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German Pages 209 Year 2013
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Band 93
Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren Von
Achim Schulz-Arenstorff
Duncker & Humblot · Berlin
ACHIM SCHULZ-ARENSTORFF
Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Band 93
Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren Eine auch rechtsvergleichende Evaluation von Normen des deutschen und schweizerischen zivilprozessualen Wiederaufnahmerechts
Von Achim Schulz-Arenstorff
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.
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Inhaltsverzeichnis Teil 1 Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
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§ 1 Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Eingrenzung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Durchführung der Arbeit als Gesetzesevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Gang der Untersuchung und Ablauf der Evaluation(en) . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und Entwicklung der außerordentlichen Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Der Funktionswandel des Zivilprozessrechts vom Rechtsdurchsetzungs- zum Rechtsgewinnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Prozesszweck und materielle Rechtskraft sachlich unrichtiger Urteile . . . . . 21 3. Richtigkeitspostulat und Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe
23
III. Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Die Spruchtätigkeit des Richters als soziales Handeln i.S.d. Soziologie . . . . 24 2. Annäherung der Zivilprozessrechtswissenschaft an die Rechtssoziologie . . . 25 3. Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Zivilprozessrechts . . . . . . 27 IV. Zivilprozessrecht und Zivilprozessrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Der Beitrag der Rechtsvergleichung zur Fortentwicklung des Prozessrechts
28
2. Ziele und Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz . . . . . . . . . . . 29 V. Richtigkeitsgewähr und Rechtskraft der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Rechtskraftdurchbrechung nach früherer Rechtsprechung des BGH . . . . . . . 31 2. Das Richtigkeitspostulat nach gegenwärtiger Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Die „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ nach Peter Gilles . . . . . . . . . . . . . 32 b) Die Rechtskrafttheorie nach Ulfrid Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Die Wiederaufnahmetheorie Johann Brauns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
6
Inhaltsverzeichnis § 2 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation(en) . . . . . . . . . . . . . 36 I. Darlegung der Evaluationskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Klarstellung der zu überprüfenden Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Gegenstand der Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Zielsetzung der Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Durchführbarkeit der Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Probleme der methodengerechten Durchführung der Evaluation . . . . . . . . . . 39 2. Schwierigkeiten bei der Hypothesenüberprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Einschränkungen bei der Erfüllung der Evaluationsstandards . . . . . . . . . . . . 41 a) Fehlen einer verwertbaren Justizstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Selektion bei der Inanspruchnahme der außerordentlichen Rechtsbehelfe
43
III. Die Untersuchung als interdisziplinäres Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Konkretisierung der Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Die Richterkontrolle im Interaktionsfeld von Rechtsstab und Prozesspartei
47
IV. Abgrenzung der Begriffe Rechtsschutz, Kontrolle und Sanktion . . . . . . . . . . . . 48 1. Begriff Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Begriff Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Begriff Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 V. Kontrolle von Rechtsbeugung, Despotismus und Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . 51 1. Die Kompetenzfrage bei der Wahrnehmung von Kontrollmaßnahmen . . . . . 52 2. Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Notwendigkeit der Richterkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Teil 2 Durchführung der Evaluation: Feststellung des Befunds und Ermittlung der Interventionswirkungen
57
§ 3 Erfassung der gesetzlichen Vorgaben der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 I. Überprüfbarkeit sachlich fehlerhafter rechtskräftiger Endurteile de lege lata . . 59
Inhaltsverzeichnis
7
1. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand außerordentlicher Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Greifbare Gesetzwidrigkeit als richterlicher Kunstfehler . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) Greifbare Gesetzwidrigkeit und objektive Willkür . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Greifbare Gesetzwidrigkeit und außerordentliche Anfechtbarkeit der rechtskräftigen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Der Funktionsverlust der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als Instrument zur Abwehr strafbaren judikativen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Die strafgerichtliche Verurteilung des Richters als Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 II. Feststellung des Gesetzeszwecks der zu evaluierenden Normen . . . . . . . . . . . . 68 1. Zum Regelungszweck des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Zum Regelungszweck der §§ 580 Nr. 5 ZPO mit 339 StGB . . . . . . . . . . . . . 69 III. Zur Rechtsschutzgewährleistung nach deutschem Zivilprozessrecht . . . . . . . . . 70 1. Das deutsche Zivilprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht . . . . . . 70 a) Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . 70 aa) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Auffangrecht . . . . . . . 71 bb) Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . 72 b) Die Gestaltung der deutschen ZPO unter dem Einfluss des BVerfG . . . . . 74 2. Exkurs: Rechtshistorischer Rückblick auf die Rechtsschutzgewährleistung unter dem Dogma vom Rechtsschutz durch, aber „nicht gegen den Richter“ 76 a) Anerkennung ungeschriebener Ausnahmerechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Die These Voßkuhles vom „sekundären Kontrollanspruch“ . . . . . . . . . . . 77 c) Die Kontroverse „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage“ . . . . . . . . 79 d) Einführung der Anhörungsrüge durch die ZPO-Reform 2002 . . . . . . . . . . 80 aa) Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30.04.03 . . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Neufassung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügengesetz . . . . . 82 cc) Wegfall der Ausnahmerechtsbehelfe als nicht geplanter Nebeneffekt? 83
8
Inhaltsverzeichnis IV. Die Rechtsschutzgewährleistung nach Europäischem Zivilprozessrecht und deren Einfluss auf die deutsche und schweizerische ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Die Rechtsschutzgarantie nach Unionsrecht und der EMRK . . . . . . . . . . . . . 85 a) Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Verpflichtung zur Einführung effektiver Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Vorabentscheidungsverfahren und Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Die Rechtsschutzgarantie nach der Schweizerischen Bundesverfassung . . . . 90 3. Zur „Revision“ i.S.d. bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO . . . . . . . . . 92 4. Folgen der Verurteilungen durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 § 4 Erfassung der für die Richterkontrolle maßgeblichen sekundären Sanktionsnormen 94 I. Zu den gesetzlichen Vorgaben der richterlichen Entscheidungsfindung . . . . . . 94 1. Gesetzesbindung und Kontrolle der richterlichen Spruchtätigkeit . . . . . . . . . 94 a) Die Kontroverse Hassemer – Rüthers zur Bedeutung der Gesetzesbindung 95 b) Die Diskrepanz zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung
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2. Der Rechtsstab als Adressat von Verhaltens- und Sanktionsnormen . . . . . . . 99 a) Unterscheidung Verhaltens- und Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Die auf die richterliche Spruchtätigkeit bezogenen Verhaltensnormen . . . 100 aa) Das Postulat der Gesetzesbindung als sekundäre Verhaltensnorm . . . 100 bb) Spezielle Verhaltensnormen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Das ungeschriebene Gebot der Unterlassung greifbarer Gesetzwidrigkeiten und elementarer Rechtsverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Das Entscheidungsverhalten des Richters im Kernbereich seines Wirkens (der Spruchtätigkeit) als Sanktionsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Bedeutung und Funktion der sekundären Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Sanktionierung der Missachtung des Postulats der Gesetzesbindung? . . . . . 106 3. § 26 DRiG als Sanktionsnorm das sonstige richterliche Verhalten betreffend 107 III. Lückenhafte Sanktionierung der Verletzung der Verfahrensgrundrechte . . . . . . 108 1. Die Ausnahmevorschrift des § 321a ZPO bei Gehörsverletzungen . . . . . . . . 108 2. Keine Sanktionierung der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte
109
3. Kein effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Inhaltsverzeichnis
9
§ 5 Schilderung der durch die Interventionen in die ZPO bewirkten Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Evaluierung der Vorschrift des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Bisherige Ansätze zu Evaluationen die Anhörungsrüge betreffend . . . . . . . . 112 a) Der Erfahrungsbericht Vollkommers aus dem Jahr 2004 . . . . . . . . . . . . . . 113 aa) Feststellung der Problematik des Anhörungsrügenverfahrens . . . . . . . 113 bb) Die Schlußfolgerungen Vollkommers aus den Fallanalysen . . . . . . . . 114 b) Die massive Kritik Egon Schneiders am Anhörungsrügengesetz . . . . . . . 115 c) Weitere kritische Äußerungen zur Vorschrift des § 321a ZPO . . . . . . . . . 117 2. Ablehnende Haltung der Justiz zur Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Die Rechtsprechung zur Garantie des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . 118 b) Abwehrhaltung und Abwehrmechanismen der Richterschaft . . . . . . . . . . 120 c) Zwischenergebnis die Anhörungsrüge betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Anhörungsrüge und Nichtzulassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Das Gesetz vom 07.07.11 zur erneuten Änderung des § 522 ZPO . . . . . . 123 b) Einschränkung des Anwendungsbereichs der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . 124 aa) Gleichstellung der Zurückweisungen durch Urteil und Beschluss . . . 124 bb) Folgen der Änderung des § 522 II ZPO in eine Soll-Vorschrift . . . . . 125 cc) Die nicht genutzte Alternativlösung: Reform des § 321a ZPO . . . . . . 127 c) Willkürliche Ungleichbehandlung der Beschlusszurückweisungen nach der Höhe des Beschwerdewertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Evaluierung der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB . . . 129 1. Die Rechtsprechung des BGH zum Verbrechen der Rechtsbeugung . . . . . . . 130 2. Faktische Entkriminalisierung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Der Sonderfall der Rechtsbeugung des Kollegialgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Zwischenergebnis bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO: Auswirkungen der Entkriminalisierung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Teil 3 Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung der Evaluationsergebnisse
136
§ 6 Ursachenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Anhörungsrüge betreffend . . . . . . . . . . . 136
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Inhaltsverzeichnis 1. Fehlerhafte Implementierung des § 321a ZPO in das Gesetz . . . . . . . . . . . . . 137 2. Fehlen der psychischen Wirksamkeitsfaktoren der Effektivität . . . . . . . . . . . 138 3. Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Der „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG im Plenarbeschluss E 107, 395 141 b) Die Anhörungsrüge als Produkt einer Alibi-Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . 142 II. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Restitutionsklage betreffend . . . . . . . . . 143 1. Die Zugangssperre des § 581 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Notwendigkeit der Berichtigung des § 581 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Die Gegenansicht des BGH zur Auslegung des § 581 I ZPO . . . . . . . . . . 144 2. Wegfall der Sanktionsgeltung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Instrumentelle oder symbolische Geltung des § 339 StGB? . . . . . . . . . . . 146 b) Unzulängliche Konzeption des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Regelmäßiges Scheitern des Klageerzwingungsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 III. Zusammenfassung und Bewertung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Bewertung des Befunds bezogen auf die Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Bewertung des Befunds bezogen auf die Restitutionsklage . . . . . . . . . . . . . . 150
§ 7 Auswertung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Zu den Versuchen der Effektuierung des durch die Anhörungsrüge gewährleisteten Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Die Vorschläge aus dem Schrifttum zur Rettung der Anhörungsrüge . . . . . . 152 a) Die Reformvorschläge im Einzelnen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Vorlage an den judex ad quem 152 bb) Seer/Thulfaut: Beschwerde zum judex ad quem . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 cc) Schnabl: Analoge Anwendung des § 42 II ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Kritische Würdigung der Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Nochmals: Zur Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Notwendigkeit der Reaktivierung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO
157
1. Zur Problematik einer Reform des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Inhaltsverzeichnis
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b) Unzulässigkeit einer „authentischen Interpretation“ des Gesetzgebers . . . 159 c) Notwendigkeit der Reform des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Anspruch auf Strafjustizgewähr im Falle einer Rechtsbeugung? . . . . . . . . . . 161 3. Anwendbarkeit des § 580 Nr. 5 ZPO auf greifbare Gesetzwidrigkeiten? . . . 162 a) Planwidrige oder bewusst geplante Unvollständigkeit der ZPO? . . . . . . . 163 b) Anspruch auf Wiedergutmachung judikativen Unrechts? . . . . . . . . . . . . . 164 c) Drittschützende Wirkung der sekundären Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . 166 III. Erweiterung der Wiederaufnahmegründe auf die Fälle der sonstigen Verfahrensgrundrechtsverletzungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Anforderungen der EMRK an die Effektivität des Rechtsschutzes . . . . . . . . 168 2. Der Regulierungsvorschlag von Christoph Warga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 IV. Notwendigkeit der Ausweitung der Wiederaufnahmegründe auf die Fälle des Fehlens hinreichender Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Die Entscheidungsbegründung als Kontrollgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Anforderungen an die Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Der Begründungszwang bezogen auf letztinstanzliche Urteile . . . . . . . . . 171 2. Rechtsmethodik und Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Vorschlag für eine Gesetzesänderung zur Anhebung der Effektivität des durch die außerordentlichen Rechtbehelfe gebotenen Rechtsschutzes . . . . . . 175 V. Folgerungen für den schweizerischen Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Unzulänglichkeit der Ergebnisrestitution der schweizerischen ZPO . . . . . . . 177 2. Empfehlung zum Ausbau der Verfahrensfehlerrestitution . . . . . . . . . . . . . . . 179 VI. Abschließende Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Teil 1
Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation Diese Arbeit ist als Gesetzesevaluation konzipiert. Eine Evaluation als Produkt der Sozialforschung (Wirkungsforschung) hat üblicherweise einen Auftraggeber. Mangels eines solchen musste hier ein (sinnvoller) Auftrag fingiert und einschließlich des mit ihm verfolgten Ziels selbst formuliert werden. Dementsprechend wurde für diese Studie als Hauptauftrag unterstellt, zur Vorbereitung einer Novellierung der deutschen ZPO zwei Evaluationen durchzuführen: Die eine bezogen auf die schon älteren Vorschriften zur Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO (nur) in Verb. mit § 339 StGB und die andere bezogen auf die 2002 neu eingeführte Vorschrift des § 321a ZPO zur Anhörungsrüge. Beide jedoch mit der gleichen Zielsetzung, nämlich Feststellungen zur Verfahrenswirklichkeit der nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren unter dem Aspekt zu treffen, inwieweit die Ziele, die der damalige bzw. heutige Gesetzgeber mit der Implementierung dieser Vorschriften verfolgte, erreicht oder verfehlt wurden. Außerdem wurde ein Ersuchen der Schweiz des Inhalts unterstellt, gutachtlich zu der Frage Stellung zu nehmen, ob und inwieweit die Vorschriften der Art. 328 f der schweizerischen ZPO zur „Revision“ rechtskräftiger zivilgerichtlicher Entscheide dem Standard der EMRK und den Erkenntnissen der modernen Zivilprozessrechtswissenschaft entsprechen. Den Schwerpunkt der Studie bildet die Darstellung der Ursachen und Folgen der schleichenden „Entkriminalisierung“ des Verbrechens der Rechtsbeugung, die faktisch zu einer weitgehenden Eliminierung der Restitutionsklage als Rechtsbehelf führte.
§ 1 Einführung in die Thematik I. Überblick Zivilprozesse enden in der Regel spätestens mit dem Durchlaufen des Instanzenzugs, den das Rechtsmittelsystem zum Zwecke der Fehlerkontrolle in der Verfahrensordnung vorgesehen hat. Danach verbietet die Rechtskraft die Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung1. Denn unstreitig können aufgrund der richterlichen Autorität auch materiell fehlerhafte Urteile in Rechtskraft erwachsen und damit 1 BGH NJW 1985, 2535; Ekkehard Schumann, Fehlurteil und Rechtskraft, FS Bötticher, 1969, S. 289, 303 f, 320.
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
Verbindlichkeit erlangen, wenn auch nicht sachliche Richtigkeit. Endgültig unanfechtbar sind richterliche Entscheidungen jedoch erst nach Ausschluss auch aller noch grundsätzlich statthaften außerordentlichen Rechtsbehelfe2, also vor allem der Verfassungsbeschwerde und der Wiederaufnahmeklage, denen die Eigenschaft verliehen wurde, u. U. die Rechtskraft einer Entscheidung zu durchbrechen. Dass diese Rechtsbehelfe zusätzlich zu den Rechtsmitteln von der Verfahrensordnung bereitgestellt werden, ist ebenso erforderlich wie gerechtfertigt, da in extremen Fällen sachlicher Unrichtigkeit, in denen die Entscheidung auf judikativem Unrecht, also etwa auf einer greifbaren Gesetzwidrigkeit3 in Form der Verletzung eines Verfahrensgrundrechts beruht, dieser die Verbindlichkeit versagt werden muss, „soll nicht das Prinzip der Entkoppelung von Verbindlichkeit und Richtigkeit aus der Sicht der von der Entscheidung Betroffenen ad absurdum geführt werden“4. Zur wirkungsvollen Abwehr greifbarer Gesetzwidrigkeiten geeignet sind die von der ZPO5 vorgehaltenen außerordentlichen Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige Urteile jedoch nur in einem sehr eingeschränkten Maße. Denn um mit ihnen die angestrebten Abhilfe- oder Wiederaufnahmeverfahren auszulösen, sind nicht nur erhebliche gesetzliche Zugangsschranken6 zu überwinden, sondern wie im Fall der Anhörungsrüge des § 321a ZPO auch spezifische Vorbehalte der Richterschaft gegen jene Rechtsbehelfe selbst. Ob und inwieweit die außerordentlichen Rechtsbehelfe aufgrund dieser Zugangsschranken überhaupt eine effektive Realisierung der mit ihnen verfolgten Gestaltungsrechte der Parteien gewährleisten, soll hier – beschränkt auf die Anhörungsrüge des § 321a ZPO und die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als Exponenten – empirisch und zugleich rechtsvergleichend mit dem außerordentlichen Rechtsmittel der „Revision“ nach Art. 328 schwZPO überprüft werden.
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Siehe zur Herkunft und Funktion der außerordentlichen Rechtsbehelfe O. Jauernig, Außerordentliche Rechtsbehelfe, FS Schumann, 2001, 241; P. Günter, Rechtssicherheit vs. materielle Gerechtigkeit – Außerordentliche Rechtsbehelfe im Zivilprozess, 2006; A. Kettinger, Die Verfahrensgrundrechtsrüge, 2007; H. Roth, Zivilprozessuale Rechtsbehelfe und effektiver Rechtsschutz, JZ 1996, 805; W.-R. Schenke, Außerordentliche Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozessrecht, NVwZ 2005, 729; E. Schumann, Die Gegenvorstellung im Zivilprozeß, FS Baumgärtel, 1990, S. 491; Chr. Seidel, Außerordentliche Rechtsbehelfe, 2004. 3 Siehe zur Frage der Staatshaftung wegen judikativen Unrechts Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2006, Art. 34 GG, Rn. 52 ff, sowie zur Rechtsfigur der „greifbaren Gesetzwidrigkeit“ (BGHZ 28, 349 ff) und des „groben prozessualen Unrechts“ als Ausprägung der Willkürrechtsprechung des BVerfG A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 224 ff. 4 Ulfrid Neumann, Wahrheit im Recht. Zu Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, 2004, S. 46. Dazu unten A. V. 2. b). 5 Mit „ZPO“ wird hier die deutsche ZPO gekennzeichnet, mit „schwZPO“ die schweizerische. 6 Siehe zu den objektiven und subjektiven Zugangsbarrieren M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 7. Aufl. 2009, § 8 Rn. 150 ff; Th. Schafft, Selektion von Rechtsmittelverfahren durch gesetzliche Zugangsbeschränkungen, 2005; Zöller-Vollkommer, ZPO, 29. Aufl. 2012, Einl. Rn. 51.
