt, um diesem Text kraft seiner Entscheidung zu der Autorität zu verhelfen, die dem Gesetz zugedacht ist. So bleibt zunächst nur der 'Wille zum Gesetz', den der Richter gefordert ist aufzubringen. Er kann ihn nur aufbringen, indem er sich den Gesetzestext zu eigen macht. Die Gewalt juristischer Textarbeit ist mit deren Bindung an das Gesetz ganz auf den Text kon-zentriert. Ein 'Wille zur Macht' braucht dem Richter dabei gar nicht erst unterstellt zu werden.25 Er kann gar nicht anders, als ihn aufzubringen. Er hat ihn zu haben, damit er um des Rechts willen des Normtextes Herr wird. Er kann nicht einfach 'die Bedeutung' des Normtextes 'für den vorliegenden Fall' aussprechen oder hinschreiben; weil nämlich ohne sein eigenes konstitutives Handeln der Text überhaupt keine Bedeutung 'hat' und von keinerlei Bedeutung für den Fall ist. Der Richter kann das Gesetz nicht bloß verlautbaren, weil nämlich das Gesetz nichts laut werden läßt als nur Worte über Worte. Und der Richter kann vor allem eben nicht unschuldig aussprechen, was das

23

Allgemein handlungstheoretisch zum Begriff des normativen Drucks G. H. v. Wright, Erklären und Verstehen, 1974, S. 135. 24

Generell zur Rechtseizeugung als „ A r b e i t mit Texten" F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1996, S. 28 ff. Zur Rechtsarbeit als unmittelbare Textarbeit (travail de texte) und nicht lediglich als Arbeit über Texte (travail sur des Textes) Jouanjan, Présentation, in: F. Müller, Discours de la Methode juridique, 1995. Aus linguistischer Sicht D. Busse, Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992. 25

Vgl. auch F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 173 f.

3. Der Weg der Gewalt durch die Sprache

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Gesetz für den vorliegenden Fall angeblich schon angeordnet habe. Was er statt dessen tut, ist, etwas zu produzieren, und zwar seinen Text, seine schriftliche Anordnung. Um Herr des Verfahrens in dem anstehenden Fall und in der Entscheidung über ihn sein zu können, muß der Richter Herr über den Normtext werden, ihn als sein Metier und als Materie des Rechts beherrschen. Und er kann auch nicht anders, als sich den Normtext anzueignen und Herr über ihn zu werden; denn er ist es und nicht etwa das von ihm angeblich nur interpretierte Gesetz, der den Fall verbindlich, normativ entscheidet. Anders ausgedrückt: Damit im Fall Recht wird, hat der Richter ihm das Gesetz zu geben. So gilt der systematisch erste Gewaltstreich des Richters dem Text. Er legt Hand an ihn. Er muß dies tun, um dem Fall zu geben, was durch den Fall in eine Bringschuld gebracht ist, Recht. Um das Gesetz in dem zur Entscheidung anstehenden Fall zur Geltung und zum Tragen zu bringen, muß der Richter den Gesetzestext als zunächst erst bloßen Normtext, als bloßes Textformular in Arbeit nehmen. Ohne diese Arbeit bliebe das Gesetz nur ein Stück Papier, bedeckt mit Druckerschwärze, allenfalls noch bedeckt mit Chiffren. 26 Der Rechtsarbeiter legt, anders gesagt, durch die von ihm erzeugte Rechtsnorm den Text auf eine Bedeutung als die seine fest. Er verleiht, so das ganze Zeichen des Gesetzes in diesen 'Akt der Bedeutung' einbegreifend, zugleich umgekehrt der von ihm erzeugten Norm die Worte des Gesetzes als einen Titel auf Recht.27 Der Richter produziert akut das Gesetz, indem er es zu seinem Text einer Norm fortschreibt und es aktuell in diesem 'Moment von Bedeutung' vor den Fall setzt; eben als leitenden Satz, als 'Schiene', auf die der Fall zu bringen und in den Urteilsspruch überzuleiten ist. Damit rekapituliert der Richter nicht etwa nur das Gesetz. Er aktualisiert auch nicht nur und 'wendet' in keinem Sinn das Gesetz nur 'an'. Er wendet es in die entscheidende Norm für den Fall um. Er gibt ihm diese Wendung. Der Richter lauscht und liest nicht, sondern der Richter schreibt und spricht. Zu meinen, der Rechtsarbeiter stelle bloß interpretativ eine Bedeutung fest, die der Gesetzestext schon irgendwie bei 26

Allgemein zum Zusammenhang zur Tätigkeit am Zeichen und der Bedeutsamkeit seiner Materialität Wittgenstein, Wittgenstein und der Wiener Kreis, Schriften, Band 3, 1984, S. 105. Im besonderen vgl. auch Ogorek, Der Wortlaut des Gesetzes, in: Rechtsanwendung in Theorie und Praxis. Symposium zum 70. Geburtstag von Arthur Meier-Hayoz, 1993, S. 28. 27

Vgl. L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Werkausgabe, Band 7,1984, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band 1, § 116: „Wir verleihen Wörter, wie wir, bereits vorhandene, Titel verleihen." 6*

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Π. Textarbeit

sich 'hat', oder gar zu meinen, er erkenne lediglich, was 'hinter' den Worten des Gesetzes steckt und zwischen seinen Zeilen 'verborgen' ist, heißt nicht nur die Semantik der Rechtserzeugung auf den Kopf zu stellen.28 Sondern es heißt vor allem, die Gewalt zu verkennen, die praktisch darin liegt, daß der Rechtsarbeiter durch die Festlegung des Textes auf eine Bedeutung bilateral ineins29 den Text auf einen Ausdruck verlegt, einen Ausdruck von Recht. Jeder Hauch einer versöhnlichen Ontologie der reinen Bedeutung verflüchtigt sich in der rauhen Luft semantischer Praxis.30 Mit dem Zusammenschluß zu einem Zeichen des Rechts durch den Text des Richters sind die „anderen" Semantisierungen dem gewonnenen Zeichen verschlossen, zu ihm in Opposition gesetzt. Je nachdem, wie stabil sich die Zeichensetzung erweist, die Interpunktion der Bedeutung dort, wo ansonsten alles 'im Fluß der Rede' ist; je nachdem, wie tief der Schnitt an Bedeutung geht, der damit gemacht ist, werden die nunmehr anderen Semantisierungen in den Orkus des Abweichenden, des Widersinnigen gestoßen.31 Zumindest werden sie einem (ihnen ansonsten im Rahmen des Arbeitens der Sprache an sich gänzlich fremden) Rechtfertigungsversuch ausgesetzt, sich nun überhaupt noch als eine Möglichkeit von Bedeutung behaupten zu müssen.

28 Entsprechend vermerkt dann umgekehrt Wittgenstein, Das Blaue Buch, Werkausgabe Band 5, 1984, Das Blaue Buch S. 15: „Wenn du zuerstfragst 'Was ist eine Erklärung der Bedeutung?', so hat das zwei Vorteile. Du holst die Frage 'Was ist Bedeutung?' gewissermaßen auf die Erde herunter." Der andere ist die Heilung von der „Versuchung", „dich nach einem Gegenstand umzusehen, den du 'Bedeutung' nennst." 29

Im Sinn des Saussureschen Blattmetapher. Vgl. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl., 1967, S. 43. Zum internen Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung auch Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, 1974, S. 54, im übrigen mit kritischem Verweis auf Saussure. Eingehend zeichentheoretisch zu einem aktivisch produktiven Zeichenbegriff gegenüber einem passivisch reproduktiven, repräsentationalistischen R. Keller, Zeichentheorie, 1995, S.22 ff. 30

Siehe auch die Aufforderung bei L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 107: „Zurück auf den rauhen Boden!" 31

Zur Gewalt dieses Ausschlusses der Vielfalt durch den Einschluß in eine Einfalt auch Schlag, Normativity and the Politics of Form, in: University of Pennsylvania Law Review, 139, 1991, S. 801 ff.

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Diese, allerdings ganz gewöhnliche, „Gewalt der Bedeutung"32 bekommt übrigens als erster der Richter selbst zu spüren. Im Prozeß der Verfertigung der Rechtsnorm wird er sich mit jedem Schritt seiner Festlegung der Anfechtungen von Alternativen erwehren müssen. Er muß sich gegen sie als Antizipationen von Kritik und Revision, als Ein- und Widerrede verwahren und sich ihnen praktisch verschließen, um seine semantischen Festlegungen mit der nötigen Entschiedenheit treffen zu können. Um sich zu seinem Text der Rechtsnorm durchzuringen, muß der Richter prinzipiell sein ganzes professionelles Können und das volle Bewußtsein seines Standes aufbieten, auch wenn sich dieser Vorgang realiter nicht selten im Durchblättern des Kommentars erschöpft. In diesem amtlichen Vorgang der Verfertigung einer Rechtsnorm aus dem Gesetz nur das hermeneutische Hin- und Herwenden des Textes zu sehen, das sich zur friedlichen Einkehr in eine, wenn auch temporäre, Wahrheit seines Sinns aufschaukelt, hieße ihn allerdings ungemein zu romantisieren. Die Unruhe, die diesen Aibeitsprozeß der „Konkretisierung!" kennzeichnet, gleicht eher dem Zittern der Gewalt vor dem Gegenschlag, den sie mit jedem Akt der von ihr praktizierten Negativität33 unweigerlich provoziert. Und in dem Kampf, den der Richter mit sich um den Text auszufechten hat, wiederholt sich jener „Kampf um Wörter"34, in dem sich auch der politische Souverän seine parlamentarische Normtextsetzung abzuringen hatte. Mit seinem Gewaltstreich schöpft der Richter Bedeutung aus dem bloßen Wort des Gesetzes. Er versetzt35 damit das zumindest für den zur Entscheidung anstehenden Fall zunächst einmal gleich gültige, nichts sagende und derart 'stumme' Zeichen des Gesetzes in das volltönend ausdrucksvolle, für den Fall bedeutsame Zeichen seines Textes einer Rechtsnorm. Alles in allem erschafft er damit für den Fall jeweils das Gesetz im Sinn eines Gehalts an Recht. Wenn also der Richter das Wort ergreift, dann leiht er eben nicht diese 32

Dazu Christensen, Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung, Vortragsmanuskript, 1995. 33

Zur „Gewalt der Bedeutung" als „praktizierte [...] Negativität" Christensen, Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung, Vortragsmanuskr., 1995, S. 24. 34 35

Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2.Aufl., 1994, S. 272.

Dazu Derridas Begriff der Iteration als Wiederholung und Verschiebung des Zeichens zugleich. Vgl. Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976. Im engeren Zusammenhang im Anschluß daran Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 142 und öfter.

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Π. Textarbeit

Stimme dem Gesetz. Der Richter spricht, buchstabiert das Gesetz nicht aus. Er spricht sich zum Gesetz aus. Er spricht aus, was für ihn der Gesetzestext normativ besagt, wie er ihm für seine Entscheidung des Falls zusagt. Damit bringt der Richter nicht etwa nur den Gesetzestext durch eine Auslegung zum Sprechen. Er erarbeitet sich, er macht das Gesetz. Er macht es durch sein Erarbeiten zu einem Schriftstück von Bedeutung. Kurzum, der Richter ist nicht Mund des Gesetzes. Er ist selbst Gesetzgeber, mit aller darin liegenden Gewalt. In diese Gewalt über den Text muß sich der Richter mit dem politischen Souverän teilen. Seine für die Entscheidung unabdingbare akute Gesetzgebung steht ihm unter den Bedingungen des gewaltenteilig verfaßten Rechtsstaats nur insoweit an, als er, konventionell ausgedrückt, bloß Gesetzgeber zweiter Stufe sein kann. Die durch Normtexte versuchte Einwirkung auf das Recht, dessen Vorbereitung im amtlich „geltenden" Wortlaut ist den Legislativorganen des politischen Souveräns vorbehalten. Bei Gericht ist der Rechtsarbeiter dann allerdings im Rahmen der Konkretisierung Herr im Haus. Unter den Bedingungen des gewaltenteilig verfaßten Rechtsstaats ist es nun der politische Souverän, dem es verwehrt ist, mit seinem Versuch einer Semantik der Normtextsetzung auch gleich die ganze spätere Praxis der Normumsetzung an sich zu reißen; das Allgemeine Landrecht Preußens war vor zweihundert Jahren dabei exemplarisch gescheitert. Das rechtsförmige Verfahren im Konflikt auf dem Weg der juristischen Textarbeit, die im Ausgang vom Gesetzestext eine Rechtsnorm für den Fall erarbeitet und über deren Bedeutung als Lösung des anstehenden Konflikts entscheidet, liegt dann in der Hand des Richters. Insofern ist die Justiz zwar in der Tat als ein Organ der Rechtspflege „vollziehende" Gewalt. Als ein solches Organ ist sie jedoch äußerst tätig und produktiv. Der Richter „vollzieht" nicht Recht, indem er die Bestimmungen des Gesetzes im Rechtsfall ausführt, indem er dem Ruf des Gesetzes als einem anwendungsbereiten Befehl folgt. Er verfügt über das Gesetz im Konflikt, indem er diesem durch seine Texte einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm das Zeichen des Rechts aufdrückt. Er fordert den Gehorsam der in den Konflikt Verstrickten für den Imperativ seines Urteilsspruchs ein, indem er durch die von ihm über (versus et via) den Text geübte Gewalt der Bedeutung sein Machtwort über den Konflikt als amtlich besiegelt. Ein wenig, aber angesichts des realen Gewaltverhältnisses36 juristischer Textarbeit wiederum nicht 36

In Hinblick auf Gewalt und ihre Praxis ist hier der Anklang an Foucaults Unterscheidung von Macht und Machtverhältnis anzumerken. Vgl. z.B. Foucault , Wie wird Macht ausgeübt, in: ders. /Seitter, Das Spektrum der Genealogie, 1996, S. 29 ff.

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allzu pathetisch ausgedrückt, mag der Richter zwar im Ganzen der Rechtsordnung ein an den Gerichtssaal gefesselter Prometheus sein; mit der Kompetenz der Konfliktentscheidung aber ist er auf den Fall „losgelassen". Politischer Souverän und Richter stehen in Hinblick auf die Gewalt über den Normtext in einem Verhältnis disparater Parität. In ihrem Rang als Gesetzgeber (konventionell ausgedrückt) sind sie ganz ungleich. Der Richter bleibt immer der Legislative nachgeordnet, indem er notwendig die von dieser ihm vor-gesetzten und auferlegten Texte aufzugreifen hat. Er unterliegt in seinem Verhältnis zum Normtext dem prinzipiellen Anschlußzwang. Allerdings bleibt zugleich auch der politische Souverän in seiner Gesetzgebung dem Richter immer nur vor-gesetzt und vor-geordnet. Sein ansonsten noch so langer Arm der Macht erstreckt sich nicht auf die Gewalt darüber, seine Normtextsetzungen in fallbestimmende Texte des Rechts und der Entscheidung fortzuführen. Die Legislative unterliegt in ihrer Gewalt über den Normtext einem Abschlußzwang. Sie hat es mit dem Erlaß des Gesetzeswortlauts sein Bewenden sein zu lassen und sich jeder weiteren Semantisierung in praxi iuris zu enthalten. Eine fixierende Prästabilierung steht nicht in ihrer Sprachmacht, eine nachträgliche Revision von Rechtserzeugungen steht ihr nicht zu. Sie kann nur neue Normtexte setzen. Zu betonen ist aber, daß politischer Souverän und Richter dem wechselseitigen Ausschlußzwang aus ihrer jeweiligen Gewalt „prinzipiell" unterliegen. Das heißt nicht, daß die Gewaltenteilung einmal als Prinzip gesetzt sei und des weiteren im Selbstlauf wirke. Ebenso wie die Gesetzesbindung richterlichen Handelns ist auch die Gewaltenteilung strukturell als „Grammatik der Gewalt"37, hier der juristischen Textarbeit, konstituiert. Ebenso wie die Gesetzesbindung ist die Gewaltenteilung zuerst einmal selber Text, Normtext; und ebenso wie die Gesetzesbindung kann sie sich immer wieder nur durch 37

Zum Begriff einer „Grammatik der Gewalt" vermerkt Maas, Sprachpolitik und politische Sprachwissenschaft, 1989, S. 296 f: „Es geht dabei nicht um die Erscheinungsweise einer anthropologisch 'konstanten' Gewalt, sondern um den gesellschaftlichen Umgang mit Problemen der Gewalt, wobei gesellschaftlich nicht nur die Formen ihrer Kontrolle, sondern auch die ihrer Genese sind [...]. Dieser Umgang findet seinen Ausdruck in der mise en discours dieser Probleme - eine mise en discours , die auf der Basis einer bestimmten ' Gewalt'-Grammatik erfolgt, die ihrerseits wiederum diesen gesellschaftlichen Umgang mit diesen Problemen ausdrückt." Maas schließt dabei an den Wittgensteinschen Grammatikbegriff an. Dazu Maas, Kann man Sprache lehren?, 1979, S. 387 ff. Allgem. zu Wittgensteins Grammatikbegriff J. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 1989, S. 112 ff.

Π. Textarbeit

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ihre Praxis beweisen. So ist es in Hinblick auf das hier untersuchte Gewaltverhältnis juristischer Textarbeit wohl nicht übertrieben zu sagen, daß Rechtsstaat und Demokratie mit jedem einzelnen Verfahren, jedem einzelnen Rechtsstreit immer wieder neu auf dem Spiel stehen. Und zwar nicht nur in politisch spektakulären Verfahren wie dem um das Kruzifix-Urteil, soweit der politische Souverän meinte, sich mit seiner über die Gewalt des Richters hinwegsetzen zu können; oder wie in der Serie der Verfahren um die Sitzblockaden, an deren Ende die Verfassungsjustiz sich entschloß, der Tortsetzung der Normtextgebung mit den Mittelnrichterlicher Gewalt9 Einhalt gebieten zu müssen; oder wie im Konflikt um die Freiheit, seine Meinung dahin äußern zu dürfen, daß Soldaten Mörder seien, in dem sich die Legislative beeilt hat, ein vermeintliches Manko anrichterlicher Gewalt über die Sprache zu kompensieren. Sondern auf dem Spiel stehen Rechtsstaat und Demokratie immer auch in so profanen Verfahren wie einer Bußgeldsache vor einem beliebigen Amtsgericht. Strukturell liegt das genau wieder in der Gewaltenteilung begründet. Dem einzelnen Verfahren, in dem sie ihre Praxis hat, ist sein von der jeweils anderen Gewalt ungestörter Lauf zu lassen. Damit kann aber auch die jeweilige Gewalt über den Text erst nach ihrem Abschluß in die Pflicht genommen werden. Dazu braucht es aber wieder ihr (ganzes) Verfahren; sei es etwa die Neubefassung des Parlaments mit einem Gesetz, bzw. dessen Novellierung aufgrund einer erfolgreichen Normenkontrollklage; oder sei es das Wiederaufnahmeverfahren bei Gericht, bzw. die Zurückverweisung durch die Verfassungsjustiz . Umgekehrt heißt daß, daß in dem einzelnen Verfahren, in dem sich die Gewaltübung normativer Textarbeit vollzieht und vollstreckt, müderen Praxis selbst dafür sorgen kann38, daß die sich in den Grenzen ihres Rechts und ihrer Legitimität hält, die ihr das Procedere gewährt. Daran ändern auch Kontrollmechanismen als institutionelle Vorsorge nichts. Denn diese sind auch wieder nur Text und Verfahren; und sie müssen, wie könnte es anders sein, ihren Sinn und ihre Wirkung immer erst wieder in actu erweisen. Die ganze Gewalt über den Normtext mag geteilt sein. In jedem Teil aber ist sie ganz Gewalt. Für seinen Teil hat diese der Richter auch dringend nötig. Er benötigt sie für seinen zweiten Gewaltstreich: den Zugriff auf den zur Lösung anstehenden

38

Allgemein so L. Wittgenstein, Ober Gewißheit, Werkausgabe, Band 8,1984, Über Gewißheit, § 139.

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Konflikt. Der Richter muß ganz Herr über den Normtext sein, um mit dessen Hilfe auch Herr über den Konflikt zu werden. Denn diesen Platz, der ihm formaliter von Amts wegen angewiesen ist, muß er in der Praxis seiner Semantik des Normtextes für den 'Moment des Rechts' überhaupt erst einnehmen. Er muß sich die ihm gebührende Stellung als entscheidende Kraft im Konflikt förmlich erst erobern, indem der den Streitparteien das Heft einer je eigennützigen Arbeit am Text aus der Hand nimmt. Der Richter nimmt sich des Konflikts also nicht etwa nur als ein neutraler, über den Parteien gewaltfrei schwebender Verhandlungsführer an, der sich anschickt, kognitiv deren Streit darüber zu schlichten, wer in der Sache Recht hat. Dieses Recht haben die Kontrahenten sich längst schon genommen, wenn es zum Rechtsstreit kommt. Sie haben dafür auch längst schon den Normtext für sich eingenommen. Mit ihren Einlassungen und Erklärungen zu Sache und Person, mit ihren kontroversen und einander konteikarierenden Fallerzählungen39, seien sie nun professionell beraten in Form gebracht oder seien sie unbeholfen laienhaft; selbst noch mit der schlichten Unschuldsbeteuerung des Angeklagten, mit dem inkriminierenden Schrei und Fingerzeig, aber auch mit dem reumütigen Eingeständnis haben die Parteien dem Gesetz längst schon die Bedeutung ihres Interesses an einer Entscheidung des Konflikts gegeben. Mit ihren Schriftsätzen haben sie sich den Text des Rechts in ihrer Bedeutung des Gesetzes verfaßt und mit Blick auf den Richter ausdrücklich festgeschrieben. Mit der Klageerhebung und der Klageerwiderung machen die Kontrahenten je diesen Text unüberhörbar geltend und setzen ihn als Feldzeichen der Auseinandersetzung, des Kampfes ums Recht in ihrer Sprache vor die Schranken des Gerichts. Mit ihren Anträgen und Vorträgen im Prozeß setzen sie diesen Kampf in eigener Sache mit den Mitteln juristischer Textaibeit in das Verfahren hinein fort. Und mit den Plädoyers schließlich suchen sie ihren Text als den alleinigen zu setzen; suchen sie so die Entscheidung, indem sie im Vorgriff des Urteils versuchen, ihren Widerpart in seinem Recht unter den Text des je eigenen zu beugen und damit aus dem Feld zu schlagen. Wenn sich also der Richter anschickt, seinen Platz als Subjekt des Normtextes einzunehmen, findet er diesen Platz zunächst einmal schon besetzt. Wenn er sich daran macht, durch die Erarbeitung seines Textes einer Rechtsnorm dem Gesetz seine Bedeutung zu geben, ist es um diese Bedeutung in der 39

Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1994, S. 254 f. dersJuristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 30 f.

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Π. Textarbeit

Sicht der Streitparteien bereits geschehen. Zu Beginn des Rechtsstreits sieht sich der Richter mit einer gesetzgeberischen Gewalt der informellen Art konfrontiert, die sich in das vermutete Sinnzentrum des Normtextes drängt und gegen die er sich Zug um Zug in seiner Gewalt über den Text zu behaupten hat. Denn ignorieren kann er die Parteien nicht; die Konfliktparteien sind, im Antagonismus ihrer faktisch semantischen Gewalt über den Normtext, 'Parteigänger' des Rechts. Vor dem Gesetz kann der Richter den Parteien ihre jeweilige Erwartung von Recht nicht verwehren, das 'rechtliche Gehör', für die sie das Wort des Gesetzes und für die sie das Gesetz beim Wort nehmen. Diese Erwartung von Recht drücken die Parteien durch die Texte aus, in denen sie sich zur Bedeutung des Gesetzes erklären. Der Richter kann sich nicht der Entscheidung verweigern40, die die Parteien auf dem Feld der Semantik mit dem Text ihrer jeweiligen Erklärung der Bedeutung41 des Gesetzeswortlauts suchen. Mit der eigenen Erklärung, was unter diesem zu verstehen sei, wollen sich die Parteien eben die Sprache verschaffen 42, die jeweils ihnen allein den Zu-Spruch an Recht sichern soll. Diese Polarität43 des beiderseitigen Anspruchs auf das ungeteilt und unangefochten Ganze der Berechtigung macht eine Entscheidung unausweichlich. Damit der Richter sie indes zu seiner Entscheidung über das Recht machen kann, das die Streitenden meinen schon auf ihre Seite gebracht zu haben, hat er das 'Gesetz des Handelns' an sich zu ziehen. Er hat die Parteien aus dem vorgeblichen Sinnzentrum des Normtextes zu verbannen, um Raum zu schaffen für seinen Text einer Rechtsnorm. Er hat dafür vor allem die Gewalt der Bedeutung an sich zu bringen und gegen die Parteien mit ihrer de facto ergriffenen Gesetzgebimg zu wenden, die sie sich zunächst einmal eher angemaßt als zugemessen haben.

40

Zum Rechtsverweigerungsverbot z.B. F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 137 f; im Zusammenhang mit der Gesetzesbindung dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989 S. 27, 36. 41

Im Sinn von L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4, 1984, § 26; ders., Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Band 1, Philosophische Untersuchungen, 1984, § 560; ders., Das Blaue Buch, Werkausgabe, Band 5, 1984, Das Blaue Buch, S. 15 f. 42

Zu Erklärungen derart, daß man sagt, was man unter einem Wort versteht und mit ihm meint als „ E r k l ä r u n g e n der Grammatik, Erklärungen, die die Sprache schaffen" L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4,1984, § 95. 43

Zum „Prinzip der Polarität" Clausewitz, Vom Kriege, 1991, S. 28 f.

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Ebensowenig wie sich der Richter des Gesetzestextes annimmt, um aus ihm bloß abzulesen, was es mit diesem hier auf sich hat, ebensowenig nimmt er sich der Sache der Parteien an, um lediglich auf das Recht in ihrem Fall zu erkennen. Und ebenso wie er den Normtext in Arbeit nimmt und das Gesetz in seiner konkret normativen Wirkung erst 'macht', ebenso nimmt er den Konflikt in Arbeit und 'macht' so eigentlich den Parteien den 'Prozeß'. Schritt für Schritt, vom konfliktuellen Sachverhalt an bis zur Verfertigung und Ausfertigung von Recht am und als Text44, unterwirft der Richter die Parteien seiner Amtsgewalt. 'Neutral' ist er dabei allein darin, daß er ihnen in gleicher Weise die Waffe einer sich jeweils ausschließenden Semantik des Normtextes entwindet, mit der zur Hand sie vor seinen Augen aufeinander losgehen; und 'neutral' allenfalls noch darin, daß er seinerseits diese Waffe der Semantik unterschiedslos gegen die nach wie vor ursprüngliche, wenn auch nun sprachlich eingekleidete Gewalt des Konflikts richtet.Im übrigen ist er alles andere als neutral. Auch er ist Kombattant im Kampf um das Recht mit den Mitteln der Sprache. Er steht nicht über der mit dem Konflikt verhandelten Sache. Er macht sie sich von Amts wegen zu eigen. 'Führend' ist der Richter in der Verhandlung des Konflikts allerdings, indem er sich mit der Macht seiner Worte zu der ausschlaggebenden Kraft einer Erzeugung von Recht profiliert; und 'führend' vor allem auch dadurch, daß so zunehmend nur noch er zur Sache spricht, während allen anderen tendenziell zunehmend Schweigen geboten wird. So 'gibt' denn der Richter auch in einem zweiten Sinn 'das Gesetz'. Er gibt es den Parteien. Er gibt ihnen das Gesetz der Handhabung des Konfliktstoffs und deijenigen ihres Streits darum. Er gibt es ihnen dadurch, daß er sie seinem 'Willen zum Gesetz' unterwirft. 45 Das 'symbolische Dispositiv des Rechts'46 wird zum Gewaltverhältnis juristischer Textarbeit. In ihm hat das Recht seine Praxis. Juristische Textarbeit 44

Rechtstheoretisch zur Dynamik der Rechtserzeugung in interagierend wechselseitiger Bearbeitung von Normtext und Sachverhalt im Umgang mit dai von ihnen her zur Verfügung gestellten Sprach- und Realdaten Christensen, Artikel Strukturierende Rechtslehre, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2 / 560,1987. 45

Praxeologisch zum Begriff des „sich das Gesetz geben" im Sinn der wechselseitigen „ E n t w a f f n u n g " und des gegenseitigen „Niederwerfens" Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 20. 46 Es wäre für die Frage der Rechtsstaatlichkeit richterlichen Handelns sicherlich lohnend, auch einmal den Konkordanzen und Dissonanzen zum ,,symbolische[n] Dispositiv der Demokratie" nachzugehen, wie es Rödel / Frankenberg / Dubil, Die demokratische Frage, 1983, S. 83 ff in Hinblick auf die Frage der Macht anregen.

Π. Textarbeit

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bringt das Gesetz als Normtext zu seiner Bedeutung als Rechtsnorm und macht es damit als das Recht geltend, den zur Lösung anstehenden Konflikt zu regeln. In diesem Sinn verschafft der Richter dem Gesetz das Gehör, das es für sich verlangt. Und juristische Textarbeit bringt das Gesetz zur Bedeutung einer Entscheidungsnorm und macht es damit für ein Urteil in dem anstehenden Konflikt gültig. Im Urteil verschafft der Richter dem Gesetz den Gehorsam, nach dem es für sich verlangt. Er kommt so der Anforderung an die juristische Textarbeit nach, Recht zu sprechen. In seiner Arbeit am Text wandelt er den rohen Stoff des amtlich gesetzten Wortlauts in das Produkt seines Textes einer den Fall entscheidenden Rechtsnorm; ein Produkt im übrigen, das er sogleich wieder in Arbeit nimmt. Zur Seite des Konflikts hin nimmt der Richter seinen Text als Stoff für die Schlußfolgerung hin zur Entscheidungsnorm. Zur Seite des 'Rechts als Text'47 hin liefert ihm sein Erzeugnis einer Rechtsnorm sogleich wieder das Material für das Abfassen der Urteilsbegründung; er verbraucht es sozusagen für die Erzeugung von Legitimität. Für das Umwandeln von Sprache als Stoff in Gestalt des Normtextes zu Sprache als Produkt in Gestalt seines Textes der Rechtsnorm hatte er bereits Sprache in ihrer lebendigen Energie der Semantisierung48 aufgezehrt. Der Richter schließt alle Einreden und Widerworte zum Konflikt in seinen Ausdruck von rechtlicher Bedeutung ein, auch in der Negation. Damit absorbiert er all diese Worte der Erklärung und des Widerspruchs in ihrer Bedeutsamkeit für den Fall. Er stellt sie dadurch in ihrer Fähigkeit still, in den gärenden, noch 'lebendigen' Lauf der Rechtserzeugung im Gang der Verhandlung des Konflikts einzugreifen 49 und ihm eine Wendung im Sinn ihrer Rede zu geben. Der Richter hinterläßt so von vielen Äußerungen zum Fall nur die tote Materie 'leerer' Worte. Die mögen dann dadurch wieder zum Leben erweckt werden, daß sie den Stoff für Revisionsgründe abgeben und damit für eine neuerliche Rechtserzeugung gebraucht werden. Der Richter „arbeitet" so überhaupt am Text, über den schlichten Sinn von Arbeit als einer

47

Zur linguistischen Ausarbeitung dieser Projekts D. Busse, Recht als Text, 1992.

48

Das ist ohne vitalistische Mystifizierung handfest im Sinn des Humboldtschen Begriffs der Sprache als energaia zu nehmen. Dazu W v. Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Schriften zur Sprache, 1973, S. 36. 49

Allgemein so zu Bedeutung und Gebrauch L. Wittgenstein. Grammatik, Werkausgabe, Band 4,1984, § 29.

Philosophische

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sich in der Zeit erstreckenden Anstrengung hinaus.50 Zum zweiten erledigt er die Aufgabe juristischer Textarbeit, mit der Rechtsprechimg das Gesetz zu „vollziehen". Zugleich verwirklicht der Richter als Arbeiter am Text die Gewaltförmigkeit solcher Arbeit. Mit der Erarbeitung des Normprogramms überschreitet er den Normtext in Richtung auf den ihm zur Lösung aufgetragenen Konflikt, richtet er sich den Normtext für den Konflikt her. Nach dem Maß, das er dem Streit damit setzt,richteter sich umgekehrt den Konflikt als Fall zurecht. Mit der Erarbeitung des Normbereichs macht er sich den Rechtsfall maßstabsgerecht zuhanden. Der Rechtsarbeiter nimmt die beiden Eingangsgrößen der Konkretisierung, das Textformular des Gesetzeswortlauts und die antagonistische Sache, in Arbeit und entwickelt sie zu fallbestimmender Normativität.51 Um geltendes Recht zu „vollziehen", schafft es sich der Rechtsarbeiter aus dem Text und setzt es für den Fall in Wirkung. Damit setzt er sich zugleich mit seiner Arbeit am Recht gegen die der Parteien durch. Im Zug der Konkretisierung der Norm52 konkretisiert sich nicht minder handgreiflich der Rechtsarbeiter zum leibhaftigen Richter über die Parteien. Im Ganzen schließt der Richter sie aus der Lösung des (mm eigentlich schon nicht mehr ihres) Konflikts aus. Er baut sich seinen Rechtsfall auf. Im Vorgang dieser Einrichtung von Text und Konflikt auf sein Urteil hin arbeitet der Richter die Parteien als Protagonisten eines je eigenmächtigen Gesetzes klein, bis von ihnen nichts mehr als der Gegen-Stand bleibt, gegen den er mm seinen Urteilsspruch richtet. Der Richter erfüllt somit zum dritten Absicht und Zweck der juristischen Textarbeit darin, mit dem „Vollzug" des Gesetzes durch die Rechtsprechung die ganze Gewalt des Rechts zu exekutieren. 50

Für einen entsprechenden Arbeitsbegriff hierzu H. Arendt, Vita activa, 1987, S. 76 ff. In deren Sinn erweist es sich im übrigen als treffend, von einer „ E r z e u g u n g " und nicht etwa von einem „Herstellen" von Recht zu sprechen. Zum zweiten vgl. ebenda, S. 124 ff. Der Richter hinterläßt, wie schon an seinem eigenen Handeln erkennbar, mit dem von ihm gesetzten Recht kein bleibendes Monument, er schöpft nichts. Er hinterläßt ein flüchtiges Produkt, das sogleich wieder dem Aufgehen in der sich unablässig umwälzenden Textmasse namens Recht preisgegeben ist: sei es als Stoff für die Erzeugung wiederum von Recht; sei es als Vorwurf zum Hervorbringen von Rechtssprache in der wissenschaftlichen Literatur oder sei es als Material zur Produktion von unmittelbarer Gewalt in der Anweisung auf die Vollstreckung. 51

Näher zu dessen Strukturierung F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 199; veranschaulicht in dem graphischen Modell ebenda, S. 172. 52

Zum Verweis auf die Praxis durch den Begriff der Konkretisierung F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 168 f.

