Rechtssoziologie: Aufriß einer Vorlesung. (Sonderdruck aus: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge) [1 ed.] 9783428406326, 9783428006328


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Rechtssoziologie: Aufriß einer Vorlesung. (Sonderdruck aus: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge) [1 ed.]
 9783428406326, 9783428006328

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Rech tssoziologie Aufri13 einer Vorlesung

Sonderdruck aus:

Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge Beiträge zur Rechtssoziologie

Von

Ernst E. Hirsch

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1968 Duncker & Humblot, Berlln fl

Gedruckt 1966 bel Alb. Sayffaerth, BerUn 61 Prlnted In Germany

"Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge. Beiträge zur Rechtssoziologie" erschien 1966 als Band 1 der Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung an der Freien Universität Berlin, herausgegeben von Prof. Dr. Ernst E. Hirsch.

Inhalt des Bandes Einführung

Aufgaben und Grenzen der Rechtssoziologie

11

Erster Teil

Die Rechtssoziologie als wissenschaftlic.'te Disziplin 1. Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge 2. Was kümmert uns die Rechtssoziologie? ............................ 3. Wird das Recht unserer Zeit gerecht? .............................. 4. Die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild. . . .. .. .. .. .. .. .. . . ...

25 25 38 55 65

Zweiter Teil

Das Recht als Regulator des Soziallebens

89

A. Rezeption

89

5. Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozeß .................. 89 6. Die Einfiüsse und Wirkungen ausländischen Rechts auf das heutige türkische Recht .................................................... 106 7. Das schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei .................. 121 B. Kodifikation und Gesetzgebung

139

8. Probleme der Kodifikation im Lichte der heutigen Erfahrungen und Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 9. Der gesetzlich fixierte "Typ" als Gefahrenquelle der Rechtsanwendung (erläutert am Beispiel des Handelsvertreters) ...................... 161 10. Urheberrecht und verwandte Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 193 C. Rechtsangleichung 11. Einheitliches Wechselgesetz oder einheitliches Wechselrecht? 12. Film- und Fernsehrecht als Problem der Rechtsangleichung im Rah-

210

210

men der europäischen Integration .................................. 224

Dritter Teil

Das Recht als Funktion des Soziallebens

243

13. Macht und Recht .................................................. 243 14. Rationale Legitimierung eines Staatsstreiches als soziologisches Problem .............................................................. 260 15. Was bedeutet "Sozialistische Gesetzlichkeit"? ...................... 275 16. Koexistenz ........................................................ 292 Anhang

Aufriß einer Vorlesung "Rechtssoziologie"

315

I. Der Arbeitsbereich der Rechtssoziologie .......................... 315 II. Die soziologischen Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 318 III. Modell und Wirklichkeit ........................................ 319 IV. Rechtssoziologie als Grenzwissenschaft .......................... 320 V. Gegenstand der Rechtssoziologie ................................ 321 VI. Wissenschaftliche Grundlegung .................................. 322 VII. Das Recht als Regulator des Soziallebens ........................ 328 VIII. Das Recht als Funktion des Soziallebens ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 339 Autorenverzeichnis

347

Sachverzeichnis

350

Aufriß einer Vorlesung "Rechtssoziologie"* I. Der Arbeitsbereich der Rechtssoziologie

A. Die Rechtssoziologie ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sich um die Klärung der Interdependenz von menschlichem Sozialleben und rechtlicher Ordnung bemüht. 1. Sozialleben = soziale Realität = faktisches soziales Ordnungsgefüge. Menschliches Sozialleben, weil das Mit- und Nebeneinanderleben von Menschen in "Gesellschaft" sich von dem auf biologisch erklärbaren Zusammenhängen beruhenden gruppenmäßigen Zusammenleben anderer Lebewesen, insbesondere Tie• Hinweise auf das Schrifttum Davis, F. James, et a1.: Society and the Law. 1962. Durkheim, Emile: Le90ns de sociologie. Physique des mreurs et du droit. Intro-

duction de J. Davy, 1950. Ehrlich, Eugen: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913 (Neudruck 1929). Evan, William M.: Law and Sociology, 1962. Geiger, Theodor: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947. Gurvitch, Georges: Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960. Hägerström, Axel: Inquieries into the Nature of Law and Morals, ed. by Olivecrona, 1953. Hirsch, Ernst E.: Rechtssoziologische Stichworte, in Bernsdorf-Bülow: Wörterbuch der Soziologie 2. Auf!. 1966; ferner die in dem Sammelwerk "Das Recht im sozialen Ordnung,sgefüge" (Berlin 1966) vereinigten Abhandlungen. LleweUyn, Karl N.: Jurisprudence. Realism in Theory and Praetiee, 1962. Levy-Bruhl, Henri: Sociologie du droit, 1961. Olivecrona, Karl: Gesetz und Staat, 1940. Pound, Roseoe: Sociology of Law, in Gurvitch and Moore: XXth Century Sociology,1945. Sawer, Geoffrey: Law in Society, 1965. Weber, Max: Rechtssoziologie, hrsg. von Winckelmann, 1960. Im übrigen vg1. über Entwicklung und gegenwärtigen Stand der rechtssoziologischen Literatur den unter diesem Titel erschienenen Beitrag von Manfred Rehbinder in Kölner Z. f. Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S.533-567.

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Anhang

ren, unterscheidet und durch Faktoren determiniert wird, die allein dem Menschen als einem notwendig auf das Zusammenleben mit seinesgleichen angewiesenen vernunftbegabten Wesen eigentümlich sind.

2. Rechtliche Ordnung = normative Ordnung: ein Gedankengebilde, dessen Verwirklichung im sozialen Leben postuliert und mit bestimmten Einrichtungen und Mitteln durchgesetzt oder durchzusetzen versucht wird.

3. Interdependenz = wechselseitige Abhängigkeit, Beeinflussung und Beeinflußbarkeit nach Maßgabe kausaler oder funktioneller Zusammenhänge. B. Vier axiomatische Voraussetzungen: 1. Das soziale Ordnungsgefüge ist nicht das Spiel übernatürlicher Kräfte, sondern ein dem Menschengeschlecht immanenter Dauerprozeß. Soweit die determinierenden Faktoren dieses Dauerprozesses feststellbar und meßbar sind, ist das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten im wissenschaftlichen Sinne möglich. Ob aber diese Faktoren feststell bar und meßbar sind, ist Gegenstand wissenschaftlichen Streitest: a) Problemstellung: Einmaligkeit oder Wiederkehr sozialer Vorgänge, Lagen und Situationen: (1) Weil das soziale Leben durch die Äußerungen der freien Willensbestimmung der Individuen bestimmt wird, sind Gesetzmäßigkeiten nicht feststellbar. (2) Der Einfluß der freien Willensbestimmung der Individuen auf das Sozialleben kann nicht geleugnet werden, aber das Verhältnis: Ursache und Wirkung liegt außerhalb dieses Bereiches und kann wissenschaftlich untersucht werden. b) Grundlagen für die eigene Stellungnahme: (1) Postulat von Becher: Um die Wirklichkeit völlig erklären zu können, ist Grundvoraussetzung die Annahme, daß sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. (2) Die soziale Wirklichkeit besteht aus dem Widerstreit von Kräften und stellt ein Wellensystem, eine im dynamischen Gleichgewicht befindliche Masse, dar. (3) In dem Umfange, in dem es möglich ist, einen Vorgang als Massenphänomen auf Grund der Erfahrung zu messen, verliert er seinen Zufallscharakter und wird zur mutmaßlichen Wirkung bestimmter Ursachen. 1

Vgl. oben: "Die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild", S. 65 ff.

Aufriß einer Vorlesung "Rechtssoziologie"

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c) Folgerungen: (1) Die Aktionsfreiheit ist nichts, was den Menschen eigentümlich ist, sondern ein allgemeines Phänomen der Natur. (2) Die Aktionsfreiheit des einzelnen Elements in einer Masse kann nur in dem Umfange wirksam werden, als es von der Masse gestattet wird. (3) Der Dualismus: individuelle Freiheit - kollektiver Zwang ist keine Besonderheit des Soziallebens, sondern auf allen Gebieten feststellbar. (4) Freiheit und Kausalität, Indeterminismus und Determinismus, sind keine Gegensätze, sondern miteinander vereinbar und ergänzen sich gegenseitig (vgl. hierzu Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784). (5) Aus den Tatsachen und Vorgängen des Soziallebens können demgemäß statistische Gesetzmäßigkeiten gewonnen werden. 2. Der soziales Ordnungsgefüge genannte Prozeß ist bis zu einem gewissen Grade durch menschliche Bemühungen regulierbar und manipulierbar. 3. Das Recht als Institution im aktiven Sinne des Anordnens und Einrichtens ist zwar nicht das einzige, aber jedenfalls eines der Instrumente, um den Ablauf des sozialen Lebens zu beeinflussen und zu regulieren. Diese Regulierung erfolgt in fünffacher Absicht2 • a) Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit aller Mitglieder eines konkreten Gesellschaftsintegrats innerhalb bestimmter Schranken. b) Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung des einen oder die Verpflichtung des anderen sollen dadurch verhindert werden, daß voraussehbare widerstreitende Interessen von vornherein in ganz bestimmter Weise als ausgeglichen gelten. c) Offen ausbrechende Interessenkonflikte und Streitigkeiten sollen in einem geregelten Verfahren durch besondere Einrichtungen endgültig und bindend für die Beteiligten entschieden werden. d) Garantie der Rechtssicherheit und Rechtsgewißheit (zweckrational). !

Vgl. oben: "Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge", S. 25 ff.