§ 1 Einführung in die Thematik
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1. Eingrenzung der Fragestellung Diese Studie befasst sich mit der Effektivität des Rechtsschutzes7 gegen greifbar gesetzwidriges richterliches Entscheidungsverhalten in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren, soweit die daraus resultierende Entscheidung noch mit außerordentlichen Rechtsbehelfen angreifbar sein sollte, die zu diesem Zweck von der Zivilprozessordnung vorgehalten werden. Sie ist somit gerichtet auf die Feststellung des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens der für die Effektivität des Rechtsschutzes maßgeblichen Wirksamkeitsfaktoren. Dies jedoch beschränkt auf die wenigen Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren, die in der Prozessordnung für den Fall vorgesehen sind, dass ein an sich bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren aufgrund eines entscheidungserheblichen Verstoßes gegen ein Verfahrensgrundrecht vom Ausgangsgericht (dem judex a quo) wiederaufzunehmen oder fortzusetzen ist. Gegenstand der Studie ist somit nicht die bereits ergangene, letztinstanzliche Entscheidung als solche, sondern das der Entscheidung vorausgegangene, angeblich greifbar gesetzwidrige Entscheidungsverhalten des Richters bei dessen Spruchtätigkeit. Sie beschäftigt sich also nicht generell mit dem richterlichen Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Richtersoziologie oder gar Neurobiologie8. Vielmehr beschränkt sie sich auf die Beobachtung dieses Verhaltens in denjenigen Gerichtsverfahren, in denen dem einzelnen Richter als Kontrollorgan nach einem zulässigerweise erhobenen außerordentlichen Rechtsbehelf die heikle Aufgabe zugefallen ist, im Wege der instanzinternen Selbstkontrolle eine ihm selbst oder – im Falle eines Richterwechsels – einem Richterkollegen im Ausgangsverfahren angeblich unterlaufene Fehlleistung eingehend rechtlich zu würdigen und über sie neu zu urteilen. 2. Durchführung der Arbeit als Gesetzesevaluation Die Arbeit ist gerichtet auf die Feststellung der Auswirkungen von Eingriffen des Gesetzgebers und der Gerichte auf die Rechtswirklichkeit und fällt somit in das Gebiet der Wirkungsforschung9. Es lag daher nahe, sie als Gesetzesevaluation 7 Siehe grundsätzlich zur Effektivität des Rechts: Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1987, S. 194 f. Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 6), § 7 Rn. 111 ff; Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 237 ff; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 38; Rottleuthner, Effektivität von Recht. Der Beitrag der Rechtssoziologie, in G. Wagner (Hrsg.), Kraft Gesetz, 2010, S. 13; Rehbinder/Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, 1973. 8 Siehe zur Soziologie richterlichen Handelns Rottleuthner, Richterliches Handeln – Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973; ders., Korrelation und Argumentation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, in FS Raiser, 2005, S. 579; Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011. 9 Siehe dazu insbesondere Rottleuthner, Wirkungsforschung im Bereich des Verfahrensrechts, in Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I, 1999, S. 43.
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
durchzuführen. Durch eine Evaluation auf dem Gebiet des Rechts soll herausgefunden werden, ob sich aufgrund einer „(Programm-)Intervention“ des Staates etwa in Form einer Neuregelung des Gesetzgebers im Vergleich zwischen dem Rechtszustand vor und nach dieser Intervention eine ihrer Konzeption und Zielsetzung entsprechende Veränderung ergeben hat. Mit einer solchen wird also bezweckt, Erkenntnisse über die Zielerreichung und Nützlichkeit der Neuregelung zu gewinnen, d. h., mit ihr soll überprüft werden, ob die ursprünglich angestrebte Veränderung der Wirklichkeit tatsächlich eingetreten ist und der getroffenen Maßnahme als Folge zugerechnet werden kann. Eine Evaluation als Produkt der angewandten Sozialforschung ist somit „ein Instrument zur empirischen Generierung von Wissen, das mit einer Bewertung verknüpft wird, um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen“10. Die Studie befasst sich mit zwei getrennt zu beurteilenden „Interventionen“ in die Verfahrenswirklichkeit des zivilprozessualen Rechtsschutzes. Nur bei einer von ihnen, der Einführung der Anhörungsrüge in die ZPO im Zuge der ZPO-Reform 2002, handelt es sich um eine Neuregelung des Gesetzgebers. Die andere ist Folge des gegenteiligen Vorgangs, nämlich der nahezu vollständigen Erodierung einer Vorschrift, die sich zwar noch als normativ verbindlich im Strafgesetzbuch befindet, seit geraumer Zeit aber infolge der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch nachhaltige Nichtanwendung ihre instrumentelle Bedeutung verloren hat, was sich maßgeblich auch auf die ZPO auswirkte. Gemeint ist die Strafvorschrift des § 339 StGB, die durch die Strafsenate des BGH eine „Auslegung“ erfuhr, die ihre Verhaltens- und Sanktionsgeltung faktisch derart schmälerte, dass sie allenfalls noch als eine Rechtsnorm mit rein symbolischer Wirkung zu qualifizieren ist. Als Intervention im Sinne der Evaluationsforschung muss auch eine grundlegende Neuinterpretation einer bestehenden Gesetzesvorschrift durch ein Grundsatzurteil eines obersten Fachgerichts gelten, sollte diesem Urteil (und dessen Gründen) die gleiche Wirkung zukommen wie der „Bindungswirkung“ der Entscheidungen des BVerfG gemäß § 31 I BVerfGG. Schließlich führt zur Veränderung der Rechtswirklichkeit nicht schon der Gesetzgebungsakt als solcher, sondern erst die Rechtsprechung der Gerichte in Anwendung der jeweiligen Norm11. Der Wegfall des § 339 StGB hatte jedenfalls zur Folge, dass damit der Restitutionsklage der §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO in 10
Vgl. Reinhard Stockmann, Wissenschaftsbasierte Evaluationen, in Stockmann/Meyer, Evaluation – Eine Einführung, 2010, 2.2, S. 64 ff. Nach der Definition des Schweizerischen Bundesamts für Justiz sollen Evaluationen dazu beitragen, die Erarbeitung neuer Maßnahmen (Gesetze, Verordnungen) auf sichereren Grundlagen abzustützen, deren Vollzug besser auf die Ziele auszurichten und generell die Transparenz staatlichen Handelns zu verbessern. In der Schweiz wurde eine Evaluationspflicht hinsichtlich aller Maßnahmen des Bundes sogar in der Verfassung verankert. Art. 170 BV lautet: „Die Bundesversammlung sorgt dafür, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.“ Kritisch zur Evaluation von Rechtsnormen, weil diese „zumeist keine Maßnahmen“ darstellen und „nicht grundsätzlich oder auch nur primär die Lösung eines Problems“ bezwecken, Marcel A. Niggli, Evaluationen und die Schwierigkeiten damit, SZK 2011, 12. Evaluationen werden aber auch nur zu Kontrollzwecken durchgeführt, siehe Stockmann, a.a.O. 2.2.3. 11 Siehe zur Implementation von Gerichtsentscheidungen die Untersuchung von Gawron/ Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, Kapitel I, S. 15 – 35.
§ 1 Einführung in die Thematik
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Verb. mit 339 StGB als außerordentlicher Rechtsbehelf jegliche Anwendungsmöglichkeit entzogen wurde. Durchgeführt werden folglich parallel zwei Gesetzesevaluationen, wobei die eine auf § 321a ZPO und die andere auf §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO in Verb. mit 339 StGB bezogen ist, beide allerdings mit der gleichen Zielsetzung, nämlich festzustellen, ob und inwieweit sich diese Vorschriften den Vorstellungen des Gesetzgebers bei deren Implementierung entsprechend bewährt oder sich als missglückt erwiesen haben. Damit versteht sich die Untersuchung als Beitrag der empirischen Rechtssoziologie zur Erforschung der Faktizität des Rechtsschutzes gegen materiell rechtskräftige, aber sachlich unrichtige Urteile bei Geltendmachung der von der ZPO hierzu als ultima ratio bereitgestellten außerordentlichen Rechtsbehelfe. Ihr liegt die Hypothese zugrunde, dass das Ziel, das der Gesetzgeber mit der Einführung der außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO anstrebte, nämlich im Falle judikativen Unrechts in gewissem Umfang auch „Rechtsschutz gegen den Richter“12 zu bieten, sowohl aufgrund diverser Mängel bei der Implementierung jener Vorschriften als auch aufgrund Fehlens wesentlicher psychischer Voraussetzungen für deren „freiwillige“ Befolgung seitens der Richterschaft13 in der Verfahrenswirklichkeit nahezu gänzlich verfehlt wurde. Diese Hypothese zu verifizieren, zumindest aber zu illustrieren, ist Ziel der vorliegenden Studie. Die Feststellung der Effektivität des Rechts, dessen Seinsgeltung, bildet seit Theodor Geiger den zentralen Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie14. Als deren Kernbereich dient die Effektivitätsforschung dem Gesetzgeber vor allem zur Nachkontrolle neu eingeführter Gesetze. Ihr sowie der Implementations- und Evaluationsforschung bot sich daher die Anhörungsrüge, aber auch die Restitutionsklage nach den schon älteren Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO gerade unter diesem Aspekt zwingend als Untersuchungsobjekt an. 3. Gang der Untersuchung und Ablauf der Evaluation(en) Die Arbeit umfasst insgesamt 7 Kapitel (§ 1 – 7), verteilt auf 3 größere Abschnitte entsprechend dem üblichen Aufbau einer Evaluation in Planungs-, Durchführungsund Verwertungsphase. Der erste Teil enthält zur Einführung in die Thematik Ausführungen zum Zweck des Zivilprozesses, zum Richtigkeitspostulat und zur Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe (§ 1) und wird fortgesetzt mit der Erläuterung der Evaluationskonzeption und der Beschreibung der Evaluationsge12
Siehe dazu unten den Exkurs unter § 3 III. 2. Dazu Rehbinder (Fn. 6), § 7 III; Raiser (Fn. 7), 14. Abschnitt, III 3. 14 Effektivität bedeutet Gewährleistung lückenlosen und wirksamen Rechtsschutzes. Nach Rottleuthner (Fn. 7), S. 21 ff, sollte unter Effektivität verstanden werden, „dass die Ziele des Gesetzgebers tatsächlich erreicht werden“, und zwar „vermittelt durch deren Befolgung“. Zu den Bedingungen der Befolgung siehe K.-D. Opp, Wann befolgt man Gesetze? Entwicklung und Probleme einer Theorie, in G. Wagner (Fn. 7), S. 35 – 65. 13
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
genstände, die es zu untersuchen und zu bewerten gilt. Gegenstand ist zum einen die von der ZPO-Reform 2002 und dem Anhörungsrügengesetz mit der Einführung der Anhörungsrüge verfolgte Programm-Intervention des Gesetzgebers in die ZPO und zum anderen die faktisch gesetzesändernde Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB, die unmittelbare Auswirkung auf die tatbestandmäßigen Voraussetzungen der §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO hat und damit auf die Effektivität des dort geregelten außerordentlichen Rechtsbehelfs der Restitutionsklage (§ 2). Im zweiten Teil, der Durchführungsphase, werden zunächst die gesetzlichen Vorgaben des primären Rechtsschutzes genannt, die das Soll der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile ausmachen, um daran später die Verfahrenswirklichkeit messen zu können. Dabei wird zum Zwecke rechtsvergleichender Feststellungen zwischen dem deutschen und dem schweizerischen zivilprozessualen Wiederaufnahmerecht auch auf die Rechtsschutzgarantie des europäischen Zivilprozessrechts eingegangen und dessen Einfluss auf die deutsche und schweizerische ZPO (§ 3). Anschließend werden die Verhaltens- und Sanktionsnormen, die das richterliche Verhalten bei der Entscheidungsfindung bestimmen, daraufhin überprüft, inwieweit sie durch sekundäre Sanktionsnormen ergänzt werden, die die Prozessparteien in die Lage versetzen sollen, im Ausnahmefall auch „Rechtsschutz gegen den Richter“ einzufordern (§ 4). Ausgehend davon, dass sowohl die Einführung der Anhörungsrüge im Zuge der ZPO-Reform 2002 als auch die Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB als „(Programm-)Interventionen“ der Legislative und Judikative in die Verfahrenswirklichkeit i.S. der Evaluationsforschung zu verstehen und als solche auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen sind, folgt danach als erste Aktion der Evaluationsdurchführung die Feststellung des Befunds, also die Beschreibung der Auswirkungen jener Interventionen auf die Verfahrenswirklichkeit letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren. D.h., es wird hier in Anlehnung an die Methoden der Implementations- und Effektivitätsforschung untersucht, ob diese „Interventionen“ in das Zivilprozessrecht die mit ihnen verfolgten Ziele erreicht bzw. verfehlt haben und eine effektive Kontrolle der richterlichen Spruchtätigkeit in letztinstanzlichen Verfahren mittels der als Exponenten ausgewählten außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO überhaupt stattfindet (§ 5). Im dritten Teil wird dann als zweite Aktion der Evaluationsdurchführung im Wege der Dokumentations- bzw. Rechtsprechungsanalyse von der deskriptiven Feststellung des sozialen Befunds zur erklärenden Ursachenforschung übergegangen, wodurch aufgezeigt werden soll, wieweit bei der Anwendung dieser Rechtsbehelfe die Zielvorstellungen des Gesetzgebers und die festgestellte Verfahrenswirklichkeit auseinanderfallen und daher einer Anpassung bedürfen (§ 6). Im letzten Abschnitt (§ 7) kommt es schließlich zur Auswertung der Evaluationsergebnisse. Darin wird der Versuch unternommen, die erlangten Erkenntnisse für den deutschen und den schweizer Gesetzgeber nutzbar zu machen. Erörtert werden die unterschiedlichen Wiederaufnahmekonzeptionen der Ergebnis- und Verfahrensfehlerrestitution sowie die Frage der Sanktionierung der Verletzung des Begründungszwangs. Schließlich
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wird zum Zwecke der Effektuierung des Rechtsschutzes gegen Verfahrensgrundrechtsverletzungen in letztinstanzlichen Verfahren dem deutschen Gesetzgeber ein Vorschlag zum Erlass eines Änderungsgesetzes unterbreitet und dem schweizer Gesetzgeber gegenüber eine Empfehlung ausgesprochen, was die Regelungen zur „Revision“ in Art. 328 I lit. a, 329 II schwZPO anbelangt. Die Studie endet mit einer thesenförmigen Zusammenfassung und einem Anhang.
II. Wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und Entwicklung der außerordentlichen Rechtsbehelfe Zur Einführung in die Thematik bedarf es einiger Hinweise auf die wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und auf das Verhältnis der Zivilprozessrechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften. Zwangsläufig berührt das Thema sowohl die generelle Problematik der legitimen Gültigkeit der sachlich unrichtigen Entscheidung als auch das spezifisch zivilprozessuale Problem der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft unrichtiger Urteile und verlangt daher auch ein Eingehen auf die grundsätzliche Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses und auf die Richtigkeitsgewähr richterlicher Entscheidungen. 1. Der Funktionswandel des Zivilprozessrechts vom Rechtsdurchsetzungs- zum Rechtsgewinnungsrecht Die erste einheitliche deutsche CPO, die im Jahre 1879 als Teil der Reichsjustizgesetze in Kraft trat, war beeinflusst vom französischen Code de procédure civile von 1806 und enthielt Anregungen aus dem österreichischen und italienischen Prozess. Sie rezipierte somit nicht rein nationales, sondern gemeineuropäisches Recht15. Vorläufer der CPO beim Übergang vom Zeitalter des Absolutismus zur Aufklärung waren die preußischen Prozesskodifikationen des Corpus Juris Fridericianum von 1781 und der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793/94, die schon unter dem Einfluss Montesquieus sukzessive die gemeinrechtlichen Institutionen verdrängt hatten16. Die besondere Leistung der deutschen Jurisprudenz bestand dann nach Ansicht Carneluttis darin, das Zivilprozessrecht zu einer eigenständigen 15
Stürner, Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Grunsky/Stürner (Hrsg.), Wege zu einem europäischen Zivilprozeßrecht, 1992, S. 11. 16 Siehe zur Entstehungsgeschichte der ZPO Martin Ahrens, Prozesszweck und einheitlicher Zivilprozess – Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung, 2007, S. 83 ff; Knut W. Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, Studien zur Geschichte des deutschen Zivilprozeßrechts während der Naturrechtsperiode bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, 1976; Stephan Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19 Jahrhundert, 2002.