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Π. Textarbeit

Das Gewaltverhältnis juristischer Textarbeit schließt sich im Urteilsspruch zusammen, den der Richter gegen alle fällt, mit dem er das Faktum Recht als in seinem Spruch vollendete Tatsache schafft. So bleibt darüber hinaus allenfalls die neuerliche Anstrengung des Verfahrens juristischer Entscheidungstätigkeit oder aber der Rückfall in den Stand der ursprünglichen Brachialität des Konflikts. Über dieser hinge dann aber auch schon das Damoklesschwert der Gewalt des Rechts. Juristische Textarbeit institutionalisiert damit als Gewaltverhältnis immer wieder neu die imaginäre Bedeutung des Rechts der Moderne, aktuell realisierte Gewalt in institutionell konstitutionelle umzuwenden und zu bannen54, indem diese Arbeit am Text auch noch dem kleinlichsten Krieg der Bürger den semantischen Kampf ansagt und diesen Kampf mit der Auferlegung der ganzen Bedeutung des Gesetzes durchsteht

3.3 Mit seinem Urteil schneidet der Richter das Wort zum Konflikt Der Hammer fällt ein letztes Mal. Der Richter muß erneut der Ungleichzeitigkeit des Rechts durch die Physis des übertönenden Schlages Herr werden. Der Spruch fällt und verschließt sich jedem Widerwort, wo nun doch alles wieder zu sagen wäre. Das Urteil schafft Recht als Faktum. Recht zieht sich in den Punkt zusammen, den der Richter unter das Verfahren setzt. Recht wird bloßer Referent und darf genau das nicht sein; denn was verkündet wird, ist die Macht des endgültigen Wortes zum Fall als Signum einer unumstößlichen Wahrheit des Rechts. Über ein solches Wort hinaus darf dann nur noch vollstreckt werden. Die Prozeßparteien stehen auf, nicht um den über sie verhängten Spruch zu hören. Hier ist wirklich einmal der ansonsten merkwürdig reduktive Technizismus der Rede vom „Empfänger" in Sprachwissenschaft und Semiotik angebracht; in bezug auf den Richter die vom „Sender" übrigens auch. Die Parteien stehen auf, das Urteil zu empfangen. Wieder spielt das Arrangement Hand in Hand mit dem Diskurs. Der Richter hat das Gesetz ganz in seine Hand genommen; er nimmt den ganzen Raum

53

Allgemein zum Zusammenhang von imaginärer Bedeutung und der permanent praktischen Selbstschöpfung von Institutionen Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, 1984. 54

Vgl. F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975, S. 20 f.

ab

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des Gerichts ein. Es ist entschieden. Und wenn, im Strafprozeß, der Angeklagte noch ein letztes Wort gehabt hatte, dann eher zu sich als Mensch. Eine Geste vielleicht, die daran erinnern soll, daß Recht nicht alles am Leben ist. Vielleicht auch der Trost, daß der Delinquent wieder unter die Bürger eingereiht ist, selbst wenn es ihn um des Rechts willen seinen Status als persona iuris, als Subjekt des Rechts kostet. Wo der Richter am Anfang der 'Fremde', der eigentlich ungelittene 'Dritte' war, ist er nun allein beherrschende Gestalt. Und wie zu Beginn des Verfahrens die Robe als Erscheinung der reinen Amtsgewalt noch die Leere eines erst in der Erwartung seiner Produktion stehenden Rechts überspielen sollte, so hüllt die Robe jetzt mit dem Körper des Richters die Erinnerung daran ein, daß das letzte Wort des Rechts über das Urteil keineswegs schon gesprochen ist, da es nun auf nichts mehr beruht als darauf, aus-gesprochen zu sein. Wenn also der Richter den Saal verläßt, weil er die Pflicht seines Amtes erfüllt hat, indem er das seine tat, und wenn ihm nichts mehr zu tun bleibt, dann geht er ebenso zu früh, wie er am Anfang zu spät gekommen war. Hier wie dort ist es allein die Physik des Rechts in Gestalt des Richters, die zu überspielen vermag, daß dort, wo das Recht Ereignis wird, die Leere weiterer Erwartung von Recht klafft. Praxis und Semantik des Urteilsspruchs bringen das wieder auf den nüchternen Nenner des sprachlichen Gewaltverhältnisses juristischer Textarbeit. Dazu sind, wie für den Beginn des Verfahrens der Rechtserzeugung nun auch für seinen Abschluß, noch einmal seine 'Realien' in den Blick zu nehmen. Das führt diesmal aus den Turbulenzen des Gerichtssaals hinter die Kulissen in die Stille des Beratungszimmers als dem signifikanten Ort 55 der Wandlung erzeugten Rechts in den Akt des Urteils, der Wandlung der allgemeinen Regel in ihre individuelle Umsetzung. Um den Preis dieses Ausschlusses der Streitparteien aus der Sprache des Rechts kann sich die Regel auferlegen. Von aller Bedeutungserklärung und Auseinandersetzung darum bleibt nurmehr das Verdikt darüber, was als Bedeutung des Normtextes zu gelten hat und zählt. Es bleibt allein die Bedeutung des Normtextes, die sich in der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm durchsetzt. Es bleibt in diesem Sinn vom Verfahren nur die bloße Regel. Keine Regel aber kann per se zugleich auch ihre Anwendung regeln; eine Regel der Anwendung der Regel geben zu wollen, ist nur um den Preis des 55

Ausführlich zur Semiotik des Beratungszimmers Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 175 f.

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Π. Textarbeit

unendlichen Regresses möglich.56 Man mag also noch so viele Vorkehrungen dafür treffen, daß eine Regel in ihrer Anwendung zum Tragen kommt; keine von der Praxis unabhängige Tatsache vermag zu garantieren, daß sie wirklich eine Anwendung dieser Regel ist. Jede Anwendung der Regel bleibt letztlich ein 'Sprung ins Dunkle', allein 'gerechtfertigt' durch einen solchen Akt.57 Für das Umsetzen der vom Richter als Recht im Fall erarbeiteten Rechtsnorm in den Urteilsspruch als Entscheidungsnorm bedeutet das: um die Regel in ihre Anwendung zu verwandeln, sprich: die Festlegung über die Bedeutung als Recht in eine rechtliche Entscheidung des Konflikts, kann sie der Richter nur verkünden und verfügen. Er kann das Urteil nur de facto fällen, seinen Spruch tun und über die Parteien verhängea Die ursprüngliche Gewalt hält in diesem, als solchem sprach-losen, Akt ihre Wiederkehr. So vollzieht denn auch der Richter diesen Akt der Umwandlung einer Regel als Form von Recht in die krude Materie des Urteilsspruchs nicht von ungefähr in der Verborgenheit des Beratungszimmers. Der Richter erscheint wieder im Ornat seiner Amtsgewalt und verkündet die Wahrheit des Rechts im Urteilsspruch. Wie aber ist es um diese Wahrheit bestellt? Kann sich die Entscheidung des Konfliktes überhaupt schon in diesem Moment mit einer solchen Wahrheit des Rechts schmücken? Oder eilt nicht der Richter mit seinem Anspruch darauf einer Legitimierung voraus? Bleibt nicht doch, zumindest vorerst und in diesem Sinn, Gewalt das letzte Wort zum Recht? Kommt der Richter in den Saal zurück, zum zweiten Hammerschlag, dann ist es erst einmal um die wechselseitig auszutauschende Sprache geschehen. Das letzte einzige Wort hat er. Jeder weitere Satz, und damit eine ganze Sprache von Recht, ist dadurch abgeschnitten. Mit diesem Schnitt ist im Konflikt Recht geworden und den Kontrahenten Recht geschehen. Die 'Wahrheit des Rechts' ist die Festlegung von Bedeutung, die aus dem Sieg im semantischen Kampf um die Sprache gewonnen wird. Ob dies zurecht Recht ist, steht allerdings dahin. Ist Gewalt also doch das letzte Wort in Sachen Recht? Und bleibt also auch die Verpflichtung auf den herrschenden Recht^e/tong^positivismus nur Lippenbekenntnis? Jedenfalls steht das als Frage an. Der Richter hat mit dem 56

Vgl. L. Wittgenstein, 1984, S. 154 ff. 57

Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe, Band 3,

Siehe dazu die ausführliche Argumentation bei Kripke , Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, 1987.

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Verstummen der Sprache der anderen eine Spur der von ihm geübten Gewalt hinterlassen. Er hat aber auch dieser Gewalt, getreu dem ihm obliegenden Bekenntnis zum Rechtsgeltungspositivismus, eine bleibende Gestalt gegeben, als Text. So besteht wenigstens die Aussicht darauf, die einmal geübte Gewalt beim Wort nehmen zu können, sie zur Rede zu stellen, sie ihrerseits wiederum in Aibeit zu nehmen. Und dafür weist schon der Richter selbst den Weg. Er läßt seinen Urteilsspruch nicht 'im Raum stehen9. Sondern er nimmt ihn sogleich wieder für dessen Begründung in Arbeit, macht sich zum 'rechtlichen Gewissen9 seines Spruchs. Dennoch: er, der Richter, macht sich zu diesem rechtlichen Gewissen. Erweist er sich damit nicht doch als der uneingeschränkte Herrscher des ganzen Verfahrens, ohne welches Recht nicht sein kann?

7 Müller u. a.

I I I . Die Textstruktur des Rechtsstaats: Von der Verleugnung zur Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt Wir waren vom Recht ausgegangen. Das „objektiv vorgegebene" Recht, begründet mit der noch herrschenden normativen Sprachtheorie der Juristen, erwies sich als nicht haltbar. Statt dessen haben wir die Vielfalt des Sprechens, die Sprachpraxis, entdeckt, die mit ihren Semantisierungen auch vor den Zeichenketten des Rechts nicht halt macht. Die Vielfalt des Sprechens wurde aber durch dierichterliche Gewalt zu einer einzigen Entscheidung reduziert. Damit sind wir vom Recht über die Sprache zur Gewalt gelangt. Gibt es von diesem Punkt der Gewalt noch einen Weg zurück zum Recht?

X. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache begründet die Hoffnung auf das Recht Die vom Richter ausgeübte Gewalt legt die Frage nach deren Legitimität nahe.1 Gibt es eine Möglichkeit, diese Gewalt in Recht zu transformieren? Herkömmlich wird vorgeschlagen, das aktive, willenshafte und nicht auf das Gesetz reduzierbare Momentrichterlicher Entscheidung in eine hinter dem Gesetz liegende Ordnung zweiter Stufe einzubinden. Als Kandidaten für eine solche Umdeutungrichterlicher Gewalt in Recht kommen entweder die Idee der Gerechtigkeit oder die Wahrheit bzw. Richtigkeit der Rechtsbehauptung in Betracht. Beide Modelle arbeiten mit einem Metacode hinter dem Gesetz, der das Gewaltmoment auffangen und aufheben soll. Die Aporien dieser Modelle führen dann zu der Frage, ob das Recht überhaupt noch von der Gewalt unterschieden werden kann.

1

Grundsätzlich zu den hier angesprochenen Fragen vgl. schon F. Müller, Recht Sprache- Gewalt, 1975. 7*

100

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

LI Die Gerechtigkeit kann die Gewalt nicht in einen Metacode einbinden Recht heißt, daß der Zwang, den der Richter ausübt, legitimiert werden kann. Nur der durch die Bindung des Richters an das Gesetz begründete Zwang ist gerechtfertigt. Wie kann aber der Richter an ein Gesetz gebunden sein, dessen Bedeutung er selbst erst bestimmt? Der Bundesgerichtshof hat in einer methodischen Leitentscheidung zu dem Problemrichterlicher Bindung Stellung genommen: „Dieser Grundsatz hat nicht nur die Bedeutung einer Bindung des Richters an das Gesetz als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm. Dierichtige,d.h. dem Recht gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert." 2 Auffällig an diesem Text ist zunächst die Häufung gängiger juristischer Metaphern wie Fortbildung, Anwendung usw., sodann aber auch die große Anzahl von scheinbar synonymen Ausdrükken wie Gesetz, Norm, gesetztes Recht, positives Recht, Recht. Wenn man die Logik der verwendeten Metaphern betrachtet, zeigt sich eine Gegenläufigkeit, ein Konflikt, worin sich die Bilder gegenseitig dementieren. Fortbildung ruft den Gegensatz zur passiven Abbildung hervor und betont einen aktiven schöpferischen Anteil, der dem handelnden Subjekt im Gegensatz zum verdoppelnden Spiegel zugesprochen werden muß. Nach der Fortbildung steht die Anwendung. Diese betont im Gegensatz zum Erfinden die vorgegebene Technik, das fertige Rezept. Nach der Weiterentwicklung steht die Auslegung, welche abgelöst wird von der Fortbildung und schließlich der Findung. Steht hinter dieser Häufung von Widersprüchen Ratlosigkeit, rhetorische Strategie oder gar die höhere Ordnung einer Dialektik? Aber ein unentschiedenes Sowohl-als-auch ist noch keine Dialektik. Die Bewegung der Gegensätze müßte schon erklären können, wie Bindung und Veränderung sich gegenseitig bedingen.3 Diese Leistung soll offensichtlich die Substitution erbringen, welche, ausgehend vom Gesetz über die Norm und das Recht, schließlich zur Gerechtigkeit führt. Anfangsglied dieser Verkettung ist das Gesetz, von dem uns gesagt wird, es sei nicht eine nicht mehr fortbil2

BGHZ 3, 308 ff, 315.

3

Vgl. zum Begriff der Dialektik Steinvorth, Eine analytische Interpretation der Marxschen Dialektik, 1977, insbes. S. 6 ff und öfter.

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache

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dungsfähige Norm; oder, positiv formuliert: das Gesetz sei eine Norm, die fortbildungsfähig ist. Betrachtet man diese erste Substitution des Gesetzes durch die Norm genauer, so wird klar, daß sie viel voraussetzungsvoller ist, als es zunächst den Anschein hat. Das Gesetz, an das die Richter gebunden sind, ist ein vom Gesetzgeber verabschiedeter Normtext.4 Diesen Text kann man wie hier schon gezeigt wurde, gerade nicht mit der Norm gleichsetzen. Aus dieser grundlegenden Vorentscheidung erwachsen dem Gericht die Schwierigkeiten, welche die weiteren Substitutionen und die Verkettung der widersprüchlichen Metaphern in Gang setzen. Die Richter wollen die Norm dem Text entnehmen. Man überfordert aber den Normtext mit der Aufgabe, für jede anstehende Entscheidung dank Interpretation ein subsumtionsfähiger Leitsatz zu sein.5 Das Gericht muß deswegen im Rahmen der die Rechtsnorm mit dem Normtext gleichsetzenden Konstruktion eine Hintertür einbauen, um sie so im Ernstfall der Entscheidimg verlassen zu können. An dieser Stelle taucht das Stichwort Fortbildung auf.6 Wenn das Gesetz für die Entscheidung als subsumtionsfähiger Leitsatz nicht ausreicht, muß es erweitert oder fortgebildet werden. Besteht aber, wenn der Richter das Gesetz fortbildet, nicht die Gefahr der subjektiven Willkür; ist hier nicht eine Methode erforderlich, die solche Fortbildung reguliert? Diese Konsequenz entfaltet sich im Folgesatz. Das Gericht fragt hier nach derrichtigenAuslegung des positiven Rechts. Vom Ausgangspunkt einer Gleichsetzung von Norm und Normtext her läßt sich diese Frage beantworten: dierichtigeAnwendung führt vom Wortlaut des Textes zu seinem Sinn, vom Text zur Norm. DierichtigeAnwendung des positiven Rechts ist dann die dem Recht gemäße. Das klingt tautologisch und ist es auch. Denn man gibt vor, nur auszulegen, was vorher im Text schon enthalten gewesen sei.7

4

Vgl. zur Gesetzgebung als Normtextsetzung F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 88 ff. 5

Vgl. zur Kritik an der Vorstellung, welche die Rechtsnorm als logische Falle ansieht F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 47. 6 Das Wort „Rechtsfortbildung" wird von den Gerichten unklar verwendet. Vgl. dazu Berkemann, Das Bundestagsverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten auf der Suche nach Funktion und Methodik, in: DVB1 1996, S. 1028 ff, S. 32. 7

Zur prinzipiellen Formulierung dieses Auslegungsverständnisses Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 298 ff.

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

102

Ist es aber wirklich so einfach, vom Text zur Norm, vom positiven Gesetz zum Recht zu gelangen? Kann man denn darauf vertrauen, daß sich der Wortlaut gegen den einen, den einzigen Sinn eintauschen läßt? Auch das Gericht scheint hier Zweifel zu haben.8 Denn im nächsten Halbsatz sagt es, daß das Recht, welches eben noch als Maßstab für die richtige Anwendung diente, durch die Auslegung weiterentwickelt und damit verändert werde. Tatsächlich wiederholt ja die Auslegung nicht einfach das, was schon im Normtext steht, sondern sie formuliert neue Sätze.9 Der Sinn des Textes ist eben nichts von der Auslegung Unabhängiges und kann nicht als selbständiger Objektivitätsmaßstab deren Richtigkeit garantieren. Der Begriff des Rechts, der in der Argumentation des Gerichts die Entfaltung des Normtextes zur Rechtsnorm als zu dessen objektivem Sinn markiert, steht damit in der Gefahr, seine Stabilität zu verlieren. Wenn das Recht als objektiver Sinn des Gesetzes im Vorgang der Auslegung weiterentwickelt und verändert wird, dann kann es nicht gleichzeitig als unabhängiger Maßstab die Richtigkeit der Rechtsanwendung überwachen. Die Konstruktion eines das Sprechen des Richters determinierenden Codes geriete damit ins Rutschen. Das Gericht rettet sich vor dieser Gefahr durch eine semantische Verschiebung, worin das Wort Recht in Bezug zur Gerechtigkeit gesetzt wird. Recht ist demnach nicht nur als objektiver Sinn das, was als Rechtsnorm schon im Text steckt; sondern vermittels der Gerechtigkeit kann „Recht" auch bei Veränderungen des Normtextes durch den Richter oder Veränderungen des Sinns durch die Auslegung diese argumentative Bewegung in eine vorgegebene Ordnung einfügen. Hinter den vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtexten und ihrer Auslegung taucht damit, systematisch gesehen, ein zweiter umfassender Rechtscode auf: die Gerechtigkeit. Sie macht es erforderlich, daß der unzulängliche Code des Wortlauts im Einzelfell verändert wird und stellt zugleich auch sicher, daß die Weiterentwicklung nicht willkürlich ist, sondern in der Figur des „Findens" einen unterstellten objektiven Halt gewinnt.10

8

Vgl. zur Sperre zwischen Signifikanten und Signifikat Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften Π, 3. Aufl., 1991, S. 15 ff, insbes. S. 22 ff, 41 ff. 9

Dazu auch Honseil, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 6.

10

Vgl. zur Bedeutung des Objektivitätsanspruchs in der juristischen Argumentation Gast, Vom juristischen Stil, in: Betriebsberater, 1987, S. 1 ff. Zum idealisierenden Denken in Ordnungen kritisch auch Gröschner, Die richterliche Rechtsfortbildung: „Kunst" oder „Methode"? in: JZ, 1983, S. 944, insbes. 945 f.

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache

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Das argumentative Manöver des Gerichts ist damit an seinem Ziel angekommen. Das Gesetz als Gegenstand richterlicher Bindung entfaltet sich vom positiven Gesetz über die Auslegung zum Recht als dem objektiven Sinn und schließlich zur Gerechtigkeit. Was auf der Stufe des Gesetzes, dem Code erster Ordnung, zunächst wie Fortbildung oder Weiterentwicklung aussieht, ist auf der Stufe der Gerechtigkeit, dem Code zweiter Ordnung, das Finden einer vorgegebenen Entscheidung. Das Verketten widersprüchlicher Metaphern scheint damit doch noch eine sinnvolle Ordnung zu gewinnen. Allerdings hängt diese Ordnung an einem einzigen Faden: dem der Gerechtigkeit. Wenn dieser Faden reißt, bricht der Konflikt gegenläufiger Metaphern offen aus. Doch solange er hält, bildet das zur Gerechtigkeit hin erweiterte Recht eine objektive Grundlage für das Sprechen des Richters. Bezeichnenderweise bleibt dieser letzte Grundbegriff in den gerichtlichen Ausführungen unbestimmt. Die Gerechtigkeit erscheint lediglich als Anforderung („erfordert") und nicht als Inhalt. Trotz dieser Unbestimmtheit soll sie aber die Aufgabe erfüllen, das Sprechen der Juristen umfassend zu rechtfertigen. Die Gesamtkonstruktion gerät dadurch ins Flottieren. Im verschwommenen, nichtssagenden Begriff der Gerechtigkeit verliert die bürokratische Maschine des vorgeordneten richterlichen Sprechens genau im Zentrum ihren Bezugspunkt und die Bestimmtheit einer Strategie. Dieses Vakuum im Mittelpunkt des Rechts löst ungewollt die Beschreibung ein, mit der sich Philipp Heck gegen die Objektivität des rechtlichen Sinns wendete: Das Gesetz wird damit zum Freiballon, „der aufgelassen, jedem Bestimmungswunsch entrückt, dem Winde folgt." 11 Hinter der rhetorischen Fassade einer sinnvollen Ordnung schwankt das Gericht also zwischen den aktiven, dasrichterliche Handeln betonenden und den passiven, die Existenz eines universellen Codes voraussetzenden Bildern. Im praktischen Ergebnis führt das theoretische Schwanken aber dazu, daß das Gericht den anstehenden Fall einfach selbst entscheidet; wobei nicht nur, was zu erwarten war, der universelle Code keine Rolle spielt, sondern auch die positiven verfassungsrechtlichen Bindungen praktischer Rechtsarbeit unter den Tisch fallen. Tatsächlich ist die Gerechtigkeit kein Code, aus dem Entscheidungen abgeleitet werden könnten. Sie ist im Gegenteil ein Stachel, der in jeder Möglichkeit der Streitentscheidung das Unrecht sichtbar macht, das entweder den

11

Vgl. Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, 1914, S. 62, Anm. 87.

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Ι . Die Textstruktur des Rechtsstaats

Einzelfall oder die Regel verletzt.12 Die Gerechtigkeit lehrt uns also, das Unrecht zu erkennen. Nur diese Erkenntnis verhindert die Abstumpfung gegenüber der alltäglichen Routine von Gewalt. Doch um das unvermeidbare Unrecht vom vermeidbaren zu unterscheiden, braucht es mehr, als ein einziges Wort zu leisten vermag.13 Die Gerechtigkeit als Metacode ist aber nicht einfach eine Unwahrheit, sondern eine Lebenslüge. Das heißt, sie erfüllt für das Rechtssystem vitale Aufgaben. Die Selbsttäuschung entlastet den oft höchst invasiv handelnden Juristen von der Verantwortung. Der Richter kann den Geruch von Gewalt vermeiden, indem er vorgibt, nur im Code zu suchen. Sein Tun, auch sein sprachliches, wird als Handeln nicht sichtbar. Es ist der Code, der die Entscheidung vorgibt und sie legitimiert. Die Gewalt erweist sich damit als der blinde Fleck, von dem aus die Juristen wahrnehmen, ohne ihn selbst wahrzunehmen.14

1.2 Die Wahrheit der Rechtsbehauptung hebt die Gewalt nicht auf Auch in Theorien, welche die Realitätrichterlicher Rechtserzeugung anerkennen, wird versucht, dieses aktive Moment aufzufangen und in bloße Erkenntnis zu transformieren. Herkömmlich wird dazu die philosophische Theorie des Verstehens herangezogen. Danach ist die Struktur des Gesetzesverstehens „ein Modus des Verstehens als einer allgemeinen Form des menschlichen Daseins und des geschichtlichen Wirkungszusammenhangs".15 Aber wie ist es mit dem Verstehen der Juristen? Kann man es der Gewalt wirklich entgegensetzen? 12

Zu dieser Problematik vgl. Rentsch, Unmöglichkeit und Selbsttranszendenz der Gerechtigkeit, in: Demmerling / ders. (Hg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit, 1995, S. 191 ff. 13

Eine ausführliche Diskussion der neueren Positionen zur Gerechtigkeitsproblematik muß hier unterbleiben; vgl. dazu nur Demmerling / Rentsch (Hg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit, 1995 sowie Fischer (Hg.), Freiheit oder Gerechtigkeit, 1995; Welsch, Vernunft, 1995, S. 698 ff. 14

Zur Kritik an den Reflexionsschranken der Jurisprudenz vgl. Schlag, The Problem of the Subject, in: Texas Law Review 69, 1991, S. 1627 ff. 15

Hassemer, Juristische Hermeneutik, in: ARSP 1986, S. 206 ff, 208.

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache

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Schon der Umstand, daß, zum Beispiel vor Gericht, überhaupt noch interpretiert werden muß, ist der Sprache äußerlich und ihr aufgezwungen. Denn verstanden haben die Parteien durchaus, sowohl den Gegner als auch das Gesetz. Es liegen keine Probleme sprachlicher Verständigung vor, sondern es geht um Entscheidungsprobleme. Die Frage ist nicht: wie ist das Gesetz zu verstehen? Denn jeder hat schon verstanden. Vielmehr ist die Frage, welches Verständnis vorzuziehen sei. Eine Rangfolge fur das Verstehen ist in der Sprache aber nicht vorgesehen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn Verständigung hergestellt ist. Um eine solche Rangfolge angeben zu können, müssen überhaupt erst Mechanismen geschaffen werden, die in dem von Foucault beschriebenen Sinn eine Ordnung des Diskurses garantieren; Strukturen also, die Verstehen nicht vermehren, sondern verknappen. Von den verschiedenen möglichen Arten das fragliche Textstück zu lesen, ist dann nur eine legitim. Diese Notwendigkeit einer Selektion von verschiedenen Verstehensarten zur einzig legitimen ist Zwang bzw. symbolische Gewalt.16 Aber nicht nur der Umstand, daß, sondern auch die Art und Weise wie zwischen den verschiedenen Lesarten entschieden wird, ist von Gewalt durchzogen. Gehen wir zunächst ohne verstehenstheoretische Voraussetzung von dem aus, wie die Praxis vorgeht.17 Die Gerichte bestimmen die Bedeutung eines Gesetzestextes, indem sie andere Texte zur Bestätigung oder Abgrenzung heranziehen. Diese Kontexte werden erschlossen durch die sogenannten canones der Auslegung.18 Die grammatische Auslegung erschließt den Kontext des Fachsprachgebrauchs bzw. der Varianten der Alltagssprache. Die syste-

16

Vgl. zu diesem Begriff Bourdieu / Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1973; Saner, Personale, strukturelle und symbolische Gewalt, in ders., Hoffnung und Gewalt, 1982, S. 73 ff. 17

Vgl. zur Arbeitsweise der Praxis mit den Auslegungsinstrumenten: F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 34 ff; sowie Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, 1989, S. 23 ff. 18

Der einfache Tatbestand, daß canones kontextualisieren, wird in der methodologischen Reflexion häufig verkannt. Vgl. als Beispiel für eine mißverständliche Formulierung der canones etwa: Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen? Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Grewendorf (Hg.), Rechtskultur als Sprachkultur, 1992, S. 71 ff, 78. So wird die grammatische Auslegung umschrieben mit der Formulierung: „Realisiere bei deiner Auslegung den Wortlaut des Gesetzes." „Realisieren" kann man einen Wortlaut durch Aufsagen. Das kann aber kaum gemeint sein.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

matische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes bzw. der Rechtsordnung als Ganzes. Die historische Auslegung erbringt den Kontext früherer Normtexte und die genetische den der Gesetzesmaterialien. Diese einfachen Elemente werden in der methodologischen Reflexion manchmal zu Bedeutungssubstanzen verdinglicht und gegeneinander ausgespielt19. Tatsächlich aber verwendet die Praxis diese Instrumente, tun Material für den Vorgang des Profilierens einer Textbedeutung zu gewinnen. Sie werden zunächst nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzen sich bei dieser Aufgabe.20 Scheinbar ist das ein normaler Verstehensvorgang, wie er auch im Alltag vorkommt. Eine genauere Betrachtung macht aber in den Ritzen des Verstehens die Elemente von Gewalt sichtbar. Die grammatische Auslegung findet weder in der Fachsprache noch gar in der Alltagssprache einen einheitlichen und stabilen Sprachgebrauch vor.21 Auch durch Nachschlagen im Lexikonfindet der Richter nur Beispiele für den Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten; aber keine Sprachnormen, die ihm Auskunft darüber geben, welcher Sprachgebrauch derrichtigeoder vorzugswürdige sei. Auch hier bedarf es wieder einer Entscheidung; mit der Gefahr, daß der Richter seine eigene Sprachkompetenz zum „idealen Sprecher" aufbläht und dem abweichende Sprachgebrauch der Betroffenen die Berechtigung abspricht.22 Die systematische Auslegung eröffnet nicht einen Kontext des Gesetzes, sondern Kontext auf Kontext. Das Problem liegt in der Auswahl und Begrenzung. Aus der politischen Mahnrhetorik ist die Technik bekannt, das „Ganze" aufmarschieren zu lassen; meistens mit dem Ziel, den beherrschten „Teilen" ihre vorgeblichen Pflichten vor Augen zu führen. Diese Technik, den Platz des

19

Vgl. ebenda S. 79.

20

Vgl. etwa den methodengerechten Einsatz der canones bei Jeand'Heur, Gibt es Satzungen mit nur „deklaratorischem Gehalt"? - Zugleich ein Beitrag zur Auslegung von § 34 IVNr.l BauGB, in: NVwZ, 1995, S. 1174 ff, 1175 ff. 21

Busse nennt den häufigen Verweis auf den „natürlichen Wortsinn" bzw. „aUgemeinen Sprachgebrauch" zu Recht eine formale Explikation, weil sie den Inhalt gerade offen läßt. Vgl. D. Busse, Recht als Text, 1992, S. 167. 22

Vgl. als Beispiel dazu etwa Schroth, Präzision im Strafrecht. Zur Deutung des Bestimmtheitsgebots, in: ebenda, S. 93 ff, 117: Kompetenz - Kompetenz in der Sprache für den Juristen. Ebenso S. 119: Recht als Deutungsschema sozialer Handlungen. Dieses Problem einer juristischen Okkupation der Sprachkompetenz hat vor allem von linguistischer Seite Rainer Wimmer immer wieder hervorgehoben.