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Anhang e} Legitimierung der konkreten Rechtsordnung nach irrationalen Wertmaßstäben (wertrational). 4. Als Regulierungsinstrument muß und kann das Recht den jeweiligen tatsächlichen Gegebenheiten eines konkreten Gesellschaftsintegrats angepaßt werden (vgl. als Seispiele für sachgemäße Anpassung des rechtlichen Regulierungsinstruments an das faktische soziale Ordnungsgefüge die Unterschiede zwischen der Charta der Vereinten Nationen, den Rom-Verträgen für die EWG, dem Grundgesetz, dem Betriebsverfassungsgesetz, den Organisationsvorschriften über die verschiedenartigen Gesellschaften und Körperschaften des Handelsrechts einerseits, die Verhaltensregeln des Völkerrechts, supranationalen Rechts, Staatsverfassungsrechts, Arbeitsrechts, bürgerlichen Rechts und Handelsrechts andererseits). ll. Die soziologischen Kategorien

A. Jedes Individuum steht in zahlreichen konkreten, nach bestimmten

Gesichtspunkten voneinander abgrenzbaren, sozialen Beziehungssystemen. 1. Diese sozialen Beziehungen sind nach der Anzahl der Beteiligten, nach der Zeitdauer, nach der Intensität und Bindung des einzelnen verschiedenartig, entstehen aus den verschiedensten Ursachen und betreffen die verschiedenartigsten Bereiche und Gegenstände des Soziallebens.

2. Jedes Rechtsverhältnis ist - soziologisch betrachtet - eine "soziale Position", die zwar nicht ausschließlich, aber teilweise durch rechtliche Implikationen charakterisiert wird. 3. Die verschiedenen sozialen Beziehungssysteme stehen nicht isoliert für sich, sondern sind ineinander gebettet und verwoben dies gilt für jedes Rechtsverhältnis, das rechtlich nur beurteilt werden kann, wenn dieses Verwobensein berücksichtigt wird}.

B. Jede "Position" verleiht demjenigen, der in bestimmten konkreten Beziehungssystemen steht, die für diese Stellung charakteristischen sozialen "Eigenschaften". Jede dieser sozialen Eigenschaften wird durch die Aufgaben und Funktionen charakterisiert, deren Erfüllung in einem konkreten Gesellschaftsintegrat nach den in ihm maßgebenden Vorstellungen von jedem Inhaber der in Frage stehenden Position erwartet wird. Jedes Individuum spielt die entsprechende Rolle. Die Kategorie "soziale Rolle" = Inbegriff derjenigen

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Verhaltensweisen, die dem Inhaber einer Position in einem konkreten Gesellschaftsintegrat von diesem aufgegeben sind. (Beispiel: das Maß der Sorgfalt bestimmt sich rechtlich nach der jeweiligen Rolle.) C. Wer in einer bestimmten Position steht und dadurch die für diese Rolle übliche "Maske" trägt, muß die Rolle spielen, weil dies von ihm erwartet wird. Daher Kategorie der "Rollenerwartung", die nicht enttäuscht werden darf (der sogenannte Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehrsrecht, das Prinzip von Treu und Glauben, das Festhalten am gegebenen Wort und am verursachten Rechtsschein). D. Verletzungen der Rollenerwartung haben soziale, meist unangenehme Folgen. Kategorie der "Sanktion". Diese kann rein gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, aber auch rechtlicher Art sein. Die Sanktion ist notwendiges Korrelat zur Verbindlichkeit der Rollenerwartung und ist immer und überall vorhanden. 111. Modell und Wirklichkeit

A. homo sociologicus = der Mensch verhält sich rollengemäß (Dahrendorf). Keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein Denkmodell, d. h. die wissenschaftliche Annahme, daß "soziale Rollen mit menschlichem Verhalten gleichgesetzt werden können, als ob der Mensch den Erwartungen, die sich an seine sozialen Positionen knüpfen, sämtlich entspräche" (Dahrendorf).

B. Die Methoden zur Auffindung der für die wissenschaftliche Beurteilung der sozialen Kategorien maßgebenden Kriterien. 1. Deduktive Methode 2. Induktive Methode 3. Die Verhaltenserwartungen als "soziale Normen" in doppeltem Sinne: a) Aussagen über das, was regelmäßig geschieht, also die Regel bildet (Verhältnis von Regel und Ausnahme, normal und anormal). b) Verbindliches Verhaltensmuster und Richtschnur (Einhaltung der Richtschnur = Normverwirklichung; Nichteinhaltung der Richtschnur = Normverletzung). C. Die wissenschaftliche Annahme des homo iuridicus: "Der Mensch verhält sich rechtmäßig."

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Anhang 1. Die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verhaltens kann nicht absolut, sondern nur in Beziehung auf ein konkretes GeseIlschaftsintegrat richtig beurteilt werden (die sogenannte Situations- oder Milieubedingtheit des Rechts). 2. Rechtmäßig und rechtswidrig sind Beurteilungen menschlichen Verhaltens aufgrund sozialer Maßstäbe und Kriterien, gerecht und ungerecht dagegen Urteile aufgrund religiöser, ethischer, metaphysischer Maßstäbe und Kriterien. Ein rechtmäßiges Urteil kann ungerecht, ein rechtswidriges Urteil kann gerecht sein. IV. Rechtssoziologie als Grenzwissenschaft

1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht kann sein:

a) deskriptiv-dogmatisch = Rechtswissenschaft im engeren Sinne als Rechtsregelerklärung unter der Annahme, daß die Gesamtheit der Rechtsnormen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Gesellschaftsintegrat ein in sich geschlossenes logisches System (Rechtssystem) bildet;

b) deskriptiv...lhistorisch = Rechtsgeschichte als Beschreibung und Erklärung der Entwicklung und des Wandels von Rechtsregeln und rechtlichen Institutionen unter der Annahme eines Sinnzusammenhanges des Geschehens in der Zeit;

c) teleologisch = Rechtspolitik als Inbegriff der Bemühungen um eine das Gemeinwohl garantierende rechtliche Ordnung des sozialen Lebens ( Gegenüberstellung von lex lata und lex ferenda); d) axiologisch-metaphysisch = Rechtsphilosophie als Suche nach dem für die Rechtsregeln maßgebenden höchsten Wert ("Gerechtigkeit"; "Naturrecht"; vorpositives Recht);

e) deskriptiv-funktional = Rechtssoziologie als Beschreibung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit des Rechts, d. h. der sozialen Faktoren, welche hinter den Rechtsregeln, juristischen Formeln, Techniken, Symbolen, den Wert- und Zweckvorstellungen stehen und ihr Entstehen, Bestehen und Vergehen determinieren, ihrerseits aber wieder durch die Anwendung des Rechts bestimmt werden (sog. Interdependenz von Recht und Sozialleben).

2. Rechtssoziologie ist derjenige Spezialzweig der empirischen Soziologie, in welcher das Recht als eine der zahlreichen den Ablauf des Soziallebens beeinflussenden Ordnungsinstitutionen aus soziologischer Sicht mit den in der Soziologie üblichen Methoden behandelt wird mit dem Ziel, wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich

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des Rechts als Regulator und als Funktion des Soziallebens zu ermitteln. Rechtssoziologie in diesem Sinne ist somit nicht: a) Die soziologische Rechtstheorie, die zwar - im Gegensatz zu der Naturrechtsschule und der historischen Rechtsschule - das Recht als soziales Phänomen betrachtet, aber nicht nach der funktionellen Verknüpfung des Rechts mit den Fakten des sozialen Lebens, sondern - philosophisch - nach dem Wesen des Rechts fragt. b) Der Rechtspositivismus (positivismus im Sinne von Comte als Gegensatz zur Metaphysik verstanden): weder im Sinne der strafrechtlichen Doktrin (z. B. Enrico Ferri: Das positive Studium des sozialen Faktors "Verbrechen"), noch im Sinne Lothmar's Duguit's und anderer, welche - im Gegensatz zu einer in Scholastik ausgearteten Rechtsdogmatik die Lebensnähe der Rechtssetzung - Rechtsanwendung - Rechtsauslegung fordern (Interessenjurisprudenz im Sinne der sogenannten Tübinger Schule, Rechtstatsachenforschung im Sinne von Nußbaum). c) Die vergleichende Rechtsgeschichte einschließHch Ethnologie und Anthropologie, die zwar wichtige Daten für soziologische Erkenntnisse vermitteln, aber nicht selbst Soziologie sind und sein wollen (als Beispiel: A. H. Post: Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz 1894/95).

V. Gegenstand der Rechtssoziologie 1. Ein Gesetz machen, eine Norm statuieren, einen Haftbefehl erlassen, einen Zivilprozeß entscheiden u. a. m. bedeutet nicht bloß Erfüllung juristischer Formalitäten, sondern Lösung sozialer Probleme unter Berücksichtigung aller dabei in Frage kommenden Faktoren. ("Der Jurist kann keinen einzigen Schritt mehr tun, ohne zugleich die Arbeit des Soziologen zu machen, ohne die Rechtssoziologie zur Hilfe zu rufen": Gurvitch). 2. Dies erfordert eine funktionale Denkrichtung, d. h. Untersuchung von Abhängigkeiten und Zusammenhängen sozialer Phänomene. 3. Nicht die Rechtsregeln als solche, sondern ihre Beziehungen zu dem sozialen Leben sind Gegenstand der Rechtssoziologie. 4. Das Recht stellt nur einen Ausschnitt aus dem Ordnungsmechanismus des gesellschaftlichen Lebens ("social control") dar. Wichtig vor allem Leitideen und Leitbilder, Wertvorstellungen, Symbole und kollektive Ideale. 5. Um Tragweite, Bedeutung und Sinn einer Rechtsregel oder einer rechtlichen Institution bestimmen zu können, muß man sie in Be-

