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German Pages 287 [296] Year 2019
Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) ∙ Mark S. Smith (Princeton) Hermann Spieckermann (Göttingen) ∙ Andrew Teeter (Harvard)
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Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse Textarbeit im Pentateuch, in Qumran, Ägypten und Mesopotamien
Herausgegeben von
Walter Bührer
Mohr Siebeck
Walter Bührer, geboren 1984; Studium der Ev. Theologie, Assyriologie und Semitistik in Zürich und Heidelberg; 2014 Promotion; seit 2015 Juniorprofessor für Religion und Literatur des Alten Testaments an der Ruhr-Universität Bochum. orcid.org/0000-0001-7697-3771
ISBN 978-3-16-156738-4 / eISBN 978-3-16-156739-1 DOI 10.1628 / 978-3-16-156739-1 ISSN 1611-4914 / eISSN 2568-8367 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die Genese weiter Teile des Alten Testaments lässt sich als textgeleitete oder schriftgelehrte Fortschreibung oder Auslegung erklären, wonach sich jüngere Texte an ältere Texte angelagert und sie so laufend fortgeschrieben haben. Die literarischen Techniken und hermeneutischen Hintergründe dieser Fortschreibungsprozesse sind vielfältig und bisher kaum umfassend kategorisiert. Der Tagungsband versucht, solche textgeleiteten oder schriftgelehrten Fortschreibungs- und Auslegungsphänomene anhand schwerpunktmäßig erzählender Texte des Pentateuch, seiner Textüberlieferung sowie anhand vergleichbarer jedoch materiell präsenter Beispiele von Texten aus Qumran, Ägypten und Mesopotamien beispielhaft zu erfassen und präzise zu beschreiben, um so ein Spektrum an Phänomenen textgeleiteter Fortschreibung und Auslegung hinsichtlich ihrer exegetischen Techniken, hermeneutischen Voraussetzungen und theologischen Intentionen aufzeigen zu können. Die Beiträge gehen im Wesentlichen auf die Bochumer Autorenkonferenz vom 22.–23.02.2018 zurück, wo sie intensiv diskutiert und daraufhin für den vorliegenden Band überarbeitet wurden. Ich danke der Autorin und den Autoren für die intensive und weiterführende Diskussion sowie ihre Beiträge. Jan Christian Gertz und Christian Frevel danke ich für die konzeptionelle Begleitung des Projektes, das mich von Heidelberg nach Bochum begleitet hat, und das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird. Den Herausgebern der Reihe danke ich für die Aufnahme des Bandes in die 2. Reihe der Forschungen zum Alten Testament – namentlich Konrad Schmid, der das Projekt auch inhaltlich begleitet hat und dessen Einführung ins Alte Testament als schriftgelehrte Traditionsliteratur meine ersten Zürcher Studienjahre nachhaltig geprägt hat. Jan-Hendrik Spies danke ich – im Namen der Leserschaft – für seine unschätzbare Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und bei der Erstellung des Manuskripts. In den letzten Phasen wurde er hierbei von Ruben Emanuel Voß unterstützt. Für die verlegerische Betreuung seitens des Verlages danke ich Anna Degenhart, Katharina Gutekunst, Kendra Mäschke und Rebekka Zech. Im Band verwendete Abkürzungen richten sich nach SCHWERTNER, S.M., IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/Boston 32014. Bochum, im Januar 2019
Walter Bührer
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... V Walter Bührer Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse. Ein Vorschlag und zugleich eine Einführung in den vorliegenden Band ........ 1 Eckart Frahm Textual Traditions in First Millennium BCE Mesopotamia between Reproduction, Adaptation, Commentary, and New Creation ........................ 13 Andreas Henning Pries Intertextualität, Interferenz und Kommentar als Parameter einer dynamischen Textüberlieferung im Alten Ägypten ...................................... 49 Peter Porzig Textgeleitete und gruppenbezogene Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran. Ausgewählte Beispiele .................................... 87 Stefan Schorch Die prä-samaritanischen Fortschreibungen ................................................. 113 Carsten Ziegert Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue. Auslegung theologischer Kernlexeme in den Narrativtexten der Pentateuch-Septuaginta .............................................................................. 133 Konrad Schmid Moses Geburt und ihr literarisches Nachleben. Die innerbiblische Rezeptionsgeschichte von Ex 2,1–10 in Ex 1 und Gen 6–9 ................................................................................... 159 Walter Bührer Die didaktische und geschichtstheologische Funktion des Mannas. Textextern und textintern motivierte Fortschreibungen in Ex 16 ............... 179
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Inhaltsverzeichnis
Christophe Nihan Narrative and Exegesis in Leviticus. On Lv 10 and 24,10–23 .................... 207 Katharina Pyschny Rewriting History. Phänomene textgeleiteter Fortschreibungsund Auslegungsprozesse am Beispiel von Dtn 1–3 .................................... 243 Autorenverzeichnis ..................................................................................... 265 Stellenregister ............................................................................................. 267 Autorenregister ........................................................................................... 279 Sachregister ................................................................................................ 284
Schriftgelehrte Fortschreibungsund Auslegungsprozesse Ein Vorschlag und zugleich eine Einführung in den vorliegenden Band Walter Bührer 1. Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse Die Texte des Alten Testaments und die (zumindest literarischen) Texte Ägyptens und Mesopotamiens sind als schriftgelehrte Traditionsliteratur zu verstehen:1 Die Produktion neuer Texte oder Textbestandteile ist geprägt von bereits vorliegenden Texten. Der Tagungsband verfolgt das Ziel, solche textgeleiteten oder schriftgelehrten Fortschreibungs- und Auslegungsphänomene in Texten aus Mesopotamien, Ägypten und der Levante beispielhaft zu erfassen und präzise zu beschreiben, um so ein Spektrum an Phänomenen textgeleiteter Fortschreibung und Auslegung hinsichtlich ihrer exegetischen Techniken, hermeneutischen Voraussetzungen und theologischen Intentionen aufzuzeigen. Der Begriff der Fortschreibung2 ist hierbei sehr weit gefasst und umfasst um der komparatistischen Perspektive willen das ganze Spektrum der Textproduktion und -überlieferung von der getreuen oder modifizierenden Ab1
Vgl. zum Begriff SCHMID, Traditionsliteratur. Der als Oberbegriff gewählte Begriff der Fortscheibung wird auch in der alttestamentlichen Wissenschaft nicht einheitlich verwendet (vgl. LEUENBERGER, Fortschreibung), wenngleich die enge Definition auf kleinräumige, punktuelle Ergänzungen im gleichen Text überwiegt (vgl. ZIMMERLI, Fortschreibung; LEVIN, Fortschreibungen; BECKER, Exegese, 86–89.93; Levins Aufsatzsammlung stellt indes ein schönes Beispiel für einen nicht einheitlichen Gebrauch des Begriffes dar, wenn er im Vorwort die einzelnen Aufsätze auch als Fortschreibungen der biblischen Texte bezeichnet: LEVIN, Fortschreibungen, 7; und auch Becker kann die Texte des Alten Testaments insgesamt als „Redaktoren- und Fortschreibungsliteratur“ bezeichnen: BECKER, Exegese, 27; vgl. aaO., 45.83.93 [„Als innerbiblische Exegese oder Schriftauslegung bezeichnet man das Gesamtphänomen der Fortschreibungstätigkeit“; Herv. verändert]). In der Altorientalistik und der Ägyptologie ist der Fortschreibungsbegriff nicht ebenso eingebürgert, findet aber doch zuweilen Verwendung; vgl. etwa den Titel von FRANKE, Fortschreibungsprozesse. Zum Phänomen vgl. nun CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien. 2
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schrift über kleinräumige und isolierte Fortschreibungen im engeren Sinne wie etwa der Glossierung oder punktuellen Ergänzung, Kompilationen ehedem eigenständiger Texte, Umformulierungen von Texten (réécriture/rewriting), ein ganzes Werk/Buch oder mehrere Werke/Bücher umspannende Redaktionsschichten, von dem/den Referenztext(en) isoliert überlieferte Kommentare oder Neufassungen davon (rewritten [bible] texts) bis hin zu Übersetzungen.3 Mit dem Einschluss von Umformulierungen umfasst dieses weite Begriffsverständnis von Fortschreibung – prima vista kontraintuitiv – auch die Möglichkeit von Textausfall im Rahmen von Textproduktion.4 Und mit dem Einschluss von Abschriften vorliegender Texte wird die klassische strikte methodische Trennung von Textkritik und Literarkritik aufgehoben, die seit der Auswertung der Qumrantexte obsolet geworden ist. Mit dem Begriff der Auslegung ist aus alttestamentlicher Perspektive das Thema der „innerbiblischen Schriftauslegung“ im Blick. Dieses ist keineswegs neu, kann aber als Modethema gegenwärtiger alttestamentlicher Wissenschaft bezeichnet werden.5 Wie bei früheren solcher Modethemen gilt freilich auch hier, dass die Verabsolutierung der jeweils zugrundeliegenden Beobachtung oder Frage für ihre Bearbeitung oft hinderlich ist: Dass der Begriff „innerbiblische Schriftauslegung“ einen Anachronismus darstellt, da er bereits für die Zeit der Entstehung der „biblischen“ Texte diese als gegebene Größe voraussetzt und – aus inhaltlichen wie formalen Gründen unsachgemäß – von nicht biblisch gewordenen Texten abgrenzt,6 ist dabei nur ein Teil des Problems. Viel größer scheint das Problem des Auslegungsbegriffes zu sein: Wird letztlich jeglicher Textbezug und jegliches Textwachstum als „Auslegung“ begriffen, weil in der Tat jeglicher Textbezug und jegliches Textwachstum auf vorgegebenen, schriftlichen oder mündlichen, Texten beruht, verliert der Begriff seine Erschließungsfunktion. Aufgrund dieser zwei Problemkreise sowie um der komparatistischen Perspektive willen erscheint es geraten, alternative Bezeichnungen für das Phänomen der „innerbiblischen Schriftauslegung“ zu verwenden. Die hier vorgeschlagene Rede von „textgeleiteten“ oder „schriftgelehrten Fortschreibungsund Auslegungsprozessen“ hat den Vorteil, dass Anachronismen vermieden 3
Die Aufzählung ist keineswegs vollständig und trennscharf. Vgl. auch die Darstellung bei KRATZ, Exegese, der zwischen „Kommentar“, „Zitat und Nachschrift (rewritten bible)“, „Textüberlieferung und Übersetzung“ und der recht weiten Kategorie der „Redaktion“ unterscheidet, sowie den rezenten Überblick zu mesopotamischen und ägyptischen Texten bei CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 141–249. 4 Vgl. dazu bes. PAKKALA, Omissions und zu einem Spektrum von Techniken textgeleiteter Textproduktion anhand material präsenter Beispiele MÜLLER/PAKKALA/TER HAAR ROMENY, Evidence; MÜLLER/PAKKALA (Hg.), Insights. 5 Vgl. zum Phänomen bes. FISHBANE, Interpretation; KRATZ, Exegese; LEVINSON, Kanon; SCHMID, Traditionsliteratur. 6 Vgl. nebst den in der voranstehenden Anm. genannten Arbeiten bes. ZAHN, Exegesis.
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werden, dass die Vergleichbarkeit mit nicht-biblischen Literaturen auch vom Begriff her mitgegeben ist, und dass der klärungsbedürftige Auslegungsbegriff nicht verabsolutiert wird. Durch die Kombination der Begriffe Fortschreibung und Auslegung wird darüber hinaus das Zusammenspiel synchroner und diachroner Perspektiven angedeutet: In einer historisch arbeitenden Wissenschaft sind Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse stets auch auf das diachrone Verhältnis der untersuchten Texte zu befragen (und die Möglichkeit der Rekonstruierbarkeit solcher Verhältnisbestimmungen kritisch zu reflektieren).7 Gleichzeitig zeigt sich, dass Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse auch je synchron, also etwa auf der Ebene eines (diachron konturierbaren) Werkes, vorhanden und beschreibbar sind.8 Diese Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse können schließlich als textgeleitet oder schriftgelehrt bezeichnet werden, insofern sie, wie beschrieben, von bereits bestehenden Texten geprägt sind. Der in diesem Zusammenhang verbreitete Begriff der Schriftgelehrsamkeit9 rückt dabei institutionalisierte Formen von Ausbildung und Textproduktion vor Augen, die besonders für Mesopotamien und Ägypten gut bezeugt sind.10 Für das historische Israel können vergleichbare Formen institutionalisierter Ausbildung und Textproduktion immerhin vermutet werden.11 Ein mögliches caveat bei der Rede von schriftgelehrten Fortschreibungs- und Auslegungsprozessen ist zumindest im theologischen Bereich eine theologische Überhöhung des Schriftbegriffs, womit wie bei der Rede von „innerbiblischer Schriftauslegung“ anachronistische Kanonverständnisse mitschwingen könnten. Um textgeleitete Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse in den untersuchten Textcorpora beispielhaft erfassen und präzise beschreiben zu können, ist jeweils im Einzelnen zu klären, wie diese neuen, fortschreibenden Texte („Nehmer-Texte“, „Hypertexte“, „präsente Texte“) mit dem oder den ihnen vorgegebenen, fortgeschriebenen Text oder Texten („Geber-Texte“, „Hypotexte“, „Referenztexte“) umgehen, und zwar in praktischer wie inhaltlicher Hinsicht. Hier kann 1.) nach der Selbständigkeit oder Nicht-Selbständigkeit 7
Vgl. zur Feststellung und relativ-chronologischen Auswertung von Textbezügen etwa KRAUSE, Exodus, 58–65; BÜHRER, Anfang, 277–284. 8 Dass zwischen synchronen und diachronen Auslegungsprozessen zu unterscheiden ist, hat gerade die Diskussion um das wichtige Werk von Michael Fishbane gezeigt, worin diese Unterscheidung oft nicht, oder nicht deutlich getroffen wird. Vgl. etwa KUGEL, Interpreters; SOMMER, Exegesis. 9 Vgl. den Aufsatzband von Konrad Schmid, der von „schriftgelehrter Traditionsliteratur“ spricht (SCHMID, Traditionsliteratur), womit das Ergebnis textgeleiteter Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse fokussiert wird. 10 Vgl. etwa GESCHE, Schulunterricht und die Überblicke bei CARR, Writing; CANCIKKIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, bes. 46–69. 11 Vgl. in jüngerer Zeit CARR, Writing; BLUM, Wandinschriften. Vgl. auch SCHMID, Arbeit; GRUND-WITTENBERG, Literalität.
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der neuen Texte, nach ihrer 2.) formalen und 3.) inhaltlichen Textbindung, 4.) (mit 3.) zusammenhängend) nach ihrer möglichen Rückwirkung auf die Referenztexte sowie 5.) nach der Reichweite und Fülle ihrer intertextuellen oder schriftgelehrten Bezüge gefragt werden: 1.) Tritt der neue Text unmittelbar neben den Referenztext, wird er in ihn eingeschrieben oder in einem neuen literarischen Zusammenhang isoliert von seinem Referenztext überliefert? Steht der fortschreibende Text im Zusammenhang mit weiteren Fortschreibungen oder nicht? 2.) Wird der Referenztext zitiert, wird auf ihn angespielt, oder klingt er lediglich an?12 3.) Wird der Referenztext als Quelle von Autorität verstanden, an der partizipiert werden soll, soll er außer Kraft gesetzt, in Frage gestellt, aktualisiert, interpretiert werden, o.ä.? 4.) Dient der Textbezug in erster Linie dem neuen, fortschreibenden Text, indem der Referenztext für eine neue, „eigene Aussageabsicht“ verwendet wird,13 oder geht der Textbezug eher vom Referenztext aus und zielt auf diesen ab, indem er erklärt, interpretiert, kritisiert oder korrigiert wird? 5.) „Richtet sich eine Fortschreibungsmaßnahme nur auf den unmittelbaren Nahkontext der Einschreibung, bezieht sie sich auf einen Buchteil, ein ganzes Buch oder sogar eine Bücherfolge?“14 Werden unterschiedliche, auch diachron zu differenzierende, Texte aufgenommen? Die genannten Fragen sollen dabei helfen, in den Texten belegte Phänomene beschreiben und voneinander unterscheiden zu können. Die Beschreibung der einzelnen Phänomene und die dadurch entstehende Generierung eines Spektrums schriftgelehrter Fortschreibungs- und Auslegungsphänomene erscheint den Texten angemessener als eine (um der Darstellung willen: rigide) Klassifizierung solcher Phänomene. Die Diskussion um „innerbiblische Schriftauslegung“ hat nicht zuletzt gezeigt, dass trennscharfe Klassifizierungen und Kategorisierungen kaum möglich sind, dass viel mehr Überschneidungen von Kategorien die Regel darstellen.15
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KRAUSE, Exodus, 56–58 unterscheidet im Anschluss an SOMMER, Prophet, 6–31 zwischen Anklang, Anspielung, Zitat und Auslegung als „Kategorien absichtsvoller TextText-Beziehungen“. Die Subsumierung eines Textbezuges unter eine der genannten Kategorien hängt an ihrer jeweiligen Definition, die auch innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft keineswegs einhellig vorgenommen wird. Eine trennscharfe Distinktion der einzelnen Kategorien ercheint freilich ohnehin nicht möglich (vgl. KRAUSE, Exodus, 58). 13 KRAUSE, Exodus, 57. Vgl. SOMMER, Prophet, 17f. 14 SCHMID, Schriftauslegung, 7. Vgl. GERTZ, Schriftauslegung, 34. 15 S.o. Anm. 12 und vgl. etwa KUGEL, Interpreters, 274–276 zu den vier Kategorien Michael Fishbanes (scribal, legal, aggadic und mantological exegesis), oder WEYDE, Interpretation zu Benjamin Sommers Unterscheidung zwischen allusion und exegesis.
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2. Textinterne und textexterne Fortschreibungsund Auslegungsmotivationen Der Tagungsband ist so aufgebaut, dass er sich von außen den biblischen Texten nähert. Der Vergleich mit Primärtexten aus Mesopotamien und Ägypten sowie der textgeschichtliche Vergleich alttestamentlicher Texte, an denen Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse an materiell präsenten Textvertretern nachgezeichnet werden können, soll einerseits ein Spektrum von Techniken, hermeneutischen Voraussetzungen und theologischen Intentionen solcher Prozesse aufzeigen und damit andererseits als kritisches Korrektiv für die redaktionsgeschichtliche Thesenbildung zu alttestamentlichen Texten dienen. Die Fokussierung der biblischen Texte auf den Pentateuch und darin schwerpunktmäßig auf narrative Texte ist durch die Anbindung der Tagung an das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsprojekt des Herausgebers „Innerbiblische Schriftauslegung in den Erzähltexten des Pentateuch“ bedingt. Diese doppelte Begrenzung ist durch die Forschungsgeschichte zur „innerbiblischen Schriftauslegung“ begründet.16 Die wohl griffigste und bekannteste Charakterisierung „innerbiblischer Schriftauslegung“ ist die der „Aktualisierung“ vorgegebener Texte auf die jeweilige Gegenwart. Diese Charakterisierung wurzelt in der Analyse prophetischer und juridischer Texte und wurde von dort auch auf narrative Texte angewandt. In einzelnen Fällen geschieht dies durchaus zu Recht, etwa in Texten mit kultischen oder (i.w.S.) politischen Fragestellungen, die die theopolitischen Interessen ihrer Trägergruppen zum Teil deutlich erkennen lassen,17 doch stellt sich die Frage nach möglichen Unterschieden zwischen den verschiedenen Überlieferungsbereichen: Kommt der Aktualisierung der Texte auf die jeweilige Gegenwart in Erzähltexten die gleiche Bedeutung zu wie in prophetischen Texten, die in eine bestimmte Zeit hineingesprochen sind, oder Gesetzestexten als das in den jeweiligen Zeiten als autoritativ angesehene Gottesrecht? Aus diesem Grund wird in den einzelnen Beiträgen bei der Frage der Entstehung der Texte nach Möglichkeit idealtypisch zwischen vornehmlich textextern motivierter, also im weitesten Sinne an der Lebenswelt der Autoren und Rezipienten orientierter, und vornehmlich textintern motivierter, also im weitesten Sinne an der Textwelt der Autoren und Rezipienten orientierter, Textproduktion unterschieden: Liegt das Interesse des fortschreibenden Textes primär an der Deutung der Lebenswelt der Rezipienten und Autoren, wird 16
Vgl. LEVINSON, Kanon, 107–206; SCHMID, Schriftauslegung; GERTZ, Schriftausle-
gung. 17 Vgl. besonders die Beiträge von Eckart Frahm, Andreas Pries, Konrad Schmid, Walter Bührer und Christophe Nihan im vorliegenden Band.
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ein Referenztext durch die Fortschreibung dieser Lebenswelt angeglichen, in eine neue geschichtliche Situation hin aktualisiert? Oder liegt das Interesse primär am Referenztext selber, bietet dieser etwa Leerstellen, ist theologisch anstößig, ein Lexem darin erläuterungsbedürftig, o.ä.? Die Unterscheidung zwischen primär textextern und primär textintern motivierten Fortschreibungs- und Auslegungsprozessen zeigt dabei, dass in den meisten Fällen beide Aspekte ineinandergreifen – doch nur die Unterscheidung ermöglicht präzisere Bestimmungen der jeweils zugrundeliegenden Motive und dadurch letztlich eine Verhältnisbestimmung der in der Debatte oft gleichgesetzten Begriffe der „Aktualisierung“ (als primär textextern motivierte Textproduktion) und der „innerbiblischen Schriftauslegung“ (als primär textintern motivierte Textproduktion).
3. Vorstellung der Beiträge Der Band wird eröffnet mit Eckart Frahms Beitrag „Textual Traditions in First Millennium BCE Mesopotamia between Faithful Reproduction, Commentary, and New Creation“. Frahm unterzieht darin die klassische These, wonach die Herausbildung von Kommentaren im 1. Jt. eine Reaktion auf die zunehmende Serialisierung und damit einhergehende Kanonisierung der Texttraditionen zurückzuführen sei, einer kritischen Prüfung und stellt ein nach Gattungen gegliedertes großes Spektrum an Fortschreibungen im weitesten Sinne, „ranging from faithful reproduction to translation, glossing, commentary, the production of extracts, compilation, adaptation, abandonment, forgery, and the creation of largely new texts“,18 dar. Er untersucht nach einer (1.) Einführung u.a. (2.) literarische Texte, von denen manche ein erhebliches Maß an textlicher Stabilität in ihrer Überlieferung aufweisen und in großer Zahl kommentiert wurden (etwa Enūma eliš), andere dagegen nicht (etwa das Gilgameš-Epos); (3.) Neukompositionen und Aktualisierungen bei literarischen Prophetien; (4.) Übersetzungen bei liturgischen Texten; (5.) Rituale und Beschwörungen, denen vergleichsweise wenige Kommentare gewidmet sind, welche jedoch eine regionale Ausprägung in der Stadt Assur erkennen lassen; (6.) divinatorische Texte, die je nach Divinationspraxis eine vergleichsweise stabile (Opferschau) oder weniger stabile (astrologische und terrestrische Omina) Textüberlieferung aufweisen und die in zahlreichen Kommentaren zum Teil anwendungsorientiert kreativ interpretiert wurden; (7.) medizinische Texte, von denen die diagnostisch-prognostischen eine relativ stabile, die therapeutischen eine fluidere Textüberlieferung aufweisen; (8.) kultische Texte und Kultkommentare; (9.) astronomische Texte, die in spätbabylonischer Zeit besonders innovativ ältere Texte aktualisiert haben, 18
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sowie mathematische Texte; (10.) lexikalische Texte, die mehrheitlich eher kommentiert, zuweilen aber auch neu geschrieben wurden; (11.) die eher konservative Tradierung bereits älterer Rechtssammlungen; (12.) Aktualisierungen in historiographischen Texten und Königsinschriften. Andreas Pries zeichnet in seinem Beitrag „Intertextualität, Interferenz und Kommentar als Parameter einer dynamischen Textüberlieferung im Alten Ägypten“ die „dynamische und schöpferische Facette des Überlieferungsprozesses“19 ägyptischer Texte nach. Auch hier gilt, dass Textpflege Sinnpflege mit einschließt, und dass dieses dynamische und schöpferische, oft intertextuell angelegte, Element in den Texten kaum markiert wurde. Anders als in Mesopotamien hat sich diese Arbeit an den Texten kaum in diskontinuierenden Kommentaren niedergeschlagen, sondern mehr in Glossen, die dem kommentierten oder aktualisierten Text direkt eingeschrieben wurden. Im zweiten Teil seines Aufsatzes stellt Pries zwei Fallstudien vor: Einerseits Beispiele erzählender Literatur und andererseits verschiedene Beispiele wissensbezogener Literatur, die sehr viel stärker anwendungsbezogen ist: (1.) Anhand des (textgeschichtlichen) Aufstiegs Sinuhes vom Hofbeamten zum Prinzen zeigt Pries beispielhaft, wie auch ein „klassischer“ Text im Rahmen seiner Textüberlieferung interpoliert werden konnte, und wie eine solche Interpolation weitere nach sich zog; anhand einer Passage aus Pap. Anastasi I wird sodann die quellensprachliche Frage des richtigen, kontextgebundenen, Verstehens von zitierten Texten, hier eines Zitates aus der Lehre des Djedefhor, diskutiert. (2.) Anhand der Textüberlieferung eines Ritualspruches beim Nemsetopfer zeigt Pries, wie bei anwendungsbezogenen Texten textinterne und textexterne Faktoren eine Rolle für die Textüberlieferung spielen konnten. Peter Porzig untersucht in seinem Beitrag „Textgeleitete und gruppenbezogene Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran. Ausgewählte Beispiele“ anhand unterschiedlicher Textgruppen der Handschriften von Qumran Beispiele schriftgelehrter Auslegung, zeigt die Kontinuität von „innerbiblischer“ Schriftauslegung und den von ihm untersuchten Beispielen auf und fragt nach möglichen Konsequenzen für die redaktionsgeschichtliche Arbeit: Die sog. „Reworked Pentateuch“ Texte (4Q158 und 4Q364–367; über die Nomenklatur äußert sich Porzig in ähnlicher Weise wie die Einleitung zum Begriff „innerbiblische Schriftauslegung“) werden zunächst hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Nähe zum masoretischen und samaritanischen Text unterschieden, um sodann an ihnen ein Beispiel einer Wiederaufnahme zu zeigen. Das Beispiel von 4QSama als einer „biblischen“ Handschrift zeigt exemplarisch, wie Text- und Literarkritik oft nicht voneinander zu unterscheiden sind. Anhand der Vision der Totengebeine (Ez 37) in der Fassung Pseudo-Ezechiels (4QpsEzeka–f) zeigt Porzig, wie der Rekonstruierbarkeit der Textgenese im Falle von Kürzungen und Umformulierungen enge Grenzen 19
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gesetzt sind. Als Beispiel genuiner Qumranschriften (den sog. „sectarian texts“) untersucht Porzig die Gemeinschaftsregel (1QS; 4QS), bei denen, nur prima vista kontraintuitiv, der ältere Textzeuge 1QS eine Erweiterung der jüngeren, aber eben kürzeren Textzeugen von 4QS darstellt, was sich etwa anhand der Zunahme „biblischer“ Bezüge plausibilisieren lässt. Die Beispiele zeigen, dass „die Bandbreite der Bearbeitung“ „geringer wird“, „[j]e autoritativer die Texte, die das Objekt der Überlieferung sind, werden“; „gänzlich zum Stillstand gekommen ist sie nach dem Befund der Handschriften nie.“20 Stefan Schorch unterscheidet in seinem Beitrag „Die prä-samaritanischen Fortschreibungen“ zwischen Harmonisierungen und Erweiterungen / Fortschreibungen im Samaritanischen Pentateuch bzw. in den prä-samaritanischen Textzeugen von Qumran und fokussiert letztere: Die prä-samaritanischen Erweiterungen sind im Wesentlichen Wiederholungen anderer Pentateuchtexte ohne nennenswerte Eigenformulierungen, beziehen sich also rein auf die Textoberfläche und implizieren daher nach Schorch keine Diachronie. Schorch unterscheidet nach formalen literarischen Kriterien drei Kategorien von Fortschreibungen: 1.) Einfügungen korrespondierender Passagen innerhalb eines einzigen Textes, etwa beim Auftrags-Erfüllungs-Schema der Plagenerzählung Ex 7–11; 2.) Einfügungen aus Paralleltexten, namentlich die Auffüllungen von Exodus- und Numeri-Texten durch solche aus dem Deuteronomium; 3.) Einfügungen von Textkompilationen, die sich von der voranstehenden Kategorie dadurch unterscheiden, dass Einfügungen aus zwei unterschiedlichen Textpassagen vorgenommen wurden. Hierbei handelt es sich um die Textkompilation zum Prophetentum Moses (Dtn 5,28f.; 18,18–22; 5,30f. im Anschluss an Ex 20,21) und um das Garizimgebot (nach Ex 20,17 und nach Dtn 5,21), das eine Kompilation aus Dtn 11,29; 27,2–7; 11,30 darstellt. Dass es sich beim Garizimgebot aller Wahrscheinlichkeit nach um eine prä-samaritanische Fortschreibung und nicht um einen samaritanischen Ideologismus handelt, macht Schorch durch eingehende textkritische, ideologiekritische und religionshistorische sowie literarische Analysen plausibel. In allen drei Kategorien „besteht die Funktion der prä-samaritanischen Fortschreibungen im Wesentlichen darin, Lücken in der Repräsentanz des Narrativs auf der Textoberfläche zu füllen … Die prä-samaritanischen Fortschreibungen sind damit Ausdruck einer bestimmten Wahrnehmung und Lesung des Pentateuch, nicht aber des Versuches, den Pentateuch auszulegen, und sie sind insofern textgeleitet.“21 Carsten Ziegert beschreibt in seinem Beitrag „Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue. Auslegung theologischer Kernlexeme in den Narrativtexten der Pentateuch-Septuaginta“ die Septuaginta eingangs als
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„Sammlung auslegender Übersetzungen“22 und unterscheidet zwischen aktualisierenden, primär an den Rezipienten und ihren soziokulturellen Kontexten orientierten, und harmonisierenden, primär textgeleiteten, Auslegungsprozessen im Rahmen der Übersetzung. Im Zentrum seines Beitrages stehen textgeleitete Auslegungsprozesse bei den „theologischen Kernlexemen“ Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue. Das Augenmerk liegt dabei auf der nachzeichnenden Begründung der gleichsam exegetischen, implizit den Ausgangstext kommentierenden, Wahl eines passenden Lexems für die Übersetzung der genannten Lexeme in zweierlei Fragehinsicht: „1.) Lässt sich die erstmalige Verwendung späterer Standardäquivalente im Pentateuch durch textgeleitete Auslegungsprozesse der Übersetzer erklären?“ Und „2.) Lassen sich Abweichungen von etablierten oder sich etablierenden Standardäquivalenten durch textgeleitete Auslegungsprozesse erklären?“23 Die weiteren Beiträge fragen hinter die überlieferten Texte bzw. Textvertreter zurück und beschäftigen sich mit der Redaktionsgeschichte von Texten aus dem Pentateuch: Konrad Schmid analysiert „Moses Geburt und ihr literarisches Nachleben. Die innerbiblische Rezeptionsgeschichte von Ex 2,1–10 in Ex 1 und Gen 6– 9“. Nach Schmid lassen sich anhand von Ex 1–2 sowohl kleinräumige Fortschreibungen, die sich im Wesentlichen aus ihrem literarischen Nahkontext speisen, sowie buchübergreifende Erweiterungen nachweisen: Ex 2,1–3.5f. 10b stellt in Analogie zur Geburtslegende Sargons den Anfang einer ehedem eigenständigen Mose-Exodus-Erzählung dar, in die mit Ex 2,4.7–10a unvermittelt – und unter Absehung narrativer Kohärenz – Moses Schwester eingefügt wurde, um eine jüdische Erziehung Moses zu ermöglichen. Die Gefährdung Moses wurde sodann in Ex 1 aufgenommen und auf ganz Israel ausgeweitet durch den Genozidbefehl Pharaos in Ex 1,22. Ex 1,22 ist dabei gleichermaßen von Ex 2 wie von Gen 50,20 beeinflusst und steht damit im Kontext der Verbindung von Erzeltern- und Exodus-Erzählung. Die Hebammenepisode in Ex 1,15–21 versucht schließlich einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Ägyptendarstellungen der Josephs- und der ExodusErzählung. In einem letzten Schritt vertritt Schmid die These, dass das Paradigma von Gefährdung und Bewahrung in dem „Kästchen“ ( )תבהin der Fluterzählung Gen 6–9 ein weiteres Mal aufgenommen und diesmal universal ausgeweitet wurde. Im Beitrag des Herausgebers, „Die didaktische und geschichtstheologische Funktion des Mannas. Textextern und textintern motivierte Fortschreibungen in Ex 16“, wird anhand der Redaktionsgeschichte von Ex 16 das Nebeneinander und Ineinander vornehmlich textextern und vornehmlich textintern motivierter Fortschreibungen in alttestamentlichen Texten dargestellt. Der Grund22 23
S.u. S.133 (Kapitelüberschrift). S.u. S.142 (beide Zitate).
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bestand des Kapitels ist in der priesterschriftlichen Wachtel-und-MannaErzählung Ex 16,1aβγb.2f.9f.11–15.21.31 auszumachen. Diese Rettungserzählung wurde durch die Ergänzung der Sabbat-Passagen Ex 16,4f.16–20.22– 30 zu einer „Erzählung der Sabbat-Findung und Sabbat-Missachtung“ umgeformt, die die Grunderzählung mit dem die Lebenswelt der Rezipienten bestimmenden Sabbat in didaktischer Abzweckung ins Verhältnis setzt: Sie zeigt „die Notwendigkeit der Sabbatobservanz sowie die Einsicht in die Sinnlosigkeit seiner Missachtung“ auf.24 Gegenüber den Sabbat-Passagen sind die einzelnen Ergänzungen in 16,6f.; 16,8; 16,32–34; 16,35 und 16,36 primär textintern motiviert und stellen die Wachtel-und-Manna-Erzählung in den größeren Kontext des Hexateuch. Dabei stellen 16,6f. und 16,8 Auslegung im engeren Sinne dar, insofern „einerseits die zweite Gottesrede vorweggenommen und die dort genannte Gotteserkenntnis der Israeliten expliziert und andererseits das Murren der Israeliten durch die Korrektur ihrer Adressierung kritisiert“ wird.25 Christophe Nihan untersucht in seinem Beitrag „Narrative and Exegesis in Leviticus: On Leviticus 10 and 24,10–23“ mit Lev 10 und 24,10–23 die zwei Passagen des Leviticusbuches, die sich durch ihre durchweg narrative Gestaltung vom restlichen Buch formal deutlich unterscheiden. In beiden Fällen wird eine Situation erzählt, in der aufgrund eines rituellen Fehlverhaltens (das nicht gebotene Räucheropfer in Lev 10 und die Lästerung des göttlichen Namens in Lev 24) bereits bestehende Gesetze kreativ transformiert werden. Narrative Exegese und legislative Exegese gehen hier damit Hand in Hand. Lev 24,10–23 verwendet dabei mehrere Passagen des Bundesbuches mittels „lemmatic transformation“,26 um letztlich die qualitativen Bestimmungen zur Talion aus Ex 21,22–25 quantitativ neu zu deuten, womit „Auge um Auge“ wörtlich zu verstehen ist. Lev 10 verwendet die Ritualgesetzgebung des Leviticusbuches (sowie Ez 44,17–31), um letztlich den Vorrang priesterlicher Gesetzes-Exegese gegenüber (dem schweigenden) Mose zu betonen. Die spezifische, narrative, Form legislativer Exegese sowie die Bezugstexte erweisen beide Passagen als Spätprodukte in der Entstehungsgeschichte des Leviticusbuches, die neben dem deutlich schriftgelehrten Bezug auf bestehende Texte auch klar textextern motiviert sind: „… the narrative exegesis reflected in Lev 10 and 24,10–23 appears to be informed by a distinctively priestly outlook. Lev 10 establishes the Aaronite priests as the main authorized interpreters of the Law; and Lev 24,10–23 redefines, or re-classifies, lethal and non-lethal injuries as forms of sacrilege, thereby subsuming crimi-
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S.u. S.203 (beide Zitate). S.u. S.203f. 26 S.u. S.214. 25
Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse
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nal matters under the authority of the temple and extending the prerogatives of the priests.“27 Katharina Pyschny zeigt in ihrem Beitrag „Rewriting History. Phänomene textgeleiteter Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse am Beispiel von Dtn 1–3“ nach einer knappen forschungsgeschichtlichen Verortung und methodologischen Überlegungen zunächst auf, dass und wie Dtn 1,1–5 Dtn 1–3 und damit das Deuteronomium insgesamt als Auslegung konstituiert. In einem zweiten Schritt wird die „(Um-)Konzeptionalisierung von Führung in Dtn 1– 3“28 anhand von Dtn 1,9–18 analysiert und die These entwickelt, Dtn 1,9–18 kombiniere Ex 18 und Num 11 und passe die Texte an deuteronomisches bzw. deuteronomistisches Gedankengut an. Als vergleichbarer Fall wird schließlich Dtn 2,24–37 behandelt, wo Num 21,21–24 aufgenommen und der deuteronomischen bzw. deuteronomistischen Kriegsideologie angepasst wird. Dtn 1–3 transformiert so die Erzählung der Wüstenzeit Israels aus Exodus und Numeri zu einer stärker auf Landverheißung und Führungskompetenz Moses fokussierten (Nach-)Erzählung.
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Textual Traditions in First Millennium BCE Mesopotamia between Faithful Reproduction, Commentary, and New Creation Eckart Frahm 1. Introduction One of the most debated issues in current discussions of ancient Mesopotamia’s scribal culture is the “canon question.” Is it legitimate to claim that the cuneiform record included sets of texts considered by the Sumerians, Babylonians, and Assyrians as authoritative and somewhat “closed”?1 Opinions range from William Hallo positing the existence of no fewer than four canonical corpora following one another through the long history of cuneiform writing, to Francesca Rochberg arguing, at least in her earlier work, that the term “canon” be better avoided when speaking about cuneiform texts.2 In my eight year old study of the Babylonian and Assyrian commentary tradition,3 I have wrestled with the canonicity issue as well. Some 890 cuneiform commentaries are known at present, inscribed on clay tablets found at Nineveh, Calah, Ashur, Ḫuzirīna, Babylon, Borsippa, Sippar, Nippur, Uruk, and Ur. They explain literary, ritual, divinatory, magical, medical, lexical, and legal texts. The extant commentaries, almost all written on tablets that are separate from the texts commented on, date to the time between the eighth and the second century BCE, but the genre might go back a few centuries earlier, to the late second millennium or the first two centuries of the first, a period from which, except for a number of archival and historical texts, very few cuneiform tablets survive.4 1
For an attempt to define “canon” with regard to the Bible, see ULRICH, Canon. See HALLO, Canonicity, and ROCHBERG-HALTON, Canonicity. Later, Rochberg revised her earlier assessment to some degree and argued that “the texts that were forceful in the variety of practices for which they were engaged, were by definition the canon” (ROCHBERG, Canon, esp. 227). 3 See FRAHM, Commentaries. 4 A detailed catalogue of the extant commentary tablets, some 200 editions, thousands of photos and hand copies, a comprehensive bibliography, and a number of introductory essays on various aspects of the genre are now available at https://ccp.yale.edu, the website of the Yale Cuneiform Commentaries Project (CCP), initiated by Enrique Jiménez and the author and carried on during the past years together with Mary Frazer and Klaus Wagen2
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What caused the emergence of commentary writing in ancient Mesopotamia? Already in 1978, A.R. Millard had argued that it might have been the creation of a new corpus of literary, religious, and scholarly texts that were deemed by the Mesopotamian literati as fundamentally unchangeable, thus forming what one might describe as a “canon.”5 Theoretical support for Millard’s argument was provided by Jan Assmann, who claimed in an influential programmatic article on commentaries from 1990: Erst wenn der fundierende Text festgelegt wird, entsteht der kanonische Text und mit ihm der Kommentar. Denn jetzt ist die exegetische Akkomodation des Textes in Form redaktioneller Eingriffe unmöglich geworden. … Nicht die Schriftlichkeit als solche wirkt bereits auslösend für das Auftreten von Kommentaren, sondern erst “die Schrift” im emphatischen Sinne eines verbindlichen Kanons heiliger oder klassischer Texte.6
In my aforementioned commentary study, I essentially followed Assmann’s (and Millard’s) lead, arguing that Babylonian and Assyrian scholars of the first millennium engaged in the act of writing commentaries because of a newly emerging need to interact creatively with a “stream of tradition”7 that had become to a significant extent “immobilized.”8 Ancient texts were now often organized in widely used series, comprised of individual chapters (called “tablets”) whose sequence and content were largely identical throughout Mesopotamia. They had to be copied so faithfully that scribes encountering gaps in their “Vorlage” would rather write down the note “broken” than restore the text, in order not to be charged with tampering with the tradition.9 Another indication that there was such a thing as a first millennium Mesopotamian “canon” is the existence of catalogues that associate well-known
sonner and with financial support from the National Endowment for the Humanities. An anthology of cuneiform commentaries by Frahm, Frazer, and Jiménez in the Society of Biblical Literature’s Writings from the Ancient World series is in preparation. For a systematic study of the exegetical terminology used in the commentaries, see GABBAY, Terminology. 5 See MILLARD, Text. 6 ASSMANN, Text, 12–13. 7 The metaphor of the “stream of tradition,” originally coined by Oppenheim, has recently been criticized by Eleanor Robson, who argued that it implied too homogenous a notion of Mesopotamian textual practices (ROBSON, Production). For a defense of the term, see PONGRATZ-LEISTEN, Religion, 25–26. 8 See FRAHM, Commentaries, 317–332. 9 Copying a text faithfully meant in first millennium Mesopotamia to copy it word for word; scribes were normally not required to use exactly the same signs they found in their “Vorlage.” An exception is VAT 7825, a commentary on Enūma Anu Enlil 20 written in 232 BCE by the Uruk scribe Tanitti-Anu and apparently copied by him character for character from SBTU 4, 162, which had been written some 89 years earlier, in 321 BCE, by Anu-abu-uṣur and was found among the tablets of the Uruk exorcist Iqīšāya. For discussion and bibliographical references, see FRAHM, Comentaries, 145.
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texts with famous scholars of the past or supernatural beings.10 The so-called “Manual of the Exorcist,”11 for example, and a catalogue of tablets belonging to two series of diagnostic and physiognomic omens,12 both claim that a large number of exorcistic, medical, and physiognomic treatises were the work of a scholar by the name of Esagil-kīn-apli, who had allegedly lived during the reign of the mid-eleventh century Babylonian king Adad-apla-iddina and was a descendant of the chief scribe of the prominent Babylonian king Hammurapi. A subscript in the “Manual of the Exorcist” refers to the texts listed in the preceding section as follows: Titles (lit., incipits) / The entirety of the exorcistic corpus13 that Esagil-kīn-apli, “son” of Asalluḫi-mansum, sage of Hammurapi, king of Babylon, “descendant” of (the goddess) Lisia, pašīšu/išippu-priest of Ezida (a temple of Nabû), firmly established (kunnu) for learning and reading.
Especially the verb kunnu, with its connotations of stability, permanence, and “imposed-ness,” makes it clear that Esagil-kīn-apli is portrayed here as having sought to provide future scholars with a “fixed” body of texts to be faithfully studied and read forever after.14 No less noteworthy than the references to Esagil-kīn-apli’s work is the existence of a “Catalogue of Texts and Authors” that is known from copies from seventh century BCE Nineveh.15 This remarkable document ascribes the creation and/or compilation of a wide range of traditional works, from omen treatises to wisdom texts to collections of proverbs, to the god Ea, superhuman “sages” from the time before the flood, and a number of prestigious scholars from different historical periods, thus outlining a succession of knowledge that imbued the texts in question with enormous authority. All this seems to indicate that, around the turn of the first millennium, a new corpus of serialized, somewhat fixed, and authoritative texts had come into being in Mesopotamia. These texts were thought by those who read and studied them to possess an “inner life” that needed to be explored, to which aim, so the argument goes, Mesopotamian scholars introduced the new genre of the commentary.
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The most recent assessment of first millennium catalogues is by STEINERT, Catalogues, Texts, and Specialists, esp. 48–76 and 116–117. Steinert distinguishes “series catalogues” and “professional corpus catalogues” (which are the categories of interest for us here) from catalogues that functioned primarily as “shelf lists.” 11 Editions include GELLER, Incipits, 242–254, and JEAN, Magie, 62–82. For an extensive recent discussion of the text, see FRAHM, Exorcist’s Manual. 12 Edited by FINKEL, Adad-apla-iddina. 13 For the translation “corpus” instead of the previously preferred “series,” see STEINERT, Catalogues, 75. 14 See VAN DER TOORN, Culture, 58; FRAHM, Exorcist’s Manual, 33–36. 15 Edited by LAMBERT, Catalogue. The composition date of the text is unknown.
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Yet, as is often the case in the humanities with elegantly simple explanations, it must be acknowledged that what actually happened may have been somewhat more complex. In his recent dissertation on the astrological compendium Šumma Sîn ina tāmartišu, Zackary Wainer, following earlier scholars who had questioned the existence of a first millennium “canon” in Mesopotamia, emphasized that the extant manuscripts of one of the most commented-on cuneiform texts, the first millennium astrological series Enūma Anu Enlil, display so many variants, especially with regard to the specific omens they include and their sequence within individual tablets, that one cannot in good conscience call it a canonical work.16 He also pointed out that scholars writing to the Assyrian kings Esarhaddon and Assurbanipal usually quoted astrological omens not from Enūma Anu Enlil, but rather from the putatively less prestigious subsidiary compendium Šumma Sîn ina tāmartišu. Others have stressed that older cuneiform texts were not always replaced by the newly created ones, but continued to be copied, albeit not everywhere and not that often.17 And several eminent Assyriologists have raised doubts about the historical reality of Esagil-kīn-apli's editorial activities, which are only invoked in later texts but not documented in contemporary sources.18 As I have argued elsewhere,19 this last point seems, for a number of reasons, doubtful – Esagil-kīn-apli may very well have been a real, and influential, scholar active during the reign of Adad-apla-iddina. But the other two claims, about the numerous variant versions of serialized texts and the continued study of earlier traditions, are matters that cannot be so easily dismissed. It must indeed be admitted that the cuneiform manuscript traditions of first millennium Mesopotamia are often more complex than modern editions, with their proclivity to present coherent “master texts,” tend to suggest.20 16 See WAINER, If the Moon at Its Appearance, Chapter 3 (“Canonization and the Birth of Commentaries”). Similar arguments had already been advanced by ROCHBERGHALTON, Canonicity. When exactly the “archetype” of the astrological series Enūma Anu Enlil was created remains unclear. While HEESSEL, Dating EAE, has recently argued this could have happened at any time between 1200 and 716 BCE, it seems to me that the reference to Enūma Anu Enlil in the Exorcist’s Manual (where the text is mentioned in line 39 in conjunction with the terrestrial omen series Šumma ālu) suggests a date in the eleventh century or slightly earlier (pace HEESSEL, Dating EAE, 255–256, note 3) – always provided that this segment of the Manual is indeed to be linked to Esagil-kīn-apli. Since we have no actual manuscripts from this time, there is, of course, no proof for such a scenario. 17 See, for example, HEESSEL, Esagil-kīn-apli, with a detailed discussion of the situation in first millennium BCE Ashur. 18 See, inter alia, ROBSON, Medicine, esp. 477. 19 See FRAHM, Exorcist’s Manual, 29–33. 20 This insight is in line with efforts by proponents of the so called “New Philology” to take the focus away from the “Urtext,” now considered by some as an altogether elusive
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Wainer’s arguments, however, also have their limitations. Most importantly, they concern almost exclusively astrological treatises, whose first millennium history might well have been somewhat exceptional. In the following, I will attempt to substantially broaden the view and establish which types of textual revision and updating, if any, can be observed when one studies other genres of first millennium Mesopotamian texts, in the areas of literature, religion, scholarship, and historiography. In doing so, I will explore a spectrum ranging from faithful reproduction to translation, glossing, commentary, the production of extracts, compilation, adaptation, abandonment, forgery, and the creation of largely new texts.21 A main goal of my survey is the identification of some of the key factors that determined and defined the different types of relationships that existed in specific areas of first millennium Mesopotamian scribal culture between “hypo-” and “hypertexts,” to use the terminology established by Gérard Genette,22 or “Geber-” and “Nehmer-Texte,” to employ the terms with which Walter Bührer operated in his introduction to the Bochum conference that gave birth to this volume. Obviously, the downside of such a broad-brush approach is that it is by necessity superficial and bound to include problematic generalizations. I regrettably also cannot claim to be an expert on all the genres to be discussed in this essay. But when considering that the primary focus of this volume is not on Mesopotamia but on the Hebrew Bible, it seems to make more sense to provide a general overview of the Mesopotamian evidence than present a specific case study. One advantage Assyriologists and Egyptologists enjoy vis-à-vis their colleagues in Hebrew Bible is that they often have access to significant numbers of manuscripts representing different stages of a work and originating from different points in time and different places – instead of being forced to reconstruct the precursors of a text on the basis of purely theoretical considerations.23 Sometimes, they can study whole libraries from ancient sites, and
entity, and to concentrate instead on the actual manuscripts, whose putative deviations and mistakes, it is argued, often result from deliberate choices on the part of later writers rather than from mere sloppiness. For an early manifesto for this approach, see CERQUIGLINI, Éloge de la variante. In Assyriology, the “New Philology” has inspired the important work on Sumerian literary manuscripts from the Old Babylonian period by DELNERO, Criticism, and on a variety of second and first millennium Akkadian text genres by WORTHINGTON, Criticism. Neither Delnero nor Worthington denies, of course, that Mesopotamian scribes copying earlier texts actually did make mistakes. 21 For an excellent and up-to-date introduction to the philological dimensions of these various aspects of textual work, with a focus on ancient Mesopotamia and Egypt, see CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien. 22 See GENETTE, Palimpsests. 23 For reflections on the material dimensions of ancient Near Eastern texts, see the contributions in RUTZ/KERSEL, Archaeologies.
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even when clay tablets or papyri stem from the antiquities market, colophons accompanying them may provide information on the date and place of a copy, the scribe responsible for it, and the city from where his “Vorlage” originated.24 One should not overlook, however, that Assyriologists and Egyptologists at the same time face challenges quite similar to those that confront Hebrew Bible scholars. Like the latter, they rarely have access to the very first version of a text and therefore have to engage in informed speculation as to when and under which historical circumstances the texts they study were actually composed. It is important to keep these limitations in mind. The taxonomy used in the following to distinguish between various genres of Mesopotamian cuneiform texts is an “etic” one that can obviously be questioned on more than one account. For the specific questions asked in this essay, this issue is, however, fairly immaterial.
2. Literary texts Literary texts – myths, epics, “wisdom texts,” disputation poems, prose tales, and others – are today among the best known first millennium Mesopotamian writings.25 Many (but certainly not all) also enjoyed wide circulation in ancient times, as demonstrated by the large numbers of manuscripts recording them, and by the numerous quotations from them found in Late Babylonian school tablets.26 Some of the literary texts studied and copied in first millennium Babylonia and Assyria were largely static and unchangeable. A case in point is the Babylonian Epic of Creation, also known after its incipit as the Enūma eliš.27 Its composition may go back to the twelfth century BCE, even though this remains debated; the earliest manuscripts, from Ashur, are dated on paleographic grounds to the ninth century. The 181 manuscripts of the epic known so far,28 and the many quotations from it in school texts, include very few variants. Scholars have identified more cuneiform commentaries on the Enūma eliš than on any other literary work from ancient Mesopotamia,29 and the epic is exceptional because of its “normative” and “formative” dimen-
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See PEARCE, Statements. For an overview, see FOSTER, Akkadian Literature. 26 See GESCHE, Schulunterricht. 27 The latest edition is by LAMBERT, Creation Myths, 3–144. 28 See LAMBERT, Creation Myths, 3–4. It is noteworthy that except for one, all these tablets have one column on each side. 29 For a full edition of the commentaries on Enūma eliš I–VII, see FRAHM/JIMÉNEZ, Myth. For the commentary on Marduk’s names in Enūma eliš VII, see BOTTÉRO, Noms de Marduk. 25
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sions,30 which other well attested first millennium text groups, for example the omen compendia, lack. All in all, then, it seems fair to say that if there is one composition from first millennium Mesopotamia that deserves to be called “canonical,” it would be the Enūma eliš. The only manuscript tradition that deviates from the canonical version of the Enūma eliš only strengthens this impression. Probably during the reign of the Assyrian king Sennacherib (705–681 BCE), Assyrian scribes created an Assyrian version of the epic. They replaced throughout the text the name of Marduk, the divine protagonist of the Babylonian version, with that of the god Ashur, and the name of Babylon with that of the city of Ashur, but left the text otherwise largely unchanged, despite the fact that the Enūma eliš was at odds with important features of Assyrian religion and ritual in other respects as well.31 The fact that the Babylonian version of the Enūma eliš was faithfully copied over many centuries does not mean, however, that its religious ideology, with its focus on Marduk as the only deity that really mattered, was universally accepted. A polemical re-reading of the text in a cultic commentary from seventh century BCE Assyria claimed, in a strikingly brazen act of reinterpretation, that the epic was about the imprisonment of Marduk rather than his exaltation,32 and a number of other texts, including some mythological fragments from Neo-Assyrian to Late Babylonian times published in Lambert's recent work on Babylonian creation myths, state that the true vanquisher of the forces of chaos was not Marduk but rather his son Nabû, who is not mentioned in the epic at all.33 It is conspicuous, though, that none of the texts in question is available in the form of more than a few manuscripts. There are also a number of first millennium compositions that may have served as “counter-texts” to the Enūma eliš, albeit in rather different ways.34 The Mesopotamian Erra Epic, which seems to go back to the eighth century BCE, seeks to provide an etiology for the chaos and destruction that Babylonians of that time felt had befallen them and for which the Enūma eliš failed to provide an adequate explanation. Unlike the aforementioned other mythological texts, the Erra Epic, the latest major epic work from ancient Mesopotamia, soon became quite popular and was studied in Assyria and Babylonia alike. That the first creation account in Genesis is another “counter-story” to
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These dimensions are considered a possible criterion of canonicity by ASSMANN, Text und Kommentar, 21–22. 31 See LAMBERT, Assyrian Recension. 32 See LIVINGSTONE, Court Poetry, 82–91. 33 See LAMBERT, Creation Myths, 275–277. See also DIRVEN, Exaltation, and FRAHM, Šulgi. 34 For a more extended discussion of the following, see FRAHM, Commentaries, 345– 368.
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the Enūma eliš, or at least a text that draws on and transforms some of its central motifs, is a widely, but not universally held view.35 A great deal of textual stability also characterizes the two “wisdom texts” most intensely studied in first millennium Mesopotamia: Ludlul bēl nēmeqi and the Babylonian Theodicy.36 Both seem to have originated in the last centuries of the second millennium, and works similar to them were apparently no longer composed during the first. The static character of the two texts, and the substantial difficulty of the very select vocabulary they use, may have contributed to the need to produce commentaries on them. The one on Ludlul is almost exclusively devoted to the text’s lexical difficulties, whereas the Theodicy commentary also includes a number of theological explanations.37 Other first millennium “wisdom texts” show a greater degree of variability. The manuscripts of the so-called Dialogue of Pessimism, for instance, a satirical exploration of the relationship between a master and his slave, differ in that some include stanzas that others don’t have.38 The related genre of disputation poems exhibits similar signs of flexibility. The Akkadian disputation between “Palm and Vine,” for example, recently for the first time edited in full by Enrique Jiménez,39 may go back to the Old Babylonian period (note the references to a nadītu-women and the gagû-cloister), but the only available manuscripts, all from Hellenistic Uruk, display numerous linguistic features typical of the Late Babylonian language. This seems to indicate that the text experienced some substantial revisions during the second half of the first millennium. Another disputation poem, the Story of the Poor and Forlorn Wren,40 which has interesting parallels in the Greek tradition, may have been a product of the Hellenistic age in its entirety. Overall, it is likely that the disputation poems represent a popular genre handed down mostly orally and only occasionally put into writing. Throughout Mesopotamian history, oral transmission had a substantial impact on the written tradition of other genres of cuneiform literary texts as well,41 but it seems that its significance in this respect decreased towards the end of the second millennium. When we look, for example, at the history of the most famous literary text from ancient Mesopotamia, the Babylonian Epic of Gil35
For some additional arguments in favor of a genetic relationship between the two texts, see FRAHM, Creation. 36 For the latest edition of the two works, see OSHIMA, Poems. 37 For editions of the two commentaries, see LENZI, Commentary on Ludlul, and JIMÉNEZ, Commentary on Theodicy. 38 For a translation and references to the secondary literature, see FOSTER, Muses, 923– 926. I am indebted to Anmar A. Fadhil (Baghdad) for information about unpublished fragments from Ashur that include such additional stanzas. 39 See JIMÉNEZ, Disputation Poems, 231–287. 40 See JIMÉNEZ, Disputation Poems, 325–373. 41 See the essays in VOGELZANG/VANSTIPHOUT (ed.), Literature.