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Ganzen zu besetzen und von der Einheit der Rechtsordnung her die Systematik zu einer beherrschbaren Struktur zu reduzieren, ist für seriöse Argumentation nicht gangbar. Das Ganze ist nicht zu handhaben und kann nicht den Teilen gegenübergestellt werden, ohne daß logische Aporien entstehen. Es bleibt also das Auswahl- und Begrenzungsproblem. Zudem wird es noch kompliziert durch den Umstand, daß die Systematik eines Gesetzes und schon gar der ganzen Rechtsordnung nicht frei von Widersprüchen ist.23 Die genetische und historische Auslegung als Unterfälle der systematischen machen eine grundsätzliche Schwierigkeit besonders offensichtlich: die durch die Auslegungselemente herangeführten Kontexte bedürfen ihrerseits der Auslegung, so daß sich die geschilderten Probleme noch einmal potenzieren.24 Durchgehend trifft die juristische Auslegungstätigkeit auf Fragen, die nicht schon in der Sprache beantwortet sind: statt Nachvollzug von Vorentschiedenem überall nur Notwendigkeit zur Entscheidung. Es gibt in der Rechtserzeugung stets ein Moment von Entscheidung, das nicht in einer Theorie des Verstehen aufgehoben werden kann. Aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre ist „Verstehen" als Aktionsform nicht ausreichend, um die Arbeitsvorgänge juristischer Praxis zu beschreiben. Das „Verstehen" kann routiniert und damit auch zu einem guten Teil intuitiv, unreflektiert arbeiten, solange die Kommunikation ungestört abläuft. Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind unter anderem die Kommunikationspartner, gewohnt oder ungewohnt, vom selben Soziolekt bzw. Vorliegen von Idiolekt, in „Normalverfassung" oder in „Ausnahmesituation", nicht zuletzt die Interessen der Kommunikationsteilnehmer. Sobald der Normalablauf gestört zu werden droht, entgleisen auch die routinierten Kommunikationsvorgänge, „verstehen sich" auch aufeinander „eingespielte" Partner plötzlich nicht mehr. 23

Grundlegend zu dieser Problematik einer Entsubstantialisierung der systematischen Auslegung: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979. Zu den Problemen der Textkohärenz bei Rechtstexten vgl. aus linguistischer Sicht Z). Busse, Recht als Text, 1992, S. 41 ff. 24

Zu weiteren Auslegungselementen F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 213: Prinzipien der Verfassungsinterpretation. Als plastisches Beispiel zur Analyse der Wirklichkeitselemente des Normbereichs siehe Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, S. 39 ff. - Zu den Konkretisierungselementen insgesamt mit zahlreichen Beispielen und Nachweisen F. Müller, ebenda, S. 183 ff.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Kommt es aus dem einen oder anderen Grund zur Störung, und wird die Kommunikation nicht sofort mit Eklat, und das heißt mit Gewalt abgebrochen, so setzt notwendig Reflexion ein: nachfragen, bestreiten und in Frage stellen, erklären und erläutern, kurz: informelle und damit zwischen den Partnern verbleibende, noch nicht institutionalisierte Bearbeitung des Konflikts. Diese Art von Fragen und Erklären ist „Interpretation" im Sinn eines eigenen Handlungstyps.25 Solche „Interpretation " und nicht „Verstehen" ist in der Eingangsphase des Rechtsstreits nötig. Denn ohne die Umformung der Kommunikationsstörung im informellen Bereich wird kein „Fall" an die zuständigen Rechtsfunktionäre herangetragen, kein Antrag gestellt, keine Klage erhoben. Ohne Interpretation der Kommunikationsstörung wird aus dem informellen Vorgang kein, notwendig formeller, Rechtsfall Diese Stufe gilt aber, genau genommen, nur für den Beginn einer Rechtsprozedur: Formulieren des Antrags mit Hilfe eines Professionellen, Zeugenaussage, Erläuterung des Klagebegehrens durch die direkt Betroffenen etc. Sobald die laienhafte Fallerzählung durch Angehörige des Rechtsstabs fachsprachlich diszipliniert ist und die eigentlich juristische Bearbeitung des Ausgangskonflikts beginnt, handelt es sich um Arbeit mit Texten", 26 Diese wird von formell eingesetzten, durch Kompetenzen und Amtspflichten geprägten verantwortlichen Rechtsfunktionären ausgeführt, deren Handeln, neben dem Fall, unausweichlich auch die Institution selbst „bearbeitet", das heißt so und so funktionieren läßt und damit in Funktion hält; welche, anders gesagt, die heranzuziehenden Texte (Normtexte und andere) nicht „verstehen" und nicht nur „interpretieren", sondern vor allem möglichst funktionsgerecht benutzen und in normativ geforderten Grenzen verändern und ersetzen. Was bei der Begründung von Rechts- und Entscheidimgsnormen dagegen vernachlässigt werden kann, ist das automatisch vor sich gehende intuitivgewohnheitsmäßige Verstehen.27 Dieses erscheint vielmehr angesichts von „Interpretation" und von „Arbeit mit Texten" und wegen der sozialen Erfahrungen, die mit beiden gemacht werden, geradezu naturhaft. Sicherlich auch 25

Vgl. dazu D. Busse, Recht als Text, 1992, S. 31 ff; F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S.29 ff und öfter. 26

Vgl. D. Busse, ebenda, S. 259 ff.

27 Zu den Bedingungen eines solchen automatischen Vorgangs vgl. Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidlingstätigkeit, 1989, S. 51. - Zur Rolle von Gewaltstrukturen vgl. allgemein Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975.

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zu unrecht; denn Ablichtung, Vorverständnis und Gewaltstrukturen rauben auch dem Verstehen die Unschuld, die wir der „Natur" gerne zuschreiben. Sobald die sprachliche Bedeutung aber nicht mehr hingenommen, sondern nachgefragt wird, ist das Verstehen zuende. Zur Verständigung brauchen wir schon die Interpretation. Wenn aber, wie notwendig im Fall von Rechtsstreitigkeiten, eine Verständigung über die Bedeutung gerade nicht hergestellt werden kann, dann bedarf es über das Sprachliche hinaus institutioneller Gewalt zur Entscheidung des Konflikts. Daher bestehenrichterliche Begründungen nicht in der Wiedergabe spontaner Verstehensprozesse und weniger im Nachzeichnen von Interpretationen, als vielmehr in einer auf institutioneller Gewalt beruhenden Arbeit mit Texten. Die Aktionsformen „Verstehen", „Interpretieren" und „Arbeit mit Texten" lassen sich typologisch mit drei grundsätzlich unterscheidbaren Situationen korrelieren: störungsfreie Kommunikation mit Verstehen, Kommunikationsstörung mit Interpretation und rechtsförmige Bearbeitung des semantischen Kampfes mit juristischer Textarbeit. Eine Theorie des Verstehens kann deshalb der Rechtsarbeit keinen Rationalitätsmaßstab verschaffen. Vielmehr muß ein solcher Maßstab fur die juristische Arbeit mit Texten gefunden werden, der sich genau auf das ungelöste Problem der Vorzugswürdigkeit bestimmter Lesarten des Gesetzestextes bezieht. In der methodologischen Literatur wird teilweise versucht, diese Aufgabe mit einer Anleihe bei den philosophischen Wahrheitstheorien zu bewältigen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit kommt für eine Theorie der Rechtserzeugung dabei nicht in Betracht, weil sie keine vorgegebene Rechtsnorm voraussetzen darf, mit der die juristische Entscheidung übereinstimmen könnte. Herangezogen wird aber die sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit, wonach der Geltungsanspruch eines normativen Sprechaktes durch Herbeiführen eines Konsenses eingelöst wird. 28 Diese Übereinstimmung darf aber keine zufällige sein, sondern nur eine begründete. Das heißt, der Konsensus ist daraufhin zu überprüfen, ob er auch in einer idealen Sprechsituation Bestand hätte, die sich nach bestimmten Regeln beschreiben läßt. Der Prozeß der Rechtserzeugung wird damit aber an eine normative Argumentationstheorie 28 Eine Diskussion philosophischer Wahrheitstheorien hat im gegebenen Rahmen zu unterbleiben; vgl. dazu Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 1978 sowie Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien, 1977. Vgl. dazu auch D. Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 282 ff.

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gekettet, und an die Stelle des positiv-rechtlichen Gesetzbuches tritt das ideale Gesetzbuch der praktischen Vernunft. Die zunächst realistischerweise anerkannte Rechtserzeugung wird unvermittelt an „anthropologisch tiefsitzende" Strukturen gebunden, welche mit dem Gedanken des idealen Konsensus jeder Interpretation einen gemeinsamen Fluchtpunkt verschaffen sollen. Der Traum von einem „immer schon" vorausgesetzten universalpragmatischen Code, welcher die richterliche Regelgenerierung durch eine bestimmte Begründungsdynamik überwachen könnte, scheitert allerdings an der Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten.29 Aussichtsreicher erscheint demgegenüber der Versuch, den Rationalitätsmaßstab der Rechtserzeugung aus der Untersuchung der Praxis selbst zu gewinnen. Wahrheit soll sich als warranted asserbility aus der Praxis juristischer Argumentation ergeben.30 Sie wird dabei nicht auf eine gemeinsame Struktur von Sprache und Welt bezogen, sondern ergibt sich aus einer Einordnung in ein Netz von Auffassungen, die wir bisher schon fur richtiggehalten haben. Wahrheit, so will es nachdrücklich die analytische Philosophie,31 verdankt sich nicht Korrespondenz und Repräsentation, sondern allein der Kohärenz, mit der sie präsentiert wird. Wie aber vermag das Netz Wahrheit zu halten, wenn sprachliche Praxis Jür sich selbst sorgen" muß? Wie stabil ist also das Netz? Das Netz hat Risse! Weder Sprachbedeutung noch Sprachform sind in ihm festgeschürzte Knoten. In jedem Moment ihrer Thematisierung sind sie potentiell auch schon aufgelöst; droht also, folgen wir Quine, gleich auch das Netz im Ganzen zu zerreißen. Nirgends wird das deutlicher als im Recht. Die Praxis selbst führt dies vor: Das Tun der Juristen besteht darin, daß sie Rechtsbehauptungen aufstellen und diese auf eine Norm zurückführen. Die Berechtigung dieses Rückführens schöpfen sie aus den Argumentformen. Dabei fügen die Backings die einzelnen Rechtsbehauptungen in das Netz der 29

Vgl. zur ausführlichen Diskussion, die hier nicht wiedergegeben werden kann, Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft - eine skeptische Widerrede zur Vorstellung des sprechenden Textes, in: Mellinghoff/ Trute (Hg), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 95 ff; siehe dazu auch Somek, Unbestimmtheit: Habermas und die Critical Legal Studies, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41,1993, S. 62 ff; D. Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 172 ff. 30

Vgl. dazu im folgenden: Patterson , Conscience and the Constitution, in: Columbia Law Review 93, 1993, S. 270 ff. 31

Dazu Quine, Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt, 1979, S. 27 ff.

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Rechtsordnung ein und machen sie so, im Hinblick auf die Kohärenz, der Wahrheitsfrage zugänglich. Die Argumentformen verknoten die einzelnen Rechtsbehauptungen mit dem Netz des Systems. Sie erschließen Kontexte, seien diese historisch, genetisch oder systematisch, die es erlauben, die Bedeutung des jeweiligen Normtextes herauszustellen. Dieses Vorgehen vermag Wahrheit der einzelnen Rechtsbehauptungen aber auch nur solange und insoweit zu gewährleisten, als die Backings nicht ihrerseits der Bewährung ausgesetzt, sprich: in Frage gestellt und strittig werden. Mit dieser Möglichkeit ist aber in der Rechtspraxis beständig zu rechnen. Ist damit auch schon die Stabilität des Netzes in Frage gestellt? Sicherlich solange nicht, als der Streit nur um dasrichtigeAnwenden der Argumentformen geht. Was aber, wenn die Berechtigung der Argumentform selbst in Frage gestellt wird? Die Argumentformen erschließen Kontexte. Warum aber ausgerechnet diese Kontexte, etwa Parlamentsdebatten, und nicht Tageszeitungen oder historische Romane? Und was geschieht bei einem Konflikt zwischen den Argumentformen? Gibt es eine Hierarchie der herangezogenen Kontexte? Der Rechtsstaat erfordert eine solche Rangfolge, wonach der normtextnähere Kontext größere Wichtigkeit haben muß. Worin aber, außer in dieser Forderung, mag sich dies gründen können? Wenn jemand den Begriff rechtsstaatlichen Rechts in Frage stellt, dann sind wir im Zentrum des Netzes. Dieser Mittelpunkt indes, so überzeugt uns Quine, hat letztlich nicht mehr an Unrevidierbarkeit an sich als der peripherste Satz. So mag uns also das Netz auf dem Weg der Wahrheit helfen, solange wir uns von der Peripherie auf das Zentrum zubewegen. Einmal dort angelangt, sind wir allein auf mis gestellt. Ist der Mittelpunkt erreicht, bleibt nur der Widerstreit. Die Entscheidung über den Begriff des Rechts ist nichts als eine Entscheidung. Sie kann nur gewaltförmig auf dem Weg der Negation, sprich: der Aussonderung, der Ausgrenzung und letztlich auch der Ausbürgerung aus der „Gemeinde des Rechtsförmigen" erreicht und durchgesetzt werden. In seinem Grund kann sich Recht immer nur wieder als Praxis des Rechts schöpfen. Auch sprachspielimmanente Maßstäbe von Wahrheit oder Richtigkeit können also die Entscheidungskomponente juristischer Praxis nicht in ein Erkenntnisproblem überführen.

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1.3 Trotz seines Entscheidungscharakters mehr als reine Gewalt

ist das Recht

Aus dem Scheitern des Versuchs, das Entscheidungsmoment in Erkenntnis aufzulösen, könnte man nun ableiten, daß Recht eben nichts anderes als reine Gewalt sei.32 Die Anwendung des Rechts ist von Entscheidungen durchsetzt, nicht vollkommen regelgeleitet; sie ist es ebensowenig, wie es die Schläge sind, die sich Boxer in einem sportlichen Kampf zufügen. Mit solcher Reduktion auf Gewalt hätte man jedoch die Gleichsetzung „ R e c h t gleich vollständige Regelgeleitetheit" vollzogen und damit das Recht auf seine positivistische Theorie schrumpfen lassen. In der Folge wäre es dann nur noch von seinen unabsehbar vielen und divergierenden Anwendungen bestimmt; so als erschöpfte sich der Boxkampf ohne jede Unterscheidung zur Wirtshausschlägerei im wilden Hagel der Hiebe. Man hätte sich also in der schlechten Alternative von Regelpiatonismus und Regelskeptizismus verfangen. 33 Während der Positivismus die in der Umsetzung des Rechts liegende Gewalt verleugnet, leugnet umgekehrt der Dezisionismus die im Anwenden von Gewalt liegende Rechtsförmigkeit. Sowohl vom Positivismus wie auch von seinem dezisionistischen Schatten wird das Verhältnis von Recht und Gewalt als ein äußerliches aufgefaßt. Dagegen ist dieses Verhältnis grundsätzlich als ein internes zu sehen. Jeder Hieb beim Boxen ist ebenso einer im Rahmen des Boxsports, wie sich dieser in nichts anderem vollzieht als in einer Kette von gegenseitigen Schlägen bis zum Sieg. Wie läßt sich diese interne Beziehung von Gewalt und Recht nun aber näher bestimmen? Von der Anwendung auf die Regel hin gesehen, ist das Recht zu allererst einmal Medium, das heißt: nicht mehr denn eine lose Verknüpfung, die erst in der Entscheidungsnorm Form werden muß. Von der Regel auf die Anwendung hin betrachtet, können die Parteien das Spiel des Rechts nur dann für sich entscheiden, wenn sie sich der Orientierung auf die Form hin unterwerfen. Der Schlag auf das Kinn mag den Erfolg erbringen, ein Schlag unter die Gürtellinie indes verspielt jede Aussicht auf einen Erfolg. Ausgetragen wird das hier untersuchte Widerspiel von Regel und Anwendung

32

Vgl. Schlag, , Normativity and the Politics of Form, in: UPaLRev, 139, S. 801 ff; ders ., Cannibal Moves. An Essay on the Metamorphosis of the Legal Distinction, in: Stanford Law Review 40,1988, S.929 ff. 33

Vgl. Schlag, , Rules and Standards, in: UCLA Law Review 33, 1985, S. 379 ff.

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als semantischer Kampf im Medium Recht ,34 Dieser Kampf ist dadurch gekennzeichnet, daß er im Rahmen der Orientierung auf die Form alle Möglichkeiten der Überwältigung des Kontrahenten ausschöpfen kann. Zugleich ist damit das Recht, solange das Gesicht des Spiels gewahrt ist, der ständigen Transformation auf seine Realisierung hin unterworfen. Aber eben nur, solange das Gesicht des Spiels gewahrt bleibt. Denn andernfalls würden eben jene Möglichkeiten nicht mehr als solche gelten. Die Rechtshandlungen verlören sich in einer formlosen Konfrontation gleich einer Wirtshausschlägerei, die mit dem sportlichen Boxkampf nur noch den bloßen Einsatz der Fäuste gemein hat. Recht und Gewalt können einander nicht abstrakt gegenübergestellt werden. Dadurch wäre entweder die Möglichkeit verstellt, in der Praxis des Rechts die Gewalt zu erkennen oder umgekehrt in der Praxis der Gewalt das Recht. Es würde die Möglichkeit verspielt, wirkliches Recht zu begreifen. Erst mit Blick auf die interne Verknüpfung von rechtsförmiger Gewalt mit gewaltförmigem Recht wird eine Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt möglich. Es geht eben nicht darum, wie es der Positivismus suggeriert und wie es ihm der Dezisionismus allzu bereitwillig bestätigt, Recht gegen Gewalt zu konfrontieren. Es handelt sich vielmehr darum, die Kontaminierung beider zu erfassen. Wenn wir vom Recht verlangen, es müsse in der Lage sein, wirkliche Konflikte legitim zu entscheiden, dann sind es gerade die Verunreinigungen, aus denen die Hoffnung auf das Recht erwächst: - Es ist die Unreinheit des Rechts, die uns überhaupt in die Lage versetzt, mit normativen Konzepten auf die Wirklichkeit einzuwirken. Denn das reine „Sollen" könnte das „Sein" nicht erreichen. - Es ist die Unreinheit der Sprache, die uns überhaupt in die Lage bringt, Konflikte zu entscheiden. Denn die Vielfalt der reinen Sprache liefert keine Maßstäbe für Auswahl und Präferenz. - Es ist die Unreinheit der Gewalt, die es uns überhaupt möglich macht, legitime Entscheidungen zu treffen. Denn die reine, von keinen äußeren Zwecken gebundene und kontrollierte Gewalt würde uns schwerlich als gerechtfertigt erscheinen.

34

Vgl. dazu am Beispiel der Referenzfixierung Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei derrichterlichen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 135 ff. 8 Müller u.a.

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Gerade nicht eine Reine Rechtslehre, sondern erst eine Theorie, welche die Unreinheit der Scheidungen zwischen Recht, Sprache und Gewalt begreift, hat die Chance, eine Theorie des wirklichen Rechts zu erarbeiten.35 Das Verhältnis zwischen den drei genannten Größen ist dabei nicht von einer Überordnung des Rechts geprägt, nicht einmal von einer Gleichordnung. Das Recht ist vielmehr das Medium, in welchem sich Sprache und Gewalt begegnen und bearbeiten.36 Wollte man alle drei Glieder der Trias Recht-Sprache-Gewalt als ursprüngliche Phänomene ansehen, so wäre darin das Recht ein nichtiges, blieben nur Sprache und Gewalt übrig. Ein Mensch ist nicht ein Leib und eine Seele, sondern ein Körper und eine Sprache; eine Sprache, die seinen Körper von Anfang an überschreitet, ja traumatisiert;37 die selber von Gewalt kontaminiert ist und Gewalt ausübt; die aus dem Körper, aus der Gewalt aber nicht abgeleitet werden kann. Dagegen ist Recht nur ein Sprachspiel; ein Sprachspiel unter anderen. Unter anderem ein gewaltbewehrtes Sprachspiel, unter diesen aber das einzige mitriesigangehäufter allgemeiner Gewalt versehene, das Sprachspiel des Staates. Alles, was am Staat und seinen Institutionen und deren Handeln aber nicht direkte bzw. verdinglichte Gewalt ist, violence , ist Sprache, ist mündlicher oder schriftlicher Text, so eben nicht zuletzt seine als "Recht9 bezeichneten Handlungsformen: Sie sind Text und fuhren auf violence bzw. deren funktionelle Ersetzung im staatlich angeregten Vergleich hin. 'Recht9 hat neben 'Gewalt9 und 'Sprache9 keinen vergleichbar ursprünglichen Status. Anders gesagt: Die einzige Möglichkeit, die im Staat angehäufte Violence Gewalt zu disziplinieren, zu kultivieren, einzugrenzen, zu teilen, zu falten, ist Sprache, ist Textualität und sind die in dieser anfallenden Komplikationen, Hemmnisse, Selbstverpflichtungen, Selbstbindungen, Brechungen, Faltungen; und ist nicht etwa ein „Recht", das als etwas anderes als eben diese Sprache eigene zusätzliche Möglichkeiten böte. 35 Vgl. F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 98 ff; dens., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 287 ff, 292. 36

Am konkreten Beispiel werden die institutionell-pragmatischen Faktoren des semantischen Wandels untersucht bei D. Busse, Bedeutungswandel des Begriffs „Gewalt" im Strafrecht, in: ders., Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, S. 259 ff. 37 Das hat, in der Nachfolge Sigmund Freuds, besonders Jacques Lacan herausgearbeitet. - Die hier ausgeklammerten Konsequenzen für den klassischen Begriff des Subjekts werden weiter diskutiert bei Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, S. 19 ff.

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache

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Die Gewaltenteilung durch Sprache geschieht institutionell und kompetenziell als Aufteilung der Gewalt in Portionen. Die quantitative Verminderung erfolgt nicht global, wohl aber für den je einzelnen Kontext. Und sie erfolgt zweitens durch In-Frage-stellen von Gewalt im Spiel der checks and balances. Gewaltenteilung braucht Sprache, denn sie ist vor allem eine Text-Teilung für die Institutionen nebeneinander. Sie ist eine Text-Verteilung für die Auflächerung der Kompetenzen und eine Text-Kontrolle wiederum durch Texte , eben in den checks and balances. Wie immer hat auch diese „Gewaltenteilung durch Textteilung" eine tatsächliche Violence-Basis in der Staatsgewalt. Die Teilung der Gewalten auf symbolischer Ebene als Textteilung ist eine Teilung der Gewaltbefugnis, - unter den und den Voraussetzungen - Texte der und der Art von sich zu geben - mit den und den Wirkungen und mit bestimmten Relationen zu anderen Texten. Gewaltenteilung als Teilung der Textkompetenz in Bezug auf Violence führt die Gewalt in den Zusammenhang der rechtsstaatlichen Textstruktur ein. Dabei ist darauf zu achten, daß der Rechtsstaat nicht eine Textstruktur „hat", sondern daß er eine Textstruktur „ist". Die spezifische Textstruktur ist das, was den Rechtsstaat von anderen Typen der Staatsorganisation und Staatsrechtfertigung unterscheidet. Der Rest ist allen Typen gemeinsam: persönliche und sächliche Mittel im Sinn des Verwaltungsrechts. Den Gebäuden, deren Möblierung, den Papierstapeln und den in Amtskleidung gesteckten Personen ist nicht anzusehen, ob sie einen Rechts- oder einen Nichtrechtsstaat am Funktionieren halten. Nur die Strukturierungsart und die Semantik der staatsproduzierten Textmassè distinguieren ein rechtsstaatliches System von anderen Staatssystemen. Wenn es Aufgabe einer Theorie ist, das, was tatsächlich geschieht, adäquat aufzunehmen und es möglichst angemessen in Sprache zu erklären, dann muß die Rechtstheorie dieser Besonderheit der rechtsstaatlichen Textstruktur Rechnung tragen. Sie muß die spezielle Art, wie der Rechtsstaat Gewalt durch Sprache hemmt, in einer angemessenen Fragestellung erfassen. Nicht mehr Rechts"findung", sondern Rechtsaibeit ist dabei das Stichwort. Nicht mehr passive Haltung des Juristen und Verantwortung beim legislatorischen Normgeber - sondern aktive Haltung des Rechtsaibeiters und die Verantwortung bei ihm. Nicht mehr: „Wie verstehe ich das Gesetzrichtig,damit ich es dementsprechend richtig anwenden kann?"; und nicht (nur): „Wie interpretiere ich 8"

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

das Gesetz, damit ich meine der Interpretation mehr oder weniger folgende Entscheidung nach außen möglichst plausibel begründen kann?'; sondern: „Wie arbeite ich in normativer (und institutioneller) Verpflichtung mit dem Normtext, damit ich ihn rechtsstaatlich und demokratisch verantwortbar funktionieren lassen kann?"

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur Wenn alles am Recht letztlich in der Hand des Rechtsarbeiters liegt, wenn also die juristische Textarbeit keinen anderen Halt hat denn in sich selbst als Praxis, geht sie dann nicht in mehr oder weniger gut bemäntelter Gewalt auf? Was 'hält9 juristische Textarbeit dann überhaupt noch, was kann sie von der Kontamination von Recht und Gewalt in der Willkür ihrer Sprache, in der Willkür des von ihr als Text zur Sprache gebrachten Rechts zurückhalten? Setzen wir damit nicht die Selbstherrlichkeit des Rechtsarbeiters an die Stelle der Herrschaft des Rechts? Die Gewalt lag in unserem Ausgangspunkt, im Konflikt. Sie wurde als physische Gewalt zunächst suspendiert und in die Sprache gefaltet. Dort verschwindet sie nicht. Denn vom zuständigen Juristen, beispielsweise vom Richter wird nicht Erkenntnis, sondern Entscheidung verlangt. Damit wird die Gewalt nicht nur von der Physis in die Sprache gefaltet, sondern auch von den Parteien abgetrennt und einem mehr oder weniger neutralen Dritten übertragen. Die Frage, vor der wir stehen, ist, ob die in der Konfliktentscheidung durch den Dritten liegende Gewalt noch einmal auf sich selbst gefaltet, ob sie geteilt und kontrolliert werden kann. Läßt sich also die in die Sprache gefaltete und dem Richter übertragene Gewalt durch sprachliche Vorgaben konstitutionalisieren? Recht ist notwendig an Sprache gebunden. In einem System geschriebenen Rechts treten seine Vorschriften als Normtexte auf, das heißt als amtlich autorisierte Textformulierungen geltenden Rechts. Die Rechtsordnung bildet ein Kontinuum von Texten, die für anders nicht lösbare Konfliktfälle sanktioniert sind durch ,als solche' sprachlose Gewalt, die wiederum ihrerseits durch die zugehörigen Verfahren sprachlich vermittelt wird. Rechtsstaatliches Recht arbeitet möglichst wenig mit bloßer und möglichst weitgehend mit sprachlich geformter, vermittelter und kontrollierbarer konstitutioneller Gewalt. Diese Form von Sprachlichkeit der Rechtsordnung entspricht dem Streben des bür-

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

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gerlichen Verfassungsstaats der Neuzeit nach Rationalität.1 Diese ist funktionell zweideutig. Sie wirkt doppelt, indem sie einmal Herrschaftsvorgänge erleichtern hilft, zum andern die Voraussetzung für Konsens schafft. Das drückt sich in einer verschiedenen Form der Sprachlichkeit von Rechtstexten aus. Recht ist einerseits sprachliches Mittel von Herrschaft und andererseits, indem es rechtsförmige Herrschaft spezifischen Formalisierungen unterwirft, auch Instrument zur Begrenzung von Herrschaft. Zentral für diese Formalisierung von Herrschaft durch Recht ist die Sprache, welche Herrschaftsvorgänge der Kommunikation und damit der Möglichkeit sprachlicher Kritik und Rechtfertigung öffnet. Im demokratischen Rechtsstaat nach dem Modell des Grundgesetzes sollen rechtsstaatliche Form und demokratische Politik im Sinn eines „materialen Rechtsstaats" zusammenkommen. Nicht dem formalistisch-autoritären Rechtsstaat mit Zügen des Obrigkeitsstaates, wohl aber dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat entsprechen zusätzliche (verfassungsrechtliche Sicherungen der Konsensfunktion seiner Rechtstexte: auf der Seite der anordnenden Texte Forderungen wie Tatbestandsbestimmtheit, Rückwirkungsverbote, rechtliches Gehör, usw.; auf der Seite der rechtfertigenden Texte das Gebot der Methodenehrlichkeit (d. h. des Übereinstimmens von Finden und Begründen der Entscheidung), die verschiedenen Begründungspflichten, Einzelinstitute wie das der Abweichenden Meinung bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, usw. Jenseits solcher einzelnen Beispiele läßt sich die Textstruktur dieser Rechtsordnung, von den Textsorten her, zunächst in anordnende und rechtfertigende Texte einteilen. Normtexte (die „Gesetze" der Kodifikationen) treten als die Anordnungstexte par excellence auf; rechtfertigende Texte sind vor allem die Begründungssequenzen, die „Gründe" judizieller und exekutivischer Entscheidungen. Während diese der ihnen zugedachten Rolle von ihrer Textualität her gewachsen sind, haben sich die Normtexte in den Analysen der Strukturierenden Rechtslehre der letzten dreißig Jahre, inzwischen auch schon weithin außerhalb ihrer2, als von der Rolle kategorial überfordert erwiesen, die ihnen, als anwendungsbereite „Normen", das herkömmliche Paradigma anweisen möchte. Normtexte können noch nicht „normativ" wirken; was ihnen zukommt, ist nur „Geltung" im oben genannten Sinn. Sie sind Vorformen der 1

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 32; ders., Recht - Sprache Gewalt, 1975, S. 26 ff, 28 ff. 2

Vgl. z.B. nur die Bemerkung bei Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 120.

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Ι . Die Textstktur des Rechtsstaats

späteren Rechtsnormtexte, Eingangsdaten der Konkretisierungsarbeit. Dagegen spielen sie in dieser ihre entscheidende Rolle als Zurechnungstexte; die Anordnungstexte der Entscheidungen (Rechtsnorm, Entscheidungsnorm) müssen ihnen methodisch plausibel zurechenbar sein. Der Text der Rechtsnorm, vorangestellter oder nur in den „Gründen" enthaltener Leitsatz der Entscheidung, ordnet typologisch an („in einem FaU wie diesem...") und fungiert zugleich als Zurechnungstext für den Tenor. Dieser, der Text der Entscheidungsnorm, ist die Anordnung für diesen vorliegenden Einzelfall und gleichzeitig Zurechnungstext für die Vollstreckungsakte, die sich anschließen, sobald er mit Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbar ist.

2.1 Zurechnungstext ist der Normtext als „geltende " Zeichenkette In einem Gemeinwesen mit weitgehend kodifiziertem Verfassungs- und sonstigem Recht ist vorentschieden, daß die Normtexte im Geschäft der Konkretisierung herausgehobene Funktionen innehaben. Unter dem Bonner Grundgesetz wirken verstärkend in dieselbe Richtung positiv-(z.T. gewohnheits)rechtliche Verfassungsgebote, vor allem im Hinblick auf rechtsstaatliche Norm- und Methodenklarheit als Klarheit von Normtexten und von Normtextbehandlung. Dieser Komplex rechtsstaatlicher Anordnungen ist beispielsweise in Art. 19 Abs. 1 Satz 2, in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 und in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (jeweils in verschiedenen funktionalen Zusammenhängen) einzeln ausgeformt. Wenn der Wortlaut des Gesetzes besonders bedeutsam ist, so ist das eine Folge einerseits des geltenden Verfassungsrechts (auch des ungeschriebenen allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots), andrerseits bereits der Option für eine geschriebene Verfassung. Aus der methodischen Eigenart grammatischer Auslegung allein ließe sich eine herausgehobene Stellung des Wortlauts dagegen schon darum nicht begründen, weil methodologische Verfahren als rechtspraktische und rechtswissenschaftliche Kunstregeln nicht normativ sind. Wegen dieser hervorgehobenen Rolle des Normtextes wird zum Teil gefordert, daß der anordnende Text vom Rechts"anwender" dem Normtext „entnommen" werden müsse. Angesichts der normativen Anforderungen des Demokratieprinzips sei dem Gesetzgeber ein Monopol auf die Aktivität sprachlicher Sinngebung zuzuschreiben. Die Annahme eines derartigen Sinngebungsmonopols setzt eine bestimmte Sicht des Kommunikationsverhältnisses zwischen Gesetzgeber und Rechtsar-

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

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beiter voraus.3 Der Gesetzgeber wird hier mit dem Autor eines Textes gleichgesetzt, und der Autor wird mit dem Gravitationszentrum des Textsinns gleichgeschaltet. Aufgabe des Rechtsanwenders wäre es demnach, die im Text verkörperten Gedanken des Gesetzgebers nachzuvollziehen. Aber gerade dieser Nachvollmg erweist sich in der Praxis als in Sprache uneinlösbare Fiktion. Der Normtext funktioniert vielmehr gerade dadurch, daß er von einer Bindung durch den „Sender" abgeschnitten ist.4 Die Leitsätze konkreter Entscheidungen können ihm zugerechnet werden, weil bei jeder neuen Verwendung sein Sinn nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben wird, und weil dadurch der Normtext unter Bruch mit dem ursprünglichen Kontext neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft 5 werden kann. Der Normtext ist also nicht darauf angewiesen, daß ein Autor ihn mit der Fülle seines gegenwärtigen Meinens stützt; sondern er kann im Gegenteil als Zurechnungspunkt konkreter Entscheidungen nur funktionieren, weil dies nicht der Fall ist und weil seine Bedeutung offen für Bestimmung und Anreicherung im Rahmen der semantischen Praxis bleibt. Führt nun aber der Abschied von den geschilderten kommunikationstheoretischen Vereinfachungen dazu, daß der Gesetzgeber bei der späteren Konkretisierung der von ihm gesetzten Normtexte ganz außerhalb der Betrachtung bleiben muß? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst seine Rolle im Prozeß der Rechtsverwirklichung unabhängig von abstrakt6 vorausgesetzten demokratietheoretischen Postulaten zu bewerten. Dabei ergibt sich, daß der

3

Vgl. zum vorausgesetzten Kommunikationsmodell Maus, Zur Problematik des Rationalität^- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth / Blank / Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 161 f. Die Forderung, Gesetzgebung und Rechtsanwendung als kommunikatives Verhältnis anzusehen, wird auch erhoben bei Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 99 ff. 4

Dazu Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff u. 133 f. Allgemein zur Schrift als originales Supplement ders., Grammatologie, 1974, S. 536 ff. 5

Zur Herauslösung aus dem Kontext und zur parasitären Aufpfropfung als Dementi einer wörtlichen Bedeutung Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 136. 6

Zur Kritik an einem bei Maus angesetzten abstrakten Rationalitätsmaßstab, der sich nicht auf die Strukturen der Entscheidungssituation einläßt, Christensen /Kromer, Zurück zum Positivismus? in: Kritische Justiz, 1983, S. 41 ff u. 53.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Normtext das Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses7 ist. Dieser Prozeß führt weder zu einem homogenen gesetzgeberischen Willen, noch kann er als einheitliche Handlung mit klar überschaubarer Finalität verstanden werden. Vielmehr ist die Gesetzgebung im parlamentarischen System nur im Rahmen einer Semantik kompetitiven Handelns zu begreifen.8 In den verschiedenen Stadien des Verfahrens werden regelmäßig einzelne Fallkonstellationen besprochen, bestimmte Formulierungen verworfen und die schließlich verabschiedete Textversion in einzelnen Aspekten ihrer vorweggenommenen Verwendungsweise kontrastiv bestimmt.9 Solche Kontexte können den argumentativen Vorgang der Bedeutungskonstitution des Normtextes auf dem Weg über das genetische Konkretisierungselement mitbestimmen. Aber sie können diesen Vorgang nicht vollständig determinieren und schon gar nicht die Anwendung des Normtextes auf eine unübersehbare Anzahl von Fällen im vorhinein festlegen.10 Deshalb muß man bei realistischer Sicht der sprachlichen Bedingungen sagen, daß die Aktivität der Sinngebung auf der Seite des Rechtsarbeiters liegt.11 Dieser hat zwar das genetische Konkretisierungselement, soweit es für die Lösung seiner Probleme einschlägig ist, zu berücksichtigen; aber trotzdem bleibt der Rechtsarbeiter und ist nicht der Gesetzgeber Subjekt des Konkretisierungsvorgangs.