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Rechtsmaterie und den Prozess selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung erhoben zu haben17. Denn ursprünglich war dieses Recht bloßer Annex des materiellen Rechts und bestand lediglich aus einer unsystematischen Ansammlung formell-technischer Regelungen, deren Handhabung weitgehend den Parteien überlassen blieb, während sich das Gericht auf die Entscheidungsfindung beschränkte18. Dem lag noch die Vorstellung einer materiellen Rechtsordnung aus inhaltlich feststehenden Normen zugrunde, denen nach einer etwaig erforderlichen Auslegung mittels eines logisch-deduktiven Subsumtionsschlusses für jeden Einzelfall das richtige Ergebnis entnommen werden könne. Die Autorität und Legitimation der richterlichen Entscheidung als Akt der „rechtsprechenden Gewalt“ (Art. 92 GG) wurde somit allein aus dem materiellen Recht hergeleitet, von dem angenommen wurde, dass es die richterliche Entscheidung vollständig determinierte. Dementsprechend war das richterliche Erkenntnisverfahren darauf angelegt, für den Konfliktfall die möglichst einzig gerechte und rechtmäßige, also „richtige“ Entscheidung zu finden19. Als „richtig“ galt diese dann, wenn der Richter auf den wahren historischen Sachverhalt das materielle Recht gemäß seiner Funktion als „la bouche de la loi“ (Montesqieu) fehlerfrei angewandt hatte, und als unrichtig bzw. gesetzwidrig sah man sie an, wenn ihm bei der Subsumtion ein Fehler i.S. des § 550 ZPO unterlaufen war20. Zugeschrieben wurde dies im letzteren Fall nicht einer Mehrdeutigkeit des Rechts, sondern seiner mangelnden Fähigkeit zur Erkenntnis des wirklichen Rechts. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dann das Zivilprozessrecht von einer nur untergeordneten Rechtsmaterie und einem bloß formellen Rechtsdurchsetzungsrecht zu einer eigenständigen rechtswissenschaftlichen Disziplin und damit, wie Gilles dies ausdrückte, zu einem materiellen Rechtsgewinnungsrecht21, das seitdem als eine dem materiellen Recht ebenbürtige, wenn nicht gar höherrangige Materie gilt. Auf diese Weise wurde das „Verfahren“ selbst und die es tragenden Rechtsregeln an Stelle des materiellen Rechts zur eigentlichen Legitimationsgrundlage des Richterspruchs22. Vor allem gewann dadurch das Prozessrecht einen „funktionalen Eigenwert“23 und wurde deutlich aufgewertet zu einem der angeblich „wichtigsten Zweige des Rechts“ überhaupt24. Zugleich entwickelte sich damit die Zivilprozessrechtswissenschaft zu einem interdisziplinär ausgerichteten Teilbereich der Jurisprudenz, dessen Aufgabe sich auch auf die Beschäftigung mit 17
Carnelutti, ZZP 64 (1950), S. 32, 39. Vgl. Stürner (Fn. 15), S. 12; Ahrens (Fn. 16), S. 101 ff. 19 Gilles, Verfahrensfunktionen und Legitimationsprobleme richterlicher Entscheidungen im Zivilprozess, FS Schiedermair, 1976, S. 183, 189; Zöller-Vollkommer, (Fn. 6), Einl. Rn. 50. 20 Gilles, Zum Bedeutungszuwachs und Funktonswandel des Prozessrechts, JuS 1981, 402 ff. 21 Gilles (Fn. 20), S. 402, 404, 408. 22 Gilles (Fn. 20), S. 408. 23 Lorenz, Grundrechte und Verfahrensordnungen, NJW 1977, 865, 867. 24 So eine Äußerung von Cappelletti, zitiert nach Gilles (Fn. 20), S. 402. 18
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rechtspolitischen Fragestellungen erstreckte, so vor allem auf die Verwirklichung der Chancengleichheit vor Gericht und die Beschleunigung des Prozesses sowie nicht zuletzt auf die Anhebung der Effektivität des Rechtsschutzes. 2. Prozesszweck und materielle Rechtskraft sachlich unrichtiger Urteile Der für die Vorläufer der CPO und deren Schöpfer maßgebliche Prozesszweck fand erstmals im „Vorbericht“ des Corpus Juris Fridericianum Erwähnung25, der von Carl-Gottlieb Svarez (1746 – 1798) verfasst wurde. Aus der Erkenntnis, dass die Wahrheitsfindung allein dem Richter zu überlassen ist, die Parteien aber auch vor einem etwaigem Missbrauch jenes Privilegs geschützt werden müssen, stellte dieser darin sehr beachtenswert fest, der „vornehmste Entzweck“ der neuen Prozessordnung ginge dahin, „1. den Richter in Stand zu setzen, die Wahrheit selbst aufzusuchen; dagegen aber auch 2. die Partheyen gegen alle willkührliche Behandlungen zu sichern“. Damit diese Zwecke verwirklicht werden konnten, wurden in Preußen zeitweise die Advokaten aus dem Prozess, dem ein Güteverfahren vorausging, verdrängt und durch sog. Assistenzräte ersetzt, deren Aufgabe darin bestand, das Gericht bei der Sachverhaltsfeststellung zu unterstützen, den Rechtsstandpunkt der Parteien darzulegen und die Tätigkeit der Richter zu kontrollieren26. Die erste Maxime ist später durch die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit27 untermauert worden, während die zweite Maxime in der heutigen Prozessrechtslehre weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint28, worauf noch zurückzukommen sein wird. Nach heutiger Lehre besteht jedenfalls der Zweck des Zivilverfahrens „allein oder doch vorrangig in der Verwirklichung der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Wahrheit im Sinne des Schutzes, der Sicherung oder der zwangsweisen Durchsetzung subjektiv materieller Rechte, wie sie die Privatrechtsordnung dem Einzelnen einräume“29, d. h., Zweck des Zivilprozesses ist die Feststellung und Verwirklichung subjektiver Rechte30. Die Hervorhebung des Individualrechtsschutzes als zentraler Prozesszweck entspricht der Bedeutung der Grundrechte als Individualrechte31 in der deutschen Verfassung. Soweit in der Literatur daneben noch andere, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Zwecke genannt werden wie die Bewährung des objektiven Rechts, die Sicherung des Rechtsfriedens und die Schaffung von Rechtsgewissheit 25
Dazu Nörr (Fn. 16), S. 25 ff; der „Vorbericht“ ist abgedruckt im Anhang auf S. 64 f. Vgl. Ahrens (Fn. 16), S. 111. 27 Art. 97 I GG, Art. 191c Schweizerische BV. 28 Siehe Georg Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010, S. 59. 29 Gilles (Fn. 19), S. 183 f; BVerfGE 35, 348, 361; 85, 377, 445; 93, 99, 107; 97, 169,185. 30 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 1 III Rn. 7; Rolf Stürner, Prozeßzweck und Verfassung, in FS Baumgärtel, 1990, 545; Gaul, AcP 128, 27. 31 Stürner (Fn. 30), Prozeßzweck und Verfassung, S. 546. 26
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(Rechtssicherheit), wirken sich diese lediglich als positive Rechtsreflexe aus32. Dies gilt nur dann nicht, wenn es ausnahmsweise einmal um die Bewährung eines Rechtsinstituts geht. So ist auch die Herstellung des Rechtsfriedens angesichts der Tatsache, dass zu diesem Zweck nicht jedes beliebige Urteil geeignet ist, nur von untergeordneter Bedeutung33. Nicht durchzusetzen vermochte sich die extreme Ansicht Niklas Luhmanns, der als Ziel des Prozesses, den er als soziales Handlungssystem und Lernprozess begriff, die rein faktische Hinnahme des autoritären Richterspruchs durch die Betroffenen betrachtete34. Ihm hielten seine zahlreichen Kritiker zu Recht entgegen35, dass weder auf den Gewinn von Wahrheit und Richtigkeit als tragende Verfahrensfunktionen zugunsten einer nur faktischen Hinnahme der Entscheidung verzichtet werden könne noch ein solcher Verzicht mit der Forderung des Grundgesetzes nach Schutz der Individualrechte vereinbar sei. Wenn jedoch der Prozess nicht primär Rechtsfrieden und Rechtsgewissheit bezweckt, sondern die (Wieder-)Herstellung der subjektiven Rechte des Einzelnen durch eine möglichst „richtige“ Entscheidung, stellt sich das Problem der Legitimation der sachlich unrichtigen Entscheidungen und der Durchbrechung ihrer materiellen Rechtskraft im Ausnahmefall, da bekanntlich auch fehlerhafte Entscheidungen im Zweifel als wirksam gelten, und zwar selbst dann, wenn sie greifbar gesetzwidrig sein sollten36. Wie Jauernig hervorgehoben hat, lag in der Wirksamkeit (und regulären Unanfechtbarkeit) der grob missglückten Entscheidungen „gerade der Grund für die Erfindung der außerordentlichen Beschwerde“37. Denn selbstverständlich bedarf es zunächst einmal eines statthaften Rechtsbehelfs, um die Bindungswirkung des § 318 ZPO durchbrechen zu können, bevor überhaupt die Frage gestellt werden kann, ob und inwieweit in diesen Entscheidungen gegen das materielle Recht verstoßen wurde. Die Behauptung der unterlegenen Partei, dass ein solcher Verstoß stattfand, muss erst in einem neuen Prozess zugelassen werden, damit die Entscheidung überhaupt auf ihre Richtigkeit hin geprüft werden kann. 32
548.
Vgl. Jauernig/Hess, Zivilprozeßrecht, 30. Aufl. 2011, § 1 I 2; Stürner (Fn. 30), S. 546,
33 Unberath, Der Zweck der Rechtsmittel nach der ZPO-Reform, ZZP 2007, 323, 327 Fn. 27. 34 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, insbes. S. 33 ff, 57 ff, 82 ff, 107 ff und 129 ff. 35 So u. a. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 2. Aufl. 1972, S. 205 – 216; J. Hagen, JuS 1972, 485 ff; Gilles (Fn. 19), S. 188 ff; zu den Verdiensten Luhmanns Machura, Niklas Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ im Spiegel der Kritik, ZfRSoz.1993, 97 – 114. 36 Münchener Kommentar-Braun, ZPO, 3. Aufl. 2008 (fortan MK-Braun), § 581 Rn. 12; BVerf-GE 65, 182 = NJW 1984, 475; BVerfG NJW 2011, 836 Tz. 35. In der schweizerischen Bundesverfassung ist diese Verpflichtung sogar ausdrücklich in Art. 190 BV geregelt. Dazu Biaggini, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit: Ersatzlose Aufhebung von Art. 190 BV als optimaler Weg?, ZBJV 2012, 241 – 262. 37 Jauernig (Fn. 2) Außerordentliche Rechtsbehelfe, S. 241, 245 f.
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Dieses Faktum hat Puttfarken in seiner Würdigung der klassischen Rechtskraftlehre Schwabs klargestellt38: Rechtskraft aus dem Verhältnis zum materiellen Recht zu erklären, widerspräche der prozessualen Abfolge und sei auch ein logisch unzulässiger Vorgriff auf das spätere Ergebnis. Rechtskraft sei daher (nur) Zweckerreichung für die siegreiche Prozesspartei. Um sie durchbrechen zu können, muss daher das Rechtsmittelsystem der angeblich von einer greifbaren Gesetzwidrigkeit betroffenen Partei erst einen geeigneten Rechtsbehelf zur Verfügung stellen, um diese damit in die Lage zu versetzen, von der Justiz die Durchführung eines Abhilfeoder Wiederaufnahmeverfahrens mit dem Ziel der Korrektur der Entscheidung überhaupt verlangen zu können. Dies folgt auch zwingend aus dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit. 3. Richtigkeitspostulat und Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe Außerordentliche Rechtsbehelfe sind als „von der Rechtsordnung gewährte Mittel zur Verwirklichung eines Rechts“ dadurch gekennzeichnet, dass sie sich gegen formell rechtskräftige Entscheidungen richten, also gegen Entscheidungen, deren Anfechtung mit ordentlichen Rechtsmitteln im Rechtsmittelsystem nicht (mehr) vorgesehen ist39. Sie kommen nur subsidiär in einem an sich bereits „durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahren“ (§ 578 I ZPO) in Betracht und stellen damit ein Instrumentarium dar, mit dem bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Entscheidung trotz ihrer formellen Rechtskraft noch einer Kontrolle und einer Korrektur unterworfen werden kann. Wie gesagt war das genau die Situation, die zwangsläufig zur Entwicklung und Anerkennung der außerordentlichen Rechtsbehelfe führte. Unanfechtbar ist damit nicht gleichzusetzen mit Unabänderbarkeit. Denn „Inhalt der formellen Rechtskraft ist die Unangreifbarkeit, nicht die Unwiderruflichkeit“ durch den Entscheidungsträger selbst40. Bei Erfolg des außerordentlichen Rechtsbehelfs entfällt die formelle Rechtskraft rückwirkend, die bis dahin nur konditioniert ist. Streng genommen kann daher von Unanfechtbarkeit erst gesprochen werden, wenn weder eine Wiederaufnahme des Verfahrens noch ein Abhilfeverfahren mehr in Betracht kommt41. Daher kommt es darauf an, unter welchen konkreten Voraussetzungen die Durchbrechung der Rechtskraft zum Zwecke der Erzielung eines
38
Puttfarken, Gegenwartsprobleme der deutschen Zivilprozeßrechtswissenschaft, JuS 1977, 493, 498. 39 Vgl. zum Begriff der außerordentlichen Rechtsbehelfe Chr. Seidel (Fn. 2), § 2 III. 40 BVerfG NJW 1996, 1736 betreffend den außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde; Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 149 I. 41 MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 1 f.
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„richtigen“ Ergebnisses ausnahmsweise als gerechtfertigt gelten kann42, und zwar auch unter Berücksichtigung der Ansicht derjenigen Rechtswissenschaftler, die von einer „Hypertrophie der Rechtsbehelfe“, einer „beispiellosen Rechtsschutzexpansion“ und „Instanzenseligkeit“ in Deutschland sprechen und meinen, dass die Kontrollintensität eher zurückzufahren als zu erweitern sei43.
III. Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften 1. Die Spruchtätigkeit des Richters als soziales Handeln i.S.d. Soziologie Gegenstand dieser Untersuchung ist somit die richterliche Spruchtätigkeit, soweit sie in den Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren in krassem Widerspruch zu den Sollensanordnungen der Verhaltensnormen steht, die das Entscheidungsverhalten des Richters bestimmen. Recht ist eine Form menschlichen Handelns, und zwar, wie dies von der Pfordten44 deutlich gemacht hat, Handeln mit dem spezifischen Ziel der Vermittlung zwischen möglicherweise gegenläufigen, konfligierenden Belangen. Entscheidet der Richter, so handelt er, und zwar auch dann, wenn er entgegen dem non-liquet-Verbot eine Entscheidung unterlässt45, so z. B. beim Freispruch mangels Beweises. Das nicht ausdrücklich geregelte non-liquet-Verbot zwingt ihn zum Handeln46. Auch angesichts der von D. Simon47 beschriebenen „Entmythologisierung der Richterfigur“, in deren Zusammenhang auch „der sakrale Schauer, der das ,Richten‘ jahrhundertelang umhüllte, der nüchternen Betrachtung einer sozialen Funktion weichen“ musste, erscheint es naheliegender, statt von Rechtserkenntnis von richterlichem Handeln zu sprechen. Dieses Handeln ist rechtssoziologisch gesehen soziales Handeln, weil damit ein subjektiver Sinn verbunden wird. Und die Wissenschaft, die soziales Handeln „deutend verstehen“ und es „dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären“ will, ist nach Eugen Ehrlich und Max Weber die Soziologie. Erst durch das Handeln der Richter wird das ge42 Nach Schenke (Fn. 2), S. 730, würden der Justizgewährungsanspruch und die subjektive Rechtsqualität der Verfahrensrechte „partiell preisgegeben, wenn man einem Verfahrensbeteiligten keine Möglichkeit einräumte, sich gegen eine durch die letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung begründete Verletzung solcher Verfahrensrechte zur Wehr zu setzen“. 43 Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 74 Rn. 65 f; H. Roth, Zivilprozessuale Rechtsbehelfe und effektiver Rechtsschutz, JZ 1996, 805; Gilles, Rechtsmittelreform im Zivilprozess und Verfassungsaspekte einer Rechtsmittelbeschränkung, JZ 1985, 253; Benda nannte 1979 die Rechtsgewährung ein „knappes Gut“ und forderte, „die Rechtsmittel zu beschränken“. 44 Dietmar von der Pfordten, Was ist Recht? Ziele und Mittel, JZ 2008, 641. 45 Röhl/Röhl (Fn. 7), Allgemeine Rechtslehre, § 26 I und § 27 III 3. 46 Ausdrücklich statuiert ist das non-liquet-Verbot (der Entscheidungszwang) nur in Art. 4 des Code civil, dazu O. Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970, S. 108 f; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 172 ff. 47 Dieter Simon, Richterliche Unabhängigkeit, 1973, S. 148, 158.
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schriebene Recht „lebendig“, wird law in the books zu law in action. Insofern ist die Jurisprudenz Handlungswissenschaft48. Eugen Ehrlich erklärte bereits 1913 die Rechtssoziologie mit folgenden Worten zur einzig legitimen Rechtswissenschaft49: „Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, so gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Recht.“
In den frühen 70-iger Jahren erforschte Rüdiger Lautmann (während seiner Tätigkeit als Richter) die Richtertätigkeit bewusst durch „beobachtende Teilnahme“, um beschreiben zu können, „wie Richter zu ihren Urteilen gelangen“, wobei er ein schlüssiges Entscheidungsprogramm entwickelte, das zeigen sollte, wie die Richter mit den Fakten und Normen als den Prämissen ihrer Entscheidung umgehen50. Den wesentlichen Teil dieses Programms bildet das „Verfahrensprogramm“, das sich auf das richterliche Verhalten im Verfahrenssystem bezieht. Seines Erachtens sei bislang gerade der Gebrauch der Verfahrensnormen von der Rechtssoziologie vernachlässigt worden. Diese Sichtweise hat inzwischen dazu geführt, dass richterliches Entscheidungsverhalten von neueren Rechtstheoretikern als „soziale Praxis“ beschrieben wird. Richterliches Handeln sei danach „entscheidend geprägt durch eingeübte und habitualisierte Arbeitsstile und -techniken, professionelle Selbstverständnisse, die Bezugnahme auf ,Alltagstheorien‘ sowie durch spezifische Strategien der Entscheidungsorientierung und der Arbeitsökonomie“51. Gegenstand von Untersuchungen richterlichen Entscheidungsverhaltens sind außerdem schon seit längerer Zeit die hier noch zu behandelnden Prozesse der Herstellung und Darstellung der Entscheidung, und zwar ausgehend davon, dass „das Vorverständnis des Richters, das Entscheidungsmöglichkeiten selektiert, … immer nur zu solchen Ergebnissen (führt), die später auch begründbar sind“52. 2. Annäherung der Zivilprozessrechtswissenschaft an die Rechtssoziologie Das Verhältnis zwischen Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften wird bestimmt von der Antwort auf die generelle Frage nach den Möglichkeiten und Not48 U. Neumann, Wissenschafttheorie der Rechtswissenschaft, in Kaufmann/Hassemer/ Neumann (Fn. 8), S. 397 m.w.N. 49 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1989, hg. von M. Rehbinder, S. 33. 50 R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse, 1972, S. 18 f. Siehe zur Seriosität der (verdeckten) teilnehmenden Beobachtung als soziologische Methode Struck, Rechtssoziologie, 2011, § 11. 51 M. Wrase, Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, in M. Cottier (Hrsg), Wie wirkt Recht, 2010, S. 113, 115 f. 52 U. Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Fn. 8), S. 296.
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wendigkeiten der Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Forschung in die Rechtswissenschaft. Obwohl die Beschäftigung der Soziologie mit der Justiz im deutschen Sprachraum eine vergleichsweise lange Tradition hat53, stellte Gilles noch 1983 fest, dass das spezifische Verhältnis zwischen Prozessrecht und Sozialwissenschaften als Teilbereich des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft über das Stadium eines „beziehungslosen Nebeneinanders“ bislang nicht hinausgelangt sei54. Während sich die Jurisprudenz insgesamt gesehen der Soziologie längst geöffnet habe und für viele juristischen Fachdisziplinen der Umgang mit den Sozialwissenschaften bereits zum Alltagsgeschäft gehöre, habe innerhalb der Zivilprozessrechtswissenschaft die diesbezügliche Diskussion noch gar nicht recht begonnen. Demgegenüber habe sich die Rechtssoziologie in den USA schon seit den 60-iger Jahren intensiv mit den Verhaltensweisen von Richtern, ihren Aktivitäten und Attitüden sowie insbesondere mit dem hochkomplexen Gegenstand richterlicher Entscheidungsfindung befasst. Was dagegen in Deutschland zum Thema „Prozessrecht und Sozialwissenschaften“ an Überlegungen angestellt und an Untersuchungen vorgelegt wurde, sei in der Regel über die Qualität von Vorüberlegungen, Pilotstudien und allgemein gehaltener Theorieansätze nicht hinausgelangt. Aufgrund der wachsenden Bemühungen der Prozessrechtswissenschaft um eine Integration soziologischer Fragestellungen und Erkenntnisse in das Zivilprozessrecht lässt sich jedoch inzwischen, wenn schon nicht von einer „Soziologisierung“ des Zivilprozessrechts, so jedenfalls von einer fruchtbar gewordenen gegenseitigen Annäherung beider Wissenschaften sprechen. Ausdruck dessen sind u. a. die vorwiegend vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen „rechtstatsächlichen Untersuchungen“ zur beabsichtigten (und steckengebliebenen) „Großen Justizreform“, die Untersuchungen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Gerichtsverfahrens sowie die Evaluationsstudien zu den Auswirkungen durchgeführter Reformen des Prozessrechts wie vor allem die Evaluation zur ZPO-Reform 200255. Während in der Schweiz die Überprüfung der Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirkungen verfassungsrechtlich zur Pflicht erklärt wurde (Art. 170 BV), findet sich in Deutschland eine Evaluationspflicht lediglich in § 44 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), wonach bei der Gesetzesfolgenabschätzung auch die Nachhaltigkeit wesentlich zu berücksichtigen ist, sowie in § 55 SGB II, der regelmäßig und zeitnah eine Untersuchung der Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und derjenigen zur Sicherung des Lebensunterhalts fordert.
53 Rehbinder (Fn. 6), Rechtssoziologie, Rn. 132, 134, 165; ders., Fortschritte und Entwicklungstendenzen einer Soziologie der Justiz, 1989. 54 Gilles, Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Reform des Prozessrechts, in: Habscheid (Hrsg.), Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, 1983, 105 f, 117. 55 Bundesjustizministerium (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zu den Auswirkungen der Reform des Zivilprozessrechts auf die gerichtliche Praxis, 2006.