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gameš,42 we find that the numerous different versions of it from second millennium sites were largely replaced, in the first millennium, by a more stable new one, comprising twelve tablets and ascribed to the scribal ancestor Sînlēqi-unninni. The number of variants in manuscripts of Sîn-lēqi-unninni’s new series was still higher, however, than in the case of the Enūma eliš,43 and individual episodes of the Gilgameš legend continued to be handed down in versions that differed substantially from the Sîn-lēqi-unninni text, as shown, inter alia, by CTN 4, no. 153, an early Neo-Assyrian Gilgameš manuscript from Nimrud.44 It is also worth noting that not a single commentary on the Epic of Gilgameš has been discovered so far, even though lines from the epic are quoted in commentaries on other texts.45 Among the literary texts studied in first millennium Mesopotamia were also some very old Sumerian compositions, including the Instructions of Šuruppak (the earliest extant version of which dates to the mid-third millennium) and the Ninurta epics An-gim and Lugal-e. All of them were accompanied by Akkadian translations, and in the case of Lugal-e we may even have a commentary, although its very poor state of preservation precludes a definitive statement regarding the nature of the tablet in question.46 The Akkadian translation added to Lugal-e in the second half of the second millennium seems to have prompted a number of changes in the Sumerian text itself.47 As has already been pointed out, the first millennium also saw the creation of a number of completely new literary texts. While the Erra Epic48 circulated widely, other texts are known from one manuscript only. This applies, for example, to the humorous story of the “Doctor from Isin,” recorded on a tablet discovered at Uruk, or the Underworld Vision of an Assyrian Crown Prince from Ashur.49 New hymns to gods, temples, or cities were likewise produced, but remained less widely read than traditional panegyric texts such as the Šamaš Hymn, which is attested in the form of numerous manuscripts.50
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Edited by GEORGE, Gilgamesh Epic. For details, see GEORGE, Gilgamesh Epic, 419–431. 44 See GEORGE, Gilgamesh Epic, 364–369. 45 For a selection of such quotes, see FRAHM, Commentaries, 103–104; in the meantime, more have been discovered. 46 For an edition, see FRAZER, Commentary. Commentaries on Lugal-e are also mentioned in ancient catalogues (see FRAHM, Commentaries, 117). 47 For a detailed study of such “translatological” issues, see SEMINARA, Lugal-e. 48 See FOSTER, Muses, 880–911. 49 See FOSTER, Muses, 832–839, 937–938. The Underworld Vision is one of the few first millennium cuneiform literary texts for which non-Mesopotamian models – in this case Egyptian ones, have been suggested (see LOKTIONOV, Underworld), but the evidence is not quite that clear. 50 See FOSTER, Muses, 627–635. 43
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None of the newly composed texts seem to have prompted scholars to write commentaries. Myths, epics, and other poetic literary texts, while copied and studied by a wide variety of Babylonian and Assyrian literati, belonged in particular to the domain of the “singer” (Akkadian nāru), whose activities in first millennium Mesopotamia are, unfortunately, poorly documented.51
3. Literary prophecies Under the label “literary prophecies,” Assyriologists subsume a number of vaticinia ex eventu in elevated language, sometimes, but not always, ascribed to gods or famous kings, that outline a sequence of historical events leading to some glorious future.52 In the Marduk Prophecy, for example, the god Marduk talks about his past peregrinations (caused by foreign powers carrying his statue away from Babylon) and his eventual return to Babylon under an unnamed “savior king” whom many Assyriologists have identified as Nebuchadnezzar I. The Marduk Prophecy, and a related text, the Šulgi Prophecy, were most likely composed towards the end of the second millennium but are known from first millennium copies from Assyria only. Interest in the Marduk Prophecy in Assyria was probably triggered by political-theological controversies related to the proper treatment of Babylon during the Sargonic period.53 Earlier literary prophecies seem to have served as generic models for the composition of at least two newly composed ones, which can be dated to Late Babylonian times and are each known from only one manuscript. The socalled Uruk Prophecy, found in a private library from the Achaemenid period in Uruk, describes events from Neo-Babylonian and Late Babylonian history culminating in the prediction that one happy day the “[kings] of Uruk will exercise power like the gods.” The Dynastic Chronicle, discovered at Babylon, covers a period reaching from the Neo-Assyrian kings to the successors of Alexander the Great. Matthew Neujahr has argued that especially the latter text shows clear signs of “Fortschreibung”: an earlier version of the text was
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For the nāru in Old Babylonian times, see SHEHATA, Musiker. For the latest extensive discussion of the genre and editions of the relevant texts, see NEUJAHR, Predicting, esp. 13–73. The “literary prophecies” could have been discussed in this essay in section 2. together with other literary texts, but due to the special importance of prophetic texts in the Bible, it seemed preferable to devote an extra section to them. 53 See FRAHM, Keilschrifttexte, 7–8, and FINN, Marduk, 37–41. 52
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modified by literati of the early Hellenistic period, who added to it historical events that were relevant for their own times.54 Oracles uttered by first millennium prophets, both male and female, in response to specific historical events are occasionally quoted or mentioned in letters and other documents, but were, unlike Biblical prophecy, usually not recorded in more enduring forms of textualization. A much discussed exception are several prophecies related to the accession of the Assyrian king Esarhaddon that were collected by scholars on multi-column tablets housed in Assurbanipal’s libraries at Nineveh.55 Commentaries on literary prophecies – or on any other forms of prophetic utterances – have not been discovered so far in first millennium layers of Mesopotamian sites.
4. Liturgical texts Liturgical texts used in the Mesopotamian temple cult to address gods and goddesses were not composed in Akkadian, but in a dialect of Sumerian known as Emesal, originally a kind of “women’s language.” They were performed by so-called kalû-priests, who often accompanied them with lyres and drums. Many of these “songs” invoke doom and destruction, in an attempt to appease the deities deemed responsible for such mishap. First millennium Emesal texts were divided by Babylonian and Assyrian scholars into four main categories: Balags, Eršemmas, Šuilas, and, finally, Eršaḫungas (whose focus is on the individual rather than the temple and the city, on which the other three genres are centered).56 In the Catalogue of Texts and Authors from Assurbanipal’s libraries at Nineveh, the whole liturgical corpus is ascribed to Ea, the god of wisdom. Another, more specific catalogue from Nineveh, IVR2, 53+,57 lists a substantial number of Emesal songs under the aforementioned categories.58 Apart from minor orthographic variants, many of the songs mentioned here are known in virtually identical versions from first millennium layers of various Mesopotamian cities, which strongly suggests that by this time, and unlike in the second millennium, a “canonical” corpus of Emesal compositions existed, 54
See NEUJAHR, Darius (and also FINN, Marduk, 193–200). See NISSINEN, Prophets, and PARPOLA, Assyrian Prophecies. Due to their similarities with Biblical prophecies, the relevant texts have received an enormous amount of attention from Biblical scholars over the past decades. 56 The most recent detailed study of the Emesal tradition is by GABBAY, Pacifying, esp. 193–279, on which the following remarks are based. 57 See GABBAY, Pacifying, 233–234. 58 For the most recent discussion, see STEINERT, Catalogues, 60.75–76. Some of the songs are classified as aḫû, that is, “extraneous,” in the catalogue. 55
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especially with regard to the Balags. There are, however, also some more fluid texts. One Šuila-prayer, for example, is known in first millennium versions addressed to Marduk, Nabû, and Ashur, respectively. Several Emesal compositions from Kalḫu and Ashur display Assyrianizing features, among them the Balag “zi-bu-um zi-bu-um,” which in the Assyrian version is addressed to Ashur and not to Enlil, as in the Babylonian tradition. At first glance, it is tempting to associate the replacement of Babylonian gods with Ashur in Assyrian Emesal manuscripts with Sennacherib’s reform theology, as in the case of the aforementioned Assyrian version of Enūma eliš, but Gabbay has argued that the adaptations in question may actually precede Sennacherib.59 More extensive changes within the Emesal tradition occur during the Persian and Hellenistic periods, when names of deities, temples, and cities in the litanies of cultic songs are replaced with new ones, often related to the city where the texts in question circulated. It is especially at Uruk that such changes can be observed, motivated, as elsewhere, by henotheistic tendencies that privileged local gods over those of other cities.60 The phenomenon may have some bearing on our understanding of Second Temple Judaism, which experienced similar theological transformations.61 Even in Late Babylonian Uruk, however, large portions of the Emesal songs used in the cult were still identical with the earlier first millennium tradition. Despite the fact that Emesal texts, especially Balags and (to a somewhat lesser degree) Eršemmas, can be said to have formed a “canon” during a substantial part of the first millennium BCE, the genre did not elicit any commentary writing. Instead, scribes who copied Emesal compositions accompanied them, line by line, with translations, which were usually faithfully reproduced together with the original text. Typically, these translations are word-for-word, but sometimes freer ones can be found. Some of the translations have an exegetical quality, creating entirely new layers of meaning.62 Late Babylonian liturgical texts are, moreover, occasionally supplied with performative glosses indicating different modes of singing, or by long sequences of vowels such as a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a a4-e wu4-u,63 which seem to express vocal ornaments known as melismata.
59 See GABBAY, Pacifying, 214–215; ID., kalû Priest, esp. 129–130.139–140. Gabbay argues that the kalûtu corpus was initially alien to Assyria and that it only became more popular as a consequence of the Babylonization of Assyrian religion during the Late Assyrian period. 60 See GABBAY, Pacifying, 215–227. 61 See FRAHM, Tradition; BERLEJUNG, Innovation als Restauration. 62 For examples and analysis, see MAUL, Küchensumerisch, and GABBAY, Pacifying, 282–286. 63 See GABBAY, Pacifying, 83.
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5. Rituals and incantations While the performance of Emesal-songs in the temple cult belonged in first millennium Mesopotamia to the domain of the kalû, communication with the supernatural world in Akkadian (and in “regular” Sumerian) was a prerogative of the so-called āšipu, a title often translated, somewhat inadequately, as “exorcist.”64 First millennium āšipus copied, among other things, large numbers of anti-witchcraft texts, as well as collections of ritual instructions and incantations that were aimed at fighting evil spirits and maintaining or restoring the equilibrium between human beings and the deities that were believed to be in charge of them. Āšipus also held important positions in the official temple cult. Dozens of written texts related to the professional work of the āšipu are listed in the Manual of the Exorcist, mentioned in the introduction to this paper, which ascribes their compilation to the master-scholar Esagil-kīnapli.65 Many of these compositions are known to us from tablets from the first millennium, and at least some were faithfully copied in largely identical versions throughout Babylonia and Assyria.66 Examples include the antiwitchcraft series Maqlû, which comprised nine tablets outlining rituals and incantation to be performed within the course of a single night to fight witches and sorceresses,67 and the equally long incantation series Šurpu, which provides instructions for a magical “peeling” of a patient.68 In both cases, there is, however, also evidence for the continued existence of slightly deviating versions, especially in Ashur, a city where “antiquated” editions in various areas of scholarship seem to have remained in use longer than elsewhere (see below, section 6.). In contrast to Maqlû and Šurpu, other ritual compendia mentioned in the Exorcist’s Manual seem to have been handed down by first millennium scribes in the form of a rather fluid textual tradition. Examples include the curse-breaking Namerimburuda incantations,69 and also the so-called Nam-
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“Ritual healer” might be a slightly better translation, but it also fails to fully cover the wide range of intellectual interests and practical activities the āšipu engaged in. 65 In line 27; see GELLER, Incipits, 248. For arguments that this line is a subscript and not a heading, as has often been claimed, see FRAHM, Exorcist’s Manual, 17–24. 66 For editions, see ABUSCH/SCHWEMER, Rituals. 67 ABUSCH, Models, and elsewhere, drawing on text-critical methods, has tried to demonstrate that many individual incantations from Maqlû are the final products of an extended process of textual accretion, but this is often hard to prove, and it is virtually impossible to precisely date the editorial interventions behind the alleged changes. 68 For editions, see ABUSCH, Maqlû, REINER, Šurpu, and BORGER, Šurpu. 69 An edition of these text by Stefan M. Maul is in an advanced stage of preparation.
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burbi rituals,70 performed to ward off the evil originating from inauspicious omens, which were apparently not yet available in a universally accepted series in the early first millennium BCE. In the mid-seventh century BCE, the scribes who established Assurbanipal’s famous libraries created such a series, comprising at least 136 tablets,71 but probably due to the downfall of the Assyrian empire a few decades later, their work did not gain universal acceptance. The first millennium incantation series Muššu’u (“Embrocation”) is not mentioned at all in the Exorcist’s Manual and must have been created at some point during the first centuries of the first millennium, drawing on a variety of sources.72 Other types of magical texts, for example the Ana pišerti kišpī recipes against sorcery, were apparently never serialized.73 It is surprising that only eleven commentary tablets on rituals and incantations belonging to the domain of the āšipu have been identified so far,74 and that most of them were excavated at Ashur, where the serialized “canon” (if one is to use the term) of first millennium āšipūtu seems never to have taken hold to the same degree as elsewhere. In addition, several of the Ashur commentary tablets are not devoted to one text only, but include explanations on ritual instructions and incantations derived from different compositions, such as Maqlû, Šurpu, Tummu bītu, Udug-ḫul, and Muššu’u. None of this fits well with the idea that commentary writing in Mesopotamia was primarily prompted by the emergence of a canonical corpus of texts. Unlike virtually all other commentaries from Assyria, the ones from Ashur display, moreover, pronounced features of the Assyrian language in the explanations they provide. It is possible that the Ashur commentaries, more than those from other sites, served very specific pedagogical purposes, at a place that cherished its local traditions.
6. Divinatory texts Based on a count of the extant manuscripts, omen collections formed the most substantial group of non-archival texts by far in first millennium Mesopotamia.75 Thousands of tablets and fragments of astrological texts, extispicy 70 For an extensive discussion of these texts, and numerous editions, see MAUL, Zukunftsbewältigung. 71 See MAUL, Zukunftsbewältigung, 216–221. 72 See BÖCK, Reusing Incantations. 73 See SCHWEMER, Abwehrzauber, 32. 74 See FRAHM, Commentaries, 121–128.384–396, and, for an updated overview and editions, https://ccp.yale.edu/catalogue?keys=&ccp=&cdli=&genre=4&findspot=All&date= All (accessed 05/31/2018). 75 For a recent survey, see KOCH, Divination Texts. For a general introduction to Mesopotamian divination, see MAUL, Wahrsagekunst.
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handbooks, and divinatory treatises on various terrestrial phenomena, teratology, physiognomy, hemerology, and menology have come down to us, from sites all over Babylonia and Assyria.76 The scholars primarily responsible for the production of these texts, and for the divinatory practices associated with them, were the aforementioned āšipus, as well as two more specialized groups of literati: the “Scribe of (the astrological series) Enūma Anu Enlil” (ṭupšar Enūma Anu Enlil) and the “Seer” (bārû), whose expertise lay in the area of extispicy. Some of the divinatory texts studied in first millennium Mesopotamia were ascribed to gods or famous scholars of the past. The astrological and extispicy corpora, for example, are said in the Catalogue of Texts and Authors to have been created by Ea, the god of wisdom, whereas a competing tradition claimed that the extispicy tradition was originally revealed by the gods Šamaš and Adad to an antediluvian king of Sippar by the name of Enmeduranki.77 The main handbook on physiognomic omens was associated with the eminent scholar Esagil-kīn-apli.78 The vast majority of the omen tablets from first millennium contexts belonged to lengthy text series, which in the cases of Enūma Anu Enlil, the extispicy series later known as Bārûtu, and the terrestrial series Šumma ālu comprised as many as seventy, one hundred, and one hundred and twenty (+ x) tablets, respectively. Many of the series were, moreover, divided into clearly defined subseries.79 Often, scribes would produce “extracts” (nisḫu) of the serialized compendia. All this seems to suggest that one should not hesitate to consider the divinatory tradition in first millennium Mesopotamia a “canon.” However, as already pointed out in the introduction, it must be stressed that not all the divinatory series were equally stable and unchangeable.80 While the extispicy 76 Extispicy is the art of divining by means of examining the inner parts of sacrificial animals; teratology is the study of abnormal births for the same purpose; physiognomy assesses a person’s character and prospects from his or her outer appearance; and hemerology and menology explore auspicious and inauspicious days and months. 77 See LAMBERT, Qualifications. 78 See FINKEL, Adad-apla-iddina. 79 Ancient scholars navigated these complex series with the help of tablet numbers and catch-lines found in colophons. Unlike the “codex,” whose format facilitated the emergence of authoritative collections of texts in the Christian tradition, the clay tablet as a medium did not yield itself particularly well to the production of such compilations; but it should be noted that Mesopotamian scholars also used writing boards, wooden or ivory, that could be hinged together to form polyptychs with at least in one case no fewer than sixteen leaves (see CHARPIN, Writing, 27). Such polyptychs, which due to their perishable nature are poorly attested in the archaeological record, were quite similar to the later codices. 80 For a discussion of the question of a possible “canon” of divinatory texts, based on the five criteria of coherence, context, status and authority, stability, and contents, see KOCH, Divination Texts, 52–54.
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series of the first millennium BCE seems to have been divided quite consistently (even though exceptions exist) into ten chapters of altogether one hundred tablets with often identical sequences of entries,81 the astrological and terrestrial series show a much higher degree of variability, perhaps less so in their macro- but certainly in their micro-structure.82 As pointed out by Zackary Wainer,83 of the extant manuscripts that deal with lunar crowns, for example – the topic of Enūma Anu Enlil 3 – there are hardly any that have exactly the same text: the sequences of omens, and the actual omens included, differ from manuscript to manuscript. It should also be noted that omens from the so-called “extraneous” tradition (aḫû) can be included, either marked or unmarked, in the “serialized” texts (iškāru).84 Sometimes, moreover, older omen compendia survived into the first millennium. From Neo-Assyrian Ashur, for example, we have a physiognomic treatise with “old” (LIBIR.RA) omens that are explicitly labeled in a colophon as “not having been invalidated” (NU DU8.MEŠ) by the famous editor Esagil-kīn-apli, whom scholars credited with the creation of the new physiognomic handbook that was widely used in first millennium Mesopotamia.85 There are also cases in which entirely new omen texts were produced. A tablet from Assurbanipal’s libraries in Nineveh lists omens whose apodoses refer to events of the reign of no one but Assurbanipal himself,86 and an innovative astrological tablet from early Hellenistic Uruk includes apodoses that are exclusively devoted to the ups and downs of market prices and related economic phenomena.87 An entirely new phenomenon during the Late Babylonian period was, moreover, the casting of personal horoscopes, a few of which were recorded in writing.88 No less important than such new texts were the cuneiform commentaries scholars wrote to explore the numerous omen series that circulated in first millennium Mesopotamia. More than 600 omen commentaries are currently known, most of them dedicated to the particularly prestigious and politically relevant astrological and extispicy texts.89 Apart from explaining difficult 81
For the most recent assessment of the origins of the series – situated by him in Isin II Babylonia – see HEESSEL, Standardisierung. 82 The same holds true for the hemerological tradition, as demonstrated by JIMÉNEZ, Threads. 83 See WAINER, If the Moon at Its Appearance, Chapter 3, “Canonization and the Birth of Commentaries.” 84 See ROCHBERG-HALTON, Canonicity, 142–143, and KOCH-WESTENHOLZ, Mesopotamian Astrology, 90. 85 See HEESSEL, Esagil-kīn-apli. 86 See STARR, Historical Omens. 87 See HUNGER, Texte, no. 94. 88 For a comprehensive treatment, see ROCHBERG-HALTON, Babylonian Horoscopes. 89 For an overview, see FRAHM, Commentaries, 128–218.
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words and signs, the commentaries seek to establish sophisticated links between omen protases and apodoses, or drastically reinterpret the meaning of key elements of the omens, for example by identifying constellations with planets. Such exegetical experimentation facilitated, among other things, a more flexible use of the omen corpora in the political arena. Colophons leave no doubt that the omen commentaries were, as a rule, considered “companions” to the divinatory series that were in use in first millennium Mesopotamia. At the same time, the commentaries often seem not to follow the exact sequence of the omens found in these series, or include omens not attested in them. In other words, the way many commentaries are structured seems to be at odds with the notion that there was a “canon” of entirely fixed base texts. There was, unsurprisingly, an even greater flexibility in the way the commentaries themselves were transmitted within scribal circles, but at least for limited time spans, certain omen commentaries were apparently considered static reference texts in their own right, worthy of being faithfully copied. Significant numbers of omen commentaries were, moreover, organized in series of their own – series that covered in some cases more than one omen corpus.90
7. Medical texts Mesopotamian medical texts of the first millennium BCE can be subdivided into two main groups: diagnostic/prognostic and therapeutic. The former group is first and foremost represented by the forty-tablet long series Sa-gig, whose entries follow the format of an omen treatise.91 Mesopotamian tradition ascribed Sa-gig to Esagil-kīn-apli, who was credited with having put order to the anarchic mix-up of diagnostic/prognostic texts that were in use prior to the late second millennium, primarily by organizing symptoms, especially in Tablets 3 to 18 of his new series, “from head to toe.”92 Even though there are exceptions, Sa-gig was indeed a comparatively stable series – variation among individual manuscripts is fairly limited.93 Only in the Late Babylonian period do we find attempts to create new diagnostic
90 As discussed by FRAHM, Commentaries, 208, the catch-line of the Izbu commentary SBTU 4, no. 143 from early Hellenistic Uruk refers to an Iqqur īpus type text, suggesting the existence of a commentarial super-series on various groups of learned texts. 91 See HEESSEL, Diagnostik; SCURLOCK/ANDERSON, Diagnoses. 92 See FINKEL, Adad-apla-iddina. 93 For an overview of these variant manuscript traditions, see STEINERT, Catalogues, 70–71.
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texts, inspired by the newly emerging discipline of astral medicine.94 Another innovation from this period are bilingual diagnostic/prognostic texts in the tradition of Sa-gig. Two such texts were excavated in Uruk, but their colophons suggest that they had been written in Babylon, during the reign of Darius I.95 Some thirty-five commentaries exploring Sa-gig are currently known. Only one of them dates to the Assyrian period, even though the reference in a catalogue from Ashur to other such commentaries may indicate that this is due to the chances of discovery.96 The remaining Sa-gig commentaries come from Persian and Hellenistic period Babylonia. Often highly sophisticated, they do not only explain medical and other technical terms, but also seek to create links between symptoms and the – usually divine – agents identified in Sa-gig as their supernatural causes. The corpus of therapeutic texts from first millennium Mesopotamia shows a much greater degree of fluidity than the diagnostic/prognostic tradition,97 even though evidence for attempts by Babylonian and Assyrian scholars to systematize and serialize the therapeutic knowledge of their time exists. Over the past years, Assyriologists have begun to reconstruct a catalogue of therapeutic texts from Late Assyrian Ashur that seems to represent in some respects a counterpart to the famous Manual of the Exorcist.98 The composition date of the Ashur Medical Catalogue is unclear. While it cannot be completely excluded that the text is likewise to be attributed to Esagil-kīn-apli – who is not mentioned in it, however –, it seems preferable to assume that it was created at a later time, perhaps in a conscious act of contrasting “medical” lore from the “magical” tradition associated with Adad-apla-iddina’s masterscholar. Should this prove to be the case, one could consider the catalogue the work of expert “physicians” (asû), who might have wished to maintain a professional profile that was (despite a certain degree of overlap) different from that of the āšipus. Almost all the therapeutic tablets from first millennium Mesopotamia not originating from Assurbanipal’s libraries were copied, however, by āšipus and not by asûs. 94
For an interesting example, see WEE, Zodiac Man. See HEESSEL, Diagnostik, 130, on SBTU 1, no. 86 (+) 145 and SBTU 3, no. 86. The bilingual versions of omens of the Sa-gig type, while in fact new, were probably created to give the diagnostic/prognostic tradition the appearance of being very ancient. 96 BAM 3, 310, obv. 3–4. For discussion of the Sa-gig commentaries, see FRAHM, Commentaries, 220–229, and WEE, Knowledge. 97 See GELLER, Medicine, 97–108. According to Geller, “a typical feature of medical [i.e., therapeutic] texts shows duplication most often occurring with individual recipes, drawn from different contexts, rather than whole compositions being duplicated” (97). 98 For a preliminary edition, see SCURLOCK, Sourcebook, 295–306. A new, more comprehensive edition has just been published by STEINERT, Assur Medical Catalogue. For a detailed discussion of the text, see STEINERT, Catalogues. 95
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A significant portion of the seventh century BCE therapeutic tablets found at Nineveh can be linked to texts listed in the Ashur Medical Catalogue, but there are also some discrepancies.99 Many of the Late Assyrian texts were part of mini-series with titles such as “If a man suffers from coughing.” At some point, these mini-series were combined into a more comprehensive therapeutic series known under the name “If the top of a man’s head is intensely hot.”100 A version of this series that was in use in Achaemenid period Uruk comprised forty-five tablets. Some thirty commentaries on therapeutic texts have been identified so far.101 As in the case of the diagnostic and prognostic commentaries, almost all of them are known from tablets from the Persian and Hellenistic periods,102 with particularly sophisticated examples originating from Nippur and Uruk. The former were, somewhat surprisingly, written by kalûs, the latter by āšipus. The Late Babylonian period also saw the production of entirely new medical-therapeutic texts, which draw again on innovative ideas from the field of astral medicine.103
8. Cultic texts and cultic commentaries The number of pre-first millennium cuneiform texts with descriptions and interpretations of cultic rituals performed in Mesopotamian temples is fairly modest, especially when compared to the massive evidence available for cultic activities in texts written in the areas dominated during the Late Bronze Age by the Hittites.104 In the first millennium, however, such texts became more common, both in Assyria and Babylonia.105 The most famous example is the description of parts of the Akītu ritual celebrated in the month of Nisannu in the city of Babylon: a large tablet from Hellenistic Babylon deals with the divine jollifications of days two to five of this festival. Subscripts indicate that the manuscript represented the twenty-second and twenty-third “Tablet” (i.e., chapter) of a long ritual series, which must also have included
99 Note, moreover, that the medical texts from Ashur differ considerably from the Nineveh tradition, as emphasized by STEINERT, Catalogues, 84. 100 For editions of some of the relevant texts, see SCURLOCK, Sourcebook, 306–336. 101 For an overview, see FRAHM, Commentaries, 229–241. 102 The unpublished Nineveh tablet K 3526 may be an exception. 103 For examples, see GELLER, Melothesia. 104 Some such texts are known from Middle Assyrian Ashur and Kassite period Nippur. 105 The most recent text editions are, for Assyria, PARPOLA, Rituals, and, for Babylonia (with only selected editions), LINSSEN, Cults. Editions and discussions of a number of cultic commentaries are found in LIVINGSTONE, Explanatory Works.
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rituals other than the Akītu.106 Comparable ritual series were apparently not yet in use in the first half of the first millennium BCE, even though some of the ritual texts and “cultic commentaries” from this era are known from more than one tablet. The increasing need to put the ritual traditions of Mesopotamian temples into writing can be explained by the linguistic changes that took place in the first millennium, when Aramaic established itself more and more as the lingua franca in Mesopotamia, and an ever increasing conservatism among temple officials, which led to a greater reliance on precise prescriptions for the performance of cultic activities.
9. Astronomical and mathematical texts During the Late Babylonian period, scholars identifying themselves as “Scribes of (the astrological series) Enūma Anu Enlil” (ṭupšar Enūma Anu Enlil) were not only engaged in the copying of astrological texts, but also in attempts to create new knowledge in the area of mathematical astronomy. Perhaps inspired by a “paradigmatic shift” that led from the observation of celestial phenomena to a greater emphasis on their prediction,107 they developed a number of completely new text types, from Astronomical Almanacs to the so-called “Procedure Texts,” which represent the earliest examples of proper computational astronomy.108 Celestial observations were now systematically recorded in “Astronomical Diaries,” which span, rather stunningly, some seven hundred years – a long-term scholarly project unparalleled in the history of science in its chronological scope.109 Later astronomical works often drew on and adapted earlier ones. The series Mul-apin, for example, composed in the late second millennium, continued to be copied well into the Late Babylonian period, despite its rather unsophisticated astronomical substance, but at the same time, its contents were modified and reused in newly composed texts.110 Similarly, Babylonian astronomers revised and expanded the so-called ACT texts, concise lists of astronomical predictions, when they produced the new Procedure Texts, in such a way that Jones describes the latter as “commentaries” on the former.111
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See LINSSEN, Cults, 79–86, with bibliographical references. Thus BROWN, Astronomy-Astrology, esp. 209–243. 108 See OSSENDRIJVER, Astronomy. The extant copies of the texts, from Babylon and Uruk, date from 350 to 50 BCE and show some signs of serialization. 109 For editions, see HUNGER/SACHS, Astronomical Diaries. 110 For a new edition of the text and a discussion of its history, see HUNGER/STEELE, MUL.APIN. 111 See JONES, Astronomical Commentaries. 107
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It might be preferable, however, to speak in this case of an “updating” (“Fortschreibung”) of an earlier text type. In fact, it may be a testimony to the vitality of the astronomical sciences in first millennium Mesopotamia that scholars pursuing this line of inquiry did not produce text commentaries stricto sensu but rather revised earlier texts or composed completely new ones. The new astronomy devised in Late Babylonian Mesopotamia was based on innovative and complex mathematical operations. Somewhat surprisingly, however, the Mesopotamian mathematics practiced outside of astronomy remained rather conservative for much of the first millennium.112 As far as Assyria is concerned, remarkably few mathematical texts have survived, an absence difficult to ascribe to the chances of discovery alone. Regarding the evidence from Babylonia up to and including the Achaemenid period, there seems to have been a good deal of continuity with earlier mathematics. Metrology still played a major role, and word problems from this era show conspicuous formal parallels with Old Babylonian mathematical texts. Only in Hellenistic times, major changes can be observed – in the words of Eleanor Robson, “essentially numbers [now become] separated from the objects and sets they quantify for the first time in cuneiform culture.”113
10. Lexical texts Throughout Mesopotamian history, lexical lists played a major role in scribal education, and in the creation, preservation, and modification of the taxonomies that shaped the world views of the Sumerians, Babylonians, and Assyrians as time went by.114 Most of the lexical lists that circulated in first millennium Mesopotamia go back in some form to the late second millennium, or to even earlier periods. A few, however, were apparently composed later: A2 = idu, Igituḫ, and the so-called Practical Vocabularies, for example, were probably creations of the Neo-Assyrian period.115 Some first millennium lexical series show discrepancies in the sequence of their individual “tablets” or chapters. Thus, the series Malku šarru had eight tablets in the Assyrian tradition but only five in the Babylonian, and the order of the last two tablets of Erimḫuš differed in Assyria and Babylonia. The series Lānu and Igituḫ are only attested in Assyria, while the so-called “Number Syllabaries” and Greco-Babylonian lexical excerpts are examples of a Late Babylonian “Fortschreibung” of the syllabaries
112
See the discussion in ROBSON, Mathematics, 183–262. ROBSON, Mathematics, 261. 114 For a comprehensive and up-to-date overview, see VELDHUIS, History. 115 See VELDHUIS, History, 366. 113
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Sa and Sb. Late Babylonian school texts include, moreover, a number of word lists that were never (fully) standardized.116 Despite these examples of more creative approaches towards the received tradition, the overall impression one gains when studying the lexical tradition of first millennium Mesopotamia is one in which conservative trends dominate. Lexical texts handed down by scribes in largely fixed versions, such as Ea/Aa, Nabnītu, and ḪAR-ra, became subject to commentary writing during this period, which in the case of Ea/Aa produced some of the most sophisticated philological treatises ever composed in ancient Mesopotamia.117
11. Law collections Of the various law collections composed in third and second millennium BCE Mesopotamia, two were still copied and studied by first millennium scholars, but with very different degrees of intensity. The first is a collection known as the Middle Assyrian Laws.118 One Middle Assyrian copy of this text was unearthed in a Neo-Assyrian context in Ashur, and one manuscript in NeoAssyrian script was found among the tablets from Assurbanipal’s libraries at Nineveh. This does not seem sufficient to suggest that the Middle Assyrian Laws represented a “grand tradition” among first millennium Mesopotamian scholars and officials, even though Eckart Otto has argued that they might have influenced passages in Deuteronomy 22.119 The famous Laws of Hammurapi, in contrast, composed during the last years of King Hammurapi’s long reign (1792–1750 BCE),120 continued to serve, both in Assyria and Babylonia, as a cultural text of greatest significance, as illustrated by dozens of manuscripts from various archaeological sites. The latest dated copy (undated ones may be even younger) was written in the tenth year of Artaxerxes I (465–424 BCE).121 Apparently, the Hammurapi law text provided first millennium literati with a model of ideal justice, and a language and style likewise considered as exemplary. But there is no evidence that the laws recorded in the text were deemed by Assyrian and Babylonian scholars and citizens as relevant for everyday legal proceedings. The text’s character as a “classic” rather than a 116
See VELDHUIS, History, 399–400.405. Not including the numerous manuscripts of ḪAR-gud, the serialized commentary on ḪAR-ra (which could also be considered another example of “Fortschreibung”), some thirty-eight cuneiform commentaries on lexical texts are currently known. For a preliminary overview, see FRAHM, Commentaries, 242–254. 118 For an edition, see ROTH, Law Collections, 153–194. 119 See OTTO, Deuteronomium, 203–217. 120 For an edition, see ROTH, Law Collections, 71–142. 121 See MAUL, Tontafelabschriften, 80 note 29. 117
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treatise that was legally binding is also illustrated by a small fragment of a commentary on the Laws of Hammurapi from the British Museum’s “Sippar Collection.” To be sure, the preserved portions of the commentary provide a few contemporary equivalents for antiquated words from some of the laws, which could be seen as an attempt to make it legally relevant in the here and now; but at the same time, the commentary seeks to establish links between protases and apodoses by means of speculative philology, which contributes nothing to legal practicalities.122 It is remarkable that the thriving scribal culture of first millennium Mesopotamia seems to have produced, as far as we can currently establish, only one new law text, the so-called Neo-Babylonian Laws, known from a tablet from the “Sippar Collection” probably dating to the Neo-Babylonian period.123 In some respects, for example its focus on the awīlu/amīlu as the main social category covered, the Neo-Babylonian Laws resemble the Laws of Hammurapi, but in others, they are different – paragraphs, for instance, are introduced with amīlu ša (and analogous phrases) instead of šumma awīlum. Since both the beginning and the end of the Neo-Babylonian Law text are lost, one cannot determine with certainty whether the laws had an official function or were largely a work of scholarship, but the fact that no duplicates of the text have been discovered seems to point towards the latter scenario.124 The numerous international and succession treaties known especially from Neo-Assyrian times125 were legally binding texts characterized by common generic markers, but they were, as a rule, not meant for long-term scribal transmission and scholarly study. Some documents from the Achaemenid and Hellenistic periods refer to legal stipulations labeled as dātu ša šarri (“law of the king”).126 No specific 122 See JIMÉNEZ, Code of Hammurapi, and ID., Commentary on Codex Hammurapi. The commentary fragment derives from a tablet that when complete explained the first twentyfive laws of the treatise. In all likelihood, there were additional tablets, now lost, that commented on the remaining laws, and perhaps also on the text’s prologue and epilogue. 123 For an edition, see ROTH, Law Collections, 143–149. 124 It is possible that the tablet inscribed with the laws provides an (unfortunately rather obscure) hint regarding their genesis. In the upper right corner of the obverse, the scribe left an empty space and then wrote into its center the somewhat enigmatic words dīnšu ul qati u ul šaṭir “The pertinent legal decision has not been completed and has not been written down.” CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Erste Philologien, 191–192 (with photo on p.193) take this note as indicating that the scribe was unable to read one of the laws of his Vorlage and therefore decided not to copy it, but the phraseology used is odd, and other interpretations seem feasible, including the assumption that the entry refers to a law case that was ongoing at the time of the creation of the text – which would imply a nontheoretical background for at least some of the laws it includes. 125 For editions, see PARPOLA/WATANABE, Treaties. In the meantime, a number of additional treaty manuscripts have been published. 126 For discussion, see LAFONT, dātu ša šarri.
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examples are known, but it seems likely that the dātu ša šarri were compilations of legal norms derived from actual cases, reminiscent of the “rescripts” in Roman law – an open and growing corpus quite different from the Laws of Hammurapi and possibly never recorded in cuneiform. When one takes stock of the fact that, apart from the aforementioned fragmentary Sippar text, no cuneiform law collections seem to have been newly composed in first millennium Mesopotamia, the contrast with the Biblical tradition is striking. Here, from the Covenant Code to the Deuteronomic Code to the Priestly Code, new law texts abound. It has been suggested that some of them draw on earlier Mesopotamian law codes and related texts such as Neo-Assyrian succession treaties, a point recently reiterated and elaborated with regard to the Covenant Code and the Laws of Hammurapi by David Wright.127 But there is one big difference between Biblical and Mesopotamian law: the former is presented as divinely sanctioned, while the latter is not. God-given law, it seems, was something the rulers of the imperial states of first millennium Mesopotamia did not endorse, probably because they considered it as potentially restricting their authority and thus weakening their political clout. In fact, even a new law text composed for long-term use in the name of a king would probably have been perceived by them as potentially compromising their ability to govern without constitutional limitations – which may be one of the reasons why apparently no such text was ever produced.
12. Royal inscriptions and historiographical texts The paucity of new law texts from first millennium Mesopotamia contrasts sharply with the enormous number of royal inscriptions and other historical texts composed during this period. The evidence is so overwhelming that it can be sketched out here only in the most rudimentary way.128 From the Neo-Assyrian and Neo-Babylonian periods, thousands of royal inscriptions have survived, some of which are considerably longer than the famous Res Gestae of the Roman emperor Augustus. These more extensive texts were usually composed – often, it seems, in consultation with the king – by chief scribes (Akkadian ummânu or rab ṭupšarri) who served as royal advisors.129 Within the time span of a monarch’s reign, the scribes would, as a 127
See WRIGHT, Inventing. For a useful overview of the various genres of historical texts known from ancient Mesopotamia, see RENGER, Vergangenes Geschehen. The following paragraphs include very few bibliographical references – even to list only the most important ones would have required significantly more space. 129 See FRAHM, Keeping Company, 521–522. 128
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rule, produce several texts celebrating the king’s achievements, normally adding reports of his later deeds to accounts of earlier ones, with the latter often shortened or otherwise modified in the process. When drafting a new inscription scribes would usually follow (but also occasionally violate) basic generic conventions, some shaped by regional preferences: Assyrian royal inscriptions, for example, differ from Babylonian ones in their emphasis on military activities. The authors of royal inscriptions would frequently draw on, allude to, and occasionally even (although never explicitly) quote from literary works such as the Enūma eliš or the Epic of Gilgameš, as well as a variety of scholarly, religious, and legal texts.130 The composition of royal inscriptions in Assyro-Babylonian cuneiform came to an almost complete sudden end when Babylonia lost its independence to the Persians in the late sixth century BCE. With the exception of the “Cyrus Cylinder,” the Bisitun inscription, a number of shorter trilingual texts from the Achaemenid period, and the “Antiochus Cylinder” from Borsippa, the Persian and Hellenistic monarchs who ruled Western Asia in the following centuries did apparently no longer commission such texts. Various king lists, Assyrian eponym lists and chronicles, the famous Babylonian Chronicle series, and a few other chronicle-like texts are among the most important historiographical texts known from first millennium Mesopotamia. Most of them have in common that they owed their existence to a process of regular updating, with information on later times added to accounts of earlier ones. Despite their often rather terse descriptions of individual events, they can reflect specific ideological positions, normally either those of the temple or the palace.131 Both in first millennium Assyria and Babylonia, a number of earlier texts with historical significance, from royal inscriptions and historical epics to royal letters covering prominent events, were faithfully copied and studied in later times.132 As for the letters,133 some seem to have been modified and adjusted to new intellectual needs in the course of the transmission process,134
130
For thoughts on Neo-Assyrian royal inscriptions as a genre, their material supports and audiences, conventions that inform their composition, and their intertextual dimensions, see FALES, Assyrian Royal Inscriptions, and FRAHM, Neo-Assyrian Royal Inscriptions. For a detailed study of intertextuality in Neo-Assyrian royal inscriptions, see BACH, Untersuchungen. 131 See, for example, the discussion of the Nabonidus Chronicle by WAERZEGGERS, Facts. 132 Sometimes, but not always, scribes would even try to imitate the ancient sign forms of their “Vorlagen.” 133 Comprehensively studied and edited by FRAZER, Letters. 134 For a possible example, see GOLDSTEIN, Letters.
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or were, as in the case of the so-called “Letter of Gilgameš,”135 complete fabrications. Other “forgeries” of historical texts from first millennium Mesopotamia include the famous “Cruciform Monument” of Maništušu – initially considered genuine by modern scholars because it draws on actual Old Akkadian texts136 – and an inscription in the name of Šulgi that talks about a victory of that king over Ashur and the Scythians.137 Another pseudo-historical text about Šulgi, a “chronicle” known from a Late Babylonian manuscript from Uruk, has been interpreted by Antoine Cavigneaux as a veiled critique of the religious reforms of the Babylonian king Nabonidus – and perhaps some Seleucid ruler – with stylistic borrowings from the Sumerian King List.138 No commentaries on royal inscriptions or historiographical texts in the widest sense have been discovered so far.
13. Conclusions Our bird’s eye view of the textual landscape of first millennium BCE Mesopotamia has yielded a multifaceted picture, not easily reducible to a common denominator. In each of the four areas explored, literature, religion, scholarship, and historiography, some earlier texts continued to be faithfully copied, while others were subjected to substantial revisions. Occasionally, new texts were composed and even new genres created, for example the Astronomical Diaries and the Procedure Texts, but also historical-literary works such as the aforementioned “Šulgi Chronicle” or a text about a Babylonian priestly martyr resisting an evil Elamite king that was probably authored in the Hellenistic period.139 Mesopotamia also experienced the opposite phenomenon, the slow disappearance of certain genres – a fate eventually in store for cuneiform writing in general. The first millennium cuneiform tradition was first accompanied and then gradually replaced by new texts such as the story of Ahiqar or the Semiramis legend, which were recorded in the easily accessible alphabetic writing systems that became ever more widely used in Mesopotamia as time went by. Much to the disadvantage of the modern scholar, the new works were written down on perishable materials such as leather or papyrus, and therefore did not survive. This gap in the archaeological record limits quite 135
See FOSTER, Muses, 1017–1019. See SOLLBERGER, Cruciform Monument. 137 See FRAHM, Šulgi. 138 SBTU 1, no. 2; for discussion, see CAVIGNEAUX, Shulgi. 139 For a new edition and discussion of this interesting text, see JURSA/DEBOURSE, Martyr. 136
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severely our ability to gain a more comprehensive insight into the intellectual pursuits of the Late Assyrian and Late Babylonian literati. As for the latter, there is no question, especially during the Hellenistic and Parthian periods, that they spoke several languages, had multiple identities, and were engaged in a continuous dialogue with their new, foreign overlords.140 Yet despite its eventual disappearance in the first centuries of the Common Era, cuneiform culture clearly was a vibrant and vivacious affair throughout much of the first millennium BCE. Babylonian and Assyrian scholars and scribes engaged with their tradition in creative ways and produced a wide variety of new works. At the same time, there was a notion among them that some of the texts that had been handed down from earlier times were perfect and unchangeable, not least because their “authors” were believed to have been gods and their compilers and editors some particularly prestigious scholars of yore. The Manual of the Exorcist and the Catalogue of Texts and Authors demonstrate that Mesopotamian literati were invested, at the very least, in canonicity as a “regulative idea” (in the Kantian sense).141 The Babylonian priest Berossus explicitly endorsed this idea when he claimed in his famous Babyloniaca, addressed to the Seleucid king Antiochus I, that “in the very first year (of history) … a monster named Oannes … taught men all those things conducive to a settled and civilized life. Since that time, nothing further has been discovered.”142 There is, admittedly, a certain irony in the fact that Berossus’s own retelling of Mesopotamian myths and history is more an example of “Fortschreibung” than of accurately reproducing the received tradition; after all, Berossus needed to make his “auto-ethnological” work digestible to the newly arrived Hellenistic rulers who were apparently his main target audience.143 Berossus’s account of the story told in the Enūma eliš,144 for example, takes some liberties with the cuneiform version known to us. Within a strictly Mesopotamian context, however, as pointed out above, the Enūma eliš did acquire a canonical status: scholars copied the text faithfully over hundreds of years and passed it on in school to new generations. Other cuneiform works were handed down in very similar ways. It cannot be denied, then, that notions of canonicity were firmly established in first millennium Mesopotamia. But the hypothesis that Mesopotamian commentary writing was prompted exclusively by the emergence of a new 140
See CLANCIER, Cuneiform. One can consider these catalogues as evidence for attempts by Mesopotamian scholars to establish “authoritative collections of books.” The existence of such authoritative collections, which need to be distinguished from “collections of authoritative books,” is considered by METZGER, Canon, 283, a hallmark of true canonicity. 142 Quoted after VERBRUGGHE/WICKERSHAM, Berossos, 44. 143 For a discussion of Berossus’s narrative strategies, see HAUBOLD, Greece, 127–177. 144 See VERBRUGGHE/WICKERSHAM, Berossos, 44–45. 141
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corpus of canonical texts seems, upon closer inspection, too simplistic. While the “freezing” of parts of the written tradition certainly played a role, I agree with Wainer and others who have addressed the topic that other causes have to be considered as well. It is conspicuous that there are no commentaries on “frozen” works such as the Šamaš Hymn, despite its considerable difficulties, and only very few on the widely studied, serialized ritual compendia Maqlû and Šurpu, while there are hundreds of commentarial works on the astrological series Enūma Anu Enlil, which circulated in first millennium Mesopotamia in the form of various different “recensions.” Two factors might have triggered the massive production of commentaries on the last-mentioned work. First, by virtue of being an omen series, Enūma Anu Enlil was a hermeneutical treatise in its own right – one that sought to explain extra-textual signs. From there, it was not such a major step towards attempts to explore the intra-textual components of the series itself.145 And second, commentaries on Enūma Anu Enlil helped advance discourses within an area of knowledge, astrology-astronomy, that experienced a lot of change, and was subjected to particularly vibrant discussions, in first millennium Mesopotamia. There are also religious factors that might have prompted commentary writing in certain areas of cuneiform culture. Thus, Uri Gabbay has argued that the commentaries on the Enūma eliš, Marduk’s Address to the Demons, the Babylonian Theodicy, and the Laws of Hammurapi may go back to endeavors by Babylonian scholars and priests to better understand a number of key works featuring Marduk of Babylon. Due to his prominent religious and political status, this god elicited greater theological interest during the first millennium BCE than any other Mesopotamian deity.146
***
If the way first millennium Mesopotamian literati engaged with their textual tradition holds a lesson for Hebrew Bible scholars, it is perhaps first and foremost to be found in the remarkable flexibility that characterizes their textual work. Depending on genre, time, place, and a number of other factors, cuneiform texts were copied, updated, revised, excerpted, explained, and translated; and occasionally, completely new texts were composed. Biblical scholars might do well to consider an equally wide variety of scenarios and models in their endeavors to reconstruct the history of the individual parts of 145
See FRAHM, Commentaries, 20–23. See GABBAY, Akkadian Commentaries, 274–278. To the works mentioned by Gabbay, one can now add a newly identified commentary on a literary prayer to Marduk, edited by JIMÉNEZ, Commentary on Literary Prayer to Marduk 2. 146
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the Hebrew Bible and their eventual aggregation in one book – always provided, of course, that the scribes of ancient Israel did not work with texts in ways that were entirely different from the approaches taken by their Mesopotamian colleagues. This is, of course, a big if. Israel and Judah were in many ways different from ancient Mesopotamia. The Hebrew Bible emerged within the context of polities that were much younger and highly unstable; there was no “great tradition” as in Mesopotamia of ancient texts going back hundreds and thousands of years; and the authors and compilers of the Biblical books used scrolls and not tablets and wrote in an alphabetic writing system instead of the far more complex cuneiform script.147 And yet: as long as the comparative approach is not applied with the view that everything has to be the same, it can only help to consider the Mesopotamian example when one studies the scribal practices that gave rise to the Bible.
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Intertextualität, Interferenz und Kommentar als Parameter einer dynamischen Textüberlieferung im Alten Ägypten Andreas Henning Pries 1. Rahmenbedingungen Kein Text entsteht de novo. Seine fortgesetzte Überlieferung gründet sich immer und oft sogar maßgeblich auf die Rezeption, Reflexion und Konfluenz bestehender Traditionen. In diesem Kontext läßt sich Tradition sehr gut als Akkumulation von Textauffassungen1 begreifen. Anhand der Hinterlassenschaften der Schriftkultur des antiken Niltales lassen sich diese Zusammenhänge geradezu exemplarisch fassen. So ist heute fallweise noch nachvollziehbar, wie über Jahrtausende hinweg immergleiche Texte kopiert und redigiert, wie Kurz- und Langfassungen von Texten erstellt und wie solche Textfassungen dann im Rahmen einer intensiven Nutzung noch weiter überarbeitet wurden.2 Innerhalb bestimmter Überlieferungskontexte ist konkret zu erkennen, wie einzelne Versatzstücke aus überkommenen Texten zunächst übertragen und dann zu je neuen Kompilationen zusammengefügt wurden. Mitunter läßt sich dabei sogar ein gattungsübergreifender Transfer oder zumindest eine direkte gegenseitige Beeinflussung verschiedener Textgenres konstatieren.3 1
Vgl. SHILS, Tradition, 17. Einen im interdisziplinären Kontext recht brauchbaren Überblick über die „philologische“ Tätigkeit altägyptischer Schreiber bietet nun CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien – und zwar unter Einschluß der Überlieferung der Keilschriftkultur. 3 Eine Auswahl entsprechender Belege aus dem Bereich der narrativen Literatur findet sich etwa bei BRUNNER, Zitate; GUGLIELMI, Adaption; JASNOW, Continuity. Mitunter ist dabei auch mit mehr oder minder unbewußten Prozessen zu rechnen, wie ein seinerzeit von WESTENDORF, Formel herausgestelltes Beispiel zeigt; vgl. konkret dazu auch SCHWEITZER, Dating, 180f. mit einem weiteren möglichen Beleg für diese Art der intertextuellen Beeinflussung. Im Mittleren Reich und in der 18. Dynastie sind konkrete Bezüge zwischen den Biographien und den sogenannten Lebenslehren bezeugt; vgl. dazu die Ausführungen bei JANSEN-WINKELN, Lebenslehre, bes. 70–72. Zur Verbindung von Biographien und Totenliteratur, konkret den sogenannten Harfnerliedern, vgl. meines Wissens zuletzt mit einiger Ausführlichkeit FROOD, Experience. Im Hinblick auf das Studium phraseologischer Gemeinsamkeiten zwischen Texten der Weisheitsliteratur und medizinischen, mathemati2
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Explizit als solche kenntlich gemachte und auf ein konkretes Werk verweisende Zitate bilden indes Ausnahmen, weshalb ihre Abgrenzung gegenüber Geflügelten Worten und gängigen Redensarten meist nicht möglich ist. Ebenso wie Redensarten können auch Zitate unspezifisch mit ḏd=tw, ḫr=tw „man sagt“ u.ä. eingeleitet werden. Diese beiden intertextuellen Größen sind aber in aller Regel unmarkiert. Die wortlautgetreue Übernahme eines Textes als Zitat ist kaum je bezeugt. Statt dessen werden sogenannte „Zitate“ oft ziemlich frei modifiziert und adaptiert, so dass es sich dabei allenfalls um Anspielungen handelt und die Bezeichnung „Zitat“ hier nur bedingt zutreffend ist.4 Fortschreibungen in Gestalt von Übersetzungen und Kommentaren sind vergleichsweise5 eher selten und vornehmlich im Bereich der religiösen und wissenschaftlichen Literatur bezeugt.6 Kommentare wurden meist in Form schen sowie oneirologischen Traktaten vgl. den rezenten Beitrag FISCHER-ELFERT, Correspondences. Die hier exemplarisch zitierten Abhandlungen bilden aber naturgemäß nur einen kleinen Teil der intertextuellen Übereinstimmungen ab. 4 Vgl. dazu auch die unten in Fallstudie A auf der Grundlage der Sinuhe-Erzählung angestellten Überlegungen. Das reiche Vorkommen an Zitaten und Anspielungen unterschiedlicher Art in der altägyptischen Literatur (vom literarisch verarbeiteten Geflügelten Wort bis hin zur „Literaturangabe“ in wissensbezogenen Texten) ist dem Ägyptologen seit langem bekannt. Angesichts des Reichtums ist auch nachvollziehbar, dass die Erforschung der Zitate sich bis dato primär in Einzelbeiträgen, Miszellen und Fußnoten abbildet. Als grundlegend zu bewerten ist sicherlich die Ende der siebziger Jahre entstandene und zunächst viel beachtete Sammlung sogenannter Zitate aus den Lebenslehren – es handelt sich dabei mehrheitlich um sprichwörtliche Redensarten und wiederkehrend gebrauchte Maximen – in dem Aufsatz BRUNNER, Zitate sowie die nachfolgende, für das Verständnis des Zitatgebrauchs noch sehr viel erhellendere Studie GUGLIELMI, Adaption. Zur Frage danach, inwieweit sich literarische Zitate überhaupt einwandfrei als solche bestimmen lassen, vgl. außerdem QUACK, Ani, 194–205, dessen Skepsis in der Sache nur allzu berechtigt ist; entsprechend auch DERS., Irrungen, 443 mit Anm. 241. Formalisierte Ansätze, wie etwa die „Brunnersche Zwei-Wort-Formel“, taugen zweifellos nicht zur Identifikation echter Zitate. Letztere stellt, wie jüngst auch noch einmal WINAND, (Re)productive Traditions, 27–32 hervorgehoben hat, ein echtes Problem dar. Vgl. dazu außerdem EYRE, Semna stelae, 155–160 mit weiteren Verweisen sowie PARKINSON, Survival. Im Hinblick auf den literarischen Bereich ließen sich neben anderen noch die Belegsammlungen bei JASNOW, Continuity; DORN, Lehre Amunnachts, 52–55; DERS., Topografie, 95–98 (allerdings mit in der Beurteilung zum Teil ebenfalls sehr problematischen Belegen) sowie überdies noch VERNUS, Intertextualité nennen; außerdem eine Reihe von Beiträgen über Einzelzeugnisse dieser Praxis aus der Feder von Hans-Werner Fischer-Elfert, z.B. FISCHER-ELFERT, Vermischtes III, 45–47. Zu Quellenzitaten vgl. exemplarisch die Episode über ein Djedefhorzitat aus dem Pap. Anastasi I. sowie im Hinblick auf die Überlieferung wissensbezogener Texte den demotischen Kommentar des Nutbuches. Beides wird unten im Rahmen der nachfolgenden Fallstudien noch ausführlicher besprochen. 5 D.h. konkret im Vergleich zu anderen alten und großen Schriftkulturen des Mittleren und Fernen Ostens, namentlich Mesopotamien und Anatolien, Indien und China. 6 Den bislang wohl umfassendsten Überblick dazu bietet VON LIEVEN, Grundriß, 258– 290, bes. 258–267. Zur Übersetzungspraxis vgl. außerdem QUACK, Ani, 47–50 (innerägyp-
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von Glossen in den Basistext eingeschrieben7 oder bereits als integraler Bestandteil desselben konzipiert.8 Nach Ausweis der erhaltenen Zeugnisse erfolgte das Kommentieren von Texten somit kontinuierend und diskursimmanent. Es handelt sich bei diesen Kommentaren also um „echte“ Fortschreibungen im Sinne der Methodik der neueren Bibelwissenschaft, bei denen die direkte Bindung an eine lebendige Texttradition sowie ein vergleichsweise hohes schöpferisches Potential seitens der Tradenten gleichermaßen gegeben sind. Diskontinuierende Kommentare im strengen Sinne sekundärer Metatextualität, die eine Unfortschreibbarkeit des Textes voraussetzen und bei denen „Text“ und „Kommentar“ dann infolgedessen als getrennte Formen auseinandertreten,9 waren nach einer These Assmanns aufgrund der anzunehmenden traditionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen im Alten Ägypten nicht Teil der literarischen Praxis. Assmann führt dies anscheinend auf ein vergleichsweise wenig ausgeprägtes Kanonisierungsstreben der ägyptischen Schreiber zurück, was dazu geführt haben soll, dass ägyptische Texte als Teile des Traditionsstromes immer fortschreibbar bzw. modifizierbar blieben, so dass der Traditionsstrom immer im Fluß blieb, und damit die Voraussetzungen für ein Auseinandertreten von Text und Kommentar nicht in hinreichendem Maße gegeben wären. A priori leuchtet diese These durchaus ein und sie stimmt a prima vista auch mit den bekannten Befunden überein. Ob eine strenge bipolare Tennung zwischen kontinuierenden und diskontinuierenden Kommentaren in ihrer Erschließungsfunktion hinreichend ist und den tatsächlichen Gebrauch altägyptischer Kommentare damit entsprechend abbildet, wäre allerdings zu überdenken. So ist durchaus fraglich, wie umfänglich Assmanns These Gültigkeit beanspruchen kann. Denn schließlich lehrt das Zeugnis des tisch); CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 298–301 mit den Verweisen dort sowie unten in Anm. 99; zur Kommentierung von Texten vgl. bes. ASSMANN, Kultkommentare; DERS., Rezeption und Auslegung; RÖSSLER-KÖHLER, Kapitel 17; DIES., Text oder Kommentar; relativ knapp gehalten ist der Überblick dazu in CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 239–244. 7 Zur Glossierung und den dabei gebräuchlichen Kommentarvermerken vgl. v.a. OSING, Glosse sowie DERS., Tebtunis I, 34–37. 8 Bei solchen „Autokommentaren“ (vgl. dazu VON LIEVEN, Grundriß, 264), die strenggenommen keine echten Kommentare darstellen, besteht fallweise allerdings auch die Möglichkeit, dass die heute noch erhaltenen Zeugen, in denen sich metatextuelle Informationen so eng mit dem Text selbst verquickt finden, dass „Text“ und „Metatext“ darin als in sich geschlossene Einheit erscheinen, traditionsgeschichtlich doch auf getrennt voneinander verfaßte Text- bzw. Kommentarvorlagen zurückgehen und somit lediglich als Produkte sehr viel komplexerer Fortschreibungsprozesse zu begreifen wären, die heute aber nicht mehr nachvollziehbar sind, da entsprechende ältere Zeugnisse fehlen. 9 Zur Wortwahl sowie zu der nach Maßgabe eines terminologischen Vorschlags von Aleida Assmann getroffenen Unterscheidung von „kontinuierendem“ und „diskontinuierendem“ Kommentar vgl. ASSMANN, Kultkommentare, 107f. (auch 103).