7 Grundsätzlich zum Gesetzgebungsverfahren F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 270 ff, z.B. S. 271. 8

Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 272: „Kampf um Wörter und Formulierungen". Ansätze in dieser Richtung bei Autoren, die den politischen Sprachgebrauch insbesondere im Bundestag zum Ausgangspunkt ihrer Analysen und Theorienbildung nehmen; vgl. grundsätzlich dazu, mit vielen Nachweisen, Sokolowski, Im Kampf mit der Sprache. Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens (in Vorher.). 9

Zum genetischen Konkretisierungselement etwa auch Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat, 1980, S. 73 ff u. 101 ff. 10

Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, S. 138. Der Normtext „soll einen unbestimmten, in die Zukunft hinein weder abgeschlossenen noch abschließbaren Inbegriff praktischer Rechtsfälle regeln. Weder können noch sollen diese Rechtsfälle vom Gesetzgeber qualitativ und quantitativ vor - 'vollzogen' werden"; vgl. die fortentwickelten Formulierungen ebenda, ó.Aufl., 1995, S. 166 ff, 171 ff. 11

Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, S. 139: „Das regelnde Subjekt ist nicht die Norm, sondern ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen"; vgl. in der 6. Aufl., 1995, S. 171 ff.

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

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Der wirkliche Normtext ist nur Glied in einer Kette, ist bereits Reaktion, Antwort, Differenz unter Differenzen, ist vielfach bedingt: rechtsgeschichtlich durch frühere Regelungen in derselben Rechtsordnung, rechtsvergleichend durch Einfluß aus anderen Rechtssystemen. Die Entstehungsgeschichte, also der „genetische" Konkretisierungsfaktor, enthüllt sehr oft die sachliche Inkonsistenz, Zufälligkeit, ja zum Teil Unaufhchtigkeit legislatorischer Kompromißformeln. Der Normtext ist manchmal nicht ernst gemeint; ist nicht selten im Zeitpunkt seines Inkrafttretens schon obsolet; soll schon wieder geändert, aufgehoben oder gerichtlich annulliert werden; ganz abgesehen von den unabschließbaren „Interpretations"- oder „Anwendungs"diskursen, die ihn regelmäßig schon seit seinen Entwurfsstadien begleiten. Im besten Fall ist der Normtext eine ernst „gemeinte" Momentaufnahme im politisch-juristischen Stellungskrieg der Gesellschaft. Er ist weder ein verläßlicher noch jemals ein „ursprünglicher" Ursprung. Die alte Fiktion, er sei bereits die Norm, wird ihm ohnehin nicht gerecht; anders der neue Vorschlag der Strukturierenden Rechtslehre, ihn als noch nicht normatives Eingangsdatum eines notwendig produktiven Vorgangs der Normerzeugung im Fall aufzufassen.

2.2 Der Rechtfertigungstext muß den Zusammenhang von Geltung und Bedeutung begründen Legislatorische Zurechnungstexte und die Anordnungstexte der Entscheidungen hängen nun in bestimmter Weise miteinander zusammen; wobei die Art und Weise, nach der diese Verknüpfung näher erklärt wird, die Unterschiede der rechtstheoretischen Schulen bezeichnet. Die herkömmliche Lehre verlangt vom Rechtfertigungstext zuviel. Der Gesetzespositivismus geht davon aus, daß die Rechtsnorm/Entscheidungsnorm im Normtext schon enthalten ist und daß deswegen zwischen beiden eine notwendige Verknüpfung besteht, die der rechtfertigende Text darstellen muß. Die antipositivistische Doktrin12 stellt demgegenüber zu Recht fest, der Justizsyllogismus allein könne die Notwendigkeit dieser Verknüpfung nicht garantieren. Aber daraus folgt für sie nicht die Anerkennung einer gegenstandskonstitutiven Komponente praktischer Rechtsarbeit. Vielmehr hält sie an dem Credo einer notwendigen und von festen Regeln determinierten Verknüpfung von Normtext und Rechtsnonn/Entscheidungsnorm fest. Erweitert 12

Zu deren Kritik F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 32 ff, 54 fund öfter.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

wird hier lediglich das Arsenal von Regeln, welche die Verknüpfung sicherstellen sollen. So erscheint etwa bei Larenz an dieser Stelle „die Rechtsidee", welche als Zentralregel die gleichmäßige Anwendung des Gesetzes garantiere. Die Theorie des praktische Diskurses steüt ebenfalls fest, daß der Normtext aUein die konkrete Entscheidung nicht vollständig bestimmen kann. Auch eine Determination durch die Idee der Gerechtigkeit lehnt sie als nicht einlösbar ab. Damit wird zutreffend anerkannt, daß die praktische Rechtsarbeit nicht etwa nur Regeln anwendet, sondern auch Regeln hervorbringt. Aber dieses Hervorbringen soll nun seinerseits im Rahmen einer „anthropologisch tiefsitzenden" kommunikativen Kompetenz begriffen und so in einen regelgenerierenden Mechanismus eingefügt werden. Der schöpferische Anteil der Rechtsarbeit wird damit unversehens wieder in ein Begründungsdenken zurückgebogen, so daß sich das alte SubsumtionsmodeU auf einer nochmals erweiterten Grundlage reproduziert. Mit einem zum Gesetzbuch der praktischen Vernunft erweiterten Rahmen wird versucht, die konkrete Entscheidung wenn schon nicht aus dem Gesetz, so doch aus einem das Gesetz umgreifenden Regelwerk der praktischen Vernunft abzuleiten. Dieses schrittweise Erweitern der Determinationsbasis läßt aber als zentrales Glied des Gesetzespositivismus den Regelplatonismus unangetastet13, welcher jede Handlung entweder als Anwendung einer oder als Verstoß gegen eine Regel begreift. Auch die regelgenerierende Maschine der Theorie des praktischen Diskurses soll als zentrales Signifikat der Rechtsfindung nach wie vor sicherstellen, daß die einzelne Interpretationsbehauptung entweder als Anwendung von oder als Verstoß gegen Regeln beurteilt werden kann. Selbst in seiner entwickeltsten Form als Theorie des praktischen Diskurses bleibt dieses Denken noch einem verbrauchten Textmodeü verhaftet, das aus dem sakralen Bereich in die Jurisprudenz eingewandert war.14 Danach gibt es ursprüngliche, echte oder offenbarte Texte und abgeleitete, sekundäre Kommentare. Die Auslegung muß daher mittels eines Wahrheitskriteriums kontrollieren, ob der abgeleitete Text den Inhalt des primären Textes verfehlt oder trifft.

13 14

F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 32.

Zu Parallelen zwischen theologischer und juristischer Denkweise im „OffenbarungsmodeH" der Erkenntnis Albert, Erkenntnis und Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2,1972, S. 80 ff u. 82 fund jetzt auch ders., Kritik der reinen Hermeneutik, 1994, S. 164 ff.

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

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Tatsächlich aber können die vorgeschlagenen Wahrheitskriterien wie Syllogismus, Gerechtigkeitsidee oder praktischer Diskurs die versprochene Leistung nicht erbringen. Denn Textarbeit oder konkretes Sprechen fügt sich eben nicht dem zu einfach gedachten Schema von Regelanwendung beziehungsweise Regelverletzung. Weil Regelverfehlung kein dem Sprechen äußerlicher, klar abgegrenzter Bereich ist, sondern als strukturelle Möglichkeit der Verschiebung konstitutiv für jede Wiederholung einer Regel, hat die Strukturierende Rechtslehre das apriorische Textmodell einer notwendigen Verknüpfung zwischen Normtext und Rechtsnorm/Entscheidungsnorm nicht aus der Tradition übernommen. Der Rechtfertigungstext muß nicht die einzige und notwendige Verknüpfung zwischen Geltung und Bedeutung des Normtextes darlegen, sondern die im jeweiligen Verfahren tatsächlich durchgeführte. Dies ist die Anforderung der Methodenehrlichkeit. Es müssen die Maßstäbe der Zurechnung offengelegt werden, damit sie an den verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen werden können. Dieser Rechtfertigungszwang kann zwar nicht die eine und einzigrichtigeEntscheidung garantieren; aber er erschwert die Ausübungrichterlicher Gewalt, indem er sie kontrollierbar macht. Der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke der Textstruktur gliedert also das Konünuum juristischer Texte. Innerhalb dieser Textstruktur der Legalität, die eine durchgehende ist, geht ein Rechtsarbeiter, beispielsweise ein Richter oder ein mit Entscheidungsbefugnis betrauter Funktionär der Exekutive, vom vorgelegten Sachverhalt aus. Anhand von dessen Eigenschaften wählt er aus der Gesamtmenge des sogenannten geltenden Rechts, das heißt aus der Gesamtmenge aller Normtexte, die ihm als einschlägig, als für den Fall passend erscheinenden Normtexthypothesen aus. Die Interpretation der Sprachdaten liefert ihm als Zwischenergebnis das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt er aus dem Sach- bzw. Fallbereich, das heißt aus den im Fall aktuellen Realdaten, den Normbereich aus.15 Der Normbereich wird also konstituiert als die Teilmenge der für die Entscheidung als normativ mitwirkenden Tatsachen. Normprogramm und Normbereich bilden zusammen die vom Rechtsarbeiter auf diesem Weg erzeugte, generell formulierte Rechtsnorm. In einem letzten Schritt individualisiert er diese zur Entscheidungsnorm. Daraus geht in unserem Zusammenhang folgendes hervor: Sämtliche Stufen seines Arbeitsprogramms, soweit es sich dabei nicht um illegale und ille15

Vgl. dazu etwa, unter Einbezug der Rechtslinguistik, Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten in der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 128 ff.

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gitime Überlegungen handelt, sind rechtsstaatlich vertextet, bzw. müssen von ihm im Fortschreiten der Konkretisierungsarbeit vertextet werden. Normtext, Normprogramm, der Normbereich der sekundär-sprachlichen Elemente, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm ergeben, vereinfachend gesprochen, fünf Textstufen. Diese betreffen zum einen die genannten Strukturbegriffe des Normmodells, zum anderen die hauptsächlichen Stationen der Konkretisierung, eines Vorgangs tatsächlichen Handelns. Das strukturierende Konzept arbeitet seit langem dafür, hergebrachte IUusionen aufzuklären, ohne gleichzeitig neue zu schaffen. Irrationalität in der Rechtsarbeit läßt sich durch eine noch so reflektierte Rechtslehre und Methodologie nicht einfach beseitigen; aber durch deren Mittel läßt sie sich vermindern. Willkür oder Unfairneß in juristischen Entscheidungen kann man nicht aus der Welt schaffen. Aber sie lassen sich, nicht zuletzt dank der rechtsstaatlich angeordneten Begründungs- und DarsteUungspflichten der Amtsträger, erschweren.16 Wo tatsächlich willkürlich oder aus anderen Gründen unvertretbar entschieden wurde, wird durch methodisch sorgfältige Entscheidungskritik dieser Nachweis erleichtert, damit auch die sich gegebenenfalls anschließende Debatte versachlicht. Durch nachvollziehbar strukturierte Kritik, Kommunikation, Diskussion und sich möglicherweise anschließende Änderungen sei es der Judikatur, sei es der Gesetz-(Normtext-)Gebung wird im Gesamtzusammenhang des Gewalttransfers in der Gesellschaft - wenigstens ein Stück weit Gewalt reversibel gemacht; das heißt, in verfassungsmäßig legal institutionalisierte Macht rückverwandelt . Eine der Hauptwirkungen, welche dieses Konzept anstrebt, besteht gerade darin, illegale/illegitime Gewalt zugunsten von legaler/legitimer Macht zurückzudrängen. Die Mittel von Rechtslehre, Verfassungstheorie und Methodik reichen im Ganzen gesellschaftlicher Realität nicht besonders weit; aber so weit sie reichen, darf es über dieses Projekt keinen Zweifel geben.17

16

Kritischer Prüfung standhaltende Gründe verlangt auch BVerjGE, 83, 82 ff, 87; vgl. in diesem Sinn auch Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten. Auf der Suche nach Funktion und Methodik, In: DVB1, 1996, S. 1028 ff, 1032. 17

Zur rechtspolitischen Stellung der Strukturierenden Rechtslehre in verschiedenen Perspektiven F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 298 ff.

2. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur

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2.3 Der Anordnungstext wird mittels des Rechtfertigungszwangs in die rechtsstaatliche Textstruktur eingeschrieben. Der Vorgang der Normkonkretisierung ist keineswegs 'frei', willkürlich, unerkennbar unrechtlich, denn all seine Eingangsgrößen, abgesehen vom Sachverhalt, sind auf das Erzeugen normativer Daten im Fall und für den Fall ausgerichtet: Der Normtext in bezug auf die Sprachdaten führt zur Erarbeitung des Normprogramms. Der Normtext in bezug auf die Realdaten führt zur Auswahl des Sachbereichs, zu dessen Verengung zum Fallbereich und zu dessen am Normprogramm maßstäblich orientierter Konstituierung als Normbereich. Normprogramm und Normbereich ergeben zusammen die normative Rechtsnorm, deren Zuspitzen auf den individuellen Fall hin die normative Entscheidungsnorm. Während also der durch die Entscheidung in Rechtsform zu bringende Sachverhalt normativen Instanzen zu unterwerfen ist, sind die genannten nicht-normativen Eingangsfaktoren ausnahmslos auf das methodisch regulierte, rational darstellbare und nachvollziehbare Produzieren dieser normativen Instanzen hin angelegt. Die normativen Elemente der Rechtsarbeit sind also jeweils erst deren Ergebnisse: die Rechtsnorm als Zwischenergebnis, die Entscheidungsnorm als Endresultat. Die Strukturierende Rechtslehre gewinnt mit diesem Ansatz die Möglichkeit, die von der Rechtsprechung ausgeübte Gewalt ausgehend von den Maßstäben des Verfassungsrechts 18 zu reflektieren und zu kritisieren. Dabei treten im Rahmen einer Rechtserzewgw/?gsreflexion die drei vom Positivismus kurzgeschlossenen Probleme von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung wieder auseinander. Das auf dieser Grundlage ferner entwickelte Konzept der Legitimationsstruktur reformuliert die Rechtfertigungsfrage im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion. Die Sprachtheorie wird in diesem Zusammenhang nicht in der Weise auf die Erzeugung von Legitimationswissen festgelegt, daß sie die Notwendigkeit der vom Richter hergestellten Verknüpfung zwischen Normtext als Zeichenkette und Rechtsnorm als Bedeutung nachträglich mit Hilfe einer semantischen Theorie begründen soll. Vielmehr wird die Sprachtheorie hier mit dem Interesse an Produktionsmssen aufgenommen und soll durch Hinweis auf sprachliche Alternativen die spezifisch juristischen Begründungslasten 18

Eine Rückbindung methodischer Maßstäbe bejaht z.B. auch Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten. Auf der Suche nach Funktion und Methodik, In: DVB1,1996, S. 1034.

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Ι . Die Textstruktur des Rechtsstaats

sichtbar machen Es wird dann deutlich, daß die schöpferische Komponente der Rechtsarbeit kein besonders zu erklärender Ausnahmefall außerhalb der Reichweite der Gesetzesbindung ist, sondern der im Diesseits rechtsstaatlicher Gesetzesbindung zu begreifende Regelfall. 19 Mit dem von der Strukturierenden Rechtslehre formulierten Konzept der Textstruktur kann die Rolle des Normtextes für die Rechtsentscheidung realistisch eingeschätzt werden. Der Gesetzgeber setzt demnach keine Rechtsnormen, durch welche die Entscheidung der künftigen Fälle schon vorvollzogen wäre. Er bringt vielmehr Normtexte hervor, deren aus der Entstehungsgeschichte mitgebrachte Verwendungsweisen die Bedeutungskonstitution zwar beeinflussen, aber nicht festlegen können. Insoweit kommt dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung nur „Geltung" und nicht schon „Normativität" als verbindliche Bedeutung zu. Indem das Konzept der Textstruktur das herkömmliche Verständnis einer notwendigen Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm aufgibt, wird der diese Verknüpfung aktiv herstellende Rechtsarbeiter als Adressat der Geltungsanforderung erkennbar. Für ihn besteht eine gesetzlich festgelegte Dienstpflicht, die Rechtsnorm so zu erzeugen, daß er sie korrekt dem amtlichen Normtext zurechnen kann, und nicht etwa in 'richterrechtlicher' Manier selbst einen Normtext als Zurechnungspunkt zu produzieren. Im ganzen handelt es sich um ein diesen Typus von Rechtsordnung kennzeichnendes Strukturprinzip, das aus der Verfassungsgebundenheit der Gesetzgebung, aus der Rechts- und Verfassungsgebundenheit aller sonstigen Staatstätigkeit und allgemein aus der Rechtsbestimmtheit staatlichen Verhaltens folgt. Das Vorstehende macht auch klar, warum dierichterlichen Begründungspflichten im positiven Recht sorgfältig ausgeformt sind. In methodisch nachweisbarer Bindung erlassene Entscheidungsnormen der Justiz sind im genannten Sinn „konstitutionell"; diese Bindung mißachtende sind nicht nur nicht legal, sondern auch nicht systematisch gerechtfertigt, nicht legitim. Der Sache nach ist ein rechtswidriges Urteil bloße Gewalt; es ist Herrschaft eines Menschen oder eines Gremiums über andere Menschen, nicht mehr Herrschaft „des" Rechts als einer den Rechtsstaat systematisch legitimierenden Instanz. In diesem Modell von Verfassungsstaat muß der Richter zum einen nach dem Rechtsverweigerungsverbot überhaupt entscheiden; d. h. er 19

Vgl. dazu F. Müller, 'Richterrecht', 1986. - Grundsätzlich zum Konzept der Textstruktur: ders., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 136 ff, 156, 289 ff, 295 f, mit Nachweisen.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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darf sich nicht enthalten, Gewalt auszuüben. Und er muß zum andern rechtmäßig entscheiden; nicht aus Dezision, nicht aus eigener, sondern nur kraft „abgeleiteter" Gewalt. Er darf - so der Anspruch des Rechtsstaats - die Gewalt nicht schaffen, er darf sie „nur"' funktionell vermitteln Mit Hilfe des Konzepts der Normstruktur können die methodischen Bindungenrichterlichen Sprechens innerhalb des Vorgangs der Bedeutungskonstitution genauer bestimmt werden. Aus der Verbindung verfassungsrechtlicher Vorgaben mit der Analyse der Normstruktur läßt sich die Folgerung ziehen, daß der Richter bei einem methodologischen Konflikt um die weitere Verknüpfung dem normtextnäheren Argument den Vorrang einzuräumen hat. Mittels einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik lassen sich präziser kontrollierende Standards für die juristische Interpretationstätigkeit entwickeln

3. Dierichterliche Gewalt wird der Teilung und Kontrolle unterworfen Gewalt kann nicht gerechtfertigt werden. Zwar gibt es wirklich viele Menschen, die das, was sie ertragen müssen, auch gutheißen wollen.1 Aber dieses Bedürfnis kann jedenfalls die Rechtstheorie nicht erfüllen. Die Versuche zur Rechtfertigung von Herrschaft müssen nicht noch vermehrt werden.2 Für die Rechtstheorie stellt sich die Aufgabe, die Art und Weise der Ausübung von Herrschaft zu beschreiben und an ihren eigenen Vorgaben zu messen. Ebendas leistet die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Kategorie der Legitimierungsstruktur. Nicht die Begründung von Gewalt überhaupt, sondern die Beschreibung der Art und Weise, wie diese sich als Staatsgewalt selbst rechtfertigt, wird damit in den Blick genommen. Die Rechtfertigung erfolgt im Fall des Rechtsstaats dadurch, daß die Gewalt in ihrer Ausübung durch verlangsamende, kontrollierende und aufteilende Zwänge zur sprachlichen Legitimation erschwert wird. Ohne „la bouche de la loi" zu sein und keineswegs „en quelque façon nulle", kommt es für die rechtsprechende Gewalt darauf an (und zwar für die in der rechtsstaatlichen Demokratie), sich bewußt und gewollt „die Hände zu binden"; sie sich zu binden

1 2

Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 19.

Deleuze , Nietzsche, 1979, S. 22: ,JDie Philosophie ist nicht mehr als die Bestandsaufnahme aller Gründe, die der Mensch sich gibt, um zu gehorchen."

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

beim methodisch fairen und fair dargestellten Produzieren von Rechts- und Entscheidungsnormen im Rechtsfall. Es geht also um eine zweite Faltung der Gewalt. Bisher wurde gezeigt, daß das Recht die Möglichkeit physischer Gewalt suspendiert und in die Sprache faltet. Zudem wird die Gewalt einem neutralen Dritten übertragen und in die rechtsstaatliche Textstruktur eingebunden. Was ist aber damit erreicht? Zunächst nur, daß dem Bürger die Möglichkeit unmittelbarer Gewaltanwendung genommen ist und daß diese monopolisiert wird bei einem Leitwolf, der allein zur Konfliktentscheidung und Gewaltausübung berechtigt bleibt. Allerdings wird diese Rolle nicht mehr wie bei Hobbes vom Monarchen wahrgenommen, sondern laut Carl Schmitt vom Richter.3 Die Frage ist, ob es bei realistischer Einschätzung der von der Sprachlichkeit des Rechts zu erwartenden Leistungen einen Schritt über den Dezisionismus hinaus geben kann. Kann man den Leitwolf in seiner schwarzen Robe nur verstecken, oder ist er domestizierbar? Kann also die vom Richter ausgeübte Gewalt noch einmal auf sich selbst gefaltet werden, indem sie teilenden und kontrollierenden Mechanismen unterworfen wird?

3.1 Läßt sich innerhalb der juristischen Textarbeit eine Praxis der Grenze denken? Eine Grenze für juristische Textarbeit könnte dem Tun der Juristen als objektive Schranke vorgegeben oder sie könnte als selbstgesetzte Schranke im juristischen Handeln zu konstituieren sein. Die herkömmliche Theorie bevorzugt die erste Lösung. Danach soll eine Grenze juristischer Auslegung durch das sprachlich oder methodisch Mögliche vorgegeben werden. Als Barriere der juristischen Arbeit mit Texten wird gewöhnlich die Wortlautgrenze angegeben. Zwar kann man auch diese Grenze, wie im übrigen jede, überschreiten; aber nur dann, wenn man sich bei der juristischen Methodik vorher ein Visum 3 „ E i n e gesetzmäßige Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte." C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl., 1969, S. 71, ebenso S. 79. Der Richter als Funktionärsmaske tritt hier an die Stelle der Gesetzesbindung und die Einheitlichkeit wird später hergestellt über die Objektivität der Rassenzugehörigkeit als Grundlage für die Gleichschaltung der Richter. Vgl. C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933, S. 48. Kritisch zu diesem Ansatz Forgó , Die Pathogenese einer Methodologie, in: Juridikum 2, 1995, S. 30 ff u. 31.

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besorgt hat, welches den besonderen Legitimationsbedarf einer Entscheidung jenseits des Gesetzeswortlauts abdeckt.4 Die Wortlautgrenze wird dabei als etwas dem juristischen Handeln objektiv Vorgegebenes betrachtet. Und die Instanz, welche die Objektivität verbürgt, soll entweder die Sprache sein oder eine von der Methodenlehre herausgearbeitete Struktur des Verstehens.5

3.1.1 Die Wortlautgrenze wird nicht von der Sprache definiert Die Sprache, das wurde schon in anderem Zusammenhang deutlich, ist mit der Rolle überfordert, dem juristischen Handeln Grenzen vorzugeben. In der Sprache tragen Worte und Sätze keine Grenzen mit sich herum. Die einzige elementare Schranke für das Sprechen ist die der Verständlichkeit. Das nützt den Juristen aber nichts. Denn verstehbar ist die Gegenposition immer. Die Wortlautgrenze6 soll demgegenüber kenntlich machen, wann der Anwendungsspielraum des Gesetzes überschritten wird. Dies ist aber kein Problem, das in der Sprache immer schon gelöst wäre, sondern eines, das der juristischen Praxis immer wieder aufgegeben ist. In keinem Fall kann „die" Wortlautgrenze gegenständlich vorausgesetzt werden, auch nicht in „Begriffskern" und ,3egriffshof c scheinbar abgeschichtet; in keinem Fall ist sie eine generalisierbare, gleichsam - aus sprachlich/linguistischen Gründen - „gültige" Vorgegebenheit. Die gesuchte begrenzende Wirkung ist keine lexikalisch autoritativ formulierbare und daher für die Entscheidung abzulesende Eigenschaft des Normtexts beziehungsweise seiner einzelnen Ausdrücke. Sie ist, im vorliegenden Rechtsfäll, angesichts dieser vom Rechtsarbeiter gewählten Gebrauchsweise der Ausdrücke heranzuziehender Gesetzeswortlaute, angesichts dieser von ihm durchgeführten Referenzfixierung zwischen Sprachdaten und Realdaten seines Falles, ein methodisch schlüssig zu begründendes und ehrlich darzustellendes Arbeitsergebnis; ein Ergebnis, das im Verlauf des rechtsstaatlich und demokratisch verpflichteten Arbeitsvorgangs „Konkretisierung" erst herauszubringen ist. Statt zu fragen, 4

Vgl. Sang-Don Yi, Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung, 1992, S. 14 ff; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 90 ff, 119 ff. 5

Dazu Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1995, S. 270 ff.

6

Vgl. zu dieser Problematik vor allem auch D. Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 206 f, S. 259 f u. S. 269.- Zu: Normprogrammgrenze statt „Wortlautgrenze" F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 272 f, 293 ff, 296 f. 9 Müller u.a.

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ob ein bestimmtes Ergebnis „die Wortlautgrenze des gesetzlichen Ausdrucks χ überschreitet oder nicht", wobei sowohl die „Bedeutung" von χ wie damit auch die „Grenzen seiner Bedeutung" als im Prinzip gegeben, vorhanden, als lexikalisch beweisbar unterstellt werden, soUte realistisch gefragt werden: Ist - bei vollständiger Heranziehung aUer Konkretisierungselemente, der Sprachdaten und Realdaten dieses FaUes - das vorgeschlagene Ergebnis dem einschlägigen Normtext bzw. den einschlägigen Normtexten noch methodisch plausibel zurechenbar oder nicht? Die vertretbare Begründung für das Ergebnis liegt in dem gesamten Arbeitsvorgang, weshalb seine Vollständigkeit und seine ehrliche Darstellung auch so wichtig sind; und nicht in einer dem Normtextausdruck χ aufgepfropften „Eigenschaft" (sc. von „Bedeutung" und ,3edeutungsgrenze"). Nur so bleiben die Normtexte des geltenden Rechts „verschont von Forderungen, die in der Sprache nicht einzulösen sind und sich an anderen objektiven oder subjektiven Größen des Rechtsfindungsprozesses abzuarbeiten hätten".7 Die Strukturierende Methodik schlägt also nicht nur vor, die polarisierenden Dualismen Sein/Sollen, Norm/Fall, Norm/Wirklichkeit, die Vorstellung von Rechts,,anwendung" als Subsumtion und Syllogismus, die von Konkretisierung als dem Konkretermachen einer im Gesetzbuch bereits vorhandenen Norm sowie andere Eibstücke aus der Geschichte der Rechtswissenschaft zu verabschieden; sondern auch das überkommene Konzept einer Wortlautgrenze, bei der dem Normtext eine vorgegeben begrenzende Kraft sei es naturhaft mit der Sprache, sei es sozial durch „den" Sprachgebrauch, sei es autoritär durch die Expertise der Sprachwissenschaft zuweisbar wäre.

3.1.2 Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt Ebenso wie die Sprache ist auch die Methodik mit der Aufgabe überfordert, dem juristischen Handeln eine Grenze vorzugeben. Schon die Methodenlehre selbst und die von ihr angezielte Grenze ist alles andere als einheitlich. Während die subjektive Lehre den Willen des Gesetzgebers als Bezugspunkt und Grenze juristischer Auslegung bestimmt, betont die objektive Lehre an dieser Stelle den WUlen des Gesetzes. Die objektive Lehre kann in der Kritik ihres Widerparts dartun, daß der gesetzgeberische Wille mit der Objektivierung zum Text die vorausgesetzte Selbstidentität verliert und in den unendlichen Verweisungszusammenhang der Sprache hineingerissen wird. Der Wille des Ge7

So Gast, Besprechung von F. Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1990, in: ARSP, 1991, S. 556.

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setzgebers taugt nicht als stabile und mit sich selbst identische Grundlage der Auslegung. Umgekehrt kann die subjektive Lehre dartun, daß dem nicht beendbaren Verweisungszusammenhang der Sprache im Rahmen der objektiven Lehre nur mit Hilfe einer verschwiegenen Autorität Eindeutigkeit zugewiesen werden kann: erst „die Rechtsidee" als vorausgesetztes Sinnzentrum des juristischen Diskurses macht aus der Sprache ein System beherrschbarer Oppositionen und verschafft damit wieder die für die Auslegung vorgeblich erforderliche objektive Grundlage. Beide Positionen haben in der Kritik ihres jeweiligen Gegners natürlich recht: der Wille kann die Sprache nicht von außen kontrollieren, und die Rechtsidee ist ein verschwiegenes Subjekt. Aber die eigenen Voraussetzungen beider Schulen sind unzureichend. Daraus zieht eine Vielfalt kombinierter Lehren die beschwingte Folgerung, zwei falsche Auffassungen zu einerrichtigenzu verbinden. Zu diesem Zweck wird das Prinzip der Autorschaft zu dem Prinzip der Kommentierung einfach addiert; denn man braucht einen Beurteilungsmaßstab dafür, ob die Auslegung ihren Gegenstand nun trifft oder verfehlt. Die volle und mit sich identische Bedeutung des konkreten Sprechakts soll also der Auslegung fortan eine substantielle Grundlage verschaffen. Garantiert wird sie hier nicht mehr durch einen vorsprachlichen Willen, auch nicht mehr durch das Sprachsystem oder den objektiven Geist, sondern sie entsteht als das Ergebnis einer additiven Verbindung von Sprache und gesetzgeberischem Willen. Diese situationsbezogene Bedeutung sei durch die Sprache und die Absichten des Autors ein für allemal festgelegt und stelle somit einen soliden Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung dar. Neben der grammatischen sei damit die genetische Auslegung die entscheidende Erkenntnisinstanz für den vorgegebenen „Inhalt" des Gesetzes, und das vom Gesetzgeber „Gewollte" könne neben dem „Gesagten" die Reichweite des Gesetzesbindungspostulats bestimmen.8 Die geschilderte Kombination von subjektiver und objektiver Auslegungslehre scheint zunächst Vorteile zu bieten. Denn sie behauptet weder, daß allein die Sprache des Gesetzes, noch daß allein der Wille des Gesetzgebers die Bedeutung des Normtextes bestimme. Aber sie führt aus den ungelösten Aporien 8

So Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff u. 210 ff; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 289 ff; Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat, 1980, S. 73 ff u. 100 f; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 294 f. *

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der traditionellen Lehre nicht heraus. Sie verteilt diese Aporien bloß gerecht auf zwei Seiten. Der Fehler liegt schon in der Gegenüberstellung von „Gesagtem" und „GewoUtem", als seien dies getrennte Größen, welche schlicht zusammengezählt die Bedeutung des Gesetzes ergäben. Tatsächlich läßt sich weder das „Gesagte" unabhängig vom „GewoUten" verstehen, noch umgekehrt das „Gewollte" unabhängig vom „Gesagten" erkennen oder formulieren. Statt einer Addition müßte untersucht werden, wie beide Größen im Sprechen beziehungsweise im Verstehen konkret miteinander verbunden sind. Die äußere Kombination von subjektiver und objektiver Lehre summiert demgegenüber gerade die unbeantworteten Probleme rein sprachlicher und rein auktorialer Bedeutungskonzeptionen. Damit reproduziert sich das Scheitern der alten Schule auf einer neuen Ebene. Die „vermittelnden" Lehren stehen für eine Haltung, welche Ernst Bloch am Beispiel eines kompromißbereiten Engländers beschreibt. Auf die Frage, ob die Seele sterblich oder unsterblich sei, antwortet dieser, die Wahrheit liege in der Mitte. Auf diese Mitte zielen auch die Versuche im Rahmen der klassischen Auslegungslehre, die Sinnstiftung mehr oder weniger „ausgewogen" zwischen Text und Autor aufzuteilen. Aber es gibt zwischen Intention und Konvention keinen Mittelweg, solange man die aktive Rolle des Interpreten und die realen Vorgänge der semantischen Praxis ausklammern möchte. Die Schwierigkeiten der überkommenen Auslegungslehre sind nicht zuletzt sprachtheoretischer Natur. Eine feste Grundlage könnte man der Auslegung nur dann verschaffen, wenn es gelänge die Sprache des Gesetzes zu einem System stabiler Oppositionen einzufrieren. Dazu müßte man einen dem Spiel sprachlicher Differenzen entzogenen Punkt angeben können, von dem aus man über die Sprache urteilt. Dieser Punkt, ob Gesetzgeber oder Rechtsidee, ist aber, sobald er nur benannt wird, immer schon im Spiel. Es gibt einfach keine Natur des Erkenntnisgegenstandes Text, die das Verstehen bestimmen und ihm eine Grenze vorgeben könnte. Auch die „Natur" des Textes ist uns nur als Text gegeben und selbst der Auslegung unterworfen, statt ihr vorgeordnet zu sein. Der Text erscheint, in solchem Licht, als heterogenes „Gewebe von Differenzen". Er ist nach dem „Außen" nicht abschirmbar, weshalb es sein Draußen nicht gibt, das ein außertextliches, dem Spiel der Differenzen ein für alle Mal entrücktes Draußen wäre. Also gibt es auch keinen „eigentlichen" oder „ursprünglichen" Sinn, weder den einen Ursprung des Textes noch seine eine Wahrheit. Nichts im, nichts am Text ist dem Spiel der Differenzen entrückt; nichts kann diesem Spiel durch einen Gewaltakt des Autors oder durch den

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einer kommentierenden, „auslegenden", verkündenden Autorität im Rahmen des textlich-schriftlichen Diskurses entzogen werden. Alle bisherige Überlieferung der Metaphysik und der Ontologie hat „die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt".9 Davon heißt es Abschied nehmen. So gesehen, gibt es - eindringlich entwickelt seit Derridas Grammatologie aus dem Jahr 1967 - kein Text-Äußeres. Jeder Text ist - unentrinnbar, von der Tradition her beurteilt: unrettbar - auf andere Texte hin offen; jede Schrift bezieht sich auf andere Schriften; die Zeichen sind iterierbar, Zitate aufpfropfbar, die Kontexte nirgendwo festgemacht, nirgends endgültig zu verankern: endloses Zirkulieren von Texten. Es ist eben dies, was im engeren Rahmen des aus der Strukturierenden Rechtslehre hervorgegangenen Methodenkonzepts immer schon das „methodisch Mögliche" genannt worden war.