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3. Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Zivilprozessrechts Die Frage nach dem Beitrag der Sozialwissenschaften zur Reform des Prozessrechts wurde erstmals 1983 auf dem VII. Internationalen Kongress für Zivilprozessrecht in Würzburg thematisiert. Dessen Anliegen war es, wie Gilles darlegte „die Jurisprudenz nicht länger nur als reine Normwissenschaft, sondern zumindest auch als Wirklichkeitswissenschaft zu begreifen und zu betreiben und die immer noch dominanten normpositivistischen-konstruktionsjuristischen … Fragestellungen und Argumentationsmuster durch mehr … rechtssoziologische Problemsichten und Problembehandlungen zu ergänzen oder zu ersetzen“. So nannte Gilles mehrere Beispiele für potentielle Reformbeiträge der Sozialwissenschaften zu spezifisch zivilprozessrechtswissenschaftlichen Thematiken und stellte diese in einem „Leistungskatalog“ zusammen56. Daraus leitete Günther H. Roth57 den Vorschlag ab, „eine unmittelbar reformbezogene Anwendung rechtssoziologischer Forschung auf dem Gebiet des Prozessrechts“ in fünf Stufen zu vollziehen, nämlich: Information über Rechtstatsachen, Nachweis der Reformbedürftigkeit, Definition bestimmter Reformziele und Reforminhalte, instrumentale Hilfestellung bei beliebigen Gesetzesreformen sowie Effektivitätskontrolle. Gilles stellte allerdings auch fest, dass „ein wirklicher ,Transfer‘ der aufgeworfenen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und gewonnenen Erkenntnisse in die normative, prozessrechtsdogmatische oder prozessrechtspolitische Ebene nur höchst selten“ stattfinde58. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen einige der von Gilles und Roth genannten Vorschläge für potentielle Reformbeiträge der Sozialwissenschaften zu zivilprozessrechtswissenschaftlichen Thematiken aufgegriffen werden, so vor allem die Feststellung der „sozialen Differenz“ zwischen normativer Erwartung und tatsächlichem Verhalten bei der richterlichen Entscheidungsfindung. Insbesondere befasst sich die Arbeit – auch rechtsvergleichend unter Einbeziehung der Rechtsschutzgarantie des Unionsrechts und der schweizerischen Bundesverfassung – mit der rechtssoziologisch relevanten Frage nach der Effektivität des durch die außer56
Gilles (Fn. 54), S. 105, 107 ff. G. H. Roth, Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Prozessrechts, in Habscheid (Fn. 54), S. 215 – 251. 58 Gilles (Fn. 54), S. 126. Auch Röhl spricht noch 2007 in einem im Internet publizierten Nachtrag zu § 10 seines Lehrbuchs zur Rechtssoziologie von einer gegenwärtigen „Schwächephase“ der Rechtssoziologie, deren Ursache in der „fehlenden Nachfrage nach empirischer Rechtsforschung“ läge. Verantwortlich dafür sei das verständliche Misstrauen der Juristen gegenüber den mehr tentativen Ergebnissen der empirischen Sozialforschung. Die Rechtssoziologen ergingen sich „lieber in Theoriekonstruktion, als dass sie … mühsame empirische Forschung“ trieben. Dagegen betont Wrase im Bericht des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit der HU Berlin „Rechtssoziologie und Law and Society – die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch“, 2008, 4.1 – 4.3., dass die Rechtssoziologie, nachdem sie längere Zeit als theoriefreie Rechtstatsachenforschung zu einer Hilfswissenschaft der Jurisprudenz herabgestuft und als Bindestrich-Soziologie (miss-)verstanden worden sei, heute wieder ob ihres (gesellschafts-)kritischen Denkens gefragt sei. 57
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ordentlichen Rechtsbehelfe der deutschen ZPO gewährten Rechtsschutzes gegen Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, die nach Ansicht der betroffenen Prozesspartei auf krassem judikativen Unrecht beruhen, nämlich auf einer entscheidungserheblichen Verletzung der Verfahrensgrundrechte, der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten oder der Entscheidungsbegründungspflicht.
IV. Zivilprozessrecht und Zivilprozessrechtsvergleichung 1. Der Beitrag der Rechtsvergleichung zur Fortentwicklung des Prozessrechts Ebenso wie rechtssoziologische Untersuchungen verhelfen auch rechtsvergleichende Studien zu einem besseren Verständnis des eigenen Rechts (und dessen Handhabung) und geben Anregungen zu Reformvorhaben59. Die Rechtsvergleichung ist ein Zweig der Rechtswissenschaft, aber kein Rechtsgebiet, sondern eine wissenschaftliche Methode, die als zweckfrei gilt60. Sie liefert rechtstatsächliche Informationen, dient „der Selbsteinschätzung und verhindert gedanklichen Stillstand wie trügerische Selbstzufriedenheit“61. Betrieben wird sie als sog. funktionale Rechtsvergleichung, d. h. „problembezogen-funktional“ und nicht „normbezogendeskriptiv“ wie die Auslandsrechtskunde und das IPR62. Verglichen wird nicht der pure Gesetzestext, sondern das gelebte, also angewandte Recht des anderen Staates, wobei stets bewertend vorgegangen wird63. Davon, welche Bedeutung gerade der Prozessrechtsvergleichung weltweit beigemessen wird, zeugt vor allem der seit 1950 regelmäßig stattfindende Internationale Kongress für Prozessrecht64. Lange Zeit war die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts auf Fragen der internationalen Zuständigkeit, der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile sowie der internationalen Zustellung und Beweisaufnahmen beschränkt. Heute dagegen, so von Bogdandy, werde sie „zum Beruf der Zeit“65. Als wesentlicher Gegenstand eines Systemvergleichs kommt nunmehr auch das zivilprozessuale Rechtsmittelsystem als solches in Betracht66. So sah sich auch der 59
Vgl. Rehbinder, Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 1977, in ders., Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995. 60 A.F. Rusch, Methoden und Ziele der Rechtsvergleichung, in Jusletter vom 13.02.06, Rn. 2. 61 P. Gottwald, Zum Stand der Zivilprozessrechtsvergleichung, FS P. Schlosser, 2005, 227. 62 Max Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1987, S. 28. 63 Tschentscher, Rechtsvergleichung und empirische Forschung, ZVglRWiss 2010, 362, 370. 64 Veröffentlicht werden die Beiträge dieses Kongresses in der ZZPInt. 65 A. v. Bogdandy, Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Raum, JZ 2011, 1, 4 f. 66 Gottwald (Fn. 61), S. 240.
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deutsche Gesetzgeber in der Regierungsbegründung zur ZPO-Reform 2002 veranlasst, die Neuregelung des Rechts der Berufung mit einer „rechtsvergleichenden Betrachtung“ zu rechtfertigen (BT-Drs. 14/ 4722). Das Reformvorhaben schließe sich der europäischen Reformbewegung in ihrer „Abkehr von einer vollumfänglichen zweiten Tatsacheninstanz“ an und verfolge damit eine „Angleichung an die Prozessrechtssysteme europäischer Nachbarländer“. Vorbild für diese Neuregelung war vor allem das österreichische Novenverbot (§ 482 öZPO), das letztlich jedoch nicht in voller Schärfe übernommen wurde (vgl. §§ 529, 531 ZPO). Rechtsvergleichung bedeutet allerdings nicht unkritische Übernahme von Regeln und Prinzipien anderer Rechtsordnungen. Vielmehr ist vor einer Rezeption nicht nur festzustellen, ob die Sachlage vergleichbar, sondern auch, ob die konkrete Regelung übertragbar, d. h. mit der eigenen Werteordnung rechtssystematisch und rechtskulturell verträglich ist. Vor allem kommt sie nur dort in Betracht, wo das positive Recht nach dem Wertungsplan des Gesetzgebers eine Gesetzeslücke als ungeplante Unvollständigkeit aufweist67. Bei bewusst geplanten Lücken besteht dagegen grundsätzlich kein Anlass zur Fortbildung des Rechts im Wege der Rechtsvergleichung. 2. Ziele und Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz Die Rechtsvergleichung in der Schweiz hat eine langjährige Tradition und gewinnt als Hilfsmittel der Rechtsfindung sowohl in der Rechtssetzung als auch in der Rechtsanwendung weiter an Bedeutung. Zentraler internationaler Bezugspunkt ist die Europäische Union, obwohl die Schweiz nicht deren Mitglied ist, was zu landesspezifischen Besonderheiten führt. Der am 01.01.11 in Kraft getretenen bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO war der Gesetzesentwurf einer vom Bundesrat eingesetzten Expertenkommission vorausgegangen, die in einem „Begleitbericht“ acht Leitlinien für die Ausarbeitung des Entwurfs festgelegt hatte68, in dem es galt, 26 kantonale Zivilprozessordnungen zu vereinheitlichen. Die Nr. 4 dieser Leitlinien lautete folgendermaßen: „Die künftige ZPO soll eine Fortführung der schweizerischen Rechtstradition sein, mithin die anerkannten Grundsätze und Prinzipien fortführen, wie sie in den kantonalen Zivilprozessordnungen zum Ausdruck kommen. In ausländischen Rechtsordnungen entwickelte Innovationen können nur dann in Betracht gezogen werden, wenn eine Implementierung in die schweizerische Rechtsordnung möglich und als wirkliche Verbesserung angezeigt ist. Zur schweizerischen Rechtstradition gehört namentlich auch der Mut zur Lücke (Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB).“
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Betont wurde die insoweit gebotene Zurückhaltung ausdrücklich in den Leitlinien für die Ausarbeitung des Entwurfs zur bundeseinheitlichen ZPO der Schweiz (dazu sogleich). 68 Dazu Thomas Sutter-Somm, Werdegang und Charakteristika der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, FS Leipold, 2009, 753 – 767.
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Ganz bewusst wurde hierbei die echte Gesetzeslücke (als planwidrige Unvollständigkeit) unter ausdrücklichem Hinweis auf Art. 1 II und III ZGB, wonach sich das „Gericht als Gesetzgeber“ betätigen darf bzw. muss, als „das zentrale Einfallstor für die Rechtsvergleichung im Bereich der Rechtsanwendung“bezeichnet69. In der Tat eignet sich gerade die Rechtsvergleichung als Instrument der Lückenfüllung, indem sich Forderungen de lege ferenda mit Entwicklungen in ausländischen Rechtsordnungen begründen lassen. Maßgeblich für die Rechtsanwendung in der Schweiz ist außerdem die europa- und völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts und für die Rechtssetzung die Prüfung von dessen Kompatibilität mit dem EU-Recht. Primäre Zielsetzung der Schweiz ist jedoch nicht die Harmonisierung mit dem EU-Recht, sondern die Beibehaltung der Eigenständigkeit und Transparenz ihres Rechts. Weder will sie einen Alleingang noch die Mitgliedschaft in der EU, vielmehr strebt sie einen Mittelweg an70. Diesen glaubt sie im autonomen Nachvollzug von EU-Recht erkannt zu haben, was allerdings eklektische Übernahmen nicht ausschließt. Daher soll auch durch die formalisierte EU-Kompatibilitätsprüfung nur in erster Linie sichergestellt werden, „dass Abweichungen vom EU-Recht nur noch bewusst, in voller Kenntnis der Auswirkungen auf das Außenverhältnis der Schweiz erfolgen“. Dennoch meint Kunz zu Recht, dass sich die Schweiz „noch vermehrt vom ausländischen Recht inspirieren lassen“ sollte71. Wie zu zeigen sein wird, käme insoweit als bedenkenswert die Regelung des Art. 328 I lit. a schwZPO in Betracht (§ 3 IV. 3. und § 7 V.).
V. Richtigkeitsgewähr und Rechtskraft der Entscheidung Kontrollmaßnahmen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit können sowohl auf die quantitative Bewältigung der anhängigen Rechtsfälle in angemessener Zeit ausgerichtet sein als auch auf die Sicherung der Qualität des Richterspruchs. In dieser Untersuchung soll weder von der Leistungskontrolle, wie sie u. a. auf dem 66. 69 Peter V. Kunz, Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsanwendung, ZVglRWiss 108 (2009), 31, 69. 70 Kunz (Fn. 69), S. 44 und 49; dazu auch Daniel Thürer, Europa und die Schweiz: Status quo und Potentiale einer Partnerschaft, SJZ 108 (2012), 477, 480. 71 Kunz (Fn. 69), S. 80. In einer Untersuchung über die Ausstrahlung des deutschen Zivilprozessrechts auf andere Rechtsordnungen aus dem Jahre 1992 stellte Stürner (Fn. 15), S. 22 ff, mit Hinw. auf Schurter/Fritzsche (Das Zivilprozeßrecht der Schweiz, Bd. II/1, 1931) fest, dass der deutsche Einfluss auf das schweizerische Zivilprozessrecht seit 1879 „gering veranschlagt“ werden müsse, was allerdings nicht für die Zivilprozessrechtswissenschaft gelte. Diese sei in den Schweizer Lehrbüchern zum Erkenntnisverfahren voll rezipiert worden (im Literaturverzeichnis der „Einführung in die schweizerische Zivilprozessordnung“ von Berti findet sich allerdings außer auf Luhmann kein Hinweis auf deutsches Schrifttum).
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Deutschen Juristentag 2002 gefordert wurde, noch vom Neuen Steuerungsmodell72 die Rede sein, sondern allein von der subjektiven Arbeitsleistung des Richters als Ergebnis dessen Entscheidungsverhaltens ausgehend davon, dass die verfassungsrechtliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten der Parteien verlangt, also auch ein dementsprechendes Entscheidungsverhalten des Richters73. Hierbei wird, wie noch darzulegen, davon ausgegangen, dass auch das Willkür- und Rechtsbeugungsverbot eine richtige Rechtsprechung gewährleisten soll74. 1. Rechtskraftdurchbrechung nach früherer Rechtsprechung des BGH Kam es vor der ZPO-Reform 2002 zu sachlich unrichtigen Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, hielt dafür der BGH grundsätzlich die einfache Erklärung bereit, dass es außer in den gesetzlich geregelten Fällen der §§ 36 I Nrn. 5 und 6, 233 ff, 323, 324, 578 ff, 641i ZPO die Rechtskraft verbiete, die Frage nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Entscheidung erneut aufzuwerfen. Rechtsfriede und Rechtssicherheit seien so hohe Rechtsgüter, „dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden“ müsse (BGHZ 89, 121)75. Die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, sei geringer zu veranschlagen als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (BAG NJW 94, 475). Lediglich in den Fällen, in denen der Richterspruch auf einer Gesetzesauslegung beruhte, die „mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar“ war oder eine Gesetzesanwendung zur Folge hatte, „die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte“, löste der BGH das Spannungsverhältnis zwischen den beiden angeblich gleichwertigen, wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips, Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit, indem er auf den konkreten Einzelfall praeter legem entwickelte Leitsätze anwandte, mit denen er – etwa in entsprechender Anwendung des § 826 BGB76 – die Durchbrechung der Rechtskraft in extremen Ausnahmefällen rechtfertigte, um nicht das Richtigkeitspostulat völlig aufgeben zu müssen und damit den Prozesszweck gänzlich zu verfehlen. Der bekannteste in diesem Zusammenhang von ihm im Jahr 1987 in Anlehnung an einen früheren Grundsatz des RG aufgestellte und bis zur ZPO-Reform 72 Dazu Röhl, Kann die Qualität der Justiz gemessen werden? Vortrag 20.01.02, rsozblog.de. 73 Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 50 mit Hinw. auf die BVerfGE 91,181. 74 Hergenröder (Fn. 46), § 19 III 1 a, S. 363. 75 Vgl. dazu Zöller-Vollkommer (Fn. 6), vor § 322 Rn. 71 f; Schumann (Fn. 1), S. 289, 303 f. 76 Die Klage nach § 826 BGB wegen Erschleichung eines Titels bzw. arglistiger Ausnutzung eines formell zu Recht erlangten Titels stellt das Ergebnis einer Rechtsfortbildung des Wiederaufnahmerechts praeter legem dar und ist folgerichtig als weiterer außerordentlicher Rechtsbehelf mit in dieses Recht einzubeziehen, MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 10 f.
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2002 angewandte Leitsatz lautete: „Die Rechtskraft muss zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt“77. Seltsamerweise bezog sich der BGH in denjenigen Entscheidungen, in denen er trotz deren sachlicher Unrichtigkeit die Notwendigkeit der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft verneinte, ausschließlich auf die eigentlich nur sekundären Prozesszwecke des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit, ohne dabei den vorrangigen Zweck des Individualschutzes und der Richtigkeitsgewähr auch nur in Betracht zu ziehen, womit er faktisch die allgemein geltende Rangordnung jener Zwecke relativierte. D.h., er änderte einfach je nach dem, auf welches Ergebnis er sich zuvor festgelegt hatte und welches es nun zu begründen galt, die Rangordnung unter den einzelnen Prozesszwecken und stellte entweder im Falle der Ablehnung der Durchbrechung auf den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit ab oder im Ausnahmefall der Anerkennung des Begehrens nach Durchbrechung der Rechtskraft auf die Grundsätze der Wahrheit und Gerechtigkeit. Die tatsächlichen Gründe für die unterschiedliche Auswahl unter jenen Prozesszwecken blieben dabei zwangsläufig im Verborgenen. Was nach außen hin dokumentiert wurde, waren reine Scheinbegründungen, die noch dazu auf einer petitio principii beruhten. 2. Das Richtigkeitspostulat nach gegenwärtiger Lehre Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gewährleistet den Parteien einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle und bestimmt damit die Qualität des Rechtsschutzsystems78, die allein die Rechtskraft auch der sachlich unrichtigen Urteile zu rechtfertigen vermag. Dadurch verbindet sich „die Forderung nach Effektivität des Rechtsschutzes mit der Forderung nach einer funktionsfähigen Rechtspflege“79. Oberstes Ziel ist die Verwirklichung materiell richtigen Rechts durch rechtsfehlerfreie Entscheidungen. Dieses Ziel verlangt nach einem Kontrollsystem, das richterliche Fehlleistungen vermeidet und damit der Verwirklichung eines qualitativen Rechtsschutzes dient80. Als effektiv kann daher nur ein Verfahren gelten, das auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtet ist. a) Die „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ nach Peter Gilles Nach Gilles ist angesichts der Tatsache, „dass eine als absoluter Wert verstandene Gerechtigkeit ohnehin unerreichbar, weil schon undefinierbar“ ist, „das Ziel des 77
BGHZ 101, 383; BGH NJW 2005, 2994; Zöller-Vollkommer (Fn. 6), vor § 322 Rn. 72. Michael/Morlok, Grundrechte, 3. Aufl. 2012, Rn. 874 f und 890 f; BVerfGE 84, 34, 53. 79 So Ule, Effektiver Rechtsschutz, DVBl 82, 821, 822. 80 Krugmann, Die Rechtsweggarantie des GG – zum Gebot qualitativen Rechtsschutzes, ZRP 2001, 306, 309. 78
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Prozesses deshalb auf eine relative, … menschenmögliche Gerechtigkeit herunterzuschrauben“, die es „in permanenter Reflexion, Diskussion und Konsensbildung ständig zu präzisieren“ gilt81. Das im Prozess nur annäherungsweise erreichbare „relative“ Recht sei „nicht als eine fehlerhafte Übergangslösung zu einem unerreichbaren Ziel, sondern als ,eigenständiger, kultivierungsbedürftiger Wert‘ mit Legitimationsfunktion zu begreifen“. Diese „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ erlaube es, „grundsätzlich sämtliche in einem solchen Verfahren ergehenden Entscheidungen unter Inkaufnahme ihrer zwar möglichen, aber doch nicht wahrscheinlichen Rechtswidrigkeit mit ihrem Erlass für materiell rechtskräftig oder jedenfalls der materiellen Rechtskraft für fähig zu erklären“. Die Wirksamkeit auch der möglicherweise rechtswidrigen Entscheidungen könne jedoch nur dort legitimiert werden, „wo die Rechtsprechungseinrichtungen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen“. Nur aufgrund dieser ihrer Qualität sei es erlaubt, „zunächst einmal die inhaltliche Richtigkeit der dort ergehenden Entscheidungen zu vermuten“, d. h. solange diese Richtigkeitsvermutung „nicht in einem der zur Verfügung stehenden Kontroll-, Rechtsmittel- oder Anfechtungsverfahren widerlegt wird“. Im Gegensatz zur Ansicht Luhmanns erfahre „die autoritative Verbindlichkeit, der gerichtliche Zwang, seine Legitimation … nicht durch ein rein faktisches Verfahren …, sondern aus eben dieser Rechtmäßigkeitsvermutung aufgrund der Qualität rechtsstaatlicher Rechtsprechungseinrichtungen“. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die Problematik der legitimen Gültigkeit der sachlich unrichtigen Entscheidung letzten Endes gleichbedeutend ist mit der Frage nach der Qualität und Rechtsstaatlichkeit des bestehenden Rechtsmittelsystems. b) Die Rechtskrafttheorie nach Ulfrid Neumann Mit dem Richtigkeitspostulat der neueren Prozessrechtslehre ist keineswegs gemeint, dass stets nur eine einzige Entscheidung richtig sein kann, während alle anderen als fehlerhaft zu gelten haben. Die Theorie Dworkins, die von dieser Annahme ausgeht, wird allgemein abgelehnt82, da sie voraussetzt, „dass sich all die kontroversen Präjudizien und Rechtsprinzipien einer Gesellschaft zu einem ausgewogenen Ganzen fügen, dass also nicht nur alle relevanten Argumente feststehen, sondern auch ihr genauer Stellenwert vorgeschrieben ist“und dies wiederum eine Gesellschaft voraussetzt, „in der eine unterschiedliche Gewichtung von Rechtsprinzipien nicht möglich ist“83. Mit Neumann sollte man sie jedoch als „regulative 81
Gilles (Fn. 19), S. 197 f, 199 f, 201. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984 (Engl. Orig.: Taking Rights Seriously, 1977); siehe dazu Tobias Herbst, Die These der einzig richtigen Entscheidung, JZ 2012, 891. 83 Neumann (Fn. 4), Wahrheit im Recht, 2004, S. 38 f; ders., Richtigkeitsanspruch und Überprüfbarkeit richterlicher Entscheidungen, in FS Hassemer, 2010, 143, 147 ff. Anlass der Erörterung war die Praxis der Revisionsgerichte in Strafsachen, die Entscheidungen der Instanzgerichte nur nach den Kategorien richtig oder falsch zu beurteilen und nicht auch nach der Kategorie der Vertretbarkeit, sowie vor allem die Entscheidung des BVerfG NJW 2001, 1121, in 82
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Idee“ aufrechterhalten, nämlich insofern, als der Richter in seiner Entscheidungspraxis so zu verfahren hat, „als ob in jedem Fall nur eine Entscheidung richtig wäre“84. Dieser soll also durchaus nach der einzig richtigen Entscheidung suchen, statt einfach nur zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu würfeln, falls solche gegeben und auch vertretbar sein sollten. Denn die rechtstheoretische Einsicht, dass in zahlreichen Fällen unterschiedliche Entscheidungen mit guten Gründen vertreten werden können, taugt nicht als Maxime richterlichen Handelns. Das Urteil muss nicht das einzig richtige sein, der Richter sollte es aber auch dann, wenn es eine andere ebenso vertretbare Lösung geben sollte, in der Begründung als das – unter den gegebenen Umständen – einzig richtige ausweisen, also darlegen, dass und warum gerade dieses Urteil aus seiner Sicht das allein richtige ist, da er sonst seine Aufgabe verfehlt. Aus der internen Perspektive des Richters könne es nur eine richtige Entscheidung geben85 ; aus der externen des Rechtsphilosophen handelt es sich um eine kontrafaktische Unterstellung. Lediglich was dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit für die von ihm gefällte Entscheidung anbelangt, wenn es also zu beurteilen gilt, ob er bei einer Fehlentscheidung die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsbeugung erfüllt hat, muss „der Einsicht in die faktische Vertretbarkeit unterschiedlicher Entscheidungen Rechnung getragen werden“86. Bei der Frage nach der Legitimation der sachlich unrichtigen Entscheidungen gilt es zu bedenken, dass nach den Rechtskrafttheorien die materielle Rechtskraft zu einer geradezu „gewaltsamen Lösung des Problems“ insofern führt, als die „Richtigkeit“ auch der fehlerhaften Entscheidungen zwangsläufig fingiert werden muss, damit auch diese in Rechtskraft erwachsen und damit Verbindlichkeit erlangen können. Hier folgt nicht das Urteil dem materiellen Recht, also der Wahrheit, sondern umgekehrt das materielle Recht dem Urteil, nämlich der Autorität des Richters. Diese Fiktion beseitigt jedoch nicht den tatsächlich bestehenden Widerspruch zwischen dem Fehlurteil und der materiellen Rechtslage. Denn das Fehlurteil bleibt als solches bestehen trotz Eintritt der Rechtskraft. Um auch dieses zu legitimieren, sind daher Wahrheit und Verbindlichkeit der Entscheidung zu „entkoppeln“ mit der Folge, dass die Verbindlichkeit nicht (mehr) auf das materielle Recht gestützt werden muss, sondern auf die institutionelle Entscheidungskompetenz des Richters und die Korrektheit des Verfahrens87. Eine vollständige Ablösung der Entscheidung von der es um die Auslegung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ in Art. 13 II GG und § 105 I 1 StPO ging. Indem das Gericht „eine vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit der von der Staatsanwaltschaft angeordneten Grundrechtsbegriffe auch in Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe“ vertrat und zugleich „die Reichweite der gerichtlichen Überprüfbarkeit an die Reichweite der materiellrechtlichen Bindung der Entscheidung“ knüpfte, habe es dieser Entscheidung „rechtstheoretisch das Modell der einzig richtigen Entscheidung“ zugrundegelegt. Angestrebt worden sei damit eine höhere Kontrolldichte. 84 Neumann (Fn. 4 und 83), S. 40 (Wahrheit im Recht) und S. 150 (Richtigkeitsanspruch). 85 Neumann, Theorie der jur. Argumentation, Kaufmann/Hassemer/Neumann (Fn. 8), S. 342. 86 Neumann (Fn. 4), S. 56. Das gebietet auch die folgenorientierte Auslegung. 87 Neumann (Fn. 4), S. 44 ff.