822

Anhang

ziehung setzen zu demjenigen Gesellschaftsintegrat, für das sie gilt und in dem sie angewendet wird. Beispiel: § 1300 BGB unter Berücksichtigung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Bundesrepublik und in der Sowjetischen Besatzungszone (BGHZ 20, 195; 28, 375, aber OG in NJ 1952, 451. Hierzu Protokolle zum BGB, Bd. 4, 698 und schweiz. ZGB Art. 93). 6. Die rechtliche Beurteilung eines sozialen Sachverhaltes ist Ausdruck der allgemeinen Lebensbedingungen eines Gesellschaftsintegrats und der darin maßgebenden religiösen, sittlichen, geistigen und politischen Strömungen ("leges sine moribus vanae"); aber umgekehrt bestimmen die Rechtsvorschriften auch die Sitten. 7. Da das Recht im vorbestimmten Rahmen notwendig zwangsweise abläuft, in das gesamte Sozialleben eingebettet und Ausdruck kollektiver Vorstellungen ist, kann es als Komplex sozialer Tatsachen empirisch untersucht werden3 : a) Die gefundenen Ergebnisse in ein wissenschaftliches System zu 'bringen, ist Aufgabe der reinen oder theoretischen Rechtssoziologie. b) Mit Hilfe der in ein System gebrachten wissenschaftlichen Ergebnisse (Gesetzmäßigkeiten) jeden örtlich und zeitlich abgrenzbaren Rechtszustand soziologisch zu untersuchen und geeignete Eingriffsmöglichkeiten, Wege und Mittel für beabsichtigte Änderungen anzugeben, ist Sache der angewandten und praktischen Rechtssoziologie. (Gleichnis: die Medizin als wissenschaftliche Bemühung um Erkenntnis des "gesunden" und "kranken" Menschen, die Soziologie als wissenschaftliche Bemühung um Erkenntnis des "gesunden" und "kranken" Sozialkörpers.) VI. Wissenschaftliche Grundlegung 1. Methodologie: Als Methoden für rechtssoziologische Forschung und Lehre kommen in Betracht: a) für die Feststellung (Fixierung) ihres Gegenstandes, d. h. des für das Recht in Betracht kommenden Ausschnitts des sozialen Lebens, im Hinblick auf das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft sowohl das Experiment in der Form des Tests wie auch die auf Vergleich fußende kombinierende Beobachtung der Vorgänge und Fakten; 3

Vgl. auch oben: "Aufgaben und Grenzen der Rechtssoziologie", S. 11 ff.

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b) für die Deutung der festgestellten sozialen Vorgänge und Fakten die funktionale Methode von Abhängigkeitsverhältnissen. Die Rechtssoziologie interessiert sich nur für Vorgänge, Ereignisse, Fakten und dergleichen, deren Wiederauftreten wahrscheinlich ist. Bei der Anwendung der funktionalen Methode ist zu beachten, daß zwischen der Verursachung im physikalischen und biologischen Sinne und der sozialen Verursachung erhebliche Unterschiede bestehen (vgI. McIver's Prinzip der sozialen Verursachung). 2. Terminologie: Der wissenschaftliche Denkprozeß vollzieht sich mit Hilfe von Begriffen, deren Umfang und Inhalt durch Begriffsbestimmungen (Definitionen) festgelegt wird. Der definierte Begriff selbst wird mit einem Fachausdruck (terminus technicus) bezeichnet und individualisiert, um ihn von anderen Begriffen zu unterscheiden. Ein fester wissenschaftlicher Begriffsschatz ist das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden kritischen Sichtung und Vervollkommnung der wissenschaftlichen Begriffssprache. a) Soziologie im allgemeinen und Rechtssoziologie im besonderen sind junge Wissenschaftszweige. Deshalb mangelt in großem Umfange eine feste und klare Terminologie. Wer soziologische Werke verstehen will, muß sich zunächst Klarheit verschaffen über die von dem jeweiligen Autor verwendeten Fachausdrücke und deren Bedeutung. b) Der Jurist vor allem muß beachten, daß die ihm vertrauten Ausdrücke der Rechtssprache (z. B. Recht, Staat, Familie, Gesellschaft, Eigentum und dergleichen) von den Soziologen für ihr Forschungsgebiet in anderer Weise definiert werden und deshalb einen nach Gegenstand, Umfang und Inhalt anderen Begriff bezeichnen. 3. Typologie: Für die auf Vergleich fußende kombinierende Beobachtung bedarf es eines "tertium comparationis" (Vergleichsmaßstab, Muster, Typus)4. Es sind zu unterscheiden: A. Soziale Typen:

a) Exemplartypen sind Typen, nach denen der einzelne sich eine Vorstellung vom Ablauf des sozialen Lebens macht und deshalb sein eigenes Verhalten und Gebaren danach einrichtet. Diese Exemplartypen sind entweder leiblich vorhanden und unmittelbar wirksam (z. B. Eltern, Nachbarn, Mitschüler, Per, über die praktische Bedeutung der Typisierung vgl. oben: "Der gesetzlich fixierte ,Typ' als Gefahrenquelle der Rechtsanwendung", S. 161 ff.

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Anhang sönlichkeiten der Zeitgeschichte) oder nur in der Vorstellung vorhanden und mittelbar wirksam (z. B. Götter und Helden, Künstler und Gelehrte, Feldherrn und Staatsmänner), und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie wirklich gelebt haben oder erfundene Gestalten sind. b) Gattungstypen = Vorstellungen von sozialen Gebilden aufgrund von Verallgemeinerungen und Abstraktionen (z. B. Berufstypen, Volkstypen). c) Durchschnitts- oder Häufigkeitstypen sind Standards, d. h. Vorstellungen davon, was in einer konkreten Gesellschaft als üblich ("gewöhnlich" und "regelmäßig") angesehen und erwartet wird (z. B. ein Verhalten "nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte"; die Sorgfalt eines "ordentlichen Kaufmanns"; die "ortsübliche Benutzung" eines Grundstücks). B. Wissenschaftliche Typen, d. h. theoretische Musterbeispiele ("Modelle") zwecks Ordnung der Vielheit empirischer Erscheinungen einer Gattung. Ein derartiges theoretisches Musterbeispiel ist: a) empirischer Normaltypus, wenn es dem üblichen Sachverhalt des Lebens nachgezeichnet ist (z. B. die Vertragstypen des BGB), b) logischer Idealtypus, wenn es ein konstruiertes Gedankengebilde ist, das nach Art einer Utopie allein als Mittel zur Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse dient (z. B. der geborene Verbrecher, "Il Principe" von Macchiavelli), c) normativer (oder teleologischer) Idealtypus, wenn es ein mit dem Postulat der Verwirklichung verbundenes reines Gedankengebilde ist, das als zu erstrebendes Ziel verabsolutiert wird und dadurch zugleich auch als Bewertungsmaßstab für die empirisch feststellbaren historischen Erscheinungen dienen kann (z. B. die "reine" oder "vollkommene" Demokratie; die klassenlose Gesellschaft).

4. Denkrichtung ("Perspektive"): "Denken ist der Prozeß der Verwandlung und überführung der Wertinhalte in die Form des Gedankens" (Heistermann). Außer Methode, Terminologie und Typologie ist deshalb bedeutsam der durch das Erkenntnisziel bestimmte Gesichtswinkel, unter dem ein Gegenstand wissenschaftlich betrachtet wird. Jeder Gegenstand hat zahlreiche Seiten, jede Seite gewährt verschiedene Ansichten und Einsichten, je nach dem Gesichtswinkel und der Blickrichtung des Beschauers. A. Erkenntnisziel: Jedes Phänomen hat wie jeder Gegenstand zahlreiche Seiten:

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a) Verschiedene Ziele des Nurjuristen, des Philosophen und des Soziologen bei Feststellung und Deutung sozialer Phänomene, deshalb verschiedene Verfahren zur erkenntnismäßigen Erfassung ein und desselben sozialen Vorgangs. b) Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft verleitet zur Gegenüberstellung von Rechtsmechanismus und sozialem Organismus. Dies ist aber nur ein Gleichnis: die Gesellschaft lebt wie ein Organismus (als etwas Natürliches), das Recht ist der Mechanismus (also etwas Künstliches zur Regulierung dieses Organismus). c) Der Jurist denkt in der Regel nur an den "Mechanismus", der Soziologe interessiert sich für die wechselseitige Abhängigkeit von Sozialleben und Recht. B. Der Gesichtswinkel: Jede Seite eines Phänomens gewährt verschiedene Ansichten und Einsichten je nach dem Gesichtswinkel und der Blickrichtung des Beschauers (Beispiel: Beurteilung eines Verkehrsunfalls in concreto durch den technischen Sachverständigen, den medizinischen Sachverständigen, die Polizei, den Straf- und Zivilrichter). a) Gesichtswinkel und Blickrichtung des Juristen sind eingestellt entweder auf das einzelne isolierte und konkrete Rechtsverhältnis A kontra B zwecks rechtlicher Wertung (also eindimensional) oder auf eine einzelne isolierte und konkrete Rechtsregel in ihrer Beziehung zu der gesamten Rechtsordnung oder dem gesamten Rechtssystem zwecks Ermittlung der rechtlichen Tragweite (also zweidimensional). b) Gesichtswinkel und Blickrichtung des Soziologen 'hinsichtlich rechtlich erheblicher Sachverhalte (Phänomene, Gegenstände, Vorfälle) sind dagegen anders: (1) Die soziologische Betrachtung des Rechts verlangt, daß sowohl der einzelne Rechtsfall (das einzelne konkrete Rechtsverhältnis), wie die einzelne konkrete Rechtsregel in Beziehung gesetzt wird zum Sozialkörper, innerhalb dessen der Rechtsfall sich ereignet oder die Rechtsregel Geltung beansprucht. "Die zwischenmenschlichen Beziehungen erscheinen zunächst bloß als Beziehung zwischen den unmittelbar beteiligten Individuen, aber nur die Mitgliedschaft in einer Masse gibt jedem sozialen Tatbestand und Ereignis Bedeutung und Sinn. Solange ein derartiges Ereignis oder Tatbestand nicht zu einer Masse, zu einer Personenvielheit in Beziehung steht oder gesetzt wird, ist es kein Gegenstand der Soziologie." (Sombart; Beispiel: Soziologie des Kusses.)