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Zweistromlandes, dass im Rahmen von durchaus fortschreibbaren Traditionen auch „diskontinuierende“ Kommentare entstehen konnten.10 Gleichzeitig sind aus Ägypten in griechisch-römischer Zeit Texte bezeugt, die sich fallweise doch eher in diesem Sinne verstehen ließen. Leider sind diese Texte aber zum Großteil noch nicht ediert, und wenn doch, dann philologisch noch nicht ausreichend erschlossen, um entsprechend sichere Aussagen auf einer breiteren Basis machen zu können (s.u. Fallstudie B). Überdies stammen die heute noch erhaltenen Quellen – das darf man bei all dem nicht vergessen – mehrheitlich aus Kontexten, aus denen man solche Kommentare gar nicht zwingend erwarten würde. Über die Archive der großen Palast- oder Tempelbibliotheken, die prädestiniert wären, solcherart Texte zu beherbergen, verfügt die Forschung nämlich nicht. Es ist somit also nicht ganz unwahrscheinlich, dass es Texte dieser Art insbesondere in jüngeren Epochen der ägyptischen Schriftkultur durchaus gegeben hat, diese aber schlichtweg nicht erhalten geblieben sind.11 Ungeachtet dieser Unklarheiten ist es jedoch so, dass im Zuge der genannten Übernahmen und Fortschreibungen Texte zwar rege modifiziert, an sich ändernde Kontexte oder Lebenswirklichkeiten adaptiert und dabei nicht selten auch mit neuem Sinn unterlegt wurden, in der Regel aber ohne dass diese Veränderungen, Anpassungen und neuen Ausdeutungen der Basistexte in irgendeiner Weise kenntlich gemacht worden wären. Darin schließlich, in der fortwährenden Pflege und redaktionellen Überarbeitung der überkommenen Texte und nicht etwa in einem intentionalen Brechen mit der Tradition oder dem „Erfinden“ völlig neuer Traditionen, wird die Dynamik der altägyptischen Überlieferung erkennbar. Jenseits der seltenen explizit gekennzeichneten Textfortschreibungen und -transfers, schaffen erst die statisch anmutenden Prozesse des stetigen Kopierens und Kompilierens den nötigen Referenzrahmen, um Dynamiken überhaupt abzubilden. Zur Vergegenwärtigung dieser komplexen Vorgänge in summa spricht man im Rückgriff auf den Assyriologen A.L. Oppenheim gerne vom Stream of Tradition,12 vom Traditionsstrom, welcher sich aus der Summe der zum Wiedergebrauch bestimmten Texte einer Schriftkultur speist. „Dieser Traditionsstrom ist“ – mit den Worten Assmanns – „ein lebendiger Fluß: Er verlagert sein Bett und führt bald mehr, bald weniger Wasser. Texte geraten in Vergessenheit, andere kommen hinzu, sie werden erweitert, abgekürzt, umgeschrieben, anthologisiert in wechselnden Zusammenstellungen“.13 Gemäß dem altbekannten Aphorismus πάντα ῥεῖ des Heraklit ist der Traditionsstrom so10
Vgl. dazu Eckart Frahms Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. entsprechend auch VON LIEVEN, Grundriß, 263 mit Anm. 1429. 12 Vgl. OPPENHEIM, Ancient Mesopotamia. 13 ASSMANN, Gedächtnis, 92. Vgl. bes. aaO., Anm. 6, wo Assmann konkret auf die Bibel Bezug nimmt, die er als „stillgelegten tausendjährigen Traditionsstrom“ begreift. 11
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mit ständig in Bewegung und bringt – allem Bewahren zum Trotz – fortwährend Neues hervor.14 Um diese dynamische und schöpferische Facette des Überlieferungsprozesses soll es in diesem Aufsatz primär gehen.15 Den für Ägypten irrelevanten Gebrauch diskontinuierender Kommentare setzt Assmann übrigens klar davon ab, da er seiner Meinung nach nur dann greift, wenn ein Text „einerseits von bleibender Verbindlichkeit, andererseits aber nicht durch redaktionelle Eingriffe modernisierbar oder durch neue Texte ersetzbar16 ist. (…) Die Entstehung von Kommentaren setzt eine Stillegung des Traditionsstroms und eine strenge Zweiteilung in Zentrum und Peripherie17 voraus“.18 Zur Beschreibung der relativen Beziehung der im Traditionsstrom befindlichen Texte läßt sich der im fachübergreifenden Diskurs wie auch in der Ägyptologie mittlerweile etablierte19 Begriff der Intertextualität aufgreifen. Gleichwohl erfolgt die Verwendung des Begriffes üblicherweise promiscue: einerseits nämlich zur Bezeichnung des bekannten Sachverhaltes, dass kein Text ohne Bezug zum „Textuniversum“20 der ägyptischen Kultur denkbar ist 14
Vgl. PRIES, Einleitung; DERS., Tradition, Tradierung, bes. 210. Zur Anwendung der Strömungsmetaphorik im Hinblick auf die Charakterisierung von Überlieferungsprozessen vgl. DEMANDT, Metaphern, 225. 15 Die schöpferische Dimension des Traditionsprozesses kommt bekanntermaßen auch dort zum Tragen, wo gemäß den aus Ägypten verfügbaren paratextuellen Vermerken ausdrücklich eine wortlaut- oder buchstabengetreue Abschrift intendiert war. Hier klaffen Anspruch der Tradition und Praxis der Tradition mitunter weit auseinander, und ebendiese Kluft wird im Befund leicht unterschätzt. Vgl. in diesem Sinne auch MORENZ, Textüberlieferung, bes. 130–132, allerdings mit diskussionsbedürftigen Belegangaben und Detailaussagen. 16 Assmann zielt damit auf das vornehmlich im Bereich der literarischen Gattung der belles-lettres bezeugte Phänomen ab, dass neben die „klassischen“ Literaturwerke dieser Gattung, die über mehrere Jahrhunderte hinweg rege tradiert, redigiert und in Teilen sprachlich wie inhaltlich modernisiert wurden, immer wieder auch völlig neue Werke derselben Gattung traten, die sich sprachlich und geistesgeschichtlich von den älteren „Klassikern“ abhoben und die in späterer Zeit dann wiederum durch rezentere Kompositionen ersetzt wurden. Gleichzeitig führt er die traditionsgeschichtlichen Entwicklungen im Bereich der Funerärliteratur an, die aber gerade im Bereich des Texttransfers anderen Kontextfaktoren unterliegen und somit anderen Modalitäten der Adaption folgen. Cum grano salis ist der von ihm gezogene Vergleich aber wohl zulässig. 17 Zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie innerhalb der religiösen Tradition Ägyptens, insbesondere der Schöpfungsmythen, vgl. PRIES, Multicentricity. 18 ASSMANN, Kultkommentare, 108. 19 Vgl. etwa ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 192; FISCHER-ELFERT, Interferenzen; DERCHAIN, Allusion; VERNUS, Intertextualité; MOERS, Fiktionalität; DERS., Fingierte Welten; NAVRÁTILOVÁ, Intertextuality; HAGEN, Ptahhotep. 20 So im Rückgriff auf LOPRIENO, Defining, 51; MOERS, Fingierte Welten, 106–121; SIMON, Textaufgaben, 229 mit weiteren Verweisen auf einschlägige Werke der Literaturtheorie.
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(i.e. die universale Intertextualität), sowie andererseits zur Benennung und Kenntlichmachung konkreter Bezüge zwischen tatsächlich bezeugten (literarischen) Einzeltexten. Entsprechend den Zielsetzungen des vorliegenden Tagungsbandes und der Beschaffenheit altägyptischer Überlieferungsmuster liegt der hier gewählte Fokus der Betrachtung dezidiert auf dem heute noch nachvollziehbaren Umgang mit dem Einzelzeugen und seiner individuellen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte,21 zumal sich das altägyptische „Textuniversum“ – der scheinbaren Fülle der erhaltenen Traditionsmasse zum Trotz – heute allenfalls noch in einigen wenigen Rudimenten fassen läßt. Der gedankliche Zugang über die Intertextualität bietet den für die ägyptologische Forschung wesentlichen Vorteil, dass man damit zumindest nach Maßgabe moderner Literatur- und Texttheorien nicht mit einem rigiden Autorenkonzept operieren muss, was angesichts der Spezifika ägyptischer „Autorenschaften“, die eine Unterscheidung zwischen Skriptor, Kompilator, Kommentator oder auctor in der Regel nicht zulassen, ohnehin kaum zielführend wäre: Den Gegebenheiten in anderen antiken Schriftkulturen des Vorderen Orients durchaus vergleichbar, kannte die altägyptische Schriftkultur nämlich keine Autorenschaft im engeren Sinne einer geistigen Urheberschaft mit all ihren Implikationen im Hinblick auf die Beziehung von Autor und Werk, wie sie sich befördert durch die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert in Europa über mehrere Jahrhunderte hinweg immer weiter im Bewußtsein der Wissenschaft manifestiert hat, und zwar so sehr, dass es der rezenten Forschung mitunter spürbar schwer fällt, sich frei davon zu machen. Im Gegensatz dazu bemaß sich die auctoritas eines Textes und seine Bindung an den Traditionsstrom im ägyptischen bzw. in einem wohl übergreifend altorientalischen Selbstverständnis nämlich primär quasi-historisch nach Maßgabe der beiden nachfolgenden Kriterien: 1.) Das hohe Alter eines Textes, welches idealerweise auf einen göttlichen Ursprung verweist, der explizit wird in der Zuschreibung einer göttlichen Autorenschaft oder im Rahmen eines auf mythische Zeiten verweisenden Fundtopos,22 welcher nicht selten auch als Akt der Offenbarung verstanden wurde,23 sowie 2.) die Autorität der Tradenten, die zusätzlich untermauert wird durch Verweise auf als besonders prominent und einflußreich angesehene Glieder der Überlieferungskette, welche die Authentizität eines Textes und nicht selten auch den Nexus zu seinem göttlichen Ursprung (i.e. das unter 1. verzeichnete Kriterium) verbürgen. Neben Königen wie etwa Snofru, 21
Also grosso modo jener Herangehensweise, die man in der Forschung seit einigen Jahren mit dem Etikett „material philology“ zu versehen pflegt. 22 Einen guten Überblick dazu bieten OSING, Alte Schriften und VERNUS, Essai. 23 Vgl. zu diesem Zusammenwirken von Offenbarung und Tradition CANCIK, Wahrheit, 20f.
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Pepi I., Neferhotep I., Thutmosis III., Necho II.24 u.a.m. scheint es dazu ein variables Set an illustren Dichtergestalten und Erzliteraten gegeben zu haben, von denen der Weise Imhotep oder der Prinz Djedefhor zumindest aus rezenter Sicht zu den bekannteren Figuren zählen.25 Letztere sind im Bereich der sogenannten Weisheitsliteratur besonders prominent, haben aber auch im Bereich der kultischen und iatro-magischen Tradition ihren festen Platz. Es ist bemerkenswert und aus sich heraus eigentlich nicht evident, dass mit dem Postulat derart starker Autoritätskonstrukte keine umfangreiche Kommentarliteratur einhergegangen wäre, obwohl man gerade bei der Überlieferung autoritativer Texte doch durchaus den Anspruch hatte, sie getreu ihrem originalen Wortlaut zu tradieren. Entsprechende Wortlautformeln, die eine exakte Wiedergabe des überkommenen Textes gewährleisten sollten, sind in den Kolophonen altägyptischer Totenbücher des 14. Jh. v.Chr. bis in die koptische Literatur hinein kontinuierlich bezeugt.26 Vorderhand würde man demnach doch annehmen, dass dieser Umstand eine produktive, eigenschöpferische, eventuell sogar kritische „Fortschreibung“ nur dann zuließe, wenn sie im Kleide eines sekundären, deutlich vom Basistext abgesetzten Kommentars daherkäme und sich dezidiert als Auslegung des autoritativen Basistextes gäbe. Konkrete Befunde dieser Art sind aber, wie oben bereits gesagt, nicht erhalten geblieben27 oder bislang nicht als solche erkannt.
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Vgl. konkret zu diesem Herrscher, den man hier nicht unbedingt erwarten würde, die Bemerkungen von RYHOLT, Nechepsos und QUACK, Imhotep, 57. 25 Zu Imhotep vgl. WILDUNG, Imhotep; QUACK, Imhotep. Eine eigene Erörterung zur Funktion dieses Personenkreises als Garanten der Überlieferung befindet sich in Vorbereitung. Mutatis mutandis entsprechen die ägyptischen Autoritätskonstrukte in diesem Bereich denen des Zweistromlandes: Vgl. etwa CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 331–336.343–348, konkret zu Mesopotamien bes. 91–93 sowie LAMBERT, Catalogue und die Angaben dazu bei FRAHM, Textual Traditions, 15. 26 In aller Deutlichkeit bringt es das Totenbuch des Juja (Pap. Kairo CG 51189, Z.971f.) zum Ausdruck: „Es ist gekommen von seinem Anfang bis zu seinem Ende, und zwar so wie es geschrieben vorgefunden wurde, indem es abgeschrieben, revidiert, kollationiert und berichtigt ist, Schriftzeichen für Schriftzeichen.“ Text bei MUNRO, TotenbuchHandschriften, Tafelband, Tf. 71, Z.971f. Übersetzung und Kommentar bei LENZO MARCHESE, Colophons, 369; vgl. auch ČERNÝ, Paper, 25; WEBER, Beiträge, 143; vgl. außerdem CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 194 sowie 181 mit den Verweisen dort. Zur koptischen Überlieferung und den dort gebrauchten Ausdrücken vgl. QUECKE, Wahrheitsbeteuerung. Der entsprechende akkadische terminus technicus lautet übrigens kīma labīrišu šaṭirma bari, d.h. „in Übereinstimmung mit seiner Vorlage geschrieben und kollationiert“ (CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 187f. bieten Weiteres dazu). 27 Vgl. dazu ASSMANN, Kultkommentare, 108; außerdem ASSMANN, Rezeption und Auslegung, 125.
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Neben den quasi-historischen, mehrheitlich wohl fiktiven, in der Vorstellungswelt der Ägypter aber (im Wortsinne) „akkreditierten“28 Zuschreibungen der Texte an bestimmte Verfasser werden die realen Kopisten, Kompilatoren und Redaktoren in Handschriften immerhin durch ihre distinkte Hand greifbar.29 Mitunter sind sie sogar namentlich bekannt durch entsprechende Angaben in Kolophonen.30 In seltenen Glücksfällen stehen überdies noch weitere Dokumente aus dem Umfeld dieser Individuen zur Verfügung – darunter auch reflektierende Texte, wie z.B. (Auto)biographien und Briefe –, die es dem Ägyptologen gestatten, eine Schreiberpersönlichkeit und ihren Umgang mit den überkommenden Texten näher und umfänglicher zu fassen. Über interessante Einzelbeobachtungen kommt man dabei aber nicht hinaus.31 In den meisten Fällen bleibt nur der Versuch, die antiken Redaktoren über die Rekonstruktion der Redaktionsschichten eines manifest vorliegenden Textes zu fassen, wie es in den Bibelwissenschaften gang und gäbe ist. Diese Vorgehensweise ist methodisch anspruchsvoll und diffizil. Ihre Effizienz hängt zunächst einmal maßgeblich vom Beleghorizont eines Textes ab: Liegt ein Text in einer stattlichen Anzahl von Fassungen und idealerweise auch noch aus mehreren Orten vor, wie das bei einigen „klassischen“ Texten der belles-lettres sowie den Sprüchen der Ritualliteratur und einigen weiteren Literaturwerken der Fall ist, bietet sich damit ein vergleichsweise guter Referenzrahmen, um seinen Status innerhalb des Traditionsstromes zumindest approximativ zu bestimmen. Problematisch wird es dann, wenn überdies versucht wird, eine Entscheidung darüber zu treffen, welche der unterschiedlich bezeugten Lesarten für die tatsächliche Überlieferung maßgebend war. Versucht man dies auf der einzig verfügbaren Grundlage der erhalten gebliebenen Texte, etwa mit den Mitteln der Stemmatik, so suggeriert das Ergebnis einen Erkenntnishorizont, der so in Wahrheit oft gar nicht gegeben war. Denn selbst bei hundert noch verfügbaren Belegen eines einst vermutlich in Myriaden überlieferten Textes, die zudem noch aufgrund vieler Unwägbarkeiten auf uns gekommen sind und damit in ihrer Materialität kaum repräsentativ sind, erscheint ein solches Vorgehen immer dann als problematisch, wenn 28
Vgl. etwa den Beleg bei WILDUNG, Rolle, 189f.; OSING, Alte Schriften, 150. Recht instruktiv ist hier der auf den „Mikrokosmos“ der Tempelbibliothek von Tebtunis bezogene Beitrag RYHOLT, Scribal Habits, 177–182. 30 Zur Verwendung von Kolophonen allgemein vgl. ČERNÝ, Paper, 29; ausführlicher LENZO MARCHESE, Colophons und LUISELLI, Colophons, bes. 345–350 mit weiteren Verweisen. 31 Man vgl. exemplarisch die nachfolgend aufgeführten Studien zu den aus Deir elMedinah gut bezeugten Schreiberpersönlichkeiten Menena (dazu FISCHER-ELFERT, Literature) und Amunnacht (dazu BICKEL/MATHIEU, Amennakht; DORN, Lehre Amunnachts; BURKARD/THISSEN, Einführung, 124; BURKARD, Amunnacht sowie POLIS, Scribal Repertoire); vgl. außerdem RYHOLT, Scribal Habits, 177–182 zu vergleichbaren Befunden in Tebtunis. 29
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versucht wird, damit tatsächlich konkrete Traditionslinien darzustellen. Was man statt dessen erhält, und das ist zweifellos auch von Wert, ist ein umfassender Überblick über den Beleghorizont des Textes. Auf einer solchen Basis kann bei guter Beleglage dann approximativ rekonstruiert werden, wann welche Redaktionen welche Textbelege produziert haben und unter welchen Rahmenbedingungen dies geschah. Die real gegebene Überlieferungssituation des Textes bleibt aber weiterhin im Dunkeln.32 Methodisch setzt dieser Umstand eine saubere gedankliche Trennung zwischen der altägyptischen Überlieferung und der ägyptologischen Verfügbarkeit bzw. Identifizierbarkeit dieser Überlieferung voraus.33 Noch problematischer wird es, wenn ein Text in nur wenigen Rezensionen oder sogar singulär bezeugt ist. Selbstverständlich verfügt auch die ägyptologische Philologie in solchen Fällen über alle bekannten Instrumentarien der Literatur- und Textkritik, über Möglichkeit und Art ihrer Anwendung besteht jenseits der grundsätzlichen Fragen aber durchaus noch Dissens.34 Insofern bietet der gedankliche Zugang über die Intertextualität zudem einen vergleichsweise flexiblen Rahmen, innerhalb dessen man sich etwa der Verpflichtung enthoben fühlt, die Position eines Textes im Traditionsstrom nach Maßgabe seiner mutmaßlichen Nähe zur Urgestalt bzw. anhand seiner vermeintlichen Fehlerhaftigkeit bestimmen zu wollen. Statt dessen kann man damit die unterschiedlichen, sich im Laufe des Überlieferungsprozesses verändernden Zustände eines Textes relativ ungehindert angehen. Da Intertextualität nicht nur ein Etikett der rezenten Forschung, sondern eine erkennbare Größe im Rahmen altägyptischer Textüberlieferung darstellt, wird sie hier 32 Auf diese Diskrepanz spielt wohl auch MORENZ, Textüberlieferung, 135 an, wenn er Stemmata als „ein Konstrukt des Philologen“ und als „insofern phantomartig“ bezeichnet. 33 Beides kann nämlich nicht unerheblich auseinanderklaffen, wie dies FISCHERELFERT, Arbeit am Text, 509 richtig angemerkt hat. 34 Für einen ersten Überblick über die im Fach angewandten Methoden, ihre Vor- und Nachteile sowie ihre innerfachliche Akzeptanz sei hier auf die Beiträge BACKES, Textkritik und QUACK, Textedition sowie die einschlägigen Aufsätze in LOPRIENO, Literature verwiesen. Den derzeitigen status quo (mit einem impliziten Fokus auf die erzählende Literatur) reflektierte zuletzt meines Wissens RAGAZZOLI, Beyond Authors, bes. 95f. Überdies bietet QUACK, Irrungen, 415–450 einen systematischen Überblick über diejenigen Kriterien, die bislang bei der Datierung der älteren ägyptischen Literatur Verwendung fanden. Mutatis mutandis sind die dort angeführten Kriterien auch für die kritische Beurteilung der Überlieferungsstruktur eines Textes maßgeblich. Besonders kontrovers wird derzeit diskutiert, inwieweit die „sprachhistorische Methode“ dazu taugt, das Alter konkreter Texte (nicht Textvertreter!) zu erfassen (vgl. dazu zuletzt PRIES, Rez. Moers et al.). Ihren Nutzen im Hinblick auf die Rekonstruktion der Redaktionsschichten eines Textes demonstriert der Beitrag QUACK, Beobachtungen recht eindrücklich. Die in den Bibelwissenschaften verbreiteten Ansätze der Form- oder Stilkritik spielen in der ägyptologischen Forschung bislang keine maßgebliche Rolle. Zur Anwendung der Formkritik vgl. auch QUACK, Irrungen, 65–67.
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nicht abstrakt als philosophisches Konstrukt, sondern pragmatisch begriffen als eine (im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wirkende) Dimension der Textkonstituierung,35 die eine nähere Untersuchung der Beziehung zwischen einem manifest vorliegenden Text und potentiellen, heute noch identifizierbaren Prätexten jenseits allzu rigider Analysemuster ermöglichen soll. Als konkreter Sonderfall intertextueller Bezüge innerhalb der Überlieferungsstruktur eines Textes ist das Phänomen der Interferenz zu begreifen: Gemeint sind damit Überlagerungen oder Überschneidungen, die beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer Traditionsvarianten immer wieder entstanden sind und sich fallweise auch heute noch anhand konkreter Befunde nachweisen lassen. Mitunter waren es nicht einmal intentionale Faktoren, die solche Prozesse auslösten bzw. steuerten, sondern im Ursprung entropische wie zum Beispiel die unaufmerksame Abschrift älterer Vorlagen, die defizitären Textkenntnisse vorheriger Rezipienten, Fluktuationen bei der Verfügbarkeit der für die Tradition maßgeblichen Textarchive oder noch ganz andere unwägbare Umstände, die Anlass zu einer kreativen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Vorlagen- oder Mustertexten gaben. Im für die Gesamtüberlieferung günstigsten Fall standen so entstandene Varianten der Tradition in einem komplementären Verhältnis zueinander. Widersprachen sie sich aber in Wortlaut und Textaussage, wurde die idealiter angestrebte Reproduktion des Textes dadurch zunächst einmal gestört, und der Tradent musste nun entscheiden, welche der ihm bekannten Traditionslinien er fortführte, ob er (wie der rezente Forscher) sämtliche Linien gebührend, d.h. dann meist gleichwertig, berücksichtigte und sie etwa durch Glossierung bzw. Kommentierung des Textes entsprechend zusammenführte, oder ob er noch sehr viel stärker interpolierte und damit nach Maßgabe eigener Kreativität, Sachkompetenz und Entscheidungsgewalt sogar eine neue Traditionslinie begründete. Dieser Prozeß musste gar nicht mit einem großen Innovationspotential des Tradenten einhergehen, denn auch die Übertragung überkommener Textmuster auf neue Kontexte ohne umfangreiche Angleichung oder explizite Kommentierung fällt in den Bereich der Interferenz. Ein weiterer maßgeblicher, im Rahmen der nachfolgenden Fallstudien aber nur am Rande mitschwingender Generator überlieferungshistorischer Dynamiken ist die in ägyptischen Texten insbesondere der religiösen Überlieferung häufig und oft ganz bewußt eingesetzte Amphibolie. Das System der Hieroglyphenschrift (und ihrer kursiven Derivate) verleiht ägyptischen Texten nämlich mitunter eine semantische Tiefe, die zu ergründen dem Rezipienten sehr viel mehr abverlangt als bloße Lese- und Sachkenntnis. So umgibt bestimmte Wortschreibungen eine regelrechte Aura von Mit- und Nebenbedeutungen, so dass die metatextuelle Information nicht im Sinne eines Kommentars oder vergleichbaren Fortschreibungen neben dem eigentlichen Text 35
Vgl. in diesem Sinne SALZER, Magie, 20f.
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steht, sondern demselben bereits inhärent bzw. ihm im Wortsinne eingeschrieben ist. Dieses unten noch näher am Beispiel zu belegende und zu erörternde Phänomen hat die Ausbildung dynamischer Überlieferungsstrukturen zumindest im Bereich des religiösen Schrifttums ganz maßgeblich befördert – vermutlich sogar noch in sehr viel stärkerem Maße als der korrektive Umgang mit tatsächlichen Fehlern bzw. entsprechenden Fehldeutungen der Tradition.
2. Fallstudien Anhand von zwei Fallstudien, in denen sich im Rahmen von zwei ganz unterschiedlichen literarischen Gattungen verschiedene Grade, Arten und Facetten der Fortschreibung und Auslegung von Texten innerhalb der altägyptischen Schriftkultur fassen lassen, soll nun exemplarisch gezeigt werden, wie sich das in Teil I des Aufsatzes in aller Kürze Dargelegte im konkreten Befund darstellt. Nach der Schwerpunktsetzung des alttestamentlichen Forschungsprojektes, in dessen Rahmen die Bochumer Autorenkonferenz stattfand, sollen primär narrative Texte behandelt werden. Deshalb behandelt die erste Fallstudie Beispiele aus dezidiert narrativen Texten. 2.1. Fallstudie A: Erzählende Literatur Die Erzählung der Lebensgeschichte des Hofbeamten Sinuhe ist sowohl in Form, Inhalt und Aussage, als auch im Hinblick auf ihre Überlieferungsgeschichte für ägyptologische Verhältnisse überdurchschnittlich gut und eingehend erforscht worden,36 so dass sie philologisch hervorragend erschlossen und heute weit über die engen Fachgrenzen hinaus bekannt ist. Trotzdem seien hier im interdisziplinären Kontext noch einmal in der gebotenen Kürze die wesentlichen Fakten und Interpretationsansätze zur Überlieferung und zum Beleghorizont des Textes zusammengefasst: Erhalten und bekannt sind heute fünf Papyri aus dem Mittleren Reich, zwei spätere Papyrushandschriften aus dem Neuen Reich sowie bis dato 28 Ostraka, die ebenfalls allesamt 36 Es gibt zahllose Bearbeitungen, Interpretationen und Kommentare unterschiedlicher Art. Dies auszubreiten, ist hier nicht der Ort. Neben den bekannten bibliographischen Instrumentarien ist aber die von Lüscher und Lapp in Basel erstellte und etwa 150 Seiten umfassende Sinuhe-Bibliographie hervorzuheben: Sie ist abrufbar unter https://aegyptologie. philhist.unibas.ch/de/forschung/werkzeuge/sinuhe-bibliographie/. Zudem ist der Text auch textkritisch intensiv untersucht worden. Im Jahre 1908 wurde auf der Basis des Sinuhe das wohl erste ägyptologische Stemma erstellt, welches bis in jüngste Zeit erweitert und modifiziert wurde. Vgl. MASPERO, Sinouhit und dazu auch QUACK, Ani, 13 sowie die Erweiterungen und Modifizierungen des Stemmas bei KAHL, Sinuhe, Abb. 3 und WINAND, Sinuhe, Fig. 4 und 7.
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aus dem Neuen Reich37 und ganz überwiegend aus der thebanischen Arbeitersiedlung Deir el-Medinah stammen, wobei das gewaltige Ostrakon AOS aus dem Ashmolean Museum in Oxford (AN1945.40) 88,5 x 31,5 cm misst und auf seiner Vorder- und Rückseite nahezu den gesamten Text der SinuheErzählung überliefert hat. Die erhaltenen Handschriften dokumentieren damit in Ausschnitten einen Traditionszeitraum von über acht Jahrhunderten38 und eine nachweisbare Verbreitung, die immerhin über den thebanischen Raum hinaus bis in die Nekropole Haraga in Mittelägypten nahe el-Lahun weist.39 Nicht zuletzt nach den Ergebnissen der textkritischen (d.h. konkret stemmatischen) Analyse in einem vielbeachteten und für die Erforschung der Sinuhe-Tradition ganz zentralen Aufsatz von Kahl geht man beim Sinuhe von einem Traditionsmuster aus, nach dem der Text im Mittleren Reich noch vergleichsweise offen, im Neuen Reich dann aber vollständig reproduktiv tradiert worden wäre.40 So konstatiert Kahl etwa abschließend: „Redaktionen – im Sinne von systematischen inhaltlichen oder sprachlichen Überarbeitungen – und damit verbundenen Neuinterpretationen des Textes gab es im Neuen Reich nicht“.41 In gewisser Weise konträr dazu tendiert man mittlerweile dahin, die Zeugnisse der späteren Sinuhe-Überlieferung eher im Sinne einer literarischen réécriture zu deuten, die ihren Anfang in der 18. Dynastie nimmt und dann in der Ramessidenzeit weitere Früchte trägt.42 Man nimmt
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Das Ostr. Berlin P 12341 ließe sich allenfalls noch in die späte 17. Dynastie datieren; vgl. dazu PARKINSON, Reading, 174 mit Anm. 2 und Fig. 7.1. 38 I.e. der Zeitraum der Koregenz von Sesostris III. und Amenemhet III. bis in die spätere Ramessidenzeit, vgl. ALLEN, Literatur, 55f.; ausführlicher PARKINSON, Reading, 176– 207; FEDER, Struktur, 171–174 sowie die Übersicht bei WINAND, Sinuhe, Fig. 1. Eine Übersicht darüber, welche Passagen der Sinuhe-Erzählung die einzelnen Textzeugen überliefert haben, bieten KAHL, Sinuhe, 384f. und WINAND, Sinuhe, Fig. 2. Die zeitliche Dimension der Überlieferung bildet die Tabelle in DORN, Topografie, 87f. ab. 39 Vgl. PARKINSON, Poetry and Culture, 67f.297f. 40 KAHL, Sinuhe sowie zuletzt WINAND, Sinuhe, 238, welcher von einer „closed“ bzw. „frozen tradition“ im Neuen Reich spricht. Vgl. auch KAHL, Siut-Theben, 37f. und jüngst noch WINAND, (Re)productive Traditions, bes. 34. In diesem Sinne, aber in der konkreten Auslegung des Befundes noch etwas differenzierter äußert sich auch PARKINSON, Reading, 182 (im expliziten Rückgriff auf Kahl).186f.189. Bekanntlich gibt es keine Überlieferung, die rein reproduktiv oder rein produktiv wäre. Traditionen zeigen immer nur Tendenzen in die eine oder andere Richtung. Insofern ist es bei der Beurteilung von Überlieferungen wohl generell zielführend, nicht mit einer allzu strikten Opposition reproduktiv-produktiv zu operieren. 41 KAHL, Sinuhe, 399. 42 Vgl. etwa WINAND, Sinuhe, 236f.241 sowie GNIRS, Geschichte im Rückgriff auf Überlegungen von Feder und Parkinson. Die Evidenzen für eine édition Ramesside diskutiert bereits GARDINER, Notes, bes. 162f. Dass die Entstehung und die Gestalt einer solchen Rezension natürlich auch in den Kontext der fortschreitenden Sprachentwicklung, der in dieser Zeit aufkommenden neuen, zeitgenössischen Literaturwerke und eines spezifi-
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nun mehrheitlich an, dass im Neuen Reich eine systematische Revision und auch neue Redaktion des Textes vorgenommen worden ist, die eine in Teilen stark umgearbeitete „Neuauflage“ des Sinuhe hervorgebracht hat, welche nötig geworden war, weil man die Erzählung in Teilen nicht mehr verstanden hätte. Fraglos richtig ist, dass sich die spätere Überlieferung des Sinuhe, blendet man die Zeugen des Mittleren Reiches einmal aus, textkritisch in einem einfachen, mehr oder minder linearen Stemma darstellt. Anzunehmen ist überdies, dass der Text der Sinuhe-Erzählung in den 75 Jahren zwischen dem frühesten möglichen Entstehungszeitpunkt (Sesostris I.) und den ersten erhaltenen Bezeugungen eine formative Phase durchlief, die, wie der Wortlaut der erhaltenen Papyruszeugen des Mittleren Reiches erahnen läßt, durch zahllose, variantenreiche Redaktionen geprägt war, wohingegen sich seine Tradition als „Klassiker“43 im Neuen Reich durch einen tendenziell höheren Grad an Normiertheit ausgezeichnet haben wird und gleichzeitig durch neue Lesarten und sprachliche Umarbeitungen des überkommenen Textgutes letztlich einen neuen Text konstituiert. In ihren Grundzügen dürften diese Tendenzen klar und zutreffend sein. Einen Beweis dafür liefert das Stemma aber keineswegs, denn abgesehen vom Problem des Erhaltungszufalls44 bleibt darin auch die unterschiedliche, für die überlieferungshistorische Beurteilung aber maßgebliche „Materialität“ der Textzeugen des Sinuhe weitgehend unberücksichtigt. Schließlich haben wir es bei den Belegen des Mittleren Reiches mit vergleichsweise guten Papyrushandschriften zu tun, die den Text einmal in seiner Gesamtheit überliefert haben, was „systematische Redaktionen“ fraglos erforderlich machte. Die kurzen Teilabschriften auf den Ostraka des Neuen Reiches stammen aber aus mehrheitlich edukativen Kontexten.45 Wer im schen Bildungsumfeldes zu stellen sind, haben etwa BAINES, Classicism; PARKINSON, Poetry and Culture, 145.232–234 und DERS., Reading, 189–207 ausführlich dargelegt. 43 Vgl. dazu ASSMANN, Klassik. 44 Das Stemma ist ein auf der Grundlage mehr oder minder zufällig erhaltener Belege aus dem thebanischen Umfeld gewonnenes textkritisches Konstrukt, welches mit der anzunehmenden Gesamtüberlieferung des Sinuhe im Lande wahrscheinlich nur sehr wenig zu tun hat. 45 Es ist nach Ausweis einiger Exemplare nicht davon auszugehen, dass es sich bei den zahlreichen beschrifteten Tonscherben aus der Arbeitersiedlung von Deir el-Medinah sämtlich um reine Schreibübungen handelt, die man sofort nach ihrer Abfassung entsorgt hätte, wie zuletzt etwa PARKINSON, Reading; HAGEN, Ptahhotep, 93; SIMON, Textaufgaben, 225 Anm. 362; WIDMAIER, Cheti 492–503 und sicher auch noch andere angemerkt haben. Bekanntlich ist das Material inhomogen und mitunter von ganz beachtlicher Qualität, wie dies schon vor längerer Zeit von Černý, einem ausgewiesenen Kenner dieses Materials, dargelegt worden ist (vgl. ČERNÝ, Rez. van de Walle, 69). In denjenigen Fällen, wo es sich bei den Kopien nicht um kurzlebige Schreibübungen von Schülern, sondern tatsächlich um „Lesestücke“ oder von erfahrener Hand angefertigte Teilabschriften handelt, wäre ihr potentieller Einfluß auf die fortlaufende Texttradition vergleichsweise hoch anzusetzen.
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Rahmen einer (Ab-)Schreibübung nur ein paar Verse Sinuhe auf eine Scherbe überträgt, nimmt natürlich keine „systematische Redaktion“ des Gesamttextes im oben beschriebenen Sinne vor. Das soll und kann er ja gar nicht. Unklar, für die weitere Beurteilung aber maßgeblich ist demgegenüber die Funktion des Ostrakons AOS, welches nahezu die gesamte Erzählung überliefert hat und deshalb am ehesten als Zeuge für eine systematische Redaktion des Textes infrage käme. Als denkbare Verwendungsweise des ungewöhnlichen Textträgers wurde seine Nutzung als Vorlage für Übungsabschriften angeführt.46 Möglicherweise stellt er aber auch eine Art „große Hausarbeit“ dar.47 Bedauerlicherweise wird überdies die Aussagekraft der anderen potentiellen Hauptzeugen aus dem Neuen Reich dadurch stark eingeschränkt, dass Pap. Moskau 4657 (Handschrift G) nur sehr fragmentarisch erhalten48 und der vermutlich eher ramessidisch zu datierende Pap. CGT 5401549 zudem immer noch unpubliziert ist. Der Text auf AOS zeigt zahllose Varianten, die auf den ersten Blick schwerlich eine „Systematik“ erkennen lassen. Wie Kahl in aller Klarheit herausgestellt hat, stehen darin scheinbar fehlerhafte und völlig sinnentstellte Passagen, mutmaßliche Korruptelen und merkwürdige Interpolationen neben durchaus sinnvollen Anpassungen, Ergänzungen und Uminterpretationen des Textes, die mitunter von einem hohen Reflexionsvermögen zeugen und sich fallweise sogar spezifischen aber keineswegs erkennbar vereinheitlichenden Redaktionsschichten zuordnen lassen. Dass im Rahmen der Übertragungen des Textes „sukzessive bzw. ad hoc“ mitunter auch „Ersetzungen älterer Formen erfolgten“, oder es zu „Änderungen der grammatikalischen Konstruktionen50 (…)“ gekommen ist, „die immerhin noch auf ein streckenweises Verstehen des Textes schließen lassen“, räumt auch Kahl ausdrücklich ein.51 Wenn das aber heißen soll, dass der Text im Neuen Reich nur noch punktuell, in weiten Teilen aber nicht mehr verstanden wurde, wie das ja im Rahmen des réécriture-Ansatzes angenommen wird, wäre das eine für die Beurteilung der
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So etwa KAHL, Sinuhe, 392f. mit Anm. 46 im Rückgriff auf Barns. Vgl. außerdem BOMMAS, Ostrakon, 12f. und mit Blick auf ähnliche Befunde aus byzantinischer Zeit CRIBIORE, Writing, 64. 47 Vgl. in diesem Sinne PARKINSON, Reading, 200 mit Anm. 48 gegen die Annahme einer Art blackboard oder master copy. 48 Vgl. CAMINOS, Fragments, Tf. 24f. Andere Werke aus dieser Literatursammlung zeigen übrigens durch die an ihnen vorgenommenen Textkorrekturen, wie sorgsam diese Handschriften redigiert wurden; vgl. zusammenfassend dazu PARKINSON, Reading, 183. 49 Es handelt sich immerhin um „a well-written and highly readable copy, with no unintelligible errors“, wie PARKINSON, Reading, 203 konstatiert. 50 Im Zusammenhang besonders auffällig ist der Umgang mit der Form des narrativen Infinitivs; vgl. dazu STAUDER, Linguistic Dating, 244f.248. 51 Vgl. insgesamt KAHL, Sinuhe.
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Überlieferung altägyptischer Literaturwerke insgesamt recht folgenreiche Vorannahme. Vorderhand könnte man mit Gardiner und Parkinson nämlich erst einmal unterstellen, dass jeder, der im Neuen Reich Lesen und Schreiben konnte oder es gerade erlernte, auch mit dem Inhalt des Sinuhe mehr oder minder vertraut war oder es zumindest gewesen sein sollte.52 Dass trotzdem, und zwar gerade in der Arbeitersiedlung von Deir el-Medinah,53 Abschriften bezeugt sind, die ihren Verfassern Unkenntnis und Ignoranz bescheinigen oder einfach eine gewisse Gedankenlosigkeit bei der Abschrift,54 steht nicht im Widerspruch zu dieser grundsätzlichen Annahme. Welcher Schüler durchdringt heute etwa Inhalt, Intention und historischen Hintergrund der Literaturwerke unserer Klassik, mit denen er im Rahmen seiner Schulbildung konfrontiert wird? Und wie viele Gymnasiallehrer tun das noch? Auch der schreib- wie lesekundige und literaturaffine Laie tut das in der Regel nicht. Dennoch kann man kaum behaupten, Schillers Wallenstein oder Goethes Faust würden heute nicht mehr verstanden werden. Noch weniger Menschen dürften heute Eschenbachs Parzival oder andere Werke der mittelhochdeutschen Literatur ohne Übertragung in rezentes Deutsch und einen umfang52
Vgl. etwa PARKINSON, Reading, 177.179(„the contents of the poem [i.e. Sinuhe] were still appreciated: it was still read and not simply copied“); außerdem aaO., 193.201 mit Blick auf die Ramessidenzeit; entsprechend GARDINER, Notes, 164: „To the young scribes of the Eighteenth and Nineteenth Dynasties the adventures of Sinuhe were doubtless as familiar as those of Robinson Crusoe to the English child“. 53 Schließlich befinden wir uns hier nicht in den Lebenshäusern von Heliopolis oder Memphis, sondern in einer Kunsthandwerkersiedlung mit zwar hervorragend in ihrem Fach ausgebildeten und offensichtlich literaturaffinen, aber mitunter auch nur semi-literaten Individuen. Der Grad der Literarizität der in der Siedlung Lebenden ist Gegenstand kontrovers geführter Debatten in der Ägyptologie (vgl. rezent etwa WIDMAIER, Cheti, 512f. Anm. 111 und auch 510f. mit den Verweisen dort). Die Alphabetisierungsrate war dort fraglos recht hoch. Dennoch war Deir el-Medinah wohl kein Zentrum gelehrter Schrifttradition. 54 Vgl. exemplarisch die widersprüchliche Qualität der Abschrift des Sennedjem (vgl. im Detail dazu PARKINSON, Reading, 194–196). Überdies muss man fragen, welches Maß an Sorgfalt und Systematik man den Schreibern im antiken Niltal überhaupt zutrauen möchte. Wenn KAHL, Sinuhe, 397 etwa konstatiert, dass die Konstruktion des narrativen Infinitivs im Neuen Reich (d.h. im Rahmen dieses Beleghorizontes konkret: ganz überwiegend auf AOS) siebenmal durch ein sḏm.n=f ersetzt wird, zweimal aber nicht (immerhin ein komfortables 3:1-Verhältnis), ist das meines Erachtens kein so klares Indiz dafür, „daß es [im Neuen Reich] offenbar keine Rezension der Sinuhe-Erzählung gegeben hat“, sondern es könnte – zumindest nach Maßgabe dessen, was mir über den altägyptischen Umgang mit solchen Dingen und über die Organisation von Wissen in Ägypten insgesamt bekannt ist – ebenso gut von einem eher planmäßigen Vorgehen zeugen. Überdies ist es keineswegs zwingend so, dass die auf AOS bezeugte Ersetzung der Formen auf jeweils unterschiedliche Stufen der Überlieferung zurückgeht, wie Kahl es aus seiner textkritischen Analyse herleiten möchte.
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reichen Kommentar tatsächlich verstehen, aber das heißt doch noch lange nicht, dass es nicht trotzdem eine größere Anzahl von Spezialisten gibt, die das durchaus tun. Das, was die erhaltenen Zeugen des Neuen Reiches zum Ausdruck bringen, läßt allenfalls vorsichtige Rückschlüsse auf die konkrete und für Ägypten sicher spezifische Situation in Deir el-Medinah zu.55 Über die Kenntnis oder Unkenntnis der Sinuhe-Erzählung im Neuen Reich insgesamt oder gar über das Ausmaß und die Leistungsfähigkeit des kulturellen Gedächtnisses in dieser Zeit läßt sich auf dieser Grundlage hingegen keinerlei gesicherte Aussage treffen. Interessant ist hingegen, wie man im Milieu von Deir el-Medinah mit dem Problem umgegangen ist: Man hat nämlich eben keinen Kommentar zum Sinuhe (oder den anderen im Umlauf befindlichen Klassikern) verfasst, und man hat diese jahrhundertealten Texte auch nicht mit erklärenden Glossen oder Angaben von Textvarianten versehen, wie das in kult- und wissensbezogenen Texten aus Ägypten häufiger bezeugt ist. Fortschreibung und Auslegung erfolgen nicht in Form von Para- oder Metatexten, sondern allein durch Interpolation. Ein gutes (und außerdem sehr bekanntes) sowie vergleichsweise unstrittiges Beispiel dafür ist die in der jüngeren Texttradition des Sinuhe erfolgte Neuinterpretation der Rolle des Protagonisten vom flüchtigen Hof- und Harimsbeamten zum Prinzen.56 Zu Beginn der Erzählung (i.e. R 5) wird Sinuhe als Diener des Harims der Königsgemahlin des Sesostris I. und Königstochter des Amenemhet I. namens Neferu an den Pyramidentempeln dieser Herrscher in Lischt eingeführt: Während der für diese Stelle einzig verfügbare Textvertreter des Mittleren Reiches unmißverständlich sꜢ.t-nsw.t-Jmn-m-ḥꜢ.t m ḲꜢnfrw Nfrw nb.t-jmꜢḫ „Königstochter Amenemhets in Qaneferu (namens) Neferu, Besitzerin von Ehrwürde“ schreibt, bieten die Varianten des Neuen Reiches eine andere Lesart, nach der man den Passus auf Sinuhe selbst bezogen hat, der nun als „Königssohn des Amenemhet in der Größe seiner Vollkommenheit (o.ä.), Besitzer von Ehrwürde“ erscheint. Wie es zu dieser Lesart kommen konnte, ist insbesondere anhand der früheren Zeugen des Neuen Reiches leicht nachvollziehbar:57 So verzichtete man nämlich bereits auf dem Ostrakon aus dem Grab des Senenmut (S) auf eine Determinierung des Prinzessinennamens mit dem obligatorischen (weiblichen) Personendeterminativ, während dieses in Pap. Moskau 4657 (G) über der Zeile neben dem Verspunkt noch nachgetragen wurde. Hier gab es offenbar schon Unklarheiten im 55
Diese Einschränkung räumt beiläufig auch WINAND, (Re)productive Traditions, 34
ein. 56
Diese Beobachtung geht auf FEDER, Sinuhes Vater zurück; vgl. auch PARKINSON, Reading, 184–186; GNIRS, Geschichte, 376–382. 57 Vgl. auch KAHL, Sinuhe, 392.
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Verständnis, die nach Ausweis der späteren Zeugen fortbestanden haben. Dies mag dann in zu unterstellender Unkenntnis der historisch in Lischt bezeugten Neferu,58 deren Namen man offensichtlich nicht mehr als solchen erkannt hat, dazu geführt haben, dass man den Text an dieser Stelle auf Sinuhe umschrieb, indem man den ursprünglich auf Neferu bezogenen Prinzessinnentitel „Königstochter“ (sꜢ.t-nsw.t) nach Tilgung der Femininendung als sꜢnsw.t „Königssohn“ auf Sinuhe bezogen hat und ihn damit zum Prinzen machte. In S und G ist gerade diese Stelle leider nicht mehr erhalten. Beim nachfolgenden Toponym ḲꜢ-nfrw ist (nicht in S und G, aber durchgängig in den späteren Zeugen des Neuen Reiches) außerdem der Ausfall des Stadtdeterminativs festzustellen, was trotz gewisser Schwierigkeiten im Verständnis klar zeigt, dass man hier keinen Ortsnamen mehr angesetzt hat, sondern vermutlich einen auf den Königssohn Sinuhe bezogenen attributiven Zusatz. Diese Umdeutung der Rolle des Sinuhe bestimmt dann auch die Redaktion nachfolgender Textstellen: Im Zusammenhang mit den „Herrschermauern“ (jnb.w ḥḳꜢ), welche Amenemhet nach Ausweis der sogenannten Prophezeiung des Neferti, einem weiteren, mutmaßlich auch aus dem Mittleren Reich stammenden59 Literaturwerk, im Wadi Tumilat erbauen ließ,60 und zwar – wie es im Text heißt – um unliebsame Vorderasiaten von Ägypten fern zu halten, ändern sämtliche erhaltenen Zeugen des Neuen Reiches unter Einschluss der Papyrusfassung G den Text in jnb.w jt=j „die Mauern meines Vaters“ um (i.e. R 42 = B 17).61 Selbst im Rahmen des Hymnus auf Sesostris (i.e. R 74f. = B 50) versuchte man nach Ausweis einiger Textzeugen, dem erzählenden Sinuhe die Prinzenrolle zuzuschreiben, allerdings nur zaghaft. Denn augenscheinlich war man höchst verunsichert, wie die mehrmaligen Korrekturen auf AOS deutlich zeigen.62 Nachdem die Zeugen des Neuen Reiches kurz zuvor in AOS recto 27 und DM 4, 4 noch deutlich jt=f „sein (i.e. Sesostris) Vater“ schreiben, entschied man sich in AOS recto 28 und DM 2, 4 dann doch dazu,
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Vgl. ROTH, Königsmütter, 224–228. Zur Datierung vgl. POSENER, Littérature, 24–27; auch QUACK, Irrungen, 447. Die „Prophezeiung (auch: Klagen) des Neferti“ gehören zu denjenigen Texten, die uns anders als der Sinuhe erst in Handschriften ab der 18. Dynastie bezeugt sind, weshalb es gegen die vorherrschende Meinung immer wieder Ansätze gab, die Entstehungszeit des Textes nach dem Mittleren Reich anzusetzen. Zuletzt wurde das im Rahmen einer sehr ausführlichen, primär linguistischen Auseinandersetzung mit dem Text von STAUDER, Linguistic Dating, 337–433 vorgeschlagen. Die von Stauder ins Feld geführten linguistischen Indizien wurden allerdings jüngst durch Jansen-Winkeln in seiner Rezension zu dem genannten Werk nachhaltig entkräftet (vgl. JANSEN-WINKELN, Rez. Stauder, 121). 60 Vgl. POSENER, Littérature, 24f.; HELCK, Prophezeiung, 58; GOMAÀ, Besiedlung, 129f. 61 Zu POSENER, Littérature, 27 Anm. 1 vgl. FEDER, Sinuhes Vater, 49. 62 BARNS, Ashmolean Ostracon, rto. Z.28; KOCH, Sinuhe, 32a. 59
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den Text wiederum auf Sinuhe umzuschreiben,63 obwohl man sich nach Ausweis der Korrekturen auf AOS durchaus des Paradoxes bewusst war, dass Sinuhe dann einen Hymnus auf sich selbst vortrüge. Nachfolgend, zum Ende des Hymnus, als Sinuhe den Lokalfürsten Ammunanši auffordert, Sesostris seine Loyalität zu bekunden (i.e. R 97–101 = B 73–75), schreibt AOS in recto 35: (…) jry=f n=k jrr.t jt=j „(…), damit er dir tue, was mein Vater zu tun pflegte“, worin man Sinuhe wiederum die Rolle des Königssohnes zuschreibt. Hier zögerte der Schreiber von AOS nicht mehr; etwaige Korrekturen sind nicht zu erkennen. Feder hat noch anhand weiterer, überwiegend auf AOS bezeugter Textveränderungen plausibel machen können, dass diese durch nur minimale Texteingriffe erreichte, aber nicht gerade unerhebliche historische Neuinterpretation der Erzählung im Rahmen einer auf ihre Weise durchaus „systematischen“ Redaktion im Neuen Reich erfolgt ist. Überdies findet die Fortschreibung des Neuen Reiches mit der Zuschreibung der Rolle des Königssohnes an Sinuhe eine plausible Erklärung für seine Flucht. Denn nach Ausweis der Lehre des Amenemhet, die im Neuen Reich und speziell auch in Deir el-Medinah zusammen mit der Erzählung des Sinuhe rege rezipiert wurde,64 fiel Amenemhet I. einem Attentat zum Opfer, welches im Umfeld des königlichen Harims geplant und durchgeführt wurde. Es wird allerdings nicht explizit gesagt, ob das Attentat erfolgreich war. Nun steht die Nachricht vom Tode Amenemhets am Beginn der Erzählung des Sinuhe. Während Amenemhets Sohn und designierter Nachfolger Sesostris daraufhin zur Residenz eilt, um die Nachfolge in seinem Sinne zu regeln, fühlt sich der Harimsbeamte Sinuhe zur Flucht genötigt. Konkrete Gründe dafür nennt die Erzählung nicht. Vor dem Hintergrund der Attentatsschilderungen in der Lehre des Amenemhet läßt sich aber annehmen, dass die Flucht Sinuhes irgendwie damit in Zusammenhang steht,65 und dass auch die beiden Literaturwerke traditionsgeschichtlich zusammenhängen. Winand versteht diesen Zusammenhang geradezu genetisch, indem er in den Angaben der Lehre des Amenemhet eine Art Kommentar („literary response“) zur SinuheErzählung sehen möchte, welcher die unklaren Fluchtgründe zu benennen sucht. Die Sinuhe-Rezension des Neuen Reiches, welche Sinuhe zum Königssohn macht, wäre nach diesem Modell dann eine wiederum auf die Interpretation der Lehre des Amenemhet aufbauende Fortführung bzw. Fortschreibung
63
FEDER, Sinuhes Vater, 49. Vgl. die Textausgabe ADROM, Amenemhet. Neben Papyri, Holztafeln und einer Lederrolle ist der Text ausschnittweise auf über 300 Ostraka bezeugt, die mehrheitlich aus Deir el-Medinah stammen. 65 Die Erörterung dieser Zusammenhänge beschäftigt das Fach seit Jahrzehnten; vgl. dazu stellvertretend OBSOMER, Sinouhe, 220–245 mit einer Auflistung der wichtigsten Interpretationsansätze. Grundlegend war die vielbeachtete Studie POSENER, Littérature. 64
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des literarischen Diskurses: D.h. Sinuhe flieht (Sinuhe-Erzählung), weil auf Amenemhet ein Attentat verübt wurde (Lehre des Amenemhet) und Sinuhe kein Harimsbeamter, sondern dessen Sohn ist (spätere Sinuhe-Rezension).66 Beweisen lassen wird sich diese durchaus reizvolle Hypothese kaum. Hat Winand aber recht, dann zeigt sich darin eine Schnittstelle zwischen einer auf partiellem Unverständnis basierenden, aber konstruktiven Interferenz innerhalb der Sinuhe-Überlieferung und dem intertextuellen Zusammenspiel des Werkes mit der Lehre des Amenemhet. Konkreter fassbar werden intertextuelle Bezüge in Form von Zitaten, Allusionen und vergleichbaren Übernahmen und Entlehnungen von Texten. Glücklicherweise sieht sich die Forschung nicht nur imstande, solche Bezugnahmen aus der klassischen Erzählliteratur in größerer Zahl zu identifizieren,67 sondern man besitzt auch Kenntnis von einem altägyptischen Text, der die Verwendung von solchen Zitaten ausdrücklich reflektiert. Dabei handelt es sich um ein sich des Briefformulars bedienendes Literaturwerk, welches in zahlreichen Abschriften überliefert ist, von denen die wichtigste und vollständigste Handschrift, der Pap. Anastasi I, aus der Region um Memphis stammt, wobei die Entstehung des Textes selbst in der Ramsesstadt Pi-Ramesse/Qantir zu verorten ist. Der Inhalt des ersten Teils des Werkes läßt sich wie folgt umreißen: Der Schreiber Hori, der sich selbst einen „erlesenen Verstand“ (stp ḥꜢ.tj), „besonnenen Ratschlag“ (wꜢḥ nḏnḏ rꜢ), eine intime und lückenlose Kenntnis sämtlicher Hieroglyphen (ḥmw.w m mdw.t-nṯr nn ḫm.n=f) und vieles andere mehr attestiert (Kapitel I68), erhält von seinem Kollegen einen Brief. Dieser gibt Hori dann ausreichend Anlass, dem Absender im Gegensatz zur Hervorhebung seiner eigenen Fähigkeiten als überaus gelehrter Schreiber mangelnde Kohärenz im schriftlichen Ausdruck vorzuwerfen, ohne dabei allerdings näher ins Detail zu gehen (Kapitel IV). Die Unstrukturiertheit des Briefes führt Hori mutmaßend auf die Beteiligung noch weiterer Schreiber zurück, die er für ebenso unfähig wie seinen Kollegen hält (Kapitel V), um dann kontrastierend und nachdrücklich zu betonen, dass er selbst sein Antwortschreiben „von der ersten Seite bis zum Kolophon (…) allein und selbständig formuliert hat“, wie er es im Namen von Thot, dem 66 67
Vgl. im Einzelnen WINAND, (Re)productive Traditions, 34f. Wenn auch mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten und verbleibenden Unsicherhei-
ten. 68
Die Kapiteleinteilung folgt FISCHER-ELFERT, Streitschrift. Dort findet sich auch eine mustergültige Übersetzung des Textes und ein umfangreicher philologischer Kommentar. Die den Brief eröffnende Selbstdarstellung des Hori enthält noch viele weitere distinguierende Angaben zu seinen Fähigkeiten als Schreiber. Demnach war er unglaublich schnell beim Beschriften einer Papyrusrolle und konnte schwierige Textpassagen ebenso gut erklären (wḥ‛ jtnw; zur Wortbedeutung vgl. aaO., 21 Anm. v; PRIES, Miszellen, 308 Anm. 31 jeweils mit weiteren Verweisen; MORENZ, Schriftlichkeitskultur, 194f.), wie derjenige, der sie verfaßt hat (jrj).