§ 1 Einführung in die Thematik
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ihrem Richtigkeitsanspruch kommt jedoch nicht in Betracht. Denn nachdem sich die sachliche Richtigkeit des Urteils mit den begrenzten Mitteln der menschlichen Erkenntnis in der verfügbaren Zeit nicht in jedem Falle gewährleisten lässt, muss diesem in den Extremfällen sachlicher Unrichtigkeit die Verbindlichkeit versagt werden. c) Die Wiederaufnahmetheorie Johann Brauns Braun geht von der Prämisse aus, dass die Beachtung der Rechtskraft eines Urteils nicht schon dann verfehlt ist, wenn sich nachträglich dessen sachliche Unrichtigkeit herausgestellt hat. Denn auch der Rechtskraft sei ein eigener Wert zuzuerkennen, nicht nur dem materiellen Recht. Diese nämlich habe die Aufgabe, „das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils zu schützen. Dies verkenne Gaul, nach dessen „Theorie der Beweissicherheit“88 die Rechtskraft des unrichtigen Urteils „prozesslogisch überhaupt nicht ableitbar“ sei, da er nicht hinreichend zwischen dem Restitutionsgrund und dessen Beweis unterscheide und damit „fälschlich das Beweismittel selbst als Restitutions,grund‘“ ausgebe. Gerechtfertigt sei die Korrektur des rechtskräftigen Urteils daher nur, wenn es besondere Gründe gebe, die das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils überwiegen, d. h., die mit dem Prinzip der Rechtskraft vereinbar seien. Nicht jeder Fehler sei damit in Einklang zu bringen. Dies sei nur bei Verfahrens- nicht aber auch bei Ergebnisfehlern anzunehmen, da bei letzteren der Mangel nur im Wege einer nochmaligen sachlichen Überprüfung des Urteils festgestellt werden könne89. Diese Prüfung vornehmen zu können, setze aber bereits eine Durchbrechung der Rechtskraft voraus. Dagegen werde ein Verfahrensfehler durch Analyse des dem Urteil vorangegangenen Verfahrens ermittelt, ohne dass dazu eine Überprüfung dessen Ergebnisses erforderlich sei. Die „Verfahrensfehlerrestitution“ gemäß § 580 Nr. 1 – 5 ZPO sei daher unbedenklich. Soweit es sich im Falle der §§ 580 Nr. 7b, 641 i ZPO um eine Korrektur von Ergebnisfehlern handele, könne diese ausnahmsweise deswegen als vertretbar gelten, weil sie auf Entscheidungen beschränkt sei, die wie etwa familienrechtliche Urteile mit Dauerfolgen nur mit einer „Rechtskraft von geringerer Intensität“ ausgestattet seien.
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Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Analogie beim enumerativen Ausnahmesatz, 1956, S. 45, 52 f, 65 f. 89 Ebenso bereits Puttfarken (Fn. 38), JuS 1977, 493, 498.
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
§ 2 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation(en) I. Darlegung der Evaluationskonzeption Um die Konzeption der folgenden Gesetzesevaluationen darlegen zu können, ist zuerst die Fragestellung deutlich zu machen, die ihnen zugrundeliegt. Denn erst aus der Fragestellung ergibt sich, welchen Evaluationsgegenstand es zu analysieren und zu bewerten gilt. Dieser Gegenstand muss definiert werden, wobei zu klären ist, zu welchem Zweck er untersucht werden soll, also welchen Nutzen die Evaluation dem Auftraggeber bringen soll. Die Fragestellung, die Anlass zu der hier vorgelegten Studie gab, stimmt im weitesten Sinn mit der These überein, die Steinberg in seiner Habilitationsschrift unter der Überschrift „Defizitärer verfassungsrechtlicher Schutz vor der Judikative“ wie folgt formuliert hat90 : In den Hintergrund sei die Sorge um den Missbrauch (fach-)richterlicher Gewalt getreten, aus der Montesquieu das Postulat deren „Nichtigkeit“ abgeleitet habe. Von den seinerseits geforderten drei Kautelen gegen richterlichen Machtmißbrauch (Gewaltenteilung, Richter auf Zeit aus dem Volk und engste Bindung an das Gesetz) sei nur noch die erste deutlich präsent. Zwar könne nicht verlangt werden, diese Schutzmechanismen voll zu reaktivieren. Zu kritisieren bleibe jedoch, dass das „allgemeine Schutzbedürfnis des Bürgers vor judikativer Machtausübung in der verfassungsrechtlichen Lehre keine hinreichende Beachtung“ finde. Wohl werde betont, dass die Judikative nicht nur Garant gegen Übergriffe der anderen Gewalten, sondern auch selbst nach Art. 20 III Halbs. 2 GG an Recht und Gesetz gebunden ist. Nur sehr vereinzelt werde jedoch die Ausübung der Judikativgewalt als prinzipiell die individuelle Freiheit beschränkend begriffen. Dem korrespondiere „soziologisch … eine Überhöhung des Richters, ein ,Richterzentrismus‘ in der Rechtskultur der Bundesrepublik, Rechtsdenken und Juristenausbildung eingeschlossen“. 1. Klarstellung der zu überprüfenden Hypothesen Diese als Vermutung über den gegenwärtigen Rechtszustand formulierte Behauptung ist so zu verstehen, dass die Rechtsordnung der Bundesrepublik die Gefahr illegitimer judikativer Machtausübung in sich birgt, weshalb es einer effektiveren Richterkontrolle bedarf. Sie stellt zwar, weil zu allgemein gehalten, keine sozialwissenschaftlich überprüfbare Hypothese dar, sondern lediglich eine rechtspolitische Forderung nach geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der judikativen Gewalt. Da sie jedoch klar von einem kausalen Zusammenhang zwischen richterlicher Machtentfaltung und unzureichender Richterkontrolle ausgeht, lässt sie sich auch in eine Wirkungshypothese im sozialwissenschaftlichen Sinn umformulieren, ohne dass dadurch ihr Inhalt im Kern verfälscht wird. Allgemein formuliert 90
Steinberg (Fn. 28), S. 59.
§ 2 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit
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würde diese These lauten, dass es dem ohnehin unzulänglichen Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in letztinstanzlichen Zivilgerichtsverfahren weitgehend an der verfassungsrechtlich garantierten Effektivität mangelt. Bezogen auf § 321a ZPO heißt dies konkret: Wird die Anhörungsrüge erhoben, so hat der durch § 321a ZPO gewährleistete Rechtsschutz im Zweifel keine hinreichende Effektivität, und auf § 339 StGB bezogen heißt dies: Will eine Prozesspartei die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO gestützt auf die Behauptung erheben, dass die letztinstanzliche Entscheidung auf einer Rechtsbeugung beruht, und erstattet er dieserhalb Strafanzeige gegen den Richter, so scheitert dieses Vorhaben im Zweifel bereits an der Weigerung der Staatsanwaltschaft, dieser Anzeige Folge zu leisten und gegen den Richter Anklage zu erheben. Diese Thesen, die der vorliegenden Studie zugrundegelegt werden, dürften sich sinngemäß mit der Äußerung Steinbergs decken, sind demgegenüber aber auch sozialwissenschaftlich überprüfbar, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Daher erlauben sie auch Gesetzesevaluationen im eingangs erwähnten Sinn. 2. Gegenstand der Evaluationen Gegenstand der vorliegenden Studie ist das Ob und Wie der Befolgung der an den Rechtsstab als (internes) Kontrollorgan gerichteten Verhaltens- und Entscheidungsnormen im Falle der Geltendmachung eines der hier ausgewählten außerordentlichen Rechtsbehelfe gegen letztinstanzliche Zivilgerichtsurteile im Rahmen der instanzinternen Selbstkontrolle. Zum einen sind das die für die richterliche Spruchtätigkeit relevanten geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltens- und Entscheidungsnormen im Falle der Erhebung einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, also die Art. 103 I GG und 6 I EMRK, und zum anderen sind das die für die Staatsanwaltschaft relevanten Verhaltens- und Entscheidungsnormen für den Fall der Erstattung einer Strafanzeige gegen einen Richter wegen des Verdachts der Rechtsbeugung durch ein angebliches Opfer einer solchen Straftat, also die §§ 152 II, 160 I StPO. Im letzteren Fall mit dem Ziel, damit die Voraussetzungen zu schaffen für die Erhebung einer Restitutionsklage gegen ein letztinstanzliches Urteil gemäß §§ 580 Nr. 5 ZPO. Untersucht werden soll also nicht das real geschehene judikative Unrecht einer Gehörsverletzung und einer Rechtsbeugung als solches bei Ausübung der richterlichen Spruchtätigkeit bzw. bei Wahrnehmung der staatsanwaltlichen Pflichten im Rahmen der Strafverfolgung, sondern allein das Verhalten jener Organe der Rechtspflege in Reaktion auf die von einer Prozesspartei ergriffenen legalen Abwehrmaßnahmen gegen ihr angeblich zugefügtes judikatives Unrecht in einem letztinstanzlichen zivilrechtlichen Gerichtsverfahren91. Das erfordert eine konkrete Bestimmung der Faktoren, die auf diese Reaktion Einfluss ausüben. Da es hier nur um Verhaltens- und Entscheidungsnormen geht, die sich unmittelbar an den 91 Siehe zur Reaktionstheorie, also dazu, dass für die Rechtsqualität einer Norm nur das Handeln des Rechtsstabs in sozialen Situationen entscheidend ist, Rehbinder (Fn. 6), Rn. 44 f.
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Rechtsstab richten und nicht an die Bevölkerung, kommen allein Faktoren aus der Sphäre der Norm bzw. des Normgebers in Betracht sowie solche, die in der Person des Normadressaten wurzeln. Erstere betreffen die gesetzestechnisch fehlerfrei oder fehlerhaft erfolgte Implementation der Vorschriften in das Gesetz, letztere deren Akzeptanz, also deren innere Bejahung seitens der Richterschaft. Diese Wirksamkeitsfaktoren, die mit sehr unterschiedlicher Intensität vorliegen können und untereinander in einem hoch komplexen Wirkungszusammenhang stehen92, sind unabdingbare Voraussetzung für die Seinsgeltung jener Vorschriften und damit für die Effektivität des durch sie gewährleisteten Rechtsschutzes. 3. Zielsetzung der Evaluationen Ziel der Evaluationen ist folglich die Ermittlung der Effektivität bzw. Ineffektivität des Rechtsschutzes gegen greifbar gesetzwidriges richterliches Entscheidungsverhalten in nicht mehr rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, soweit ein solcher Rechtsschutz gemäß §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO mit 339 StGB durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der Anhörungsrüge und der Restitutionsklage grundsätzlich gewährleistet wird. Dazu wurde die auf jene Rechtsbehelfe bezogene Hypothese aufgestellt, dass die Effektivität des durch sie gebotenen Rechtsschutzes gemessen an den verfassungsrechtlichen Garantien im Zusammenhang mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch derart minimal ist, dass sie ihren Zweck nahezu gänzlich verfehlen, d. h., dass sie zwar auf dem Papier geboten werden, von ihnen aber aufgrund diverser objektiver Zugangsschranken, richterlicher Attitüden und psychologischer Hemmnisse kein effektiver Gebrauch gemacht werden kann. Nachdem sich die Wirksamkeit einer Norm rechtssoziologisch gesehen aus ihrer Anwendung durch den Rechtsstab als Kontrollorgan ergibt, soll hier dessen Entscheidungsverhalten bei der Beurteilung der von einer Prozesspartei behaupteten Fehlgriffe und elementarer Rechtsverstöße von Richtern und Staatsanwälten bei deren Tätigkeit als Organe der Rechtspflege gezielt unter Beobachtung gestellt werden, um aus dem dabei registrierten Verhalten Rückschlüsse auf die Effektivität der jeweils angewandten oder nicht angewandten Verhaltens- und Entscheidungsnorm ziehen zu können, d. h., auf deren Verhaltensgeltung, Sanktionsgeltung oder auch Nichtgeltung93. Zu beurteilen ist dies auf der Grundlage der sowohl zu § 321a ZPO als auch zu § 580 Nr. 5 ZPO bzw. zu § 339 StGB ergangenen Gerichtsurteile, die es daher im Rahmen dieser Evaluation als Daten zu sammeln und zu bewerten gilt; und demgemäß vollzieht sich deren Analyse als Dokumenten- oder Rechtsprechungsanalyse94. Wesentlich für den Auftraggeber einer Evaluationsstudie ist jedoch letztlich nicht der festgestellte Befund und die Bestätigung der aufgestellten Wirkungshypothese, sondern das Auffinden und Präsentieren einer überzeugenden 92 93 94
Siehe Raiser (Fn. 7), S. 254. H. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, 1980, S. 64 f. Dazu Rehbinder (Fn. 6), 62 f; Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 15 V.
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Lösung für das aufgezeigte Problem, hier also für das noch näher zu beschreibende Rechtsschutzdefizit. Ziel der Studie ist auch, das Vorhandensein der psychischen Voraussetzungen für die Effektivität des durch die Verhaltens- und Sanktionsnormen gewährleisteten Rechtsschutzes zu ermitteln, welche die Einleitung und Durchführung von Überprüfungsverfahren regeln, in denen es gilt, eine angeblich relevante richterliche Fehlleistung im Ausgangsverfahren zu beurteilen. D.h., die Untersuchung ist auch gerichtet auf die Feststellung des Maßes an Gesetzestreue seitens der Richterschaft als Korrelat der Gewaltenteilung gegenüber den einschlägigen Verhaltens- und Sanktionsnormen nach Antrag auf Durchführung einer instanzinternen Selbstkontrolle gemäß § 321a ZPO, in denen der Richter prekärerweise über sein eigenes angeblich abweichendes Entscheidungsverhalten im vorausgegangenen Verfahren zu befinden hat.