326

Anhang (2) Den Rechtssoziologen interessiert nicht das einzelne Rechtsverhältnis als solches oder die Rechtsregel in ihrer Stellung in Rechtsordnung oder Rechtssystem, sondern das zwischenmenschliche Beziehungssystem, soweit es rechtlich bedeutsam ist. Unter diesem Gesichtswinkel werden Rechtsverhältnisse, Rechtsregeln, rechtserhebliche Vorgänge und Sachverhalte mit der Blickrichtung auf ihre feststellbaren und meßbaren Ursachen wissenschaftlich festgestellt und gedeutet (also dreidimensional).

5. Zwischenmenschliches Beziehungssystem: A. Familie, Kirche, Staat, Universität, Sportverein, Aktiengesellschaft u. ä. sind kollektive Einheiten. a) Sie sind zwar voneinander nach bestimmten Merkmalen abgrenzbar und unterscheidbar und erscheinen deshalb, von außen betrachtet, als statische Einheiten. Deshalb werden sie auch rechtlich, soweit erforderlich und zweckmäßig, als einheitliches Rechtssubjekt ("juristische Person") oder Rechtsobjekt betrachtet und behandelt. b) Ihrer Zusammensetzung nach aber sind sie eine Vielheit von Menschen, die miteinander in einer durch die Ursache und (oder) den Zweck der Verbindung bestimmbaren Beziehung zueinander stehen und eine in ihren einzelnen Elementen zwar dauernd wechselnde, aber als Ganzes stets im Gleichgewicht befindliche dynamische Masse bilden. (Ein Wellensystem von Kräften, Parallelogramm der Kräfte). Rechtlicher Ausdruck dieses Gedankens: Art. 2 GG. c) Deshalb kann man jede derartige Kollektiveinheit als zwischenmenschliches Beziehungssystem ansehen (man spricht in diesem Sinne auch von "Gruppe", "Gesellschaftsintegrat").

B. Der Ausdruck "zwischenmenschliches Beziehungssystem" soll verständlich machen: a) die wissenschaftliche Feststellung eines Inbegriffs von faktisch (real) vorhandenen und irgendwie individualisierbaren und meßbaren Beeinflussungs- und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den die kollektive Einheit bildenden Individuen (das reale Beziehungsgemisch, die sog. soziale Realität; das soziale Ordnungsgefüge); b) die nach irgendwelchen Gesichtspunkten bestimmte oder bestimmbare Ordnung dieser Verhältnisse (das normative Beziehungssystem; die soziale Idealität);

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c) die sich aus der Interdependenz zwischen Faktum und Norm ergebende Konkordanz oder Divergenz von Faktizität und Recht. C. Einige Folgerungen: a) Es besteht eine funktionelle Korrelation zwischen den Arten der zwischenmenschlichen Beziehungssysteme (Soziabilität) und den Arten des für sie maßgebenden Rechts. (1) Vergesellschaftung durch Aufgehen einer Vielheit in einer Einheit (sog. Interpenetration) führt zu einem Recht, das auf Vertrauen beruht und autonom ist (z. B. öffentliches Recht). (2) Vergesellschaftung durch bloße Interdependenz beruht auf dem Mißtrauen und führt zum Vertragsrecht. Die einzelnen stehen zueinander in Beziehung der Annäherung, der Trennung oder einer Kombination von beiden. Das Recht ist heteronom gemildert durch die Vertragsfreiheit. b) Es besteht eine funktionelle Korrelation zwischen einem typenmäßig bestimmbaren faktischen zwischenmenschlichen Beziehungssystem und einer typenmäßig ihm angemessenen normativen Ordnung. Nichtbeachtung dieser Erkenntnis führt zu unzweckmäßiger und unwirksamer Regelung (Beispiel: § 54 BGB). c) Jedes zwischenmenschliche Beziehungssystem ist als soziales Faktum scharf zu trennen von der für es vorgesehenen normativen Ordnung. Nichtbeachtung dieses Umstandes führt zu falschen Schlüssen und falschen Maßnahmen (Beispiele: Verfassungsleben - Verfassungsgesetz - Verfassungswirklichkeit)4a. d) Die Verschiedenheit des Entstehungsvorgangs von Rechtsregeln beruht auf der faktischen sozialen Struktur eines typenmäßig bestimmbaren zwischenmenschlichen Beziehungssystems, daher Unterscheidung möglich in: (1) spontanes (unorganisiertes) Recht. (Beispiele: Gewohnheitsrecht, ständiger Gerichtsgebrauch (Rechtsgewohnheit), sozialtypisches Verhalten im Massenverkehr, revolutionäres Recht). (2) reflektiertes (organisiertes) Recht. (Beispiele: gesetztes Recht; die allgemeinen Geschäftsbedingungen als sog. "bereitliegende Rechtsordnung"). e) Sinn und Tragweite einer kodifizierten Rechtsregel können nur im Hinblick auf dasjenige faktische zwischenmenschliche ----4a Vgl. oben "wird das Recht unserer Zeit gerecht?" S. 55 ff.

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Beziehungssystem ermittelt werden, für das die Regel gelten soll. Beispiele: zeitlich: Weitergeltung des überkommenen Rechts nach sozialen Umwälzungen; örtlich: Problem der Rezeption fremden Rechts5 • f) Sinn und Bedeutung des Ausdrucks Recht wechseln je nach dem faktischen oder normativen zwischenmenschlichen Beziehungssystem, für welches der Ausdruck gebraucht wird. Man unterscheidet z. B. entsprechend den nach verschiedenen Merkmalen typisierten zwischenmenschlichen Beziehungssystemen: (1) Staatsrecht, Völkerrecht, Kirchenrecht (2) feudales, bürgerliches, sozialistisches Recht (3) primitives, orientalisches, europäisches Recht (4) Familienrecht, Verbandsrecht. VII. Das Recht als Regulator des Soziallebens 1. Trotz der vielerlei Arten von Recht je nach dem faktischen oder

normativen zwischenmenschlichen Beziehungssystem, für welches dieser Ausdruck gebraucht wird, haben alle diese Arten von Recht einen gemeinsamen Kern, der es erlaubt, diesen Ausdruck als Gattungsbezeichnung für einen bestimmten sozialen Ordnungsmechanismus zu verwenden. A. Dieser Kern (Rechtsidee) findet seinen Ausdruck in dem Satz: suum cuique tribuere. Die Rechtsidee enhält somit drei konstitutive Elemente: a) eine konkrete, d. h. räumlich-zeitlich-personell abgrenzbare Kollektiveinheit als zwischenmenschliches Beziehungssystem;

b) die einzelnen diesem Beziehungssystem zugeordneten Menschen; c) eine letzten Endes bestimmende und maßgebende Instanz, welche aufgrund eines für verbindlich gehaltenen Maßstabs jedem Individuum die ihm zukommende Stellung innerhalb des Beziehungssystems durch Anordnung bestimmter Verhaltensweisen, vor alllem durch Gewährung bestimmter Befugnisse und Auferlegung bestimmter Pflichten zuweist und sie zwecks Aufrechterhaltung des "status quo" der getroffenen Organisations- und Güterverteilungsordnung in irgend einer Weise 5

Vgl. hierzu oben: "Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozess",

S. 89 ff.

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garantiert (der Gedanke des Aristoteles von der als Göttin hypostasierten "austeilenden" und "ausgleichenden" Gerechtigkeit). B. In einer differenzierten Gesellschaft bereitet die Abgrenzung der Rechtsordnungen von landeren sozialen Ordnungen (insbesondere Moral, Brauch, Sitte, Konvention) Schwierigkeiten, weil gewisse Bereiche des Soziallebens vom positiven Recht nicht erfaßt und dadurch faktisch anderen Sozialordnungen überlassen sind oder weil die Rechtsordnung selbst auf andere soziale Ordnungen verweist (vgl. z. B. §§ 138, 157, 242, 826 BGB). In derartigen Fällen ist manchmal die Grenzziehung zwischen den verschiedenen Ordnungen schwierig. Als Kriterien, mit deren Hilfe eine spezifisch rechtliche Regelung von anderen sozialen Regulatoren unterschieden werden kann, kommen in Betracht: a) Die Verbindlichkeit einer Rechtsordnung ist auf eine zeitlichräumlich-personell abgrenzbare konkrete Kollektiveinheit und deren zwischenmenschliches Beziehungssystem ausgerichtet und beschränkt. b) Die Befugnis und Lasten der durch ein zwischenmenschliches Beziehungssystem miteinander verbundenen Individuen sind zwecks Herstellung eines nach bestimmten Merkmalen ausgerichteten dynaniischen Gleichgewichtszustands innerhalb der Kollektiveinheit aufeinander abgestimmt. e) Es sind Einrichtungen vorhanden und wirksam, welche Verhaltensregeln und Handlungsmuster nicht nur verbindlich postulieren (in Geltung setzen), sondern auch im Interesse der Verwirklichung und Aufrechterhaltung des vorgesehenen Gleichgewichtszustandes die Einhaltung der getroffenen Regelungen durch die Individuen vor allem mit Hilfe eines monopolistisch gehandhabten "Apparats" sozial irgendwie garantieren.

c.

Hiernach sind auch nichtstaatliche Ordnungen, welche eine wenn auch vielleicht nur unvollkommene Institutionalisierung aufweisen, Rechtsordnungen, z. B. die Ordnung der Völkergemeinschaft als Völkerrecht (vgl. hierzu Art. 25 GG), die Ordnungen der Kirchen als "Kirchenrecht" (vgl. hierzu Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WeimVerf), die Ordnung sonstiger öffentlicher oder privater Verbände, welche die Möglichkeit besitzen, kraft Einverständnis oder Satzung einen nach irgend welchen Merkmalen jeweils irgendwie abgrenzbaren Personenkreis einer von ihm selbständig abänderbaren Sonderordnung zu unterstellen (problem der Verbandsautonomie und deren Grenzen).