3.1.3 Die Grenze juristischer Textarbeit ist ihr als Praxis aufgegeben Vor dem Hintergrund der Unbegrenztheit des methodisch Möglichen hat die Normprogrammgrenze, in der Tradition: Wortlautgrenze, als Grenze etwas Gewaltsames. Warum soll das „rein" methodisch, soll das anhand der Texte und in Gestalt von Texten ins Unbegrenzte fortführbare Spiel von Argument und Gegengesichtspunkt, von Kommentartext und Gegenkommentar an einer bestimmten Stelle abgebrochen werden? Diese Stelle ergibt sich in der Tat nicht aus dem Flechtwerk der behandelten sozialen Konflikte, diese Grenze nicht aus den „Methoden". Das strukturierende Konzept hat von Anfang an klargestellt, daß es nicht um Grenzziehung in dem Sinn gehen könne, als beginne jenseits der Grenze die Unmöglichkeit weiteren Argumentierens; vielmehr gehe es um Eingrenzung gemäß dem normativen, dem demokratisch-rechtsstaatlichen Code, „noch erlaubt/nicht mehr erlaubt". Und vor der Ausarbeitung dieser Methodik wurde schon bei der Erstbegründung der Strukturierenden Rechtslehre hervorgehoben, bei der „äußerste(n) Grenze möglicher Konkretisierung gehe es um die „Grenze zulässiger (...)", um „den Bereich legitimer Konkretisierungsergebnisse".10 Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt; das Postulat der Legitimität, hier an die durch Entscheidung praktisch handelnden Juristen gerichtet, setzt Grenzen. 9

Derrida, Die Schrift und die Differenz, 1976, S. 441.

10

F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 157, 160; vgl. ferner ebenda, S. 147 ff, 155 und bei dems., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 287 ff.

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Die Barrieren, um die es hier geht, werden nicht von irgendwelchen intrinsischen Eigenschaften des Textes 11 vorgegeben, von seiner inneren Natur. Weder der Wille des Gesetzgebers noch der Wille des Gesetzes bilden eine Grenze. Denkbar ist nur die Praxis einer Grenze, ein Wille zum Gesetz. Diese Grenze ist nicht von der Sprache vorgegeben, sondern in der Sprache als Praxis einzuhalten. Was für diese Praxis einer Grenze auf der subjektiven Seite erforderlich ist, hat aus der richterlichen Innenperspektive Seibert herausgearbeitet12: kein schnelles dogmatisches Bescheidwissen, das die Stelle der Gerechtigkeit besetzt; sondern ein Hören auf die paradoxe Anforderung einer Gerechtigkeit, die vom Richter verlangt, sowohl der Besonderheit des Einzelfalls gemäß als auch regelhaft zu entscheiden.13 Doch die ethische Haltung eines von den Anforderungen der Gerechtigkeit irritierbaren Richters reicht als Kontrollinstanz allein nicht aus. Wenn der Wille zum Gesetz die dem Richter übertragene Gewalt auf sich selbst falten soll, muß diese Praxis einer Grenze mehr als eine subjektive ethische Haltung sein.14 Die gesuchte Grenze ist weder rein subjektiv noch rein objektiv dem juristischen Handeln vorgegeben. Sie liegt außerhalb von diesen Extremen als Phänomen der dritten Art. Die Grenze muß nach der Metapher des Trampelpfads in der Sprache der Juristen entstehen, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Rechtsarbeit und die Dienstpflichten der Rechtsaibeiter ernst genommen werden. Um diese Grenze zu überprüfen, muß die rechtstheoretische Analyse die Stelle sichtbar machen, an der sich die Intentionalität des Juristen in den Text des Rechts einschreiben kann. Diese als Sprachnormierung begriffene Einschreibung kann zwar keiner geschlossenen Regeldetermination unterworfen werden, aber doch einem System historisch-relativer Bindungen aus dem Rechtsstaatsprinzip und aus anderen methodenrelevanten Normen. Der Jurist ist bei seinem Tun nicht einfach frei oder lediglich einer verinnerlichten

11

Dazu aus der Sicht der Sprachphilosophie: Rorty, Der Fortschritt des Pragmatisier in: Eco , Zwischen Autor und Text, 1994, S. 99 ff, insbes. S. 104 ff. 12

Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 177 ff.

13

Vgl. Derrida , Gesetzeskraft. Der „ m y s t i s c h e Grund der Autorität", 1991, S. 47 f.

14

Vgl. Mahrenholz, Justiz - eine unabhängige Staatsgewalt, in: DRiZ, 1991, S. 432 ff, 433, Abschnitt ΠΙ.

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Rechtsethik verpflichtet. 15 Er ist an eine Ensemble von Direktiven gebunden, dessen formalisieibaren Teil die juristische Methodik untersucht und präzisiert. Damit werden die normativen Grundlagen und die tatsächliche Verfaßtheit dessen herausgearbeitet, was man als Erkenntnisregel von Recht unter rechtsstaatlichen Bedingungen bezeichnen könnte. Auf dieser Basis einer am immanenten Rationalitätsmaßstab des juristischen Sprachspiels orientierten Argumentationstheorie kann auch die Frage nach der Gesetzesbindung neu gestellt werden. Das Bindungspostulat, das traditionell dadurch gesichert werden sollte, daß man die Texttheorie einigermaßen gewaltsam auf die Bedürfhisse der Rechtfertigung juristischen Entscheidens zugeschnitten hat, verschiebt sich damit auf das spezifisch juristische Problem einer normativen Anforderung an die Arbeit der Rechtserzeugung. Der Ort, an dem die Frage nach der Gesetzesbindung gestellt werden muß, ist damit nicht eine von den Anforderungen des Positivismus diktierte Theorie sprachlicher Bedeutung, sondern die praktische semantische Tätigkeit der Juristen. An die Stelle illusionärer Bindungen, die dasrichterliche Sprechen vorab determinieren sollen, treten praktische Bindungen, die in den Vorgängen der Bedeutungszuweisung und -aushandlung den Sprachkampf um die Satzverknüpfung diskutierbar und kontrollierbar machen. Eine Gesetzesvorschrift (ein Normtext) wird nicht erlassen, um von den zur Entscheidung berufenen Juristen geisteswissenschaftlich „verstanden" zu werden. Ein Normtext wird in die Rechtswelt gesetzt, um von institutionell zuständigen, mit Staatsgewalt bewehrten Entscheidungsträgern benutzt zu werden. Normtexte schreiben sich nicht einem „hermeneutischen Universum" ein, wie es etwa Gadamer vorschwebt; sondern der rechtsstaatlichen Textstruktur aus anordnenden und rechtfertigenden Zeichenketten, durch die der Verfassungsstaat seine Gewalt nicht so sehr real konstituiert, als vielmehr rechtlich konstitutionalisiert. Das Rechtsstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Vorgabe ist eine solche Entscheidung für die Praxis einer Grenze: es verlangt vom Rechts,,anwender" dem engeren, dem spezifischeren Kontext für die Bedeutungsbestimmung den Vorrang einzuräumen. Der Widerstreit um die Durchsetzung von Wirklichkeits- und Textinterpretationen ist im Rahmen des juristischen Sprachspiels besonderen Anforderungen unterworfen. Diese, die unter den Streitenden eine gewisse „Waffengleichheit" herstellen sollen, sind verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich festgeschrieben und werden als methodische Standards von 15

F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 76.

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der Wissenschaft präzisiert.16 Unter den Vorgaben des mit dem Normtext gesetzten Textformulars und der an die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zur Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise schon viel stärker eingeschränkt und damit kontrollierbar als etwa in einem auf das politische Sprachspiel bezogenen semantischen Kampf. So wird sich unter den Bedingungen des demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats die Interpretation am besten durchsetzen lassen, die das von den textuellen Vorgaben bestimmte Gelände am einleuchtendsten zu nutzen weiß. Wenn der Text auch keine objektiv feststehende Bedeutung hat, so gibt es doch zu der verkörperten Zeichenkette eine Anzahl von „mitgebrachten Verwendungsweisen", welche alsfrüher durchgesetzte Interpretationen in Gestalt von Entscheidungen oder juristischer Dogmatik das im vorliegenden Fall neu zu findende Verständnis beeinflussen. Wer seine Interpretation des Normtextes gegen eine andere durchsetzen will, kann an diesen mitgebrachten Verwendungsweisen nicht vorbeigehen. Trotzdem haben diese Gebrauchsvarianten des Normtextes aber nicht denfraglosen Status einer substantiellen Bedeutung. In der juristischen Praxis sieht man das allein schon daran, daß sowohl Entscheidungen anderer Gerichte als auch dogmatische Aussagen nicht einfach anwendbar sind, sondern in aller Regel einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Wertung unterzogen werden müssen. Zudem können die von historisch-genetischer Auslegung und von der Dogmatik erschlossenen mitgebrachten Verwendungsweisen von den Ergebnissen der grammatisch-systematischen Auslegung verdrängt werden. Aber all diese die Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise erschwerenden Bedingungen sind nicht etwa durch die Sprache, sondern nur in der Sprache gegeben. Sie sind legitimatorisehe Standards eines bestimmten Sprachspiels (des rechtsstaatlichen) und keine Vorgaben, die linguistisch schon mit der Sprache selbst gesetzt wären. Im Ergebnis muß man das Verhältnis von Textbedeutung und juristischer Arbeit sprachwissenschaftlich in den Kategorien einer „kompetitiven Semantik" ausdrücken: Das juristische Handeln setzt die Textbedeutung in einem semantischen Kampf durch. Dieses Durchsetzen wird durch besondere Bedingungen erschwert, die sich als legitimatorische Standards aus den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das juristische Sprachspiel ergeben. 16

Zur Kritik an der Möglichkeit, Verfassungsnonnen als sprachspielimmanente Maßstäbe heranzuziehen, vgl. Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 59 ff. Für ausführlichere Diskussion fehlt hier der Raum; zu dieser F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997 (in Vorbereitung).

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Man muß daher die Frage nach der Grenze dieser Auslegungstätigkeit neu stellen. Entgegen der herkömmlichen juristischen Illusion einer lexikalischen Wortlautgrenze wird die Durchsetzung einer bestimmten Textinterpretation nicht von Grenzen erschwert, welche durch die Sprache selbst vorgegeben wären, sondern allein durch solche, die in der Sprache zu errichten sind. Erst als praktische Bindungen innerhalb der Sprache können die Vorgaben richterlichen Handelns eingefordert werden. Aus der Verbindung methodenbezogener Normen des Verfassungsrechts mit der Analyse der Normstruktur läßt sich die Forderung ableiten, daß der mit der Entscheidung Betraute bei einem methodologischen Konflikt um die weitere Verknüpfung dem normtextnäheren Argument den Vorrang einzuräumen hat. Mittels einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik lassen sich kontrollierende Standards für die juristische Interpretationstätigkeit entwickeln. Es ergibt sich so eine Grenze juristischer Textarbeit als Relation zwischen drei Größen: Der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Zeichenkette muß Zurechnungsgröße der Entscheidung sein. Die von der Wissenschaft entwickelten methodischen Instrumentarien eröffnen für die Bedeutungsbestimmung Kontexte. Ausgehend von den methodenbezogenen Normen der Verfassung können diese Kontexte in eine Rangfolge gebracht werden, und gleichzeitig sorgt der Rahmen des Gerichtsverfahrens für ihre Verendlichung. Die Strukturierende Rechtslehre trifft sich damit im Ergebnis mit Debatten, die sich ganz unabhängig von ihr in anderen Textwissenschaften abgespielt haben.17 So faßt etwa Eco seine Position zu den Grenzen der Interpretation folgendermaßen zusammen: „Ich stimme zu, daß Eigenschaften, die wir (dem Text) beilegen, nicht intrinsisch, sondern relational sind. Doch wenn schon ein Naturwissenschaftler verstehen muß, daß selbst die Gravitation dreifach relational auf die Erde, die Sonne und einen Beobachter des Sonnensystems bezogen ist, dann schließt auch jede Textinterpretation drei Pole ein: (1) die lineare Textentwicklung; (2) den Leser mit seinem spezifischen Erwartungshorizont; (3) die kulturelle Enzyklopädie der jeweiligen Sprache mit den früheren Interpretationen desselben Textes. Dieser dritte Aspekt ist ganz im Sinne des verantwortlichen und konsensfähigen Urteils einer Lesergemeinschaft - oder Kultur - aufzufassen." 18

17

Vgl. dazu die Diskussion zwischen Eco und Vertretern der dekonstruktiven und pragmatistischen Ansätze in: Eco , Zwischen Autor und Text, 1994. x

* Eco, Erwiderung, in: ebenda, S. 150 ff, 154.

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Ob diese Position für andere Textwissenschaften haltbar ist, kann hier nicht entschieden werden.19 Die Standards der jeweiligen Lesergemeinschaft oder die Kunstregeln der Interpretation in der betreffenden Wissenschaft neuen Lesarten normativ entgegenzuhalten, ist tatsächlich eine schwierige Vorstellung. Aber diesen Problemen ist die Jurisprudenz dann enthoben, wenn in dem methodenbezogenen Rahmen des Verfassungsrechts eine derartige Entscheidung vorliegt. Die Wortlautgrenze ist keine Grenze, die man vor der Argumentation bestimmen könnte, so durch Nachschlagen von Bedeutungsbeispielen in einem Wörterbuch. Sie entfaltet sich erst im Vorgang der praktischen Auseinandersetzung. Sie ist auch keine „innere" Eigenschaft des Textes etwa als anwesende Bedeutungssubstanz; sondern eine relationale Größe, welche die zu bearbeitende Zeichenkette in Beziehung zur betreffenden juristischen Argumentationskultur und zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Standards setzt.

3.2 Die rechtsstaatliche Textstruktur erlaubt eine praktische Kritik der Legitimität richterlicher Gewalt Die Praxis ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Zielpunkt rechtstheoretischer Reflexion. Wenn sie nicht bloße Sonntagsreden für Feierstunden bleiben wollen, müssen sich die von der Rechtstheorie vorgeschlagenen Kategorien in der Kritik wirklicher Gerichtsentscheidungen bewähren. Eine solche Kritik muß weder Philosophie noch Moral bemühen. Sie kann sich an den verfassungsrechtlichen Postulaten des Rechtsstaatsprinzips und an anderen methodenrelevanten Normen orientieren und so den Ist-Zustand praktischer Rechtsarbeit an deren verfassungsrechtlichem Soll-Zustand messen. Hier in der Praxis muß sich zeigen, auf welche Art die rechtsstaatliche Textstruktur und die zu erarbeitende künstliche Grenze juristischer Textaibeit in der Lage sind, dierichterliche Gewalt durch teilende und kontrollierende Mechanismen zu erschweren und damit einzuschränken. Dieser entscheidende Punkt fällt dabei mit der charakteristischen Schwierigkeit zusammen. Eine Kritik ist nur möglich, wenn sie der juristischen Textarbeit Grenzen ziehen kann. Aber diese sich aus der Gesetzesbindung ergebende Grenze praktischer Rechtsarbeit ist eben keine von vornherein festste19

Vgl. dazu Culler , Ein Plädoyer für die Überinterpretation, in: ebenda, S. 120 ff.

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hende Größe; sie muß parallel zum Vorgang der Argumentation selber erst konstituiert werden. Das zu diesem Zweck nötige Zusammenspiel der Konkretisierungselemente und einige der dabei möglichen Fehler werden im folgenden anhand einer von den Oberverwaltungsgerichten kontrovers entschiedenen Frage aus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht dargestellt. Dabei geht es nicht um eine von etwaigen lichten Höhen der Methodik aus erfolgende abschließende Lösung des dogmatischen Sachproblems, sondern um eine Begleitung der im Prozeß wechselseitiger dogmatischer Kritik immer schon implizit stattfindenden Selbstreflexion. Auch wenn der Ist-Zustand juristischer Dogmatik noch hinter dem von der Verfassung geforderten Soll-Zustand zurückbleibt, sind doch die Rationalitätsmaßstäbe der Dogmatik nicht von außen überzustülpen, sondern aus ihrer immanenten Zerstreuung in den praktischen Arbeitsvorgängen herauszufiltern und zu strukturieren.

3.2.1 Die Dezision mit Normtextunterstellung verletzt den gewaltenteilenden Aspekt Erst der Richter schafft die Anordnungstexte in Form von Rechtsnormen und Entscheidungsnormen. Im Ausüben seinerrichterlichen Gewalt ist er aber Zwängen ausgesetzt. Er muß in einem Rechtfertigungstext darlegen, daß die von ihm formulierten Texte den vom Gesetzgeber erlassenen Normtexten als geltenden Zeichenketten zugerechnet werden können. Die sogenannten richterrechtlichen Entscheidungen weichen diesen Erschwerungen aus. Sie wollen es vermeiden, sich in die rechtsstaatliche Textstruktur einzuschreiben. Die Rechtfertigungspflichten werden dann dadurch vereinfacht, daß die Gerichte nicht nur Anordnungstexte, sondern auch den Normtext als Zurechnungstext gleich mitproduzieren. Das erleichtert gewiß die „Subsumtion". Aber dies ist genau der Vorgang, den das Rechtsstaatsprinzip vermeiden will, indem es dem Richter eine Rolle als „Gesetzgeber erster Stufe", der bereits Zurechnungstexte schafft, verwehrt. Die Usurpation der Rolle des Gesetzgebers erster Stufe wird den Gerichten oft erleichtert, gar nahegelegt, durch eine unzureichende methodische Selbstreflexion, die immer noch an den überkommenen Metaphern20 des 19. 20

Zum Risiko von Metaphern in der Jurisprudenz und zu der sie bearbeitenden Disziplin der Metapherologie Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 21 ff. Zu dem in der Rechtsprechung noch nicht überwundenen Gesetzespositivismus

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Jahrhunderts festhält. Das kommt weniger in der unmittelbar dogmatischen Entscheidungspraxis als vor allem in den sogenannten methodologischen Leitentscheidungen zum Ausdruck. Wie bei allen sprachlichen Aktivitäten ist das reflexive Wissen auch hier niemals vollkommen auf der Höhe des praktischen Könnens. Aber in diesen Leitentscheidungen ist der Abstand unnötig groß. Das Bundesverfassungsgericht etwa beschreibt Tätigkeit und Aufgabe des Richters folgendermaßen: „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren."21 Zurecht wird hier gesagt, daßrichterliche Tätigkeit nicht Entscheidungen des Gesetzgebers erster Stufe bloß erkennt und ausspricht. Die unnötige Verbeugung vor dem 19. Jahrhundert liegt jedoch in der Einschränkung „nicht nur". Es wird so getan, als gebe es Entscheidungen des Gesetzgebers, die der Richter auf den Fall nur anzuwenden und bekanntzugeben habe; erst wenn eine solche Entscheidung nicht im Gesetzestext nachweisbar sei, beginne die aktive und willenhafte Komponenterichterlicher Tätigkeit. Der Richter soll also erst sprechen dürfen, wenn der Normtext schweigt. Wenn er dann aber spricht, ist er als Richter nicht mehr an das Gesetz, sondern nur noch an luftige Rechtsprinzipien gebunden, die er dann wie ein Legislativorgan heranzieht und zu einem Normtext formuliert. Diese Zweiweltenlehre ist offenkundig unrealistisch. Der Normtext ist niemals ein Behälter für vorfabrizierte kleine Fallentscheidungen des Gesetzgebers. Die normative Entscheidung muß notwendig und immer der Richter treffen. Denn der Gesetzgeber liefert ihm nur „geltende" Zeichenketten, allenfalls ergänzt durch die mitgebrachten Verwendungsweisen. Das aktive, das „willenhafte" Momentrichterlicher Tätigkeit ist nicht ein besonders zu erklärender Ausnahmefall in derrichterlichen Tätigkeit, sondern ihr notwendiger und unvermeidlicher Regelinhalt. Es gibt stets wesentlich mehr an gewolltem Handeln in einer gerichtlichen Entscheidung, als das Bundesverfassungsgericht hier zugeben will. Es gibt aber andererseits mit den geltenden RechtferBerkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten auf der Suche nach Funktion und Methodik, in: DVB1,1996, S. 1028 ff, 1032. 21

BVerfGE 34,269 ff, 292 („Soraya").

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tigungszwängen auch wesentlich mehr Bindungen, als es die Theorie des Richterrechts wahr haben möchte.22 Nicht nur der Umfang der schöpferischen Tätigkeit des Richters, sondern auch der Umfang seiner Bindung wird von dieser traditionellen Theorie zu gering eingeschätzt. Die geschilderte Kombination von Schamhaftigkeit hinsichtlich des Eigenanteils und Unverschämtheit bezüglich der zu beachtenden Bindungen in der „Soraya"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zum Glück nicht der alltägliche Normalfall richterlichen Vorgehens. Andererseits kommen aber die sogenanntenrichterrechtlichen Entscheidungen, die selber Normtexte formulieren, nicht nur bei den Obergerichten vor. Und sie treten auch nicht immer so spektakulär und offen auf, wie beim Reichsgericht in seiner bekannten Entscheidung zur Sphärentheorie beim Straßenbahnerstreik: „Man darf aber, um zu einer befriedigenden Lösung des Streits zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, muß vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen (...) Dieses aus den sozialen Verhältnissen gewonnene Ergebnis läßt sich auch ohne Schwierigkeiten den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs einfügen."23 Richterrecht als Dezision durch Normtextunterstellung kommt vielmehr auch bei den mittleren Instanzen und in vergleichsweise unauffälliger Einkleidung vor. Als Beispiel wird hier eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim zum Prüfungsrecht 24 herangezogen. Sie macht nicht nur die Struktur des 22

Zur Theorie des Richterrechts vgl. als Ausdruck der herkömmlichen Auffassungen Ossenbühl in: Isensee / Kirchhof (Hg.) t Handbuch des Staatsrechts ΙΠ, 1988, § 61 Rn. 38,41; Stern Staatsrecht Π, 1980, § 37 Abs. 2; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 233 f; Wank, Grenzenrichterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 239 f. 23

RGZ 106,272 ff - Zu den im Text folgenden Typen von Dezision F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 19 ff, 24 ff, 44 ff. 24 Seit 1991 ist die Rechtsprechung zum Prüfungsrecht in Bewegung geraten. Früher wurde bei Prüfungen ein Beurteilungsspielraum anerkannt; und überprüfbar war nur, ob die Prüfungskommission von richtigen Tatsachen ausging, das richtige Verfahren eingehalten hat, richtige Bewertungsmaßstäbe heranzog und keine sachwidrigen Motive hatte. Damit waren die sachlichen Bewertungsmaßstäbe weitgehend der Kritik entzogen und die Prüfung insoweit ein Bereich staatlicher Willkür. Mit zwei grundlegenden Entscheidungen von 1991 hat das Bundesverfassungsgericht hier den Beurteilungsspielraum der Prüfungskommissionen eingeschränkt: Dieser Spielraum beruht nicht auf besonderer Sachkunde, sondern ergibt sich aus dem Grundsatz der Chancengleichheit. Mit dem Wechsel der Grundlage ist auch eine Ausdehnung der Nachprüfung verbunden. Die absoluten Maßstäbe fachlicher Richtigkeit können von den Gerichten voll überprüft werden. Nur die relative Richtigkeit, das heißt die Bewertung der Einzelarbeit im Feld der Gesamtkandidaten, ist einer vollständigen Kontrolle durch

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Richterrechts als Dezision durch Normtextunterstellung deutlich, sondern zeigt zugleich in ihrer Folge mit der Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die sie provozierte, die Selbstreinigungskräfte innerhalb des Justizsystems. Bei dem Fall, der dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim als Berufungsinstanz vorlag, handelte es sich um eine Klage gegen eine Prüfungsentscheidung im ersten juristischen Staatsexamen25. Die Klägerin war als Wiederholerin zum zweiten Mal durchgefaüen und machte geltend, eine erhebliche Störung durch Baulärm sei nicht durch Verlängerung der Bearbeitungszeit ausgeglichen worden. Der Verwaltungsgerichtshof gab der Klage teilweise statt. Mangels einer ausdrücklichen Regelung dieser Frage in der Prüfungsordnimg des Landes Baden-Württemberg fühlte sich der Verwaltungsgerichtshof Mannheim losgelöst von jeder Bindung, schwang sich zum Gesetzgeber erster Stufe auf und erschuf einen Normtext: „Danach sind erhebliche Lärmstörungen das sind (...) Störungen, die hinsichtlich ihrer Dauer mindestens 1 % der Beaibeitungszeit erreichen, bei einer fünfstündigen Aufsichtsarbeit also mindestens 3 Minuten - im Verhältnis 2 : 1 auszugleichen, sofern noch eine Restnutzung der gestörten Bearbeitungszeit möglich ist; kommt eine Restnutzung nicht in Betracht - etwa bei ohrenbetäubendem Lärm -, muß (...) die Dauer der Störung im Verhältnis 1 : 1 ausgeglichen werden."26 Das Bundesverwaltungsgericht sagt in seiner Revisionsentscheidung zu Recht, daß die Gewaltenteilung ein Gericht zwingt, seine Anordnungstexte vom Gesetzgeber geschaffenen Normtexten zuzurechnen, statt selbst solche Texte zu schaffen. Sonst würde nicht nur der Gesetzgeber aus seiner Rolle verdrängt, sondern auch die das Gericht, dem ja nur eine Arbeit vorliegt, entzogen. Das ist für das Prüfungsrecht ein großer Fortschritt. - Die einzelnen Probleme des Beurteilungsspielraums müssen hier ausgeklammert bleiben. Hingewiesen sei nur auf die wichtigen Urteile: BVerjG in NJW 1991, S. 205 ff= NVwZ 1991, 869 L undNJW 1991,2008 ff = NVwZ 1991, 870 L. Die Stellungnahmen in der Literatur haben zum Teil aufgrund der Ausdehnung der Prüfungskompetenz der Gerichte einen Untergang des Rechtsstaats vorhergesagt. Dieser ist bisher aUerdings noch nicht eingetreten. Vgl. statt vieler Sendler, Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Anforderungen an die verwaltungsgerichtliche KontroUdichte, in: DVB1. 1994, S. 1089 ff; Herzog, Verfassung und Verwaltungsgerichte - Zurück zu mehr KontroUdichte? in: NJW 1992, S. 2601 ff; Gusy, Prüfungsentscheidungen vor Gericht in: Jura 1991, S. 633 ff; Mutius / K. Sperlich, Prüfungen auf dem Prüfstand, in: DÖV 1993, S. 45 ff. 25

Vgl. dazu Verwaltungsgerichtshof 1990, 546. 26

Vgl. Bundesverwaltungsgericht

Mannheim in: BWVB1. 1990, S. 268 = DVB1. in: NJW 1991, S. 42 ff, 42.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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der richterlichen Gewalt auferlegten Rechtfertigungspflichten würden zur Farce. Die Literatur verkennt dagegen die funktionale Rolle von Gesetzgeber und Rechtsprechung, wenn sie formuliert: „In einer vom Vorrang der Verfassung geprägten Rechtsordnung hat die Bildung gesetzesvertretenden Richterrechts regelmäßig durch Konkretisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben zu erfolgen. Den zuständigen Trägern der Staatsgewalt ist mithin auch die Befugnis zur gestaltenden Entwicklung unmittelbar verfassungsabgeleiteter Maßstäbe zugewiesen. Der vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Gründung auf gesetzlich vorgeprägte Wertungen bedarf es insoweit nicht."27 Die Rechtsprechung ist zur Verfassungskonkretisierung selbstverständlich befugt, wenn sie etwa im Rahmen der systematischen Auslegung Verfassungsnormen heranzieht und interpretieren muß. Von ihrer funktionalen Rolle her kann sie dagegen niemals Verfassungsnormen oder -prinzipien zu Normtexten umformulieren. Diese Rolle ist dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbehalten. Bei der Dezision durch Rechtsunterstellung verstößt der Richter also gegen die Teilung der Gewalt zwischen Gesetzgeber und Justiz, indem er sich durch Normtextsetzung an die Stelle der Legislative setzt und damit ferner die der Gewaltenteilung entsprechende Abschwächung seiner Gewalt durch Rechtfertigungszwänge illusorisch macht. Bei der im folgenden darzustellenden Dezision durch Rechtsverbiegung geht es dagegen nicht um die Textverteilung zwischen Gesetzgeber und Justiz, also um den gewaltenteilenden Aspekt, sondern um die checks and balances oder das gewaltenkontrollierende Moment. Bei einer solchen Entscheidung rechnet der Richter seinen Anordnungstext dem vom Gesetzgeber erster Stufe geschaffenen Normtext zwar zu, aber er verletzt die Standards zur Überprüfung dieser Zurechnung. Seine Argumentation zur Begründung des Zusammenhangs von Anordnungstext und Zurechnungstext bleibt hinter dem Stand der Methodenkultur zurück, kann nicht als lege artis gelten.