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göttlichen Erzschreiber, beteuert (Kapitel VI). Sodann folgt eine sehr konkrete Kritik an der Gelehrsamkeit suggerierenden, aber nach Ansicht von Hori allzu oberflächlichen und unsachgemäßen Verwendung eines Spruches des Djedefhor bzw. aus der nach ihm benannten Lehre (Kapitel VIII). Es heißt: „Du bist dahergekommen, beladen mit großen Geheimnissen, du hast mir einen Spruch (ṯꜢsw) des Djedefhor zitiert (ḏd). Du weißt aber gar nicht, ob er gut oder schlecht ist. Welches Kapitel geht ihm voran, welches folgt ihm denn? Du bist doch der erfahrene Schreiber an der Spitze seiner Kollegen. Die Lehre aller Bücher ist eingraviert in dein Herz.“ Zweierlei wird hier deutlich: Erstens gibt es auch im Rahmen einer in weiten Teilen vergleichsweise offen überlieferten Weisheitsliteratur Konzepte von „Autorenschaft“, oder besser: fixe Zuschreibungen von Texten an bestimmte Werke.69 Zweitens unterliegt der Umgang mit solchen Texten gewissen Konventionen. Mit Fischer-Elfert wäre zu vermuten, dass der unbedarfte Kollege des Hori den betreffenden Spruch (bzw. Vers) einfach einem incipitKatalog entnommen und völlig unreflektiert zitiert hätte.70 Obwohl die in der Lehre des Djedefhor gesammelten Sprüche bzw. Maximen nicht vollständig überliefert sind, kann man diese fallweise dennoch in anderen Texten dieses Genres identifizieren, wenn auch immer mit kleinen (oder mitunter sogar größeren) Modifikationen des Wortlautes.71 Wie Brunner zu zeigen versucht hat, lassen sich entsprechende Beobachtungen auch auf der Grundlage anderer Werke der Weisheitsliteratur machen, die mit solchen Leitsprüchen bzw. Maximen operieren. Ob es sich dabei aber tatsächlich um Referenzen an ein anderes Werk handelt, ist durchaus zweifelhaft, da es sich in der Mehrzahl augenscheinlich um allgemein gebräuchliche, auch mündlich tradierte Lebensweisheiten handelt.72 Interessant ist im Zusammenhang aber, wie solche Entlehnungen als Generatoren eines geänderten Textverständnisses wirksam werden können. Ein entsprechendes Beispiel ist seinerzeit von Helck besprochen worden.73 Für die Verwendung von sogenannten Zitaten aus der Sinuhe-Erzählung wird gemeinhin ein Belegzeitraum vom Ende der Regierung Amenemhet III., i.e. kaum später als die frühesten Bezeugungen der Erzählung selbst,74 bis
69 Selbstverständlich ist Pap. Anastasi I nicht der einzige Text, der dies bezeugen kann: Vgl. dazu die Ausführungen oben. 70 Vgl. neben FISCHER-ELFERT, Streitschrift dazu auch DERS., Representations, 122; außerdem POPKO, Untersuchungen, 85 und HAGEN, Ptahhotep, 44f.91–93. 71 Vgl. POSENER, Hardjedef; BRUNNER, Entlehnung; DERS., Djedefhor; DERS., Zitate, 112–122. 72 Vgl. in diesem Sinne auch schon POLOTSKY, Inschriften, §§ 49–54. 73 Vgl. HELCK, Textverbesserung. 74 Das entsprechende Graffito Nr. 5 aus dem Wadi el-Hôl datiert in das 30. Jahr von Amenemhet III. (vgl. DARNELL, Survey, 96–101); etwas später ist die Grabinschrift
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mindestens in die Perserzeit angesetzt. Inwieweit sich in diesen Zeugnissen tatsächlich intertextuelle Bezugnahmen auf die Sinuhe-Erzählung erkennen lassen, ist in der Mehrzahl der Fälle durchaus fraglich. Darnell, der die unten zitierte Inschrift aus dem Wadi el-Hôl publiziert hat, bemerkt in seinem Kommentar, sie sei „almost certainly based on Sinuhe’s letter to Sesostris I in the Story of Sinuhe“.75 Was hier an signifikanten Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten festzustellen ist, beschränkt sich allerdings auf die im Rahmen des Briefformulars aufgeführten Götter, die in etwas anderer Reihung, unter Auslassung von „Nechbet, die Weiße von Hierakonpolis“ und unter Zusatz von „Min-Horus“ sowie von einigen weiteren Epitheta und allgemein gehaltenen Götterbezeichnungen auch im Antwortschreiben des Sinuhe bezeugt sind. Vergleichbare Listen finden sich aber überdies in zeitgenössischen Musterbriefen wieder76 und stellen somit keinen echten Nachweis für eine Reminiszenz an die Sinuhe-Erzählung dar. Intertextualität läßt sich auch hier eher in einem universalen Sinne feststellen, nämlich in dem Sinne, dass solche Götterlisten zu dieser Zeit, in dieser Region und im Rahmen von außerhalb des ägyptischen Kulturlandes zirkulierenden Briefen77 standardmäßig so formuliert wurden. Ausschlaggebend war hier die „phraseologische Gebundenheit“78 der Textgattung. Einen nachweisbaren direkten Zusammenhang zwischen der Sinuhe-Erzählung und dem Graffito aus der Wüste zwischen Luxor und Abydos, der meines Wissens unisono postuliert wird, gibt es demnach so nicht, und keineswegs handelt es sich bei dem Graffito, wie etwa von Dorn behauptet worden ist, um „den ersten datierten Sinuhe-Beleg“.79 Chnumhoteps III. aus Dahschur zu datieren (vgl. ALLEN, Khnoumhotep). Vgl. zudem die Übersicht bei DORN, Topografie. 75 DARNELL, Survey, 101; ganz in diesem Sinne auch DORN, Topografie und zurückhaltender PARKINSON, History, 58: „... contains a list of gods which seems to quote from ,Sinuhe‘“. Briefzitate (insbesondere von Königsbriefen) sind nebenbei bemerkt ein im Rahmen erzählender Texte häufig verwendetes Mittel und schon seit dem Alten Reich zu belegen. Das prominenteste Beispiel dieser Art stellt vermutlich der Brief von Pepi II. in der Biographie des Harchuf dar (SETHE, Urkunden I, 128–131). Im Falle des Zitates aus dem Wadi el-Hôl hätte man das Briefzitat aus dem Sinuhe gewählt – eine Auswahl, die als solche keineswegs abwegig wäre – und dann frei (vielleicht auch im Rahmen einer unzureichenden Gedächtnisleistung) in die Form eines Graffitos überführt. 76 Vgl. JAMES, Hekanakhte, 98–101 mit Tf. 30, Text B, Z.4–7. 77 In beiden Briefen wird u.a. eine größere Anzahl von solchen Göttern genannt, die dezidiert für die Peripherie Ägyptens zuständig waren. 78 Zum Ausdruck vgl. JUNGE, Gebundenheit. 79 DORN, Topografie, 86f. Entsprechend problematisch sind auch die von Dorn auf dieser Basis gezogenen Schlußfolgerungen. Fraglich ist ohnehin, was in der Forschung konkret als Beleg eines Literaturwerkes aufgefasst wird. Vgl. etwa die Zusammenstellung bei HAGEN, Ptahhotep, 79f. mit einigen Beispielen. Unglaubwürdig wird es, wenn man etwa die Überlieferung der Djedefhor-Lehre bis in das 2. nachchristliche Jahrhundert ansetzt,
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Ähnlich kritisch sind auch die Sinuhe-Zitate der Zweiten Zwischenzeit und des Neuen Reiches zu bewerten.80 Ebenso wie die betreffenden Passagen auf der Piye-Stele81 und in der Biographie des Udjahorresnet,82 welche später datieren, handelt sich dabei nämlich um idiomatisch oder syntaktisch ähnliche (d.h. in der Regel nicht einmal identische) Formulierungen, die kaum mehr als einen Satz oder Teilsatz umfassen und zudem noch einen anderen Kontext aufweisen. Die Bezeichnung solcher Intertexte als „Zitat“ wirkt, wie gesagt, unangebracht, wird in der Fachliteratur aber gerne verwendet.83 Mehr oder minder bewusste Anspielungen oder Reminiszenzen lassen sich zwar nicht ausschließen,84 sind aber angesichts des geringen Umfangs der Textsubstanz keinesfalls zwingend und kaum je ganz sicher nachzuweisen. Immerhin lassen sich (Teil-)Abschriften der klassischen Literaturwerke bis in die Spätzeit hinein noch einigermaßen gut fassen,85 und so ist es zumindest vorstellbar, dass auch der Sinuhe in dieser Zeit noch rezipiert worden ist und in seiner Texsubstanz intertextuell verarbeitet wurde. 2.2. Fallstudie B: Wissensbezogene Literatur Was die meisten Werke der primär im kultisch-religiösen Umfeld überlieferten wissensbezogenen Literatur von denen der belles-lettres unterscheidet, ist ihr oft sehr konkreter Anwendungsbezug. Damit unterliegt die Überlieferung der wissensbezogenen Literatur bei allen Gemeinsamkeiten fallweise durchaus anderen Kontextfaktoren als die in Fallstudie A vorgestellten Beispiele.86
nur weil der Name in dieser Zeit noch auf Papyrusfragmenten bezeugt ist (vgl. dazu HAGEN, aaO., 80 mit entsprechenden Verweisen). 80 Vgl. die Zusammenstellung bei DORN, Topografie, 96 mit den Verweisen dort. Zu den prominenten Stellen SETHE, Urkunden IV, 54, 15–17 und SETHE, Urkunden IV, 896, 1–3 wäre vor allem auch GRAPOW, Ägypter, 141–144 zu vergleichen. Eine ebenso kritische wie auch ausgewogene Bewertung der Befunde nimmt etwa PARKINSON, Reading, 176–180 vor. 81 Vgl. GRIMAL, Bibliothèques, 41f.; DERS., Stèle triomphale, 16.284; GUGLIELMI, Adaption, 353; JASNOW, Continuity, 197; vgl. auch BRUNNER, Zitate, 146. 82 Zuerst ALT, Vermutungen; vgl. auch POSENER, Première domination, 23 (i), GUGLIELMI, Adaption, 357 und JASNOW, Continuity, 198. 83 Vgl. die Angaben oben in Anm. 4 und dazu auch die Randbemerkung von JANSENWINKELN, Rez. Moers et al., 126: „In der Ägyptologie werden ein wenig ähnlich klingende Passagen gern etwas vorschnell zu Zitaten erhoben“. 84 Vgl. dazu schon GARDINER, Notes, 164. 85 Für die Sinuhe-Erzählung sind aus der Spätzeit meines Wissens keine Abschriften bezeugt, für die Lehre des Amenemhet und weitere Werke dieses literarischen Genres aber schon (vgl. dazu QUACK, Merikare, 13; QUACK, Sammelhandschrift). 86 Dass auch innerhalb der Gruppe der wissensbezogenen Texte im religiösen Bereich wiederum zu differenzieren ist zwischen solchen Texten, die stetig zur Anwendung kamen und rege rezipiert wurden, wie etwa den Ritualsprüchen, und solchen, die eher der Spei-
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Die mitunter sehr intensive Nutzung solcher Texte lässt sich sowohl physisch anhand von Ausbesserungen des Texträgers, als auch in Form von Randnotizen nachweisen, wie sie die fast neun Meter lange Handschrift des Pap. Jumilhac bezeugt, einem mythologischen Handbuch für den 18. oberägyptischen Gau. Quack hat dies anhand der überwiegend demotischen, von verschiedenen Händen stammenden Nachträge mit Themenangaben, Korrekturbemerkungen und Alternativlesungen in den hieroglyphischen Primärtext anschaulich nachgezeichnet.87 Zwar geht es darin zunächst um primär intratextuelle Textarbeit, aber ein real gegebenes, philologisches Interesse auch an der Strukturierung und Auslegung der aus der Tradition überkommenen Textinhalte wird nur allzu deutlich. Intertextuelle Bezüge bleiben im Pap. Jumilhac indes implizit, wenngleich diese mitunter von „eklatanter Art“88 sind. Das ist aber durchaus nicht immer so. Neben expliziten, aber unspezifischen Verweisen auf Gebertexte, die sich auch in der erzählenden Literatur nachweisen lassen, wie „man sagt“ und „ein Buch sagt“ oder auch den pauschalen Vermerken „was in alten Schriften gefunden wurde“ und „entsprechend den alten Schriften“, berufen sich wissensbezogene Texte in gar nicht so wenigen Fällen sogar auf konkrete Quellen, gebrauchen also solche Zitate, die namentlich auf das Werk verweisen, dem der entsprechende Text entnommen wurde. So verweist etwa ein wahrscheinlich frührömerzeitliches Schutzritual auf ein sonst nicht belegtes Buch über pflanzliche Heilmittel, dem es eine Salbmittelrezeptur entnommen hat, die es im Anschluss an den eigentlichen Ritualtext im Wortlaut vollständig wiedergibt.89 Eine andere saiten- oder ptolemäerzeitliche Handschrift, die den Schutz vor gefährlichen Tieren zum Inhalt hat, zitiert im Rahmen einer Aufzählung von Ritualen im Zusammenhang mit dem Neumondfest „Das Ritual zur Abwehr des Bösen Blickes“ (pꜢ nt-‛ n ḫsf jr.t bjn.t), wobei der Wortlaut dieses Rituals anders als im zuvor genannten Beispiel hier nicht wiedergegeben wird.90 Allerdings findet sich im Bücherkatalog des Tempel von Edfu ein ganz ähnlicher Titel aufgelistet, namentlich die „Sprüche zur Abwehr des
cherung von meist arkanem Wissen dienten, hat zuletzt VON LIEVEN, Texttradierung herausgestellt. 87 Vgl. QUACK, Corpus. Zu Gebrauch und Pflege spätzeitlicher Handschriften vgl. exemplarisch den rezenten, die Evidenz aus Tebtunis darlegenden Beitrag RYHOLT, Scribal Habits. 88 QUACK, Corpus, 219; CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 196f. 89 Vgl. Pap. Kairo CG 58027, x+IV; PRIES, Stundenritual, 87–90. Nebenbei bemerkt sind im Zusammenhang mit solchen Heilmitteln auch einige frühe Textkommentare bezeugt (vgl. WESTENDORF, Medizin I, 492; VON LIEVEN, Grundriß, 265 mit weiteren Verweisen). 90 Vgl. Pap. Wilbour 47.218.138, x+XIII, 13; GOYON, Recueil, 89f. und 92 mit Tf. 13.
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Bösen Blickes“ (rꜢ.w n ḫsf jr.t bjn.t),91 der die Vermutung nahelegt, dass es sich um identische Kompositionen handeln könnte.92 Vergleichsweise häufig ist zudem der Gebrauch von incipits als verweisendes und textidentifizierendes Instrument im Rahmen der Funerärliteratur. Allerdings sind auch diese incipits in aller Regel unmarkiert, und selbst aus dem Kontext heraus lassen sie sich oft schwerlich als solche isolieren, es sei denn, sie sind dem Leser bereits wohlbekannt.93 Der demotische Kommentar des sogenannten Nutbuches, eines mehrfach überlieferten astronomischen Traktats, nennt ganze neun Titel, die zum Teil auch aus anderen Belegkontexten bekannt sind.94 Bemerkenswert ist, dass aus dem primären Referenzwerk, einem Traktat mit dem Titel „Auflösung“ (bl), wörtlich in mittelägyptischer Sprache und überwiegend hieratischer Schrift – also dem für sakrale und gelehrte Werke der Zeit üblichen Abfassungsmodus – zitiert wird, während indirekte Zitate, d.h. Verweise und Paraphrasen, dem Kommentar und dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entsprechend demotisch abgefasst wurden.95 Entsprechendes bietet etwa auch das Zeugnis der kürzlich edierten demotischen, semidemotischen96 bzw. hieratisch-demotischen Texte zum sogenannten Buch vom Fayum (auch: Fayumbuch), einem einst überregional verbreiteten und sicher rege rezipierten Traktat zur Mythologie des Fayum. Neben den ganz überwiegend in Hieratisch gehaltenen Zitaten daraus handelt es sich bei den demotischen Texten mehrheitlich wohl nicht um Übersetzungen, sondern doch eher um Kommentare zu dem hieroglyphisch (und hieratisch) überlieferten und im Verständnis ziemlich voraussetzungsreichen Bezugstext. Im Detail wären diese Zusammenhänge aber noch zu erarbeiten.97 Die in den jüngeren Epochen der ägyptischen Geschichte vorherrschende Diglossie-Situation bildete im Rahmen der Auslegung und Fortschreibung altägyptischer Texte zweifellos ein zusätzliches und sehr wirkungsvolles 91
Vgl. CHASSINAT, Edfou III, 351, Z.9; DERS., Edfou VI, 263, Z.5 und 300, Z.6f.; SCHOTT, Bücher, 273, Nr. 1240. 92 Dies ist aber keineswegs sicher, da sich sämtliche bislang bekannt gewordenen Beschwörungen gegen den Bösen Blick im Wortlaut deutlich voneinander unterscheiden: Vgl. dazu FISCHER-ELFERT, Spruch sowie PRIES, Neue Beschwörung; DERS., Weitere Beschwörung. Insofern ließe sich auch im Hinblick auf entsprechende Kompilationen solcher Sprüche annehmen, dass diese in ihrer spezifischen Auswahl sehr heterogen waren. 93 Eine kleine Zusammenstellung solcher Fälle bieten CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 150f. mit den Verweisen dort. 94 Vgl. im Detail die ausführlichen Angaben und Erläuterungen dazu in VON LIEVEN, Grundriß, 284–290. 95 Vgl. VON LIEVEN, Grundriß, 285. 96 Zur Bezeichnung vgl. etwa QUACK, Fragmente, 468, DERS., Rohrfedertorheiten, 456f. 97 Immerhin liegt mittlerweile aber (vgl. dazu etwa VON LIEVEN, Texte, 64) die editio princeps BEINLICH, Buch vom Fayum III vor, welche u.a. auch eine sehr gute photographische Dokumentation der in Frage kommenden Textvertreter umfasst.
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Antriebs- und Steuerelement, aber die Erörterung dieser komplexen Zusammenhänge stellt noch einmal ein ganz eigenes Thema dar.98 Den Umgang mit ägyptischen Traditionstexten in primär griechischsprachigen Milieus hat Quack kürzlich am Beispiel des Überlieferungsortes Oxyrhynchus zu fassen versucht. Die Prominenz des Ortes in der Forschung gründet sich bekanntlich nicht auf die dort gefundenen Texte, welche in ägyptischer Sprache abgefasst wurden – zu Recht. Trotzdem gibt es diese Evidenz und sie ist mit immerhin bis zu 137 hieroglyphischen, hieratischen und demotischen Handschriften allein in der EES Kollektion in Oxford als durchaus substantiell zu bezeichnen. Ausgehend von einer ersten aber offensichtlich bereits sehr gründlichen Autopsie der Manuskripte durch das geschulte Auge Quacks ergibt sich im Hinblick auf die Fortschreibung der ägyptischen Traditionsliteratur folgendes Bild: Bei den wissensbezogenen Texten wurden Ritualtexte wie etwa das Mundöffnungsritual vorzugsweise weiterhin in Form des ägyptischen Originaltextes überliefert, während eher technische Abhandlungen wie z.B. divinatorische Texte gerne auch ins Griechische übersetzt wurden. Beschwörungen, wie sie etwa auf Pap. BM 10808 bezeugt sind, wurden phonetisch umschrieben. Erzählungen und Weisheitsliteratur der Gattung belles-lettres wurden in Oxyrhynchus nicht in ägyptischer Sprache überliefert, was zunächst einmal einen etwa im Vergleich zu anderen Orten wie Tebtunis oder Soknopaiou Nesos im Fayum signifikanten Befund darstellt, einen Hiatus der sich kaum allein als Geschmacksache erklären lässt.99 Von Lieven hat sich im Zusammenhang mit der Überlieferung des Nutbuches mit einiger Ausführlichkeit mit denjenigen Quellen aus dem Bereich der wissensbezogenen Literatur auseinandergesetzt, die Fortschreibungen in Form von (innerägyptischen) Übersetzungen und Kommentierungen bezeugen.100 Fernerhin kommentiert sie am Beispiel kritisch diejenigen Thesen zur 98 Für den literarischen Bereich vgl. zum Einstieg etwa VERNUS, Langue littéraire, auch LOPRIENO, Variety. Besonders instruktiv sind für die spätere Zeit der Beitrag QUACK, Inhomogenität und für das Verständnis des Phänomens insgesamt JANSEN-WINKELN, Diglossie. Im Kontext metatextueller Theoriebildung befasst sich AUFRÈRE, Metatextuality damit. Einige wichtige Aspekte werden auch im Kapitel „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ in CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 298–306 angesprochen; vgl. außerdem den Sammelband RUTHERFORD, Interactions. 99 Vgl. QUACK, Last Stand, der aaO., 114 zwar vom „literary taste“ in Oxyrhynchus spricht, die mögliche Tragweite dieses Befundes damit aber keineswegs verkennt (vgl. auch ebd. Anm. 42). 100 Erwarten würde man intertextuelle Bezugnahmen und Kommentare auch im Bereich der Rechtstexte, den von Lieven nicht behandelt. Tatsächlich scheint dieses Material in Ägypten im Zusammenhang damit aber nicht allzu ergiebig zu sein: Zwar wird immer wieder sowohl auf allgemein geltende Gesetze (hp; zum Begriff vgl. LIPPERT, Einführung, 4) als auch auf bestimmte per Königsdekret erlassene Verordnungen (wḏ nswt) Bezug genommen, allerdings geschieht dies im ersten Falle in aller Regel pauschal in der Form mj ntt r hp „wie es dem Gesetz entspricht“, hp.w m sn.t r js.wt „Gesetze in Übereinstimmung
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Auslegung und Kommentierung ägyptischer Texte, die vor allem Assmann und Rößler-Köhler auch schon im interdisziplinären Kontext vorgetragen haben,101 so dass an dieser Stelle ein Verweis auf diese Diskussion genügen soll. Statt dessen soll es nun komplementär zum oben besprochenen Beispiel der historischen Neubewertung der individuellen Rolle des Sinuhe noch einmal um solche, in Ägypten gut bezeugte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse gehen, die nicht in Form von Para- oder Metatexten, sondern allein durch Interpolation erfolgten und zwar diesmal am Beispiel der performanzorientierten Ritualsprüche. Dabei soll abschließend das Zusammenspiel von textextern und textintern motivierten Fortschreibungen als redaktionelle Einheit demonstriert werden. Schon Otto, einer der Wegbereiter der modernen ägyptologischen Ritualforschung, hatte im Jahre 1958 mit Blick auf das überlieferte Spruchgut nachdrücklich auf die Tatsache hingewiesen, „daß wohlbekannte Handlungen neue, d.h. neu redigierte Rezitationen erhielten, also eine neue Ausdeutung erfuhren“.102 Heute geht man ziemlich übereinstimmend davon aus, dass es eine Art Pool von Ritualsprüchen gegeben hat, die nachweisbar über Jahrtausende hinweg tradiert und immer wieder in größere Ritualzusammenhänge eingebaut und entsprechend adaptiert wurden. Die textliche Abhängigkeit dieser Adaptionen vom jeweiligen Ausgangstext bleibt dabei immer erkennbar, allerdings ist der Grad der im Zuge der Adaption vorgenommenen Textmodifikationen mitunter immens, worin die Dynamik des Fortschreibungsprozesses offenbar wird.103 Das liegt maßgeblich in der Natur der Texte begründet. Denn Rituale stellen erfahrungsgesättigte, performative und kommunikative Ereignisse dar, und so galt es, die handlungsbegleitend rezitierten Sprüche, die in ganz verschiedene Anwendungskontexte integriert wurden, redaktionell so anzugleichen, dass sie in praxi dann auch funktionierten.104 mit den alten Schriften“ u.ä. (vgl. ERMAN/GRAPOW, Wörterbuch II, 488, 25; JANSENWINKELN, Biographien, 339, 2.2.5f. sowie 207 mit Anm. 18) oder bei Dekreten personalisiert mit Nennung des erlassenden Herrschers. Den Referenzrahmen bilden hier meist Präzedenzentscheidungen. Entsprechend sind auch die Zitate und „Kommentare“ in den demotischen juristischen Hand- bzw. Lehrbüchern auf Pap. Berlin P 23757 rto. und Pap. Carlsberg 301 zu verstehen, die in LIPPERT, Lehrbuch, und CHAUVEAU, Manuel juridique vorliegen. Eine Diskussion ihrer spezifischen Kommentarfunktion bietet LIPPERT, Lehrbuch, 173–175; vgl. auch die darauf fußenden Zusammenfassungen in DIES., Einführung, 85 und CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 268. 101 Vgl. die oben in Anm. 6 bereits zitierten Beiträge. 102 OTTO, Verhältnis, 6. 103 Vgl. etwa TACKE, Opferritual II, 304; VON LIEVEN, Texttradierung, 7f.; PRIES, Variation, VII–XI. 104 Einige Überlegungen zur Rekonstruktion möglicher Divergenzen und zur gegenseitigen Beeinflussung zwischen Theorie und Praxis des Kulltvollzugs habe ich in PRIES, Ritualvollzug angestellt.
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Ein ganz besonders einschlägiger Spruch, mit dessen stellenweise gravierenden philologischen Schwierigkeiten ich mich an anderer Stelle bereits mehrfach und ausführlich auseinandergesetzt habe,105 sei hier noch einmal aufgegriffen: Es handelt sich um eine in der Antike sicherlich wohlbekannte Rezitation zum sogenannten Nemsetopfer, einem spezifischen Libationsopfer, die heute noch in mehreren, unterschiedlichen Kultkontexten entstammenden Zeugen erhalten ist. Diese Zeugen decken chronologisch einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahrtausenden ab und weisen räumlich eine Ausbreitung des Spruches vom Fayum über Heliopolis, Dendara und den thebanischen Raum bis hin nach Edfu und die Region um Assuan nach. Es sind Kurz- und Langfassungen bezeugt, und in einigen Teilformulierungen lassen sich einzelne Versatzstücke des Spruches schon in den Pyramidentexten des Alten Reiches belegen. Damit ist es nicht unwahrscheinlich, dass er auch im Mittleren Reich schon in Gebrauch war. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet eine späte Rezension des Standardformulars aus dem Edfutempel. Der Anwendungskontext des Spruches dort ist ein vergleichsweise spezifischer: Die Libationsformeln waren nämlich Bestandteil der sogenannten Choiakriten, in deren Rahmen eine Osirisfigurine hergestellt, belebt und rituell bestattet wurde. Es heißt dort: „Osiris Chontamenti, nimm dir deinen Kopf! Ich vereine dir das Horusauge und bringe dir das, was aus dem Nun hervorkommt, das ‚Anfängliche‘, das aus Atum herauskommt in seinem Namen ‚Nemset‘. Osiris Chontamenti, füge dir deinen Kopf an, füge dir die [Knoch]en an, (nämlich) das, was zu dir [ge]hört?. Osiris Chontamenti, ich gieße für dich das Horusauge aus dem Nemsetkrug (...).106 Es kommt der Schepeset-Krug (šps.t) – zweimal. Es kommt der Nemset-Krug – zweimal. Es kommt der weiße Zeugstoff (ḥḏ.t) – zweimal. Es kommt das Horusauge. Es kommt der Binsenkorb, dein Chenmet-Krug (ḫnm.t) in Busiris und Abydos.“ Insbesondere im letzten Teil des Spruches zeigt die Überlieferung zahlreiche Varianten: Der Binsenkorb ist nur in der Fassung des Osiriskultes bezeugt. Konkret handelt es sich dabei nämlich um die Verpackung des Osiriskopfes in dem in Abydos aufbewahrten Reliquienkasten.107 D.h. die Libationsgabe, welche zu Beginn der Rezitation mit dem Kopf des Opferempfän105 Zu den Problemen vgl. JUNKER, Stundenwachen, 104; OTTO, Mundöffnungsritual I, 142; CONTARDI, Naos, 125f. Anm. q; TACKE, Opferritual II, 257–262, bes. Anm. 8; zu deren Lösungen vgl. PRIES, Stundenwachen I, 251–253 und besonders PRIES, Miszellen, 303–307. 106 Es folgen an dieser Stelle einige Formeln, deren Wortlaut im Zusammenhang unerheblich ist, vgl. im Detail PRIES, Stundenwachen I, 251–253; II, 54–56 und TACKE, Opferritual I, 284–295; II, 257–262. Dort sind auch sämtliche maßgeblichen Varianten des Spruches verzeichnet. 107 So nach Ausweis einer Passage des großen Choiaktextes von Dendara, vgl. CAUVILLE, Dendara X, 36, Z.12–15; DIES., Chapelles osiriennes I, 21.
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gers identifiziert wird, wurde im Osiriskult zusätzlich mit dem den Kopf verund bewahrenden Binsenkorb geglichen. Diese Metapher funktionierte natürlich nur im Osiriskult und entsprechend ist sie außerhalb dieses Kontextes auch nicht bezeugt. Die Opfergabe wird außerdem mit weiteren Entitäten in Verbindung gebracht: In Edfu sind dies primär Krüge, welche das Libationswasser enthalten: Neben dem nms.t-Krug werden hier noch šps.t- und ḫnm.t-Krug genannt. Dass es sich dabei aber tatsächlich um Krüge handelt, geht aus den anderen, vornehmlich älteren Bezeugungen des Spruches nicht hervor: Zumindest nach Maßgabe der Determinierung der betreffenden Wörter stehen dort nämlich homophone Götterbezeichnungen in entsprechenden Positionen des Textes:108 So war im Rahmen des Neujahrsfestes in Karnak vielleicht eher der mit dem Opfer eng verbundene Gott Schepsi von Hermopolis angesprochen (šps) oder ein(e) als „Prächtige(r)“ (šps bzw. šps.t) bezeichnete Gottheit.109 Zwar ist bekannt, dass die šps.t-Krüge auch konkret mit Göttinnen identifiziert werden konnten, die andernorts ihrerseits mit dem Epitheton šps.t „die Prächtige“ belegt wurden,110 dass hier aber tatsächlich ein Krug gemeint sein soll, geht aus dem Wortlaut des Zeugen in Karnak so nicht hervor. Auch vom andernorts bezeugten Chenmet-Krug (ḫnm.t) ist in keinem der anderen Zeugen die Rede: In Karnak, dem Zeugen, der der Edfu-Rezension trotz der zeitlichen Kluft am nächsten zu stehen scheint, ist offenbar die Rede vom „Duft (ḫnmw) aus Heliopolis und Memphis“, der zu den Nasenlöchern (ḫnm.tj) des Opferempfängers kommt, und im Mundöffnungsritual heißt es an dieser Stelle: „Es kommt die Amme (ḫnm.t), es kommt die Amme (ḫnm.t), die in Memphis ist, die in Heliopolis ist“. Diese göttliche Amme galt spezifisch als Göttin des 6. unterägyptischen Gaues111 und tritt als solche in den griechisch-römischen Gauprozessionen gleichermaßen unter den Bezeichnungen Nemset und Chenmet auf, womit sich der unmittelbare Nexus zum Nemsetkrugopfer erschließt. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Beischrift zu einem Tableau im Opettempel in
108 Fallweise ist nicht auszuschließen, dass es sich um sogenannte phonetische Determinative handelt, die ähnlich den sogenannten unetymologischen Schreibungen verwendet worden sind, um die spezifische Lautung der Rezitationstexte besser anzuzeigen. Nichtsdestotrotz wurden damit aber intentional Mit- und Nebenbedeutungen eines Wortes angezeigt, die es bei der inhaltlichen Erfassung des Spruches zusätzlich zu berücksichtigen galt und gilt. 109 Dabei handelt es sich um ein Standardepitheton. Zahlreiche Belege für beide Gottesbezeichnungen bietet LEITZ, Lexikon VII, 47–67. 110 Vgl. LEITZ, Lexikon VII, 68. 111 Vgl. BEINLICH, Osirisreliquien, 247f. Zur Verbindung der im Nemsetkrug aufbewahrten Osirisausflüsse mit dem 6. unterägyptischen Gau vgl. zuletzt LEITZ, Prozessionen, 335f. sowie DERS., Gaumonographien, 231f.
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Karnak, wo sie zudem noch als nms.t šps.t bezeichnet wird.112 Einen orthographischen Ausdruck findet die semantische Verquickung der göttlichen Amme mit dem gleichlautenden Wasserkrug überdies in solchen Wortschreibungen: .113 Sowohl die Libationskrüge als auch das darin befindliche Wasser begriff der Ägypter ebenso wie die Götter als sakrale und kultisch wirksame Entitäten und so entsprach es bei der redaktionellen Überarbeitung solcher Sprüche durchaus seiner Intention, mit den Mitteln der Hieroglyphenschrift eine gewisse Konsubstanzialität zu erzeugen.114 Ob sich die Bezeichnungen in den Fassungen außerhalb Edfus aber tatsächlich sämtlich auf Krüge bezogen haben, ist durchaus Auslegungssache. Die lokale Priesterschaft in Edfu jedenfalls hat diese Texte in diesem Sinne verstanden und dies auch unmissverständlich durch den so sonst nirgendwo bezeugten Gebrauch entsprechender Determinative markiert, und das auch noch in einem Text, der eine überaus exzentrische Orthographie aufweist, die an vielen Stellen überhaupt keine Determinative setzt, obwohl man sie dort eigentlich erwarten würde. Eines weiteren Kommentars zur Rechtfertigung dieser Auslegung bedurfte man in Edfu augenscheinlich nicht. Zudem war man anders als bei wissenschaftlichen Handbüchern wie etwa dem Nutbuch oder dem Fayumbuch durch den konkreten Anwendungsbezug des Textes gezwungen, ihn in irgendeiner Weise auszulegen und ihm notfalls auch ad hoc einen neuen Sinn zu unterlegen. Der Spruch musste schließlich im Kult funktionieren. Ein Kommentar nach Art von Pap. Carlsberg I, 7, 25, wo der Kommentator des oben genannten Buches „Auflösung“ (bl) freimütig zugibt, er hätte „den Rest nicht verstanden“, wäre angesichts dessen kaum zweckmäßig.115 Zudem zeigt sich am Beispiel des Ritualspruches, wie eng textextern motivierte und textintern motivierte Fortschreibungen ineinandergreifen: Die Metapher Binsenkorb wurde im Rahmen einer redaktionellen Überarbeitung und in Kenntnis wissenschaftlicher Traktate wie dem oben zitierten großen Choiaktext von Dendara in den Text eingefügt, ist also in gewisser Weise textintern bzw. intertextuell, d.h. durch die zugrundeliegende Textwelt motiviert. Denkbar ist aber ebenso, dass die Idee zu dieser Erweiterung und inhaltlichen Spezifizierung des Spruches einem Osirispriester bei der Durchführung des Kultes kam – bei dem möglicherweise auch ein Binsenkorb zum Einsatz kam –, und damit eher textextern, nämlich durch die Lebenswelt der Kultpraxis motiviert wäre.
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Vgl. DE WIT, Opet I, 246f. Auch darauf hatte BEINLICH, Osirisreliquien, 247f. bereits hingewiesen. 114 Vgl. dazu PRIES, ἔμψυχα ἱερογλυφικά I + II. 115 Vgl. VON LIEVEN, Grundriß, 175; im Zusammenhang der Kommentarkultur Ägyptens auch zitiert von CANCIK-KIRSCHBAUM/KAHL, Philologien, 244. 113
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Ähnlich verhält es sich mit den Krügen, wobei folgendes Szenario denkbar ist: Nach Ausweis des Spruchtitels und der in den Opfertableaus korrespondierenden Darstellung wurde das Libationsopfer mit dem in seiner äußeren Form recht distinkten Nemsetkrug vollzogen. Im Rahmen der theologischen Ausdeutung der Opfergabe operierte man dann mit mehreren sakralen Begrifflichkeiten, von denen einige durch Homophonie an andere Bezeichnungen von Krügen anklingen. Dies ist die textinterne Ebene. Nun könnte eben dies dazu geführt haben,116 dass man bei der Ritualdurchführung zusätzlich šps.t und ḫnm.t-Krüge zur Hand nahm, was ursprünglich vielleicht gar nicht intendiert war. Dieser Umstand machte es dann nötig, den Spruch nach Maßgabe der geänderten Kultpraxis neu auszulegen, womit die textexterne Ebene berührt wäre. Es ist natürlich ebenso möglich, dass die Wege der Beeinflussung genau andersherum liefen. Das läßt sich, angesichts der Tatsache, dass die erhaltenen Spruchbelege gerade einmal die Spitze eines gewaltigen Eisberges abbilden, nicht mit Sicherheit feststellen. In jedem Falle aber ist anzunehmen, dass textexterne und textinterne Faktoren gleichermaßen produktiv waren und in einer sehr dynamischen Weise auf die Textgestalt von Ritualsprüchen wirkten.
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116 Man kann sich natürlich immer auf den Standpunkt stellen, dass es sich bei solchen Phänomenen grundsätzlich um Wort- und Schriftspielereien handelt, die überhaupt nur textintern von Relevanz wären. Dies würde aber dem deutlichen Anwendungsbezug dieser Texte widersprechen.
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Textgeleitete und gruppenbezogene Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran Ausgewählte Beispiele Peter Porzig 1. Einführung Versucht man, sich einen Überblick über ein Thema wie „Schriftgelehrte Auslegung in den Handschriften von Qumran“ zu verschaffen, kommen einem sogleich mehrere Textgruppen in den Sinn. Neben den späterhin „biblischen“ Handschriften1 sind darunter zuvörderst die sogenannten „Reworked Pentateuch“-Texte, eine Bezeichnung, die freilich gleich doppelt missverständlich ist. Es handelt sich dabei zum einen um Texte, die in weiten Teilen sehr genau der masoretischen Textfassung oder ihr nahestehenden Vorlagen (Samaritanus, hebräische Vorlage der griechischen Überlieferung) der ersten fünf Bücher der Hebräischen Bibel folgen, hier und da jedoch Unterschiede aufweisen. Manche dieser Unterschiede sind so groß, dass die Herausgeber zum einen lieber von „Reworked Pentateuch“ als einfach von „Pentateuch“ sprachen (und damit zugleich suggerierten, dass das, was sie als Pentateuch bezeichneten, bereits eine vergleichsweise hohe Autorität, um nicht zu sagen: Kanonizität besaß – wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil sie im Gegensatz zu den neu gefundenen Qumrantexten ja bereits bestens bekannt waren). Diese charakteristischen Unterschiede haben den Handschriften neben dem neuen Namen auch gleich eine ganze Reihe von detaillierten Studien und Untersuchungen eingehandelt. Zum anderen subsumierte man sie unter 1
Die Bezeichnung ist natürlich anachronistisch, ebenso wie „kanonisch“ o.ä. Der Versuchung, z.B. den masoretischen Text als „ursprünglicher“ oder „älter“ anzusehen als andere Fassungen, ist man in der Geschichte der Qumranforschung allzu schnell und manchmal wohl auch nicht ungern erlegen. Schon die Begriffe „reworked“ oder „rewritten“ implizieren ja eine bereits vorliegende Fassung. Um allzu komplizierte Formulierungen zu vermeiden, möge man mir verzeihen, wenn ich die entsprechenden Begriffe im Folgenden zwar verwende, aber (hoffentlich) mit der gebührenden Vorsicht und im Bewusstsein der im Hintergrund stehenden Prozesse. Zur Frage vgl. die Ausführungen von ZAHN, Rewritten Scripture. Schon 2005 hatte Moshe Bernstein nach der Leistungsfähigkeit des Begriffs gefragt (vgl. BERNSTEIN, „Rewritten Bible: A Generic Category which has Outlived Its Usefulness?“).
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dem Begriff „Pentateuch“ (und nicht etwa Genesis, Exodus o.ä. nach den jeweiligen späteren Büchern), weil man annahm, es handele sich um Fragmente von überaus umfangreichen Rollen, die die gesamte Tora von Genesis bis Deuteronomium enthielten. Auch dafür hatten die Herausgeber natürlich ihre Gründe, u.a. eben den, dass die Handschriften jedenfalls teilweise Fragmente mehrerer späterer Bücher aufwiesen. Die Schlussfolgerung ist aber schon aufgrund der Länge zwar nicht unmöglich, aber eher unwahrscheinlich: Die erhaltenen Rollen jedenfalls sind, inklusive der materiell rekonstruierbaren (d.h. zunächst: in ihren Ausmaßen einigermaßen seriös berechen- bzw. schätzbaren), in keinem Fall länger als ca. 10 Meter.2 Eine komplette Torarolle wäre – geschrieben im Zeilen- und Kolumnenformat der berühmten Jesajarolle (1QJesa) – etwa 33 Meter lang und damit eine absolute Ausnahme unter den Handschriften vom Toten Meer, zusätzlich wohl auch nicht ganz leicht herzustellen und handzuhaben.3 Neben dieser Textgruppe (s.u. 2.) und den genannten „biblischen“ Handschriften (s.u. 3.) sind noch Texte zu nennen, die auf späterhin biblisch gewordenem Material aufbauen (beispielsweise die pseudoprophetischen Texte, s.u. 4.), schließlich aber auch die genuinen Werke der Gemeinschaft von Qumran,4 die uns mehrfach überliefert sind (z.B. die Regeltexte, s.u. 5.).
2. „Reworked“ „Pentateuch“ (4QRPa = 4Q158) Zu dieser Textgruppe zählen in Qumran 4Q158 und 4Q364–367 (4Q364: Gen, Ex, Num, Dtn; 4Q365: Gen–Dtn; 4Q366: Ex–Dtn; 4Q367: nur Lev). Die unter 1. bereits angedeutete Diskussion ist seit den Publikationen der einschlägigen Texte (4Q158 durch John Allegro;5 4Q364–367 durch Emanuel
2 Als Beispiel möge hier die gleich erwähnte Handschrift 1QJesa mit einer Gesamtlänge von 7,34 m dienen. 3 Dass es später auch Rollen solcher Länge gab, spricht nicht dagegen, setzt aber vermutlich eine bessere Beherrschung und Präparation des Materials, d.h. des Leders, voraus. Die feine Qualität späterer Pergamentrollen erreichte die überwiegende Anzahl der Qumranhandschriften jedenfalls noch nicht. 4 Mit „Qumrangemeinschaft“ o.ä. ist zunächst die Gruppe gemeint, der wir die Sammlung der Texte in den Höhlen bei Qumran verdanken, welche diese mutmaßlich tradiert, kopiert und teilweise verfasst hat (sozusagen die „textual community“). Eine (archäologisch umstrittene) direkte Verbindung mit der Siedlung am Toten Meer oder weitere Hypothesen über die Identität der Gruppe (essenischer Charakter etc.), die sich nicht aus den Texten selbst erweisen lassen, sind dabei nicht vorausgesetzt. Was eine übergeordnete Hypothese über die Gemeinschaft, ihre Geschichte und ihre Theologie angeht, ist vor allem im Umfeld neuerer Forschung Zurückhaltung geboten. 5 Vgl. ALLEGRO/ANDERSON, Qumrân Cave 4.
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Tov und Sidnie White Crawford6) natürlich nicht stehengeblieben. Emanuel Tov selbst sprach noch vor kurzem wieder von „Pentateuch-“ statt von „Reworked-Pentateuch-Handschriften“;7 und sollte Devorah Dimant mit ihren Beobachtungen zu Fragmenten des Buches Tobit und mit diesem verwandten Texten Recht haben, hätten diese sogar einen dieser „Reworked-Pentateuch“Texte als Tora zur Legitimation angeführt.8 Um es nicht zu einfach zu machen: Michael Segal,9 der sich sehr intensiv mit diesen Texten auseinandergesetzt hat, differenziert mit einem gewissen Recht noch einmal innerhalb der Gruppe 4Q364–367: Da 4Q366 und 4Q367 keinerlei, wie er sie nennt, „exegetical additions“ enthalten, wertet er sie als Bibelhandschriften; 4Q364–365 hingegen sind für ihn zwar „4QPentateuch“Texte, obwohl sie Zusätze zum späteren masoretischen Bibeltext enthalten, jedoch seien diese „most similar to the Samaritan Pentateuch in incorporating these additions and changes within the biblical text while preserving its general structure“ – „[a]lthough the nature of their exegetical techniques is typologically unique“.10 4Q158 schließlich rechnet Segal aufgrund der erheblichen Ergänzungen des biblischen Materials zur Kategorie der „Rewritten Bible“. Bereits innerhalb dieser Gruppe sind freilich, mit Reinhard G. Kratz gesagt, die Übergänge „zwischen den verschiedenen Arten der Schriftauslegung […] fließend.“11 Was man trotz aller Unsicherheiten für die „Reworked Scripture“ herausgearbeitet hat, scheint sich nach allem, was wir wissen, ganz analog zur „innerbiblischen“ Auslegung oder „Fortschreibung“ entwickelt zu haben. Das ist eigentlich auch wenig verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der Kanon der Hebräischen Bibel frühestens gegen 100 n.Chr. festgestanden haben dürfte.12 In Qumran ist zwar nicht mehr ein völlig „flüssiger“ Zustand des Textes bezeugt, aber eben auch noch kein in toto fixierter und unveränderlicher wie dann in den mittelalterlichen Handschriften des Tanaḵs. Vielmehr scheint sich die Form der Texte, um im Bild zu bleiben, ähnlich einem Lavastrom an der Erdoberfläche im Prozess der Erkaltung und sukzessiven Erstarrung zu befinden. Änderungen und Varianten sind bezeugt, aber längst nicht alle haben es auch in die kanonische Fassung geschafft. Wo man die Prozesse einigermaßen sicher verfolgen kann, zeigt sich, dass die Annahmen der Literar- und Redaktionskritik, die auch zum Begriff der Fortschreibung (und anderen) geführt haben, sich in diesen Texten glänzend be6
Vgl. TOV/WHITE, Reworked Pentateuch. Vgl. TOV, From 4QReworked Pentateuch to 4QPentateuch (?). 8 So mündlich in einem Vortrag in Göttingen 2018. 9 Vgl. SEGAL, Exegesis. 10 SEGAL, 4QReworked Pentateuch, 398. 11 KRATZ, Exegese, 47; vgl. aaO., 47–51, zur empirischen Evidenz außerdem aaO., 57ff.63ff. In Sachen „Rewritten Bible“ vgl. außerdem BROOKE, Rewritten Bible. 12 Vgl. dazu zusammenfassend den Sammelband von FLINT (Hg.), The Bible at Qumran; instruktiv zu den Qumrantexten ist vor allem ULRICH, The Non-Attestation. 7
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stätigen. Wenn dem aber so ist, wäre in diesem Beitrag manches in gewisser Weise überflüssig, denn vieles davon wäre genauso oder zumindest ähnlich bei der Arbeit an den Texten der Hebräischen Bibel schon beobachtet worden. Doch schauen wir auf die Texte selbst. Ein kurzes Beispiel aus 4Q158 mag das verdeutlichen, und zwar deswegen, weil sich hier ein Phänomen so klassisch zeigt, dass man den Text eigentlich geradezu in ein „Lehrbuch für Literarkritiker“ – oder auch für Redaktoren – aufnehmen müsste.13 Den Hinweis verdanke ich Dr. Roman Vielhauer, am ausführlichsten und eingehendsten hat ihn bisher wohl Molly M. Zahn in ihrer Dissertation untersucht.14 Mir soll es dabei aber nur um das Phänomen als solches gehen. In 4Q158 f1–2 handelt es sich nach den Untersuchungen Segals um eine „exegesis of Exodus“, in der sich vielfältige Techniken des Umgangs mit dem biblischen Text beobachten lassen: „exegetical citations“, „paraphrase“, „rearrangement“, „harmonistic additions“, aber auch geradezu schnöde, einfache Zusätze. Schauen wir uns dazu die Rückblende zu Genesis 32 (offenbar im Kontext einer Auslegung von Ex 4) in Z.4–10 genauer an (4Q158 Frag. 1–2, Z.4–10):15 וי֯ א ֯מ ֯ר אל]יו שלחני כי עלה השחר ויאמר לוא27 ]ירך יעקו[ ֯ב בהאבקו עמו ]ו[יאחזהוGen 32,26 [אשלחכה כי אם ויאמר לוא יעקוב יאמר עוד שמכה כי29 ויאמר לו מה שמכה ]ויאמר[ ֯לו ]יעקוב28 [ אלי-- ]ברכת [אם ישראל כי שרית עם אלוהים וישאל י]ע[קוב ]ו[יאמ]ר הגי[ד נא לי מ ]ה שמכה ויאמר למה זה תשאל30 ]ו[ ֯ע]ם[ אנשים ותוכל [לשמי [--] [כה-- ]ויבר[ך אותו שם ויאמר לו יפרכה יה]וה [--]]ד[עת ובינה ויצילכה מכול חמס ו [--]עד היום הזה ועד דורות עולם וילך לדרכו בברכו אותו שם וי]קרא יעקוב שם המקום פניאל כי ראיתי אלוהים פנים אל פנים31 [ויזרח32 ותנצל נפשי [--]לו השמש כאשר עבר את פנוא]ל והואה צולע על ירכו [--]ביום ההואה ויאמר אל תואכל [--] על שתי כפות הירך עד ה]יום הזה כי נגע בכף ירך יעקוב בגיד הנשה33 4
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Gen 32,26
[das Hüftgelenk Jako]bs [ausgerenkt wurde], als er mit ihm rang. [Und] er ergriff ihn, 27und er sagte zu [ihm: „Lass mich los, denn die Morgenröte ist heraufgezogen!“ Er aber sagte: „Ich lasse dich nicht los, es sei denn,] [du segnest --] zu mir!“ 28Da sagte er zu ihm: „Was ist dein Name?“ [Und er sagte] zu ihm: [„Jakob.“ 29Da sagte er: „Nicht Jakob soll dein Name fortan heißen, sondern Israel, denn gekämpft hast du mit Gott]
13 Klassisch: KUHL, Wiederaufnahme. Vgl. zu den Kriterien insgesamt BECKER, Exegese, 57–60. 14 Vgl. SEGAL, Exegesis sowie ZAHN, Rethinking; DIES., Rewritten Scripture. 15 Wörtliche Parallelen (auch ergänzt) zum masoretischen Text unterstrichen.
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[und ]m[it] Menschen, und hast gesiegt.“ 30Da fragte J[a]kob [und sa]gte: „T[u] mir doch [kund], w[as dein Name ist!“ Er aber sagte: „Warum fragst du denn nach meinem Namen?“] [Und er segnete] ihn dort. Und er sagte zu ihm: „Möge Jah[we] dich fruchtbar machen [und] dich [mehren --] [Erk]enntnis und Einsicht. Und er möge dich aus aller Gewalttat erretten und [--] bis zum heutigen Tag und für ewige Generationen [--] Und er ging seines Weges, nachdem er ihn dort gesegnet hatte. 31Da g[ab Jakob der Stätte den Namen Pniel – „denn ich habe Gott Angesicht zu Angesicht gesehen und bin mit dem Leben davongekommen!“ 32Und es ging] ihm die Sonne auf, als er an Pnue[l vorbei war. Er hinkte aber seiner Hüfte wegen. --] an jenem Tag. Und er sagte: „Du sollst nicht e[ssen -- Darum essen die Söhne Israels nicht den Muskelstrang] 33 über den beiden Hüftgelenken, bis zum h[eutigen Tag. Denn er hat das Hüftgelenk Jakobs, den Muskelstrang, angerührt. --]
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Aus der bekannten Szene von Genesis 32 (Jakobs Kampf am Jabbok) wird V.30 zitiert: „‚Tu mir doch kund, was dein Name ist!‘ Er aber sagte: ‚Warum fragst du denn nach meinem Namen?‘ Und er segnete ihn dort. (ויברך אותו “)שםDie Wiedergabe von V.31 in Z.10 wird dann mit einer überaus klassischen Wiederaufnahme eingeleitet: „nachdem er ihn dort gesegnet hatte ()בברכו אותו שם. Da gab Jakob der Stätte den Namen Pniel. – ‚Denn ich habe Gott Angesicht zu Angesicht gesehen und bin mit dem Leben davongekommen.‘“ Das Material dazwischen ist aufschlussreich: Man darf wohl mit Segal in Z.7 zu ] יפרכה יה]וה וירב[כהergänzen, so dass der Wortlaut in etwa gelautet haben dürfte: „Und er sagte zu ihm: Möge YHWH dich fruchtbar machen und dich mehren“ … „Erkenntnis und Einsicht. Und er möge dich aus aller Gewalttat retten und“ … „bis zum heutigen Tag und für ewige Generationen“ … „und er ging seines Weges, nachdem er ihn dort gesegnet hatte …“ Dass „fruchtbar sein und sich mehren“ eine „standard blessing formula in the Bible“ ist,16 braucht kaum wiederholt zu werden. Segal verweist auf Gen 35,11 (dort bekanntlich auch der Namenswechsel!), nahe liegen aber auch Gen 28,3 (die Vorankündigung von Isaak an Jakob) und Gen 17,20; weiterhin Gen 48,4; pluralisch außerdem Lev 26,9. Die Begriffe דעתund בינהsprechen für ein eher weisheitliches Milieu, in Qumran wäre man etwa an den großen Weisheitstext 4QInstruction oder die Šîrôt ʿÔlat ha-Šabbāt erinnert; in der Hebräischen Bibel vor allem an späte Stellen wie etwa 1Chr 12,33; 22,11; 2Chr 2,11. Das „Erretten aus Gewalttat“ kommt ebenfalls nur in späten Texten vor, zu denken ist an Ps 18,49 par. 2Sam 22,49 oder Ps 140,2.5. Im Zusammenhang wird man vielleicht am ehesten auf die befürchtete Gewalttat von V.12 kommen, aus der heraus Jakob dann hier um Errettung bäte. Durch all diese Formulierungen wird Jakob bereits an dieser Stelle ein ausführlicher 16
SEGAL, Exegesis, 60.