330

Anhang

2. Mit dem Ausdruck Sozialleben ist das Miteinanderexistieren von Menschen, das sog. zwischenmenschliche Leben gemeint. Auszugehen ist vom Menschen als einem von Natur aus vergänglichen, in Gemeinschaft mit seinesgleichen existierenden, d. h. einem geselligen oder "sozialen" Lebewesen (vgl. Aristoteles: Politik, Buch 1, Kap. II; Buch 3, Kap. VI). Diese Wesensstruktur des Menschen erklärt zugleich die Strukturlemente der menschlichen Gesellschaft: a) die vitale Interrelation (naturnotwendige wechselseitige Beziehung), b) die soziale Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit im Sozialleben), c) die Koordination des Gebarens, d. h. die automatisch sich einstellende Gruppenordnung. 3. Die Gruppe (d. h. geselliges Leben, Zusammenleben von Menschen, Gesellschaftsintegrat) ist das Substrat, das gegeben sein muß, damit das Bedürfnis nach sozialer Ordnung fühlbar wird. Die Ordnung ihrerseits ermöglicht den Bestand der Gruppe. Geselliges Leben und soziale Ordnung bedingen sich gegenseitig und sind notwendigerweise simultan (Theodor Geiger). (Das Prioritätsproblem von Staat und Recht ist ein Scheinproblem). 4. Die durch die Koordination des Gebarens automatisch sich einstellende Gruppenordnung beruht auf der gegenseitigen Bezogenheit des HandeIns der Gruppenmitglieder. Diese orientieren ihr Verhalten und Gebaren an Maximen oder Regeln. 5. Die Orientierung nach einer Regel kann sein: a) rein faktisch und unreflektiert als übung oder Brauch (sog. Regelhaftigkeit), b) Reaktion auf ein Sollen (postulat, Befehl, Zwang) (sog. Regelmäßigkeit). 6. Ist die Orientierung an einer Regel Reaktion auf ein Sollen, so spricht man von Normen (von lat. norma = Winkelmaß). Diese sind Richtschnur und Regel. Ihr Wesen liegt in ihrer Verbindlichkeit. Diese wird gefordert (postuliert). Ob und inwieweit das Postulat erfüllt wird, läßt sich mit Exaktheit für jeden konkreten Einzelfall nicht voraussagen, aber empirisch allgemein bestimmen und statistisch errechnen.

A. "Jeder ist den Gesetzen unterworfen" = Jeder hat die Möglichkeit, entweder sich norm gemäß zu verhalten oder sich normwidrig zu verhalten und hierbei das Risiko der dadurch hervorgerufenen Reaktion des Machtapparates auf sich zu nehmen.

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B. "Dieses Gesetz tritt mit der Verkündung in Kraft" = Vom Verkündungstage an wird erwartet, daß jeder, auf den die Norm gemünzt ist, sich normgemäß verhält. Wird diese Erwartung getäuscht, so wird von denjenigen, welche den Machtapparat zu bedienen haben, erwartet, daß sie normgemäß reagieren. C. "Norm" als verbindlich vorgestellte Regel (Richtschnur) des sozialen Verhaltens ist somit weder Befehl noch Imperativ, sondern Gebarenserwartung. D. Für eine Norm im obigen Sinne ist gleichgültig, ob ihr Inhalt sprachlichen Ausdruck in einem formulierten Normsatz gefunden hat oder nicht (Beispiele: englische Verfassung, Leitsätze des BGH, Handelsklauseln). 7. Die Entstehung der Norm: A. Der kollektive ,Brauch ist noch keine Norm, sondern tatsächliche übung, d. h. soziale Gewohnheit. B. Das Rechnen mit typischen Reaktionen der anderen in typischen Situationen ("mit Leuten, deren Verhalten in typischen Fällen nicht voraussehbar ist, kann man nicht leben"). Vgl. hierzu Beschluß der Vereinigten Großen Senate des BGH in BGHZ 14, 232 (Vertrauensschutz auf verkehrsgerechtes Verhalten). C. Die erstmalige Abweichung von einem bisher rein gewohnheitsmäßig das Handeln steuernden, bestimmten Modell macht dieses zum Inhalt einer Norm, sobald das Handeln entgegen der Gewohnheit als Verletzung sozial geforderter Regelmäßigkeit empfunden wird (opinio necessitatis als Voraussetzung für Gewohnheitsrecht). Ob Handeln entgegen der Gewohnheit (atypisches Verhalten) in typischen Situationen als sozial untragbares Unrecht angesehen wird oder nicht, ist für jedes einzelne seiner Mitglieder von erheblicher Bedeutung. Hierbei sind zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden: a) Ob ein Verhalten als sozial untragbar und deshalb als UnRecht angesehen ist oder nicht, wird von jedem Gesellschaftsintegrat selbst nach den für seine soziale Ordnung als grundlegend angenommenen Wertmaßstäben entschieden (vgl. hierzu BVerfGE 11, 150; Art. 30 EGBGB)G. b) Genügt für die Verhängung einer Sanktion gegen den einzelnen wegen eines Verhaltens, das innerhalb des konkreten Gesellschaftsintegrats als Un-Recht angesehen wird, der Umft

Vgl. auch oben: "Aufgaben und Grenzen der Rechtssoziologie", S. 11 ff.

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Anhang stand, daß eine derartige Norm als solche existiert oder ist weiterhin erforderlich, daß die Norm ihren Ausdruck in einer von der dazu legitimierten Stelle formulierten "Wortnorm" gefunden hat? (Bedeutung der aus der Geschichte bekannten "Gesetzestafeln", der Aufzeichnung von Gewohnheitsrecht, des Satzes "nullum crimen sine lege".) D. Einteilung der Rechtsnormen ihrer Entstehung nach möglich in: a) habituelle Normen (Gewohnheitsrecht): strukturmäßig retrospektiv. Gewohnheitsrechtliche Normen werden oft in Gesetzesnormen umgeformt, wie z. B. der größte Teil der Vorschriften unserer grundlegenden Gesetze, erscheinen also in der Form des gesetzten Rechts, ohne es ihrer Entstehung nach zu seinoa ; b) statuierte Normen = sog. gesetztes ("positiv" von ponere = setzen) Recht, seiner Natur nach prospektiv (deshalb Grundsatz der Nichtrückwirkung von Gesetzen und als Beispiel BVerfGE 11, 139 [145]). E. Das "Unrecht" ist früher als das Verbot (Beispiele: § 49 a StGB "Duchesne-Paragraph"; § 353 a StGB "Arnim-Paragraph"). F. Rechtssoziologische Erklärung für den Grundsatz: "nulla poena sine lege" und das Analogieverbot im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG; § 2 Abs. 1 StGB) und die Aufhebung dieses Verbots und seine Ersetzung durch das Analogiegebot des nationalsozialistischen Gesetzes vom 28. 6. 1935.

8. Die Wirklichkeit einer Norm ist ihre Wirkungschance. A. Der Wirkungschance der Norm entspricht das Risiko des Normbrechers. B. Der Intensitätsgrad der Verbindlichkeit einer Norm kann ausgedrückt werden durch das Verhältnis der Gesamtzahl der Fälle, in denen sich die Norm durch Befolgung oder Reaktion (Sanktion) wegen Nichtbefolgung wirksam erweist, zu der Gesamtzahl der Fälle, in denen Normadressaten in die normative Situation geraten ("Effektivitätsquote"). 9. Wirkungschance der Norm und Intensitätsgrad ihrer Verbindlichkeit werden bestimmt durch: A. die drei Grundtendenzen jeder sozialen Ordnung: a) Dauertendenz (hiergegen richten sich nicht nur kollektive Rechtsbrüche wie Aufstand, Revolution, Krieg, sondern auch der sog. "soziale Wandel"), Ga Vgl. hierüber oben: "Probleme der Kodifikation im Lichte der heutigen Erfahrungen und Bedingungen" S. 139 ff.

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b) Allgemeinverbindlichkeitstendenz (hiergegen richten sich individuelle Rechtsbrüche wie strafbare Handlungen, Ordnungswidrigkeiten u. dgl.), c) Vorbeugungstendenz (der Versuch, kollektive oder individuelle Rechtsbrüche durch Verfassungsbestimmungen und Verbots- und Gebotsgesetze zu verhindern, ist trotz aller Bemühungen im Laufe der Geschichte nicht erreicht worden und vollständig wohl nicht zu erreichen); B. die soziale Anpassung, d. i. bewußte und (oder) unbewußte Nachahmung des Verhaltens der anderen ohne Versuch oder Neigung zur Auflehnung:

a) Trotz weitestgehender Unkenntnis der Normen und ihres Inhaltes wird normgemäß gehandelt. b) Die Anpassungsfunktion des menschlichen Organismus' (spontane Reaktionskraft des Körpers sowohl auf innerorganische Veränderungen als auch auf Änderungen in den äußeren Lebens- und Milieubedingungen, seien sie physikalischer oder sozialer Art). c) Die Richtung der Anpassung ist auf Erhaltung des Organismus' gerichtet. d) Der Grad der Anpassungsfähigkeit wechselt. Die Anpassungsfähigkeit kann durch geeignete Maßnahmen gestärkt, durch ungeeignete Maßnahmen geschwächt werden (Gefängnisse als Korrektionsanstalten; Maßnahmen der Erziehung und Besserung anstelle von Strafen). C. den sozialen Wandel, d. h. die während eines Zeitabschnitts sich vollziehenden Veränderungen in der sozialen Struktur eines Gesellschaftsin tegra ts: a) Faktoren des Wandels können sein: die technische Entwicklung, politische Ideen, übernahme fremden Gedankenguts oder fremder bisher unbekannter materieller Güter 6b • b) Wirkungen des sozialen Wandels sind Spannungszustände, die Anpassungsprozesse auslösen; deren Dauer, Intensität und Ergebnis sind ihrerseits sowohl von der Stärke der den Wandel verursachenden Faktoren als auch von dem Widerstand oder der Bereitschaft der Mitglieder des Gesellschaftsintegrats abhängig, sich gegen den Wandel zu stemmen oder sich für ihn einzusetzen. Sb Vgl. hierüber oben: "Die Einflüsse und Wirkungen ausländischen Rechts auf das heutige türkische Recht" S. 106 ff. und "Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei" S. 121 ff.