II. Durchführbarkeit der Evaluationen Die Qualität einer retrospektiven (ex-post) Evaluation, die der Aufklärung über die Wirkungen von Maßnahmen dienen soll, ist abhängig von der Bereitstellung exakter und für die Beantwortung der Evaluationsfrage adäquater Informationen. Vor allem sollte dabei den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an die Genauigkeit empirischer Datenerhebungen und Auswertungen entsprochen werden95. Diese Anforderungen wurden von der Evaluationsforschung in Standards festgelegt, um den Evaluatoren eine Orientierung bei der Planung und Durchführung von Evaluationen zu geben und dadurch deren Qualität sicherzustellen, aber auch die Auftraggeber vor inkompetentem Vorgehen zu schützen96. Gerade deswegen ist besonders darauf hinzuweisen, dass den hier präsentierten Gesetzesevaluationen von der Eigenart des Untersuchungsobjekts her Grenzen gesetzt waren, was eine exakt methodengerechte Untersuchung ausschloss. Dies bedarf zunächst der Erklärung. Anschließend gilt es dafür umso deutlicher zu machen, dass diese Evaluationsstudie auch unter Berücksichtigung ihrer methodischen Mängel sinnvoll war und der Justiz als der hypothetischen Auftraggeberin dennoch einen konkreten Erkenntnisgewinn bringen wird. 1. Probleme der methodengerechten Durchführung der Evaluation Die Evaluationsforschung ist Teil der Sozialwissenschaften und bedient sich deren Methoden ebenso wie die empirische Rechtssoziologie als Rechtstatsachen-
95
W. Meyer, Informationssammlung und Bewertung, in Stockmann/Meyer (Fn. 10), 5.1. W. Meyer (Fn. 95), 4.4.3 mit Hinweis auf die deutschen CEval-Standards. Zu den schweizerischen SEVAL-Standards siehe Thomas Widmer in SZK 2011, 23 – 26. 96
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forschung. Nach ihrem Begründer Arthur Nußbaum97 hat diese „zu erforschen, wie die Formen der tatsächlichen Anwendung des Gesetzes beschaffen sind, insbesondere, in welcher Weise das Gesetz von den Gerichten und dem Publikum tatsächlich angewendet wird, ferner welche Zwecke mit den Normen verfolgt werden und welche Wirkungen diese äußern“. D.h. an sich für den Bearbeiter: Formulierung des Forschungsziels, Datenerhebung, Datenauswertung und Berichterstattung, wobei ständig die Frage präsent sein sollte, „Was genau möchte ich wissen?“98. Die Aufgabe der empirischen Sozialforschung, die Prüfung von Hypothesen, ist jedoch keineswegs problemlos zu realisieren. Nötig ist dazu sowohl die Diagnose etwaiger Fehlerquellen der Prüfverfahren als auch eine Therapie zur Kontrolle von Verzerrungseffekten. 2. Schwierigkeiten bei der Hypothesenüberprüfung Den wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Evaluation voll gerecht zu werden, ist allerdings bei Einmann-Studien, wie Rehbinder festgestellt hat99, nahezu ausgeschlossen. Denn solche Studien „sind kaum in der Lage, Hypothesen im strengen Sinne zu überprüfen. Sie beschränken sich daher zumeist auf eine nicht-experimentelle Untersuchungsanordnung und damit auf deskriptive Forschung oder auf eine Illustrierung von Hypothesen. Ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert im Hinblick auf Kausalerklärungen liegt dann in ihrer Verwendbarkeit als Pilotstudie und – im nichtjuristischen Sinne – in einer Umkehr der Beweislast“. Ähnlich weist auch Struck darauf hin, dass die methodischen Ansprüche an die Wirkungsforschung so hoch gesteckt werden, „dass ein so ausgelegtes Forschungsprojekt im derzeitigen praktischen, politischen und wissenschaftlichen Geschehen nur selten verwirklicht 97
Arthur Nußbaum, Rechtstatsachenforschung, neu hg. von Rehbinder, 1968, S. 24; Rehbinder (Fn. 6), Rn. 6; ders., Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in ders., Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995, S. 31 – 66. Nach Nußbaum ist Rechtstatsachenforschung „die systematische Untersuchung der sozialen, politischen und anderen tatsächlichen Bedingungen, aufgrund derer einzelne rechtliche Regeln entstehen, und die Prüfung der sozialen, politischen und sonstigen Wirkungen jener Normen“ (S. 64). Als Erfahrungswissenschaft geht es ihr um die Erhebung und Auswertung sozialer Sachverhalte bzw. Daten, die, soweit sie Gegenstand von Rechtsnormen sind, die Rechtstatsachen bilden. Dies sind nach Nußbaum (aaO S. 21) „diejenigen Tatsachen, deren Kenntnis für ein volles Verständnis und eine sachgemäße Anwendung der Normen erforderlich ist“ und die jeweils induktiv zu erforschen sind. 98 Siehe Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung, 20. Aufl. 2009, B V 1 sowie S. 54, 70 und 192 f. Zur Vermeidung verzerrter Evaluationen sollte die Inhaltsanalyse durch selektive Wahrnehmung auch nicht dergestalt hypothesengesteuert sein, dass bevorzugt jene Wahrnehmungen registriert werden, die die eigenen Vorurteile bestätigen. 99 Rehbinder (Fn. 6), Rn. 24 und 59. So meint auch Rottleuthner (Fn. 9), S. 48: Die Feststellung der Kausalität legislativer Maßnahmen im Hinblick auf die Zielerreichung als das zentrale Problem der Rechtswirkungsforschung setze „eigentlich ein experimentelles Design voraus“, das jedoch „fast nie zu realisieren“ sei. Es gäbe lediglich Annäherungen in Form sog. Quasi-Experimente wie die „interrupted time series analysis“.
§ 2 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit
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werden wird, und dann mit einem Zeitaufwand, der die Ergebnisse veralten läßt“100. Die wissenschaftliche Genauigkeit steuere auch in der Rechtssoziologie auf ein Paradox zu: Wer es mit der Genauigkeit als Wissenschaftler übertreibt, komme nie zu einem Ergebnis. Man dürfe daher aus wissenschaftsinternen Gründen die Frage der praktischen Umsetzung von Projekten nicht aus dem Blick verlieren. Das heißt, dass die hier aufgestellte Hypothese nicht streng nach den sozialwissenschaften Methoden überprüft, sondern lediglich illustriert werden kann. Nur ein solches Ergebnis ist mit dieser Studie bestenfalls anzustreben. Vor allem wird es schon naturgemäß nicht möglich sein, die Untersuchung über die Feststellung etwaiger rechtsstaatlicher Effektivitätsdefizite des gegenständlichen Rechtsschutzes hinaus auch noch auf die Ermittlung einer exakten Befolgungs- oder Effektivitätsquote der einschlägigen Vorschriften im Sinne Theodor Geigers bei Durchführung der instanzinternen Selbstkontrolle zu erstrecken. Denn dies würde vorausetzen, die wirklich gewissenhaft vom Richter durchgeführten Selbstkontrollen von den nur scheinbar gewissenhaft durchgeführten unterscheiden zu können, was völlig ausgeschlossen ist. 3. Einschränkungen bei der Erfüllung der Evaluationsstandards Folglich vermag diese Studie auch den verbindlichen Evaluationsstandards nicht voll zu entsprechen. Zum einen fehlt es sowohl an einer verwertbaren Statistik über erfolgreich und erfolglos gegen letztinstanzliche Urteile geltend gemachte außerordentliche Rechtsbehelfe als auch an einer Erhebung über die Unzahl der nicht geltendgemachten Rechtsbehelfe, die u. U. hätten erfolgreich sein können, wenn sie geltend gemacht worden wären. Dann entfiel hier von vornherein die Möglichkeit einer offenen oder verdeckten (teilnehmenden) Beobachtung der richterlichen Spruchtätigkeit bei der Bearbeitung der Rechtsbehelfe, wie sie ehedem Lautmann gegeben war. Und schließlich war es nicht möglich, diese Gesetzesevaluation als interaktiven Prozess zu organisieren101, in dem es zu fruchtbaren Dialogen zwischen dem Evaluator und den an der Evaluation beteiligten Personen (hier also den Richtern und Staatsanwälten) hätte kommen können. Auch dies ist als ein Manko der Studie einzuräumen, da an sich gerade die spezifischen Merkmale dieser „Stakeholder“102 für die Feststellung der Akzeptanz der an sie gerichteten Verhaltens- und Entscheidungsnormen eine gewichtige Rolle spielen. Weil die Rechtsfindungsprozesse, die in deren Köpfen stattfinden, letztlich verschlossen bleiben, kann diese Arbeit somit verständlicherweise nicht den Anspruch erheben, eine Gesetzesevaluation im streng sozialwissenschaftlichen Sinn zu bieten. 100
G. Struck (Fn. 50), Rechtssoziologie, 2011, § 13 Nr. 7. Siehe Stockmann/Meyer (Fn. 10), 4.5., S. 186. 102 Dies ist der Oberbegriff für alle Personen und Personengruppen, die in irgendeiner Form direkt oder indirekt von den Aktivitäten eines Projekts betroffen, an ihnen beteiligt oder an deren Ergebnissen interessiert sind, vgl. Stockmann/Meyer (Fn. 10), S. 186, und 252 f. 101
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a) Fehlen einer verwertbaren Justizstatistik Eine verwertbare Statistik müsste so beschaffen sein, dass ihr auch zu entnehmen wäre, wieviel Rügen überhaupt erhoben und wieviele davon aus welchen Gründen zurückgewiesen wurden. Eine solche Statistik kann jedoch von der Justiz schon deswegen nicht geboten werden, weil der Datenerfassung zuvor eine arbeitsintensive Aufbereitung jedes einzelnen Abhilfeverfahrens etwa in der Weise vorausgehen müsste, wie sie Vollkommer vor seinen „Fallanalysen“ der 16 Amtsgerichtsbeschlüsse in seinem Festschriftbeitrag für Musielak zu bewältigen hatte103. Daher wird eine Datenerhebung in dieser Weise auch von keinem Landesjustizministerium durchgeführt104. Selbst wenn es eine derart aufbereitete Statistik gäbe, könnte auch sie nicht zu gesicherten Aussagen über die Häufigkeit abweichenden richterlichen Entscheidungsverhaltens in Reaktion auf einen außerordentlichen Rechtsbehelf führen, da sich dieses Verhalten ganz wesentlich im Dunkelfeld des Herstellungsprozesses der Entscheidung abspielt und die Abweichung in deren Darstellung keineswegs erkennbar zum Ausdruck kommen muss. Die Kontrolle der Dunkelziffer ist aber notwendige Bedingung für die sinnvolle Überprüfung einer Wirkungshypothese auf empirischer Grundlage105. Unter Umgehung dieses Dunkelfelds sind keine verlässlichen Angaben zu ihrer Verifikation möglich. Diese Umstände zwingen zu einem pragmatischen Vorgehen, nämlich dazu, sich auf die Analyse einiger vom Schrifttum als beachtlich eingestuften publizierten Entscheidungen zu beschränken, die sich als symptomatisch für die mangelnde Effektivität des durch die genannten Vorschriften normativ gewährleisteten Rechtsschutzes erwiesen haben. Als Erhebungsmethode kann folglich insoweit nur das Stichprobenverfahren mit bewusster Auswahl (judgement sample) zur Anwendung gebracht werden. Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass Beschlüsse, mit denen einer berechtigten Rüge abgeholfen wurde, meist nicht als veröffentlichungswürdig eingestuft wurden. D.h., hier hat ohnehin schon durch das Publikationsorgan eine gewisse Vorauswahl stattgefunden und diese kann noch fortgesetzt werden, wenn Autoren publizierte Entscheidungen zum Anlass nehmen, dazu eigene Kommentare abzugeben. Zusammenhangshypothesen können jedoch selbst an willkürlichen Stichproben geprüft werden. Nur wenn Aussagen über Grundgesamtheiten getroffen werden sollen, sind kontrollierte Stichprobenverfahren erforderlich106. 103
Siehe unten § 5 I. 1. a). Laut der ZP/F-Statistik des Bayer. Staatsministeriums der Justiz wurden von den Amtsgerichten im Jahre 2008 in 82 Verfahren 50 Rügen verworfen oder zurückgewiesen, im Jahre 2009 in 78 Verfahren 56 Rügen und im Jahre 2010 in 98 Verfahren 71 Rügen, wobei unklar bleibt, ob die übrigen Rügen tatsächlich erfolgreich waren oder sich sonst erledigten. Die von den Land- und Oberlandesgerichten verworfenen oder zurückgewiesenen Rügen wurden nicht besonders erfasst. Erhoben wurden bei den Oberlandesgerichten in Bayern 89 Rügen im Jahre 2008, 106 Rügen im Jahre 2009 und 105 Rügen im Jahre 2010. 105 Dazu Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, 1981, S. 47. 106 Diekmann (Fn. 98), Empirische Sozialforschung, S. 379 f. 104
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b) Selektion bei der Inanspruchnahme der außerordentlichen Rechtsbehelfe Außerdem kann nicht unterstellt werden, dass sich die von einer greifbaren Gesetzwidrigkeit betroffene Prozesspartei stets gegen das ihr zugefügte judikative Unrecht zur Wehr setzen wird. Schließlich kann sie die Benachteiligung auch kampflos hinnehmen, etwa wenn ihr das Unrecht gar nicht bewusst geworden ist oder wenn sie falsch beraten wurde, die gesetzliche Frist versäumt hat oder die Kosten, den psychischen Stress und die lange Verfahrensdauer scheuen sollte. Hinzu kommt die hohe Selektivität schon beim Zugang zu den Wiederaufnahmeverfahren infolge der förmlichen Zugangsschranken. Nicht jeder Fall einer solchen möglichen Diskriminierung einer Prozesspartei wird daher erneut vor Gericht gebracht und einer Prüfung unterworfen107. Angesichts der Unmenge der täglich verkündeten letztinstanzlichen Endurteile werden die außerordentlichen Rechtsbehelfe, was deren Effektivität anbelangt, daher nur zu einem ganz geringen Teil einem gerichtlichen „Test“ unterzogen. Das aber bedeutet, dass die vor Gericht gebrachten Fälle durchaus keine repräsentative Stichprobe des Geschehens in der Wirklichkeit abgeben, das die Effektivität des durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe gewährleisteten Rechtsschutzes bestimmt. Besonders gilt dies für die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB. Ganz erheblich dürfte aber auch die Anzahl der potenziell möglichen Anhörungsrügen sein, auf deren Erhebung aus außerrechtlichen Gründen verzichtet wurde, wobei auch zu bedenken ist, dass das Anhörungsrügenverfahren gemäß § 19 I 2 Nr. 5 RVG zum Rechtszug gehört und daher für den anwaltlichen Vertreter keine weitere Gebühr anfällt.
III. Die Untersuchung als interdisziplinäres Projekt Als Evaluationsstudie ist diese Arbeit dem interdisziplinären Bereich zwischen Rechtsdogmatik und Soziologie zuzuordnen, wobei zutreffen mag, was Noll festgestellt hat, dass es sich bei der Jurisprudenz (unter Einbeziehung der Gesetzgebungslehre) ohnehin um eine per se interdisziplinäre Wissenschaft handelt108. Jedenfalls fällt die Studie in das Gebiet der empirischen Rechtssoziologie oder Rechtstatsachenforschung, und zwar konkret in deren Teilbereiche Effektivitäts- und Evaluationsforschung. Aufgabe dieser Bereiche ist ja gerade die auch hier angestrebte Feststellung, ob und inwieweit der Gesetzgeber die Ziele, die er mit der Einführung einer Rechtsnorm verfolgte, auch tatsächlich erreicht hat. Außerdem können die dort gewonnenen Erkenntnisse zur Effektuierung des Rechts genutzt werden, nämlich insofern, als mit ihnen die beim Vollzug der Gesetze aufgetretenen 107
Siehe zu den Bedingungen der Mobilisierung von Recht E. Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, 1995, S. 42 f; Raiser (Fn. 7), 16. Abschnitt VIII. 108 Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 68; dazu auch Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität – am Beispiel der Rechtswissenschaft, JZ 2010, 913, 921.
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Störungen aufgedeckt und Möglichkeiten aufgezeigt werden können, wie diese zu vermeiden oder zu beseitigen sind. Ihnen sollte daher im vorliegenden Zusammenhang nicht nur der Status bloßer Hilfswissenschaften der Jurisprudenz zugewiesen werden109. 1. Konkretisierung der Aufgabenstellung Demzufolge wird hier die Verfahrenswirklichkeit des abgekürzt so bezeichneten „Rechtsschutzes gegen den Richter“ am Beispiel der Anhörungsrüge und der Restitutionsklage in der Absicht beschrieben, etwaige rechtsstaatliche Defizite dieses Rechtsschutzes aufzudecken und deren Ursachen zu ermitteln. Als auf die Seinsgeltung des Rechts ausgerichtete Erfahrungswissenschaft geht es der Rechtssoziologie zuerst allein um die Beschreibung und Analyse der sozialen Wirklichkeit des Rechts. Deshalb soll hier auch nicht die rechtspolitische Problematik des Sinns und Zwecks der Wertentscheidung behandet werden, die das BVerfG mit jenem Dogma vom Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber auch gegen diesen, getroffen hat. Vielmehr gilt es vorerst nur zu schildern, wie diese Doktrin als Zwischenstufe im Verlauf der rechtshistorischen Entwicklung der ZPO bis zur Einführung der Anhörungsrüge und bis zum Plenarbeschluss des BVerfG vom 30.04.03 (E 107, 395) dessen Rechtsprechung zur Rechtsschutzgarantie maßgeblich bestimmt hat, um sich dann als nicht mehr durchgehend haltbar zu erweisen. Demnach kann hier auch dahingestellt bleiben, ob speziell die Vorschrift des § 339 StGB als Verhaltens- und Sanktionsnorm etwa aufgrund berechtigter Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit überhaupt noch als für den Rechtsstab rechtsdogmatisch verbindlich zu gelten hat110. Vielmehr ist lediglich die Faktizität jener Norm zu erforschen111, also zu klären, ob und inwieweit diese noch als Bestimmungsgrund menschlicher Verhaltensweisen und sozialer Verhaltensmuster überhaupt auf den Rechtsstab tatsächlich Einfluss ausübt und damit Wirksamkeit entfaltet. Das schließt die Frage ein, ob diese Normen auch ihrem Zweck entsprechend, unter den gesetzten Bedingungen wirksamen Rechtsschutz gegen rechtskräftige 109
Rehbinder (Fn. 6), Rn. 6. Die Rechtssoziologie verfolgt ein eigenes Erkenntnisziel, indem sie der Aufgabe nachgeht „zu überprüfen, ob bestimmte Feststellungen über die faktische Existenz sowie die Entstehung und Wirkung von Recht in der Gesellschaft der Wirklichkeit entsprechen oder nicht“, womit sie über die wissenschaftliche Wahrheit rechtssoziologischer Hypothesen entscheidet. Schon A. Heldrich wies darauf hin, dass auch darauf zu achten sei, der Rechtssoziologie nicht nur die Rolle einer Service-Wissenschaft zuzuweisen (AcP 1986, S. 74, 109). Eine Rechtstatsachenforschung nach dem Motto „Schmücke Dein Heim“, wie in machen Dissertationen und Habilitationsschriften anzutreffen, sei ohne besonderen Nutzen. 110 Der Rechtsstab befasst sich bestimmungsgemäß mit der Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen. Den Sammelbegriff hat Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, S. 17) für den Sanktions- oder Erzwingungsapparat der Justiz in die Rechtssoziologie eingeführt. Rechtsstab a potiori ist der Richter. Dieser fungiert für den Fall, dass er einer Norm durch Anwendung Geltung verleihen will, als „Umschaltstation von der soziologischen in die juristische Geltung“ jener Norm, siehe Rehbinder (Fn. 6), Rn. 45. 111 Siehe Rehbinder (Fn. 6) Rn. 1 und 45 – 47.