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ausgeführter Segensspruch zuteil, der im dichten Netzwerk der Segensverheißungen in der Genesis sozusagen sanft obenauf zu liegen kommt. Der literarkritische Spurensucher wäre schnell zum selben Ergebnis gekommen – auch wenn Gen 32 nicht als Vergleichstext neben 4Q158 vorgelegen hätte.17 Doch was tut der Ergänzer? Fügt er dem Text etwas Eigenes hinzu, wie etwa Segal in Bezug auf die „Reworked Pentateuch“-Texte konstatiert: „In the (pre-)Samaritan Pentateuch, the additions and harmonizations are taken from other sections of the Pentateuch, and are not composed ex nihilo by the scribe responsible for those changes. In contrast, in 4Q364–5 the scribes have gone one step farther. They continue to preserve the biblical text as in the pre-Samaritan biblical texts, but they have now added their own material.“18 So wichtig eine solche Unterscheidung für die Untersuchung des einzelnen Textes sein mag, so wenig dürfte sie das Selbstverständnis der Verfasser wiedergeben, die doch in allen Fällen dem Bibeltext nichts eigentlich Neues hinzufügen wollten, sondern lediglich explizit machen, was längst in ihm enthalten war.19
3. „Biblische“ Handschriften (4QSama = 4Q51) Ähnliches beobachtet man auch bei manchen der seit jeher sogenannten „biblischen“ Handschriften vom Toten Meer, solcher Texte also, die in späterer Zeit in den Kanon der Hebräischen Bibel aufgenommen wurden. Ein prominentes Beispiel ist 4Q51, die erste Handschrift der Samuelbücher aus Höhle 4 (4QSama). Mancher spricht sogar von einem „Midrasch“ über das Samuelbuch – so Alexander Rofé.20 Auch wenn das den Sachverhalt möglicherweise nicht in letzter Präzision beschreibt, dürfte die grobe Richtung des Verhältnisses und der Differenzen zum Text der Bücher Samuelis treffend beschrieben sein. Auf Fragment X (1Sam 10f.) lässt sich verfolgen, auf welche Weise sich im Gefolge von Auslegungsprozessen eine ganze, wenn auch kleine, Erzählung über die bösen Absichten und Taten des Ammoniterkönigs Nahasch entwickelt hat, die der ursprüngliche Text noch nicht enthalten hat, und die sich bis in Einzelzüge als Ergebnis schriftgelehrter Produktion erweisen lässt, wie zuletzt überzeugend Reinhard G. Kratz nachgewiesen hat.21 Bereits der
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Vgl. wiederum BECKER, Exegese, 57–60; er listet als Kriterien auf: Dubletten, Doppel- und Mehrfachüberlieferungen, Widersprüche, sekundäre Verklammerungen, literarische Wiederaufnahmen, Spannungen im Wortlaut, Differenzen in Redeweise und Stil, Unterschiede des historischen Hintergrunds und Spracheigentümlichkeiten. 18 SEGAL, 4QReworked Pentateuch, 394. 19 Vgl. auch den Schluss dieses Aufsatzes. 20 Vgl. ROFÉ, Traits. 21 Vgl. KRATZ, Das Alte Testament sowie DERS., Nahash.
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jüdisch-römische Schriftsteller Flavius Josephus hat offenbar eine Fassung des Samueltextes gekannt, die die Episode enthielt.22 Doch kann das Alter der verwendeten Handschrift nicht entscheidend sein, vielmehr muss das relative Alter der Textfassung bestimmt werden. Da es sich in diesen Fällen um die einzige Form der „external evidence“ für die Überlieferung autoritativer, späterhin kanonischer Schriften handelt, sehe ich keinen Grund, für die kanonisch gewordenen Bücher andere Traditionsprozesse anzunehmen oder solche Fortschreibungsprozesse gar auszuschließen. Im Gegenteil: Hier wie dort bewähren sich die Kriterien von Text- und Literarkritik und die Annahmen der Redaktionskritik sozusagen materialiter, ja, „higher“ und „lower criticism“ gehen mitunter kaum trennbar Hand in Hand.23
4. „Pseudoprophetische“ Texte (4QpsEzeka–f = 4Q385, 4Q386, 4Q385b, 4Q388, 4Q385c, 4Q391) Einen dritten Fall, der hier noch ins Auge zu fassen ist, bildet die Gruppe der „pseudoprophetischen“ oder „parabiblischen“24 Texte wie die von der Herausgeberin Devorah Dimant so genannten „Pseudo-Ezechiel“- (und, etwas anders gelagert, „Pseudo-Jeremia“-) Texte25 (4QapocrJer). Im Falle der Vision Ezechiels vom Feld der Totengebeine (Ez 37) habe ich das an anderer Stelle nachzuweisen versucht26 und kann mich hier kürzer fassen:
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Vgl. Jos. Ant. VI,68–70. Vgl. auch die berühmte Handschrift 4Q49 = 4QJudgesa, die die bereits von Julius Wellhausen und anderen ausgeschiedenen Verse Ri 6,7–10 (noch?) nicht enthält, und die man deshalb guten Gewissens als Bestätigung der literarkritischen These ansehen kann. Auch wenn die Verse in der dortigen Fassung bewusst ausgelassen sein sollten, spricht so oder so der Befund unmissverständlich dafür, dass bereits antike Leser des Textes hier eine Tendenz wahrnahmen, die den umliegenden Versen fremd ist. Daraus wiederum lässt sich – zumindest in diesem Fall – zeigen, dass es sich bei den Kriterien der Literar- und Redaktionskritik nicht etwa um moderne oder gar modernistische Fragen an den Text handelt, welche die Alten sich nicht oder noch nicht gestellt haben. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. 24 Brooke schlägt den Terminus „paratextual“ vor, um Anachronismen zu vermeiden. Vgl. BROOKE, Prophetic Interpretation, 237. John Strugnell und Devorah Dimant hatten ihrer vorläufigen Edition noch den Titel „4QSecond Ezekiel“ gegeben (vgl. STRUGNELL/DIMANT, 4QSecond Ezekiel) – aus heutiger Sicht vielleicht treffender als das Etikett „pseudoprophetisch“. 25 Ausgabe: DIMANT, Qumran Cave 4. Vgl. DIES., Pseudo-Ezekiel; WHITE CRAWFORD, Pseudo-Jeremiah; als erster Überblick XERAVITS/PORZIG, Einführung 80–85. 26 Das Folgende nach der englischen Fassung in PORZIG, „Prophecy“. 23
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Die Pseudo-Ezechiel-Fragmente bezeugen dabei wahrscheinlich eine Komposition für sich,27 was textliche Überschneidungen nahelegen. Einer der besser erhaltenen Textabschnitte enthält eine enge Parallele zur berühmten Vision von den vertrockneten Gebeinen aus Ez 37 (V.1–1428). Der Text ist in drei Fassungen überliefert (4QpsEzeka, b & d) und bietet sich deswegen zur Untersuchung an, denn diese muss sich umso weniger auf lacunae (als Leerstellen oder in fantasievoller Rekonstruktion) stützen.29 ]ואמרה יהוה[ ראיתי רבים מישראל אשר אהבו את שמך וילכו בדרכי ]לבך וא[לה מתי יהיו והככה ישתלמו חסדם [ ויאמר יהוה אלי אני אראה את בני ישראל וידעוvacat] ]ויאמר [בן אדם הנבא על העצמותvacat כי אני יהוה ואמרת ויקרבו עצם אל עצמו ופרק אל פרקו ויהי כן ויאמר שנית הנבא ויעלו עליהם גדים ויקרמו עור ]עליהם[ מלמעלה ]ויקרמו עור ויע[לו עליהם גדים ורוח אין בם ויאמר אלי שוב הנבא על ארבע רחות השמים ויפחו בם ויעמדו על רגלהם עם רב אנשים vacat ויברכו את יהוה צבאות אשר חים 1 2 3 4 5 6 7 8
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
[Und ich sagte: „O, YHWH!] Ich habe viele aus Israel gesehen, die deinen Namen liebten und auf dem Weg [deines Herzens] gegangen sind. [Di]es [aber]: wann wird es geschehen, und wie wird man ihre Treue belohnen?“ [vacat] Da sagte YHWH zu mir: „Ich werde den Söhnen Israels erscheinen, so dass sie erkennen werden, dass ich YHWH bin.“ (vacat) [Und er sagte]: „Menschensohn, weissage über die Gebeine, und sprich, und es werden Gebein zu Gebein zusam[men]rücken und Gelenk zu Gelenk. Und es geschah so. Und er sagte ein zweites Mal: Weissage! Dann werden Sehnen auf ihnen wachsen, und sie überziehen [sie] mit Haut von oben her. [Und sie über]zogen sich mit Haut, und Sehnen [wuch]sen auf ihnen; [Odem aber war nicht in ihnen.] Und er sagte [zu mir:] Weissag[e] weiter, über die vier Winde
27 Eine neue materielle Rekonstruktion der Manuskripte (alle aus aus der zweiten Hälfte des 1. Jh.s v.Chr.) könnte hier möglicherweise neue Erkenntnisse liefern. 28 Zur Interpretation des biblischen Abschnitts vgl. KLEIN, Schriftauslegung, 270–300 (ohne die redaktionsgeschichtlichen Folgerungen, die für das Thema aber ohnehin nur bedingt relevant sind). 29 In der Rekonstruktion sind die Wörter, die eine direkte Parallele im biblischen Kapitel Ez 37 haben, unterstrichen, solche, die eine Parallele in anderen Partien des Ezechielbuches haben, gepunktet unterstrichen. Der Text stammt aus DJD XXX; eine ausführliche Analyse findet sich bei BRADY, Biblical Interpretation, und vor allem in DIES., Prophetic Traditions.
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des Himmels. Und die hauchten [in sie] hinein. [Und sie stellten sich auf ihre ]Fü[ße,] eine große Menschenmenge, und sie priesen YHWH der Heerscharen, der sie [lebendig gemacht] hatte. (vacat)
Der Text bezieht sich offensichtlich auf Ez 37,1–14 (unterstrichene Textteile, vgl. vor allem Z.4.5–8). Weiterhin ist deutlich, dass der Sprecher bzw. Verfasser des Textes der Prophet selbst ist (1.sg.; passim), der wie im biblischen Ezechielbuch als „Menschensohn“ (Z.4) angesprochen wird.30 Abgesehen davon scheint sich – jedenfalls auf den ersten Blick – die Szene in 4QpsEzek nicht zu sehr von ihrer mutmaßlichen biblischen Vorlage zu unterscheiden. Im Gegenteil, Wortwahl und Inhalt sind nahe am biblischen Bericht: Ezechiel weissagt über die Gebeine, sie werden von Haut überzogen, Sehnen bilden sich, und schließlich wird der Odem (des Lebens) in sie geblasen – wenn es auch in diesem Falle dazu erst eine eigene Einladung geben muss. Zugegeben, das „Fleisch“ spielt keine Rolle (sei es versehentlich31 oder absichtlich), und alles ist gerafft dargestellt, fast so, als würde die bekannte Fassung von Ez 37 vorausgesetzt und nur zusammengefasst. Drittens ist kein „qumranisches“ Vokabular auszumachen, das sicher für eine Herkunft aus der Qumrangemeinschaft sprechen würde: kein „Lehrer der Gerechtigkeit“, keine „Söhne der Finsternis“ oder „des Lichts“ usw. Das ist im Übrigen auch für die anderen erhaltenen Texte der „paratextuellen“ oder Pseudo-Propheten der Fall, sowohl für das Pseudo-Ezechiel-Material als auch für die Fragmente des Jeremia-Apokryphons. Auf den zweiten Blick ändert sich dieser Eindruck allerdings merklich. Schaut man sich den Text an, der keine nahe Parallele im biblischen Ezechielbuch hat (nicht unterstrichen, bes. Z.1–3.10), scheint es sich so zu verhalten, dass die Verheißung der Auferstehung der vertrockneten Gebeine nicht (wie in Ez 37) für ganz Israel gilt, sondern nur für einen bestimmten Teil oder eine Gruppe innerhalb von Israel,32 nämlich für die, die YHWHs „Namen liebten und auf dem Weg“ seines Herzens „gegangen sind“ (Z.1f.). Es ist natürlich verlockend, dahinter die Qumrangemeinschaft zu vermuten, wie es etwa Ben Zion Wacholder getan hat. Doch ist die Sprache, wenn man so sagen darf, eher „konventionell“, was die Bezeichnung der im Blick stehen30 Explizit wohl in 4Q385b 1,1 gesagt: ]ואלה דב[רי יחזקאל, „[Und dies sind die Wor]te Ezechiels“. 31 Dies vermutet WACHOLDER, Deutero Ezekiel. 32 Unter anderem diese Tatsache ist für Wacholder der Grund, den Text als „sectarian composition“ zu lesen (WACHOLDER, Deutero Ezekiel, 447). Er erklärt das Werk anschließend als in jeder Hinsicht sekundär gegenüber dem biblischen Ezechiel, als „new Torah“ (aaO., 446). Diese letztere Sicht der Dinge ist m.E. überzeugend von POPOVIĆ, Prophet abgewiesen worden. Vgl. zum Auferstehungsgedanken in Qumran grundsätzlich: PUECH, Croyance. Das Thema hat seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert „Konjunktur“, vgl. auch Dan 12.
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den Gruppierung frommer Israeliten bzw. Juden angeht. Man mag etwa an die חסדיםdenken (vgl. Z.2: )חסד.33 Die Schlussfolgerung, es müsse sich dabei um die „Frommen“ von Qumran gehandelt haben, ist keinesfalls zwingend, ja, aufgrund der Sprache des Abschnitts sogar eher unwahrscheinlich. In der Folge der Ereignisse unter Antiochos IV. (um 167 v.Chr.) könnte eine beliebige Gruppe den Text entsprechend überliefert haben. Die bereits in den biblischen Texten selbst zu findende „Einengung“ der Perspektive auf fromme Kreise wird konsequent fortgeführt. Im vorliegenden Zusammenhang gibt die Vision der verdorrten Gebeine außerdem die Antwort auf die Frage des Propheten: „Wie wird man ihre (d.h. die zur vorgenannten 34 Gruppe Gehörigen) Treue belohnen?“ Auch wenn die Mitglieder der Qumrangemeinschaft in den letzten Tagen eine prominente Rolle spielen wird, so wird sie doch, soweit 35 ich sehe, nicht als „Vergeltung“ oder „Belohnung für ihre Treue“ verstanden. Schon diese Verengung der Perspektive lässt es sehr viel wahrscheinlicher erscheinen, dass Pseudo-Ezechiel von Ezechiel 37 abhängig ist als umgekehrt. Des Weiteren hat der Text nun eindeutig eine eschatologische Dimension, die auf die Auferstehung der Frommen hinweist, was im biblischen Ezechielkapitel zwar vielleicht angedeutet, aber jedenfalls nicht explizit betont war. Warum sollte jemand (im Umkehrschluss) ein solches Bild „enteschatologisieren“, insbesondere in diesen späteren Perioden der Zeit des Zweiten Tempels? Die textliche Nähe ist auf der anderen Seite so groß, dass man Unabhängigkeit voneinander oder gar eine beiden zugrundeliegende Quelle ausschließen kann. Eher möchte man fragen, ob eine Kenntnis des „biblischen“ Ezechiel nicht sogar nötig ist, um den Text 36 (besser) zu verstehen. Nicht zuletzt spricht die Technik des Autors des Pseudo-EzechielTextes dafür, dass es sich dabei um „Rewritten Bible“ handelt: Der kürzere Bericht wird von den klar erkennbaren Interpretamenten (in Z.1f.9f.) deutlich mit einem Rahmen versehen. Die Anwendung dieser Technik entscheidet die Frage nach der Abhängigkeit m.E. endgültig: Der ältere, gebende Text ist Ez 37 (und es besteht eigentlich kein Grund, hier eine andere oder kürzere Form dieses Kapitels anzunehmen), der jüngere, nehmende, interpretierende Text ist der Pseudo-Ezechiel-Text. Wenn irgendwo, dann handelt es sich 37 vielleicht bei 4QpsEzek um einen „Rewritten Bible“-Text. 33
Vgl. vor allem die Belege im Psalter: Ps 30,5; 31,24; 37,28; 50,5; 52,11; 79,2; 85,9; 89,20; 97,10; 116,15; 132,9.16; 145,10; 148,14; 149,1.5.9. 34 Zu שלםHitpaʿel vgl. sonst nur noch die „Apostrophe to Zion“, ein Abschnitt der großen Psalmenrolle aus Höhle 11. Zweifellos steht das dortige Konzept auch hinter 4Q386: נבחן אדם כדרכו אניש כמעשיו ישתלם: „Der Mensch wird seinem Weg entsprechend geprüft, gemäß seiner Taten wird ihm vergolten (o. wird er belohnt)“ (11Q5 = 11QPsa XXII,10). 35 Vgl. dazu KISTER/QIMRON, Observations, 596 Anm. 10, außerdem die Hinweise von KLEIN, Resurrection, und GARCÍA MARTÍNEZ, Interpretation, 170–172. 36 Vgl. SCHÖPFLIN, Revivification, 80–82. Ohne Ez 37 im Hintergrund wäre nicht einmal sicher sagbar, dass es sich bei dem untersuchten Pseudo-Ezechiel-Text um eine Vision handelt oder um ein vom Propheten beobachtetes Geschehen. Zur Interpretation des Textes vgl. WOLD, Agency, 6–13.18f. 37 Zu Z.2f. vgl. SCHÖPFLIN, Revivification sowie die Beobachtungen von DIMANT, Resurrection, 532. Eine ähnliche Sicht vertritt auch KLEIN, Resurrection, die den Text als „external continuation“ bzw. „externe Fortschreibung“ charakterisiert. Daran ist viel Wahres. Es lässt sich, vor allem auf dem Hintergrund des Themas dieses Bandes, aller-
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Würde man für die übrigen Texte (4Q384–4Q391 ) analog vorgehen, wäre das Ergebnis vermutlich ähnlich. Die pseudoprophetischen Texte scheinen keine „sectarian texts“ zu sein. Sie zeigen Charakteristika von rewriting, auch Zeichen der „Anwendung“ des Materials auf eine (fromme) Gruppe, den entsprechenden Psalmenpassagen nicht unähnlich, weisen aber weder Vokabular, methodologische, theologische oder hermeneutische Eigen39 heiten auf, die spezifisch auf die Gemeinschaft von Qumran weisen.
Mladen Popović hat die – freilich unbeweisbare, aber überaus wahrscheinliche – These aufgestellt, dass die in Frage stehenden Texte (genauso? mehr? oder weniger?) autoritativ für die Gemeinschaft waren.40 Möglicherweise weist die Tatsache unterschiedlicher, gleichwohl sehr ähnlicher Schriften darauf hin, warum zu ihnen kein Pescher verfasst wurde. Ein solcher Pescher verlangt eine einheitliche, als autoritativ anerkannte Textgrundlage. Welche der beiden so ähnlichen, aber zugleich unterschiedlichen Visionen der vertrockneten Gebeine sollte man kommen41 tieren? Um Missverständnissen vorzubeugen: Ezechiel und Jeremia als Propheten und als Prophetenbücher blieben deshalb nicht weniger autoritativ als die anderen Texte. Sie blieben prophetisches Zeugnis des Gottesworts. Aus ihnen konnte zitiert, auf sie konnte angespielt werden. Für eine Pescherauslegung durch den Lehrer der Gerechtigkeit in eschatologischer Sicht waren sie möglicherweise aber weniger geeignet.
Dem Verfasser (oder den Verfassern) des Texts lag also – aus unserer heutigen Perspektive – aller Wahrscheinlichkeit nach eine dem masoretischen Text zumindest nahestehende Fassung der Vision Ezechiels vor, die er (oder sie) in teilweiser Neuformulierung, Kürzung, und vor allem Neufokussierung der Vision auf eine bestimmte Gruppe hin bearbeitet. Ein wichtiger Unterschied dings fragen, ob der Begriff für unseren Text glücklich gewählt ist, geht es doch eher um ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte eines (doch wohl als autoritativ betrachteten) vorliegenden Texts in Form eines neuen Werks. Darauf deutet ebenfalls hin, dass das „Fortgeschriebene“ im neuen Werk ja, wenn auch in Kurzform, übernommen wird. Dieser komplexe Vorgang lässt sich aus meiner Sicht nicht recht mit einem „Fortschreiben“ fassen. Für denjenigen, dem der Begriff „Rewriting“ (nicht ganz zu Unrecht) dafür zu weit gefasst erscheint, könnte man vielleicht mittels einer genaueren Qualifizierung Abhilfe schaffen, etwa „fortschreibendes/fortgeschriebenes Rewriting“ oder ähnlich. 38 4Q390 gehört, wie BERNER, Jahre, 393–402.429f. überzeugend gezeigt hat, nicht zu dieser Gruppe. 39 Vgl. die Argumente von KLEIN, Resurrection. Die Verwendung des Tetragrammatons (dazu auch DIMANT, Qumran Cave 4, 21) – sonst ja fast ausschließlich in „biblischen“ Texten belegt – ist beispielsweise ein deutliches Indiz dagegen, dass das Werk in der Qumrangemeinschaft verfasst wurde. Vielmehr könnte die Tatsache darauf hindeuten, dass die Gemeinschaft 4QpsEzek als autoritativen Text verstanden haben könnte. 40 Unterschiedliche „Stufen“ oder „Grade“ der Hochschätzung oder des Ansehens bestimmter Texte innerhalb eines Korpus sind vermutlich unvermeidbar, was für deren Autorität jedoch nicht viel besagen muss. 41 Hier ist auch der Hintergrund der Wurzel פתר/ ( פשרAkk. pašāru / paṭāru) zu nennen, die eng mit der Trauminterpretation zusammenhängt (vgl. XERAVITS/PORZIG, Einführung, 106f.). Zur Frage der Autorität der Prophetenschriften und der Pescharim in diesem Zusammenhang vgl. jetzt VIELHAUER, Authoritative Scriptures.
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zu den bisherigen Texten besteht darin, dass man hier, ohne den „masoretischen“ Ezechiel zu kennen, auch nur schwer auf ihn zurückschließen könnte: In gewisser Hinsicht sind die Grenzen wissenschaftlicher, und damit auch der redaktionsgeschichtlichen Methodik erreicht, wenn im Ausgangstext Kürzungen (Streichungen, ggf. auch Umstellungen) vorgenommen werden oder an die Stelle einiger Passagen gänzlich neu formulierte Stücke treten, d.h. sozusagen „Gottes Wort verkürzt“ oder „ausgelassen“ wird („God’s Word Omitted“42), sofern noch keine allgemein akzeptierte methodische Kontrolle für das nachträgliche Erkennen solcher Vorgänge gefunden wird, was wohl auch prinzipiell nicht möglich sein dürfte. So ist es aus meiner Sicht durchaus unlauter, aus methodischen Gründen derartige Vorgänge in der Überlieferung vorliegender Texte analog zu Fortschreibungen anzunehmen. Nicht nur wären der Willkür dann Tor und Tür geöffnet, auch wäre dem Charakter der Texte als Überlieferungsliteratur Gewalt angetan. Die damaligen Rezipienten dürfte all das wenig gekümmert haben. Für sie stammte der eine wie der andere Text vom Propheten, „Pseudo“-Ezechiel war nicht minder „Ezechiel“ als sein biblischer Verwandter, „Jeremia“ war der Prophet des gleichnamigen Buchs, ganz gleich, ob es ihnen in kürzerer (als Vorlage der griechischen Überlieferung) oder längerer (als Vorlage der später masoretischen) Fassung vorlag.43 Man darf annehmen, dass all diesen Schriften eine gleiche Hochschätzung in der Gemeinschaft entgegengebracht wurde. Die Fälle, in denen es möglich ist, Streichungen oder Änderungen nachzuweisen, sind im Vergleich zu Ergänzungen (insbesondere in solchen Schriften, die nach und nach autoritativer werden) überaus spärlich. Sie bilden den Ausnahmefall. Das heißt natürlich, dass einerseits das Methodenspektrum durchaus enger gefasst ist, als dass sämtliche Möglichkeiten, die der Überlieferung zur Verfügung standen, darin in Gänze erfasst werden können. Andererseits ist die Begrenzung nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig, um die Methoden überhaupt nachvollziehbar anwenden zu können. Der Exeget sollte Streichungen und Textänderungen, wenn überhaupt, nur in unvermeidlichen Ausnahmefällen bzw. als ultima ratio überhaupt in Erwägung ziehen. In ganz ähnlicher Weise sollte dies auch für die Annahme mündlich überlieferter Traditionszusammenhänge gelten, wofür als prominentes Beispiel das von Rad’sche „Kleine Geschichtliche Credo“44 angeführt sein soll, das sich in teils abgeschwächter, verborgener oder abgewandelter Form45 noch immer in 42
So der Titel des einschlägigen Buchs von PAKKALA, God’s Word Omitted. Vgl. dazu POPOVIĆ, Prophet. Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Zitat des „JosuaApokryphons“ (4Q379 f22ii,7–15) in den „Testimonia“ (4Q175, Z.21–30). 44 Vgl. VON RAD, Problem, 11–16; ROST, Credo. 45 Gern als „Vorgaben der Tradition“ o.ä. bezeichnet; vgl. hierzu auch die weitergehenden (sich dieses Aspekts durchaus bewussten) Überlegungen von B LUM, Grundfragen (bes. 1–29), der richtigerweise auf die Dringlichkeit einer zu führenden umfangreicheren und grundsätzlichen Diskussion des Themas hinweist. – Für eine Einbeziehung von Sachver43
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den Thesenbildungen der alttestamentlichen Wissenschaft mehr oder weniger gut versteckt.
5. Genuine Qumranschriften (1QS, Kol. V) Mit den kurz gestreiften pseudoprophetischen Texten, deren Provenienz keineswegs als geklärt gelten kann – manche halten sie für genuine Qumranschriften, „sectarian texts“, andere für der Gemeinschaft vorausgehende, lediglich dem Inhalt nach den Vorstellungen der Gemeinschaft nahestehende Texte, „non-sectarian“ also46 –, sind wir bereits bei den Qumranschriften angelangt, die einigermaßen sicher in der Gemeinschaft (Yaḥad) entstanden sind. Vielleicht am sichersten darf zu diesen Schriften die sog. „Gemeinschaftsregel“ gerechnet werden, die in einer prächtigen und außergewöhnlich gut erhaltenen Handschrift aus Höhle 1 und mehreren unterschiedlichen Exemplaren aus den Höhlen 4, 5 und 6, vorliegen.47 Eine Besonderheit dieser „S“-(=Serekh)-Texte stellt die Tatsache dar, dass die kürzeren Handschriften z.T. jünger sind als die lange Form 1QS. Das hat manche dazu geführt, hier nachträgliche Streichungen in einem längeren Werk anzunehmen (Devorah Dimant, Philip S. Alexander48). Dasselbe nimmt Alexander auch für den parallelen, aber unterschiedlichen Text in 4QS(b+)d an. Mit dem Testfall, den er anführt, möchte ich daher meine Beobachtungen an 1QS V und den Paralleltexten beginnen. Dass nur in 1QS die Söhne Zadoks (Kol. V, Zeilen 2 und 9) auftauchen, kann kaum Zufall sein. Nach dem Gesagten dürfte klar sein, wie Vertreter der Kürzungshypothese argumentieren: Die längere Phrase mit den Söhnen Zadoks wurde getilgt – von der älteren zur jüngeren Handschrift. Sonst täte sich nämlich 1. „the uncomfortable chronological gap introduced between the palaeographic date of these two manuscripts“ auf, und damit zugleich 2. „the situation they are supposed to reflect“. Hier wird also bereits das historische Argument eingeführt, das aber doch zuerst aus den Texten selbst gewonnen werden müsste: „The suggestion halten, die jenseits des Zugriffs des Historikers liegen, fehlen bedauerlicherweise, soweit ich sehe, allgemein akzeptierte methodische Alternativen, weswegen eine Auslegung, die sich auf das materialiter Bezeugte stützt, also „evidenzbasiert“ zu nennen wäre, m.E. zunächst stets vorzuziehen ist. Generell ist einzugestehen, dass natürlich jede Methode an irgendeiner Stelle auf die Grenzen ihrer Überzeugungskraft trifft. Dort (aber nur dort) mögen entsprechende Fragen über die Evidenz hinaus dann ihren Ort haben. Legte der Ruf nach einer Methodik, die sich von der in den Geschichtswissenschaften entwickelten wesentlich unterschiede, nicht sogleich (und vielleicht auch mit einem gewissen Recht) den Verdacht apologetischer Absichten nahe? 46 Zur Problematik vgl. XERAVITS/PORZIG, Einführung, 10–12. 47 Vgl. wiederum XERAVITS/PORZIG, Einführung, 141–154. 48 Vgl. ALEXANDER, Redaction-History.
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still seems plausible to me that a group of Zadokites from Jerusalem, displaced or disenchanted by the Hasmonean usurpation of the high priesthood, played a crucial role in the history of the Dead Sea sect.“ Und weiter: „Those Zadokites are likely to have been few in number, and their line could easily have died out, because they finally produced no offspring at all, or only females or ineligible males.“49 Angesichts des Vorkommens der „Söhne Aarons“ in 1QS V,20f. und IX,7 sei außerdem die Perspektive von 1QS konsistenter als die von 4QSb+d; diese stellten folglich eine „inconsistent revision“ jener dar. Zum letzten Argument Alexanders sei die Frage erlaubt, ob nicht auch spätere Redaktoren eines Werkes Konsistenz herstellen dürfen – ja vielleicht ist gerade das hier oder da eines ihrer Anliegen. Den Hintergrund seiner Annahme dürfte allerdings die ein wenig in die Jahre gekommene Unterscheidung zwischen „Autor“ und „Redaktor“ bilden: Der kreative, feinsinnige und nicht selten geradezu geniale Autor einer Schrift, dessen schriftstellerischen Künste den Grundstock dieser Schrift ausmachen, und dem spätere, meist für Epigonen gehaltene, vergleichsweise simpel vorgestellte Kompilatoren und Ergänzer folgen, welche die Größe des Originals durch ihre redaktionellen Zufügungen eigentlich nur undeutlicher machen oder verzerren, so dass die Hauptaufgabe des Exegeten sein muss, zum „Eigentlichen“, „Ursprünglichen“, also dem Werk des Autors, wieder zurück zu gelangen. Dieses (hier natürlich ein wenig karikierte) Bild, hinter dem viel 19. Jahrhundert steht, hat sich aber – übrigens nicht zuletzt dank der Textfunde von Qumran – als unzutreffend erwiesen. Die antike Literatur ist immer Auslegungsliteratur gewesen, und zwar von Anfang an. Natürlich haben die einzelnen Autoren mehr oder auch weniger große Anteile zum Umfang (und zur „Qualität“, wenn sich diese denn objektiv bestimmen lässt) der Werke beigetragen, aber das Bild ist, wie bei der Entstehung kanonischer Texte, sehr viel komplexer geworden, nicht nur, weil der Lauf der Überlieferung eben, wie an den Textfunden vom Toten Meer sichtbar wird, nicht gerade und einlinig verläuft, sondern auf mitunter durchaus krummen und/oder verzweigten Pfaden, in denen sich die Diskurse der antiken Verfasser und ihres sozialen Umfeldes, der Gruppen und Strömungen der Geschichte, widerspiegeln. Das Argument der ausgestorbenen Priesterklasse, die zuvor bedauerlicherweise nur weibliche und/oder zum Priesterdienst untaugliche Nachkommen bekommen hätte, stapelt allerdings historische Hypothese auf Hypothese, um die textgenetische Entwicklungstheorie halten zu können; ich kommentiere sie hier nicht ausführlicher. Eine kleine polemische Spitze sei mir abschließend erlaubt: Die Zadokiden wurden nach dieser These also nicht nur aus der Gemeinschaftsregel 1QS, sondern auch gleich aus dem Buch des Lebens getilgt. Den richtigen Weg zur Erklärung der Verhältnisse des Texts von 49
ALEXANDER, Redaction-History, 451.
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1QS V hat m.E. hingegen Sarianna Metso eingeschlagen,50 die viele der folgenden Beobachtungen auch gemacht hat: Die überschüssigen Passagen in 1QS dürften praktisch durchweg als Erweiterungen des ursprünglicheren Textes zu verstehen sein, der sich in 4QSb+d findet. Die hervorstechendsten Varianten im Einzelnen: 1QS V 1וזה הסרך לאנשי היחד המתנדבים לשוב מכול רע ולהחזיק בכול אשר צוה לרצונו להבדל מעדת 2אנשי העול להיות ליחד בתורה ובהון ומשיבים על פי בני צדוק הכוהנים שומרי הברית ועל פי רוב אנשי 3היחד המחזקים בברית על פיהם יצא תכון הגורל לכול דבר לתורה ולהון ולמשפט לעשות אמת יחד וענוה 4צדקה ומשפט ואהבת חסד והצנע לכת בכול דרכיהם אשר לוא ילך איש בשרירות לבו לתעות אחר לבבו 5ועיניהו ומחשבת יצרו ואאם כיא אם למול ביחד עורלת יצר ועורף קשה ליסד מוסד אמת לישראל ליחד ברית 6עולם לכפר לכול המתנדבים לקודש באהרון ולבית האמת בישראל והנלוים עליהם ליחד ולריב ולמשפט 7להרשיע כול עוברי חוק ואלה תכון דרכיהם על כול החוקים האלה בהאספם ליחד כול הבא לעצת היחד 8יבוא בברית אל לעיני כול המתנדבים ויקם על נפשו בשבועת אסר לשוב אל תורת מושה ככול אשר צוה בכול 9לב ובכול נפש לכול הנגלה ממנה לבני צדוק הכוהנים שומרי הברית ודורשי רצונו ולרוב אנשי בריתם 10המתנדבים יחד לאמתו ולהתלך ברצונו ואשר יקים בברית על נפשו להבדל מכול אנשי העול ההולכים 11בדרך הרשעה כיא לוא החשבו בבריתו כיא לוא בקשו ולוא דרשהו בחוקיהו לדעת הנסתרות אשר תעו 12בם לאששמה והנגלות עשו ביד רמה לעלות אף למשפט ולנקום נקם באלות ברית לעשות בם ]מ [שפטים 13גדולים לכלת עולם לאין שרית ) (vacatאל יבוא במים לגעת בטהרת אנשי הקודש כיא לוא יטהרו 14כי אם שבו מרעתם כיא טמא בכול עוברי דברו
4QSd 1מדרש למשכיל על אנשי התורה המתנדים להשיב מכל רע ולהחזיק בכל אשר צוה 2ולבדל מעדת אנשי העול ולהיות יחד בתור]ה [ובהון ומשיבים על פי הרבים לכל דבר 3לתורה ולהון ולעשות ענוה וצדקה ומשפט ואהבת] חסד וה[צנע לכת בכל דרכיהם ] 4אשר[ לא ילך איש בשרירות לבו לתעות כי אם ליסד ]מוסד[ אמת לישראל ליחד לכל 5המ ֯תנ֯ ד֯ ב֯ לקדש באהרן ובית אמת לישראל והנלוי]ם[ ע]לי [ ֯הם ליחד
וכל הבא לעצת ] 6היח[ד יק]י[ם על נפשו באסר ל]שוב א[ל] ת[ורת מש ]ה[ ב֯ כל לב ובכל נפש כל הנגלה מן 7הת]ורה ע[ל ]פי[ עצת אנש]י[ היח]ד[
]ולהבדל מכל אנשי[ העול
ואש ֯ר לא יגעו לטהרת אנשי ] 8הקד [ש ֯ ואל יוכל אתו ביחד
50 Vgl. METSO, Development. In der folgenden Textwiedergabe sind die wörtlichen Parallelen unterstrichen; leichte Abwandlungen gepunktet, Zitate doppelt unterstrichen. Zu den S-Handschriften wird außerdem eine bald erscheinende Studie von James M. Tucker (Toronto u. Göttingen) wertvolle neue Erkenntnisse liefern.
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]ואשר לא ישיב א[יש מאנשי היחד על פיהם לכל ]תורה [ומשפט9
ואש ]ר לא יוחד עמו בהון וב [עבודה ]מהונם ו[ל]א יקח10 ואל יואכל איש מאנשי הקדש מידם מאומ[ ֯ה
ולא ישענו על ]כל מע [ ֯שי ההבל כי הבל כל אשר ]לא את בריתו וכל מנאצ [י דברו להשמיד מתבל11 ידעו [ומעשיהם לנד ]ה[ ל ]פניו וטמא בכ[ל] הונם
4QSd 1 Midrāš für den Einsichtigen über die Männer der Tôrāh, die freiwillig bereit sind, von allem Bösen umzukehren und an allem festzuhalten, was er befohlen hat, 2 und sich abzusondern von der Gemeinde der Männer des Frevels, und ein Yaḥad zu sein in der Tôrāh und im Besitz, und die verantwortlich sind gegenüber den Vielen
in jeder Angelegenheit bezüglich 3 der Tôrāh und des Besitzes, und Demut zu üben und Gerechtigkeit und Recht und herzliche Liebe und demütigen Wandel auf all ihren Wegen, 4 aber nicht in der Verstocktheit seines Herzens zu wandeln, in die Irre zu gehen
sondern
um ein Fundament der Wahrheit für Israel zu legen für den Yaḥad
ואשר לוא יוחד עמו בעבודתו ובהונו עוון אשמה כיא ירחק ממנו בכול דבר15 פן ישיאנו כיא כן כתוב מכול דבר שקר תרחק היחד על פיהם לכול16 ואשר לוא ישיב איש מאנשי תורה ומשפט ואשר לוא יוכל מהונם כול ולוא ישתה ולוא יקח מידם כול מאומה אשר לוא במחיר כאשר כתוב חדלו לכם מן האדם17 כול18 אשר נשמה באפו כיא במה נחשב הואה כיא אשר לוא נחשבו בבריתו להבדיל אותם ואת כול אשר להם הבל כיא19 ולוא ישען איש הקודש על כול מעשי הבל כול אשר לוא ידעו את בריתו וכול מנאצי דברו לפניו וטמא20 ישמיד מתבל וכול מעשיהם לנדה … בכול הונם 1QS V 1 Und dies ist die Ordnung für die Männer des Yaḥads, die freiwillig bereit sind, von allem Bösen umzukehren und an allem festzuhalten, was er nach seinem Willen befohlen hat, sich abzusondern von der Gemeinde 2 der Männer des Frevels, zum Yaḥad zu gehören in der Tôrāh und im Besitz, und die verantwortlich sind gegenüber den Söhnen Ṣādôqs, den Priestern, den Bewahrern des Bundes, und gegenüber der Menge der Männer 3 des Yaḥads, die am Bund festhalten. Nach ihrer Weisung erfolgt die Losbestimmung in jeder Angelegenheit bezüglich der Tôrāh und des Besitzes und des Rechts, damit sie einträchtig Treue und Demut üben, 4 Gerechtigkeit und Recht und herzliche Liebe und demütigen Wandel auf all ihren Wegen, aber nicht in der Verstocktheit seines Herzens zu wandeln, in die Irre zu gehen seinem Herzen 5 und seinen Augen und dem Sinnen seines Triebes nach, sondern im Yaḥad die Vorhaut des Triebes und die Halsstarrigkeit zu beschneiden, um ein Fundament der Wahrheit für Israel zu legen für den Yaḥad des ewigen Bundes, 6 um Sühne zu schaffen
Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran all denen, 5 die freiwillig bereit sind für ein Heiligtum in Aaron und ein Haus der Wahrheit für Israel, und für die, die sich ihnen anschließen zum Yaḥad.
Und jeder, der in den Rat 6 des Yaḥads eintritt,
soll sich bindend verpflichten, zur Tôrāh des Mose umzukehren,
von ganzem Herzen und ganzer Selle; alles, was offenbart ist von 7 der Tôrāh auf Geheiß des Rates der Männer des Yaḥads,
und sich abzusondern von allen Männern des Frevels,
Und niemand soll die Reinheit der Männer 8 der Heiligkeit anrühren, Und nicht soll man mit ihm einträchtig (o. im Yaḥad) essen.
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all denen, die freiwillig bereit sind für ein Heiligtum in Aaron und ein Haus der Wahrheit in Israel, und für die, die sich ihnen anschließen zum Yaḥad und zum Streit und zum Gericht, 7 um alle zu verdammen, die das Gebot übertreten. Und dies ist die Weisung für ihre Wege betreffs all dieser Gebote, wenn sie sich zum Yaḥad zusammenfinden. Jeder, der in den Rat des Yaḥads eintritt, 8 wird in den Bund Gottes eintreten vor den Augen aller, die freiwillig bereit sind. Und er soll sich durch einen bindenden Eid verpflichten, zur Tôrāh des Mose umzukehren, gemäß allem, was er befohlen hat, von ganzem 9 Herzen und ganzer Seele, zu allem, was offenbart ist ihm, von den Söhnen Ṣādôqs, den Priestern, den Bewahrern des Bundes und Erforschern seines Willens, und der Menge der Männer ihres Bundes, 10 die einträchtig freiwillig bereit sind zu seiner Wahrheit und dazu, nach seinem Willen zu wandeln. Er soll sich durch Bundesschluss verpflichten, sich abzusondern von allen Männern des Frevels, 11 denen, die auf gottlosem Wege wandeln; denn sie werden nicht zu seinem Bund gerechnet, denn sie haben weder in seinen Geboten gesucht noch geforscht, um die verborgenen Dinge zu erkennen, worin sie in die Irre gingen 12 zur Verschuldung. Die offenbaren Dinge aber haben sie mit erhobener Hand getan, so dass sie Zorn erweckten zum Gericht und zur Vollstreckung der Rache durch die Flüche des Bundes, so dass gewaltige Gerichte an ihnen vollstreckt werden 13 zu ewiger Vernichtung, restlos. (vacat) Er soll nicht ins Wasser gehen, und so die Reinheit der Männer der Heiligkeit anrühren, denn sie können nicht gereinigt werden, 14 wenn sie nicht umgekehrt sind von ihrer Bosheit; denn Unreines ist an allen, die sein Wort übertreten.
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Und keiner von den Männern des Yaḥads darf Antwort geben auf ihre Weisung hin bezüglich der ganzen 9 Tôrāh und des Rechts.
Und niemand darf sich mit ihm zusammentun in seinem Besitz und in seiner Arbeit. Und keiner von den Männern der Heiligkeit 10 soll von ihrem Besitz etwas essen, und keiner soll etwas aus ihrer Hand empfangen.
Und sie sollen sich nicht auf irgendwelche nichtigen Werke stützen, denn nichtig sind alle, die 11 seinen Bund nicht kennen, und alle, die sein Wort missachten, so dass er sie vom Erdkreis vertilge, und alle ihre Werke sind nur Schmutz vor ihm, und Unreinheit haftet an all ihrem Besitz. …
Und niemand darf sich mit ihm zusammentun in seiner Arbeit und in seinem Besitz
damit er ihm nicht 15 schuldhafte Übertretung auflade. Denn er soll sich von ihm fernhalten in allen Angelegenheiten; denn so steht geschrieben: „Von jeder betrügerischen Angelegenheit sollst du dich fernhalten!“ (Ex 23,7). Und keiner von den Männern des Yaḥads darf Antwort geben 16 auf ihre Weisung hin bezüglich der ganzen Tôrāh und des Rechts. Und keiner soll von ihrem Besitz etwas essen oder trinken oder etwas aus ihrer Hand empfangen, 17 außer gegen einen Kaufpreis; wie geschrieben steht: „Lasst von dem Menschen ab, in dessen Nase nur ein Hauch ist! Denn wozu ist er schon zu rechnen?“ (Jes 2,22). Denn 18 alle, die nicht zu seinem Bund gerechnet werden, die muss man absondern, (sie) und alles, was ihnen gehört. Und kein Mann der Heiligkeit darf sich auf irgendwelche nichtigen Werke stützen 19 denn nichtig sind alle, die seinen Bund nicht kennen. Und alle, die sein Wort missachten, wird er vom Erdkreis vertilgen, und alle ihre Werke sind nur Schmutz 20 vor ihm, und Unreinheit haftet an all ihrem Besitz. …
Z.1 Anfang: Während 1QS von der „Ordnung (Særæḵ) für die Männer des Yaḥads“ spricht, fassen die 4Q-Handschriften die folgenden Regeln als „Midrāš („Ausarbeitung“) für den Einsichtigen (Maśkîl)51 über die Männer der Tôrāh“ zusammen. Die letzte Formulierung findet sich ausschließlich hier. 1QS schränkt demnach die Gültigkeit des Folgenden auf die Mitglieder des Yaḥads ein. Nach 4QSd waren noch alle gesetzestreuen Männer im Blick gewesen. Das war zwar möglicherweise auf dieselbe Gruppe zu beziehen, lässt aber immerhin ein anderes und weiteres Verständnis zu. Der nächste Unterschied betrifft ein in 1QS überschüssiges „nach seinem Willen“ ()לרצונו. Für ein Versehen des Schreibers, der das Wort in den 4QS-Handschriften übersehen oder der es absichtlich übergangen haben könnte, findet sich kein 51
Nur hier. Vgl. zu „Midrasch“ außerdem 2Chr 13,22; 24,27.
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Hinweis. Auch für eine Streichung aus dogmatischen oder sogar historischen Gründen sehe ich keinen rechten Grund – in 1QS IX,15.23 blieb das Wort jedenfalls stehen. 1QS präzisiert offenbar – ebenso wie in den Zeilen 9 und 10, wo ebenfalls nach dem „Willen“ („ )רצוןgeforscht“52 wird, in dem man zu „wandeln“ habe. Z.2: Hier folgt das bereits bekannte Plus von 1QS: 4QSd hat nur „verantwortlich gegenüber den Vielen“, 1QS das lange „verantwortlich gegenüber den Söhnen Ṣādôqs, den Priestern, den Bewahrern des Bundes, und gegenüber der Menge der Männer des Yaḥads“. Die Differenzierung und Einschränkung ist hier mit Händen zu greifen: Einzig die priesterliche Führung – sie bewahrt nämlich den Bund! – trägt innerhalb der Gemeinschaft die Verantwortung bei den „Männern des Yaḥad“. Die Doppelung – ja, nimmt man das על פיהםZ.3 hinzu sogar Dreifachnennung – der Präposition על פיist auffällig und ein starkes Indiz für eine nachträgliche Arbeit am Text und damit für die Einfügung der Zadokiden. Möglicherweise wurde hier sogar in zwei Stufen redigiert: Erst wurde aus den „Vielen“ die „Menge der Männer des Yaḥads“ (analog zur Überschrift Z.1), dann erfolgte in einem weiteren Schritt die Einfügung der Zadokiden. Im folgenden überschüssigen Text wird deutlich der Bund (berît) betont. Warum diese Hervorhebung des Bundesverhältnisses gestrichen werden sollte, ist überaus fraglich; das Motiv findet sich prominent auch in anderen genuinen Qumranschriften (etwa der Damaskusschrift, CD), vor allem aber in den vorangehenden Kolumnen von 1QS I–III und IV, die ja in 4QSd fehlen. Auch das Ergebnis des Losverfahrens, von dem der längere Text in 1QS V spricht, spielt in 4QSb+d keine Rolle, eine umso stärkere hingegen in 1QS I–IV. Die nächste größere überschießende Passage findet sich in Z.4f. Diese Stelle stellt im Kontrapunkt zum Willen Gottes (s.o.) nun den eigenen Willen („Herz“), die eigene Sicht der Dinge („Augen“), ja die „Neigung“ oder den „Trieb“ ( )יצרins Zentrum der Betrachtung, dessen Vorhaut beschnitten werden soll (so nur hier) – in enger Aufnahme, fast möchte man sagen: im Zitat von Dtn 10,16 („So beschneidet nun eure Herzen und seid nicht halsstarrig“, vgl. auch Num 15,39; Ez 6,9; Jer 4,4 und den Überschuss in Z.5). Mit anderen Worten: Die biblischen Bezüge nehmen im Vergleich zum kürzeren Text zu. Diese Tendenz wird überdeutlich in zwei weiteren Zufügungen, in denen sogar explizite Torazitate mit entsprechender Einleitung vorliegen: In Z.15 heißt es: „denn so steht geschrieben“ ( )כיא כן כתובmit anschließendem Zitat aus Ex 23,7: „Von jeder betrügerischen Sache sollst Du dich fernhalten!“, und in Z.17 wird Jes 2,22 wörtlich wiedergegeben, eingeleitet durch die Formel „wie geschrieben steht“ ()כאשר כתוב. In beiden Fällen handelt es sich um
52 Und zwar genauso wie andernorts in der Torah: Die Rede ist von den „Erforschern seines Willens“, דורשי רצונו.
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assoziierte Stellen ( דברund )רחק,53 die mehr oder weniger aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen wurden, wohl weniger um Schriftbeweise im engeren Sinn.54 Angemessener scheint die Formulierung von Kratz: „Zitat [implizit oder explizit, Vf.] und Kontext legen sich gegenseitig aus.“55 Nicht zuletzt fällt auf, dass die mit Zitaten gespickte Passage die einzige im Vergleich ist, an der die sonst streng eingehaltene Reihenfolge des gebenden Textes (4QSd) aufgehoben wird, möglicherweise, weil dann der Übergang vom Zusatz in Z.17–18a zum älteren Text in Z.18b–19 glatter verläuft.56 Doch weiter im Text. Der nächste Überschuss ist besonders interessant für das Thema. An das „zum Yaḥad“ ( ;ליחדZ.6 Ende) schließt sich eine Passage an, in der es wiederum u.a. ums Gericht geht, außerdem um das Verdammen der Gegner und schließlich um eine „Weisung“ (wie schon bei der Bestimmung des Loses) für die Zusammenkünfte: „und zum Streit und zum Gericht, um alle zu verdammen, die das Gebot (ḥôq) übertreten (ʿāḇar). Und dies ist die Weisung für ihre Wege betreffs all dieser Gebote (ḥûqqîm), wenn sie sich zusammenfinden.“ Die Passage schließt mit „zum Yaḥad“ bzw. „zur Gemeinschaft“ und schließt damit direkt an den vorangehenden Text an: Eine Wiederaufnahme, die genau den Zusatz umfasst! Hier werden, wie auch in den anderen Zusätzen, die einzelnen Bestimmungen besonders hervorgehoben, an die man sich zu halten hat – und deren Nichtbeachtung zur Folge hat, dass man zum „Gottlosen“, zum „Frevler“, erklärt wird. Evident ist der Sachverhalt auch in den Z.11–13a, wo noch deutlicher, geradezu länglich ausgeführt wird, was in Z.1f. und dann in Z.10 schon gesagt ist: Es geht darum, sich von den Frevlern zu scheiden und von dem, was ihnen vorgeworfen wird. Die „Männer des Frevels“ werden genauer bestimmt als die, „die auf gottlosem Wege wandeln, denn sie werden nicht zu seinem Bund gerechnet, denn sie haben weder in seinen Geboten gesucht noch geforscht, um die verborgenen Dinge zu erkennen, in denen sie in die Irre gingen zur Verschuldung. Die offenbaren Dinge aber haben sie mit erhobener Hand getan, so dass sie Zorn erweckten zum Gericht und zur Vollstreckung der Rache durch die Flüche des Bundes, so dass gewaltige Gerichte an ihnen vollstreckt werden zu ewiger Vernichtung, restlos.“ Hier wimmelt es nur so von Anspielungen auf biblisches Material, ich nenne nur Zeph 1,6 („jene, die abtrünnig sind von YHWH und die nicht nach YHWH fragen und ihn nicht suchen“ – mit בקשund דרשformuliert); Num 15,30 (erhobene Hand); Ez 53
Vgl. METSO, Development, 81f. Vgl. auch KRATZ, Exegese, 48. 55 KRATZ, Exegese, 48. 56 Die erneute Aufnahme des „Absonderns“ ( )להבדילund die Umstellung der „Männer der Heiligkeit“ (1QSd frag. 1–2,9b u. 1QS V,18b) dürfte ebenfalls in diesem Zusammenhang vorgenommen worden sein. 54
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24,8/Lev 26,25 (Rächen des Bundes) und Dtn 29,20 (Absondern nach den „Flüchen des Bundes“). Das Konzept der „verborgenen“ und der „offenbaren“ Dinge (Dtn 29,28) ist typisch für die Schriftauslegung der Qumrangemeinschaft.57 Und wieder spielt die Vorstellung des Bundes, wie ja bereits an anderer Stelle erwähnt, eine zentrale Rolle. Dieser Bund ( )בריתkommt, das sei am Rande bemerkt, durchaus in 4QSb+d vor, allerdings weniger zentral und an anderer Stelle. Für eine etwaige Streichung etwa aus theologischen Gründen (wie sie bei den Vertretern einer Kürzungshypothese anzunehmen wäre) kann der Begriff damit aber keinen Anhalt bieten. Z.13b–15a schließlich wurden schon vor dem Bekanntwerden des 4QMaterials von einigen literarkritisch arbeitenden Forschern als sekundär ausgeschieden – also allein aufgrund der literarischen Verhältnisse in 1QS (etwa Jerome Murphy-O’Connor58)! In der Passage in 1QS stehen nicht weniger als fünf (כי)א-Sätze nebeneinander, die teilweise im Singular stehen: „Er soll nicht das Wasser betreten […] Denn er soll sich fernhalten…“, der aber dann im zu 4QSd parallelen Text im Plural fortgeführt wird: „Keiner […] darf Antwort geben auf ihre Weisung hin betreffs der ganzen Tora und des Rechts“, bzw. Z.16b: „Keiner soll … etwas aus ihrer Hand empfangen“. Diese Inkohärenz fehlt in den kürzeren 4Q-Texten: „Und nicht sollen sie (= Niemand soll) der Reinheit der Männer der Heiligkeit zu nahe kommen […]“ usw. Des Weiteren liegt auch hier ein implizites Zitat vor: „damit er ihm nicht … schuldhafte Übertretung auflade“ (Lev 22,16). Zusammen mit dem expliziten Schriftzitat aus Ex 23,7 ist eindeutig erkennbar: Hier liegt ein literarischer Nachtrag vor. Die literarkritischen Indizien bringen auch diesen „Prozess“ zu einem Ausgang, der vom Textbefund bestätigt wird. Anlass für die weiteren Ergänzungen war möglicherweise die Wurzel חשבin Z.11, die der Redaktor aufgreift und mit der er mittels des Jesajabezuges nun geradezu „spielt“.59
6. Ein kurzes Fazit Der kurze Überblick über die Textüberlieferung in Qumran hat vor allem ihre Vielgestaltigkeit gezeigt. Textüberlieferung und Textbearbeitung, Kopieren und Glossieren oder Kommentieren, Abschreiben und Redigieren gehen, wohin immer man den Blick richtet, Hand in Hand. Je autoritativer die Texte, die das Objekt der Überlieferung sind, werden, desto geringer wird die Bandbreite der Bearbeitung, gänzlich zum Stillstand gekommen ist sie nach dem Befund der Handschriften nie. Der Vielgestaltigkeit der Überlieferung entsprechen wiederum vielfältige Gründe, die zu tradierenden Texte zu bearbei57
Vgl. METSO, Development, 80 und zum Konzept bes. TZOREF, Esotericism. Vgl. MURPHY-O’CONNOR, Genèse, 533. 59 Vgl. METSO, Development, 82f. 58
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ten, zu ergänzen und auf die Situation der Gegenwart zu beziehen. Bereits die biblischen Autoren lebten gewissermaßen zugleich „im“ und „aus dem Wort“. Eine erste Tendenz der Überlieferung ist, die sich ganz natürlich aus dem Text ergebenden Fragen zu beantworten oder schwer Verständliches (im Wesentlichen „textintern“) zu glossieren. Diese Tendenz ist aus den biblischen Büchern sattsam bekannt und lässt sich im Verlauf der reinen Textgeschichte weiterverfolgen. Soweit ich sehen kann, machen die Qumrantexte hier keinen Unterschied zwischen „biblischeren“ und „weniger biblischen“, zwischen „autoritativen“, später kanonischen, und „bearbeiteten“ oder selbst verfassten Texten.60 Dabei können auch durchaus ganze Buchteile und Ideen ergänzt werden, für die mitunter schwer zu entscheiden ist, ob es sich primär um textintern oder extern motivierte Fortschreibungen handelt – so etwa die so genannte „Zwei-Geister-Lehre“ oder 1QS I–IV insgesamt. Ob hier ein älterer Text vorlag (wie oft angenommen mit Anklängen an persisch-dualistische Vorstellungen) oder aus dem vorliegenden Text „herausexegesiert“ wurde (so Porzig,61 Christian62), ist oftmals kaum zu entscheiden. Egal, welcher Richtung man zuneigt, wollen die Ergänzer eben doch er-„gänzen“, nichts Neues hinzufügen, sondern lediglich das im Text bereits Angelegte oder (bes. in Qumran; vgl. etwa die Pescharim) „Verborgene“ zum Ausdruck bringen und so offenbar machen. Das dürfte auch in der nächsten genannten Tendenz der Fall sein. Diese weitere Tendenz der Überlieferung ist in einer Rückbindung an autoritativ gewordene (oder werdende) Schriften zu sehen, wie sie sich in der zunehmenden Zahl von („externen“) Anspielungen und Zitaten zeigt. Auch das ist, wie etwa im Danielbuch (Dan 9) oder in der „rewritten“ Fassung der Samuel- und Königsbücher, also in den Chronikbüchern, auch innerbiblisch zu erkennen. In dem Maße, wie man dazu auf die Autorität des (späterhin einmal) kanonischen Textes zurückgreift, erhöht sich im Gegenzug wiederum dessen Autorität, bis hin zu der Entwicklung, an deren Ende schließlich die Festlegung eines verbindlichen, kanonischen Textes steht. In der Einmündung auf diese Zielgerade steht das Zeugnis der Handschriften vom Toten Meer. Vom Zieleinlauf selbst besitzen wir, was die kanonischen Schriften angeht, nur indirekte Zeugnisse, die erahnen lassen, dass 60 So wird im letzten Beispiel „damit sie nicht die Reinheit der Männer der Heiligkeit anrühren“ (4QSd) zunächst der Kontext vorangestellt („Er möge nicht ins Wasser gehen“; 1QS V, womit geklärt ist, dass es sich um eine Vorschrift beim rituellen Bad in der Mikwe handelt), anschließend sogleich die Begründung gegeben („denn sie können nicht gereinigt werden, wenn sie nicht umgekehrt sind von ihrer Bosheit“; 1QS V): Wer nicht umgekehrt ist, der ist und bleibt unrein. 61 Vgl. PORZIG, Place. 62 Vgl. dazu jetzt ausführlich und überzeugend die im Zusammenhang ihrer Dissertation entstandene These von Meike Christian: CHRISTIAN, Development.