Anhang

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c) Der Anpassungsprozeß führt bald zu einem Nachhinken der Rechtsnormen gegenüber der sozialen Wirklichkeit, bald zum Nachhinken dieser gegenüber jenen. Beachte ferner die sozialen Prozesse der Rezeption fremden Rechts und fremder politischer Systeme, die zur Integration, Assimilation oder Akkulturation führen können7 • 10. Das tatsächliche Mißverhältnis zwischen der ungeheuren Anzahl der Fälle des normentsprechenden Verhaltens zu der ihr gegenüber verschwindend geringen Anzahl des normwidrigen Verhaltens (die Normwidrigkeiten als "Krankheiten"; die Gerichte und Gefängnisse als "Kliniken") ist nicht die Folge einer aus ethischen Gründen erfolgenden freiwilligen Achtung des Rechts, sondern beruht auf Reaktionen der psychisch-physischen Natur des Menschen. A. Die Abgrenzung zwischen "normalen" und "anormalen" sozialen Verhalten ("Anomie", "Integration" und "Desintegration"). B. Erklärungsversuche:

a) die "behavior"-Lehre vom umstandsbedingten oder emotionellen Reflex, b) der engraphisch-ekphorische Mechanismus (Mneme-Theorie von Semon); der Vorgang des "Lernens".

c.

Rechtssicherheit bedeutet zweierlei: a) Rechtsgewißheit = Wissen um den Inhalt der Norm, d. h. um die Situationen und Verhaltensweisen, die außerhalb oder innerhalb der sozialen Risikozone liegen. Bei unklaren, verwickelten, ständig wechselnden Gesetzen und Vorschriften, bei einer widerspruchsvollen und unbeständigen Rechtsprechung und bei unklarer und schwankender Zuständigkeitsabgrenzung der Verwaltungsbehörden kann eine Rechtsgewißheit sich nicht einstellen. (Beachte auch die Zunahme des normwidrigen Verhaltens, fälschlich oft Anstieg der Kriminalität genannt, in Zeiten sozialer Erschütterungen durch politischen Umsturz, Krieg und Krisen).

b) Rechtssicherheit im eigentlichen Sinn = Zuversicht auf die Höhe des Intensitätsgrades der Verbindlichkeit der Norm. Die Rechtssicherheit ist proportional der Verbindlichkeitsintensität der Norm. Wird normwidriges Verhalten nach-

7 Vgl. hierüber oben: "Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozeß " , S. 89 ff. und "Film- und Fernsehrecht als Problem der Rechtsangleichung" , S. 224 ff. Ferner: "Einheitliches Wechselgesetz oder einheitliches Wechselrecht?" S. 210 ff.

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lässig, willkürlich oder gar nicht geahndet, so wird die Rechtssicherheit erschüttert. D. Trotz Verschiedenheit der Faktoren, welche die Wirkungschancen der Norm, ihren Intensitätsgrad beeinflussen, ist normentsprechendes und normwidriges Verhalten abhängig: a) von dem Umfang an Erfahrung und Wissen hinsichtlich dessen, welches typische Verhalten in typischen Situationen gefordert wird, d. h. von dem Grad der Rechtsgewißheit und Rechtssicherheit; b) von dem Grad der sozialen Anpassungsfähigkeit des einzelnen; c) von den faktischen Machtverhältnissen innerhalb des konkreten zwischenmenschlichen Beziehungssystems. E. Die Rechtsbrüche individueller oder kollektiver Art beruhen letzten Endes auf drei Ursachenbereichen: a) auf dem Widerspruch zwischen dem innerhalb der Gruppe üblichen Verhalten und dem durch statuierte Rechtsnormen erwarteten Verhalten (dies vor allem bei politischen und sonstigen Reformversuchen; das Rechtsgesetz als "Hebel" für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse); b) auf ungenügender Anpassungsfähigkeit der Individuen. Die Ursachen hierfür können natürlicher Art sein (Anomalien biologischer Natur) oder künstlicher Art (unzureichende Vorbereitung des Individuums durch die Gruppe auf das soziale Leben); c) auf der seelischen Einstellung der Individuen zu ihrer tatsächlich bestehenden Lage (Auflehnung gegen die bestehende Ordnung durch normwidriges Verhalten). 11. Für den Juristen ist "Recht" die Gesamtheit der Rechtsregeln, also ein Normensystem, für den Soziologen dagegen ein Teilgebiet der sozialen Wirklichkeit. Für den Rechtssoziologen sind nur diejenigen Ausschnitte des Soziallebens wichtig, welche in irgend einer Weise rechtlich "organisiert" sind. "Organisation" hat ebenso wie "Ordnung" einen doppelten Sinn: einmal als Bezeichnung des Vorgangs (= Organisieren), sodann als Bezeichnung des Ergebnisses (= organisiertes Gebilde). "Organisation" ist künstliche Ordnung, welche die rein faktisch entstandene sog. natürliche Ordnung zweckbewußt umbildet. Die rechtliche Organisation findet ihren Niederschlag in den sog. Abgrenzungsformationen: A. Für jedes zwischenmenschliche Beziehungssystem ist außer der

sozialen Güterverteilungsordnung der als legitim behauptete

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Rahmen von Bedeutung, innerhalb dessen es sich befindet. Durch die rechtliche Organisationsform wird deutlich gemacht, daß die "Organisatoren" (= Gesetzgeber) den Anspruch darauf erheben, daß die getroffene Güterverteilung rechtmäßig, d. h. legitim8 , sei. B. "Soziale Rechtsrealität heißen jene zwischen Menschen tatsächlich bestehenden Abgrenzungsformationen, die für sich rechtliche Legitimität in Anspruch nehmen" (Kraft). 12. Beispiele für soziale Sachverhalte innerhalb oder außerhalb der rechtlichen Organisationsform: A. das auf Dauer berechnete Zusammenleben eines Mannes mit einer Frau in der rechtlichen Organisationsform als Ehe und deshalb legitim, außerhalb der rechtlichen Organisationsform als Verhältnis oder wilde Ehe und deshalb illegitim. Beachte die durch soziale Erschütterungen hervorgerufenen Grenzfälle, wie z. B. die Gefährtin in der Wiedergutmachungsgesetzgebung, die Onkelehe, die "Ehrlich"-machung unehelicher Kinder nach den entsprechenden türkischen Gesetzen; B. die politischen Machtverhältnisse in der rechtlichen Organisationsform als Herrschaftsmacht legitim, außerhalb der rechtlichen Organisationsform als Willkürherrschaft illegitim. Auch hier Grenzfälle: Anerkennung de facto, Anerkennung de iure, die sog. normative Kraft des Faktischen.

13. Die rechtliche Organisationsform hat eine stabilisierende Wirkung auf die sozialen Sachverhalte. Das Wort von Jean Jacques Rousseau: "Der Mächtigste ist niemals mächtig genug, wenn er nicht seine Macht in Recht und den Gehorsam in Rechtpflicht verwandelt" und der entsprechende Satz von Talleyrand, daß man mit den Bajonetten alles machen könne, nur nicht auf ihnen sitzen, sind Ausdruck des Gedankens, daß ein Bedürfnis danach besteht, einen bestimmten sozialen Zustand als legitimen Rechtszustand auszuweisen. 14. Das Verhältnis von Macht und Recht 9 : A. Soziale Macht ist die Chance eines Menschen oder einer irgendwie organisierten Menschengruppe, andermenschliches Verhalten steuern zu können. a) Diese Chan'Ce beruht auf primären (natürlichen) und (oder) sekundären (sozialen) Machtfaktoren, welche berechenbaren und unberechenbaren Veränderungen unterliegen. 8 über die Bedeutung der "Legitimierung" vgl. oben: "Rationale Legitimierung eines Staatsstreiches als soziologisches Problem", S. 260 ff. g Hierüber eingehend oben: "Macht und Recht", S. 243 ff.; "Koexistenz", S. 292 ff.; Sozialistische Gesetzlichkeit", S. 275 ff.