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Urteile zu gewährleisten, gesetzgebungstechnisch angemessen in die ZPO implementiert wurden. Die Tatsache, dass diese Implementierung weitgehend misslungen ist, haben u. a. bereits sowohl Braun, Sangmeister, E. Schneider und Zuck bezogen auf die Vorschrift des § 321a ZPO als auch Bemmann/Seebode/Spendel sowie Braun und Fischer bezogen auf die Vorschrift des 339 StGB deutlich gemacht112. Wie zu zeigen sein wird, blieb daher in beiden Fällen auch die Akzeptanz dieser Normen seitens des Rechtsstabs aus. „Lebendes“ Recht wurde in keinem dieser Fälle zur Geltung gebracht. 2. Strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte Soweit es hier rechtssoziologisch auf die Seinsgeltung des § 339 StGB ankommt, ergeben sich auch strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte. Problematisch erscheint zunächst die (zu) hohe Strafandrohung mit der Nebenfolge des Amtsverlusts gemäß § 45 StGB. Grundsätzlich mag zutreffen, dass die Höhe der angedrohten Sanktion positiv deren Wirksamkeit beeinflusst. Allerdings sind Sanktionen nicht per se wirksam. Vielmehr kommt es bei ihnen auf diverse Randbedingungen an. Eine überzogene Strafandrohung kann auch kontraproduktiv wirken, wenn der Rechtsstab die Sanktion für unverhältnismäßig hält und deshalb keinen Gebrauch von ihr macht113. Denn damit würde der mit ihr verfolgte Zweck verfehlt114. Als wirksam kann eine Sanktion nur gelten, wenn sie als taugliches Mittel dazu geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen. Hinzu kommt, dass es bezogen auf § 339 StGB auch an der Bereitschaft und Autorität des Rechtsstabs fehlt, der Norm durch Anwendung in der Rechtspraxis zur Wirksamkeit zu verhelfen. Außerdem ist von einem nicht unerheblichen Dunkelfeld bei der Rechtsbeugung auszugehen, an dessen Erhellung seitens der Strafverfolgungsbehörden offenbar kein Interesse besteht. Das wiederum beeinträchtigt die Entdeckungs- und Sanktionierungsrate und damit die Sanktionserwartung bei den Richtern als den Normadressaten. Hohe Dunkelziffern sind schließlich ein entscheidender Indikator für die fehlende Anerkennung von Rechtsnormen115. 112
Siehe zum ersten Braun, Die Korrektur der Gehörsverletzungen, JR 2005, 1; Sangmeister, Rechtsbehelfe gegen „unanfechtbare“ Entscheidungen, FS Korn 2005, S. 657; ders., NJW 2007, 2363; Schneider, Die Gehörsrüge des § 321a ZPO, MDR 2006, 968; ders., Die Gehörsrüge – eine legislative Missgeburt, FS Madert 2006, 187; Zuck, NJW 2008, 479 sowie AnwBl 2008, 168, und zum zweiten Bemmann/Seebode/Spendel, Rechtsbeugung – Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform, ZRP 1997, 307; MK-Braun (Fn. 36), § 580 Rn. 15 und 35, § 581 Rn. 1 ff, 7 und 11; Fischer, Strafgesetzbuch, 57. Aufl. 2010, § 339 Rn. 4. 113 Röhl, Rechtssoziologische Befunde zum Versagen von Gesetzen, in Hof/Lübbe-Wolff (Fn. 7), S. 413, 431. 114 Siehe Noll (Fn. 108), S. 147; Rehbinder (Fn. 6), Rn. 125. Entfällt dieser Zweck, so entfällt auch die Norm selbst. Dies sagt auch der kirchenrechtliche Grundsatz Cessante ratione legis, cessat lex ipsa, vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rn. 955. 115 Die Ansicht, dass ein sehr niedriger Befolgungsgrad faktisch zur Nichtgeltung der betreffenden Norm führt, wurde lediglich von Kuhlen bezweifelt, Normative Konsequenzen
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
Das durch § 339 StGB geschützte Rechtsgut ist nach der Rechtsprechung des BGH vorrangig die innerstaatliche Rechtspflege in Form der staatlichen wie vom Staat anerkannten richtigen und unparteiischen Rechtsprechung116, „die auch vor ihren eigenen berufenen Vertretern, also vor einem Angriff ,von innen‘ zu schützen ist“117. Diese soll bewahrt werden vor missbräuchlichen Eingriffen gerade derjenigen Personen, deren ureigene Pflicht es ist, die Einhaltung und Geltung des Rechts zu gewährleisten. So wichtig diese Vorschrift auch für die Integrität der Rechtspflege zu sein scheint, so gering ist ihre Bedeutung in der Praxis der Strafjustiz. Auffällig ist jedenfalls die statistisch außerordentlich geringe Zahl an Verurteilungen wegen Rechtsbeugung118. Doch schon Spendel hatte vor dem Trugschluss gewarnt, daraus ergäbe sich, das Delikt werde ob der abschreckenden Wirkung dessen hoher Strafandrohung gar nicht mehr begangen. Dies wäre „eine schon nicht mehr fromme Selbsttäuschung“119. Zurückzuführen ist das Ausbleiben an Verurteilungen vielmehr auf die extrem restriktive Auslegung des § 339 StGB durch den BGH in Anwendung der sog. Schweretheorie120, wonach sich der Amtsträger „bewusst und in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt“ haben muss, sowie auf die Beschränkung des subjektiven Tatbestands auf den direkten Vorsatz121. selektiver Strafverfolgung, in Lüderssen (Hrsg.), Abweichendes Verhalten IV, 1980, S. 26, 31 f. Dazu auch D. Lucke, Normenerosion als Akzeptanzproblem. Der Abschied vom „homo legalis“?, in Frommel/Gessner (Hrsg.), Normenerosion, 1996, S. 57. 116 Nach BGHSt 40, 272 und 41, 247, 248 ist der Individualrechtschutz gegen die wohl h.A., wonach § 339 StGB gleichrangig auch Individualrechtsgüter schützt, nur Rechtsreflex. Nach BGHSt 43, 183, 191 wird das Allgemeingut der innerstaatlichen Rechtspflege allerdings wie ein Individualrechtsgut (Menschenrecht) behandelt. Siehe zum Meinungsstreit Roland Kern, Die Rechtsbeugung durch Verletzung formellen Rechts, 2010, § 3 IV 4 b. 117 LK-Spendel, § 339 Rn. 7; LK-Hilgendorf, StGB, 12. Aufl. 2009, § 339 Rn. 8; Fischer, StGB, (Fn. 112), § 339 Rn. 2. Abwegig ist daher die Ansicht, § 339 StGB diene dem Schutz der richterlichen Überzeugung oder gar dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit. 118 Unberücksichtigt bleiben hier die Anklagen nach Wechsel des Regimes (siehe dazu Arnd Koch, Zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands nach Systemwechseln, ZIS 2011, 470. Bekannt wurden zwar einige Fälle, in denen Anklage wegen Rechtsbeugung erhoben wurde, siehe BGHSt 42, 343 mit Bespr. Sowada in GA 1998, 177, BGH 47, 105 [Schill] sowie OLG Naumburg NJW 2008, 3585 [Görgülü]. In keinem dieser Fälle kam es jedoch zur Verurteilung. Nach „Wikipedia“/Internet gab es es seit 1984 beim BGH lediglich 6 Verfahren wegen Rechtsbeugung. Davon führten 3 zur Verurteilung. 119 In der 11. Aufl. des LK zum StGB, § 339, Rn 3; nunmehr LK-Hilgendorf (Fn. 117), zu § 339 Rn. 3. Die These hat Schloderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat, 1993, S. 612 f, bestätigt. Es bestehe in der Tat „eine starke Vermutung dafür, dass es ein gewisses Dunkelfeld von Rechtsbeugungen“ gäbe. Nur seien „die Chancen dafür, dass sich diese Vermutung mit den herkömmlichen Mitteln der Dunkelfeldforschung verifizieren ließe, … sehr gering zu veranschlagen. Insbesondere fehle es für eine klare Beurteilung am Material zum inneren Tatbestand. Daher sei „über eine mehr oder weniger starke Vermutung für ein gewisses Dunkelfeld nicht hinauszukommen“. Dazu auch Dallmeyer, GA 2004, 540. 120 BGHSt 32, 357, 363 f; 40, 283; Fischer (Fn. 112), § 339 Rn. 9 und 14. 121 Dazu Lehmann, Der Rechtsbeugungsvorsatz nach den neueren Entscheidungen des BGH, NStZ 2006, 127, 131; LK-Hilgendorf (Fn. 117), Rn. 86 – 92.
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Diese Rechtsprechung hat dazu geführt, dass ein Richter eine Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung nicht zu befürchten braucht122, weshalb sein Entscheidungsverhalten auch von keiner Sanktionserwartung beeinflusst wird. Allerdings sollte daraus auch nicht umgekehrt gefolgert werden, dass die Bestrafung einiger weniger unter den Richtern wegen Rechtsbeugung folgerichtig als willkürlich zu betrachten ist und deshalb überhaupt entfallen muss. Sollte sich die Staatsanwaltschaft zu ihrer Rechtfertigung auf diese Überlegung stützen, worauf einiges hinweist, würde sie sich insoweit nicht mehr an Gesetz und Recht gebunden fühlen, sondern nur noch an ihre eigene Strafverfolgungspraxis. Das aber widerspräche nicht nur dem Vorrang des Gesetzes, sondern auch dem Grundsatz, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt123. 3. Die Richterkontrolle im Interaktionsfeld von Rechtsstab und Prozesspartei Die Rechtswirklichkeit der Richterkontrolle als Gegenstand der Rechtstatsachenforschung zu beschreiben, heißt, zwei unterschiedliche Ebenen dieser Wirklichkeit zu beleuchten, nämlich zum einen die Ebene der Gesetzgebung, der zu entnehmen ist, welche Entscheidungsnormen zur Richterkontrolle der Gesetzgeber der Judikative überhaupt zur Verfügung gestellt hat, und zum anderen die Ebene der Rechtsprechung zu diesen Normen, die zeigt, wie diese jeweils von den Gerichten im zu entscheidenden Fall angewendet werden. Ersteres betrifft die Frage, welche Vorschriften des positiven Rechts als Sanktionsnormen hier überhaupt als für die Richterkontrolle relevant in Betracht kommen, und letzteres betrifft die Frage, inwieweit diesen Vorschriften in der Rechtswirklichkeit aufgrund der Spruchpraxis der Gerichte auch tatsächlich eine Sanktionsgeltung zukommt. Hierbei gilt es zunächst einmal (im Rahmen der Orientierungs- und Informationsphase) die Gesamtheit der Vorschriften zu erfassen, die von ihrer ratio her dazu bestimmt sind, unmittelbar oder auch nur mittelbar der Kontrolle richterlichen Verhaltens zu dienen, um anschließend (im Rahmen der Wirkungs- oder Evaluationsphase) die Rechtsprechung zu jenen Vorschriften daraufhin zu überprüfen, ob sie demjenigen, der als Beteiligter eines nicht (mehr) rechtsmittelfähigen gerichtlichen Verfahrens von einer richterlichen Maßnahme oder Entscheidung betroffen ist, wirklich effektiven, weniger effektiven oder nur scheinbaren Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen und Entscheidungen in den Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit bieten.
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Vgl. H. C. Schaefer (Generalstaatsanwalt a.D.), Überzogenes Richterprivileg, NJW 2002, 734, 735, Der BGH lege „Maßstäbe für die subjektiven Voraussetzungen an, die es einem Richter … nahezu unmöglich machen, den Tatbestand der Rechtsbeugung zu erfüllen“. 123 Siehe dazu Kuhlen (Fn. 115), S. 38 f.
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
IV. Abgrenzung der Begriffe Rechtsschutz, Kontrolle und Sanktion Vor der weiteren Darlegung bedarf es noch der Erläuterung, mit welchem Bedeutungsgehalt hier die Begriffe Rechtsschutz, (Richter-)Kontrolle und Sanktion verwendet werden. Dabei ist zu fragen, ob die außerordentlichen Rechtsbehelfe der Prozesspartei bei Verletzung eines Verfahrensgrundrechts in einem nicht mehr rechtsmittelfähigen Verfahren nur eine letzte ungewisse Möglichkeit eröffnen, vom judex a quo effektiven Rechtsschutz einzufordern, oder ob sie ihr etwas weitaus Angemesseneres bieten, nämlich das formelle Recht, einen ihr gegen die Judikative zustehenden subjektiv-öffentlichen Folgenbeseitigungsanspruch geltend zu machen124, also von dieser die Wiedergutmachung des ihr zugefügten judikativen Unrechts in Form der Korrektur der angegriffenen Entscheidung zu verlangen. Nur wenn sich der Richter darüber im Klaren ist, dass es sich bei jenen Rechtsbehelfen nicht um bloße Petitionen im Sinne des Art. 17 GG handelt, wird er sich zu einer ernsthaften Selbstkontrolle bereitfinden. Gerade die Verletzung der Verfahrensgrundrechte stellt einen derart schwerwiegenden Rechtsverstoß dar, dass es gerechtfertigt erscheint, die Anhörungsrüge und die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als Instrumente zu verstehen, mit denen der Gesetzgeber die Prozessparteien befähigen wollte, vom judex a quo die Durchführung eines Abhilfe- bzw. Restitutionsverfahrens als förmliche Sühneaktion des Justizapparats ihnen gegenüber fordern zu können. Andernfalls wäre in diesen Fällen die Durchbrechung der Rechtskraft der Entscheidungen auch kaum zu rechtfertigen. 1. Begriff Rechtsschutz Rechtsschutz ist der von den Gerichten gewährleistete Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen gegen Gefährdung und Verletzung in besonderen von der Rechtsordnung bereitgestellten Verfahren. Er stellt eine staatliche Leistung dar, deren Voraussetzungen erst geschaffen, deren Art näher bestimmt und deren Umfang im Einzelnen in den jeweiligen Verfahrensordnungen festgelegt werden müssen, und ist damit essentieller Bestandteil des Rechts selbst125. Strittig ist nicht der Begriff, der sowohl „Kontrolle“ als auch „Sanktion“ beinhaltet, sondern Inhalt und Umfang des Rechtsschutzes. Dass dem Betroffenen überhaupt von staatlicher Seite gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung gestellt wird, garantieren Art. 19 IV GG und der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Leistungsrecht, wobei diese Garantie nicht nur die Bereitstellung von Rechtsschutz schlechthin, sondern auch die angemessene gesetzliche Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens umfasst, die einen effektiven 124 Dazu Grzeszick, Grundrechte und Staatshaftung, in Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. III, Allg. Lehren II, 2009, § 75 Rn. 39 ff. Einen „ungeschriebenen Beseitigungsanspruch“ gegen judikatives Unrecht leitet auch Rupp, Ungeschriebene Grundrechte unter dem Grundgesetz, JZ 2005, 157, 159, aus den Art. 19 IV und 93 I Nr. 4a GG ab. 125 BVerfG NJW 2007, 2464, Tz 169 (autom. Kontenabruf); BVerfGE 37, 231, 148.
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Rechtsschutz sicherstellen soll. Damit ist der Justizgewährungsanspruch in zivilgerichtlichen Verfahren auch Rechtsgrundlage für das verfassungsrechtliche Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes126. Im Übrigen gilt bezogen auf den vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung verneinten Anspruch auf einen Instanzenzug, was Ekkehard Schumann zu der These zusammenfasste: „Zwar gibt es kein Grundrecht auf Rechtsmittel in jedem Fall, aber der Bürger hat einen verfassungsrechtlich abgesicherten und mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbaren Anspruch auf ein am Gleichheitssatz und am Übermaßverbot orientiertes, sachgerechtes … Rechtsmittelsystem“127. Ähnlich meint Gilles, dass das Rechtsstaatsprinzip „nach einer Kontrolle auch der sich im richterlichen Urteilsspruch manifestierenden rechtsprechenden Gewalt“ verlange, und es deshalb „gegen jeden in der Streitsache erstmals entscheidenden Rechtsprechungsakt von einiger Bedeutung zumindest ein – wie auch immer geartetes – Kontroll- bzw. Anfechtungsmittel geben müsse“128. Das schließe eine sachgerechte Beschränkung des Rechtsmittelsystems als Ganzes ebenso wenig aus wie bestimmte Restriktionen bezüglich der Einzelbehelfe.
2. Begriff Kontrolle Der Begriff Kontrolle wird nicht einheitlich verwendet. Synonyme Begriffe sind Prüfung, Aufsicht und Überwachung. Rechtsschutz und Kontrolle bedingen einander. Kontrolle ist als Teil jedes staatlichen Entscheidungsprozesses darauf gerichtet, durch Rationalisierung dieses Prozesses die inhaltliche Sachrichtigkeit der Entscheidung zu erhöhen. Sie bringt weniger das personale Moment der Beaufsichtigung als vielmehr einen Soll-Ist-Vergleich zum Ausdruck. Gerichtliche Kontrolle ist Rechtmäßigkeitskontrolle, denn Rechtmäßigkeit ist der Kontrollmaßstab und zugleich die Zielvorgabe129. Indem sie auf eine etwaige Korrektur einer richterlichen Entscheidung gerichtet ist, liegt ihre Besonderheit in der Verbindung von Kontrolle und Gewährung subjektiven Rechtsschutzes für den rechtsunterworfenen Bürger. Üblicherweise wird damit das Kontrollorgan zur zweiten, oberen und somit eigentlichen Handlungsinstanz. Die mit der Kontrollaufgabe beliehene Instanz sollte grundsätzlich nicht am zu kontrollierenden Handeln beteiligt sein und deshalb die nötige Unabhängigkeit zur Kontrolle besitzen. Es herrscht das Prinzip der Trennung von Kontrolle und Einleitung von Sanktionen130. Nur eine externe, aus der Distanz ausgeübte Kontrolle gilt als echte Kontrolle, obwohl auch sie mit Nachteilen verbunden sein kann, soweit ihr der genaue Einblick in das zu kontrollierende Geschehen fehlt. Zum Zwecke der Überprüfung bereits rechtskräftig gewordener Entscheidungen ist im Gesetz jedoch 126 127 128 129 130
BVerfGE 97, 169, 185 = NJW 1998, 1475; BVerfGE 107, 395. Dazu unten § 3 III. 1. a). Ekkehard Schumann, Rechtsmittel, in Gilles (Hrsg.) Rechtsmittel, 1985, S. 268 f. Gilles (Fn. 43), JZ 1985, 253. Püttner, Verwaltungslehre, 3. Aufl. 2007, § 21 Rn. 56 ff. Püttner (Fn. 129), S. 276.
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keine externe, ausschließlich zur Kontrolle berufene Instanz vorgesehen. Was in den Verfahren nach §§ 321a V I, 590 I ZPO stattfindet, ist nur eine justizinterne und sogar nur instanzinterne Kontrolle. Im Gegensatz zur Kontrolle der Exekutive und Legislative erfolgt die Kontrolle der Judikative daher nur durch sie selbst. Das BVerfG mit Erfolg anzurufen, hängt vom Vorliegen zahlreicher spezifischer Voraussetzungen ab (§ 23 I 2 BVerfGG), deren Nachweis meist schon nicht ausreicht, das Annahmeverfahren nach § 93a I BVerfGG zu überstehen131. Insofern bestimmt das BVerfG als unkontrollierbarer Kontrolleur selbst den Umfang und die Grenzen seines Kontrollauftrags und den Inhalt der Kontrollnormen132. Von 1951 bis 2010 wurden insgesamt 160.995 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen eingereicht133, die rund 97 % aller Verfahren beim BVerfG ausmachten. Da das BVerfG nach Belieben Beschwerden ablehnen darf und diese Entscheidungen nicht einmal zu begünden braucht134, meint K. E. Heinz135 sicherlich nicht zu Unrecht, dass insoweit das Rechtsstaatsprinzip zumindest für den Bereich des BVerfG „praktisch außer Kraft gesetzt“ werde. 3. Begriff Sanktion Von der Kontrolle streng zu unterscheiden ist der Begriff der Sanktion als die aus einem negativen Kontrollergebnis zu ziehende Konsequenz. Sanktionen in ihrer negativen Ausprägung werden definiert als diejenigen Mittel, mit denen eine Norm gegenüber abweichendem Verhalten zur Geltung gebracht wird. Ihr Zweck besteht darin, die durch den Normbruch entstandene Störung der sozialen Ordnung aufzuheben. Üblicherweise wird der Begriff im Strafrecht verwendet. Verstöße gegen zwingende Normen des Zivilrechts haben jedoch keine Bestrafung zur Folge, sondern ggf. Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit. Aus diesem Grunde sollte der Sanktionsbegriff dahingehend erweitert werden, dass er auch jene Rechtsfolgen erfasst136. 131 Klein/Sennekamp, Aktuelle Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde, NJW 07, 945 ff; Papier, Das Verhältnis des BVerfG zu den Fachgerichtsbarkeiten, DVBl 2009, 473. 132 Hillgruber, Ohne jedes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des BVerfG nach 60 Jahren, JZ 2011, 861, 862. Dazu heißt es sehr deutlich auch bei Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 28. Aufl. 2012, unter der Rn. 1282: „Letztlich gilt, dass das BVerfG überprüft, was es überprüfen will, und was es nicht überprüfen will, nicht überprüft.“ 133 Vgl. www.bverfg.de/organisation/gb2010/A-I-5.html. Siehe auch Jestaedt, Der Europäische Verfassungsgerichtsverbund in (Verkehrskenn-)Zahlen, JZ 2011, 872, 875. Im Jahr 2010 wurden 5897 Urteilsverfassungsbeschwerden durch Nichtannahmebeschlüsse der Kammern und 14 durch die Senate erledigt. Davon hatten nur 1,71 % Erfolg. Im Jahr 2011 waren es 5824 Eingänge, was den Präsidenten des BVerfG dazu veranlasste anzukündigen, dass das Gericht künftig offensichtlich erfolglose Beschwerden herausfiltern und den Beschwerdeführern eine „Mutwillensgebühr“ auferlegen wolle (dazu Zuck, NVwZ 2012,1292). 134 Siehe zu den drei möglichen Funktionen der Sanktion Rehbinder (Fn. 6), Rn. 99. 135 K .E. Heinz, Die Stellung des Bürgers nach Art. 17 GG, Recht und Politik, 2011, 28. 136 Renzikowski, Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, FS Gössel, 2002, S. 3, 13; Raiser (Fn. 7), S. 221 ff.