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sowohl Umfang als auch Wortlaut des Kanons der Hebräischen Bibel nicht vor 100 n.Chr. festgestanden haben dürften.63 So wurde sie schließlich zur Grundlage des Judentums (und des Christentums), und bildet im Zusammenspiel mit der mündlichen Tradition den Kristallisationspunkt weiterer Auslegung und Aktualisierung. Eine solche Auslegung und Aktualisierung ist gut beraten, wenn sie sich an das Ende der Reihe der Tradenten stellt, welche die Texte zu dem geformt haben, was uns heute vor Augen steht;64 jenseits der Grenze, die der Kanon bildet, zugleich aber in direkter Fortführung dieser Geschichte der Auslegung, die schon lange vor dieser Grenzziehung begonnen hat, deren Verlauf der Glaube zudem als von Gott geleitet und als zielgerichtet annehmen darf.
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63 64
Dazu s.o. 2. Vgl. dazu die Überlegungen von STECK, Prophetenbücher.
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Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran
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Die prä-samaritanischen Fortschreibungen Stefan Schorch 1. Einführung Eines der Hauptcharakteristika des Samaritanus im Vergleich zu anderen Textzeugen des Pentateuch besteht darin, dass viele Textpassagen in einer längeren Version vorliegen als z.B. im Masoretischen Text. Während frühere Arbeiten zum Samaritanischen Pentateuch sowie zu den prä-samaritanischen Manuskripten aus Qumran diese Erweiterungen unter dem Begriff der „Harmonisierung“1 oder „Konflationierung“2 subsummiert haben, werden sie heute meist sehr allgemein als „major expansions“ (Magnar Kartveit)3 oder „editorial changes“ (Emanuel Tov)4 bezeichnet und von den textlichen Harmonisierungen als einer weiteren Eigenheit der prä-samaritanisch/samaritanischen Textüberlieferung abgehoben.5 Der Grund für diese begriffliche Unterscheidung zwischen „Harmonisierungen“ und „Erweiterungen“ liegt in der v.a. von Michael Segal hervorgehobenen Beobachtung, dass die hinter der Ausführung der fraglichen Texterweiterungen stehende Motivation nach Ausweis des resultierenden Textes kaum als die des wechselseitigen Ausgleichs oder der Synthese von ursprünglich disparaten Vorlagetexten erklärt werden kann, insofern die bestehenden textlichen Differenzen aufgrund der bloßen Übertragung bereits vorhandener Verse in neue Kotexte im resultierenden überarbeiteten Text fortbestehen, sich also auch im Samaritanus bzw. in den Manuskripten der prä-samaritanischen Tradition finden.6 Ein Unterschied zwischen den beiden Bearbeitungstypen des Textes, also zwischen „Harmonisierungen“ und „Erweiterungen“, wird zudem auch in bezug auf das Ausmaß der jeweils verbundenen textlichen Änderungen deutlich: Die „Harmonisierungen“ beziehen sich im Allgemeinen auf die Nivellierung von Abweichungen im Gebrauch einzelner Wörter und Redewendungen.7 Bei den „Texter-
1
Vgl. etwa ESHEL/ESHEL, Dating, 217f. Vgl. TIGAY, Conflation. 3 Vgl. KARTVEIT, Origin, 310–312. 4 Vgl. TOV, Criticism, 80–82. 5 Vgl. etwa TOV, Criticism, 82f. sowie TOV, Pentateuch, 70–76. 6 Vgl. SEGAL, Text, 12–16. 7 Vgl. etwa die Aufstellung bei TOV, Criticism, 82f. 2
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weiterungen“ sind demgegenüber längere zusammenhängende kohärente Textpassagen involviert. Eine Übersicht der fraglichen Stellen größerer Texterweiterungen mit insgesamt 39 aufgelisteten Belegen aus dem Samaritanischen Pentateuch, einschließlich einer Synopse mit entsprechenden Vergleichen zu den prä-samaritanischen Manuskripten, bietet Kartveit in seiner Monographie „The Origin of the Samaritans“ (2009).8 Im Blick auf diese Liste ist zunächst deutlich, dass die Erweiterungen im Wortbestand des Samaritanischen Pentateuch fast ausschließlich auf an den neuen Kotext adaptierte Wiederholungen im Text des Pentateuch bereits an anderer Stelle vorhandener Verse oder Versteile zurückgehen. Die hier vorliegende Form der „Fortschreibung“ kann insofern im Hinblick auf den Samaritanischen Pentateuch kaum als „produktive Eigenformulierung von Redaktoren, die sich an vorgegebenes Textmaterial anschließt und es weiterentwickelt“, verstanden werden, wie Martin Leuenberger den Begriff definiert,9 denn neue Eigenformulierungen liegen ja hier kaum vor. Es entspricht auch nicht ohne Weiteres der Bestimmung, die Walter Bührer für den Begriff „innerbiblische Schriftauslegung“ vorgenommen hat, nach welcher „sich jüngere Texte an ältere Texte angelagert und sie so laufend aktualisierend an die jeweilige Gegenwart der Autoren fortgeschrieben haben“,10 weil die dabei implizierte Diachronie der Textbestände hier insofern nicht gegeben ist, als die Erweiterungen im Allgemeinen den Ausgangstexten selbst entstammen. Die Beschränkung auf bereits vorliegende Textelemente macht des Weiteren deutlich, dass die Fortschreibungen im Samaritanischen Pentateuch nicht auf die Aktualisierung oder Auslegung der Ausgangstexte zielen; sie sind also auch in dieser Hinsicht nicht als „innerbiblische Schriftauslegung“ zu bestimmen. Ihr Fokus liegt demnach nicht auf der Ebene der Textbedeutung, sondern vielmehr der äußeren Textform, nicht im Bereich der Tiefen-, sondern der Oberflächenstruktur des Pentateuchtextes. Diese generelle Einschätzung spiegelt sich auch in den begrifflichen Einordnungen der Fortschreibungen des Samaritanischen Pentateuch als „editorial“ (Tov)11 oder „formalistic“ (Segal)12 wider. Ungerechtfertigt erscheint demgegenüber eine weitere Behauptung Tovs: „Ultimately, the changes reflect theological concerns.“13 Wenngleich die Samaritanus-Fortschreibungen demnach nicht Medium der Auslegung sind, so beruhen sie allerdings auf bestimmten hermeneutischen Prämissen und Textverständnissen, deren Darstellung ebenso ein Gegenstand 8
Vgl. KARTVEIT, Origin, 310–312. LEUENBERGER, Fortschreibung, Abschnitt 1. 10 BÜHRER, Schriftauslegung. 11 TOV, Criticism, 80. 12 SEGAL, Text, 17. 13 TOV, Criticism, 80. 9
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des folgenden Beitrages sein soll wie die der involvierten literarischen Verfahren. Abweichende Bestimmungen bestehen im Hinblick auf die genaue Abgrenzung des Korpus der textlichen „Erweiterungen“ im Samaritanischen Pentateuch bzw. dessen fragliche Unterteilung in verschiedene Kategorien textlicher Erweiterungen: Während Michael Segal seine Untersuchung der „unique, large-scale additions in the Samaritan Pentateuch“ weitestgehend auf diejenigen Passagen beschränkt, in denen eine literarische Korrespondenz zwischen dem Deuteronomium und dessen Paralleltexten in Exodus und Numeri besteht, wobei die textlichen Erweiterungen den Paralleltexten entstammen und in die jeweiligen Korrespondenzpassagen übertragen wurden,14 schließen Tov und Kartveit auch Erweiterungen innerhalb eines einzigen Textes aufgrund von korrespondierenden Passagen ein, wie etwa die textlichen Auffüllungen und Vervollständigungen der literarischen Struktur „Anordnung – Ausführung“ in der Plagengeschichte (Ex 7–11). Neben diesen beiden mit formalen Kriterien unterschiedenen Kategorien gibt es allerdings noch mindestens eine größere Texterweiterung im Samaritanischen Pentateuch, die in allen genannten Untersuchungen von den sonstigen Texterweiterungen getrennt betrachtet wird, obgleich eine eindeutige Nähe besteht, nämlich die Hinzufügung des sogenannten „Garizimgebotes“ im Anschluß an die beiden Fassungen der Zehn Gebote in Ex 20 und in Dtn 5. Als Grund für diese separierte Betrachtung werden texthistorische Argumente angeführt: Die ersten beiden Kategorien textlicher Erweiterungen finden sich nicht nur im Samaritanus, sondern sind bereits in den prä-samaritanischen Handschriften aus Qumran präsent. Das „Garizimgebot“ stelle hingegen einen samaritanischen Ideologismus dar und sei der samaritanischen Bearbeitung des prä-samaritanischen Textes zuzurechnen, also einer anderen, späteren texthistorischen Schicht. Diese Trennung erscheint allerdings aus mehreren Gründen äußerst problematisch: Zunächst einmal geht sie davon aus, dass die Einfügung des Garizimgebots Ausdruck eines spezifisch samaritanischen ideologischen Motivs sei, nämlich der Begründung des Garizimkultes im Text der Tora. Auf methodischer Ebene erfolgt dabei ein Ebenenwechsel, demzufolge das Garizimgebot mit anderen Kriterien analysiert wird als die sonstigen Erweiterungen im Text des Samaritanus. Während nämlich die Identifizierung der anerkanntermaßen prä-samaritanischen Erweiterungen unter formalen texthistorischen und literarischen Gesichtspunkten vollzogen wird, erfolgt die texthistorische Einordnung des Garizimgebotes unter ideologiekritischer Perspektive. Demgegenüber ist aus methodologischer Sicht zu betonen, dass eine Vergleichbarkeit nur bei identischen Kriterien gegeben ist.
14
SEGAL, Text, 16.
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Aus texthistorischer Perspektive ist dabei davon auszugehen, dass die Identifizierung einer prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht im Pentateuch überhaupt nur aufgrund der prä-samaritanischen Manuskripte aus Qumran möglich ist. Von daher erhält die Frage entscheidendes Gewicht, ob die bewahrten Handschriften das Garizimgebot enthalten haben, enthalten haben könnten, oder definitiv nicht enthalten haben können. Unter ideologiekritischen und religionshistorischen Gesichtspunkten ist die Annahme zu problematisieren, das Garizimgebot verleihe einem spezifisch samaritanischen Anliegen Ausdruck und sei schon deshalb mit der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht unvereinbar, m.a.W., der literarische Topos der Garizimverehrung sei ein charakteristisches Merkmal samaritanischer Texte. Diese Einschätzung erscheint fraglich. Und schließlich ist zu untersuchen, inwiefern die prä-samaritanischen Erweiterungen und das Garizimgebot aus literarischer Sicht vergleichbar oder zu unterscheiden sind. Eine diesen Prämissen folgende Neuanalyse des Befundes zum Garizimgebot wird im Folgenden unter 2. geboten. Sie zeigt, dass das Garizimgebot der Schicht prä-samaritanischer Bearbeitungen zuzuordnen ist.
2. Das Garizimgebot als prä-samaritanische Erweiterung im Pentateuch 2.1. Der Text des Garizimgebots In der folgenden strukturierten Darstellung des Garizimgebotstextes finden sich zugleich Angaben über die Herkunft der einzelnen Bestandteile sowie ggf. die Modifizierungen derselben, wobei die grau hinterlegten Passagen der Quellen im Text des Garizimgebots fehlen, und mit punktierten Linien unterstrichene Teile Zusätze und Modifikationen markieren: לא תחמד בית רעך ולא תחמד אשת רעך שדהו עבדו ואמתו שורו וחמורו וכל אשר לרעך והיה כי יביאך יהוה אלהיך אל הארץ ארץ הכנעני אשר אתה בא שמה לרשתה ונתתה את הברכה על הר גריזים ואת הקללה על הר עיבל והיה ביום אשר תעברו את הירדן אל הארץ אשר יהיה אלהיך נתן לך והקמת לך אבנים גדלות ושדת אתם בשיד וכתבת עליהן על האבנים את כל דברי התורה הזאת בעברך למען אשר תבוא אל הארץ אשר יהוה אלהיך נתן לך ארץ זבת חלב ודבש כאשר דבר יהוה אלהי אבותיך לך והיה בעברכם את הירדן תקימו את האבנים האלה אשר אנכי מצוה אתכם היום בהרגריזים ושדת אתם בשיד
Ex 20,17 // Dtn 5,21 Dtn 11,29
a
Dtn 27,2
b
Dtn 27,3 (vgl. 27,8)
c
Dtn 27,4
d
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Die prä-samaritanischen Fortschreibungen ובנית שם מזבח ליהוה אלהיך מזבח אבנים לא תניף עליהם ברזל אבנים שלמות תבנה את מזבח יהוה אלהיך והעלית עליו עלות ליהוה אלהיך וזבחת שלמים ואכלת שם ושמחת לפני יהוה אלהיך הלא הם ההר ההוא בעבר הירדן אחרי דרך מבוא השמש בארץ הכנעני הישב בערבה :מול הגלגל אצל אלון מורא מול שכם
Dtn 27,5 Dtn 27,6 Dtn 27,7 Dtn 11,30
e f g h
Dtn 5,22 Ex 20,18 את הדברים האלה דבר יהוה אל כל קהלכם בהר וכל העם שמע את הקולות ואת קול השופר מתוך האש חשך ענן וערפל קול גדול ולא יסף וראים את הלפידים ואת ההר עשן ויכתבם על שני לוחת אבנים ויתנם אלי ויראו כל העם וינעו ויעמדו מרחק
2.2. Die textkritische Frage Keines der in Qumran gefundenen Handschriften bewahrt das Garizimgebot ganz oder auch nur fragmentarisch. Allerdings bieten zwei prä-samaritanische Manuskripte dennoch Hinweise, die einschlägig sind hinsichtlich der Frage, ob das Garizimgebot der prä-samaritanischen oder der samaritanischen Bearbeitungsschicht des Samaritanus zuzuschlagen ist, nämlich 4QpaleoExodm (4Q22) und 4QRPa (4Q158). In der Handschrift 4QpaleoExodm findet sich die relevante Passage in den Kolumnen XX–XXII entsprechend der Zählung in der DJD-Edition von Eugene Ulrich und Judith E. Sanderson. Der in den Fragmenten erhaltene Text umfaßt Ex 20,1 – [Lakune A] – 20,19 – [Lakune B] – 21,5f. in drei aufeinanderfolgenden Kolumnen. Würde die Handschrift ursprünglich dem Samaritanus entsprochen haben, so wäre das Garizimgebot demnach in der Lakune A zu erwarten. Damit ist für die Frage nach der Bezeugung dieses Textzusatzes entscheidend, welche Textmenge dieser zerstörte Teil einst beherbergte. Ulrich und Sanderson kamen diesbezüglich seinerzeit zu dem Ergebnis, der Umfang der Lakune habe nicht genügend Raum für das Garizimgebot geboten.15 Auf der Grundlage der von den Herausgebern selbst genannten Daten erscheint diese Schlussfolgerung allerdings nicht überzeugend: Die von Ulrich und Sanderson rekonstruierte Lakunenlänge beträgt 22 Zeilen, was etwa dem für 1080 Buchstaben notwendigen Platz entspricht, geht man von der sonstigen durchschnittlichen Zahl von 49 Buchstaben pro Zeile aus.16 Der für die samaritanische Fassung der Passage Ex 20,2–19a, also den Text der Zehn Gebote (Ex 20,2–17), das anschließende Garizimgebot (Ex 20,17a–f) sowie den folgenden Vers Ex 20,18 und die ersten vier Worte von Ex 20,19,17 notwendige Platz beträgt etwa genauso viel, nämlich 1078 Buchstaben, folgt 15
Vgl. SKEHAN/ULRICH/SANDERSON, Qumran Cave 4, 102. Vgl. SKEHAN/ULRICH/SANDERSON, Qumran Cave 4, 57. 17 Das erste Wort in Kolumne XXI, das eine klare Zuordnung erlaubt, ist הראנו (Ex 20,19a/Dtn 5,24). 16
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man der Schreibung des mittelalterlichen Samaritanusmanuskripts Ms Nablus 6, das der Ausgabe von Tal/Florentin zugrundeliegt.18 Allerdings war die Lakune höchstwahrscheinlich sogar noch etwas umfangreicher, denn die genaue Bestimmung ihrer Länge hängt von der Platzierung einiger kleiner Fragmente mit Resten von Kolumne XXI ab. Wie bereits von Ulrich und Sanderson hervorgehoben, ist die Anordnung dieser Fragmente aufgrund der letzten drei Zeilen von Kolumne XXII zu bestimmen, in denen sich die Passage Ex 21,5f. bewahrt hat. Lakune B dürfte daher ursprünglich Ex 20,19b–21,4 enthalten haben. In Ms Nablus 6 des Samaritanus umfasst diese Passage 1398 Buchstaben, die etwa 28 Zeilen entsprechen, woraus sich ergibt, dass die fehlende Passage ursprünglich in Kolumne XXII passte, während Kolumne XXI mit Ex 20,19a endete. Daraus ergibt sich, dass Lakune A noch fünf Zeilen länger gewesen sein dürfte als von Ulrich und Sanderson bestimmt. Das Resultat der voliegenden Berechnung ist daher gegensätzlich zu der von Ulrich und Sanderson vorgenommenen: Die in 4QpaleoExodm zwischen Ex 20,1 (Kolumne XX) und Ex 20,19a (Kolumne XXI) klaffende Lakune ist ganz zweifellos umfangreich genug, um einst den Text der Zehn Gebote samt dem an diese im Samaritanus anschließenden Garizimgebot beherbergt zu haben. Diese Feststellung ist zwar natürlich kein Beweis, dass die prä-samaritanische Rolle 4QpaleoExodm das Garizimgebot tatsächlich einst enthalten hat. Andererseits aber ist das Garizimgebot gewiss der wahrscheinlichste Kandidat für die Rekonstruktion des Textes, der diese Lücke ursprünglich gefüllt hat. Neben 4QpaleoExodm ist auch der Befund aus 4QRPa (4Q158) hinsichtlich der Frage zu beachten, ob das Garizimgebot texthistorisch den prä-samaritanischen Bearbeitungen zugeordnet werden kann. Wie aus Michael Segals Inhaltsübersicht sowie aus der von Molly Zahn erstellten Neuedition von 4QRPa hervorgeht,19 bietet diese Textrolle eine bearbeitete Fassung von Ex 20, die ihrerseits mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine prä-samaritanische Textfassung dieser Passage zurückgeht. Diese Schlußfolgerung legt sich jedenfalls durch die Tatsache nahe, dass der Text viele der erweiternden Übernahmen aus dem Deuteronomium enthält, die sich in den bekannten präsamaritanischen und samaritanischen Handschriften finden, nämlich:20 (Fragment 6:) Dtn 5,24–]27; Ex 20,19b–21; Dtn 5,28f.; 18,18–22 (Fragment 7:) Dekalog; Dtn 5,30f.; Ex 20,22–26.
Aus dieser Perspektive erscheint das Fehlen des Garizimgebots nach dem Dekalog bemerkenswert und ist vorsichtig als Hinweis dahingehend interpre18 Der Text folgt TAL/FLORENTIN (Hg.), Pentateuch, die eine Transkription von Ms Nablus 6 bieten (abgeschrieben 1204). 19 Vgl. SEGAL, 4Q158, 56; ZAHN, Rethinking, 245–258. 20 Vgl. SEGAL, 4Q158, 56.
Die prä-samaritanischen Fortschreibungen
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tiert worden, dass das Garizimgebot nicht Teil der prä-samaritanischen Bearbeitungen war.21 Die Überzeugungskraft dieser Schlussfolgerung erscheint allerdings schwach, insofern 4QRPa ganz fraglos das Ergebnis einer umfassenden literarischen Bearbeitung der Ausgangstexte ist, die in den prä-samaritanischen Texten selbst keine Parallele hat. So findet sich in 4QRPa der Dekalog zwischen Dtn 18,22 und Dtn 5,30, d.h. innerhalb der Textkompilation zum Prophetentum Moses. Letztere ist zwar Teil der prä-samaritanischen und samaritanischen Texte, doch ihre Unterbrechung durch den Dekalog, wie auch die Umsetzung des Dekalogs überhaupt, sind nur in 4QRPa bezeugt. Diese Beobachtungen führen vor Augen, dass 4QRPa keine spezifischen Schlüsse auf ihre Vorlagen zulässt und insbesondere als Quelle für die Rekonstruktion der literarischen Struktur prä-samaritanischer Texte kaum verwendbar ist. Die texthistorische Auswertung der Handschriften aus Qumran zeigt folglich alles in allem, dass die Präsenz des Garizimgebots in den prä-samaritanischen Handschriften keineswegs ausgeschlossen werden kann und durch den Befund aus 4QpaleoExodm sogar einige Wahrscheinlichkeit gewinnt. 2.3. Die ideologiekritische und religionshistorische Frage Ein weiterer entscheidender Anhaltspunkt für die literarhistorische Einordnung des Garizimgebots als Teil der prä-samaritanischen oder der mutmaßlichen samaritanischen Bearbeitungsschicht ist die Frage, ob das Garizimgebot spezifisch als Ausdruck eines samaritanischen Anliegens zu bestimmen ist. Wie aus der Übersicht zum Text des Garizimgebots (s.o. 1.1.) hervorgeht, stellt diese Passage weitestgehend eine Kompilation aus bereits im Ausgangstext bereits vorhandenen Textteilen dar und sagt insofern nichts Neues. Daher ist zunächst einmal zu prüfen, inwiefern die verwendeten Verse Ausdruck eines samaritanischen ideologischen Programms sind. Dies ist nun allerdings zu verneinen, denn die Lozierung des nach Dtn 27,4–6 zu errichtenden Altars auf dem Berg Garizim (im Unterschied zur masoretischen Lesung Berg Ebal) wird heute zu Recht nicht als samaritanischer Ideologismus verstanden, sondern als Teil des älteren Deuteronomiumstextes, den die Anhänger der Kulte von Garizim und Jerusalem teilten.22 Auch die durch die Kompilatoren vorgenommene Kombination von Dtn 27 mit Dtn 11,29f. bietet keinen darüber hinausführenden Anhaltspunkt für ein ideologisches Motiv, denn sie spiegelt lediglich den literarischen Aufbau des Deuteronomiums wider.23 Noch ein dritter Punkt ist schließlich hinsichtlich der Frage zu bedenken, ob das Garizimgebot einer typisch samaritanischen Tendenz folgt, nämlich 21
Vgl. SEGAL, 4Q158, 56 Anm. 31. Vgl. SCHENKER, Seigneur, 339–351; SCHORCH, Deuteronomy, 23–37; TOV, Criticism, 88 Anm. 140. 23 Vgl. SCHORCH, Deuteronomy. 22
120
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der Ort der Einfügung: Bringt die Verbindung des Garizimgebots mit den Zehn Geboten ein spezifisch samaritanisches Anliegen zum Ausdruck? Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Hinzufügung des Garizimgebots nicht in die bestehende literarische Struktur des Dekalogs eingreift, und es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Einfügung des Garizimgebots auf dessen Stilisierung als Zehntes Gebot zielte. Aus der Perspektive des literarischen Aufbaus viel schlüssiger ist, dass das Garizimgebot als Teil eines Rahmen um den Dekalog gestaltet wurde, wie an anderer Stelle gezeigt.24 Zudem ändert sich die Kontextualisierung des Garizimgebots nicht grundlegend: So ist zwar behauptet worden, der Eintrag des Garizimgebots an dieser Stelle impliziere, dass das, was im ursprünglichen Zusammenhang Moses Worte darstellt, nunmehr mit göttlicher Rede verbunden worden sei.25 Allerdings ist nur das erste der Zehn Gebote Gott als Sprecher in der ersten Person in den Mund gelegt: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten. (Ex 20,3–6)
Beginnend mit dem zweiten Gebot (in traditioneller samaritanischer Zählung) wird von Gott in der dritten Person geredet: Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht. (Ex 20,7)
Die literarische Differenz zwischen diesen beiden Teilen ist offenkundig und wird bereits in frühen jüdischen Auslegungen im Midrasch Pesikta de-Rab Kahane und im Babylonischen Talmud dadurch erklärt, dass nur der Beginn des Dekalogs Gottes-, der Rest hingegen Moserede darstelle,26 und in der Tat ist dieses Verständnis im vorliegenden Textzusammenhang naheliegend. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass die Platzierung des Garizimgebots im Anschluss an den Dekalog ersteres als Gottesrede stilisieren sollte. Auf der Grundlage der genannten Beobachtungen ist festzuhalten, dass das Garizimgebot nur aufgenommen und wiederholt hat, was in den prä-samaritanischen Vorlagetexten ohnedies bereits geschrieben stand, nämlich die Begründung des Garizimkultes gleich zu Beginn der Landnahme. Unterschiede zwischen der ideologischen Ausrichtung des Garizimgebots und der präsamaritanischen Texte können daher nicht festgestellt werden, und das Gari24
Vgl. SCHORCH, Garizim. Vgl. ZAHN, Samaritan, 304. 26 Vgl. SEGAL, 4Q158, 57. 25
Die prä-samaritanischen Fortschreibungen
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zimgebot lässt sich mithin von der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht jedenfalls nicht mit Verweis auf seinen vorgeblichen pro-samaritanischen Skopos abheben. 2.4. Die literarische Frage Eine weitere Vergleichsebene zwischen dem Garizimgebot und den als präsamaritanisch bekannten Erweiterungen des Pentateuchtextes betrifft die Frage nach möglichen Unterschieden oder Gemeinsamkeiten hinsichtlich der literarischen Techniken und Formen. Wie die strukturierte Darstellung seines Textes unter 1.1. zeigt, kompiliert das Garizimgebot die zugrundeliegenden Verse Dtn 11,29f. und 27,2–7 in der Form einer Ringkomposition, wobei die im Deuteronomiumbuch weiter hinten stehende Passage in den Vorläufertext eingeschrieben wird. Beide Passagen betreffen im Ausgangstext des Deuteronomiums dieselbe Erzählsituation, insofern Dtn 27,4 eine Wiederaufnahme von Dtn 11,29 darstellt:27 Dtn 11,29 Dtn 27,2
והיה כי יביאך יהוה אלהיך אל־הארץ Wenn dich nun der HERR, dein Gott, in das Land bringt והיה ביום אשר תעברו את הירדן אל הארץ Und zu der Zeit, wenn ihr über den Jordan geht in das Land
Allerdings bieten beide Ausgangstexte Informationen, die im jeweils korrespondierenden Text fehlen: Während die Erzählung in Dtn 11,29f. direkt von der Überquerung des Jordans (11,29a) zu der in 11,29b geschilderten Bundeszeremonie voranschreitet, soll nach Dtn 27 zwischen diesen beiden Ereignissen eine Kultstätte auf dem Berg Garizim (so im prä-samaritanischen und samaritanischen Text, s.o. 2.3.) gegründet werden. Dabei fehlt in Dtn 27 allerdings jegliche Angabe, wo dieser Berg zu lokalisieren ist, während Dtn 11,30 diesbezüglich detaillierte Angaben bietet. Die Konflationierung28 von Dtn 11,29f. und Dtn 27,2–7 im Garizimgebot führt folglich dazu, dass die in den Ausgangstexten jeweils fehlenden Informationen in einem neuen Text expliziert werden. Dieser neue Text ersetzt aber nicht einen der beiden Ausgangstexte oder gar beide, sondern tritt neben dieselben. Im Blick auf die Überlieferung des Pentateuch in seinen verschiedenen Textzeugen finden die vorstehend kurz geschilderten literarischen Prämissen und Techniken ihre nächste Entsprechung in der Textkompilation zum Prophetentum Moses. Dieser aus Dtn 5,28–31 und 18,18–22 zusammengesetzte 27
Zur Parallelität zwischen den beiden Texten im Aufbau des Deuteronomiums vgl. detailliert SCHORCH, Deuteronomy, 26–28. 28 Zur Definition des Begriffes vgl. SALZER, Magie, 35 sowie TIGAY, Conflation.
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Text findet sich im Samaritanus im Anschluss an Ex 20,21 sowie auch in mehreren prä-samaritanischen Manuskripten, nämlich in 4QRPa (4Q158), 4QTest (4Q175)29 und höchstwahrscheinlich auch in 4QpaleoExodm (4Q22),30 was seine Zugehörigkeit zu der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht erweist. In strukturierter Wiedergabe, entsprechend der Darstellungsweise des Garizimgebots in 1.1., lautet der Text folgendermaßen: ויאמר וידבר יהיה אלי אל משה לאמר שמעתי את קול דברי העם הזה אשר דברו אליך היטיבו כל אשר דברו מי יתן והיה לבבכם לבבם זה להם ליראה אתי ולשמר את מצותי כל הימים למען ייטב להם ולבניהם לעולם נביא אקים להם מקרב אחיהם כמוך ונתתי דברי בפיו ודבר אליהם את כל אשר אצונו והיה האיש אשר לא ישמע אל דבריו אשר ידבר בשמי אנכי אדרש מעמו אך הנביא אשר יזיד לדבר דבר בשמי את אשר לא צויתיו לדבר ואשר ידבר בשם אלהים אחרים ומת הנביא ההוא וכי תאמר בלבבך איך נודע את הדבר אשר לא דברו יהוה אשר ידבר הנביא בשם יהוה לא יהיה הדבר ולא יבוא הוא הדבר אשר לא דברו יהוה בזידון דברו הנביא לא תגור ממנו לך אמר להם שובו לכם לאהליכם ואתה פה עמד עמדי ואדברה אליך את כל המצוה החקים והמשפטים אשר תלמדם ועשו בארץ אשר אנכי נתן להם לרשתה
Dtn 5,28
a
Dtn 5,29
b
Dtn 18,18
c
Dtn 18,19
d
Dtn 18,20
e
Dtn 18,21
f
Dtn 18,22
g
Dtn 5,30 Dtn 5,31
h i
Deutlich ist, dass Dtn 5,28f. und 5,30f. einen Rahmen um Dtn 18,18–22 formen und damit in dem Garizimgebot identischer Weise die Konflationierung der beiden Texte und das explizite Einschreiben in den Ausgangstexten fehlender Informationen erreichen. Dabei beruht die Verbindung der beiden Texte offensichtlich auf dem Verständnis, dass durch Dtn 18,15–17 die folgenden Verse 18–22 explizit im selben Ereignis kontextualisiert werden wie die in Dtn 5,24–31 geschilderte Begebenheit: Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken aus deinen Brüdern, und dem sollt ihr gehorchen, ganz so wie du es von dem HERRN, deinem Gott, erbeten hast am Horeb am Tage der Versammlung und sprachst: Ich will hinfort nicht mehr hören die Stimme des HERRN, meines Gottes, und dies große Feuer nicht mehr sehen, damit ich nicht sterbe. Und der HERR sprach zu mir: Sie haben recht geredet. (Dtn 18,15–17)
29
Vgl. TOV, Pentateuch, 67. Vgl. die Zusammenfassung von Ulrich und Sanderson in deren Edition des Textes in SKEHAN/ULRICH/SANDERSON, Qumran Cave 4, 102. 30
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Die Parallelen zu Dtn 5 sind hier deutlich: Als ihr aber die Stimme aus der Finsternis hörtet und den Berg im Feuer brennen saht, tratet ihr zu mir, alle eure Stammeshäupter und eure Ältesten, und spracht: Siehe, der HERR, unser Gott, hat uns sehen lassen seine Herrlichkeit und seine Majestät, und wir haben seine Stimme aus dem Feuer gehört. Heute haben wir zwar gesehen, dass Gott mit Menschen redet und sie am Leben bleiben. Aber nun, warum sollen wir sterben? Dies große Feuer wird uns noch verzehren! Wenn wir des HERRN, unseres Gottes, Stimme weiter hören, so müssen wir sterben. Denn welcher Mensch kann die Stimme des lebendigen Gottes aus dem Feuer reden hören wie wir und doch am Leben bleiben? (Dtn 5,23–26)
Wenn nun aber Dtn 18 und Dtn 5 als zwei Schilderungen desselben Ereignisses verstanden werden, so macht die vergleichende Lektüre deutlich, dass der Ausgangstext von Dtn 5 kein Äquivalent zu der in Dtn 18 ergehenden Ankündigung eines Propheten wie Mose bietet. Der Ausgangstext von Dtn 18, andererseits, scheint lediglich über den zukünftigen Propheten zu sprechen, nicht jedoch über Mose selbst, wie dies in Dtn 5 der Fall ist. Die Einfügung der Verse aus Dtn 18 in Dtn 5 dient mithin demselben Ziel wie das Garizimgebot: Es expliziert einen Intertext zweier Ausgangstexte, wobei sich die Angaben beider Ausgangstexte wechselseitig ergänzen. Wie das Garizimgebot wurde auch der Text zum Prophetentum Moses durch die retrovertierte Einfügung des im Ausgangstext des Deuteronomium folgenden in den vorhergehenden Text gebildet, und wiederum ersetzt der neue Text nicht die Ausgangstexte, sondern tritt neben sie, mit Blick auf den Pentateuch als Ganzes. Im Vergleich zwischen dem Garizimgebot und der Kompilation zum Prophetentum Moses werden die engen Parallelen in bezug auf die verwendeten literarischen Techniken und Voraussetzungen deutlich. Auch aus literarischer Perspektive zeigt sich folglich kein Anhaltspunkt für die eine Sonderstellung des Garizimgebots, vielmehr legt der Befund nahe, dass das Garizimgebot in denselben prä-samaritanischen Schreiberzirkeln seinen Ursprung hat, die auch die Kompilation zum Prophetentum Moses hervorbrachten. 2.5. Das Garizimgebot als Teil der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht – Zusammenfassung Die Untersuchung des Garizimgebots unter textkritischen, ideologiekritischen und literarischen Gesichtspunkten hat keinerlei Anhaltspunkte für die Separierung des Garizimgebots von der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht ergeben. Stattdessen gibt es deutliche Hinweise in jedem der genannten Punkte, dass das Garizimgebot als Teil dieser prä-samaritanischen Bearbeitungen in den Pentateuchtext kam, wobei es unter formalen Gesichtspunkten zu den eingefügten Textkompilationen gehört (s.u. 3.3).
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3. Die prä-samaritanischen Texterweiterungen – eine Typologie Das Resultat des vorstehenden Kapitel zeigt, dass das Garizimgebot der Schicht von größeren Texterweiterungen angehört, die ein literarisches Merkmal der prä-samaritanischen Erweiterungen im Pentateuch sind. Die bereits dargestellten literarischen Parallelen zur Kompilation über das Prophetentum Moses wurden bereits erörtert, so dass sich unter formalen literarischen Kriterien die folgenden drei Kategorien von Erweiterungen ergeben: 1.) Einfügungen korrespondierender Passagen innerhalb eines einzigen Textes (s.u. 3.1.), 2.) Einfügungen aus Paralleltexten (s.u. 3.2.), sowie 3.) Einfügung von Textkompilationen (s.u. 3.3.). Diese drei Kategorien sollen im Folgenden separat voneinander betrachtet werden. 3.1. Einfügungen korrespondierender Passagen innerhalb eines einzigen Textes Die narrative Tiefenstruktur eines Textes ist meist nur punktuell durch explizite Referenzen auf der Textoberfläche repräsentiert, m.a.W.: Die schriftliche oder auch mündliche Repräsentanz von Texten weist oft „Lücken“ auf, die etwa als Stilmittel auch gezielt eingesetzt werden können. Ein klassisches alttestamentliches Beispiel für eine solche Lücke in den Verweisen der Textoberfläche im Vergleich zur logischen Grundstruktur der Erzählung findet sich in der masoretischen Fassung von Gen 4,8: Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Im Blick auf die vorliegende Textoberfläche bleibt die logische Beziehung zwischen den beiden Teilen unklar. Andere Textzeugen dieser Passage jedenfalls, v.a. der Samaritanische Pentateuch und die Septuaginta, füllen die beträchtliche Lücke in den die narrative Struktur repräsentierenden Signalen, indem sie Kain die Worte „Lass uns aufs Feld gehen.“ ( )נלכה השדהin den Mund legen, womit der logisch stringente Gang der Erzählung expliziert ist. Es ist ungewiss, ob die vorliegende Erzähllücke ihren Ursprung als literarisches Stilmittel oder aber als textliche Korruptele hat, wie oft vermutet wird, und die vorliegende Erweiterung der Textoberfläche ist im Hinblick auf ihre Bezeugungslage wie die literarische Form ihrer Ausführung eher nicht mit den prä-samaritanischen Fortschreibungen im Pentateuchtext zu verbinden. Dennoch ist das hier zum Tragen kommende Phänomen, erzählerische Lücken auf der Textoberfläche explizit zu füllen, eine Eigenheit jener Bearbei-
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tungsschicht, wenn auch vor einem anderen literarischen Hintergrund, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen. Der bei weitem umfangreichste Fall, in dem die prä-samaritanische Bearbeitung narrative Lücken der Textoberfläche explizit gefüllt hat, liegt in der Plagenerzählung vor (Ex 7–11). Mose und Aaron werden darin wiederholt beauftragt, zum Pharao zu gehen, so dass sich ein wiederkehrender logischer Erzählablauf ergibt: Beauftragung von Mose (und Aaron) zum Pharao zu gehen und diesem eine Botschaft auszurichten – Gang zum Pharao und Ausrichten der Botschaft an denselben. Im Ausgangstext des Exodusbuches ist diese narrative Grundstruktur allerdings im Allgemeinen unvollständig expliziert, und dieses vermeintliche literarische Defizit wird im Zuge der prä-samaritanischen Texterweiterungen weitestgehend beseitigt, z.B. in Ex 7,26–29d (die Zusätze des Samaritanus sind mit einer punktierten Linie unterstrichen): (Ex 7,26–29:) Da sprach der HERR zu Mose: Geh hin zum Pharao und sage zu ihm: So spricht der HERR: Lass mein Volk ziehen, dass es mir diene! Wenn du dich aber weigerst, siehe, so will ich dein ganzes Gebiet mit Fröschen plagen, dass der Nil von Fröschen wimmeln soll. Die sollen heraufkriechen und in deine Häuser kommen, in deine Schlafkammern, auf deine Betten, auch in die Häuser deiner Großen und deines Volks, in deine Backöfen und in deine Backtröge; ja, die Frösche sollen auf dich selbst und auf dein Volk und auf alle deine Großen kriechen. (Ex 7,29a–29d:) Daraufhin gingen Mose und Aaron zum Pharao und sagten zu ihm: So spricht der HERR: Lass mein Volk ziehen, dass es mir diene! Wenn du dich aber weigerst, siehe, so will ich dein ganzes Gebiet mit Fröschen plagen, dass der Nil von Fröschen wimmeln soll. Die sollen heraufkriechen und in deine Häuser kommen, in deine Schlafkammern, auf deine Betten, auch in die Häuser deiner Großen und deines Volks, in deine Backöfen und in deine Backtröge; ja, die Frösche sollen auf dich selbst und auf dein Volk und auf alle deine Großen kriechen.
Während im vorstehenden Fall die Ausführung nachgetragen und die Bearbeitung also antevertiert geschieht, wird in Ex 10,1–6 der Auftrag (10,2a–d) in der prä-samaritanischen Texterweiterung auf der Grundlage seines Ausführungsberichtes in 10,3–6 nachgetragen, also retrovertiert. Ähnliche Einfügungen können in den Anordnungen zur Stiftshütte und ihrer Ausstattung beobachtet werden, so z.B. in Ex 28,30. Dort wird im Ausgangstext nur gesagt, dass die Lose Urim und Tummim in die Brusttasche getan werden sollen. Allerdings fanden diese Lose bis dato keine Erwähnung, zudem wird der Text ansonsten vor neuen Ausstattungsgegenständen durch die Handlungsanweisung „und du sollst … machen“ strukturiert. Folgerichtig lautet der erweiterte Text: Und du sollst die Lose „Licht und Recht“ machen – – ועשית את הארים ואת התמיםund du sollst die Lose „Licht und Recht“ in die Brusttasche tun. (Ex 28,30)
In einigen Fällen beseitigt die Einfügung einer solchen zu anderen Aussagen des Textes korrespondierenden Passage zwar mögliche Widersprüche zwischen den Texten, wie etwa in der folgenden Einfügung vor Gen 30,37:
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(Aus Gen 31,11–13:) Und der Engel Gottes sprach zu mir zu Jakob im Traum: Jakob! Und ich er antwortete: Hier bin ich. Er aber sprach: Hebe deine Augen auf und sieh! Alle Böcke, die auf die Herde springen, sind sprenklig, gefleckt und bunt; denn ich habe alles gesehen, was Laban dir antut. Ich bin der Gott, der dir zu Bethel erschienen ist, wo du den Stein gesalbt hast, und du hast mir daselbst ein Gelübde getan. Nun mach dich auf und zieh aus diesem Lande und kehre zurück in das Land deiner Verwandtschaft. (Gen 30,37f.:) Und Jakob nahm frische Stäbe von Pappeln, Mandelbäumen und Platanen und schälte weiße Streifen daran aus, so dass an den Stäben das Weiße bloß wurde, und legte die Stäbe, die er geschält hatte, in die Tränkrinnen, wo die Herden hinkommen mussten, zu trinken, dass sie da empfangen sollten, wenn sie zu trinken kämen.
Die Einfügung ist Jakobs folgendem Bericht von dem Ereignis entnommen, im Ausgangstext war sie jedoch in der vorhergehenden Erzählung des Ereignisses selbst nicht erwähnt worden. Die Beispiele zeigen, dass sich der Ort der Einfügung des korrespondierenden Text meist zwangsläufig ergibt, doch dies ist keineswegs immer der Fall. So findet sich in Ex 4,21–23 die folgende Passage: Und der HERR sprach zu Mose: Sieh zu, wenn du wieder nach Ägypten kommst, dass du alle die Wunder tust vor dem Pharao, die ich in deine Hand gegeben habe. Ich aber will sein Herz verstocken, dass er das Volk nicht ziehen lassen wird. Und du sollst zu ihm sagen: So spricht der HERR: Israel ist mein erstgeborener Sohn; und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn ziehen lässt, dass er mir diene. Wirst du dich weigern, so will ich deinen erstgeborenen Sohn töten.
Im Ausgangstext fehlt jeder Vermerk darüber, dass Mose diese Worte Pharao jemals ausgerichtet hat. Allerdings ist die mit dem Befehl verbundene Zeitangabe „wenn du wieder nach Ägypten kommst“ sehr unspezifisch, und als Anhaltspunkt für die Identifizierung eines möglichen Korrespondenztextes bleibt nur die Androhung, den erstgeborenen Sohn Pharaos zu töten. Daraus ergibt sich ein möglicher Kotext vor Ex 11,4: Und Mose sprach zu Pharao: (Ex 4,22:) So spricht der Herr: Israel ist mein erstgeborener Sohn und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn ziehen lässt, dass er mir diene. Wirst du dich weigern, so will ich deinen erstgeborenen Sohn töten. (Ex 11,4:) Und Mose sprach: So spricht der HERR: Um Mitternacht will ich durch Ägyptenland gehen, und alle Erstgeburt in Ägyptenland soll sterben, vom ersten Sohn des Pharao an, der auf seinem Thron sitzt, bis zum ersten Sohn der Magd, die hinter ihrer Mühle hockt, und alle Erstgeburt unter dem Vieh. Und es wird ein großes Geschrei sein in ganz Ägyptenland, wie nie zuvor gewesen ist noch werden wird; aber gegen ganz Israel soll nicht ein Hund mucken, weder gegen Mensch noch Vieh, auf dass ihr erkennt, dass der HERR einen Unterschied macht zwischen Ägypten und Israel.
Deutlich ist in allen diesen Beispielen, dass die Erweiterungen kaum mit schöpferischen Leistungen verbunden sind, denn es handelt sich lediglich um auf die nötigsten Adaptionen beschränkte Übernahmen bereits vorliegender Formulierungen im Ausgangstext. Hierin zeigt sich auch der größte Unterschied zu dem eingangs dieses Punktes erwähnten Beispiel aus Gen 4,8: Die
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prä-samaritanischen Erweiterungen nehmen in keiner Weise Neuformulierungen vor, vielmehr werden nur solche Teile ergänzt, die bereits in korrespondierenden Passagen vorliegen. Die Präferenz einer bestimmten Richtung, in welcher die Erweiterungen übernommen werden – retrovertiert oder antevertiert –, ist dabei ganz offensichtlich nicht gegeben. 3.2. Einfügungen aus Paralleltexten Eine zweite Kategorie von größeren Texterweiterungen in der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht umfasst Einfügungen von Passagen aus Paralleltexten, worunter hier solche Fälle verstanden werden, in denen sich im Pentateuch zwei Texte auf dasselbe Ereignis beziehen oder jedenfalls von den präsamaritanischen Schreibern als auf dasselbe Ereignis bezogen verstanden wurden. Die Existenz solcher Zweiterzählungen ist durch das Makronarrativ des Pentateuch selbst angezeigt, insofern Deuteronomium als retrospektive Nacherzählung der vorhergehenden Ereignisse stilisiert ist, und in der Tat finden sich in der vorliegenden Kategorie ausschließlich Übernahmen von Textbestandteilen zwischen dem Deuteronomium und den diesem entsprechend dem Makronarrativ vorausgehenden Erzählungen. Ein Beispiel dafür ist die prä-samaritanische Erweiterung von Ex 32,10 in der Erzählung von Gottes Reaktion auf die Installation des Goldenen Kalbes: Und der HERR sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. (Dtn 9,20:) Auf Aaron aber war der HERR sehr zornig, so dass er ihn vertilgen wollte; aber ich Mose betete auch für Aaron. – באהרן התאנף יהוה מאד להשמידו ואתפלל ויתפלל – משה גם בעד אהרןUnd Mose flehte vor dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Ach HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägypten geführt hast? (Ex 32,9–11)
Der eingefügte Satz zu Moses Gebet für Aaron ist der zweiten Schilderung des Ereignisses vom Goldenen Kalb entnommen, Moses Retrospektive in Dtn 9: Da sah ich, und siehe, da hattet ihr euch an dem HERRN, eurem Gott, versündigt und euch ein gegossenes Kalb gemacht und wart schnell von dem Wege abgewichen, den euch der HERR geboten hatte. Da fasste ich beide Tafeln und warf sie aus meinen Händen und zerbrach sie vor euren Augen und fiel nieder vor dem HERRN wie das erste Mal, vierzig Tage und vierzig Nächte, und ass kein Brot und trank kein Wasser um all eurer Sünden willen, die ihr getan hattet, als ihr solches Unrecht tatet vor dem HERRN, um ihn zu erzürnen. Denn ich fürchtete mich vor dem Zorn und Grimm, mit dem der HERR über euch erzürnt war, so dass er euch vertilgen wollte. Aber der HERR erhörte mich auch diesmal. Auch war der HERR sehr zornig über Aaron, so dass er ihn vertilgen wollte; aber ich bat auch für Aaron zur selben Zeit. (Dtn 9,16–20)
Der Vergleich der beiden vorstehenden Texte zeigt, ganz im Einklang mit den oben erwähnten Beobachtungen von Michael Segal, dass die prä-samaritani-
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sche Bearbeitung von Ex 32,10 durch die Einfügung von Dtn 9,20 nicht auf die Harmonisierung der beiden Texte zielte; vielmehr werden die Diskrepanzen zwischen den beiden Erzählungen desselben Ereignisses sogar verstärkt, insofern sie durch die ausdrückliche Bezugnahme deutlicher sichtbar sind, und aufgrund notwendiger Adaptionen an den neuen Kotext: Die Erweiterung in Ex 32 beschränkt sich auf die Erwähnung von Moses Fürbitte für Aaron, die zuvor keine Entsprechung in Exodus hatte, wobei eine Personenänderung erforderlich war. Zudem musste allerdings das Wort „ גםauch“ entfallen, bedingt durch den Ort der Einfügung der Bitte für Aaron vor der Bitte für das Volk, die doch in Dtn 9 dem Gebet für Aaron vorausgeht. Die Richtung der Einfügung, aus dem Deuteronomium in das Buch Exodus, spiegelt eine Tendenz wieder, die deutlich ist: Die weitaus meisten Texterweiterungen dieser Art wurden aus dem Deuteronomium kopiert und in die korrespondierende Passage in Exodus oder Numeri eingetragen. Der Grund dafür ist höchstwahrscheinlich die Autorität der Moserede im Deuteronomium, die über diejenige der Erzählstimme in den vorhergehenden Büchern gestellt wurde. Eine Ausnahme hinsichtlich der Übernahmerichtung stellt lediglich die Erweiterung von Dtn 2,7 mit Passagen aus Num 20,14 und 20,17f. dar: Und der HERR sprach zu mir: Ihr habt dies Gebirge nun genug umzogen; wendet euch nach Norden. Und gebiete dem Volk und sprich: Ihr werdet durch das Land eurer Brüder, der Söhne Esau, ziehen, die auf dem Seïr wohnen, und sie werden sich vor euch fürchten. Aber hütet euch ja davor, sie zu bekriegen; ich werde euch von ihrem Lande nicht einen Fußbreit geben, denn das Gebirge Seïr habe ich den Söhnen Esau zum Besitz gegeben. Speise sollt ihr für Geld von ihnen kaufen, damit ihr zu essen habt, und Wasser sollt ihr für Geld von ihnen kaufen, damit ihr zu trinken habt. Denn der HERR, dein Gott, hat dich gesegnet in allen Werken deiner Hände. Er hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen. Vierzig Jahre ist der HERR, dein Gott, bei dir gewesen. An nichts hast du Mangel gehabt. (Num 20,14.17f.:) Und Mose ich sandte Botschaft aus Kadesch zu dem König der Edomiter wie folgt: … Laß uns mich durch dein Land ziehen. Wir wollen Ich will nicht durch Äcker oder Weinberge gehen, wir wollen kein Wasser aus den Brunnen trinken. Die Landstraße wollen wir ziehen, weder zur Rechten noch zur Linken weichen, bis wir durch dein Gebiet hindurchgekommen sind. Edom aber sprach zu ihnen: Du sollst nicht hindurchziehen oder ich werde dir mit dem Schwert entgegentreten – ואשלחה מלאכים אל מלך אדום לאמר … נעבר אעברה בארצך לא נטה אטה בשדה ובכרם ולא נשתה מי בור דרך המלך נלך לא נסור – ימין ושמאל עד אשר נעבר גבולך ויאמר לא תעבר בי פן בחרב אצא לקראתךAls wir nun von unsern Brüdern, den Söhnen Esau, die auf dem Gebirge Seïr wohnten, weggezogen waren, weg von dem Weg durch die Steppe, weg von Elat und Ezjon-Geber, wandten wir uns und zogen den Weg zum Weideland der Moabiter. (Dtn 2,2–8)
Die Erklärung dafür, dass hier ausnahmsweise die Moserede im Deuteronomium durch aus vorhergehenden Büchern übernommene Passagen erweitert wurde, dürfte zunächst in der Tatsache liegen, dass sich das Numeribuch und das Deuteronomium in ihren jeweiligen Ausgangstexten hinsichtlich der Frage, ob Israel durch Edom bzw. Seïr hindurchgezogen sei, deutlich vonei-
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nander unterscheiden: Nach Num 20,18–21 wird Israel der Durchzug durch Edom verweigert. Dtn 2 andererseits könnte durchaus so verstanden werden, dass der Durchzug stattgefunden hat, ohne allerdings Gegenstand eines ausdrücklichen Berichts geworden zu sein, weil es eine narrative Lücke zwischen Dtn 2,2–7 – die Zusage Gottes, dass der Durchzug stattfindet – und 2,8 – der Wegzug von Edom – gibt. Die prä-samaritanischen Schreiber haben diese narrative Lücke allerdings nicht mit dem Durchzug durch Edom, sondern mit der Verweigerung des Durchzugs gefüllt und entsprechend expliziert, mit einer Übernahme aus dem korrespondierenden Bericht. Die dabei vorgenommene Kürzung der übernommenen Passage um zwei Verse (Num 20,15f.) zeigt, dass der Fokus nicht auf einer wortgetreuen Wiederholung der Textoberfläche und damit auf einer wortwörtlichen Synthese liegt, sondern auf dem Hauptstrang der Erzählung. Deutlich ist demzufolge auch, dass die Schreiber keine Harmonisierung angestrebt haben. Vielmehr dürften sie angesichts der Vagheit und Ambivalenz in den Formulierungen des Ausgangstextes Dtn 2 von vornherein im Lichte von Num 20 verstanden haben, so dass die Füllung der narrativen Lücke in Dtn 2 nicht einem hermeneutischen Bemühen Ausdruck verlieh, sondern lediglich dem bestehenden Vorverständnis des erzählten Ereignisses. 3.3. Einfügungen von Textkompilationen Eine unter formalen literarischen Kriterien abzugrenzende dritte Kategorie größerer textlicher Erweiterungen in der prä-samaritanischen Bearbeitung des Pentateuch wird schließlich durch die beiden Textkompilationen zum Garizimaltar (s.o. 2.1.) sowie zum Prophetentum Moses gebildet (s.o. 2.4.). Die gemeinsame literarhistorische Zuordnung dieser beiden Kompilationen zur prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht sowie, aus literarischer Sicht, zu ein und derselben Kategorie von Erweiterungen wurde oben unter 2.4. bereits dargestellt. Im Lichte der Einfügungen aus Paralleltexten und der sich in ihnen äußernden Verhältnisbestimmung zwischen Deuteronomium und den Erzählungen in Exodus und Numeri (s.o. 3.2.) ist dabei hinsichtlich der literarischen Funktion, welche die beiden Einfügungen haben, zunächst einmal deutlich, dass beide in die Vorgängererzählung Informationen aus dem Deuteronomium eintragen, die im Exodusbuch fehlen: Weder der für das Deuteronomium zentrale Altar auf dem Garizim noch die Rolle Moses als Prophet werden im Exodusbuch ausdrücklich erwähnt. Während damit die Nähe zwischen der Einfügung der beiden Textkompilationen und den Einfügungen aus Paralleltexten deutlich ist, besteht doch hinsichtlich der literarischen Form der eingefügten Passagen auch ein markanter Unterschied zwischen beiden Kategorien: Anders als die unter 3.2. behandelten Einfügungen aus Paralleltexten wurden die Garizim- und die Mosekompilation nicht als kohärente Passage dem Vorlage-
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text im Buch Deuteronomium entnommen, sondern jeweils aus zwei unterschiedlichen Textpassagen zusammengefügt. Allerdings stellt sich im Hinblick auf die beiden fraglichen Kompilationen der Befund der Ausgangstexte auch anders dar als im Falle der sonstigen Einfügungen aus Paralleltexten: Sowohl in bezug auf den Garizimaltar als auch in bezug auf das Prophetentum Moses finden sich die einschlägigen Informationen auf zwei verschiedene Textpassagen verteilt, wie oben unter 2.4. bereits gezeigt wurde: Hinsichtlich des Garizimaltars bietet Dtn 11,29f. zwar eine Lokalisierung des Berges Garizim, aber keine Notiz zum Altar selbst, wohingegen in Dtn 27,2–7 zwar der Altar auf dem Garizim Gegenstand ist, jedoch die Lokalisierung des Berges fehlt. Zugleich sprechen die beiden Texte unweigerlich über dieselbe Situation, wie die am Anfang beider stehenden Zeitbestimmungen zeigen (Dtn 11,29//Dtn 27,2). Ähnlich stellt sich der Befund in bezug auf das Prophetentum Moses dar: Der beiden Texten gemeinsame Rekurs auf Feuer und göttliche Stimme als Begleitung göttlicher Offenbarung zeigt die beiden gemeinsame Verortung im Gespräch zwischen Mose und dem Volk an, das im Rahmen der Sinaioffenbarung kontextualisiert ist. Dabei fehlt in der von Mose wiedergegebenen Gottesrede Dtn 5,28–33 allerdings jeglicher Hinweis auf die Ankündigung eines Propheten wie Mose, die doch die Wiedergabe derselben Gottesrede in Dtn 18,17–22 bietet. Dtn 18, andererseits, stellt keinen ausdrücklichen Bezug auf Mose her. Die literarische Form der beiden Einfügungen im Exodusbuch als Textkompilation anstelle einer fortlaufenden Passage ist mithin am ehesten einer Gegebenheit der Ausgangstexte im Deuteronomium selbst geschuldet, nicht jedoch einer Tendenz zur kompilatorischen Synthese ursprünglich disparater Texte. Diesbezüglich wie auch ansonsten entspricht die literarische Realisierung der beiden Kompilationen derjenigen der sonstigen größeren Einfügungen: 1.) Die einzelnen Bestandteile werden im Wesentlichen wörtlich aus ihren jeweiligen Ausgangstexten übertragen, wobei kleinere Adaptionen an den neuen Kotext vorgenommen werden. 2.) Die in den neuen Kotext übernommenen Passagen werden bisweilen gekürzt. 3.) Eine wörtliche Harmonisierung von Parallelerzählungen wird nicht angestrebt, vielmehr erzeugen Übernahme und Einfügung sogar vielfältige DeHarmonisierungen im Vergleich der Textoberflächen. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes ist im Falle der beiden Textkompilationen allerdings besonders bemerkenswert, dass sie als eigenständige Texte neben die beiden Ausgangstexte treten. Mit anderen Worten: Obwohl Dtn 27,2–7 mit guten Gründen als Paralleltext zu Dtn 11,29f. gesehen werden
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kann, und Dtn 18,18–22 als Paralleltext zu Dtn 5,28–31, wird innerhalb des Deuteronomiums die Einfügung aus dem jeweiligen Paralleltext nicht realisiert, höchstwahrscheinlich mit Rücksicht auf das auch in den sonstigen Erweiterungen deutlich sichtbare und unter 3.2. bereits erwähnte vergleichsweise höhere autoritative Ansehen der Moserede im Deuteronomium. Ohne echte literarische Parallele in den sonstigen größeren Erweiterungen der prä-samaritanischen Bearbeitungsschicht bleibt damit allein die Wiederholung des Garizimgebots in der Deuteronomiumsversion des Dekalogs. Ihre Ursache kann daher nur vermutet werden; mit Blick auf die ansonsten deutlichen Tendenzen der literarischen Bearbeitungen dürfte sie aber in der Tatsache liegen, dass die Garizimkompilation durch ihre Einfügung im Anschluss an die Zehn Gebote im Exodusbuch als Teil der Dekalogkomposition verstanden und aufgrund der Prominenz dieses Textes im Deuteronomium als Paralleltext nachgetragen wurde.