27

Vgl. Scherzberg, Behördliche Entscheidungsprärogativen im Prüfungsverfahren?, in: NVwZ 1992, S. 31 ff, 32.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats 3.2.2 Die Dezision durch Rechtsverbiegung verletzt den gewaltenkontrollierenden Aspekt

Die beiden hierzu analysierten Entscheidungen betreffen die Frage, ob die Verweisung in § 80 a ΠΙ 2 auf § 80 V bis V m der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als Rechtsgrund- oder als Rechtsfolgenverweis zu verstehen ist. In Rechtsprechung und Literatur konzentriert sich der Streit auf die entsprechende Anwendung des § 80 VI. 2 8 Danach ist bei Verwaltungsakten im Zwei28

Als Rechtsgrundverweis sehen § 80 a m 2 z.B. an: Schönfelder, VB1BW 1993, 287 ff m.N.; OVG Bremen, NVwZ 1993, 592 f; Hess. VGH, DVB1 1992, 45; OVG Rh.Pf, DVB1 1992, 1298; Kopp, VwGO, § 80 a Rz 21 m.w.N.; Schenke, S.253. Für Rechtsfolgenveiweis etwa: Nds. OVG, DVB1 93,123 f = NVwZ 1993, 592; Heberlein, Bay VB1 1993, 743 ff m.N.; Schmaltz , DVB1 1992, 234. - Der von den untersuchten Entscheidungen betroffene Normtext §§ 80, 80a VwGO lautet: „§ 80 (Beschränkter Suspensiveffekt). (1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, 2. bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, 3. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen, 4. in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird. (3) In den Fällen das Absatzes 2 Nr. 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft. (4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. (5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 bis 3 ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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personenverhältnis, welche die Forderung von öffentlichen Abgaben und Kosten betreffen, ein Antrag an das Verwaltungsgericht der Hauptsache nach § 80 V „nur zulässig", wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Wäre § 80 a ΙΠ 2 als Rechtsgrundverweis aufzufassen, so wäre der Vorrang der Behördenentscheidung gem. § 80 VI 1 auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung auf die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten beschränkt. Im Fall eines

schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden. (6) In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn 1. die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder 2. eine Vollstreckung droht. (7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. (8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden. § 80a (Rechte eines Dritten). (1) Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt ein, kann die Behörde 1. auf Antrag des Begünstigten nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 die sofortige Vollziehung anordnen, 2. auf Antrag des Dritten nach 80 Abs. 4 die Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen. (2) Legt ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten belastenden Verwaltungsakt, der einen Dritten begünstigt, einen Rechtsbehelf ein, kann die Behörde auf Antrag des Dritten nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 die sofortige Vollziehung anordnen. (3) Das Gericht kann auf Antrag Maßnahmen nach den Absatzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen. § 80 Abs. 5 bis 8 gilt entsprechend." Inzwischen sind laut Sartorius aktuell, 52. EL, Ziffer 12 folgende Normtextänderungen mit Wirkung ab dem 1.1.1997 vorgenommen: „§80 Abs. 2 wird wie folgt geändert: a) Der bisherige Wortlaut Satz 1 und in Nummer 3 wie folgt gefaßt: '3. In anderen durch Bundesgesetz oder für das Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,", b) Es wird folgender Satz 2 angefügt: 'Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.'" Diese Änderungen betreffen nicht den vorliegenden Text. 10 Müller u. a.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Rechtsfolgenverweises gälte der Vorrang grundsätzlich für alle Verwaltungsakte. Die Streitfrage, ob die entsprechende Anwendung des § 80 VI kraft der Verweisungsnorm des § 80 a ΠΙ 2 beim Verwaltungsakt mit Doppelwiikung stets den Vorrang der Behördenentscheidung zur Folge habe, wird im Schrifttum nach der typischen juristischen Meinungstrias teils strikt bejaht, Rechtsfolgenverweis, teils verneint, Rechtsgrundverweis, und teilweise differenzierend betrachtet. Nach der zuletzt genannten Ansicht soll danach unterschieden werden, ob der Wegfell der aufschiebenden Wirkung i.S.d. § 80 I kraft Gesetzes oder kraft Vollziehungsanordnung ausgelöst wird.29 Nur dann, wenn der Verwaltungsakt kraft Gesetzes (§ 80 Π Nr.2, 3) sofort vollziehbar ist, habe die vorgängige Behördenentscheidung überhaupt einen Sinn. In diesem Fall könne die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 a ΙΠ 2 i.V.m. § 80 VI 1 erst dann in zulässiger Weise vom Gericht begehrt werden, wenn ein Antrag bei der Verwaltungsbehörde nach § 80 a I Nr.2 erfolglos geblieben sei. Im Fall der sofortigen Vollziehungsanordnung nach § 80 II Nr.4 habe die Behörde bereits eine exekutivische Interessenabwägung vorgenommen, weshalb eine andere interimistische Regelung zu treffen nunmehr die Aufgabe des Gerichts sei. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg geht in seinem Beschluß vom 21.5.199230 demgegenüber von einer Rechtsfolgenverweisung aus: „Der vorläufige Rechtsschutz im Bereich der Verwaltungsakte mit Doppelwirkung ist nunmehr in § 80 a VwGO geregelt. Diese Vorschrift sieht zunächst in ihrem Absatz 1 Nr.l vor, daß die Behörde auf Antrag des Begünstigten nach § 80 II Nr.4 VwGO die sofortige Vollziehung anordnen kann, wenn ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den den Dritten begünstigenden Verwaltungsakt einlegt und diesem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommt. Fehlt es andererseits an diesem Suspensiveffekt (so im Fall des § 10 BauGBMaßnG), so kann nach Abs.l Nr.2 die Behörde auf Antrag des Dritten die Vollziehung gem. § 80 IV VwGO aussetzen und einstweilige Maßnahmen treffen. Nach § 80 a III VwGO kann das Gericht 'Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 aufheben oder solche Maßnahmen treffen. 9 Durch diese Regelungen wird dem Bauherrn - und im Prinzip auch dem Dritten - keine Wahlmöglichkeit zwischen dem Antrag bei der Behörde oder 29

Ausführlich zu weiteren differenzierenden Auffassungen, vgl. Schönfelder, VB1BW 1993,287 f. m.N. 30

OVG Lüneburg, NVwZ 1993, 592.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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bei dem Gericht eingeräumt, die Vollziehbarkeit der durch den Drittwiderspruch suspendierten Baugenehmigung wieder zu erlangen oder, im umgekehrten Fall, die aufschiebende Wirkung des Widerspruches des Nachbarn herzustellen (so für den Fall des Antrages des Nachbarn aber VGH Kassel, DVB1 1992, 45)." Das Oberverwaltungsgericht nimmt hier - im Urteilsstil das Ergebnis der Auslegung vorweg: daß keine Wahlmöglichkeit bestehe, bedeutet, daß der Behördenantrag bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung stets vorrangig ist. Folglich handelt es sich nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts bei § 80 a III 2 um einen Rechtsfolgenverweis. Es fuhrt dann weiter aus: „Eine derartige Wahlmöglichkeit würde nicht nur dem Zweck des Vierten Gesetzes zur Änderung der VwGO vom 17.12.1990 (BGBl 1990, 2809), eine Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu bewirken, zuwiderlaufen." Zur Begründung der Variante „Rechtsfolgenverweis" stützt sich das Gericht also zunächst auf teleologische Gesichtspunkte. Der Zweck des 4. VwGOÄndG, die Entlastung der Verwaltungsgerichte, wird ohne nähere Begründung benannt. Diese knappe teleologische Bemerkung ist methodisch so allerdings nicht überzeugend. Denn zum einen wird der Zweck des 4.VwGOÄndG nicht in Beziehung zur Auslegung des § 80 a III 2 gesetzt; eine Verknüpfung, die zum Verständnis dieses Arguments notwendig wäre, unterbleibt. Wie dargestellt, ist der Zweck des 4.VwGOÄndG (verwaltungsinterne Selbstkontrolle und Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit) im Hinblick auf den Vorrang der Behördenentscheidung durch den deutlichen Normtext des § 80 VI auf Abgaben- und Kostenverwaltungsakte begrenzt. Daß diese Begrenzung bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung aufgrund teleologischer Gesichtspunkte aufgelöst werden müsse, überzeugt nicht. Zum anderen wird der teleologische Gesichtspunkt nicht durch weitere Konkretisierungselemente bestätigt. Die teleologische Auslegung muß indes als nicht-normtextbezogenes Element aus den genannten rechtsstaatlichen Gründen weiter abgesichert werden können, sonst stünde sie in der subjektiven Beliebigkeit des Interpreten. Auch aus diesem Grund ist die teleologische Argumentation des Oberverwaltungsgerichts unbrauchbar. Als weiteres Argument führt das Gericht aus, eine Auslegung als Rechtsgrundverweisung „stünde auch dem Gesetzeswortlaut entgegen. § 80 a ΙΠ 2 VwGO verweist u.a. auf § 80 VI VwGO, nach dem in Fällen der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten die Zulässigkeit des Antrages auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe davon abhängt, daß die Behörde zuvor einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder 1*

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

zum Teil abgelehnt hat. Die Anwendung dieser Vorschrift auf Verwaltungsakte mit Doppelwirkung ist unabweisbar." Anschließend versucht sich das Gericht in grammatischer Auslegung: § 80 a ΠΙ 2 wird dabei vom Wortlaut her nicht so verstanden, daß er mit der Verweisung u.a. auf § 80 VI zwei Varianten zuläßt; worauf dann die anderen Konkretisierungselemente daraufhin zu befragen gewesen wären, welche der beiden den Vorzug verdient. Vielmehr wird § 80 a ΙΠ 2 ausschließlich als Rechtsfolgenverweisung aufgefaßt. Das Oberverwaltungsgericht hatte zwar vorher angedeutet, nach der Ansicht des VGH Kassel sei auch eine Rechtsgrundverweisung möglich. Der Gesetzeswortlaut stehe diesem Verständnis jedoch entgegen. Damit unterschlägt das Gericht, daß der Wortlaut offen und die grammatische Auslegung insofern nicht aussagekräftig ist. Dieses Vorgehen ist methodisch nicht korrekt. Daß die Anwendung des § 80 VI auf Verwaltungsakte mit Drittwirkung unabweisbar sei, ist in diesem Zusammenhang eine Leerformel. Die Anwendbarkeit steht wegen des Verweises in § 80 a ΙΠ 2 außer Frage; daraus ergibt sich aber nichts für das Problem, ob es sich um eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung handelt. Die Sicht als Rechtsfolgenverweisung, sagt das Gericht weiter, „kann nicht mit der Erwägung ausgeschlossen werden, daß § 80 VI VwGO unmittelbar nur in Abgaben- und Kostensachen des § 80 Π Nr.l VwGO gelte (so VGH Kassel, NvWZ 1993, 491 = DVB1 1992, 45)." Dabei bezieht sich das Oberverwaltungsgericht Lüneburg auf die systematische Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel, der die Rechtsgrundverweisung mit dem Wortlaut des § 80 VI begründen will. Ihm ist in diesem Punkt zuzustimmen, da der Normtext des § 80 VI für die Frage der Verweisungsart nichts hergibt. Der systematische Bezug auf den Normtext ist hier nicht aussagekräftig. Die Folgerung, die das Oberverwaltungsgericht aus dieser Kritik zieht, schießt aber weit über das Ziel hinaus: „Es handelt sich vielmehr um eine reine Rechtsfolgenverweisung, die die Rechtsordnung auch sonst kennt." Der Hinweis darauf, die Rechtsordnung kenne auch sonst Rechtsfolgenverweisungen, ist zwarrichtig,stellt indes nur einen Allgemeinplatz dar, der zur geforderten Lösung keinen aussagekräftigen Gesichtspunkt beisteuert. Wohl deswegen kommt als nächstes ein argumentum ex auctoritate: „Für eine Befassung des Gerichts gem. § 80 a ΠΙ 1 VwGO ist nach allem nur dann Raum, wenn zunächst die Behörde mit der Frage der Vollziehbarkeit befaßt worden ist (Redeker-v.Oertzen, VwGO, lO.Aufl., § 80 a Rdnr.5 Abs.2; Gros-

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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se-Suchsdorf-Schmaltz-Wiechert, NdsBauO, 5.Aufl., § 72 Rdnr. 86; Schmaltz, DVB1 1992, 230 [234]; Grosse-Hündfeld, Festschr. f. Geizer, 1991, S.303, 308; VGH München, BayVBl 1991, 723 u. VGH Mannheim, NVwZ 1991, 687, beide für den Antrag des Bauherrn)." Das bisher mit kaum aussagekräftigen Gesichtspunkten ausstaffierte Ergebnis soll also nun durch die zitierte Rechtsprechung und Literatur bekräftigt werden. Das Anhäufen gleichlaufender Meinungen kann Argumentation aber nicht ersetzen; es täuscht nicht darüber hinweg, daß sich das Gericht bis dahin mit den Konkretisierungselementen nur methodisch unzureichend beschäftigt hat. Auch die nächste Erwägung des Gerichts führt nicht näher ans Problem heran: „Die Baugenehmigungsbehörde ist keine 'Relaisstation', in der die Entscheidungslast schnell zu den Verwaltungsgerichten weitergeschaltet werden kann (Grosse-Hündfeld, S.303, 308)." Diese Formel läßt sich ebenfalls nicht im Rahmen eines Konkretisierungselements verwerten. Es mag so sein, daß der Bürger die Behörde oder die Behörde sich selbst als 'Relaisstation'31 versteht, in welcher die Aufgabe an die Verwaltungsgerichte schnell weitergereicht wird, und daß dies mit dem Sinn und Zweck des 4.VwGOÄndG (Entlastung der Gerichte und verwaltungsinterne Kontrolle) nicht zu vereinbaren ist. Daraus ergibt sich indes kein plausibles Argument für die Auslegung des § 80 a ΠΙ 2; eventuelle Auswüchse in dieser Richtung sind nämlich auch mit der Sachentscheidungsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses und der Kostennorm des § 155 V sachgerecht zu verhindern, ohne daß § 80 a III 2 als Rechtsfolgenverweis verstanden werden müßte.32 Überraschend wendet sich das Gericht dann doch noch dem kritischen Punkt der Genese der Normtexte zu: „Dieses Ergebnis steht nicht, wie der VGH Kassel (NVwZ 1993, 491 = DVB1 1992, 45) ausführt, im Widerspruch zu den Gesetzesmaterialien. Nach der Amtlichen Begründung zu § 80 a VwGO (BT-Dr L/7030, lit. Β zu Nr. 14 - § 80 a ΠΙ 4, 6) kann der Begünstigte bei der Behörde die Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Π Nr.4 VwGO beantragen und sich an das Gericht wenden, wenn die Behörde dem Antrag nicht folgt. Dem Bauherrn steht mithin kein Rechtsschutzbedürfiiis dafür zur Seite, daß das Gericht anstelle der Behörde, die dazu tatsächlich bereit ist, die sofortige Vollziehung anordnet (so zutr. VGH München, BayVBl 1991, 723). Allerdings heißt es bei der Diskussion der Änderung des § 80 VwGO (BT-Dr, wie vor, zu Nr. 13 - § 80 VwGO VII), daß eine Ausdehnung der in Absatz 6 31

Grosse-Hündfeld,

32

Vgl. Schönfelder, VB1BW 1993,292.

Festschrift für Konrad Gelzer zum 75. Geburtstag, 1991, S.308.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

getroffenen Regelung über den Bereich der Abgabenangelegenheiten hinaus nicht in Betracht komme. Diese Divergenz innerhalb der Amtlichen Begründung und dem Gesetz - § 80 a III 2 VwGO - ist aus dem Vorrang des Gesetzestextes vor den sogenannten Materialien aufzulösen." Das Oberverwaltungsgericht erkennt somit im Rahmen der genetischen Auslegung zwar an, daß der Begründungszusammenhang zwischen den Materialien zu § 80 a und § 80 VI, die beide durch das 4. VwGOÄndG eingeführt worden sind, das Auslegungsergebnis im Sinn einer Rechtsgrundverweisung bestärkt. Allerdings versucht es, diese genetische Auslegung durch zwei Argumente zu entkräften: Zum einen soll innerhalb der Amtlichen Begründung eine Divergenz bestehen. Zum anderen stehe die amtliche Begründung im Widerspruch zum Wortlaut des § 80 a ΠΙ 2, der insoweit Vorrang genieße. Zweifel bezüglich des Sinns der Amtlichen Begründung zu § 80 a bestehen aber nur hinsichtlich des Satzes: „Folgt die Behörde dem Antrag nicht, kann sich der Begünstigte an das Gericht wenden (§ 80 a Abs.3)."33 Es ist denkbar, daß diese Formulierung bedeuten soll, im Rahmen des § 80 a I Nr.l, Π solle der Begünstigte die Vollziehungsanordnung nach § 80 Π Nr.4 zunächst bei der Behörde beantragen. Diese Begründung bezieht sich jedoch nicht auf das Problem der Verweisung in § 80 a ΙΠ 2, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, in den der zitierte Satz gestellt ist. Die Amtliche Begründung führt dazu nämlich nur die verschiedenen Möglichkeiten auf, die der Dritte bzw. der Begünstigte i.S.d. § 80 a I haben. Vorher heißt es dort34: „Der Begünstigte kann, wenn er sich gegen die aufschiebende Wirkung eines Drittrechtsbehelfs wehren will, bei der Behörde beantragen, nach § 80 Abs.2 Nr.4 die sofortige Vollziehung anzuordnen. Folgt die Behörde dem Antrag, kann der Dritte die Behörde nach § 80 a Abs.l Nr.2 oder das Gericht nach § 80 Abs.5 anrufen. Folgt die Behörde dem Antrag nicht, (...)". Der letzte Satz kann sich allenfalls (wenn man ihn nicht allein als Teil der Darstellung der Rechtsschutzmöglichkeiten im Rahmen der Konstellationen des § 80 a I ansehen will) auf den Bereich des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses beziehen, wie auch das Oberverwaltungsgericht zugeben muß. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfhis ist aber eine von der Zugangsvoraussetzung in § 80 VI zu unterscheidende Sachurteilsvoraussetzung. Die wiedergegebene gesetzliche Wortwahl läßt folglich nicht den Schluß zu, § 80 a ΠΙ 2 sei als Rechtsfolgeverweisung zu verstehen. Vielmehr darf der Begründungszusammenhang zwischen der Ein33 M

BT-Drs. 11/7030, lit. Β zu Nr. 14 - § 80 a ΠΙ 4,6.

BT-Drs. 11/7030, S.25.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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führung des § 80 VI und des § 80 a III 2 nicht auseinandergerissen werden.35 Ausweislich der Begründung zu § 80 VI heißt es jedoch zu diesem, daß eine Ausdehnung der Vorschrift „über den Bereich der Abgabenangelegenheiten hinaus nicht in Betracht kommt."36 Die Materialien und damit die genetische Auslegung sprechen folglich für die Annahme eines Rechtsgrundverweises. Das erste Argument des Oberverwaltungsgerichts, die angebliche Divergenz innerhalb der Amtlichen Begründung, ist mithin nicht stichhaltig, zumal das Gericht den Zusammenhang der Amtlichen Begründung schlicht unterschlägt, um die genetische Auslegung zu entkräften. Das zweite Argument ist, methodologisch betrachtet, grundsätzlich zutreffend. Im Fall eines Konflikts zwischen den Konkretisierungselementen gebührt der grammatischen aus rechtsstaatlichen Gründen der Vorrang vor der genetischen Auslegung.37 Das gilt allerdings nur dann, wenn die grammatische Auslegung aussagekräftig ist. An diesem Punkt liegt ein inhaltlicher Fehler des Oberverwaltungsgerichts vor. Denn entgegen seiner (grammatischen) Auslegung ist der Wortlaut des § 80 a ΠΙ 2 offen und läßt beide Varianten zu. Im vorliegenden Fall besteht kein Widerspruch zwischen grammatischer und genetischer Auslegung, der zugunsten des Wortlauts aufzulösen wäre. Im Gegenteil kommt der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung des § 80 a III 2 entscheidende Bedeutung zu, da die normtextbezogenen Konkretisierungselemente, wie dargestellt, kaum aussagekräftig sind. Doch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg verläßt jetzt das Feld genetischer Interpretation und hebt ab in Richtung der Verfassung: „Die gesetzliche Regelung, die dem Bauherrn zumutet, bei Einlegung eines Widerspruches mit aufschiebender Wirkung sich zunächst bei der Baubehörde um die Anordnung des Sofortvollzuges zu bemühen, führt zu keiner mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) unvereinbaren Verzögerung. Der Eintritt des Suspensiveffekts ist nach der hinzunehmenden Grundentscheidung des Gesetzgebers auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung gewollt. Im allgemeinen wird auch mit einer sehr kurzfristigen Entscheidung der Baubehörde zu rechnen sein, da sie in dem vorangegangenen Baugenehmigungsverfahren die Sach- und Rechtslage eingehend geprüft hat. Andererseits wird die besondere Eilbedürftigkeit gegenüber einer tatsächlichen Bauausführung mit der

35

Dazu auch Schönfelder, VB1BW 1993,289.

36

BT-Drs. 11/7030, S.25.

37

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S.249 ff, 253 ff, 258.

152

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Gefahr der Herstellung vollendeter Tatsachen zum Nachteil des Nachbarn im Gesetz durchaus berücksichtigt. Denn wenn ein Nachbarwiderspruch gem. § 10 II BauGBMaßnG keine aufschiebende Wirkung hat, ist gem. § 80 a III 2 i. V.m. § 80 VI Nr.2 VwGO die unmittelbare Anrufung des VG zulässig. Denn da die Baugenehmigung nicht durch Verwaltungshandeln voüzogen wird, sondern durch deren Ausnutzung im Wege der Bauherstellung, droht dann im Sinne der genannten Vorschrift 'eine Vollstreckung', die den Weg zum VG eröffnet." Das Gericht geht hier auf die Frage der Verfassungskonformität seiner Lösung ein: die Auslegung als Rechtsfolgenverweis sei mit dem in Art. 19IV GG zum Ausdruck kommenden Gebot effektiven Rechtsschutzes vereinbar. Um beurteilen zu können, welche Wertigkeit dieser Argumentation zukommt, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, welche Stellung die verfassungskonforme Auslegung unter den Konkretisierungselementen hat. Nach diesem Grundsatz ist eine Gesetzesnorm immer so auszulegen, daß sie mit den Prinzipien der Verfassung in Einklang steht.38 Bei mehreren Möglichkeiten der Konkretisierung soll diejenige maßgeblich sein, bei der die gesetzliche Regelung mit der Verfassung konform geht. Der Grundsatz verbindet somit Normauslegung mit Normenkontrolle. Die Kontrollfunktion von Verfassungsnormen ist dabei allgemein geläufig, prozessual allerdings auf bestimmte formalisierte Verfahren beschränkt. Ebenso üblich ist das Heranziehen anderer Vorschriften zur Konkretisierung einer bestimmten Norm im Weg der systematischen Auslegung; nicht herkömmlich dagegen das Beiziehen von Verfassungsrecht zur Bestimmung des Inhalts von Gesetzesvorschriften. Daher kann der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung schwerlich als zu den bisherigen Interpretationsgesichtspunkten gleichartig hinzutretend angesehen werden. Er geht über systematische Auslegung im üblichen Sinn hinaus; und zwar insofern, als nicht formsystematisch bzw. sachsystematisch korrespondierende Verfassungsvorschriften herangezogen werden, sondern als die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des zu konkretisierenden Gesetzes mit Blick auf eine durchgehende Konformität in die Konkretisierung eingebracht werden soU. Der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung muß seinerseits methodenkonform verwendet werden: Er wird erst dann ins Spiel gebracht, wenn sich mit Hilfe aller Mittel der Konkretisierung verschiedene nebeneinander stehende Deutungsvarianten der fraglichen Vorschrift herausgestellt haben. Der Aspekt der Verfassungskonformität darf dann nur, von der Entscheidung her

38

Zum folgenden F. Müller, ebenda, S. 86ff mit Nachweisen.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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gesehen, die Ergebnisfähigkeit einzelner dieser Interpretationsmittel für abweichende Lösungsalternativen im Einzelfall beschneiden. Der Aspekt verfassungskonformer Auslegung stellt daher nicht ein eigentliches Konkretisierungskriterium dar, sondern eine Vorzugsregel für die Entscheidung zwischen verschiedenen, mit den üblichen Konkretisierungshilfen erarbeiteten alternativen Ergebnissen. Das Argument der Verfassungskonformität könnte demzufolge die „Rechtsfolgenlösung" zu § 80a ΠΙ 2 VwGO nur dann als vorzugswürdig erscheinen lassen, wenn die üblichen Konkretisierungsfaktoren beide Varianten als methodisch gleichwertig erscheinen ließen und wenn zudem allein die Rechtsfolgenlösung verfassungskonform wäre. Indes lassen die normalen Konkretisierungselemente die Auslegung des § 80 a III 2 als Rechtsgrundverweis vorzugswürdig erscheinen, da weder die normtextbezogenen Argumente, die grammatische und systematische Interpretation, noch die teleologische Interpretation aussagekräftig sind. Nach der damit entscheidenden genetischen Auslegung ist § 80 a ΙΠ 2 als Rechtsgrundverweis auf § 80 VI zu verstehen. Damit fehlt es bereits an der ersten Voraussetzung dafür, daß die verfassungskonforme Auslegung als Vorzugsregel eingreifen könnte. Aber selbst wenn man annähme, daß die üblichen Konkretisierungselemente beide Varianten zuließen, könnte der Grundsatz der Verfassungskonformität die Rechtsfolgenverweisung nur dann zum „richtigen" Auslegungsergebnis machen, wenn die Rechtsgrundverweisung im Gegensatz zur Rechtsfolgenverweisung mit verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht zu vereinbaren wäre. Bedenken gegen die Auslegung als Rechtsgrundverweisung werden in erster Linie wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Π GG) geltend gemacht. Danach sei es Aufgabe der Gerichte, die Behörden zu kontrollieren; nicht aber, deren Aufgabe selbst wahrzunehmen.39 Zudem führe der Rechtsgrundverweis dazu, daß der Bürger unmittelbar die Gerichte anrufen könnte, mit der Folge, daß diese entgegen dem Zweck des 4. VwGOÄndG unangemessen belastet würden. Eine derartige Belastung sei wiederum mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19IV GG) unvereinbar. Einerseits ist jedoch das Antragsverfahren kein Rechtsmittelverfahren gegen einen behördlichen Entscheid, das Gericht trifft vielmehr eine gemäß § 80 39

Vgl. Heberlein, BayVBl 1991, 397.

154

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

V, 80 a III 2 gesetzlich angeordnete eigene Entscheidung. Es nimmt hier keine primären Aufgaben der Behörden wahr. Eine Unvereinbarkeit mit Art.20 Π GG kann in dem Rechtsgrundverweis nicht gesehen werden.40 Andererseits ist schon vor der Novellierung der VwGO durch das 4.VwGOÄndG mittels der Sachentscheidungsvoraussetzung „Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis" gewährleistet gewesen, daß die Verwaltungsgerichte nicht unnütz in Anspruch genommen werden. Im Einzelfall kann das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, wenn der Antragsteller die Anordnung der sofortigen Vollziehung bei der Behörde schneller und einfacher hätte erreichen können41, etwa wenn die Behörde zugesichert hat, die Vollziehungsanordnung zu erlassen. Durch diese Sachentscheidungsvoraussetzung kann man dem Einzelfall besser gerecht werden, was sowohl für den Bürger im Hinblick auf das Gebot effektiven und wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) günstiger ist, als auch sachgerecht zur Entlastung der Gerichte führt: denn wenn der Vorrang der Behördenentscheidung bei allen Verwaltungsakten mit Drittwirkung nun gesetzlich normiert sein soll, kann es u.U., da die fehlende Zugangsvoraussetzung i.S.d. § 80 VI nicht nachholbar oder heilbar ist, zu einer nochmaligen Anrufung des Gerichts kommen.42 Der Vorrang der Behördenentscheidung führt daher nicht zwingend zu einer stärkeren Entlastung der Gerichte. Da diese infolge der Auslegung als Rechtsgrundverweis nicht bzw. nicht stärker als gesetzlich ohnehin vorgesehen in den Aufgabenbereich der Behörden eingreifen, ist diese Sicht mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art.20 II GG) vereinbar. Zudem ist die verfahrensrechtliche Lösung über das Allgemeine Rechtsschutzbedürfiiis für die Entlastung der Gerichte ausreichend, so daß auch im Hinblick auf Art. 19 IV GG keine Bedenken bestehen. Die Auslegung des § 80 a ΠΙ 2 als Rechtsgrundverweis ist mithin verfassungskonform. Aus diesen Gründen kann der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung hier unter keinem Gesichtspunkt dazu führen, die Annahme eines Rechtsfolgenverweises sei vorzugswürdig.

40

Ausführlich zur verfassungskonformen Auslegung in Zusammenhang mit § 80 a ΠΙ 2, Schönfelder, VB1BW 1993,290 f. 41

Vgl. Kopp, VwGO, 10.Aufl. 1994, § 80 Rz 95.

42

Schönfelder, VB1BW 1993,290.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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3.2.3 Methodenehrlichkeit verlangt, daß auch einerichtigeEntscheidung ausreichend begründet wird Dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof 43 zufolge setzt „der Antrag des Dritten auf gerichtlichen Rechtsschutz nach § 80 a Abs.3 VwGO nicht generell voraus, daß zuvor erfolglos ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gestellt worden ist. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 80 a Abs.3 Satz 1, 3.Variante VwGO, der eigenständige Maßnahmen des Gerichts vorsieht." Hier wird also zunächst im Rahmen der normtextbezogenen systematischen Interpretation die Vorschrift des § 80 a III 1, 3.Var. herangezogen, um die Verweisungsart des § 80 a ΠΙ 2 zu klären. Im Rahmen systematischer Auslegung ist dieser methodische Ansatzpunkt durchaus richtig: Ein Normtext wird verwendet, um Gesichtspunkte für das Konkretisieren eines anderen beizutragen. Hier ist es allerdings nicht die externe Systematik, sondern die normtextinterne, da ein weiterer Satz desselben Textes einbezogen wird. Damit die Heranziehung indes zusätzliche Gesichtspunkte liefern kann, muß dieser Satz selbst grammatisch interpretiert und im ganzen konkretisiert werden. Diesen für systematische Interpretation wesentlichen Schritt vollzieht der Verwaltungsgerichtshof aber nur unzureichend, indem er allein auf den Wortlaut des § 80 a ΙΠ 1, 3.Var. verweist, den Normtext also nicht insgesamt konkretisiert, als sei allein das spontane Sprachverständnis für die Umsetzung dieser Vorschrift ausreichend. Der Verwaltungsgerichtshof meint, aus der Systematik des § 80 a ΠΙ 2 VwGO in Anschluß an Satz 1 und die dortige Bezugnahme auf die Befugnis des Gerichts, „Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen" zu können, sei zu folgern, daß mit der Wortwahl „Maßnahmen treffen" eine unmittelbare Befugnis bestehe, im Dreipersonenverhältnis auch ohne vorrangige Behördenentscheidung einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Danach wäre § 80 a III 2 i. V.m. § 80 VI eine Ausnahme von dieser grundsätzlichen Befugnis und nur für die Abgaben- und Kostenverwaltungsakte vorgesehen. Fraglich ist aber bereits, ob die Vorschrift des § 80 ΠΙ 1, 3.Var. nur mit Blick auf den Vorrang einer Behördenentscheidung ausgelegt werden kann. Die durch das 4. VwGOÄndG eingeführte Befugnis des Gerichts, Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 selbst „zu treffen" könnte lediglich bedeuten, daß die Gerichte nicht mehr darauf beschränkt sein sollen, die Behörden zum 43

Η ess VGH, DVB1. 1992,45.

156

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Erlaß der Vollziehungsanordnung zu verpflichten. 44 Die Amtliche Begründung zur Einführung des § 80 a ΙΠ 1, 3.Var. bietet keine Erkenntnisse über den Zeitpunkt, also darüber, ob die Maßnahmen vom Gericht vor oder nach einer behördlichen Entscheidung getroffen werden können. Es heißt dazu nur, daß das Gericht „auch anstelle der Behörde die dort genannten Entscheidungen treffen kann."45 Die genetische Auslegung zu § 80 a ΙΠ 1, 3.Var. bestätigt also nicht, daß die Vorschrift im Zusammenhang mit dem Vorrang einer Behördenentscheidung beim Antrag nach § 80 V gesehen werden müsse. Die Vorschrift macht auch Sinn, wenn man in ihr die Erweiterung der Befugnisse des Gerichts bezüglich eines Verpflichtungstenors sieht. Die systematische Interpretation des Verwaltungsgerichtshof ist daher methodisch unzureichend; denn die Vorschrift, hier § 80 a ΠΙ 1, 3.Var., die Aufschluß über die Auslegung des § 80 a ΠΙ2 geben soll, wird hinsichtlich ihres Normprogramms nicht ausreichend konkretisiert. Das Gericht begnügt sich mit dem Hinweis auf den Wortlaut des § 80 a ΙΠ 1, 3.Var.; doch kann diese Vorschrift eben auch unabhängig von dem Problem des Vorrangs einer Behördenentscheidung konkretisiert werden. Der Wortlaut des § 80 a ΠΙ 1, 3.Var. bestätigt folglich im systematischen Bezug zu § 80 a ΠΙ 2 nicht, daß es sich um eine Rechtsgrundverweisung handele. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof bringt aber noch weitere Argumente vor: „Zudem ist das gerichtliche Verfahren nach § 80 a Abs.3 VwGO wie das nach § 80 Abs.5 VwGO kein Rechtsmittelverfahren gegen die behördliche Entscheidung; vielmehr trifft das Gericht eine eigene selbständige Entscheidung (vgl. Kopp, VwGO, 8.Aufl., § 80 Rdnr. 90 m.w.N.)." Zur Verstärkung seiner systematischen Auslegung beruft sich der Text also auf das prinzipielle Verhältnis zwischen dem behördlichen Verfahren und dem nach § 80 V VwGO. Bei dem Beschluß nach § 80 V handelt es sich um eine originäre Entscheidung des Gerichts, für die es ohne Belang ist, ob und wie ein behördlicher Bescheid ausgefallen ist.46 Das behördliche und das gerichtliche Ver-

44

Unstreitig ist, daß das Gericht selbst die sofortige Vollziehung anordnen darf; umstritten ist dagegen etwa, ob das Gericht über § 80 a ΠΙ 2 i.Vm. § 80 V 3 auch Dritte unmittelbar zur Folgenbeseitigung verpflichten kann; vgl. dazu Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, S.258 m.w.N. A5

BT-Drs. 11/7030, S.25.

46

Vgl. nur Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, S.254.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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fahren stehen grundsätzlich im Verhältnis der Alternativität nebeneinander; das Verfahren nach § 80 V ist unbestritten kein Rechtsmittelverfahren. 47 Der systematische Verweis auf die verfahrensrechtliche Stellung des gerichtlichen Antrages gegenüber der behördlichen Entscheidung nach §§ 80 a I Nr.2, IV bewirkt jedoch kein zwingendes systematisches Argument für die Verweisung in § 80 a III 2. Der Verweis gilt jedenfalls für die in § 80 VI 1 i.V.m. § 80 II Nr.l aufgeführten Abgaben- und Kostenverwaltungsakte. In diesem Fall ist der Antrag nach § 80 V nur nach einer vorgängigen Behördenentscheidung zulässig, wenn nicht die Voraussetzungen des § 80 VI 2 erfüllt sind.48 Obwohl hier das behördliche Verfahren vorgeschaltet ist, führt dies nicht dazu, daß das Gericht dann in dem Verfahren nach § 80 V diese Entscheidung zu überprüfen hätte, vielmehr trifft es wiederum eine eigene, originäre Entscheidung. § 80 VI legt nicht fest, daß das Gericht für diesen Fall zur „Rechtsmittelinstanz" im Verhältnis zur Behörde wird, es überprüft deren Entscheidung nicht. § 80 VI bedeutet mithin auch keine Ausnahme zur originären Entscheidungskompetenz des Gerichts, so daß man gegen die Annahme eines Rechtsfolgeverweises diesbezüglich nicht einmal das oft verwendete, aber wenig aussagekräftige Argument vorbringen kann, daß Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien bzw. daß der Gesetzgeber die entsprechende Anwendung einer Ausnahmevorschrift aus rechtsstaatlichen Gründen ausdrücklich und klar hätte anordnen müssen.49 „Ausnahmecharakter" hat die in Anlehnung an die für die Finanzgerichtsbarkeit geschaffene, also von vornherein nur für Abgabenfälle konzipierte Vorschrift des Art.3 § 7 EntlG nur insofern, als sie allein für Abgaben- und Kostensachen ein behördliches Vorschaltverfahren vorsieht. Ob ein behördliches Verfahren verlangt wird, ist eine Zulässigkeits- bzw. Zugangsvoraussetzung50, die von der Frage, inwieweit das 47

Vgl. Kopp, VwGO, § 80 Rz 95; § 80 a Rz 21 m.w.N.; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, S.253. 48

In Anlehnung an die Rechtsprechung im finanzgerichtlichen Verfahren zu Art.3 § 7 S.l, S.2 Nr.2 und 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungsund Finanzgerichtsbarkeit hat sich in Literatur und Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, daß die behördliche Ablehnungsentscheidung eine „Zugangsvoraussetzung" darstellt, vgl. nwRedeker/v. Oertzen, § 80 Rz 40; Schönfelder, VB1BW 1993, 287 m.w.N. in Fn 4 und 5. 49

Zur pseudo-normativen Regel ,Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen" F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 210 f. 50

Zur Auslegung des § 80 VI siehe Schönfelder, lein, BayVBl 1993, 745 f.