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b) Sie wirkt nur im Verhältnis zu bestimmten oder bestimmbaren anderen Individuen und Gruppen, soweit als im tatsächlich gegebenen Beziehungssystem der eine auf den anderen faktisch einzuwirken vermag (Macht als "Können", "Vermögen", "potentia", "pouvoir", "power"). B. Urwiderstreit zwischen Machtmehrungsinteresse und Machterhaltungsinteresse (Heraklit: "Der Krieg ist der Vater und der König aller Dinge"). Machterhaltung oder Machtzuwachs· durch bewußte Verknappung von Mitteln ist auf allen Stufen menschlichen Miteinanderlebens eine Grundtatsache (Beispiele: Beschränkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, der Rüstungen, Verbot der Atomwaffen). C. Die Macht bedarf der Legitimierung durch das Recht. a) Das Rechtfertigungsbedürfnis (justi-fieatio) ist nichts weiter als eine Begleiterscheinung des Machterhaltungs- und Machtmehrungstriebes. b) Bei Rechtfertigungsversuchen wird oft eine logisch richtige Aussage dem sachlich angemessenen und sittlich guten, d. h. gerechten Werturteil gleichgesetzt. e) Legitimität als Eigenschaft einer den Gebrauch der Machtfaktoren regulierenden sozialen Ordnung ist die Voraussetzung dafür, daß die durch die Ordnung angesprochenen Mitglieder einer Gruppe an die Verbindlichkeit dieser Regelung deshalb glauben, weil ihrem Rechtfertigungsbedürfnis Genüge geschehen ist. Quellen des Legitimitätsglaubens entweder innerlich (religiös-emotional, wertrational) oder äußerlich in der Furcht vor Sanktionen; Ideologien als wichtiges Mittel der innerlichen Garantiewirkung. Die Ausnutzung des an religiöse Bereiche appellierenden politischen Wunderglaubens und heutzutage vor allem des "Wissenschaftsaberglaubens" (Jaspers). D. Die Grenzziehung zwischen dem zulässigen Gebrauch und dem unzulässigen Mißbrauch der Machtfaktoren beruht auf den Vorstellungen, die in einer irgendwie organisierten Menschengruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt über die zureichenden Rechtfertigungsgründe für die Macht- und Güterverteilung maßgebend sind. E. Das Recht hebt sich von sonstigen sozialen Ordnungen ab durch die Legalität seiner Maßnahmen und Einrichtungen und durch seinen Zweckcharakter. Legalität verlangt:

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Anhang a) formelle Ordnungsmäßigkeit und b) Legitimitätsglauben als ideelle Rechtfertigung der formellen Legalität (z. B. die sog. "sozialistische Gesetzlichkeit", die Legalität der in der SBZ zur Anwendung kommenden Normen). F. Recht ist diejenige der sozialen Lebensordnungen, welche eine als legitim anerkannte Regelung der Machtverhältnisse mit Hilfe eines monopolistisch gehandhabten Sanktionsapparates zwangsmäßig garantiert. a) Demnach ist Recht der Maßstab, mit dessen Hilfe die Ausübung der Macht und der Gebrauch der Machtmittel als der Ordnung entsprechend oder widersprechend qualifiziert werden können. b) Recht, auf den Begriff der Macht bezogen, ist Modalität der Machtausübung, Regulation der Machtverhältnisse (Theodor Geiger). G. Die Antwort auf die Frage, inwieweit die Auspendelung der Machtverhältnisse sich selbst überlassen bleiben kann oder mit Hilfe des Rechts und des hinter ihm stehenden Sanktionsapparates anders zu regulieren ist, ist abhängig davon: a) nach welchen Kriterien der rechtsfreie von den rechtlich regulierten Teilbereichen des Soziallebens abgegrenzt werden soll (theoretisch denkbare äußerste Pole: Zwangsregulierung aller Machtverhältnisse - völliger Verzicht auf jede Regulierung der Machtverhältnisse; die faktische Regelung steht je nach den in einer Gruppe jeweils herrschenden Wertvorstellungen bald dem einen, bald dem anderen Pol näher: die rechtlich nicht regulierte Sphäre erscheint danach entweder als Regel oder als Ausnahme); b) inwieweit mit den Mitteln und auf den Wegen des Rechts eine Regulierung der Machtverhältnisse faktisch möglich ist, d. h. Normen über den Gebrauch der Macht mit Hilfe des Zwangsapparates des Rechts durch Sanktionsdrohungen oder durch Sanktionsvollzug erzwungen werden können (Frage nach der Natur des Menschen).

15. Neben dem Recht gibt es noch andere auf die Regulierung des Soziallebens gerichtete Ordnungen, welche mit gleichem Geltungsanspruch sich an das Individuum wenden, aber hinsichtlich der Verbindlichkeit ihrer Normen verschiedene Grade der Wirkungschance haben. Beachte in diesem Zusammenhang die sozialen Ordnungen: a) der Religion;

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b) der Moral (Sittlichkeit: ein System von Handlungsmustern, die als gut beurteilt und deshalb befolgt werden ohne Rücksicht auf etwaige Folgen. Unterscheide traditionelle Moral (Gruppenmoral), dogmatische Moral und autonome Moral; c) der Sitte: die Regelmäßigkeit des Verhaltens; d) der Konvention (z. B. gesellschaftlicher Verkehr, Sprache): ethisch indifferent und auf stillschweigender übereinkunft oder überlieferung oder gelegentlichen Verabredungen beruhend. 16. Die gegenseitigen Beziehungen der genannten "Ordnungen" sind verschieden: A. Hierarchie der Werte bedingt Hierarchie der Ordnungen. B. Verschiedene Lösungsversuche der Konflikte: "Gib dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist", Verhältnis von Staat und Kirche; innere Freiheit und sozialer Zwang. C. Beziehungen des Rechts zu den anderen Ordnungen. Beispiele: a) zur Religion: die religiöse Form des Eides (Schopenhauer bezeichnet den Eid als "Eselsbrücke" des Juristen); Strafbarkeit von Gotteslästerung; b) zur Moral: Verstöße gegen die guten Sitten (§§ 138, 826 BGB); c) zur Sitte: die Berücksichtigung der Verkehrs sitte (§§ 157, 242 BGB); d) zur Konvention: Gefälligkeitsfahrten, Bestrafung wegen groben Unfugs.

VIII. Das Recht als Funktion des Soziallebens 1. Das Recht als Regulator des Soziallebens ist Mittel zum Zweck. Die teleologische Denkweise bezieht sich auf menschliches Handeln, bei dem ein vorgestelltes Ziel mit angemessenen Mitteln zu erreichen versucht wird. Die Vorstellung von dem Ablauf des Soziallebens, von der Wirkungsweise und Wirksamkeit der Regulierungseinrichtungen und -maßnahmen stimmt in Anbetracht des beständigen Wechsels der das Sozialleben bestimmenden Faktoren und der Unzulänglichkeit der menschlichen Kenntnisse, Erkenntnisse und Fähigkeiten niemals mit der Wirklichkeit überein. Es ist zu untersuchen, welche Faktoren für das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit im einzelnen entscheidend sind. 2. Da die Vorstellung einer strengen Verknüpfung von Ursache und Wirkung (Kausalitätsprinzip) durch die Erkenntnisse der Quanten-

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Anhang mechanik, der Ungewißheitsrelationen und dgl. erschüttert ist, wird in der modernen Wissenschaft der Ursachenbegriff durch den mathematischen Funktionsbegriff ersetzt. "Funktion" in dem hier gemeinten Sinne bedeutet nicht Betätigungsweise von körperlichen Organen wie z. B. in Biologie und Physiologie, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Größen derart, daß die Veränderung der einen Größe notwendig eine Änderung der anderen zur Folge hat (a = f [b], in Worten: wenn sich b verändert, muß sich auch a verändern).

3. Das lebende Recht ist eine Funktion des Soziallebens, d. h. Veränderungen des Soziallebens haben eine Änderung des lebenden Rechts notwendig zur Folge. Unterscheide:

a) das geltende Recht = Gesamtheit der rechtlichen Regulierungsmittel, so wie sie angewandt werden sollen (sog. Idealität des Rechts);

b) das lebende Recht = Gesamtheit der rechtlichen Regulierungsmittel, so wie sie tatsächlich befolgt und angewandt werden (Realität des Rechts). 4. Die Ursachen des Auseinanderfallens von geltendem und lebendem Recht liegen in den Schwierigkeiten des Erkennens, des Wertens, des Formulierens, des Verstehens, des Durchführens und Anwendens. 5. Ein bestimmter Rechtszustand (jetzt, hier, so) läßt sich als das Ergebnis sozialer Kräfte begreifen ("Parallelogramm der Kräfte"). Dieses Ergebnis unterliegt dauernden Veränderungen deswegen, weil Richtung und Intensität der wirkenden sozialen Kräfte sich in unaufhörlichem Wandel verändern und verschieben. Die Rechtsgeschichte stellt Entwicklungsreihen dar, die durch die allgemeine MenschennatuT und ihre Umweltbedingungen determiniert sind. Die Verschiedenheit der Rechtszustände nach Ort und Zeit ist, m. a. W., nichts weiter als der Ausdruck dafür, a) daß der Mensch als körperlich-geistig-seelisches Wesen kraft seiner Zugehörigkeit zur Gattung "Mensch" zwar Eigenschaften hat, die als konstant, d. h. von Ort und Zeit unabhängig gedachte Faktoren für das Sozialleben und damit zwangsläufig für seine Ordnung bedeutsam sind; b) daß aber jeder Mensch als Individuum in seinem Verhalten beeinflußt wird durch die materiellen und immateriellen Bedingungen des Soziallebens der Gruppe, deren Element er ist; c) und daß durch die Koordination des derartig determinierten Verhaltens die tatsächliche Gruppenordnung sich bildet.

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6. Die Faktoren des Soziallebens lassen sich somit wissenschaftlich unterscheiden in unveränderliche (konstante) und veränderliche (variable) Größen. 7. Die Konstanten der sozialen Rechtsrealität sind psychischer oder physischer Natur. Die psychischen Konstanten kann man trennen in außerrechtliche (metajuristische) und innerrechtliche (juristische).