4. Zusammenfassung: Die Texterweiterungen des prä-samaritanischen Pentateuch als Fortschreibungen Die größeren Erweiterungen im prä-samaritanischen Text des Pentateuch bilden in literarhistorischer und literarisch-formaler Hinsicht eine relativ homogene Gruppe. Ihre Fortschreibungen sind im Allgemeinen auf die Textoberfläche begrenzt, wohingegen im Allgemeinen keine Revisionen, Aktualisierungen oder Adaptionen der Texttiefenstruktur zu verzeichnen sind. Die wenigen Fälle, in denen die Texterweiterungen mit Bedeutungsmodifikationen verbunden sind, wie etwa in der Erweiterung von Dtn 2,7 mit Passagen aus Num 20,14 und 20,17f., folgen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einem entsprechenden Bestreben, sondern sind wohl Ausdruck eines von der Annahme der Widerspruchsfreiheit des Pentateuch ausgehenden Textverständnisses. Nach Ausweis des Befundes besteht die Funktion der prä-samaritanischen Fortschreibungen im Wesentlichen darin, Lücken in der Repräsentanz des Narrativs auf der Textoberfläche zu füllen, sei es bei korrespondierenden Passagen innerhalb eines einzigen Textes, sei es im Vergleich zweier Erzählungen ein und desselben Ereignisses. Die prä-samaritanischen Fortschreibungen sind damit Ausdruck einer bestimmten Wahrnehmung und Lesung des Pentateuch, nicht aber des Versuches, den Pentateuch auszulegen, und sie sind insofern textgeleitet. Bei den prä-samaritanischen Fortschreibungen handelt es sich weder um eine systematische noch gar um eine umfassende Bearbeitung des Pentateuchtextes, vielmehr variiert die Frequenz dieser Erweiterungen stark zwischen den verschiedenen Textbereichen und Themen. Dadurch wiederum
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werden im prä-samaritanischen Pentateuch einige offensichtlich zentrale Punkte des Pentateuchverständnisses der entsprechenden Schreibergruppen deutlich hervorgehoben und betont, nämlich die unbedingte Zuverlässigkeit und Autorität des göttlichen Wortes, die Zuverlässigkeit und Autorität Moses als Prophet sowie die Rolle des Garizim als zentrales Heiligtum Israels.
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Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue Auslegung theologischer Kernlexeme in den Narrativtexten der Pentateuch-Septuaginta Carsten Ziegert 1. Einleitung 1.1. Die Septuaginta als Sammlung auslegender Übersetzungen Die als Septuaginta bezeichnete Schriftensammlung besteht zum größten Teil aus Übersetzungen, und zwar aus dem Hebräischen (und Aramäischen) ins Griechische. Diese Sammlung entstand über mehrere Jahrhunderte an verschiedenen Orten durch verschiedene Übersetzer. Entsprechend dem Zeugnis des Aristeasbriefs lässt sich annehmen, dass der Beginn dieser Übersetzungen im hellenistischen Diasporajudentum von Alexandria zu verorten ist.1 Dabei markiert die Übersetzung des Pentateuch im 3.Jh. v.Chr. den Startpunkt. Der griechische Pentateuch diente später vermutlich als Modell für die Übersetzung anderer Bücher.2 Die Herausforderungen, die in der Aufgabe des Übersetzens lagen, können nicht überschätzt werden. Denn die Übersetzer mussten ihren Ausgangstext, der in einer semitischen Sprache abgefasst war, in einer indogermanischen Sprache mit völlig anderen strukturellen Merkmalen wiedergeben. Hinzu kommt eine Schwierigkeit, die sich jedem Übersetzer stellt, nämlich dass sich für die einzelnen Lexeme des Ausgangstextes nicht immer passende Lexeme in der Zielsprache mit einer völlig exakten Bedeutungsentsprechung finden lassen. Diese wortsemantische Verschiedenheit von Ausgangs- und Zielsprache ist bei theologischen Kernlexemen besonders problematisch. Zu den Problemen auf der Ebene der Syntax und der Lexikographie kommt der kulturelle Aspekt hinzu. Durch die Übersetzungen sollte der Pentateuch Rezipienten in einer hellenistischen Kultur zugänglich gemacht werden, deren Lebensumstände sich gegenüber denen der ursprünglichen Rezipienten maßgeblich ver1
Zum eingeschränkten, aber nicht völlig zu vernachlässigenden Quellenwert des Aristeasbriefs vgl. TILLY, Septuaginta, 29f.45–48; FERNÁNDEZ MARCOS, Septuagint, 39f. 2 Vgl. TOV, Source.
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ändert hatten. Dieser Tatsache haben die Übersetzer in vielerlei Hinsicht Rechnung getragen. Dass schriftgelehrte Auslegung in der Septuaginta eine prominente Rolle spielt, wurde in der jüngeren Forschung zum Teil vehemeht bestritten. Ausgehend von den zahlreichen wörtlichen Wiedergaben in den Septuagintaschriften und der damit verbundenen „Dimension der Unverständlichkeit“ postulierte Albert Pietersma das sogenannte „Interlinearitäts-Paradigma“, das fordert, die Septuaginta-Übersetzungen grundsätzlich durch den Begriff der Interlinearität zu beschreiben. Pietersma vermutete, dass in jüdischen Schulen der Diaspora der hebräische Bibeltext mit Hilfe der griechischen Übersetzungen studiert wurde. Die Septuagintaschriften seien von ihrem jeweiligen hebräischen Prätext sprachlich abhängig und ohne diesen oft nicht verständlich gewesen.3 Für die Vermutung, dass im jüdisch-hellenistischen Bildungswesen der griechische Text zum Verständnis des hebräischen Prätextes verwendet wurde, gibt es jedoch keine externe Evidenz, und auch der Hinweis auf lateinisch-griechische Interlineartexte reicht nicht aus, um diese These plausibel zu machen.4 Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Übersetzungen als eigenständige Werke intendiert waren, die ihren jeweiligen Prätext in der Rezeption ersetzen sollten. In der aktuellen Forschung wird inzwischen kaum noch bestritten, dass die Septuaginta-Übersetzungen auslegende Elemente enthalten und somit – zumindest teilweise – eine eigene Aussageabsicht verfolgen. Dabei kann die Intention des griechischen Textes durchaus über die Aussageabsicht seiner hebräisch-aramäischen Vorlage hinausgehen. Es ist demnach angemessen, die Schriften der Septuaginta als eigenständige Werke wertzuschätzen, die eigene theologische Akzente setzen und somit die Grundlage für eine mögliche „Theologie der Septuaginta“ bilden.5 Untersucht man die Übersetzungen der einzelnen Septuagintaschriften unter diesem Aspekt, so stößt man u.a. auf die Phänomene der Aktualisierung und der Harmonisierung: Bei der Aktualisierung besteht das Anliegen darin, den Text an die Lebenssituation der neuen Rezipienten anzupassen, so dass er von diesen als relevant wahrgenommen wird und in konkreten Lebensvollzügen angewandt werden kann. So wird im Königsgesetz (Dtn 17,14f.) das Lexem מֶ ֶלmit ἄρχων wiedergegeben, da die Juden in der Diasporasituation keinen eigenen König hatten. Ein interessantes Beispiel bietet die je nach Textgattung differenzierende Wiedergabe von אֹ הֶ לim Numeribuch: In einem Narrativtext 3
Vgl. PIETERSMA, Paradigm, 350f.359. Zur Kritik vgl. auch JOOSTEN, Reflections. Für eine alternative Erklärung der häufigen wörtlichen Wiedergaben vgl. ZIEGERT, Kultur. 5 Vgl. dazu grundlegend RÖSEL, Theo-Logie; JOOSTEN, Théologie; DAFNI, Theologie; RÖSEL, Theology; AEJMELAEUS, Sprache. 4
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(Num 16,26.27) wird das Lexem wörtlich mit σκηνή übersetzt, da die Menschen der Wüstengeneration tatsächlich in Zelten wohnten. In einem legislativen Text dagegen (Num 19,14.18) wird אֹ הֶ לaktualisierend mit οἶκος wiedergegeben, da die Rezipienten, die den Text anwenden sollen, nicht mehr in Zelten, sondern in Häusern leben. In einem poetischen Text schließlich (Num 24,5) kann אֹ הֶ לebenfalls mit οἶκος übersetzt werden. Das Anliegen des Übersetzers ist an dieser Stelle jedoch nicht die Aktualisierung, sondern die poetische Gestaltung des Textes. In der zweiten Zeile des Parallelismus wird nämlich ִמ ְשׁכָּןmit σκηνή übersetzt, so dass zwei verschiedene hebräische Lexeme des Wortfelds „Wohnraum“ verschiedene griechische Entsprechungen desselben Wortfelds haben.6 Aktualisierung ist, wie das Beispiel der Wiedergabe von אֹ הֶ לmit οἶκος in Num 19,14.18 zeigt, ein Phänomen, das eher durch die Rezipienten und ihren soziokulturellen Kontext bedingt ist als durch den Ausgangstext an sich. Bei der Harmonisierung verhält es sich anders. Dieses Phänomen ist eher vom Ausgangstext an sich verursacht und weniger in der spezifischen Lebenssituation der Rezipienten. Eine harmonisierende Übersetzungstendenz versucht, potenzielle Widersprüche innerhalb des Textes – auch über einen größeren Kontext hinaus und sogar buchübergreifend – zu vermeiden. Natürlich geht es auch hier wie schon bei der Aktualisierung um die Rezeption des übersetzten Textes, das Anliegen ist also nicht unabhängig von den Rezipienten. Der Anlass für harmonisierende Wiedergaben ist jedoch im Ausgangstext selbst zu suchen. Ein klassisches Beispiel für eine Harmonisierung bietet Gen 2,2a. Während der masoretische Text hier aussagt, dass Gott sein Werk am siebten Tag ( )בַּ יּוֹם הַ ְשּׁבִ יﬠִ יvollendete, handelt es sich in der Septuagintafassung um den sechsten Tag (ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ ἕκτῃ). Offensichtlich stand für den Übersetzer das „Vollenden am siebten Tag“ im Widerspruch zu der Aussage, dass Gott an ebendiesem Tag ruhte (Gen 2,2b–3).7 Eine Harmonisierung mit dem weiteren Kontext liegt in Num 33,36 vor. Das Verzeichnis der Lagerstationen wird im griechischen Text folgendermaßen ergänzt: καὶ ἀπῆραν ἐκ τῆς ἐρήμου Σὶν καὶ παρενέβαλον εἰς τὴν ἔρημον Φαράν. Der Übersetzer hat die Lagerstation in der Wüste Pharan eingefügt, um einen potenziellen Widerspruch zu Num 13,26 zu vermeiden, wo diese Station vorausgesetzt wird.8 Solche relativ großformatigen Fortschreibungen sind allerdings im Pentateuch und in den meisten anderen übersetzten Schriften des hebräischen Kanons selten, da die Bindung an den Ausgangstext offenbar eine inhaltliche Ergänzung nur bedingt zuließ.
6
Vgl. ZIEGERT, Diaspora, 55. Nach TOV, Use, 88, ist durchaus denkbar, dass die Septuaginta und der samaritanische Pentateuch, der die Lesart השׁשׁיbietet, auf parallelen Auslegungstraditionen basieren. 8 Vgl. ZIEGERT, Diaspora, 275f. 7
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Das oft beschriebene Phänomen der Harmonisierung zeigt, dass textgeleitete Auslegungsprozesse in der Septuaginta eine wichtige Rolle spielen. Es soll im Folgenden nur um solche Veränderungen des Wortlauts gehen, die nicht vorrangig durch die Rezipienten in ihrem soziokulturellen Umfeld bedingt und verursacht sind, sondern bereits durch den Ausgangstext an sich. Zu erwarten ist, dass solche Auslegungsprozesse auch bei der Übersetzung theologischer Kernlexeme zu finden sind, wobei diese Prozesse nicht auf Harmonisierung allein beschränkt sein müssen. Denn schon die Auswahl eines passenden Lexems der Zielsprache zur Wiedergabe eines theologisch bedeutsamen Lexems der Ausgangssprache kann eine Auslegung des Ausgangstextes beinhalten. 1.2. Das Phänomen der Standardäquivalente Ein Blick in die Septuaginta-Konkordanz von Hatch und Redpath9 bzw. in die aktualisierte Fassung von Muraoka10 zeigt, dass bestimmte hebräische Wörter in der Mehrzahl ihrer Vorkommen jeweils mit demselben griechischen Wort wiedergegeben wurden. Beispiele sind die Wiedergaben von תּוֹרה ָ mit νόμος, von בְּ ִריתmit διαθήκη, von ֶנ ֶפשׁmit ψυχή, von שָׁ לוֹםmit εἰρήνη sowie von ֱא הִ יםmit θεός und von יהוהmit κύριος.11 Manche dieser hebräischgriechischen Wortentsprechungen sind derart auffällig, dass man sie als Standardäquivalente (englisch und französisch: „calques“) bezeichnet. Solche griechischen Standardäquivalente konnten in manchen Fällen als Chiffren für das jeweils vorausgesetzte hebräische Lexem verwendet werden, wie das Beispiel 2Sam 11,7 (2Kgtm 11,7) zeigt: David erkundigt sich bei Uria nach dem Wohlergehen Joabs und der Soldaten sowie nach dem Stand des Krieges. Während in idiomatischem Hebräisch in allen drei Fällen das Substantiv שָׁ לוֹם verwendet werden kann, bildet die Übersetzung ἐπηρώτησεν ... εἰς εἰρήνην τοῦ πολέμου ein unfreiwilliges Oxymoron.12 Wenn für ein hebräisches Lexem ein griechisches Standardäquivalent bereits etabliert ist, dann sind Abweichungen von dieser Standardwiedergabe bedeutsam. In einem solchen Fall ist zu erwarten, dass die alternativ verwendete griechische Wiedergabe auf einer bestimmten Auslegung des hebräischen Textes durch den Übersetzer beruht. Doch das ist noch nicht alles. Auch die Prägung eines Standardäquivalents, also die ersten Verwendungen eines griechischen Lexems zur Wiedergabe eines bestimmten hebräischen Lexems, beruhen darauf, dass der Übersetzer seinen Vorlagetext ausgelegt hat. Bevor ein griechisches Lexem zum Standardäquivalent wurde, war seine 9
HATCH/REDPATH, Concordance. MURAOKA, Index. 11 Zu Letzterem vgl. RÖSEL, Adonaj. 12 Zur Problematik der Standardäquivalente vgl. HARL/DORIVAL/MUNNICH, Septante, 248–253; DORIVAL, Lexicographie, 289f. 10
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Verwendung ja noch nicht selbstverständlich. Ob es in einem bestimmten Kontext tatsächlich verwendet wurde, war von der Auslegung des hebräischen Textes abhängig. In der Forschung geht man mehrheitlich davon aus, dass die Übersetzung der biblischen Schriften mit dem Pentateuch begann, wobei anzunehmen ist, dass der übersetzte Pentateuch später als Modell für die weiteren Übersetzungen diente.13 Das bedeutet, dass im Pentateuch selbst noch keine vollständig etablierten Standardäquivalente zu erwarten sind. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Übersetzer im Pentateuch zwischen verschiedenen griechischen Entsprechungen für ein hebräisches Lexem wechselten. Genau dies geschieht etwa in der Genesis – entgegen dem oben beschriebenen Beispiel aus 2Sam 11,7 – bei der Übersetzung von שָׁ לוֹם, das mit unterschiedlichen griechischen Lexemen wiedergegeben werden kann.14 Das bedeutet: Auch die Verwendung griechischer Lexeme, die später als Standardäquivalente etabliert waren, beruht im Pentateuch nicht auf einer mechanischen Ersetzungstechnik, sondern auf einer Auslegung des hebräischen Textes. 1.3. Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung Die vorliegende Studie hat das Ziel, die Übersetzung ausgewählter theologischer Kernlexeme in den Narrativtexten des Pentateuch zu untersuchen. Dafür wird das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue verwendet, das durch vier Gottesepitheta aus Ex 34,6 definiert sein möge: יהוה יהוה אֵ ל רחוּם וְ חַ נּוּן אֶ ֶר אַ ַפּ ִים וְ ַר ב־חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ ת.ַ Das Wesen Jahwes wird hier (unter anderem) durch die Adjektive ַרחוּםund חַ נּוּןsowie die Substantive חֶ סֶ דund ֱאמֶ תbeschrieben.15 Im Folgenden wird die Übersetzung folgender Lexeme untersucht: 1.) 2.) 3.) 4.)
das Adjektiv רחוּם,ַ das Verb ( רחםPiel) und das Substantiv ַרח ֲִמים das Adjektiv חַ נּוּן, das Verb ( חנןQal und Hitpael) und das Substantiv חֵ ן das Substantiv חֶ סֶ ד die Substantive ֱאמֶ תund ֱאמוּנָהsowie das Verb ( אמןNifal und Hifil)
Konkret wird zu fragen sein, welche Auslegungsprozesse bei der Übersetzung dieser Lexeme wirksam waren. Dass überhaupt Auslegung stattfand, ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Lexeme wahrscheinlich zum ersten Mal ins Griechische übersetzt wurden. Da die meisten dieser Lexeme im Pentateuch mehrfach vorkommen, kann weiter gefragt werden, ob (und falls ja, wie) durch die Übersetzung der einzelnen Instanzen Standardäquivalente entstanden. Dabei sei eine relative Chronologie der Pentateuch-Übersetzungen ge13
Vgl. TOV, Source, 316f. Vgl. RÖSEL, Übersetzung, 235f. 15 SPIECKERMANN, Barmherzig, 3.18, hat die von ihm so genannte „Gnadenformel“ als Zentrum einer Theologie des Alten Testaments vorgeschlagen. 14
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mäß ihrer kanonischen Abfolge vorausgesetzt.16 Falls sich bestimmte griechische Entsprechungen eines hebräischen Lexems in dem vorgegebenen Textkorpus häufen, dann verdienen natürlich auch Abweichungen von diesen Lexementsprechungen Aufmerksamkeit, da hierdurch wiederum Auslegungsprozesse sichtbar werden. Da in Übersetzungen legislativer Texte vor allem aktualisierende Tendenzen zu erwarten sind, die den Text an den soziokulturellen Kontext der Rezipienten anpassen, beschränkt sich diese Untersuchung auf die narrativen Texte des Pentateuch. Ein gelegentlicher Seitenblick auf Pentateuchtexte anderer Gattung möge jedoch erlaubt sein, sofern er die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns nahelegt. Grundsätzlich ist bei Untersuchungen von Septuaginta-Übersetzungen immer die Frage nach der Textgrundlage zu stellen. Es muss jeweils gefragt werden, ob Abweichungen des griechischen Textes vom Wortlaut des hebräischen Textus receptus, für den ich hier den masoretischen Text der BHQ bzw. BHS wähle, auf der Tätigkeit des Übersetzers beruht oder auf einer hebräischen Vorlage, die nicht dem Textus receptus entspricht. Diese Forderung setzt jedoch bereits voraus, dass Standardäquivalente existieren; zumindest hat der Forscher eine Vorstellung davon, wie ein bestimmtes hebräisches Lexem übersetzt werden sollte. Ich vertrete hier die methodisch begründbare Auffassung, dass Abweichungen vom hebräischen Text vermutlich auf einer entsprechenden Vorlage basieren, falls diese in weiteren hebräischen Textzeugen nachweisbar ist. Andernfalls gehe ich davon aus, dass die Ursache in der Übersetzung zu suchen ist.17 Weiter ist auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass Abweichungen auch durch eine andere Lesung des protomasoretischen Konsonantengerüsts entstehen können.18 Ich beschreibe im Folgenden kurz das Bedeutungsspektrum der genannten Kernlexeme und ihrer mutmaßlichen griechischen Entsprechungen (s.u. 2.), anschließend untersuche ich die Vorkommen in dem genannten Textkorpus (s.u. 3.), bevor Folgerungen aus den Ergebnissen gezogen werden (s.u. 4.).
2. Die Grundbedeutungen der hebräischen Lexeme und ihrer griechischen Entsprechungen Die in 1.3. genannten hebräischen Lexeme, deren jeweilige Übersetzung untersucht werden soll, werden in den folgenden Abschnitten mit Hilfe ihrer
16
Vgl. RÖSEL, Übersetzung, 257; eine Gegenthese bietet DEN HERTOG, Erwägungen. Vgl. ausführlich ZIEGERT, Diaspora, 45–53. 18 Vgl. SCHORCH, Vocalization. 17
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Wurzel zusammengefasst.19 Die knappen Anmerkungen zur Grundbedeutung dieser Lexeme und ihrer Standardäquivalente haben nicht den Anspruch, das Bedeutungsspektrum umfassend zu beschreiben, denn dafür wären ausführliche Wortstudien nötig. Vielmehr vermitteln die folgenden Ausführungen eine grundsätzliche Idee des jeweiligen semantischen Gehalts in Anlehnung an die Literatur. 2.1. רחם Die mit der Wurzel רחםverbundenen Lexeme haben die Grundbedeutung des Mitleids und Erbarmens, wobei nicht nur eine Haltung, sondern vor allem die daraus resultierenden Taten gemeint sind.20 Vorausgesetzt ist dabei eine Situation von Leid, Not, Schuld, Gefahr oder Schwäche seitens des Empfängers.21 In der Septuaginta haben sich als Standardäquivalente vor allem das Verb οἰκτίρω (bzw. οἰκτειρέω) und das Adjektiv οἰκτίρμων entwickelt. Zusätzlich werden auch ἐλεέω und ἔλεος verwendet, die jedoch in erster Linie zur Wiedergabe von חנןund חֵ ןdienen (s.u. 2.2.).22 2.2. חנן Das Substantiv חֵ ןund die wurzelverwandten Lexeme lassen sich in ihrer Bedeutung wie folgt charakterisieren: Die Grundbedeutung von חֵ ןist „Anmut“ als inhärente Eigenschaft sowie „Gunst, Wohlwollen“ als bewertende Haltung von außen. Bei Letzterem handelt es sich um die persönliche Berücksichtigung eines Einzelnen durch einen Höhergestellten. Handelt es sich bei diesem um Gott, kann auch die Wiedergabe mit „Gnade“ angemessen sein. Entsprechend drückt das Verb im Qal das Erweisen von Gunst oder Gnade aus, im Hitpael die Bitte darum.23 In der Septuaginta wird das Substantiv חֵ ןmeistens mit χάρις wiedergegeben, das Verb חנןdagegen mit ἐλεέω, während das Substantiv ἔλεος als Standardäquivalent für חֶ סֶ דdient (s.u. 2.3.).24 Die Wiedergabe mit χάρις bietet eine passende Entsprechung, da das Lexem im klassischen Griechisch meistens die Bedeutung „Gunst“ hat.25 Es stellt sich allerdings die Frage, warum 19
Die Wurzel ist in der Semitistik eine theoretische Abstraktion, die keinerlei Information über die Ableitung eines Lexems aus einem anderen Lexem liefert; vgl. VAN DER MERWE/NAUDÉ/KROETZE, Grammar, 542. 20 Vgl. JEPSEN, Gnade, 261–263; zur Etymologie des Intensivplurals ַר ח ֲִמיםaus ֶר חֶ םvgl. SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 79–86. 21 Vgl. KRONHOLM, רחםrḥm, 474f. 22 Vgl. STOEBE, רחםrḥm, 768; BULTMANN, οἰκτίρω, 161f.; für genauere Statistiken vgl. KRONHOLM, רחםrḥm, 462. 23 Vgl. STOEBE, חנןḥnn, 588–594; FREEDMAN/LUNDBOM/FABRY, חָ נַןḥānan, 23–26. 24 Vgl. STOEBE, חנןḥnn, 597; ZIMMERLI, χάρις, 371f.; BULTMANN, ἔλεος, 475. 25 Vgl. SPICQ, Notes, 961f.
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die Übersetzer nicht χαρίζω zur Wiedergabe des hebräischen Verbs verwendet haben.26 2.3. חסד Die Grundbedeutung des Substantivs חֶ סֶ דwird gewöhnlich mit „Güte“ angegeben, wobei es sich sowohl um eine innere Haltung als auch um deren Auswirkungen handeln kann. In letzterem Fall können Bedeutungsüberschneidungen mit ַרח ֲִמיםvorliegen.27 In der Septuaginta dient vor allem ἔλεος (sowie ἐλεημοσύνη) zur Wiedergabe von חֶ סֶ ד, gelegentlich wird auch δικαιοσύνη verwendet.28 Hier scheint ein auffälliger Bedeutungsunterschied zwischen „( חֶ סֶ דGüte“) einerseits und ἔλεος („Mitleid, Barmherzigkeit“) bzw. δικαιοσύνη („Gerechtigkeit“) andererseits vorzuliegen. Zu erwarten wäre eher eine Wiedergabe von חֶ סֶ דmit χρηστότης oder ἀγαθωσύνη; diese Lexeme werden tatsächlich verwendet, allerdings um Derivate von טובzu übersetzen.29 Noch passender erscheint vielleicht εὔνοια,30 das zwar im Korpus der Septuaginta vorkommt, nicht jedoch als direkte Entsprechung eines hebräischen Lexems (z.B. Est 2,23; 6,4). Angesichts des Bedeutungsunterschieds zwischen חֶ סֶ דund ἔλεος vermutet Jan Joosten, dass das Lexem חֶ סֶ דim späten biblischen und im rabbinischen Hebräisch eine Bedeutungsverschiebung in Richtung auf „Barmherzigkeit, Mildtätigkeit“ erfahren habe und dass bei den Septuaginta-Übersetzern diese neuere Bedeutung von חֶ סֶ דvorauszusetzen sei.31 Diese Deutung verliert jedoch dadurch an Überzeugungskraft, dass die ursprüngliche Bedeutung des Lexems auch im nachbiblischen Hebräisch durchaus noch präsent war.32 Mindestens ebenso plausibel erscheint die Vermutung, dass diejenigen Wiedergaben von חֶ סֶ דmit ἔλεος im Pentateuch, die auffällig oder im Licht des Kontexts zunächst unangemessen wirken,33 auf einer besonderen Auslegung durch die Übersetzer beruhen.
26 Lediglich das Medium dieses Verbs erscheint in der Septuaginta gelegentlich, allerdings als Wiedergabe von ;נתןvgl. MURAOKA, Index, 127. 27 Vgl. ZOBEL, חֶ סֶ דḥæsæḏ, 52–56; STOEBE, חֶ סֶ דḥǽsæd, 601–606, 610f. Wie schwer der semantische Gehalt dieses Lexems zu fassen ist, zeigen die dort zu findenden Ausführungen zur Forschungslage. 28 Vgl. ZOBEL, חֶ סֶ דḥæsæḏ, 49; BULTMANN, ἔλεος, 475f. 29 Vgl. MURAOKA, Index, 3, 128. 30 Vgl. JOOSTEN, Benevolence, 99. 31 Vgl. JOOSTEN, Benevolence, 107–110. 32 Vgl. JASTROW, Dictionary, 486: „grace, kindness, love, charity“; DALMAN, Handwörterbuch, 154: „Gnade, Gunst“ (sowie „Gnade, Huld“ für das aramäische )חִ סְ דָּ א. 33 Vgl. JOOSTEN, Benevolence, 101.
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2.4. אמן Die mit der Wurzel אמןverbundenen Lexeme haben als Grundbedeutung „fest, sicher, zuverlässig sein“. Insbesondere lassen sich die Substantive ֱאמֶ ת und ֱאמוּנָהmit „Festigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Redlichkeit“ wiedergeben. Das Verb אמןim Nifal hat die Bedeutung „Dauer, Bestand haben; treu, zuverlässig sein“, im Hifil lässt es sich mit „vertrauen, glauben“ wiedergeben.34 In der Septuaginta werden die beiden Substantive vorrangig mit ἀλήθεια oder πίστις übersetzt, hinzu kommt gelegentlich δικαιοσύνη. Das Verb im Hifil wird in der Regel mit πιστεύω wiedergegeben, das Verb im Nifal meist mit Hilfe des Adjektivs πιστός.35 2.5. Zusammenfassung Die folgende Tabelle fasst die in der Literatur genannten Standardäquivalente der hebräischen Lexemgruppen zusammen, wobei Angaben in Klammern geringere Vorkommen der jeweiligen Übersetzungsentsprechung kennzeichnen: רחם חנן
verbal nominal
חסד אמן
verbal nominal
οἰκτιρ- (ἐλε-) ἐλεχαριἔλεος (δικαιοσύνη) πιστἀλήθεια, πιστ- (δικαιοσύνη)
Hier fällt zunächst auf, dass vor allem die Lexeme mit der Wurzel חנן, aber auch die mit אמןjeweils verschiedene Standardäquivalente aufweisen, und zwar abhängig davon, ob es sich um ein verbales oder ein nominales hebräisches Lexem handelt. Grundsätzlich entsprechen die Übersetzungsäquivalente von רחםund אמןdem, was man aufgrund der jeweiligen hebräischen und griechischen Bedeutungen intuitiv erwarten würde. Bei den Wurzeln חנןund חסדsind die auf dem Stamm ἐλε- basierenden Lexeme auffällig, da die griechische Grundbedeutung mit der hebräischen nicht völlig übereinstimmt. Die in Klammern angegebenen Übersetzungsentsprechungen kommen weniger häufig vor, sind aber immer noch ausreichend prominent, um in der Literatur aufgeführt zu werden. Da sowohl δικαισύνη als auch Lexeme des Stamms ἐλε- als Entsprechungen hebräischer Lexeme mit verschiedener Wurzel verwendet werden, ist zu vermuten, dass Bedeutungsähnlichkeiten zwischen diesen hebräischen Lexemen vorliegen. Diese Bedeutungsähnlichkeiten
34 35
186.
Vgl. WILDBERGER, אמןʾmn, 177f.182f.187f.196.201f. Vgl. WILDBERGER, אמןʾmn, 201; BULTMANN, ἀλήθεια, 239; WEISER, πιστεύω, 183–
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sowie die bedeutungsunterscheidenden Merkmale der hebräischen Lexeme können an dieser Stelle allerdings nicht genauer untersucht werden.
3. Untersuchung des Wortfelds Unter der in 1.3. notierten Voraussetzung, dass die griechischen Pentateuchübersetzungen in der kanonischen Reihenfolge entstanden, sind jetzt zwei Dinge zu untersuchen: 1.) Lässt sich die erstmalige Verwendung späterer Standardäquivalente im Pentateuch durch textgeleitete Auslegungsprozesse der Übersetzer erklären? 2.) Lassen sich Abweichungen von etablierten oder sich etablierenden Standardäquivalenten durch textgeleitete Auslegungsprozesse erklären? 3.1. רחם Lexeme dieser Wurzel kommen in unserem Korpus nur dreimal vor. Das erste Vorkommen findet sich in Gen 43,14. Vor der zweiten Reise der Jakobssöhne nach Ägypten äußert ihr Vater den Wunsch: וְ אֵ ל שַׁ דַּ י ִיתֵּ ן ָלכֶם ַרח ֲִמים לִ פְ נֵי הָ ִאישׁ. Mit dem „Erbarmen“ wird aufgrund des folgenden Satzes (V.14b) die Freilassung Simeons gemeint sein.36 In der Übersetzung wird dieser Wunsch mit ὁ δὲ θεός μου δῴη ὑμῖν χάριν ἐναντίον τοῦ ἀνθρώπου wiedergegeben. Da es sich hier um das erste Vorkommen des Lexems handelt, ist noch kein Standardäquivalent etabliert. Auch im griechischen Text wird sich der Wunsch auf die Freilassung Simeons beziehen,37 doch wird hier χάρις („Gunst“) verwendet. Da Jakobs Söhne hier die potenziellen Empfänger von ַרח ֲִמיםsind, empfand der Übersetzer möglicherweise eine Wiedergabe mit οἰκτιρμός oder mit ἔλεος als zu stark, da es ja um die Freilassung einer anderen Person geht. Der Übersetzer der Genesis hat bei dem einzigen Vorkommen von ַרח ֲִמים sorgfältig und dem Kontext entsprechend übersetzt, um keine unnötigen Missverständnisse zu provozieren. Dafür hat er eine Formulierung gewählt, die sonst der Kollokation חֵ ן בְּ ֵﬠינֵיentspricht (z.B. Gen 6,8; s.u. 3.2.). In Ex 33,19 (zweimal) und Ex 34,6 wird Gottes Erbarmen mit dem Verb ( רחםPiel) und dem Adjektiv ַרחוּםbeschrieben. Die griechischen Wiedergaben mit οἰκτίρω bzw. οἰκτειρέω und οἰκτίρμων sind unauffällig. Hier wird sich ein Standardäquivalent etablieren, das der hebräischen Wortbedeutung gut entspricht.
36 37
Vgl. WESTERMANN, Genesis 37–50, 132; EBACH, Genesis, 329. Vgl. WEVERS, Genesis, 729.
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3.2. חנן Das erste Vorkommen des Substantivs חֵ ןfindet sich in Gen 6,8 in der Formulierung וְ ֹנחַ מָ צָ א חֵ ן בְּ ֵﬠינֵי ְיהוָה. Der Übersetzer hat חֵ ןmit dem späteren Standardäquivalent χάρις wiedergegeben: Νῶε δὲ εὗρεν χάριν ἐναντίον κυρίου τοῦ θεοῦ. Diese Wiedergabe gibt die Bedeutung „Gunst“ mit Bezug auf die Verschonung vor dem kommenden Gericht passend wieder. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich mit identischer Bedeutung des Substantivs (teilweise mit anderen Verben) auch in Gen 39,4.21; Ex 3,21; 11,3; 12,36; 33,12.13.16. 17; sie werden ebenfalls mit χάρις und einem entsprechenden griechischen Verb übersetzt. Die Kollokation des hebräischen Substantivs mit dem Verb מצאsowie mit בְּ ֵﬠינֵיbildet eine idiomatische Verbindung, die als Einleitung zu persönlichen Bitten verwendet wird.38 In der Septuaginta wird sie meist mit εὑρίσκω χάριν ἐναντίον wiedergegeben; dies ist in unserem Korpus in Gen 18,3; 30,27; 32,6; 33,8.10.15; 34,11; 47,25.3929; 50,4; Ex 33,13; 34,9; Num 11,11; 32,540 der Fall. Die gute und sinnentsprechende erstmalige Wiedergabe des Substantivs חֵ ן mit χάρις in Gen 6,8 wird sich zum Standardäquivalent entwickeln. Bereits im Pentateuch gibt es nur zwei Abweichungen von diesem Muster. Hier ist zunächst Gen 19,19 zu nennen. Nach seiner Rettung aus Sodom wendet sich Lot mit den Worten הִ נֵּה־ ָנא מָ צָ א ﬠַבְ ְדּ חֵ ן בְּ ֵﬠי ֶניan die Gottesboten. Im griechischen Text heißt es: ἐπειδὴ εὗρεν ὁ παῖς σου ἔλεος ἐναντίον σου. Als Wiedergabe von חֵ ןerscheint hier also nicht χάρις, sondern ἔλεος. In der Retrospektive erscheint diese Übersetzung als eine Abweichung von der Standardwiedergabe,41 und sicher ist dies der Grund, warum einige Minuskelhandschriften, besonders die aus der b-Gruppe, stattdessen χάρις bieten. Allerdings handelt es sich hier erst um das dritte Vorkommen von חֵ ןim Pentateuch, ein Standardäquivalent, von dem abgewichen werden könnte, ist folglich noch nicht etabliert. Dennoch lässt sich festhalten, dass der Übersetzer eine dezidierte Wortwahl getroffen und damit seinen Ausgangstext ausgelegt hat. Lot blickt an dieser Stelle auf die Bewahrung vor dem Gericht zurück,42 und dass Jahwe Lot aus der dem Untergang geweihten Stadt herausführt, wird vom Übersetzer als „Barmherzigkeit“ (ἔλεος) empfunden. Hier ist inhaltlich nicht so sehr die besondere Gunst, sondern vor allem die Hilfe im Blick, die 38
Vgl. WENHAM, Genesis, 46. Zu Kollokationen und idiomatischen Wendungen vgl. BUSSMANN (Hg.), Lexikon, s.v. Kollokation. 39 Das hebräische Imperfekt wurde hier als Indikativ Aorist wiedergegeben; der Übersetzer hat den Satz demnach nicht als Bitte, sondern als Erklärung des vorangehenden הֶ חֶ יִ תָ נוּverstanden; vgl. WEVERS, Genesis, 802. 40 Hier mit ἐνώπιον statt ἐναντίον. 41 Vgl. WEVERS, Genesis, 277: „unusual rendering“. 42 Vgl. WESTERMANN, Genesis 12–36, 371.
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einem existenziell benachteiligten und vom Tode bedrohten Menschen zuteil wird. Ganz ähnlich sieht es in Num 11,15 aus: Mose leidet unter der Last, die murrenden Israeliten durch die Wüste führen zu müssen. Daher bittet er Jahwe, ihn zu töten, wobei er diese Bitte mit der Formel אתי חֵ ן בְּ ֵﬠי ֶני ִ ָ ִאם־מָ צbekräftigt. Der griechische Text bietet hier: εἰ εὕρηκα ἔλεος παρὰ σοί, was von der hexaplarischen Rezension zu χάρις korrigiert wurde. Doch in der ursprünglichen Septuaginta bittet Mose nicht um „Gunst“; vielmehr lastet die Führung des Volkes derart schwer auf ihm, dass er sich den Tod wünscht und diese Lösung als „Barmherzigkeit“ empfindet.43 Möglichweise hat der Übersetzer auch einen potenziellen Widerspruch zu V.11 wahrgenommen. Dort klagt Mose, dass er keine Gunst ( חֵ ןbzw. χάρις) bei Jahwe hat. Hätte der Übersetzer das Lexem in V.15 ebenfalls mit χάρις übersetzt, dann stünde dort die Aussage εἰ εὕρηκα χάριν παρὰ σοί im Widerspruch zu der Negation διὰ τί οὐχ εὕρηκα χάριν ἐναντίον σου (V.11).44 Festzuhalten bleibt auch hier, dass der Übersetzer seinen Text sorgfältig ausgelegt und seine Wortwahl an dieser Auslegung ausgerichtet hat. Im Folgenden sind weitere auf der Wurzel חנןberuhende Lexeme zu untersuchen. Zunächst ist das Verb חנןim Qal zu nennen, das in der Septuaginta in der Regel mit ἐλεέω wiedergegeben wird (s.o. 2.2.). Das ist zum ersten Mal in Gen 33,5 der Fall. Beim Zusammentreffen von Jakob mit Esau fragt dieser, wer die Frauen und Kinder in Jakobs Gefolge seien. Jakobs Antwort הַ ְילָדִ ים ֲאשֶׁ ר־חָ נַן ֱא הִ ים אֶ ת־ ַﬠבְ ְדּwird übersetzt mit: τὰ παιδία, οἷς ἠλέησεν ὁ θεὸς τὸν παῖδά σου. Der Übersetzer war an dieser Stelle noch völlig frei in der Wortwahl, denn das Standardäquivalent war ja noch nicht etabliert. Er hat sich für das Verb ἐλεέω entschieden, denn offensichtlich sah er in dem, was Gott Jakob geschenkt hat, eine barmherzige Tat. Diese Interpretation wird vom näheren und weiteren Kontext gestützt, denn dort wird beschrieben, wie Jakob fliehen muss, von seinem Schwiegervater ausgenutzt wird und sich schließlich – und erstaunlicherweise – als reicher Mann auf dem Heimweg befindet. Dass die Wortbedeutung von ἐλεέω sich nicht völlig mit der von חנן deckt, wird durch die Neuübersetzungen des 1.Jh. n.Chr. bestätigt. So verwenden Aquila und Symmachus hier das Verb χαρίζομαι bzw. δωρέομαι, um חנןwiederzugeben. Die Wiedergabe von ( חנןQal) mit ἐλεέω ist aufgrund einer Textauslegung durch den ersten Genesis-Übersetzer entstanden, sie begegnet gleich noch einmal in demselben Kontext (Gen 33,11). Außerdem findet sie in Gen 43,29 Verwendung, wo Joseph seinem Bruder Benjamin mit den Worten ֱא הִ ים יָחְ ְנ בְּ ִניGottes Gunst wünscht. Da ἐλεέω bereits zweimal zur Wiedergabe von חנןverwendet wurde, ist es möglich, dass die Überset43
Vgl. ZIEGERT, Diaspora, 150f. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass in V.15 als Präposition nicht wie in V.11 ἐναντίον, sondern παρά gewählt wurde. 44
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zung ὁ θεὸς ἐλεήσαι σε, τέκνον jetzt ein sich langsam etablierendes Standardäquivalent aufnimmt; das gleiche gilt für die Wiedergaben in Ex 33,19 und Num 6,25.45 Das Verb חנןim Hitpael kommt in unserem Korpus nur einmal vor. In Gen 42,21 wird es verwendet, um Josephs Flehen vor seinen Brüdern zu beschreiben. Es wird inhaltlich passend mit καταδέομαι wiedergegeben. Das Adjektiv חַ נּוּןschließlich, dessen Bedeutung gewöhnlich als „gnädig“ angegeben wird, kommt in unserem Korpus nur in Ex 34,6 vor.46 Die griechische Übersetzung ἐλεήμων basiert vermutlich auf der mehrmaligen und alternativlosen Wiedergabe des Verbs ( חנןQal) mit ἐλεέω in Gen 33,5.11; 43,29; Ex 33,19. Die folgende Statistik fasst die Wiedergaben für Lexeme der Wurzel חנן zusammen: Summe
ἔλεος / ἐλεέω
χάρις
חֵ ן
25
2 (8%)
23 (92%)
חנןqal
5
5 (100%)
3.3. חסד Das Substantiv חֶ סֶ דwird zum ersten Mal in Gen 19,19 verwendet. Nachdem Lot aus Sodom herausgeführt wurde, charakterisiert er Gott gegenüber seine Rettung mit den Worten וַתַּ גְ דֵּ ל חַ סְ ְדּ, was in der Übersetzung mit καὶ ἐμεγάλυνας τὴν δικαιοσύνην σου wiedergegeben wird. In demselben Vers hatte der Übersetzer kurz zuvor חֵ ןmit ἔλεος übersetzt (s.o. 3.2.), dieses kommt also zur Wiedergabe von חֶ סֶ דnicht mehr in Frage. Erst später wird sich ἔλεος als Standardäquivalent von חֶ סֶ דentwickeln. Jetzt ist der Übersetzer völlig frei, eine passende Entsprechung für das hebräische Wort zu finden. Dabei hilft ihm eine inhaltlich motivierte Auslegung seiner hebräischen Vorlage. Im Kontext (18,23–33) fragt Abraham Jahwe mehrmals, ob er den Gerechten ( צַ דִּ יק/ δίκαιος) mit dem Frevler zusammen vernichten wolle. Darin, dass er es nicht getan, sondern Lot gerettet hat, zeigt sich für den Übersetzer Gottes δικαιοσύνη. Diese Auslegung ist im Kontext des hellenistischen Judentums nachvollziehbar. Denn dort galt die δικαιοσύνη als eine Tugend, die besonders Gott zugeschrieben wurde, wobei auch die Kollokation von ἔλεος und δικαιοσύνη Verwendung fand.47 Eine ähnliche Auslegung begegnet in Gen 20,13. Im Kontext der „zweiten Gefährdung Sarahs“ bittet Abraham seine Frau darum, sich als seine Schwes45
Num 6,25 ist nicht Teil des hier betrachteten Korpus. Hinzu kommt Ex 22,26 als Teil eines legislativen Textes. 47 Vgl. FIEDLER, Δικαιοσύνη, 121.127.138–141; PRESTEL/SCHORCH, Genesis, 190. 46
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ter auszugeben, was mit den Worten זֶה חַ סְ דֵּ ֲאשֶׁ ר תַּ ﬠ ֲִשׂי ﬠִ מָּ דִ יeingeleitet wird. Die Übersetzung dazu lautet: ταύτην τὴν δικαιοσύνην ποιήσεις ἐπ᾽ ἐμέ. Es ist gut möglich, dass der Übersetzer mit der Wortwahl δικαιοσύνη betonen wollte, dass das von Sarah erwartete Verhalten moralisch korrekt war.48 Ganz entsprechend ist der Übersetzer bei der Wiedergabe von Gen 21,23 vorgegangen. Beim Brunnenstreit verlangt Abimelech von Abraham den folgenden Schwur: יתי ﬠִ ְמּ תַּ ﬠֲשֶׂ ה ﬠִ מָּ דִ י ִ ַכּחֶ סֶ ד ֲאשֶׁ ר־ ָﬠ ִשׂ. Die Übersetzung dieser Passage lautet: κατὰ τὴν δικαιοσύνην ἣν ἐποίησα μετὰ σοῦ ποιήσεις μετ᾽ ἐμοῦ. Auch hier ist es plausibel, dass der Übersetzer den im Text angesprochenen Aspekt der Reziprozität und die damit verbundene moralische Korrektheit betonen wollte. Dies bot sich vielleicht auch deshalb an, weil in demselben Vers bereits das seltene Verb „( שׁקרtäuschen“) verallgemeinernd mit ἀδικέω wiedergegeben wurde. Eine andere Auslegung des Lexems חֶ סֶ דbegegnet in Gen 24,12.14. Im Kontext der Brautsuche für Isaak betet Abrahams Knecht um Gelingen für seine Mission. Zunächst wird die Aufforderung ַוﬠֲשֵׂ ה־חֶ סֶ ד ﬠִ ם ֲא ֹד ִני אַ בְ ָרהָ םmit καὶ ποίησον ἔλεος μετὰ τοῦ κυρίου μου Ἀβραάμ wiedergegeben. Wenn das Mädchen am Brunnen die Kamele des Knechts tränkt, dann weiß er, dass Gott Abraham חֶ סֶ דerwiesen hat. Der Nebensatz כִּ י־ ָﬠ ִשׂיתָ חֶ סֶ ד ﬠִ ם־ ֲא ֹד ִניwird als ὅτι ἐποίησας ἔλεος τῷ κυρίῳ μου Ἀβραάμ wiedergegeben.49 Eine Anlehnung an die vorherigen Wiedergaben von חֶ סֶ דmit δικαιοσύνη erschien dem Übersetzer sicher als unpassend, da es hier um eine von Gott erbetene Handlung geht, während in Gen 19,19 Gott seine δικαιοσύνη „groß gemacht hat“, ohne dass sie zuvor erbeten wurde. Die Wortwahl ἔλεος dagegen betont die Tatsache, dass der Knecht eine demütige Bitte äußert.50 In Gen 24,27 greift der Übersetzer wieder auf seine erste Option der Übersetzung von חֶ סֶ דzurück, nämlich δικαιοσύνη. Abrahams Knecht lobt Jahwe und begründet das mit den Worten: ֲאשֶׁ ר ל ֹא־ ָﬠזַב חַ סְ דּוֹ ַו ֲא ִמ תּוֹ מֵ ﬠִ ם ֲא ֹד ִני. In der Übersetzung heißt es: ὃς οὐκ ἐγκατέλιπεν τὴν δικαιοσύνην καὶ τὴν ἀλήθειαν ἀπὸ τοῦ κυρίου μου. Dass der Knecht Gottes Hilfe erfahren hat, wird als „Gerechtigkeit“ bezeichnet. Es erscheint plausibel, dass der Übersetzer hier auf den Bund Gottes mit Abraham anspielen will. Implizit wird damit ausgedrückt, dass Gott diesen Bund, der eine große Nachkommenschaft beinhaltet (Gen 12,2; 15,5), halten wird. Als Wiedergabe von ֱאמֶ ת, das hier erstmalig auftritt, dient ἀλήθεια (siehe dazu 3.4.). Bei der Übersetzung von Gen 24,49 wird dagegen wieder ἔλεος zur Wiedergabe von חֶ סֶ דverwendet. Abrahams Knecht fordert Rebekkas Familie auf, 48
Vgl. PRESTEL/SCHORCH, Genesis, 192. Der Eigenname ist ein Plus der LXX, sicher ein harmonisierender Zusatz aus V.12; vgl. PRESTEL/SCHORCH, Genesis, 198. 50 Vgl. PRESTEL/SCHORCH, Genesis, 198. Vgl. auch den Zusatz καὶ ἐν τούτῳ γνώσομαι ὅτι πεποίηκας ἔλεος τῷ κυρίῳ μου Ἀβραάμ in V.44. 49
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ihm ihre Tochter als Braut für Isaak anzuvertrauen. Er leitet diese Aufforderung mit den folgenden Worten ein: וְ ַﬠ תָּ ה ִאם־י ְֶשׁכֶם עֹ ִשׂים חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ ת אֶ ת־ ֲא ֹד ִני. In der Übersetzung wird dies mit εἰ οὖν ποιεῖτε ὑμεῖς ἔλεος καὶ δικαιοσύνην πρὸς τὸν κύριόν μου wiedergegeben. Nachdem der Übersetzer bereits zweimal ֱאמֶ תmit ἀλήθεια wiedergegeben hat, um das Verhalten Gottes zu charakterisieren (Gen 24,27.48; s.u. 3.4.), scheint ihm dieses Lexem nicht passend, um das von Rebekkas Familie erwartete Verhalten zu beschreiben. Er wählt stattdessen δικαιοσύνη und drückt damit aus, dass er die Verheiratung Rebekkas als Verpflichtung gegenüber Abraham sieht. Zur Wiedergabe von חֶ סֶ ד, das in der Genesis bereits dreimal mit δικαιοσύνη wiedergegeben wurde (20,13; 21,23; 24,27), muss jetzt ein anderes Äquivalent gefunden werden, und hier bietet sich das schon zweimal verwendete ἔλεος (24,12.14) an. Auch wenn „Barmherzigkeit“ über die Wortbedeutung „Güte“ im Ausgangstext hinausgeht, lässt das Lexem dennoch eine kohärente Interpretation des griechischen Textes zu: Abrahams Knecht mildert durch die Verwendung dieses Wortes den durch δικαιοσύνη ausgedrückten Anspruch an Rebekkas Familie diplomatisch ab. In Gen 32,10 (MT: 32,11) bekennt Jakob in einem Gebet: קָ ֹט ְנ ִתּי ִמ ֹכּל הַ חֲסָ דִ ים וּמכָּל־הָ ֱאמֶ ת ֲאשֶׁ ר ָﬠ ִשׂיתָ אֶ ת־ ַﬠבְ ְדּ ִ . Die Übersetzung ἱκανοῦταί μοι ἀπὸ πάσης δικαιοσύνης καὶ ἀπὸ πάσης ἀληθείας ἧς ἐποίησας τῷ παιδί σου entspricht bezüglich der untersuchten Lexeme der von Gen 24,27, weist aber im Detail einige Eigenheiten auf. 51 Als Entsprechungen für חֶ סֶ דund ֱאמֶ תdienen wieder δικαιοσύνη und ἀλήθεια, beides bezieht sich auf den unerwarteten Wohlstand Jakobs. Eine Wiedergabe in Anlehnung an Gen 24,27 bietet sich an, da hier wie dort – und anders als in Gen 24,49 – Gott der Agens ist, der Jakob gegenüber seinem Schwiegervater Laban Recht verschafft hat. Aquila hat nicht δικαιοσύνη, sondern ἔλεος, das spätere Standardäquivalent von חֶ סֶ ד, verwendet. In Gen 39,21 wird beschrieben, dass Gott Joseph חֶ סֶ דerweist.52 Die Formulierung ַויֵּט אֵ לָיו חֶ סֶ דwird hier mit καὶ κατέχεεν αὐτοῦ ἔλεος übersetzt. Der Übersetzer hat inzwischen zwei Entsprechungen für das hebräische Lexem zur Auswahl, die Entscheidung für ἔλεος ist dem Inhalt angemessen. Die Alternative δικαιοσύνη wäre möglich gewesen, wenn das Lexem sich auf die Befreiung aus dem Gefängnis bezöge, was in diesem Kontext jedoch nicht der Fall ist. Hier besteht Gottes חֶ סֶ דbzw. ἔλεος gerade darin, dass Joseph das Wohlwollen des Gefängnisaufsehers findet. Daher ist ἔλεος hier eine bessere 51
Das Verb קטןmit ִמןhat hier die übertragene Bedeutung „unwürdig sein“, was mit ἱκανοῦταί μοι („es ist genug für mich“) umschrieben wird. Ob diese freie Wiedergabe auf Schwierigkeiten des Übersetzers zurückgeht (so WEVERS, Genesis, 533), lässt sich schwer entscheiden. Eine weitere Auffälligkeit liegt in der Wiedergabe des Plurals חֲסָ דִ יםals Singular. 52 Außerdem lässt er ihn חֵ ן/ χάρις bei dem Gefängnisaufseher finden; s.o. 3.2.