VB1BW 1993, 287 m.N.; Heber-

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Gericht eine eigene selbständige Entscheidung trifft, nicht abhängt. Die Tatsache, daß das Gericht im Rahmen des § 80 V keine Rechtsmittelinstanz ist, sagt deshalb nichts über das Problem aus, ob es sich bei § 80 a III 2 um eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgeverweisung handelt. Wie dargesteUt, kann auch hier der Verweis auf die eigene Entscheidungskompetenz des Gerichts keinen systematisch überzeugenden Gesichtspunkt für die Auslegung des § 80 a ΙΠ 2 liefern. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof versucht aber, seine Position noch mit einer grammatischen Auslegung zu unterfüttern: „§ 80 Abs.6 VwGO, der in den Fällen des § 80 a Abs.3 VwGO gemäß dessen Satz 2 entsprechend anzuwenden ist, gilt unmittelbar nur in den Abgaben- und Kostensachen des § 80 Abs.2 Nr.l VwGO." Das Gericht weist an dieser Stelle auf den begrenzten Regelungsbereich des § 80 VI hin, der für Abgaben- und Kostensachen gilt. Es bleibt dabei unklar, im Rahmen welchen Konkretisierungselements der Verweis auf den Normtext des § 80 VI erfolgt. Die bloße Wiederholung des Wortlauts des § 80 VI gibt für die Konkretisierung des § 80 a ΙΠ 2 nichts her. Denn daß der Wortlaut des § 80 VI seinen Anwendungsbereich auf Abgabenund Kostensachen begrenzt, bedeutet nicht, daß die Verweisung in § 80 a ΠΙ 2 gleichermaßen auf die Verwaltungsakte i.S.d. § 80 Π Nr.l beschränkt sei. Der Wortlaut des § 80 a ΙΠ 2 ist bezüglich der Frage, ob es sich um einen Rechtsgrund- oder Rechtsfolgeverweis handelt, gerade nicht aussagekräftig. Soweit in § 80 a ΠΙ 2 auf den Tatbestand des § 80 VI verwiesen wird, läßt dieser Verweis nicht erkennen, auf welchen Teil der Vorschrift sich die gesetzlich angeordnete Analogie beziehen soU. Daher könnte durchaus eine Rechtsgrundverweisung vorliegen, welche die Rechtsfolge des § 80 VI (zeitlicher Vorrang einer Behördenentscheidung) bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung auf die Abgaben- und Kostenverwaltungsakte beschränkt. Andererseits könnte sich die Verweisung aber auch lediglich auf die Rechtsfolge (Erfordernis der vorhergehenden Behördenentscheidung) beziehen, mit der Konsequenz, daß der Rechtsgrund dem § 80 a zu entnehmen ist; dies wäre dann ganz allgemein der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Die gesetzliche Analogie führt in diesem Fall dazu, daß für alle Verwaltungsakte mit Doppelwirkung das Verfahren nach § 80 V erst nach einer ablehnenden Behördenentscheidung beschritten werden kann. Weder der Wortlaut des § 80 VI noch der des § 80 a ΙΠ 2 tragen somit zur Lösung des Verweisungsproblems entscheidende Gesichtspunkte bei. Eine Bezugnahme auf § 80 VI könnte indes im Rahmen der teleologischen Auslegung, auf die der Verwaltungsgerichtshof mit keinem Wort eingeht, wei-

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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tere Gesichtspunkte zur Konkretisierung des § 80 a ΠΙ 2 beisteuern. Wenngleich das teleologische Argument dem Vorwurf der schwer kontrollierbaren Beliebigkeit ausgesetzt ist, darf es herangezogen werden, wenn die ratio mit Hilfe anderer Konkretisierungselemente ermittelt werden kann. Die Norm darf eben nicht aus dem Rechtsgefühl, dem Erkenntnisinteresse oder sonst aus der Subjektivität des Entscheidenden hervorgeholt und schlicht postuliert wer" den.51 In erster Linie wird sich der Zweck einer Norm zunächst mit Hilfe der genetischen Auslegung, d.h. mit der Untersuchung der Materialien zur Entstehungsgeschichte, formulieren lassen52. Sinn und Zweck der Zulässigkeitsvoraussetzung in der Form der vorrangigen Behördenentscheidung gem. § 80 VI 1 sind die Stärkung der verwaltungsinternen Kontrolle und die Entlastung der Gerichte, was sich mit Hilfe der Gesetzesmaterialien belegen läßt.53 Für die Auslegung des § 80 a ΠΙ 2 wird unter systematischer Berücksichtigung der ratio des § 80 VI argumentiert, daß der Fall eines Verwaltungsakts mit Doppelwirkung, der die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten zum Gegenstand hat, in der Praxis nicht vorkomme, so daß die Verweisung ohne Sinn und Zweck wäre, wenn sie nicht alle Verwaltungsakte mit Doppelwirkung erfaßte. 54 Gerade im Baurecht ergebe sich oft erst aus dem Antragsvorbringen, daß im Verwaltungsverfahren nicht hinreichend gewürdigte oder anders gewichtete Gesichtspunkte zu einer anderen Interessenbewertung führten. Nicht selten sei auch eine weitere fachliche Prüfung erforderlich, wie sie nicht unmittelbar das Gericht, wohl aber die Bauaufsichtsbehörde mit ihrem Fachpersonal und ihrer unmittelbaren Orts- und Bürgernähe leisten könne. Der Zweck des § 80 VI, die Stärkung der verwaltungsinternen Kontrolle und die Entlastung der Gerichte, könne nur über eine Rechtsfolgeverweisung in § 80 a ΠΙ 2 erreicht werden. Diese Argumentation leidet methodisch an den soeben beschriebenen Bedenken hinsichtlich der Kontrollierbarkeit der Zweckbehauptung. Der Verweisung nach § 80 a ΠΙ 2 werden Sinn und Zweck des § 80 VI derart untergeschoben, daß nur noch eine Rechtsfolgeverweisung in Betracht kommt. Ein

51

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S.83 ff, 206 ff; und Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 170 f. 52

Heberlein, BayVbl 1993, 745 f m.w.N.

53

BT-Drs. 11/7030, S.24; vgl. BayVGH, BayVBl 1992, 148; ausführlich Heberlein, BayVBl 1993,745 f; Schönfelder, VB1BW 1993,292 f (unter bb). 54

Heberlein, BayVBl 1993, 744,746.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

gesetzgeberischer Zweck wirdfrei eingeführt, ohne daß das Auslegungsergebnis mit Hilfe anderer Konkretisierungselemente gestützt werden kann. Sinn und Zweck des § 80 VI werden demgegenüber durch den Wortlaut (grammatische Auslegung) sehr deutlich über § 80 Π Nr.l auf Abgaben- und Kostenverwaltungsakte begrenzt. Zweckmäßig ist hier der Zwang zur behördlichen Selbstkontrolle bereits deswegen, weil gerade Abgabenbescheide wegen ihres umfangreichen Zahlenwerks sehr fehleranfällig sind und weil die Aufhebung eines Bescheids sämtliche Bescheide in einem Abrechnungsgebiet rechtswidrig machen kann.55 Die gesetzliche Schaffung einer derartigen Zugangsvoraussetzung entlastet auch die Gerichte, weil der Ausschluß des Suspensiveffekts gem. § 80 II Nr.l den Abgabenschuldner dazu verleiten kann, einen Rechtsbehelf einzulegen, um eine sonst nach den Abgabengesetzen nicht bestehende Stundungsmöglichkeit zu erreichen. Die Abwehr von Mißbrauch soll zunächst die Behörde vornehmen; und nicht ein Gericht, welches sich infolgedessen - entsprechend der Zielsetzung des 4.VwGOÄndG - „bedeutsamen und gewichtigen Fällen" 5 6 widmen kann. Sinn und Zweck beziehen sich im Rahmen des § 80 VI mithin nur auf die Abgaben- und Kostenangelegenheiten. Eine über den Wortlaut des § 80 VI hinausgehende teleologische Erweiterung auf alle Verwaltungsakte verstieße gegen die rechtsstaatlich gebotene Begrenzungsfunktion des Wortlauts und wäre unzulässig.57 Daß diese ratio des Gesetzes es nun notwendig mache, im Gegensatz zur deutlichen Aussage des § 80 VI den Vorrang der Behördenentscheidung bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung auf alle Verwaltungsakte auszudehnen, wird von den genannten Stimmen methodisch nicht weiter abgesichert und allein mit der ansonsten anzunehmenden praktischen Zwecklosigkeit der Regelung in § 80 a m 2 begründet. Praktische Erwägungen auf dieser Ebene sind methodisch indes keineswegs zwingend; vielmehr besteht zum Beispiel die Möglichkeit, daß es sich um eine mangelhaft durchdachte gesetzgeberische Regelung handelt.58 Zudem ist es nicht unbestritten, daß die Regelung für Verwaltungsakte mit Drittwirkung

55

Vgl. Schönfelder, VB1BW 1993,292.

56

So die allgemeine Begründung des Regierungsentwurfs zur Zielsetzung des 4. VwGOÄndG, BT-Drs. 11/7030, S.17. 57 58

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 183 ff, 192 f.

OVG Bremen, NVwZ 1993, 592 f(593): Schoch, NVwZ 1991, 1126; Hörtnagl / Stratz, VB1BW 1991, 332; Schönfelder, VB1BW 1993,291.

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praktisch sinnlos sei; etwa für den Fall, daß man den Bürger als den belasteten Adressaten, Abgaben- oder Kostenschuldner und eine juristische Person des öffentlichen Rechts als den durch den Verwaltungsakt Begünstigten, Abgabenoder Kostengläubiger, ansieht.59 Aber auch wenn die Verweisung in § 80 a ΠΙ 2 tatsächlich praktisch sinnlos wäre, ergäbe dies nur ein rechtspolitisches Argument mit Appellwirkung für eine parlamentarische Normtextbereinigung; nicht hingegen eine Möglichkeit, die reguläre methodische Albeit mit den anderen Konkretisierungselementen zu ersetzen bzw. die durch andere Konkretisierungsfaktoren noch nicht bestätigte teleologische Auslegung aussagekräftiger zu machen, als sie hier ist.60 Zu fragen ist daher, ob sich eine Notwendigkeit teleologischer Erweiterung des § 80 VI für alle Fälle von Verwaltungsakten mit Drittwirkung mit den anderen Konkretisierungsmitteln belegen läßt. Dafür kommt vor allem die genetische Auslegung in Betracht, da sich weder die grammatische noch die systematische Auslegung als besonders aussagekräftig erwiesen haben. In der Begründung des Regierungsentwurfs des 4.VwGOÄndG, durch das auch § 80 a eingeführt worden ist, heißt es zur Einführung des § 80 VI 61 : „Eine Ausdehnung der Regelung über den Bereich der Abgabenangelegenheiten hinaus kommt nicht in Betracht. Soweit die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in anderen als abgabenrechtlichen Fällen kraft Gesetzes entfällt, muß dem Bürger wegen der regelmäßig anzunehmenden besonderen Eilbedürftigkeit die unmittelbare Anrufung des Gerichts zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes möglich sein." Die Entstehungsgeschichte führt damit zu einer eindeutigen Aussage: Die in dem erstmals geschaffenen § 80 VI normierte Regelung soll auf die Abgaben- und Kostenverwaltungsakte beschränkt bleiben. Da mit § 80 VI durch das 4.VwGOÄndG auch § 80 a eingeführt worden ist und beide Normen in einem Begründungszusammenhang stehen, kann davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber mit dem Verweis des § 80 a III 2 die ausdrückliche Begrenzung des § 80 VI für Verwaltungsakte mit Drittwirkung gleichermaßen beabsichtigte. Insofern kann die genetische Auslegung die oben zur ratio der §§ 80 VI, 80 a ΠΙ 2 dargestellte Argumentation nicht bestätigen.

59

Mit Beispielen Schönfelder, VB1BW 1993,291 f.

60

Zur Rolle rechtspolitischer Gesichtspunkte in der juristischen Entscheidung siehe F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 244 ff. 61

BT-Drs. 11/7030, S.25; BR-Drs. 135/90, S.73 f.

11 Müller u.a.

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ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

Die Genese läßt nur erkennen, daß der Planungswille des Gesetzgebers dahin ging, durch Anordnen einer gesetzlichen Analogie eine Lücke für die Regelung der Verwaltungsakte mit Drittwirkung zu schließen. Schließt er indes die Lücke allein für das Abgaben- und Kostenrecht, so sieht er im Umkehrschluß keinen Regelungsbedarf und damit auch keine planwidrige Lücke für die sonstigen Verwaltungsakte mit Doppelwirkung. Ein weitergehender Zweck der Vorschrift als die Anwendung des § 80 VI in der vom Gesetzgeber beabsichtigten Begrenzung läßt sich durch weitere Konkretisierungselemente nicht ermitteln. Folglich spricht die genetische Auslegung für die Annahme eines Rechtsgrundverweises, während die teleologische Auslegung keine weitergehenden Schlüsse zuläßt. Das genetische Konkretisierungselement wird demgemäß vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof herangezogen: „Auch die entsprechende Anwendung im Rahmen des Drittschutzes, die § 80 a Abs.3 Satz 2 VwGO für die Abs.5 bis 8 des § 80 VwGO im Ganzen vorschreibt, kann nicht so verstanden werden, daß jetzt in allen Fällen des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes Dritter ein darauf gerichtetes Verfahren bei der Behörde vorausgegangen sein müsse (so aber Heberlein, BayVBl. 1991,396). Dies ergibt sich, selbst wenn man den Wortlaut des § 80 a Abs.3 Satz 2 VwGO und die Systematik des Gesetzes insoweit für mehrdeutig hält, aus der Entstehungsgeschichte, nach der eine Ausdehnung der Regelung des § 80 Abs.6 VwGO über den Bereich der Abgabenangelegenheiten hinaus ausdrücklich nicht gewollt war (vgl. Begründung des RegE zum 4. VwGO ÄndG, BT-Drucks. 11/7030, zu § 80 VwGO, S.24 f)." Ohne vorher auf die grammatische Auslegung eingegangen zu sein, räumt der Verwaltungsgerichtshof insoweit zutreffend die Möglichkeit ein, daß der Wortlaut nicht aussagekräftig ist und damit keine Lösung favorisieren kann. Für das normtextbezogene Argument ist es aUerdings methodisch sauberer, vom Wortlaut der Norm ausgehend im Rahmen der grammatischen Auslegung darzustellen, daß der Normtext selbst beide Auslegungsvarianten zuläßt. Mit der Formulierung „selbst wenn..." deutet das Gericht an, daß seine systematische Auslegung keineswegs zwingend ist; was, wie dargestellt, auch zutrifft. Im ganzen stützt das Gericht sein Auslegungsergebnis, § 80 a ΠΙ 2 als Rechtsgrundverweisung anzusehen, in erster Linie auf die genetische Auslegung. Wenngleich der Verweis auf die Entstehungsgeschichte äußerst knapp ist und die Zusammenhänge zwischen § 80 VI und § 80 a ΙΠ 2 nicht erkennen läßt, ist das Ergebnis zutreffend, da in der Tat die Entstehungsgeschichte den „Willen des Gesetzgebers" erkennen läßt, die vorrangige Behördenentscheidung auf Abgaben- und Kostenanforderungen zu beschränken.

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

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Dagegen wenden Befürworter eines Rechtsfolgeverweises ein, daß nach der „herrschenden objektiven Theorie" der Entstehungsgeschichte für die Auslegung einer Vorschrift nur insofern subsidiäre Bedeutung zukomme, als sie die Richtigkeit der nach grammatischen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkten ermittelten Auslegung bestätige.62 Nicht entscheidend sei dabei die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe. Danach dürfte der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine Begründung nicht maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte stützen. Dieser Einwand ist nicht tragfähig. Die genetische Auslegung ist nicht etwa ein anrüchiges, weniger aussagekräftiges Auslegungsmittel als die anderen klassischen canones. Nur im Fall eines Konflikts der Interpretationsaspekte untereinander gehen die Teilergebnisse der grammatischen und systematischen Interpretation denen der andern Konkretisierungselemente vor.63 Dieser Vorrang kann aber nicht methodisch mit der „objektiven Theorie" begründet werden.64 Nur wegen der rechtsstaatlichen Klarheits- und Bestimmtheitsgebote und nicht zuletzt wegen seiner demokratischen Setzung ist der Normtext der im Konfliktfall als Grenzbestimmung zulässiger Entscheidungsmöglichkeiten vorrangige Bezugspunkt der Konkretisierung.65 Der Wortlaut ist nicht das Gesetz, sondern als Eingangsdatum des Entscheidimgsvorgangs eine Vorform des Gesetzes. Es ist jedoch der Wortlaut, von dem ausgehend das als sachliche Direktive wie als normative Grenze verbindliche Normprogramm erarbeitet wird. Damit liegt im Zweifel das Schwergewicht bei den Interpretationsmitteln, die Normtexte (den der zu konkretisierenden Vorschrift wie auch die Wortlaute systematisch herangezogener Vorschriften) bearbeiten. Der Vorrang folgt aus den rechtsstaatlichen Geboten der Unverbrüchlichkeit der Verfassung, der Bindung an Gesetz und Recht, ferner aus den Geboten der Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, der Methodenklarheit, der Rechtssicherheit und der verfassungsrechtlich normierten Funktionsabgrenzung. Nur daraus erklärt sich die Schwäche der genetischen Auslegung. Sofern die Gesetzesmaterialien nämlich Gesichtspunkte liefern, tun sie das mit Hilfe sprachlicher Formulierungen, die von der des Normtextes abweichen. Zöge 62

Siehe nur Heberlein, BayVBl 1993, 745 m.w.N.

63

F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 206 f, 252 ff.

64

Zur Unbrauchbarkeit der „subjektiven" und „objektiven" Theorie siehe F. Müller, ebenda, S. 254 ff; zum Streit zwischen diesen beiden Theorien vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S.85 ff. 65

11*

Zum folgenden F. Müller, ebenda, S. 252 ff.

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man im Einzelfall das Gesetzgebungsmaterial dem gesetzlichen Wortlaut vor, so würde mit einem Nicht-Normtext gegen den Normtext entschieden. Das noch nicht verbindliche Stadium der Entstehungsgeschichte der Gesetze würde gegenüber dem nunmehr verbindlichen Stadium ihres Geltens in Gestalt eines amtlichen Normtextes bevorzugt, was aus den genannten demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen unzulässig ist. Damit ist indessen nur begründet, warum der genetische, der historische und andere nicht normtextbezogene Faktoren im Konfliktfall zurücktreten müssen. Das bedeutet dagegen keineswegs, daß für den Fall, in dem die normtextbezogenen Konkretisierungselemente keine aussagekräftigen Teilergebnisse ermitteln lassen, das Ergebnis nicht mit der Entstehungsgeschichte begründet werden könne.66 Interessanterweise stützt auch das Bundesverfassungsgericht entgegen seinem grundsätzlichen Bekenntnis zur „objektiven Theorie"67 immer wieder einmal die Entscheidung allein auf aus der Entstehungsgeschichte gewonnene Gesichtspunkte.68 Gelegentlich wird sogar deren Vorrang vor anderen Interpretationsaspekten ausgesprochen. So soll „der aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte eindeutig zu folgernde Wille des Gesetzes für eine ergänzende richterliche Auslegung keinen Raum belassen"69; einer vom Wortlaut der Norm gedeckten Auslegung „steht jedoch entscheidend die Entstehungsgeschichte der Vorschrift entgegen."70 Die Praxis des Gerichts zeigt, daß die Entstehungsgeschichte der Sache nach durchaus einer unter mehreren prinzipiell gleichwertigen Auslegungsfaktoren ist, der das Ergebnis nicht nur bestätigen, sondern auch unter den dargestellten Voraussetzungen (mit-)begründen kann.

66

F. Müller, ebenda, S. 256.

67

Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE

1,299 ff (312).

68 BVerfGE 11, 168 ff (178); Vgl. dazu F. Müller, ebenda, S. 35 ff, 38 ff, 206 ff; ausführlich zur widersprüchlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Bedeutung des genetischen Interpretation, Sachs, DVB11984,73 ff.

69 70

BVerfGE*,

BVerfGE ebenda, S. 38.

28ff (33). 58, 45 ff (57). - Weitere Beispiele aus der Judikatur bei F. Müller,

3. Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt

165

Daher ist die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichtshofs an dieser Stelle methodisch korrekt: Da die normtextbezogenen Konkretisierungselemente wenig aussagekräftig sind, kann die Entscheidung mit der deutlichen Entstehungsgeschichte begründet werden. Insgesamt zeigen sich Schwächen in allen drei besprochenen Urteilen. Weder verwerten die Gerichte alle relevanten Konkretisierungselemente, noch werden diese Elemente immer nach den Regeln der Kunst gebraucht. Auffällig sind vor allem die vorschnelle Substantialisierung des Wortlauts und die zur jeweiligen Perspektive passende Verkürzung der Gesetzessystematik. Da aber weder der grammatische noch der systematische Aspekt hier zu einem zwingenden Schluß führen, hätte der genetische Faktor den Ausschlag für ein Verständnis der fraglichen Vorschrift als Rechtsgrundverweisung geben müssen. Nicht nur am Anfang der Konkretisierung, sondern auch für das Ergebnis ist die Wortlautgrenze als Bezugspunkt der Gesetzesbindung keine fixierte Größe. Man kann potentiell immer weiter argumentieren. Die Literatur und die Judikatur werden dies auch tatsächlich tun. Wegen der Unabschließbarkeit der Argumentation einerseits und dem Entscheidungszwang andererseits bedarf es eben des beschränkten Zeithorizonts eines konkreten Verfahrens. Insoweit gehören auch die verfahrensbezogenen Verfassungsnormen, welche die Subjektqualität der Beteiligten, Waffengleichheit und Fairneß garantieren, mit zu denen, die eine fühlbare Gesetzesbindung konstituieren. Nur im wirklichen Verfahren ist die diskursive Bewegung, die über die Frage der Bedeutung zu den Maßstäben juristischer Methodik und von dort zur Verfassung und dem Problem der Gerechtigkeit führen kann, sinnvoll einzugrenzen. Deswegen läßt sich im Ergebnis jedenfalls sagen, daß nach den bisher entfalteten Argumenten dem Verständnis der hier untersuchten Vorschrift als Rechtsgrundverweisung der Vorzug zu geben ist. Ein Drehen der interpretatorischen „Schraube" kann jeweils nicht nur die Perspektive des Lesers, sondern auch die Grenze der Auslegung verschieben. Darüber wird zu reden sein, sobald diese Drehung vollzogen wird. Trotzdem bleibt die Sperrigkeit der Wörter des Normtextes als Grenze der juristischen Arbeit mit Texten wirksam; zwar nicht als substantielle, aber als eine relationale Größe. Sie entfaltet sich als Beziehung zwischen dem Normtext, seinen Kontexten und den methodenrelevanten Normen der Verfassung in jeder methodenehrlichen Rechtsarbeit.

166

ΠΙ. Die Textstruktur des Rechtsstaats

3.3 Die rechtsstaatliche Textstruktur bewirkt eine doppelte Faltung der Gewalt 3.3.1 Die Entscheidungsgewalt wird zwischen Gesetzgeber und Richter geteilt Die gewaltenteilende Rolle des Normtextes wird also erst deutlich, wenn seine „Geltung" als Zeichenkette von seiner Bedeutung als Rechtsnorm („Normativität") unterschieden wird. Am Anfang der Konkretisierung kommt dem vom Gesetzgeber verabschiedeten und in den Gesetzessammlungen veröffentlichten Normtexten nicht schon (normative) Bedeutung, sondern erst Geltung zu71 Das heißt, sie sind für den Rechtsaibeiter, als Eingangsdatum72 und Zurechnungsgröße seiner Entscheidung, im Sinn einer Dienstpflicht73 verbindlich. Die Bedeutung desfraglichen Normtextes steht dagegen erst dann fest, wenn der Rechtsarbeiter am Ende des Konkretisierungsprozesses das Textformular so weit „ausgefüllt" hat, daß er den tragenden Leitsatz der Entscheidung formuliert und damit die Rechtsnorm im Fall und für ihn hergestellt hat. Der Normtext kann mit seiner Signalwirkung74 die Konkretisierung anregen, aber er kann die normative Anweisung nicht bereits substantiell enthalten. Entgegen der positivistischen Annahme einer Subsumtion unter vorgegebene Bedeutungen kann der Text nicht das automatische Subjekt einer formallogischen Ableitung sein, sondern nur die aktive Leistung des wirklichen Subjekts beeinflussen. Mit dieser Unterscheidung von Geltung und Bedeutung des Normtextes wird auf der Achse Norm - Fall75 der komplexe Semantisierungsvorgang sichtbar, den der Positivismus hinter der rhetorischen Fassade einer vorgegebenen, vorhandenen Textbedeutung versteckt hatte. Die gewaltenteilende Grenzwirkung des vom Gesetzgeber formulierten Normtextes besteht nun darin, daß der entscheidende Richter seine Bedeutungshypothesen als Leitsätze bzw. Rechtsnormen gerade dieser Zeichenkette, und nicht etwa einer

71

Vgl. dazu F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 51,106 f.

72

Ebenda, S. 50 f., 57,116.

73

Ebenda, S. 51,71.

74

Ebenda, S. 85.

75

Vgl. dazu ebenda, S. 43 ff. Ergänzend dazu vgl. noch die Achse Norm - Wirklichkeit ebenda, S. 49.

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selbst formulierten Zeichenkette zurechnen muß. Dies ist der gewaltenteilende Aspekt, der von denrichterrechtlichen Entscheidungen (Dezision durch Normtextunterstellung) verletzt wird.

3.3.2 Die Entscheidungsgewalt kann an den methodischen und verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Rechtserzeugung kontrolliert werden Juristen arbeiten an den umstrittenen Punkten ihrer Fälle nicht nur instrumentell mit Begriffen, sondern nicht zuletzt konstitutiv an Begriffen. Gerade in diesem Bereich sind die Bindungenrichterlicher Gewalt einzufordern. Bei der Ausfüllung des Textformulars bzw. der Zuweisung von Bedeutung an die Zeichenkette müssen sich im demokratischen Rechtsstaat Einschränkungen für die Ausübung derrichterlichen Gewalt realisieren lassen. Die Bedeutungsausfüllung muß, sobald der Fluß der Rede und Gegenrede durch Streit, durch die Frage nach der Bedeutung unterbrochen wird, begründet werden. Die Begründung kann sich die Tatsache zunutze machen, daß Bedeutung kontextbezogen ist. Darin liegt ihre Chance, aber auch gleichzeitig ihre Problematik. Die Chance liegt darin, daß mit Hilfe der von der Wissenschaft bereitgestellten Auslegungungscanones Kontexte eröffnet werden können. Die grammatische Auslegung erschließt den Fach- bzw. Allgemeinsprachgebrauch, die genetische Auslegung die Materialien usw. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Kontexte für die Bedeutungsfestlegung unendlich sind und nicht unter sprachlichen Gesichtspunkten hierarchisiert werden können. Diese Schwierigkeit läßt sich also nicht mehr rein methodisch lösen. Hier bedarf es einer normativen, und das heißt auch: politischen Entscheidung, wie sie die deutsche Verfassimg mit ihren methodenrelevanten Verfassungsbestimmungen (und zusammen mit gewohnheitsrechtlichen Rechtsstaatsforderungen) getroffen hat. Die Anzahl der möglichen Verständnisvarianten des Normtextes ist weder von der Sprache noch von der Methodologie her begrenzt. Begrenzt wird sie erst durch normative Gesichtspunkte, die hier solche des Verfassungsrechts sind. Die Grundlage der herkömmlichen Wortlautgrenze liegt nicht in der Sprache der Methodologie, sondern im Verfassungsrecht. Als normative und nicht sprachlich vorgegebene Größe unterliegt sie zwar der Disposition des Verfassunggebers, aber nicht der des handelnden Rechtsarbeiters. Ob die Urteile von Gerichten Normtexten zugerechnet werden sollen und dabei an kon-

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trollieibare Standards gebunden sind oder nicht, ist eine Grundentscheidung, die allein der politische Souverän zu treffen hat. Wenn aber, wie im Fall des Grundgesetzes, eine solche Entscheidung getroffen wurde, dann definieren die hierher gehörenden methodenbezogenen Normen der Verfassung und der einfachen Gesetze einen Rahmen der Rechtskultur, der individuellem Belieben entzogen ist. Die traditionell so genannte Wortlautgrenze (richtig: Normprogrammgrenze) ist also eine komplexe Größe, die sich erst aus der Verbindung von methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts, Normtext und methodischen Standards ergibt. Der künstliche, normativ gesetzte und nicht objektiv vorgegebene Charakter dieser Grenze schließt jedoch nicht aus, daß sie im Nachprüfen und in der Kritik vonrichterlichen Entscheidungen sehr wohl Trennschärfe zu entwickeln vermag. Vor allem führt das Zusammenwirken der genannten Faktoren zum deutlichen Ausschluß von Entscheidungen, die der geltenden Normtextmenge (dem „geltenden Recht") jedenfalls nicht regulär zugerechnet werden können. Die verfassungsrechtlich angeordnete Gesetzesbindung bringt aber auch Einschränkungen für den Arbeitsvorgang der Bedeutungsausfüllung mit sich. Der Rechtsarbeiter muß - auf der Grundlage von Sachverhalt und Normtexthypothesen - zunächst die für das Faüproblem erheblichen Konkretisierungselemente überhaupt heranziehen. Dann muß er sie lege artis anwenden. Auch dabei sind ständig Fehler möglich. So darf man etwa bei der grammatischen Auslegung lexikalische Gebrauchsbeispiele nicht einfach behaupten oder sofort ins Normative wenden. Bei der genetischen Interpretation ist Vorsicht beim Benützen von Äußerungen der überstimmten Opposition geboten, beim systematischen Element darf der Zusammenhang des Gesetzes nicht vorschnell eingeschränkt werden, usw. Und schließlich muß der Rechtsarbeiter die aus den methodenrelevanten Normen der Verfassung herzuleitende Rangfolge der Argumente berücksichtigen, das heißt im methodologischen Konfliktfall dem spezifischeren Kontext für die Bedeutungsbestimmung den Vorrang einräumen. Entscheidungen, die diesen Vorgaben nicht genügen, heißen Dezision durch Rechtsverbiegung. Nicht, weil sie ein vom Gesetzgeber schon kerzengerade vorweg errichtetes Recht nachträglich verbiegen würden, sondern weil sie im Vorgang der Rechtserzeugung den methodischen und verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht geworden sind.

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3.3.3 Das Paradox der Gesetzesbindung liegt darin, daß sich dierichterliche Gewalt selbst die Hände bindet Das beunruhigendste Paradox76 liegt darin, daß gerade das, was ein diskursives Anhalten unmöglich macht - die kodifizierte Rechtsordnung als Schrift - , sowohl den Grund als auch die praktischen Maßstäbe für ein gewaltsames Anhalten (in Gestalt der unangreifbar gewordenen verbindlichen Entscheidung) liefern muß: der für den Rechtsfall zuständige Normtext, zumeist eine Mehrzahl von Vorschriften, als Text; er wird zudem seinerseits in seine für rechtlich legitime Entscheidung ausgezeichnete Rolle durch andere Normtexte des demokratischen Rechtsstaats befördert. Und nicht nur die Normtexte, auch die im Fall zu produzierenden Texte von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm wie auch die der Begründimg sind, verfassungsrechtlich vorgeschrieben, Schrift. Über sie hinaus gehen die Diskurse weiter: der Entscheidungstenor wird, zusammen mit seiner Begründung, zunächst einmal durch Berufung, Revision und durch sonstige Rechtsbehelfe formell in Frage gestellt; er wird von höherer Instanz hin- und hergewendet, wird bestätigt, verworfen, verändert. Der Begründungstext mit seinem Tenor wird wiedergegeben, diskutiert, verteidigt, kritisiert, „abweichend" interpretiert, wird zum Ausgangspunkt prinzipiell endloser weiterer Diskurse gemacht; und diese werden es ihrerseits. Das befohlene Innehalten im Begründungsdiskurs am Maßstab der Normtextnähe, um zur Entscheidung zu kommen, und zwar 1. überhaupt und 2. zu dieser einen und keiner anderen Entscheidung, ist gewaltgestützt. Es ist, von seiner Begründbarkeit aus beurteilt, nur Gewalt; ist Gewalt, die den Rahmen des Text- und Schriftdiskurses, des Diskurses also, aufgesprengt hat. Das nicht beendbare Spiel der Differenzen im Sinn Derridas beherrscht, als notwendiges, zur Gänze diejenigen Stufen des Umgangs mit Texten, mit Schrift, die sich als intuitives „Verstehen" und reflektiertes „Interpretieren" auffassen lassen. Es beherrscht, als Spiel in der Sprache, zwar auch noch die „Arbeit mit Texten", wird dabei aber von einem „Draußen" gestört: vom Gewaltkomplex des Staatsapparats. Dieser Einbruch von Gewalt in die Welt der Schrift, dieses um der im Namen der Legitimität geschuldeten Entscheidung willen gewaltsame Anhalten des diskursiv unanhaltbaren Diskurses, bietet ein nachdrückliches Beispiel für das, was Arbeit mit Texten in einer staatlichen Rechtsinstitution heißen kann.