8. Außerrechtlich sind folgende Konstanten psychischer Art: a) der außerrechtliche Interessenkampf (Antagonismus) innerhalb einer jeden Gruppe, hervorgerufen durch Triebe, Leidenschaften, Vernunfterwägungen, Begehrensvorstellungen; b) die geistig-seelische Haltung (Attitüde) innerhalb einer Gruppe, bestimmt durch die Reaktionen des Unbewußten und Unterbewußten, der Erfahrung und der Erziehung (Theodor Litt: "Reziprozität der Perspektiven"; das Problem der sog. "Klassenjustiz" und der "Volksrichter"); c) die Willensenergien (Erziehung und Gesetzgebung haben nur dann einen Sinn, wenn der Wille durch sie determiniert werden kann); d) das Gewissen. 9. Zu den innerrechtlichen Konstanten psychischer Natur gehören: a) der Rechtsgehorsam (vgl. oben VII 5-9), b) der Legitimitätsglaube (vgl. oben VII 11-14), c) das Rechtsbewußtsein (vgl. unten VIII 10), d) das politische Machtstreben (vgl. unten VIII, 11). 10. Das Rechtsbewußtsein (Rechtsgefühl, Rechtsempfinden) gilt in der . Rechtsphilosophie bald als rechterzeugende Kraft (Volksgeisttheorie), bald als kritische Instanz für das positive Recht zur Erklärung des Massenwiderstandes gegen eine gesetzte Norm, bald als für die soziale Geltung konstitutive Kraft. a) Welche Inhalte das sog. Rechtsbewußtsein bei den einzelnen und durchschnittlich bei ganzen Kategorien von Personen hat, kann nur introspektiv vermutet, nicht objektiv erwiesen werden. Fest steht nur, daß Erlebnisse und Beobachtungen rechtlichen Inhalts von psychischen Vorgängen begleitet sind. b) Sind billigende oder mißbilligende Reaktionen durch spezifische rechtliche Vorstellungen motiviert? aa) Die Meinungsbildung über Rechtsfragen ist eine Voraussetzung des Rechtslebens. Die Rechtsentwicklung setzt voraus,

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Anhang daß die Gesellschaftsmitglieder meinend und meinungsäußernd an der Rechtsgestaltung Anteil nehmen. bb) Ausgeprägte öffentliche Rechtsmeinungen setzen den Steuerungsmöglichkeiten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Grenzen. cc) "Ein vor jedem positiven Recht gegebenes, im Verhältnis zu ihm autonomes Rechtsbewußtsein ist Nonsens" (Theodor Geiger). c) Unterscheide: aal Ideales Rechtsbewußtsein = Meinungen über "richtiges Recht", bb) positives Rechtsbewußtsein = Rechtsgewißheit (oben VII 9D a), cc) juristisches Rechtsbewußtsein = rechtlich geschultes Denken der Juristen.

11. Das politische Machtstreben beruht auf der seelischen Einstellung der Gruppenmitglieder zu ihrer tatsächlich bestehenden sozialen Lage. a) Diese Einstellung kann sein: aal passiv: Glaube an das Fatum, an das Ausgeliefertsein und das eigene Unvermögen zur Änderung der bestehenden Verhältnisse. bb) aktiv: Glaube an die Freiheit und an die Möglichkeit der Änderung des status quo. b) Ausdruck der passiven Einstellung sind die soziale Anpassung und das Streben, ·außerhalb der Risikozone zu bleiben (oben VII 8 B). c) Ausdruck der aktiven Einstellung ist die Auflehnung gegen die bestehende Ordnung der Dinge, und zwar: aal durch bewußt normwidriges Verhalten (Anarchisten, Revolutionäre), bb) durch den Kampf um die politische Macht mit Mitteln und auf Wegen, die nicht normwidrig sind. d) Die politisch aktiven Individuen wollen das Verhalten der Gruppenmitglieder steuern. Beachte: aal Normative Herrschaftsmacht und faktische Herrschaftsmacht fallen oft auseinander. bb) "Der Gesetzgeber", "die Verwaltung", "die Rechtspflege" sind Abstraktionen. Wirklich sind nur die Menschen, welche die entsprechenden Funktionen ausüben.

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12. Unter Variablen (Veränderlichen) werden die Lebensbedingungen verstanden, unter denen die Menschen innerhalb eines Gesellschaftsintegrats leben. a) Umwelt (Milieu) ist die Gesamtheit der nach Land und Zeit wechselnden Faktoren, welche für das Verhalten der in einem Gesellschaftsintegrat lebenden Menschen von Bedeutung sind. b) Diese Faktoren bedingen die erheblichen Unterschiede in der rechtlichen Organisation der verschiedenen Gruppen. Schon Montesquieu hat gefordert, daß sich das positive Recht diesen Umweltsfaktorenanpasse. e) Gleicher Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen in verschiedenen Staaten bedeutet nicht gleiches Recht. d) Rechtsregeln sind farblos, solange sie nicht in Beziehung gesetzt werden zu einem bestimmten Gesellschaftsintegrat und seiner Umwelt. 13. Man kann die variablen Faktoren theoretisch in verschiedene Gruppen scheiden, muß aber ihre faktische Interdependenz beachten: a) außerrechtliche Variable: aa) geographisch-demographische Gegebenheiten, bb) politische Kräfte, ce) wirtschaftliche Beziehungen, dd) kulturelle Einrichtungen; b) innerrechtliche Variable: der Rechtsmechanismus (Bürokratie und Apparat).

14. Politische Variable: die Interessengruppierungen, ihre Organisation und Beeinflussungsmittel und -wege sind nach Land und Zeit verschieden. a) Spannungsverhältnis zwischen den tatsächlichen Machtverhältnissen und ihrer rechtlichen Ordnung. Beachte den Unterschied zwischen rechtlichem Grundgesetz (Verfassungsurkunde) und tatsächlicher Verfassung. aa) Die tatsächliche Verfassung (Verfassungswirklichkeit) ist das Ergebnis des politischen Kräftespiels (das sog. politische Gleichgewicht). bb) Die Verfassungsurkunde ist dagegen der Ausdruck der Vorstellungen, welche die im Augenblick der Formulierung der Verfassungsurkunde herrschende Gruppe über die rechtliche Regulierung der politischen Machtverhältnisse hegt und als Ausdruck des Gesamtwillens mit dem Anspruch auf Legitimität postuliert.

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Anhang cc) Neben den in der Verfassungsurkunde vorgesehenen und durch Zuständigkeitsordnung voneinander abgegrenzten legitimen Faktoren der politischen Willens bildung spielen in der Verfassungsurkunde nicht vorgesehene soziale Kräfte (z. B. Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften u. dgl.) eine erhebliche Rolle. dd) Der Grad der übereinstimmung zwischen Grundgesetz und tatsächlicher Verfassung hängt davon ab, inwieweit die tatsächlichen Machtverhältnisse des politischen Lebens mit den in der Verfassungsurkunde vorgestellten Machtverhältnissen übereinstimmen (Beispiel: die Weimarer Verfassung während der nationalsozialistischen Periode). b) Politische Macht stützt sich auf Beeinflussungsmittel: aal der Machtkampf der Interessentengruppen; bb) die politischen Parteien als Interessentengruppen: 1. echte Interessenvertretungsparteien, 2. Weltanschauungsparteien; ce) berufsständische Vertretungen: 1. der ursprüngliche Sinn des Wahlbezirks: Ausdruck gemeinsamer Interessen der durch Nachbarschaft verbundenen Bodenbesitzer, 2. berufsständische Vertretung durch das Kammersystem (Ärztekammer, Anwaltskammer, Handwerkskammer usw.); dd) in den größeren Parteien wird der Parteiapparat, ursprünglich nur ein Mittel, zum Selbstzweck ("Herrschaft der Manager"). c) Oligarchie besteht immer und unter jeder Staatsform. Die oligarchische Tendenz der politischen Parteien wird sozialpsychologisch zu erklären versucht durch die Beeinflussung der Massen mittels Presse, Rundfunk, Film und die hierdurch erzeugte einheitliche Gefühlsstimmung. d) Beachte folgende Gegensätze: aal Vergesellschaftung des Staates - Verstaatlichung der Gesellschaft, bb) politische Kräfte - staatliche Macht, cc) Vorhandensein der Machtmittel - Gebrauch der Machtmittel, dd) Leugnung des Vorhandenseins der Macht - Beweis des Vorhandenseins der Macht.

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15. Wirtschaftliche Variable: Der Inhalt jeder Rechtsordnung ist abhängig von der Gesamtheit der wirtschaftlichen Faktoren. Diese sind ihrerseits abhängig von den natürlichen Gegebenheiten, von der Lebensauffassung der Menschen und den im Schwange befindlichen Ideologien. Beispiele der Einwirkung wirtschaftlicher Faktoren auf das Recht: Parlament, kanonisches Zinsverbot, Inhalt und Umfang des Eigentums, Sicherungsübereignung, Ein-Mann-Gesellschaft, Tarifvertrag, Urheberrecht10• 16. Kulturelle Variable: Der Inhalt des lebenden Rechts ist ferner abhängig von dem kulturellen Niveau (Kultur in weitestem Sinne verstanden einschl. Zivilisation). Beispiele: a) Religion und Recht: aal Herleitung des Rechts aus der Religion (fas - ius, ThemisDike) ,

bb) Einheit, Vermengung, Trennung beider; b) Schuld und Sühne: aal die Strafrechtstheorien, bb) Einzelhaftung und Gruppen- (Sippen-)haftung; c) Schadenszufügung und Ersatzverpflichtung: aal Verursachungs- oder Verschuldenshaftung, bb) Haftung mit Person oder Vermögen, cc) materieller und immaterieller Schaden.

17. Rechtliche Variable: Der Rechtsmechanismus beeinflußt seinerseits das soziale Leben. Rechtsmechanismus ist Gesamtheit der formellen und materiellen Rechtsregeln und der zu ihrer Anwendung bestellten Institutionen. Das Funktionieren des Rechtsmechanismus ist abhängig: a) von der Art und Weise seiner Bedienung (auch Beamte sind Menschen!)11, b) von der Anwendung lauf Menschen (Undurchführbarkeit wegen tatsächlicher Unmöglichkeit oder mangelhafter Erziehung).

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Hierüber vgl. oben: "Urheberrecht und verwandte Rechte" S. 193 ff. Hierüber vgl. oben: "Was kümmert uns die Rechtssoziologie?" S. 38 ff.