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Lösung als δικαιοσύνη. Eine entsprechende Übersetzung finden wir in Gen 40,14, wo die Bitte Josephs an den Mundschenk beschrieben wird, sich beim Pharao für ihn einzusetzen. In der Formulierung וְ ָﬠ ִשׂיתָ ־נָּא ﬠִ מָּ דִ י חֶ סֶ ד, die mit καὶ ποιήσεις ἐν ἐμοὶ ἔλεος übersetzt wird, ist ein griechisches Lexem mit der Grundbedeutung „Erbarmen“ durchaus angemessen. Dasselbe gilt für die Bitte Jakobs an Joseph, ihn nicht in Ägypten zu begraben (Gen 47,29), wo allerdings nicht ἔλεος, sondern das dazu (partiell) synonyme53 ἐλεημοσύνη verwendet wird.54 Dieses enthält etwas stärker noch als ἔλεος die Bedeutungskomponente der helfenden Tat, was allerdings grundsätzlich dadurch abgeschwächt wird, dass ἔλεος mit dem Verb ποιέω verwendet werden kann.55 Die Stellen im Exodus- und im Numeribuch liefern keine neuen Erkenntnisse, sie zeigen vielmehr, dass sowohl ἔλεος als auch δικαιοσύνη durch ihre Verwendung in der griechischen Genesis als mögliche Entsprechungen von חֶ סֶ דakzeptiert sind. In Ex 15,13 und 20,656 wird חֶ סֶ דmit δικαιοσύνη57 bzw. ἔλεος übersetzt. In Ex 34,6 und der Parallelstelle Num 14,18 wird die Constructus-Verbindung ַרב־חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ תdurch die beiden koordinierten Adjektive πολυέλεος καὶ ἀληθινός wiedergegeben.58 Das Lexem πολυέλεος tritt nur in der Septuaginta auf, es handelt sich wahrscheinlich um einen Neologismus. 59 In Num 14,19 wird im Kontext einer Bitte um Gottes Vergebung חֶ סֶ דmit ἔλεος wiedergegeben. In Ex 34,7 schließlich wurde ֹנצֵ ר חֶ סֶ דerweiternd mit καὶ δικαιοσύνην διατηρῶν καὶ ποιῶν ἔλεος übersetzt. Hier wird deutlich, dass nach der Auslegung des Übersetzers sowohl δικαιοσύνη als auch ἔλεος in diesem Kontext passende Entsprechungen für חֶ סֶ דdarstellen.60 Die durch die doppelte Wiedergabe von חֶ סֶ דentstandene Kollokation aus ἔλεος und δικαιοσύνη wurde im hellenistischen Judentum häufig verwendet.61 53 Totale Synonymie, also Ersetzbarkeit eines Lexems durch ein anderes in allen Kontexten und ohne Verlust spezieller Konnotationen, ist selten; vgl. BUSSMANN (Hg.), Lexikon, s.v. Synonymie. 54 Im Pentateuch erscheint dieses Lexem sonst nur in Dtn 6,25; 24,13 zur Wiedergabe von ;צְ דָ ָקהvgl. WEVERS, Genesis, 805. 55 Vgl. LIDDELL/SCOTT/JONES, Lexicon, s.v. ἔλεος. 56 Aufgrund ihrer Gattungen als poetischer bzw. legislativer Text gehören diese Stellen nicht zu unserem Textkorpus. 57 Aquila übersetzt mit ἔλεος. 58 Im MT von Num 14,18 fehlt ֶו ֱאמֶ ת. Die Vorlage des Übersetzers entsprach hier wahrscheinlich dem präsamaritanischen Texttyp, der dieses Wort bezeugt; denkbar wäre allerdings auch eine Harmonisierung des Textes mit Ex 34,6 sowohl durch hebräische Textzeugen als auch durch den Übersetzer; vgl. noch WEVERS, Numbers, 220. 59 Vgl. LIDDELL/SCOTT/JONES, Lexicon, s.v. πολυέλεος. 60 Vgl. WEVERS, Exodus, 557. Da ἔλεος gelegentlich auch als Wiedergabe für חֵ ןauftritt (s.o. 3.2.), ist zwar eine Vorlage, die נצר חסד ועשׂה חןbietet, denkbar, doch kommt חֵ ןin der Hebräischen Bibel sonst nie als Objekt von עשׂהvor. 61 S.o. 3.2. sowie FIEDLER, Δικαιοσύνη, 138–141.
Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Pentateuch-Übersetzer das Lexem חֶ סֶ דje nach Kontext mal mit δικαιοσύνη, mal mit ἔλεος wiedergegeben haben. Beide griechischen Lexeme konnten sowohl für einen göttlichen als auch für einen menschlichen Agens verwendet werden, wie die folgende Tabelle zeigt: Agens
δικαισύνη
ἔλεος (ἐλεημοσύνη, πολυέλεος)
Gott
Gen 19,19; 24,27; 32,11; Ex 34,7
Gen 24,12.14; 39,21; Ex 34,6.7; Num 14,18.19
Mensch
Gen 20,13; 21,23
Gen 24,49; 40,14; 47,29
Die Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichen Agens war also kein Kriterium für die Wahl des passenden Lexems. Stattdessen mussten die Übersetzer ihren Ausgangstext sorgfältig auslegen, um passende Entsprechungen zu finden. Erst bei späteren Übersetzungen hat sich ἔλεος als Standardäquivalent für das schwer zu übersetzende ( חֶ סֶ דs.o. 2.3.) durchgesetzt. Eine statistische Auswertung der Wiedergaben von חֶ סֶ דliefert die folgenden Zahlen:
חֶ סֶ ד
Summe
δικαιοσύνη
ἔλεος / ἐλεημοσύνη
15
6 (40%)
9 (60%)
Die verschiedenartige Wiedergabe des hebräischen Lexems zeigt deutlich, dass sich bei der Übersetzung des Pentateuch noch kein Standardäquivalent für חֶ סֶ דherausgebildet hatte. Offensichtlich stellte dieses semantisch schwer fassbare Lexem eine Herausforderung für die Übersetzer dar, die es je nach ihrer schriftgelehrten Auslegung des gerade aktuellen Kontextes mal mit δικαιοσύνη, mal mit ἔλεος wiedergaben. 3.4. אמן Das Verb אמןim Hifil wird im Pentateuch durchgängig mit πιστεύω wiedergegeben, was auch außerhalb des Pentateuch das Standardäquivalent ist. Diese Wiedergabe bietet sich an, da beide Lexeme die Bedeutung „glauben, vertrauen“ haben: Jakob glaubt seinen Söhnen (Gen 45,26), Abraham vertraut Gott (Gen 15,6), die Israeliten vertrauen Mose (Ex 4,1.5.8.9.31; 19,9), und die Israeliten bzw. Mose und Aaron vertrauen Gott (Ex 14,31; Num 14,11; 20,12).
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Diesem Befund entspricht, dass das Nifal des Verbs, das nur zweimal im Pentateuch verwendet wird, in Gen 42,20 mit einer Passivform von πιστεύω übersetzt werden kann. In Num 12,7 ist für das hebräische Verb in dem Satz יתי ֶנ ֱאמָ ן הוּא ִ ֵ בְּ ָכ ל־בּdie Bedeutung „treu, zuverlässig sein“, aber auch „(mit einer Aufgabe) betraut sein“ möglich.62 Der hebräische Text legt wohl aufgrund der ähnlichen Formulierung in 1Sam 3,20 die zweite Bedeutung nahe,63 der Übersetzer hat allerdings die andere Möglichkeit vorausgesetzt und das Adjektiv πιστός gewählt. Das Substantiv ֱאמוּנָהkommt nur einmal im Pentateuch vor. In Ex 17,12 hat der Übersetzer den Satz ַו ְיהִ י יָדָ יו ֱאמוּנָהnicht wörtlich-stereotyp, sondern sinngemäß mit καὶ ἐγένοντο αἱ χεῖρες Μωυσῆ ἐστηριγμέναι wiedergegeben. Interessanter ist die Übersetzung des Substantivs ֱאמֶ תim Genesis- und Exodusbuch. Es wird auf verschiedene Art übersetzt. Das Lexem tritt erstmalig in Gen 24,27 auf, hier sagt Abrahams Knecht über Gott Folgendes: ֲאשֶׁ ר ל ֹא־ ָﬠזַב חַ סְ דּוֹ ַו ֲא ִמ תּוֹ מֵ ﬠִ ם ֲא ֹד ִני. In der Übersetzung heißt es: ὃς οὐκ ἐγκατέλιπεν τὴν δικαιοσύνην καὶ τὴν ἀλήθειαν ἀπὸ τοῦ κυρίου μου. Die Wiedergabe mit ἀλήθεια (hier: „Treue, Zuverlässigkeit“) ist eine passende Übersetzung. Ganz entsprechend hat der Übersetzer das hebräische Lexem in Gen 32,10 (MT: 32,11) wiedergegeben, wo Gottes Zuverlässigkeit gegenüber Jakob beschrieben wird.64 Auch in Gen 47,29, wo Jakob seinen Sohn Joseph mit den Worten וְ ָﬠ ִשׂיתָ ﬠִ מָּ דִ י חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ תdarum bittet, an ihm „Güte und Treue“ zu üben, wird das Substantiv als ἀλήθεια übersetzt.65 Dass Jahwe Abrahams Knecht „auf rechtem Weg“ geführt hat ()בְּ דֶּ ֶר ֱאמֶ ת, wird ebenfalls mit diesem griechischen Lexem wiedergegeben (ἐν ὁδῷ ἀληθείας). Diesen Wiedergaben entsprechen unter semantischem Blickwinkel die Übersetzungen des Lexems an zwei weiteren Stellen: In Gen 42,16 will Joseph die Worte seiner Brüder prüfen, was er mit den Worten וְ ִיבָּ חֲנוּ דִּ בְ ֵריכֶם הַ ֱאמֶ ת ִא ְתּכֶםankündigt. Die idiomatische Übersetzung lautet hier: ἕως τοῦ φανερὰ γενέσθαι τὰ ῥήματα ὑμῶν, εἰ ἀληθεύετε ἢ οὔ, verwendet also weiterhin den Stamm ἀληθ-, diesmal allerdings als Verb. Ein Adjektiv desselben Stamms wird in Ex 34,6 und der Parallelstelle Num 14,18 verwendet, wo die Constructus-Verbindung ַרב־חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ תmit πολυέλεος καὶ ἀληθινός wiedergegeben wird (s.o. 3.3.). Entgegen dieser sich etablierenden Standardwiedergabe von ֱאמֶ תmit ἀλήθεια oder stammverwandten Lexemen anderer Wortart finden wir im Pentateuch zwei Übersetzungen von ֱאמֶ ת, die auf eine Auslegung durch den jeweiligen Übersetzer schließen lassen. Da ist zunächst Ex 18,21 zu nennen, wo die von Mose einzusetzenden Rechtspfleger als אַ ְנשֵׁ י ֱאמֶ תbezeichnet werden, was mit ἄνδρας δικαίους übersetzt wird. Da diese Personen Vorteilsnahme 62
Vgl. GESENIUS, Handwörterbuch, s.v. אמן. Zur Diskussion vgl. SEEBASS, Numeri, 60. 64 An beiden Stellen wird außerdem חֶ סֶ דmit δικαιοσύνη wiedergegeben (s.o. 3.3.). 65 Die griechische Entsprechung für חֶ סֶ דist hier ἐλεημοσύνη (s.o. 3.3.). 63
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(שׂ ְנאֵ י בֶ צַ ע ֹ ) bzw. Stolz (μισοῦντας ὑπερηφανίαν)66 ablehnen sollen, ist die erwartete Charaktereigenschaft nicht so sehr „Treue“ oder „Zuverlässigkeit“, sondern vielmehr „Gerechtigkeit“, woraus sich die Wiedergabe durch das Adjektiv δίκαιος erklären lässt. In Gen 24,49 erwartet Abrahams Knecht von Rebekkas Familie, dass sie חֶ סֶ ד ֶו ֱאמֶ תan Abraham tun, indem sie Rebekka mit Isaak verheiraten. In der Übersetzung wird diese Kollokation mit ἔλεος καὶ δικαιοσύνην wiedergegeben (s.o. 3.3.). Das von Rebekkas Familie erwartete Verhalten wird hier als rechtliche Verpflichtung Abraham gegenüber gesehen. Interessant ist ein Vergleich mit Gen 24,27. Während dort חֶ סֶ דmit δικαιοσύνη und ֱאמֶ תmit ἀλήθεια übersetzt wurde, wird hier חֶ סֶ דmit ἔλεος und ֱאמֶ תmit δικαιοσύνη wiedergegeben. Obwohl es sich um denselben Kontext handelt, hat der Übersetzer jeweils unterschiedliche griechische Entsprechungen für die beiden Kernlexeme חֶ סֶ דund ֱאמֶ תgewählt. Der Grund dafür wird in einer fein differenzierenden Auslegung des Textes liegen. Dabei wollte der Übersetzer jeweils besondere Aspekte betonen, und zwar einerseits Gottes zuverlässiges Festhalten an seinem Bund mit Abraham (Gen 24,27: δικαιοσύνη und ἀλήθεια), andererseits das Abraham freundlich zugewandte und gleichzeitig angesichts der Bundesverheißung rechtmäßige Verhalten von Rebekkas Familie (Gen 24,49: ἔλεος und δικαιοσύνη). Die folgende Statistik fasst die Wiedergaben für Lexeme der Wurzel אמן zusammen: Summe ἀλήθεια / ἀληθεύω / δικαιοσύνη / δίκαιος ἀληθινός ֱאמֶ ת
8
אמןnif./hif.
13
6 (75%)
πιστεύω / πιστός
2 (25%) 13 (100%)
3.5. Kollokationen Da die zu untersuchenden hebräischen Lexeme gemeinsam auftreten können, sind auch Kollokationen, also gemeinsame Verwendungen in demselben Kontext, kurz zu betrachten. Die folgende Tabelle fasst die Kollokationen der untersuchten Lexeme im Pentateuch zusammen. Dabei handelt es sich bei den Belegen aus dem Genesisbuch durchgängig um Substantive, während bei den Vorkommen im Exodusbuch auch verbale und adjektivische Lexeme verwendet werden. Um mögliche Regelmäßigkeiten auszuwerten, wird auch der jeweilige Agens, also diejenige Person, der die durch die Lexeme ausgedrückten Handlungen oder Eigenschaften zugesprochen werden, angegeben. 66 Die Wiedergabe von בֶּ צַ עmit ὑπερηφανία ist generalisierend und wurde von den späteren Revisionen zu πλεονεξία geändert; vgl. WEVERS, Exodus, 287.
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Carsten Ziegert רחם
Gen 19,19
חנן
חסד
ἔλεος
δικαιοσύνη
אמת
Agens Gott
Gen 24,27
δικαιοσύνη
ἀλήθεια
Gott
Gen 24,49
ἔλεος
δικαιοσύνη
Rebekkas Familie
Gen 32,10
δικαιοσύνη
ἀλήθεια
Gott
Gen 39,21
χάρις
ἔλεος
Gen 47,29
χάρις
ἐλεημοσύνη
Ex 33,19
οἰκτείρω
ἐλεέω
Ex 34,6
οἰκτίρμων
ἐλεήμων
Aufseher ()חֵ ן,67 Gott ()חֶ סֶ ד ἀλήθεια
Joseph Gott
πολυέλεος
ἀληθινός
Gott
Die Zusammenstellung macht deutlich, dass auch innerhalb von Kollokationen die jeweils verwendete Übersetzungsentsprechung wechseln kann. Auffällig ist die in der Übersetzung entstandene Kollokation aus δικαιοσύνη und ἀλήθεια, die nur auf Gott bezogen ist (Gen 24,27; 32,10 [MT: 32,11]). Die Kollokation aus ἔλεος und δικαιοσύνη dagegen, die einem hellenistischen Tugendideal entspricht, wird sowohl auf Gott (Gen 19,19) als auch auf Menschen bezogen (Gen 24,49).68 3.6. Zusammenfassung Die Zusammenstellung der hebräischen Lexeme und ihrer griechischen Standardäquivalente in Abschnitt 2. hat gezeigt, dass zwischen einigen dieser Lexeme Bedeutungsüberschneidungen vorliegen. Dadurch wurde ihre Übersetzung maßgeblich erschwert. Die Übersetzer mussten in den verschiedenen Kontexten diejenige griechische Entsprechung wählen, die ihnen an der betreffenden Stelle am passendsten erschien. Dabei kristallisierten sich bereits im Pentateuch einzelne griechische Entsprechungen heraus, die zur Wiedergabe der hebräischen Lexeme geeigneter waren als andere. Fast immer liegt bei der Wiedergabe eines hebräischen Lexems eine gewisse Variationsbreite in der Auswahl der griechischen Entsprechungen vor. Die Übersetzer haben sich nach der ersten Übersetzung eines Lexems nicht einfach an diese Wiedergabe angelehnt, sondern auch bei den folgenden Vorkommen passende Übersetzungsentsprechungen gesucht. Die folgende Tabelle zeigt das Spektrum der im Pentateuch verwendeten griechischen Entsprechungen für die hebräischen Lexeme. Da die Wurzel רחםin unserem Korpus 67
Das Pronominalsuffix in dem Ausdruck וַיִּ תֵּ ן חִ נּוֹwird sich auf Joseph als den Empfänger von חֵ ןbeziehen; vgl. JOÜON/MURAOKA, Grammar, §129h. 68 Vgl. FIEDLER, Δικαιοσύνη, 138–141.
Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue
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nur dreimal vorkommt – und dies in Lexemen dreier Wortklassen –, wird auf eine statistische Auswertung in diesem Fall verzichtet. Ein Verzicht ist ebenfalls sinnvoll für spärlich bezeugte Lexeme anderer Wurzeln wie das Adjektiv חַ נּוּן, das Verb חנןim Hitpael und das Substantiv ֱאמוּנָה: Summe
ἀλήθεια ἀληθεύω ἀληθινός
δικαιοσύνη ἔλεος δίκαιος ἐλεημοσύνη ἐλεέω
חֵ ן
25
2 (8%)
חנןqal
5
5 (100%)
חֶ סֶ ד
15
ֱאמֶ ת
8
אמןnif./hif.
13
6 (40%) 6 (75%)
πιστεύω πιστός
χάρις
23 (92%)
9 (60%)
2 (25%) 13 (100%)
Die Tabelle macht Folgendes deutlich: 1.) Bei einigen hebräischen Lexemen zeigt sich eine einheitliche Übersetzung. Die Verben חנןim Qal sowie אמןim Nifal bzw. Hifil weisen offenbar eine hohe semantische Übereinstimmung mit ihren griechischen Entsprechungen auf. Auslegungsprozesse im Rahmen der Übersetzung sind in eingeschränktem Maß zu erwarten. 2.) Die Substantive חֵ ןund ֱאמֶ תweisen eine hohe Rate von Wiedergaben durch ihr späteres Standardäquivalent auf (92% bzw. 75%). Hier sind einerseits die jeweils zwei Abweichungen von diesem sich etablierenden Muster bedeutsam, andererseits auch – zumindest teilweise – die mehrheitlichen Wiedergaben, da auch hier die griechische Entsprechung von einer schriftgelehrten Auslegung des Textes abhängt. 3.) Besonders interessant ist das Substantiv חֶ סֶ ד, für das sich im Pentateuch noch kein Standardäquivalent abzeichnet. Das hier zu beobachtende Phänomen ist konträr zu der einheitlichen Wiedergabe von ( חנןqal) und אמן (nif., hif.). Die Ausführungen in Abschnitt 3.3. haben gezeigt, dass bei nahezu jedem Vorkommen von חֶ סֶ דdie griechische Wiedergabe durch sorgfältige Textauslegung, die durchaus eigene Akzente setzen konnte, gewonnen wurde. Die uneinheitliche Übersetzung von Lexemen wie ֱאמֶ ת, חֵ ןund vor allem חֶ סֶ ד wirft zudem die Frage auf, ob unsere Vorstellung über den semantischen Gehalt dieser Lexeme ausreichend ist. Dies ist jedoch eine Frage, die speziellen lexikographischen Studien vorbehalten bleiben muss.
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Carsten Ziegert
4. Folgerungen Zusammenfassend lässt sich zunächst festhalten, dass textgeleitete Auslegungsprozesse bei der Übersetzung des Pentateuch nicht nur möglich, sondern auch notwendig waren. Diese fanden nicht nur auf der Ebene des Satzes oder der Perikope statt, sondern durchaus bereits auf Wortebene, und zwar in beständiger Abhängigkeit vom aktuellen Kontext. Die vorliegende Studie bestärkt damit die Plausibilität der vor 20 Jahren von Arie van der Kooij aufgestellten These, dass sich die Tätigkeit der Septuaginta-Übersetzer mit der von „Schriftgelehrten“ vergleichen lasse.69 Dieses Ergebnis lässt gleichzeitig das in Abschnitt 1.1. erwähnte „Interlinearitäts-Paradigma“ weniger plausibel erscheinen. Dort betrachtet man die griechischen Übersetzungen lediglich als Hilfsmittel zum Verständnis des jeweiligen hebräischen Prätextes. Die in Abschnitt 3. beschriebenen Auslegungsprozesse machen dagegen deutlich, dass die Pentateuch-Übersetzer einerseits den Text verstehen, andererseits den Rezipienten das Verständnis des Textes ermöglichen wollten. Theologisch bedeutsame Lexeme wie etwa חֶ סֶ דwurden nicht stereotyp übersetzt, speziell bei diesem Lexem ist auch noch keine klare Tendenz zu einem späteren Standardäquivalent deutlich. Die Übersetzung sollte für ihre Rezipienten möglichst verständlich sein und somit den hebräischen Prätext, der von der Mehrzahl der Rezipienten ohnehin nicht verstanden wurde, ersetzen. Auf der anderen Seite ergibt sich aus den beschriebenen Auslegungsprozessen eine weitere Eigenschaft der Pentateuch-Übersetzungen, die zu dem eben genannten Anliegen komplementär ist. Für schriftgelehrte Rezipienten, die des Hebräischen mächtig waren, enthält der griechische Pentateuch eine implizite Kommentarfunktion. Wer den hebräischen Prätext kannte, wird den Wechsel bei der Wiedergabe bestimmter hebräischer Lexeme zur Kenntnis genommen haben. Für solche Rezipienten erklärt der griechische Text den hebräischen Prätext. Durch die spezielle griechische Wortwahl an einer bestimmten Stelle hat der jeweilige Übersetzer ausgedrückt, wie er gewisse theologische Kernlexeme in diesem Kontext verstand. Nach Jan Assmann ist es gerade der „kanonische“ Text, der – über den „heiligen“ Text hinausgehend – weniger eine korrekte Rezitation als vielmehr eine Deutung verlangt.70 Kommentierung ist ein Kennzeichen kanonischer Texte. Während eine streng interlineare Übersetzung das Anliegen der exakten Rezitation eines heiligen Textes bedient hätte, zeigen die hier dargestellten Auslegungsprozesse, dass die hebräische Tora für ihre Übersetzer kommentierungswürdig war. Zumindest für den Pentateuch lässt sich aufgrund der Eigenschaften der griechischen Übersetzungen für das 3.Jh. v.Chr. ein 69 70
Vgl. VAN DER KOOIJ, Perspectives; vgl. auch VAN DER KOOIJ, Exegese. Vgl. ASSMANN, Gedächtnis, 93–97.
Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue
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kanonischer Status postulieren, und zwar unabhängig von der Vielfalt der hebräischen Textfassungen und gleichermaßen unabhängig von der Frage nach dem späteren Kanon der hebräischen Bibel und seinen Grenzen. Gehen wir von der kommentierenden Funktion, die die Übersetzungen für schriftgelehrte Rezipienten hatte, noch einmal zurück zu ihrer Funktion für Rezipienten ohne Hebräischkenntnisse. Das oben genannte Anliegen, den (mehrheitlich nicht verstandenen) hebräischen Text durch den griechischen Text zu ersetzen, hat sich in den nächsten Jahrhunderten verselbständigt. Der sogenannte Aristeasbrief, wohl im späten 2.Jh. v.Chr. entstanden, weist der Übersetzung kanonischen Status zu, indem er unter Fluchandrohung verbietet, irgendetwas hinzuzufügen, zu ändern oder wegzunehmen, damit die Übersetzung für immer unverändert bestehen bleibt (§310f.). Und für Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. bis 45 n.Chr.) ist die Septuaginta-Übersetzung genauso göttlich inspiriert wie das hebräische Original, was sich für ihn in einer – angeblichen – semantischen Eins-zu-eins-Entsprechung der hebräischen und griechischen Lexeme zeigt (De Vita Mosis II 34–39).71 Wie wir gesehen haben, spricht bereits die komplexe Semantik theologischer Kernlexeme, die sich nicht ohne Mühe auf Griechisch ausdrücken lässt, gegen Philos Annahme. Dass die Pentateuch-Übersetzer nicht so sehr als Propheten wirkten, wie Philo meint, sondern vielmehr als schriftgelehrte Ausleger, hat die vorliegende Studie ebenfalls gezeigt.
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Moses Geburt und ihr literarisches Nachleben Die innerbiblische Rezeptionsgeschichte von Ex 2,1–10 in Ex 1 und Gen 6–9 Konrad Schmid 1. Ex 2,1–10 im Exodusbuch und im Pentateuch Es steht außer Frage, dass das Exodusbuch in komplexer Weise und über einen langen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten hinweg auf seine jetzt vorliegenden Überlieferungsgestalten, wie sie in den unterschiedlichen Versionen bezeugt sind,1 angewachsen ist.2 Bei seiner Entstehung ist mit der Einarbeitung von quellenhaftem Material zu rechnen, aber auch mit unselbständigen Fortschreibungen und Redaktionen.3 Der folgende Beitrag wird sich vor allem mit Exodus 1–2 befassen. Die auffällige thematische Überschneidung, wonach alle hebräischen Knaben zum Zweck ihrer Tötung in den Nil geworfen werden sollen (Ex 1,22), während das Kind Mose – nun aber als Rettungsmaßnahme – in ebendiesem Nil ausgesetzt wird (Ex 2,3), kann als Resultat eines Fortschreibungsprozesses verstanden werden, in dem die Gefährdung des Moseknaben sekundär auf die Gefährdung des Volkes übertragen worden ist.4 Diese Hypothese ist nicht neu, doch sie soll vor allem auf die treibenden Faktoren und ihre redaktionsgeschichtliche Logik hin befragt werden. Zudem lassen sich sowohl innerhalb von Ex 2,1–10 als auch von Ex 1,15–22 weitere 1
Vgl. zur LXX GURTNER, Exodus; zu den Varianten in Exodus 35–40 vgl. bereits POPBericht. Vgl. auch WADE, Consistency. 2 Vgl. die Beiträge in DOZEMAN u.a. (Hg.), Book; vgl. auch DERS., Methods. Ob sich dieses Wachstum kleinräumig abgespielt hat und so detailliert rekonstruieren lässt, wie dies nach BERNER, Exoduserzählung der Fall sein soll, steht zu bezweifeln; vgl. dazu SCHMID, Rez. Berner. 3 Auch wenn die alttestamentliche Wissenschaft keine klare terminologische Unterscheidung zwischen „Fortschreibung“ und „Redaktion“ kennt, so lässt sich – so der hier verfolgte Vorschlag – der erste Begriff mit Vorteil eher auf kleinräumige, der zweite eher auf großräumige textliche Ergänzungsprozesse anwenden. 4 So schon MEYER, Israeliten, 48; GRESSMANN, Mose, 1–16 und LEVIN, Jahwist, 321: „Anders als meist vermutet wird, ist V.22 nicht Voraussetzung für 2,1–10, vielmehr aus der Aussetzung des Mose erschlossen“. PER,
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kleinräumige Erweiterungen feststellen – die sogenannte Hebammenepisode sowie die Einführung der Schwester des Mose –, die ebenfalls für das Thema dieses Bandes von Bedeutung sind. Ein weiterer Abschnitt wird die Rezeption der Erzählung von der Geburt des Mose in der Fluterzählung (Gen 6–9) thematisieren. Sie weist sich als fortschreibungsgeschichtlich relevant aus, da sie einerseits den Vorstellungszusammenhang der Rettung der Repräsentanten der Menschheit in einem Schwimmkörper aufnimmt, andererseits diesen Schwimmkörper als תבה „Kasten“ beschreibt (Ex 2 und Gen 6–9). Die hier angedeutete Abhängigkeitsrichtung – die Fluterzählung ist von der Geschichte des Aussetzung des Mose abhängig – wird noch eigens zu begründen sein.
2. Der Prototyp: Ex 2,1–10 als Beginn einer ursprünglich selbständigen Mose-Exodus-Erzählung Zu Ex 2,1–10 im Kontext von Ex 1–2 wird im Folgenden eine diachrone Hypothese vertreten, die in der alttestamentlichen Wissenschaft zwar nicht durchwegs abgelehnt wird, aber auch nicht unumstritten ist.5 Sie soll deshalb zunächst erläutert und begründet werden. Die Geschichte von der Geburt des Mose in Ex 2,1–10 existierte zunächst unabhängig von der im jetzigen Erzählzusammenhang gebotenen Einleitung durch den Genozidbefehl Pharaos gegen alle männlichen Knaben der Israeliten (Ex 1,22)6 und bildete den Auftakt einer ursprünglich selbständigen Mose-Exodus-Erzählung.7 Folgende Argumente sprechen für diese Annahme: 5
Sie steht im Zusammenhang der in der neueren Pentateuchforschung diskutierten, grundsätzlichen literarischen Scheidung von Erzeltern- und Exodusüberlieferung; vgl. dazu im Überblick RÖMER, Urkunden; DERS., Entstehung; NIHAN/RÖMER, Entstehung; ARTUS, Pentateuch-Gesetze; KRATZ, Analysis; GERTZ, Formation; DOZEMAN, Pentateuch; ANDERSON, Introduction. 6 Vgl. z.B. LEVIN, Jahwist, 317f.; SCHMID, Erzväter; KRATZ, Komposition, 288; OTTO, Geburt; BERNER, Exoduserzählung, 49f. Anders etwa GERTZ, Tradition, 374f. (s.u. Anm. 19); BLUM, Verbindung, 146f.; GERHARDS, Tochter; DERS., Aussetzungsgeschichte; ALBERTZ, Exodus, 19–21; UTZSCHNEIDER/OSWALD, Exodus, 44–46. Neben den zu diskutierenden mikroexegetischen Beobachtungen in Ex 1–2, die für einen ursprünglichen Erzählanfang in Ex 2,1 sprechen, handeln sich jedenfalls Gertz und Blum das makroexegetische Problem ein, dass sie für die auch von ihnen als literarisch selbständig angenommene Mose-Exodus-Erzählung keinen literarischen Anfang benennen können – er befinde sich in Ex 1, sein Kopfstück sei aber weggebrochen. 7 LEVIN, Jahwist, 329.392 und GERTZ, Tradition, 347 rechnen damit, dass der ursprüngliche Erzählfaden nach Ex 4 abbricht. Zum konkreten Vorschlag von Kratz (vgl. KRATZ, Komposition, 129f.208–210.215.220f.; DERS., Israel, 13 Anm. 45; DERS., Hexateuch, 316– 323), jetzt ausgearbeitet von GERMANY, Narrative, einer von Ex 2 bis Jos 12 reichenden Exoduserzählung vgl. BLUM, Pentateuch, 386–390.
Moses Geburt und ihr literarisches Nachleben
161
1.) Die Aussetzung des Mose im Nil scheint im Binnenkontext von Ex 2,1–10 nicht durch den Genozidbefehl Pharaos motiviert zu sein, sondern durch den Umstand, dass das Kind einer illegitimen Beziehung seiner namenlosen Eltern entstammt (Ex 2,1).8 2.) Die Namenlosigkeit der Eltern ist sonst ein blindes Motiv in der Erzählung. Dass sie für die Überlieferung ein zu behebendes Problem darstellte, zeigt die Rezeption von Ex 2,1 in Ex 6,20 („P“): ויקח עמרם את־יוכבד דדתו לו „ לאשׁה ותלד לו את־אהרן ואת־משׁהUnd Amram nahm Jochebed, seine Tante, für sich zur Frau und sie gebar ihm Aaron und Mose.“9 Diese Aufnahme behebt zugleich auch den Anstoß, dass Moses Eltern nicht verheiratet gewesen sein könnten (vgl. „ ויקחnehmen“ in Ex 2,1, aber die Formulierung לאשׁה... „ ויקחzur Frau nehmen“ in Ex 6,20). 3.) Weiter wird so der Erzählzug verständlich, dass Moses Mutter ihr Kind deshalb drei Monate lang verbirgt, „ כי־טוב הואweil er schön war“ (Ex 2,2). Sie scheint ihn von sich aus aussetzen zu wollen, wird an diesem Plan aber durch den Anblick des Kindes gehindert.10 4.) Die Tochter Pharaos scheint in ihrer Reaktion bei der Auffindung des Knaben nichts von dem Genozidbefehl ihres Vaters zu wissen: Sie erkennt ihn als eines der Hebräerkinder und nimmt ihn als ihren Sohn an (Ex 2,7a.10b). Dass dies eine Schutzmaßnahme für das gefundene Kind sein könnte, wird aus dem Text nicht ersichtlich. Der implizite Horizont ihres Handelns ist nicht die Rettung des Knaben vor den Ägyptern, sondern vor denjenigen, die ihn ausgesetzt haben. 5.) In dieser von Ex 1 unabhängigen Gestalt entspricht Ex 2 dem Sachprofil der Sargonlegende: „Scharrukin [Sargon], der mächtige König, der König von Akkad, bin ich. Meine Mutter war eine Priesterin, meinen Vater kenne ich nicht. Mein Vatersbruder bewohnt das Bergland. Meine Stadt ist Azupiranu, die am Ufer des Euphrat liegt. Es empfing mich meine Mutter, die Priesterin, im Verborgenen gebar sie mich. Sie legte mich in einen Korb aus Rohr, mit Pech verschloß sie den Deckel über mir. Sie setzte 8
Vgl. ausführlich OTTO, Geburt. BLUM, Verbindung, 146 schreibt: „Bereits die Tradenten, die Moses Genealogie konkretisierten (Ex 6,20ff), sahen offenbar keine Veranlassung, die Ellipse in 2,1 vereindeutigend aufzulösen.“ Genau dies macht aber Ex 6,20a: ויקח עמרם את־יוכבד דדתו לו לאשׁה, gestützt auch durch LXX: καὶ ἔλαβεν Αμβραμ τὴν Ιωχαβεδ θυγατέρα τοῦ ἀδελφοῦ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ ἑαυτῷ εἰς γυναῖκα. 10 Anders BLUM, Verbindung, 147: „Auf der Handlungsebene geht es nicht nur um das Verhalten der Mutter, sondern – vom dramatischen Höhepunkt der Episode her gesehen – zugleich um das der Tochter Pharaos, die ebenfalls das Kind ‚sieht‘ und deren Mitleid gerade nicht selbstverständlich ist (V.6); auf der Leserebene geht es um die ‚Besonderheit‘ des Neugeborenen, die sich eben von Anbeginn an abzeichnet.“ Dieses Argument erklärt aber nicht, weshalb die Feststellung von Moses „Schönheit“ in Ex 2,2 mit seinem Verbergen in Verbindung gebracht wird. 9
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mich in den Fluß, aus dem ich nicht heraufkommen sollte. Es trug mich der Fluß, zu Akki, dem Wasserschöpfer, brachte er mich. Akki, der Wasserschöpfer, holte mich beim Heraufkommen seines Schöpfeimers heraus. Akki, der Wasserschöpfer, zog mich an Sohnes statt groß. Akki, der Wasserschöpfer, setzte mich in sein Gärtneramt ein. Wegen meines Gärtneramtes begann Ischtar, mich zu lieben, und so übte ich [5]4 Jahre das Königtum aus.“11 Sargon berichtet, dass seine Mutter eine enitu-Priesterin gewesen sei, der es verboten war, zu heiraten. Sein Vater sei ihm unbekannt. Trotz seiner zweifelhaften Abkunft aber wird er von den Göttern erwählt. Ebenso ist das sachliche Profil von Ex 2 zu bestimmen: Die göttliche Bewahrung des Mose kompensiert seine uneheliche Herkunft. Natürlich sind diese Argumente nicht more geometrico zwingend, aber in ihrer Gesamtheit zeigen sie im Sinne einer kumulativen Evidenz eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die genannte diachrone Hypothese auf: Ex 2,1–10 dürfte zunächst unabhängig von Ex 1 entstanden sein. Die Hauptargumente gegen die ursprüngliche Selbständigkeit von Ex 2,1–10 gegenüber Ex 1 bestehen entweder in der Feststellung, dass dann ein Motiv für die Aussetzung des Moseknaben fehle,12 und/oder in der Bestreitung der oben genannten Interpretation von Ex 2,1 als literarische Darstellung einer illegitimen Geburt des Mose.13 Während es richtig ist, dass לקחmit einer femininen Person als grammatikalisches Objekt (ohne den expliziten Zusatz )לאשׁהzwar auch eine Heirat bezeichnen kann, so ist die Deutung als illegitime Beziehung damit nicht ausgeschlossen.14 Im Fall von Ex 2,1 ist sie aus drei Gründen wahrscheinlich: erstens wegen der auffälligen Namenlosigkeit von Moses Eltern, zweitens wegen der entsprechenden Sachparallele in der Sargonlegende und drittens wegen der sekundären Vereindeutigung in Ex 6,20 (hier mit )לאשׁה, die die Formulierung in Ex 2,1 als problematisch ausweist. Die Geschichte von Moses Geburt bildet so den Auftakt der Mose-ExodusGeschichte. Sie begründet in ihrer ursprünglich selbständigen Gestalt die Aussetzung des Mose nicht mit dem Genozidbefehl Pharaos, sondern mit Moses illegitimer Geburt. Ihr theologisches Gepräge ist aus ihr selbst erhebbar, zeigt sich aber auch deutlich im Vergleich mit der sachlich gleichgerichteten Sargonlegende: Obwohl Gott in Ex 2,1–10 nie erwähnt ist, wird deutlich, dass die Geburtsgeschichte der Leserschaft die Interpretation nahelegt, dass Gott selber hinter der wundersamen Bewahrung des Mose steht – der hilflose Knabe wurde nur durch die führende Hand Gottes gerettet. Im Ver11
Übersetzung von HECKER, Akkadische Texte, 56; vgl. dazu GERHARDS, Aussetzungsgeschichte. 12 So GERTZ, Tradition, 374f. 13 So GERHARDS, Tochter. 14 Die Frage der Gewaltsamkeit ist dabei nicht entscheidend; vgl dazu BLUM, Verbindung, 146 Anm. 124.
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gleich mit der Sargonlegende fällt dabei eine gewisse Umkehrung der sozialen Verhältnisse auf: Mose, aus unklaren Verhältnissen stammend, wird von der Tochter Pharaos gefunden und adoptiert, während Sargon Sohn einer hochgestellten enitu-Priesterin ist und von einem Gärtner aufgefunden wird. Ex 2,1–10 ist also ein Dokument impliziter Theologie, das die nachfolgende Mose-Exodus-Geschichte mit einer Ouverture eröffnet, die das Thema der Führung Gottes suaviter in modo, fortiter in re anzeigt.
3. Ex 2,4.7–10a als Nachtrag in Ex 2,1–10 Ex 2,1–10 ist kein literarisch einheitlicher Text. Vergleichsweise breit akzeptiert ist die literarkritische Ausgrenzung von Ex 2,4.7–10a.15 Mit diesem Einschub wird Moses Schwester als Figur eingeführt, die das Mosekind seiner leiblichen Mutter zuführt und bei ihr aufwachsen lässt. Erst danach findet die Namengebung und Adoption durch die Tochter Pharaos statt (Ex 2,10b). Für den Ergänzungscharakter von Ex 2,4.7–10a sprechen drei Beobachtungen: Erstens ist die hier erwähnte Figur der Schwester des Mose logisch schwierig, da Ex 2,1 nicht erkennen lässt, dass Mose bereits ältere Geschwister gehabt haben könnte. Zweitens zeigt der Einschub eine klare sachliche Ausrichtung, die den künftigen Held und Retter Israels nicht ganz im heidnischen, ägyptischen Umfeld des Königshofs aufwachsen lässt. Drittens hätte Mose gemäß der vorliegenden Gestalt von Ex 2,1–10 erst im herangewachsenen Alter seinen Namen bekommen (Ex 2,10b), was ebenfalls für die Annahme spricht, dass die Verse 7–10a eine Ergänzung sind. Bei Ex 2,4.7–10a handelt es sich um ein Beispiel einer „Fortschreibung“ (gegenüber einer „Redaktion“), da sich diese Ergänzung nur auf den Binnenkontext von Ex 2,1–10 bezieht. Oft wurde ein literarisch gleichursprünglicher Zusammenhang mit der Hebammenepisode in Ex 1,15–21 behauptet. Tatsächlich berühren sich die Ergänzungsschicht in Ex 2,4.7–10a und die Hebammenepisode motivlich und terminologisch, doch sachlich liegen sie weit auseinander: Während Ex 2,4.7–10a die Notwendigkeit hervorhebt, dass Mose bei seinen Volksgenossen aufwächst, argumentiert Ex 1,15–21 dafür, dass sich Gottesfurcht auch im Ausland finden lässt. Die sprachliche Verwandtschaft der beiden Texte deutet eher darauf hin, dass der eine Text den anderen kennt und voraussetzt – und nicht auf eine einheitliche Verfasserschaft. Wenn die Hebammenepisode jünger ist als die Passagen über Moses Schwester in Ex 2,4.7– 10a, dann würde Ex 1,15–21 den negativen Blick auf den Hof Pharaos in Ex 2ff. abmildern. Wenn hingegen die Schwesterpassagen jünger sind als die 15
Vgl. dazu LEVIN, Jahwist, 320; GERTZ, Tradition, 376 (mit Lit. in Anm. 115); BERExoduserzählung, 52f. (Lit.). Vgl. auch die Diskussion bei EBACH, Schwester. Vgl. auch RAPP, Mirjam. NER,
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Hebammenepisode, wären erstere als Kritik an der Auffassung zu lesen, dass es gottesfürchtiges Leben auch unter den Ägyptern gebe (s.u. 4.), und Moses Aufwachsen wäre am ägyptischen Hof vorstellbar gewesen.
4. Die Gefährdung aller hebräischen Knaben in Ex 1,22 als Aufweitung der Gefährdung des Mose in Ex 2,1–10 Die Wahrscheinlichkeit der Annahme einer ursprünglichen Selbständigkeit von Ex 2 gegenüber Ex 1 kann dadurch weiter erhöht werden, dass sich das – in der Exodustradition übrigens nur marginal verankerte16 – Genozidthema in Ex 1 als redaktionelle Aufweitung der Gefährdungsthematik in Ex 2 erklären lässt. Auch hier ist allerdings zunächst auf ein Beispiel einer kleinräumig orientierten „Fortschreibung“ in Ex 1 hinzuweisen, deren Ergänzungscharakter in der Forschung oft vertreten worden ist: Die Episode von den gottesfürchtigen Hebammen in Ex 1,15–2117 scheint dem Genozidbefehl Pharaos in Ex 1,22 vorgeschaltet worden zu sein, um aufzuzeigen, dass Ägypten nicht ein gänzlich gottloses Land ist. Die ursprüngliche Selbständigkeit von Ex 1,2218 gegenüber Ex 1,15–21 zeigt sich daran, dass Ex 1,22 nicht als Verschärfung nach einem gescheiterten ersten Versuch formuliert ist, sondern aus sich selbst verstehbar ist.19 Anders als sein Kontext spricht Ex 1,15–21 außerdem von „Hebräerinnen“ und „Hebräern“,20 nicht vom Volk Israel. Bereits in Ex 1,16 wird dabei der 16
Israel wird gemäß den biblischen Exodusreminiszenzen außerhalb von Ex 1–2 aus der „Sklaverei“ in Ägypten gerettet, nicht vor dem Genozid seiner Kinder. Vgl. BECKER, Exodus-Credo. 17 Zur Sekundarität der Namensnennungen „Schifra“ und „Pua“ vgl. LEVIN, Jahwist, 320 und BERNER, Exoduserzählung, 27: „mit den Namen verschwindet auch der unrealistische Erzählzug, daß zwei Hebammen ein ganzes Volk betreuen.“ 18 Sam., LXX, TO, TPsJ und TN identifizieren die Knaben explizit als Söhne der Hebräer (vgl. GERTZ, Tradition, 374 Anm. 106). 19 Anders GERTZ, Tradition, 374: „Der allgemeine Tötungsbefehl lässt sich nicht von der Hebammenepisode trennen.“ Sein Argument findet sich in der spezifischen Formulierung in Ex 1,22, die unausgesprochen lässt, „wessen neugeborene Knaben eigentlich ertränkt werden sollen“ (ebd.). Doch Ex 1,22 schließt problemlos an Ex 1,12 an (Ex 1,13f. gehören zu „P“): „ וכאשׁר יענו אתו כן ירבה וכן יפרץ ויקצו מפני בני ישׂראלJe mehr sie es aber unterdrückten, desto stärker mehrte es sich und breitete es sich aus. Und es graute ihnen vor den Israeliten.“ Dass – auf der Erzählebene – der Befehl des Pharao (כל־הבן הילוד היארה „ תשׁליכהו וכל־הבת תחיוןJeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Nil werfen, jede Tochter aber sollt ihr am Leben lassen.“) von den Ägyptern dahingehend hätte missverstanden werden können, dass sie auch ihre eigenen Söhne in den Nil werfen sollen, weil deren Volkszugehörigkeit im Befehl nicht spezifiziert ist, darf man wohl ausschließen. 20 Möglicherweise aus Ex 2,6 beeinflusst: „ מילדי העברים זהDas ist eins von den Kindern der Hebräer.“
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Befehl Pharaos aus Ex 1,22 vorgeholt, dass alle Söhne der Israeliten getötet, die Töchter aber am Leben gelassen werden sollen – in Ex 1,16 ist er allerdings nur an die Hebammen, in Ex 1,22 an das ganze Volk der Ägypter gerichtet. Die Episode rechnete wohl – entsprechend ihrem Konsonantentext – ursprünglich damit, dass die Hebammen Ägypterinnen sind, die aber auch bei den Israelitinnen ihren Dienst verrichten. Nur deshalb kann Pharao ihnen den Tötungsbefehl an den hebräischen Knaben erteilen und nur deshalb kennen die Hebammen auch den Unterschied zwischen hebräischen und ägyptischen Frauen in deren Geburtsverhalten (Ex 1,19). Die masoretische Überlieferung nahm allerdings Anstoß an den gottesfürchtigen ägyptischen Hebammen und vokalisierte in Ex 1,15 „ למילדת העבריתzu den Hebammen der Hebräerinnen“ als „ לַמילדת העבריתzu den hebräischen Hebammen“.21 Richtig gesehen ist außerdem, dass Ex 1,15–21 in enger Verbindung zu Ex 2,4.7–10a steht22 – der Ergänzung in der Geschichte von Moses Geburt, in der Moses Schwester ihren Bruder unter dem Vorwand, ihm eine „Amme“ zu besorgen, zu seiner leiblichen Mutter zurückführt. Vermutlich ist allerdings Ex 1,15–21 nicht mit Ex 2,4.7–10a gleichursprünglich, dazu sind die beiden Ergänzungen konzeptionell zu unterschiedlich ausgerichtet: Ex 2,4.7–10a ist gegen Ägypten gerichtet – Mose muss, damit er nicht am heidnischen Hof des Pharao aufwachsen muss, zu seiner Mutter zurückgebracht werden –, während Ex 1,15–21 mit dem Motiv der gottesfürchtigen Hebammen eine ägyptenfreundliche Perspektive vertritt. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei Ex 1,15–21 um den einzigen Abschnitt in der gesamten Exoduserzählung, der ein zumindest ansatzweise positives Licht auf Ägypten wirft. Ist aber Ex 1,15–21 eine sekundäre Elaboration von Ex 1,22,23 dann hängt das ganze Genozidthema ursprünglich an diesem einen Vers Ex 1,22. Nur schon die fehlende narrative Exposition und Ausgestaltung lässt es von daher als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass Ex 1,22 deshalb so knapp formuliert werden konnte, weil es sich bei Ex 1,22 um eine epitomisierende Aufweitung von Ex 2,1–10 handelt: Ex 1,22 ist kein selbständiger Erzählzug und schon gar keine selbständige Erzählung, sondern ein vorgeschaltetes Motiv, das die Gefährdung des Mose auf alle israelitischen Knaben überträgt. Gleichzeitig behebt Ex 1,22 den impliziten Anstoß, Moses Mutter könnte ihn zunächst aus eigenem Vorsatz ausgesetzt haben – weil er unehelich geboren war. Ex 1,22 übertüncht dieses Motiv mit dem Genozidbefehl Pharaos. Die Künstlichkeit von Ex 1,22 zeigt sich auch daran, dass die Ausführung von Pharaos Befehl nirgends auch nur angedeutet wird – die Leserschaft erfährt nirgends von auch nur einem ertränkten hebräischen Knaben. Das ist
21
Vgl. SCHMIDT, Exodus, 4; BERNER, Exoduserzählung, 27. Vgl. GERTZ, Tradition, 373–375. 23 Umgekehrt LEVIN, Jahwist, 321. 22
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auch nicht nötig, denn Ex 1,22 dient lediglich als Hintergrundsfolie für Ex 2,1–10. Lässt sich diese Annahme weiter substantiieren? Sie ist nur schon aus dem elementaren inhaltlichen Grund wahrscheinlich, da der Tötungsbefehl Pharaos explizit gegen die „Knaben“ nur Sinn macht im Vorblick auf Ex 2: Um ein Volk an seiner Vermehrung zu hindern, wäre es näherliegend, die „Töchter“ zu töten, die für den Nachwuchs verantwortlich sind. Männer sind dazu nur in geringer Zahl nötig. Die Gefährdung muss sich allein um Mose willen gegen die „Knaben“ richten. Ex 1,22 dürfte ursprünglich an 1,9–12 angeschlossen haben,24 denn Ex 1,13f. wird übereinstimmend zu P gerechnet, während Ex 1,15–21 eine vorgeschaltete Ausgestaltung zu Ex 1,22 darstellt, die eine differenzierte(re) Sicht der Ägypter einbringen will.25 Die narrative Logik verläuft demnach von dem in Ex 1,12 festgestellten Grauen der Ägypter darüber, dass sich die Israeliten trotz Unterdrückung ebenso wundersam wie rapide vermehren, zu der Verfügung des Pharao an sein ganzes Volk, dass alle Söhne der Israeliten in den Nil geworfen, die Töchter aber am Leben gelassen werden sollen. Die Textanteile in Ex 1,9–12 und Ex 1,22 sind miteinander über die Funktion verbunden, dass sie beide motivlich auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten in Ex 13–15 vorausblicken. Die Befürchtung Pharaos aus Ex 1,10, dass die Israeliten „aus dem Land heraufziehen“ werden, wird trotz seiner diesem Ziel entgegengesetzten Maßnahmen eintreffen, und der Plan, dass die israelitischen Knaben im Nil ertränkt werden sollen, wirft sein Licht auf das Ertrinken der Ägypter beim Durchzug durch das Schilfmeer voraus. Sowohl Ex 1,10 wie auch 1,22 sind dabei in einer gewissen Ambiguität formuliert. Für Ex 1,10 wollte man sogar für den Ausdruck עלה מן־הארץeine Sonderbedeutung „sich des Landes bemächtigen“ postulieren26 – da das Wegziehen der Israeliten aus Ägypten ja das Problem der Übervölkerung lösen würde –, doch es ist wahrscheinlicher, dass Ex 1,10 Pharao als einen Propheten wider Willen zeichnen will, der durch sein Verhalten erst ermöglicht, was er verhindern will. In Ex 1,22 ist hingegen nicht klar, wer denn diese „Knaben“ sind, es fehlt eine Näherbezeichnung als Kinder der Israeliten. Dadurch entsteht die Möglichkeit eines „double entendre“ des Genozidbefehls Pharaos: Er meint die Israeliten, richtet ihn de facto aber gegen sein eigenes Volk, wie der weitere Verlauf der Exoduserzählung zeigen wird.27
24
S.o. Anm. 19. Vgl. WEBER, Tochter. 26 Vgl. die kritische Diskussion bei RUPPRECHT, עלה מן־הארץ. 27 Es ist allerdings auffällig, wie namentlich die priesterschriftlichen Anteile in Ex 14 betonen, dass der Untergang das ägyptische Heer, nicht das ägyptische Volk trifft; vgl. dazu weiter SCHMID, Taming. 25
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Hat Ex 1,22 den vorgegebenen Text in Ex 2,1–10 als verbindlich angesehen? Es scheint jedenfalls nicht so, als dass im Zuge der Voranstellung von Ex 1,22 auch Ex 2,1–10 verändert worden wäre: Weder wurde die Verbindung zwischen Moses Eltern vereindeutigt, noch wurden daraufhin die Spuren verwischt, dass Mose aus einem anderen Grund als wegen des Genozidbefehls Pharaos ausgesetzt worden sein könnte. Ex 1,22 scheint als bloße neue Einleitung das Verständnis von Ex 2,1–10 verändert zu haben – eine Technik, die aus der altorientalischen Literatur und auch sonst aus dem Alten Testament gut belegt ist.28
5. Die doppelte Beeinflussung von Ex 1 von Ex 2 und von Gen 50 her Lässt man sich auf die bisher vorgeschlagenen Rekonstruktionen – jedenfalls in ihren Grundzügen – ein, wie ist dann die Entstehung von Ex 1 zu charakterisieren? Ex 1 scheint auf der einen Seite deutlich von Ex 2,1–10 her inspiriert zu sein, indem hier das Motiv von Moses Gefährdung auf die Gefährdung der israelitischen Knaben und damit des Volkes Israel insgesamt übertragen wird. Auf der anderen Seite dürfte sich aber Ex 1 zugleich auch Gen 50 verdanken, was sich vor allem aus der Perspektive nahelegt, dass die literarischen Grundschichten von Genesis und Exodus – in der traditionellen Urkundenhypothese als „J“ identifiziert – keinen ursprünglichen Erzählzusammenhang bilden, sondern vermutlich erst bei P bzw. in deren literaturgeschichtlichem Umfeld literarisch miteinander verbunden worden sind.29 An sich wäre die Verschärfung der Gefährdung Israels durch den möglichen Genozid erzählerisch nicht nötig für die Exoduserzählung. Für das weitere Verständnis reicht die Unterdrückung Israels in Ägypten aus. Dass Ex 1 spezifisch das Genozidthema einführt, dürfte von der Schlusssentenz der Josephsgeschichte in Gen 50,20 her motiviert sein: ואתם חשׁבתם עלי רעה אלהים חשׁבה לטבה למען עשׂה כיום הזה להחית עם־רב „Und ihr plantet Böses gegen mich, Gott plante es zum Guten, damit er vollbringe, was heute der Fall ist: Ein großes Volk am Leben zu erhalten.“
Die Josephsgeschichte endete mit der Zusage, dass Gott durch alle menschlichen Irrungen und Wirrungen hindurch Israel als ein „großes Volk“ am „Leben“ lassen werde. Diese Schlussaussage hat Ex 1 dazu geführt, die in Gen 50
28
Vgl. MILSTEIN, Tracking. Vgl. DE PURY, Cycle; SCHMID, Erzväter; GERTZ, Tradition; WÖHRLE, Fremdlinge, 142f. Kritisch dazu SCHMITT, Erzväter- und Exodusgeschichte; DAVIES, Transition. 29
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vorerst behobene Krise noch einmal zu verschärfen. Dabei hat sich Ex 1 motivlich von Ex 2,1–10 inspirieren lassen. Die Josephsgeschichte, besonders Gen 50, formulierte für Ex 1 eine sachliche Vorgabe, die Ex 1 weder umgehen wollte noch konnte. Dass diese Vorgabe ein „verbindlicher Text“ gewesen sei, dürfte wohl einen zu starken Ausdruck darstellen – vermutlich ist es angemessener, vom „Gegebensein“ von Gen 50 zu sprechen: Weil dieser Text vorhanden war und sich szenisch für den Anschluss der Exoduserzählung anbot, wurde er von Ex 1 aufgegriffen und motivlich verwertet.
6. Die Aufnahme von Ex 2,1–10 in Gen 6–9 Die expliziten literarischen Berührungen zwischen Ex 2,1–10 und der Fluterzählung in Gen 6–9, die aus priesterschriftlichen und nichtpriesterschriftlichen Anteilen besteht, sind geringfügig. Dennoch lassen es zwei grundlegende Beobachtungen nahezu als gesichert erscheinen, dass Gen 6–9 von Anfang an – und dies gilt, ob man nun die priesterschriftlichen30 oder die nichtpriesterschriftlichen Texte als literarische Grundschicht bestimmt – im Lichte und in Kenntnis von Ex 2,1–10 geschrieben worden ist:31 Der hebräische Begriff תבה, der soviel wie „Kasten“ bedeutet und in Gen 6–9 26mal die „Arche“ (