76

Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 287 ff.

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Die mit 'Sprache überhaupt9, also die durch die Sprache als etabliertes System im Sinn einer langue gegebene Gewalt, die allgemeine Gewalt-Kontaminierung von Sprache, erscheint nicht als Text-Äußeres. Als Text-Äußeres dagegen kann die abschneidende und verpflichtende, die sanktionierende und exekutierende Staatsgewalt gelten, eine sehr spezifische Gewalt im Rahmen der überall verteilten allgemeinen, eine einmalig konzentrierte. Die rechtskräftig handelnde Staatsgewalt ist ein Draußen des Diskurses insoweit, als sie sich durch ihr Handeln anmaßt, ihn zu beenden und sich dadurch bemüht, sich über ihn zu stellen. Sie ist in dem Maß ein Hors-Texte im Sinn des Ausdrucks von Derrida, in dem sie den Bedingungen von Textualität für ihren Teil praktisch vorgibt entkommen zu können. Auch die Staatsgewalt unterliegt der Differenzstruktur der Zeichen. Aber sie ist nicht einfach eines unter den Zeichen; sie ist, als abschneidende, deren Vergewaltigung. Es ist erst am hervorgehobenen Punkt der rechtlich nicht mehr angreifbaren Entscheidung, daß im Namen des Rechts die Elemente Gewalt und Sprache so weit auseinandertreten und zueinander in Opposition geraten. Indem der Rechtsdiskurs endgültig angehalten wird, setzt sich allein die Staats-Gewalt durch. Im gesamten der Entscheidung vorhergehenden Vorgang befinden sich Sprache und Gewalt in der Gemengelage, die ihr Grundverhältnis bestimmt und zudem im Aktualzustand des semantischen Kampfes. Der Fortgang von Kommentar und Debatte nach der Entscheidung zeigt, daß diese den Diskurs nicht wirklich beenden kann; sie nimmt ihm nur die Rechtswirkung. Gewalt ist nicht nur der semantische Kampf um die Durchsetzung der jeweiligen Rechtsauffassung, sondern auch der Abbruch dieses Kampfes am Ende des Verfahrens durch das Urteil. Die Gewalt der Entscheidung ist dabei intern geteilt durch legislatorische Zurechnungsvorgaben und durch den Zwang zur Erstellung von Rechtfertigungstexten. Die in die Sprache verlagerte Gewalt des Konflikts wird damit nochmals auf sich selbst gefaltet, das heißt ihre Ausübung wird teilenden und kontrollierenden Mechanismen unterworfen. Diese ergeben sich zum einen aus dem Verfahren und den darauf bezogenen Normen und zum anderen aus der Notwendigkeit zur Begründung und den auf das Zurechnungsproblem bezogenen Standards der Wissenschaft, ergänzt durch die methodenbezogenen normativen Vorgaben der Verfassung. Mit dem Ende der Entscheidung des Rechtsfalls, das als Sieg des Rechts über die Gewalt gefeiert werden mag, ist die Ungleichzeitigkeit nicht beseitigt, in die das Recht immer wieder entschlüpft und in der es sich allen Bemühungen, es in die Präsenz zu zwingen, zum Trotz sogleich wieder als bloße Erwartung und uneingelöstes Versprechen abwesend macht. Diese Ungleichzeitig-

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keit ist nicht aufgehoben, nicht einmal für einen Moment suspendiert; sondern sie ist überspielt. Sie wird am Ende des Rechtsgangs durch den Gewaltstreich eines Urteils lediglich ausgesetzt, das als endgültig seine Legitimierung nur vorwegnehmen kann. Bezeichnenderweise ist dies die Wiederkehr des Anfangs. Die Entscheidung im Urteil ist wie der Eintritt in den Vorgang der juristischen Konfliktentscheidung genau jener Moment, in dem das Recht um seiner selbst willen nicht für sich selber sorgen kann. Es muß ebenso, wie es sich am Anfang seine Autorität nur als Zwang zum Recht borgen konnte, sich jetzt für die verbindliche Entschiedenheit seines Spruchs die Gewalt der Sanktion borgen. Das Urteil bedarf der Vollstreckung, soll es nicht Text bleiben, leeres Wort, wieder nur toter Buchstabe. Die dem Konflikt entzogene Brachialität der Gewalt rächt sich in ihrer Wiederkehr. Der Richter indes mag seine Hände in Unschuld waschen, wenn der Vollzugsbeamte die Protagonisten und die Komparserie des Rechtsgangs, die "Körper9, aus dem Saal entfernt. Er hat doch nur Recht gesprochen. Und so ruft er sogleich das nächste Verfahren auf.

Das Ende liegt in einer praktischen Alternative Die Sprache kann die Ausübung der Gewalt erschweren, indem sie Rechtfertigungszwänge errichtet und einfordert. Die Sprache kann die Ausübung der Gewalt aber auch erleichtern; dies ist dann kennzeichnend für ein Unrechtssystem, in dem die Sprache als Dienstmagd der Gewalt deren stille Ausübung verbirgt oder deren offene Ausübung feiert. Weil der demokratische Rechtsstaat die Gewalt durch Sprache bearbeitet und nicht einfach die Sprache für die Arbeit der Gewalt in Dienst nimmt, lautet die Alternative „Recht, oder die stille Arbeit der Gewalt". Sie entscheidet sich mitten in den von uns produzierten Texten.

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ererzeichnis Albert 122 Alexy 23; 131 Arendt H. 51; 93 Aristoteles 65 Avineri 43; 49 Barthes 77; 78 Benjamin W. 16; 39 Berkemann J. 35; 101; 124; 125; 140 41 Bloch 132 Bobbitt 27 Bourdieu 48; 53; 61; 62; 63; 68; 78; 105 Burke 51 Busse D. 60; 66; 69; 75; 82; 92; 106; 107; 108; 109; 110; 114; 129 Carnap 23 Castoriadis 94 Clausewitz 41; 42; 43; 44; 45; 47; 53; 90; 91 Conolly 60 Coseriu 74 Culler 138 Davidson D. 67 Davis M D. 43; 53 Deleuze 56; 127 Derrida 21; 24; 28; 39; 70; 85; 119; 133; 134; 169; 170; 183 Dieckmann 48 Dubil 91 Ducrot 51; 52 Dworkin 39 Eco 134; 137; 176 Engisch 21; 163 Esser 20

Forgo 28; 128 Foucault 47; 51; 61; 86; 105; 179 Frank 79 Frankenberg 91 Frese 67 Freud 114 Gadamer 135 Gallie 60 Gast 102; 108; 130 Gebauer 71 Gloy 24 Goffinan 52 Goodman 62; 63; 67 Grasnik 29 Grawert-May 47 Gröschner 102 Grosse-Hündfeld 149 Gruner 65 Gusy 142 Harenburg 131 Hassemer 104; 105 Hassold 19; 21 Heberlein 144; 153; 157; 159; 162; 163 Heck 103 Hegel 43; 49 Herbert 23; 129 Heringer 46; 62; 64; 65; 68; 71; 73; 74 Hermanns 77 Herzog 142 Hinderling 20 Hjelmslev 84 Hobbes 45; 128 Holly 52 Honsel 23; 102 Hoppe 17

186

ererzeichnis

Hruschka 20 Humboldt W.v. 92 Ipsen 141 Jeand'Heur 38; 62; 73; 78; 106; 107; 108; 113; 123 Jhering 77 Johnson 52 Jouanjan 8; 82 Keller A. 20 Keller R. 25; 48; 50; 66; 73; 84 KellerR 50 Kenny 71; 74 Kiener 77 Klein J. 62 Koch 23; 24; 131; 159 Kopp 144; 154; 156; 157 Kremer-Marietti 61 Kripke 96 Kromer 119 Kutschera F.v. 23 Lacan J. 16; 21; 27; 102; 114 Laclau 67 Ladeur 114 Lakoff 52 Larenz 19; 20; 21; 101; 122 Lübbe 62; 65 Luhmann 34 Lutzeier 64 Lyotard 44; 65; 66; 70; 78; 79 Maas 87 Mahrenholz 134 Maus 119 Meggle 48; 50 Montesquieu 40 Mutius 142 Naucke 21 Neuner 129 Oertzenv. 148; 157 Ogorek 83 Öhlschläger 64; 68; 71 Ossenbühl 141

Passeron 68; 105 Patterson 27; 110 Paul 48 Pawlowski 20 Peters 60 Priester 24 Pszczolowski 49 Puntel 109 Quine 110; 111 Radbruch 26 Redeker 148; 157 Rentsch 104 Rhees 49 Rimbaud 43 Rödel 91 Roedig 20 Rorty 134 Rüßmann 131; 159 Saner 105 Sarcinelli 54 Saussure 27; 51; 77; 84 Scheemann 35 Schenke 144; 156; 157 Scheizberg 143 Schiffauer 24; 60 Schlag 59; 84; 104; 112 Schleiermacher 79 Schlink 120; 131 Schmidt S.J. 62; 63 Schmidt-Jortzig 17 Schmitt C. 28; 69; 128 Schroth 106; 119 Schulte J. 38; 78; 87 Schwingel 48 Seibert 39; 53; 59; 77; 95; 117; 134 Sendler 142 Serres 61; 64 Sofsky 41; 47; 127 Somek 19; 21; 31; 110; 136; 139 Somlo 20 Sperlich K. 142 Steinvorth 100 Stern 141 Stötzel 65

Personenverzeichnis Strauss Α. 51; 52; 62; 63; 78 Taylor Ch. 60; 67 Völzing 52 Wank 141 Weber W. 21 Welsch W. 21; 27; 104 Wimmer 37; 62; 64; 68; 71; 73; 106

187

Winch 74 Wittgenstein 23; 27; 29; 38; 46; 49; 50; 51; 57; 58; 59; 61; 62; 64; 66; 69; 70; 71; 74; 76; 78; 81; 83; 84; 87; 88; 90; 92; 96; 179 Wright G.H.v. 82 Wuchterl 71 Yablon 39 Yi S.-D. 24; 129

averzeichnis Abbildtheorie der Sprache 29 Abbildung 100 abgeleitete Gewalt 127 Abweichende Meinung 117 Achse Norm - Fall 166 agonaler Kampf 56 aktuelle Gewalt 55 Allgemeines Verwaltungsrecht 139 Amtliche Begründung 149; 150 Amtsgewalt 53; 54; 95 Anfang des Rechtsstreits 41 anordnende Zeichenketten 135 Anordnungstexte 117; 118; 121; 139; 142; 143 Antagonismus 57; 58 - der Bedeutungen 66 antipositivistische Doktrin 121 Anwendung - der Regel 96 - des Gesetzes 83; 122 Arbeit mit Texten 108; 109; 169 Arena der Justiz 54 Argumentation 110 - -skultur 27; 32 - -stheorie 135 argumentum ex auctoritate 148 Artikulation 67 Aufpfropfung 28; 119; 133 auktoriale Bedeutungskonzeption 132 Aushandeln 48 Auslegung 21; 101; 102; 131; 132 Auslegungslehre - objektive 163 Auslegungungscanones 167 Ausnahmevorschriften 157 Autor 119; 132 Backings 110; 111

Bedeutung 19; 25; 29; 30; 31; 35; 55; 59; 66; 82; 119; 125; 130; 136; 166 - des Normtextes 32; 63; 68; 72; 74 - Durchsetzender 64; 65 - von ,ßedeutung" 57 - von Noimtexten 71 - -serkenntnis 22 - -serklärung 26; 75; 95 - -sfestlegung 60 - -sfeststellung 60 - -sfrage 58 - -sgrenze 130 - -shypothesen 166 - -skonstitution 71; 120; 126; 127 - -skontrolleure 29 - -ssubstanz 138 Beginn des Rechtsstreits 90 Begriff - des Rechts 111 - -sbegriff 61 - -shof 129 - -skern 129 Begründung 97; 167; 170 - -sdenken 122 - -spflichten 117; 124 - -stext 169 Behälter 140 Beratungszimmer 95 Betreffende 33 Betroffene 33 Beurteilungsspielraum 141 Bezugsrahmen 67 Bild vom Richter 26 blinder Fleck 27; 41 bouche de la loi 40; 127 Brachialität des Konflikts 54

190

averzeichnis

Bundesgerichtshof 100 Bundesverfassungsgericht 29; 140; 141; 164 Bundesverwaltungsgericht 142 Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst 66 Canones 30; 31; 105; 163 checks and balances 115; 143 Code 20 - erster Ordnung 103 - zweiter Ordnung 103 Darstellungspflichten 124 das Ganze 107 Demokratie 88 Demokratieprinzip 118 demokratischer Rechtsstaat 117; 169; 173 demokratisch-rechtsstaatliche Legitimation 55 Determination 35; 122 Dezision 127 - durch Normtextunterstellung 141; 167 - durch Rechtsunterstellung 143 - durch Rechtsverbiegung 143; 168 Dezisionismus 16; 17; 69; 72; 75; 112;113; 128 Dialektik 100 Dienstpflicht 40; 126; 134; 166 Differenzstruktur der Zeichen 170 diskursive Gewalt 79 Durchsetzung 67; 76; 135; 170 - einer bestimmten Interpretationsweise 136 Eingangsdatum 71; 118;121; 126; 163; 166 Eingangsfaktoren 125 Eingangsgrößen 93; 125 Einheit - der Rechtsordnung 107 - von Positivismus und Dezisionismus 28 Einsatz 65

Einschreibung 134 Ende des Rechtsgangs 170,171 Entscheiden 8 Entscheidung 50; 107; 169 - von Recht 65 - -skritik 124 - -stenor 169 - -szwang 165 Entscheidungsnorm 82; 92; 95; 118; 123; 125; 139; 169 Entstehungsgeschichte 121; 126; 151; 161; 163; 164 eristische Rhetorik 51 Erkenntnisregel von Recht 135 Erklärung der Bedeutung 56; 57; 84 exteme Systematik 155 Fairneß 165 Fallerzählung 62 Falte 56 Faltung 56; 61; 65;114; 116; 128; 134 Form 112; 113 Fortbildung 100; 101 Frage nach der Bedeutung 56; 167 Gebot des effektiven Rechtsschutzes 151;152; 153 Gebrauchstheorie der Bedeutung 71 Geltung 19; 22; 31; 34; 35; 80; 117; 123; 125; 126; 166 - -sgrund 34 - -sstruktur 19 genetische Auslegung 106; 107; 131; 149; 150; 151; 153; 156; 161; 162; 163; 167; 168 - Rolle der 164 Gerechtigkeit 99; 100; 103; 104; 134; 165 Gerichte - funktionale Rolle der 143 Gerichtssaal als Bühne 47 Gerichtsverfahren 39; 137 Gesetz 47; 76; 80; 86; 100 Gesetzbuch der praktischen Vernunft

110;122 Gesetzesbindung 80; 81; 87; 126; 131; 135; 138; 142; 165; 168

verzeichnis Gesetzesmaterialien 149 Gesetzespositi vismus 121; 122 Gesetzestext 27; 62; 65; 86 Gesetzeswortlaut 129; 147; 148 Gesetzgeber 32; 34; 35; 86; 118; 119; 120; 126; 139; 140; 142; 161 - Verknüpfung zu Richter 34 Gesetzgeber - erster Stufe 139; 142; 143 - zweiter Stufe 86 gesetzgeberischer Wille 120; 130; 131 gesetzgeberischer Zweck 160 Gesetzgebung 81; 120; 126 - und Rechtsanwendung 119 Gesicht des Spiels 113 - Gewalt 8; 15; 51; 53; 56; 59; 77; 99; 127; 169; 173 - als blinder Fleck 104 - als Sprache 68 - auf Sprache bezogene 56 - der Bedeutung 56; 85; 86; 90 - der Entscheidung 170 - der Textarbeit 79 - des Konflikts 39; 54; 91 - des Rechts 93 - Frage der 37 - in der Sprache 37; 68 - juristischer Textarbeit 82 - Konstitutionalisierung der 116 - Kultivierung 55 - Suspendierung der 41; 55 - richterlichen Handelns 37 - über den Normtext 88 - über den Text 88; 90 - und Sprache 41 - Wiederkehr der 171 Gewaltenkontrolle 144 gewaltenteilende Grenzwirkimg 166 gewaltenteilende Rolle des Normtextes 166 Gewaltenteilung 87; 115; 127; 128; 142; 143; 153; 154 - durch Sprache 115 - durch Textteilung 115 Gewaltkomplex des Staatsapparats 169

191

Gewaltkontaminierung von Sprache 170 Gewaltmonopol 46 Gewaltransfer 124 Grammatik der Gewalt 87 grammatische Auslegung 105; 106; 131; 136; 148; 151; 153; 158; 160; 161; 162; 163; 167; 168 grammatische Bedeutungserklärung 68 Grenze 130 - als Relation 138 - der Bedeutung 130 - juristischer Textarbeit 128; 137; 165 Gründe 118 Grundlage 167 Handeln 8 Handlung 120 Handlungsdirektive 33; 35 Handlungstheorie 48 hergebrachte Verwendungsweisen 35 Hermeneutik 32; 60 - negative 66 Herrschaft 117 - des Rechts 81; 116 - über das Verfahren 54 - über den Konflikt 53 Hessischer Verwaltungsgerichtshof 155; 156; 158; 162; 163 historische Auslegung 106; 107; 136 Hors-Texte 170 Ideale Sprechsituation 109 idealer Konsensus 110 idealer Sprecher 106 identische Bedeutung 131 Idiolekt 107 illegale/illegitime Gewalt 124 Illusion des Sprachkommunismus 78 imaginäre Bedeutung 94 immanenter Rationalitätsmaßstab 135 Immunisierung richterlichen Handelns 16 implizite Sprachtheorie 69; 71

192

averzeichnis

Inhalt des Gesetzes 131 institutionelle Gewalt 109 instrumentalistische Zeichenauffassung 50 Intention 75; 132 interne Beziehung von Gewalt und Recht 112 Interpretation 60; 108; 109; 169 invisible-hand-Erklärung 25 Irritation 35 Ist-Zustand 138 Iteration 133 Juridische Strategie 61 juristische - Dogmatik 136 - Kommunikation 50 - Methodik 128; 135; 165 - Semantik 22 - Textarbeit 22; 31; 76; 80; 86; 92; 94; 109 - -s Handeln 17; 30; 31; 72; 75; 128; 130 Kampf 49; 51 - mit der Sprache 78; 79 - um Benennungen und Klassifikationen 62 - um die Bedeutung 38; 66 - um die Sprache 61 - um Wörter 85 - ums Recht 68; 89; 91 Kohärenz 110 Kombattanz 43; 44 Kommentartext 133 Kommunikationsmaximen 27 Kommunikationsstörung 109 kommunikative Kompetenz 122 kompetitive Semantik 136 kompetitives Handeln 46; 48 Komplexität der Sprache 23 Konflikt 41; 53; 55; 56; 86; 89 - der Interpretationsaspekte 163 - und Rechtsstreit 47 - zwischen den Konkretisierungselementen 151 Konfliktfall 164; 168

Konkretisierung 32; 85; 86; 93; 118; 126; 129; 130; 166 Konkretisierungselemente 130 Konsens 109; 117 Konsenstheorie der Wahrheit 109 Konstitution der Bedeutung 72 konstitutionelle Gewalt 55; 116 Kontext 24; 28; 31; 105; 111; 133; 137; 165; 167 Kontinuum juristischer Texte 123 Kontrollfunktion von Verfassungsnormen 152 Konvention 75; 132 Kooperation 41 Korrespondenztheorie der Wahrheit 109 Krieg 41; 43; 46; 47 - der Bürger 41; 42; 44; 45 Krise 56; 57 kulturelle Enzyklopädie 137 Langue 25; 77; 170 legale/legitime Macht 124 legeartis 168 Legislative 87 legislatorische Kompromißformeln 121 Legitimation 25; 26; 96; 127; 171 - -smodell 22; 28 - -sproblem 15 - -sstruktur 19; 125; 127 Legitimität 28; 92; 99; 133 Leitsatz 27; 71; 75; 118; 119; 166 Leitwolf 128 Leser 137 Lesergemeinschaft 137 lexikalische Gebrauchsbeispiele 168 lexikalische Wortlautgrenze 137 Logik des Kampfes 63 Logik des Konflikts 45; 46; 47 Lücke 162 Macht 8 Marsfeld 47 Maschinenmodell 70 Maßstab der Normtextnähe 169 materialer Rechtsstaat 117

verzeichnis Materialien 150; 151 Maximin-Prinzip 48 Medium 55; 56; 112; 114 Metacode 99 Metamorphose der Gewalt 40 methodenbezogene normative Vorgaben der Verfassung 27; 34; 136; 137; 165; 167; 168; 170 Methodenehrlichkeit 117; 123; 130; 165 Methodenklarheit 118; 163 methodenrelevante Normen 134 Methodik 127; 130 methodisch Mögliches 133 methodische Leitentscheidung 100 methodische Standards 135 methodologische Leitentscheidung 140 methodologischer Konflikt 137 mitgebrachte Verwendungsweisen 126; 136; 140 Nachschlagen im Lexikon 106 Nachvollzug 119 Natur des Textes 132 natürlicher Wortsinn 106 Naturrecht 34 negative Hermeneutik 55 negative Semantisierung 66 Netz 110; 111 Norm/Fall 130 Norm/Wirklichkeit 130 normative Argumentationstheorie 109 normative Elemente der Rechtsarbeit 125 normative Ordnung der Sprache 28 normative Sprachtheorie 29; 99 normativer Druck 82 normativer Sprechakt 109 Normativität 8; 20; 35; 93; 126; 166 Normbereich 93; 123; 125 Normerzeugung 121 Normierung 26 Normierungskonflikt 24 Normierungskritik 26 Normkonkretisierung 125

13 Müller u. a.

193

Normprogramm 93; 123; 125 Normprogrammgrenze 129; 133; 168 Normstruktur 127; 137 Normtext 19; 27; 31; 34; 35; 55; 69; 71; 83; 93; 95; 101; 116; 117; 119; 121; 123; 125; 126; 130; 135; 137; 139; 140; 142; 143; 155; 165; 169 - als Eingangsdatum 71 - als Textformular 32; 72 - als Vorschrift 32 - als Zeichenkette 31 - zwei Aufgaben des-es 33 normtextbezogene Konkretisierungselemente 151 Normtexthypothesen 123 normtextinterne Systematik 155 normtextnäheres Argument 127; 137 Normtextsetzung 85; 143 Obersatz 33 Oberverwaltungsgericht Lüneburg 146; 148; 151 objektiv vorgegebene Bedeutung 20 objektive Auslegungslehre 130; 131; 163; 164 objektive Lehre Offenbarungsmodell der Erkenntnis 122 Ordnung - der Sprache 22; 27 - des Diskurses 105 - des juristischen Sprachspiels 26 Paradox - der Gerechtigkeit 134 - der Gesetzesbindung 169 Parallelwertung in der Laiensphäre 33 parole 77 Phänomen der dritten Art 26; 71; 134 philosophische Wahrheitstheorien 109 physische Gewalt 116 planwidrige Lücke 162 Plateau 58

194

averzeichnis

politische Entscheidung 167 politischer Souverän 87 Positivismus 7; 16; 27; 33; 69; 70; 72; 75; 112; 113; 125; 166 positivistische Rechtsnormtheorie 22 praktische Erwägungen 160 praktische Rechtsarbeit 73; 121; 138 praktisches Können 140 Präsenz 170 Praxis - des Rechts 15 - einer Grenze 134; 135 Prinzip - der Autorschaft 131 - der Kommentierung 131 privilegierte Erzählung 59 Prozeßordnung 49 Prüfungsrecht 141 Rangfolge 137 - der Argumente 168 - für das Verstehen 105 ratio 161 - des Gesetzes 160 Rationalität 15; 117 Rationalitätsmaßstab 109 - der Dogmatik 139 - der Rechtserzeugung 110 Realdaten 63; 123; 125; 129 realistische Bedeutungstheorie 29 Realität der Gewalt 41 Recht 60; 77; 94; 99; 112; 113; 114; 171 - und Herrschaft 117 - als objektiver Sinn 102 - als Prämie 52 - als Rhetorik 51 - als Titel 51 - auf Sprache 64 - ist Gewalt 76 - und Gewalt 113 - und Sprache 38 rechtfertigende Zeichenketten 135 Rechtfertigung 19; 22; 125 - juristischen Handelns 28 Rechtfertigungstext 117; 121; 123; 139; 170

Rechtfertigungszwänge 143 rechtliches Gehör 90 Rechts-und Verfassungsstaat 81 Rechtsanwendung 102; 130 Rechtsarbeit 31; 74; 115; 122 Rechtsarbeiter 37; 54; 119; 126; 168 Rechtserzeugung 38; 63; 68; 84; 91; 92; 95; 107; 110; 135 Rechtserzeugungsreflexion 27; 125 Rechtsfall 42; 59; 62; 169 Rechtsgeltungspositivismus 34; 37; % Rechtsgespräch 40 Rechtsidee 122; 131 Rechtsnorm 8; 19; 20; 27; 32; 33; 35; 42; 71; 72; 75; 83; 85; 90; 92; 95; 101; 118; 123; 125; 126; 139; 166; 169 - Herstellung der 34 - als tragender Leitsatz 31 - Entscheidungsnorm 121; 123 Rechtsnormtheorie 28 rechtsprechende Gewalt 15; 81; 127 Rechtsprechung 80; 143 Rechtssicherheit 163 Rechtsstaat 88; 115; 126; 127 rechtsstaatliche Demokratie 127 rechtsstaatliche Textstruktur 9; 115; 128; 135; 138 rechtsstaatliches Bestimmtheitsgebot 118 rechtsstaatliches Recht 111; 116 Rechtsstaatsprinzip 134; 135; 138; 139 Rechtstext 15 Rechtstheorie 115 Rechtsverweigerungsverbot 90; 126 rechtswidriges Urteil 126 Referenzen 62 Referenzfixierung 62; 129 reflexives Wissen 140 Regel 55; 57; 95; 112; 122 - -anwendung 123 - -formulierung 30; 73 —platonismus 74; 75; 112; 122 - -Skeptizismus 75; 112 - und Abweichung 74 - -Verfehlung 123

Sachverzeichnis - -Verletzung 123 regelndes Subjekt 120 Reichsgericht 141 reine Gewalt 112 Reine Rechtslehre 114 reiner Konflikt 43; 46; 49 relationale Größe 165 Repräsentationsmodell 20 Revision 169 Richter 9; 40; 50; 54; 62; 82; 85; 86; 87; 88; 89; 91; 93; 95; 96; 97; 123; 126; 128; 134; 139; 140; 171 - Dienstpflicht des-s 34 - Verknüpfung zu Gesetzgeber 34 Richterbild 17 richterliche Entscheidung 16 richterliche Gewalt 16; 40; 41; 123; 138; 143; 167 richterliche Rechtserzeugung 104 richterliche Tätigkeit 140 richterliches Handeln 31; 69; 71 Richterrecht 126; 139; 141; 167 Richtigkeit 99 Sachbereich 123; 125 sachgesprägtes Ordnungsmodells 67 Sachverhalt 125 Scheinbegründung 28 schöpferische Komponente der Rechtsarbeit 126 Schrift 21; 169 Sein/Sollen 130 Semantik 35; 89 - kompetitiven Handelns 120 - des Positivismus 21 - des Urteilsspruchs 95 semantische Praxis 8; 26; 31; 69; 71; 72; 75; 84; 119; 132 semantischer Kampf 9; 26; 58; 59; 63; 64; 66; 67; 68; 78; 96; 109; 113; 136; 170 semantischer Krieg 66 Semantisierung 8; 79; 84; 92 - des Normtextes 82 - -sierungsvorgang 26 Sender 119 Signalwirkung 166 13*

195

Sinngebungsmonopol 118 Sinnzentrum 26 Situation des Zeichens 58 Sitz der Gewalt 75 Soll-Zustand 138 Souveränität 53 Soziolekt 107 Spaltung des Zeichens 58 Sperre zwischen Signifikanten und Signifikat 102 Sperrigkeit der Wörter 165 Spiegelmetapher 16 Spiel der Differenzen 132; 169 spontanes Sprachverständnis 155 Sprachdaten 63; 123; 125; 129 Sprache 55; 71; 77; 99; 129; 173 - als Dienstmagd 22; 173 - als Subjekt 20 - des Rechts 7; 78 - und Gewalt 9; 39; 41; 114; 170 - und Spiel 52 - und Sprecher 69 - und Werkzeug 50 Sprachgebrauch 70; 74; 106 Sprachgesetzbuch 20 Sprachgewalt 68 Sprachkampf 135 Sprachkompetenz 106 sprachliche - Normierungsprozesse 74 - Ordnung 20; 25 - Regeln 24 - -es Gewaltverhältnis 95 sprachlose Gewalt 116 Sprachnormierung 25; 73; 106; 134 sprachphilosophische Wende 23 Sprachpraxis 26; 71 Sprachregeln 73 sprachrichtig 25 sprachspielimmanente Maßstäbe 111; 136 Sprachsystem 131 Sprachtheorie 26; 28; 31; 125 - implizite 75 - der Juristen 22 Sprachwächter 23 sprachwidrig 24; 25

196

averzeichnis

Sprachwissenschaft 130 Sprecher 59 - und Sprache 69; 70 Staatsgewalt 127 Stationen der Konkretisierung 124 Stelle der Gerechtigkeit 134 Strategie 53; 61; 77 strategische Argumentation 52 strategisches Handeln 61 Streit 60 - -parteien 50 Struktur des Verstehens 129 Strukturbegriffe des Normmodells 124 strukturelle Kopplung 34 Strukturierende Methodik 130; 133 Strukturierende Rechtslehre 15; 16; 17; 125 - Ziele der 124 strukturierendes Konzept 124 Subjekt des Konkretisierungsvorgangs 120 subjektive Auslegunslehre 130; 131 Subjektqualität 165 Substantialisierung des Wortlauts 165 Subsumtion 73; 130; 139 Supplement 21 symbolische Gewalt 68; 105 symbolisches Kapitals 48 Systematik des Gesetzes 162 systematische Auslegung 106; 143; 148; 152; 153; 155; 156; 157; 161; 163; 168 Teleologische Auslegung 147; 153; 158; 159; 161; 162; 163 Tenor 118 Text 132 Textarbeit 7; 8; 15; 21; 37; 38; 59; 71; 72; 74; 123 Text-Äußeres 170 Textbedeutung 32; 69; 72; 79 Textformular 32; 35; 69; 71; 83; 93; 136; 166; 167 Textinterpretation 137 Text-Kontrolle 115 Textmodell

- theologisches 122 Textstruktur 19; 70; 71; 115; 117; 123; 126 Textstufen 124 Text-Teilung 115 Texttheorie 135 Textverteilung 115; 143 theologisches Modell der Sprache 20 Theorie der Praxis 30 Theorie des praktischen Diskurses 122 Transformation des Krieges 47 Trias Recht-Sprache-Gewalt 114 Unendlicher Regress 96 Unentscheidbarkeit 58 Ungleichzeitigkeit 170; 171 universalpragmatischer Code 110 Unrechtssystem 173 Unreinheit - der Gewalt 113 - der Sprache 113 - des Rechts 113 Unterschied von Geltung und Bedeutung 31 Ursprung 133 ursprüngliche Gegenwart des Meinens 21 Urteil 53; 94; 96; 171 Verantwortung 104; 115 Verbalisierung des Konflikts 54 Verbotrichterlicher Normgebung 35 Verdinglichung sprachlicher Regeln 74 Verfahren 40; 42; 52; 59; 61; 88; 89; 165; 170 Verfassung 151; 165 verfassungskonforme Auslegung 152; 153;154 Verfassungskonkretisierung 143 Verfassungsnormen - methodenbezogene 118 - verfahrensbezogene 165 Verfassungsrecht 118; 125 - methodenbezogenes 163

verzeichnis Verfassungsstaat 55; 79; 126; 135 Vergleich 48; 68 Verhältnis von Recht und Gewalt 112 Verhandeln 48 Verkürzung der Gesetzessystematik 165 Verleugnung der Gewalt 76 Verspätung der Bedeutung 19 Verständigung 50 Verständlichkeit 129 Verstehen 104; 107; 109; 169 Verwaltungsgerichtshof Kassel 148 Verwaltungsgerichtshof Mannheim 142 violence 114 volle Präsenz 133 Vollstreckung 171 - -sakte 118 vorsprachlicher Willen 131 Vorzugsregel 153 Waffengleichheit 135; 165 Wahrheit 67; 99; 111 - des Rechts 96 warranted asserbility 110 Welteizeugung 62 wesentlich umstrittenene Begriffe 60

197

Wettstreit 41 Widerstreit 44; 55; 78; 79; 111 Wiederholung 24; 74 - einer Regel 123 - und Verschiebung 85 Wille - des Gesetzes 130; 134; 164 - des Gesetzgebers 130; 134; 162 - zum Gesetz 82; 91; 134 - zur Macht 82 Wirklichkeitsmodell 62 Wörterbuch 25; 64; 138 Wortlaut 25; 150; 158; 160; 162; 163 Wortlautgrenze 128; 129; 130; 133; 138; 160; 163; 165; 167; 168 Zeichen und Bedeutung 27 Zeichenkette 24; 32; 33; 73; 125; 137; 140; 166; 167 zentrales Signifikat 122 Zentralregel 122 Zentrum des Netzes 111 Zurechnungsgröße 166 Zurechnungstext 118; 121; 139; 143 Zusammenspiel der Konkretisierungselemente 139 zweite Faltung der Gewalt 128