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Schon Emile Durkheim unterschied zwischen repressiven und restitutiven Sanktionen. Während mit den repressiven Sanktionen dem Normbrecher eine Sühnehandlung auferlegt wird, soll mit den restitutiven Sanktionen erreicht werden, dass der frühere Zustand wiederhergestellt (restitutio in integrum), der entstandene Schaden ausgeglichen und dem Verletzten Genugtuung verschafft wird. Letzteres entspricht auch dem Zweck, den der Gesetzgeber zunächst mit der Restitutionsklage und dann mit der Anhörungsrüge verfolgte. Zu bedenken ist jedoch dabei, dass der Richter bei seiner Spruchtätigkeit in seiner Funktion als Träger der Rechtsprechung handelt. Durch bloße Repressalien gegen ihn selbst kann der dem Opfer seines Fehlverhaltens zugefügte Schaden von vornherein nicht ausgeglichen werden. Als Objekt möglicher Sanktionen zum Zwecke der Sicherstellung der Sachrichtigkeit des Entscheidens kommt daher allein der Rechtsstab als solcher in Betracht. Denn die vom Richter getroffene Entscheidung ist die des Gerichts und nicht die des Richters persönlich und verantwortlich für dessen Fehlverhalten ist gemäß Art. 34 GG ohnehin der Staat als dessen Dienstherr. Die Bestrafung oder auch nur Disziplinierung des Richters selbst wäre demgegenüber sekundär. Dennoch hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Restitutionsklage wegen Rechtsbeugung gemäß §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO mit 339 StGB ausdrücklich von dessen Verurteilung abhängig gemacht. Daher kommt es darauf an, ob dem Betroffenen bei hinreichendem Tatverdacht auch ein subjektives Recht gegen den Rechtsstab zusteht, dass gegen den Richter Anklage erhoben wird. Diese Frage wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Probleme des Klageerzwingungsverfahrens zu erörtern sein.
V. Kontrolle von Rechtsbeugung, Despotismus und Rechtsmissbrauch Im Jahre 2000 brachte K. F. Röhl im Zusammenhang mit der fortwährenden Diskussion um die Einführung einer Qualitätskontrolle in der Justiz mittels des Neuen Steuerungsmodells (NSM)137 dezidiert zum Ausdruck, dass die deutsche Justiz „an einem erheblichen Demokratie- und Kontrolldefizit“ leide138. Es gäbe für sie nur einen einzigen „zulässigen Gesichtspunkt der externen Kontrolle, nämlich die äußerlich ordnungsgemäße Erledigung der Verfahren, die Gegenstand der Dienstaufsicht sind“. Daran hat auch die ZPO-Reform 2002 nichts geändert. Nach wie vor ist eine Richterkontrolle praktisch nicht existent. Zwar enthält das Gesetz Vorschriften wie diejenige der §§ 839 BGB und 339 StGB, nach denen sich der Richter schadenersatzpflichtig und sogar strafbar machen kann. Es fehlt jedoch an einer von der Justiz unabhängigen Kontroll- und Sanktionsinstanz, deren Aufgabe es wäre, das Entscheidungsverhalten der Richter auf etwaige Verstöße gegen deren Amtspflichten 137
NSM ist die Übersetzung von New Public Management. Dazu Rehbinder (Fn. 6), Rn. 186 – 192. In der Schweiz spricht man klarer von „wirkungsorientierter Verwaltungsführung“. 138 K.F. Röhl, Justiz als Wirtschaftsunternehmen, DRiZ 2000, 220, 228.
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hin zu überprüfen. Ohnehin darf der Inhalt der richterlichen Entscheidung nur im Extremfall offensichtlichen Gesetzesverstoßes zum Anlass aufsichtsrechtlicher Maßnahmen genommen werden139. Soweit in § 26 DRiG (Dienstaufsicht) und Art. 98 II und V GG (Richteranklage) dienstaufsichtliche und disziplinarische Maßnahmen vorgesehen sind, dürfen diese nicht die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen, weshalb sie meist schon von vornherein nicht ergriffen werden. Selbst wenn sich der Richter nicht an der Rechtsauffassung der Aufsichtsbehörde und Dienstgerichte orientierten sollte, muss er keine Sanktionen befürchten, da es genügt, wenn er sich grundsätzlich an Recht und Gesetz hält. Davon abgesehen kann er aufsichtliche Anweisungen und Rügen disziplinargerichtlich überprüfen lassen (§§ 26 III DRiG und 63 I DRiG i.V.m. 31 I BDO). Die Richteranklage nach Art. 98 II und V GG kommt nur im Falle einer aggressiv-kämpferischen Haltung des Richters gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Betracht und hat daher keine praktische Bedeutung140. Durch das Spruchrichterprivileg des § 839 II BGB ist die Haftung des Richters für unrichtige Urteile auf Pflichtverletzungen beschränkt, die zugleich in einer Straftat bestehen. Hier stellen sich somit die gleichen Probleme wie bei der Restitutionsklage. 1. Die Kompetenzfrage bei der Wahrnehmung von Kontrollmaßnahmen Die rechtsprechende Gewalt kontrolliert sich ausschließlich selbst. Daher liegt auch die Kompetenz-Kompetenz zur Wahrnehmung von Kontrollaufgaben anders als bei der Exekutive und Legislative wiederum beim Rechtsstab141. Diese besteht darin zu entscheiden, wann und in welchem Umfang eine rechtliche Kontrolle vorgenommen oder darauf verzichtet wird. Die Kontrolle ist dadurch gekennzeichnet, dass sie anders als die Disziplinargerichtsbarkeit nach dem DRiG nicht als solche förmlich ausgestaltet und demnach schon von Amts wegen durchzuführen ist, sondern erst nach Ergreifen eines Rechtsbehelfs seitens einer Prozesspartei auf deren Antrag hin stattfindet. Insofern fehlt es auch an einer offiziellen Kontroll- und Sanktionsinstanz. Deren Funktion wird vielmehr entweder von einem anderen Gericht übernommen oder im Fall der instanzinternen Selbstkontrolle vom Ausgangsgericht selbst. So gesehen wird durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und § 580 Nr. 5 ZPO zwar mittelbar eine förmliche Richterkontrolle in Gang 139
291.
Vgl. F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 145 ff; BGHZ 76, 288,
140 Wittreck (Fn. 139) S. 159 f. Wittreck weist jedoch darauf hin (S. 162 f), dass zumindest im Rahmen der Debatte, ob ein Antrag nach Art. 98 II 1 GG gestellt werden soll, „inhaltliche Kritik auch an der Rechtsprechung als dem Kernbereich richerlicher Tätigkeit möglich ist“ und dass die Institution der Richteranklage „als verfassungsrechtliche Garantie … der parlamentarischen Urteilsschelte“ fungiere und so immerhin „auch auf diese Weise der legitimationsvermittelnden Rückkoppelung der Rechtsprechung an den Volkswillen“ diene. 141 Dazu N. Wimmer, Kontrolldichte – Beobachtungen zum richterlichen Umgang mit Entscheidungsprärogativen, JZ 2010, 433.
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gesetzt. Dies jedoch ausschließlich auf Initiative der angeblich von judikativem Unrecht betroffenen Prozesspartei. Dadurch kommt jenen Rechtsbehelfen auch die Funktion zu, zum Zwecke der Restitution judikativen Unrechts Sanktionsmaßnahmen gegen den Rechtsstab selbst auszulösen, die dieser dann nach der Verfahrensordnung durch den judex a quo zugunsten der Partei zu vollstrecken hat. Daher weist Schneider zu Recht darauf hin, dass eigentlich „nicht den Gerichten, sondern den betroffenen Parteien … die Selbsthilfe abverlangt“ werde142. Entscheidend ist jedoch letztlich die Effektivität dieser Richterkontrolle. 2. Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelung Das klassische Mittel zur Überprüfung der Bindung des Richters an Gesetz und Recht ist der Instanzenzug, zumal diese Kontrolle unstreitig als voll mit der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar gilt143. Zwangsläufig entfällt jedoch diese Kontrollfunktion in letzter Instanz. Daher nutzt auch ein mehrstufiger Instanzenzug nichts, wenn in letzter Instanz die Rechte einer Prozesspartei in greifbar gesetzwidriger Weise verletzt werden144. Hier können auch die Rechte aus Art. 47 GRC nicht mehr durchgesetzt werden, da es an einer europäischen Grundrechtsbeschwerde fehlt. Was als ultima ratio bleibt, ist vor Beendigung des Verfahrens die Richterablehnung und der Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO), nach Erlass des Urteils aber nur noch die Verfassungsbeschwerde, sofern keine Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach §§ 578 ff ZPO vorliegen sollten. Das Befangenheitsrecht wird nach Zuck „von Leerformeln und arbiträrer Kasuistik“ bestimmt145, weshalb Ablehnungsgesuche kaum effektiver sind als die regelmäßig aussichtslosen Dienstaufsichtsbeschwerden. Denn bekanntlich herrscht in der Richterschaft die Neigung vor, die Kollegen im Zweifel nicht für befangen zu halten, wobei noch hinzukommt, dass die Verstöße gegen das Bindungsgebot regelmäßig erst im Urteil zutage treten. Die richterliche Unbefangenheit soll eben als Eigenschaft gelten, die ausnahmslos in jedem Fall vorhanden ist. Insbesondere werden selbst gravierende Verfahrensfehler mit dem Hinweis darauf nicht als Ablehnungsgrund anerkannt, dass das Ablehnungsrecht kein Instrument der Verfahrens- und Fehlerkontrolle sei146. Auch die Verfassungsbeschwerde hilft im Zweifel nicht, da sie nach Art. 93 I Nr. 4a GG und §§ 90 ff BVerfGG an derart strenge Voraussetzungen geknüpft ist, dass sie nur in seltenen Ausnahmefällen Erfolg hat. Denn noch immer berücksichtigt das BVerfG aus oft undurchsichtigen Gründen offenbar in Anwendung der sog. 142
E. Schneider, Grundrechtsverstöße als greifbare Gesetzwidrigkeit, MDR 97, 891. Dazu Voßkuhle (Fn. 3), S. 298 ff. 144 Siehe dazu das ausführliche Fall-Beispiel im Anhang. 145 Zuck, DRiZ 1988, 172, 179; ferner Ignor, Befangenheit im Prozess, ZIS 2012, 228; Schneider, MDR 1996, 865, 868 f und NJW 2008, 491; Wittreck (Fn. 139), S. 141 f. 146 So KG Berlin, MDR 2005, 703; OLG Frankfurt/Main, NJW 2004, 621. 143
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Heck’schen Formel nur die Verletzung „spezifischen“ Verfassungsrechts, das überhaupt erst zur Annahme der Beschwerde führt147. Deshalb bedarf es der Einführung außerordentlicher Rechtsbehelfe nicht nur zur Korrektur schlichter Pannen des letztinstanziellen Gerichts, sondern auch und gerade zur Abwehr auch sonstiger entscheidungserheblicher Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte. Bis zur Einführung der Anhörungsrüge war es die gesetzlich nicht geregelte formlose Gegenvorstellung gewesen148, welche die Rechtsprechung zu diesem Zweck gewohnheitsrechtlich zu einem Teil des Rechtsbehelfssystems der ZPO aufgewertet hatte. Für sie soll nunmehr nach sehr strittiger Ansicht des BGH neben der Anhörungsrüge kein Raum mehr sein149. Ist aber die Anhörungsrüge als gesetzlich geregelte Gegenvorstellung anzusehen, dürfte sie folgerichtig die Gegenvorstellung nur aus denjenigen Verfahren verdrängt haben, in denen sie förmlich als nunmehr gesetzlich geregelter Sonderrechtsbehelf an deren Stelle getreten ist. 3. Notwendigkeit der Richterkontrolle Besteht der im allgemeinen Justizgewährungsanspruch angelegte Rechtsschutzauftrag an den Richter darin, eine dem Richtigkeitspostulat der herrschenden Prozessrechtslehre entsprechende Entscheidung zu treffen, ist dies also eine konkrete verfassungsrechtliche Anforderung, die an den (ansonsten) „exemten Richterakt“150 zu stellen ist, so ist eine wirksame Kontrolle des richterlichen Entscheidungsverhaltens jedenfalls insoweit unverzichtbar, als es Entscheidungen zu verhindern gilt, die auf reiner Willkür und Beliebigkeit des Gerichts beruhen. Denn gerade deswegen, weil dieses Verhalten, wie das schon Jahrreiß feststellte, durchaus zu Rechtsbeugung und Rechtsmissbrauch führen kann, folgt daraus „die zwingende Notwendigkeit, die vor die Schranken der Justiz Gerufenen vor der Willkür der Richterbank zu schützen“151. D.h., es bedarf auch unabdingbar einer „Kontrolle der Kontrolleure“, eine 147 BVerfGE 18, 85, 92, wonach „die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall … allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG entzogen“ ist. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 7), § 84 I Falsche Auslegung als Verfassungsverstoß; Papier (Fn. 131), S. 479. Kritisch Rennert, Die Verfassungswidrigkeit „falscher“ Gerichtsentscheidungen, NJW 1991, 12, sowie Pieroth/Aubel, Die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung, JZ 2003, 504 f. 148 Vgl. Schumann (Fn. 2), S. 491; H. Roth (Fn. 2), S. 805, 807. 149 BGHZ 160, 240. Dazu Rüsken, Wird die Gegenvorstellung abgeschafft?, NJW 2008, 481. Diese Frage betreffend stellte das BVerfG allerdings in einer neueren Entscheidung NJW 2009, 829, 830, Tz. 34 – 37, fest, dass die rechtsstaatlichen Defizite der Gegenvorstellung nicht dazu führen, von Verfassungs wegen deren Zulässigkeit als eine Abhilfemöglichkeit zu verneinen, vgl. dazu die Anmerkung von Sangmeister, NJW 2009, 3053 f. 150 Voßkuhle (Fn. 3), § 1 S. 8. 151 Jahrreiß, Rechtspflege, 37. DJT (1950), S. 39. Das Rechtsmissbrauchsverbot ist als allgemeines rechtsübergreifendes Institut auch im Zivilprozessrecht anerkannt, Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 57. Beispiel: Zurückweisung neuen Vorbringens in einem Durchlauftermin als verspätet, oder wenn für das Gericht ohne eingehende Untersuchung erkennbar
§ 2 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit
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Forderung, die schon der römische Satiriker Juvenal152 in die geflügelten Worte Quis custodiet ipsos custodes? kleidete und die im Jahre 1947 Max Rheinstein zu dessen nicht minder bekannten Aufsatz mit dem Titel „Who watches the watchmen?“ anregte153. Sehr eindringlich bringt dieser darin zum Ausdruck, dass auch „ein Despotismus der Richter“ denkbar sei und deswegen vorsorglich „wirksame Kontrollmaßnahmen gegen richterliche Willkür getroffen werden“ sollten. Man stehe „dem Paradox gegenüber, dass das Recht von den Richtern durchgesetzt werden soll, dieses aber die Rechtstreue der Richter selbst nur in begrenztem Maße sicherstellen“ könne. Die Sorge um die Verhinderung des Missbrauchs richterlicher Macht war wie erwähnt noch mitbeherrschender Gedanke bei der Gestaltung der Vorläufer der CPO Ende des 18. Jahrhunderts. So hatte Carl Gottlieb Svarez154 schon 1791/92 betont, dass das Gericht, dem zur Wahrheitsfindung „volle Macht beigefügt“ wurde, „unter beständiger Aufsicht und Beobachtung“ stehen müsse, damit die Rechte der Staatsbürger nicht gefährdet werden. Als hierfür geeignete Kautelen nannte er akribische Protokollführung, professionelle Betreuung der Parteien durch Beistände, die der Richter stets hinzuzuziehen habe, sowie die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Heute scheint demgegenüber der Gedanke der Verhinderung missbräuchlicher Wahrnehmung richterlicher Macht im Zivilprozessrecht durch die Überbetonung der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zweifelsohne ist die Unabhängigkeit der Justiz ein wesentliches rechtsstaatliches Strukturprinzip, das die Gewaltenteilung sicherstellt. Es wurde jedoch längst klargestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit, die doch deswegen garantiert wurde, weil das Bindungsgebot den Rechtsunterworfenen vor willkürlicher Rechtsprechung schützen soll155, letztlich den gleichen Zweck verfolgt wie die Richterkontrolle, nämlich die Sachrichtigkeit des richterlichen Entscheidens sicherzustellen156. Auch hat zwar das BVerfG mehrfach betont, dass „der Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“ habe157, und Voßkuhle versuchte den Nachweis zu führen, dass der aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgende Kontrollauftrag zur Eindämmung staatlicher Herrschaftsmacht auch die Notwendigkeit einer funktionsinternen Kontrolle der Herrschaftsakte des Richters beinhalte, wenn auch stets „das Interesse an einer effektiven Aufgabenwahrnehmung war, dass die Verzögerung, die bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens eingetreten wäre, bei rechtzeitigem Vorbringen zur gleichen Verzögerung geführt hätte, vgl. Doukoff, Zivilrechtliche Berufung, 2010, § 1 Rn. 34. 152 Decimus Junius Juvenal (um 60 – 160 n. Chr.), Satiren 6, 347 f. 153 Übersetzt von v. Borries, „Wer wacht über die Wächter?, in JuS 1974, 409 ff. 154 Svarez, Privatrecht, in Conrad/Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge über Recht und Staat von C. G. Svarez, 1960, S. 215 und zu den Kautelen S. 436. Dazu Steinberg (Fn. 28), S. 40. 155 Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118. 156 Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatliches Problem, 1960, S. 254. 157 BVerfGE 35, 263; 81, 123, 129; 84, 34, 53.
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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation
im Vordergrund stehe“158. Mit Hinweis darauf lässt sich jedoch lediglich die überstrapazierte Berufung der Justiz auf die richterliche Unabhängigkeit als „Totschlagsargument“ zurückweisen159, soweit mit ihr auch noch der Versuch der faktischen Immunisierung der Richterschaft gegen jeglichen Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens gerechtfertigt werden soll. Einer Stärkung der Parteirechte gegen mögliche richterliche Willkürakte in letztinstanzlichen Verfahren und einer Effektuierung des hiergegen de lege lata gebotenen defizitären Rechtsschutzes ist man damit allerdings noch keinen Schritt nähergerückt. Noch deutlichere Kritik am Widerstand der Richterschaft gegen vermeintliche Einschränkungen ihrer richterlichen Unabhängigkeit übte Egon Schneider160 anlässlich des 61. Deutschen Juristentags 1996, indem er schrieb: „Die teilweise nicht mehr nachvollziehbare Ausweitung der richterlichen Unabhängigkeit macht es notwendig, Änderungen der ZPO, die den Richter in die Pflicht nehmen, mit Sanktionen zu versehen. Nur dann besteht eine Chance, den Gesetzeszweck zu verwirklichen. Pflichtbewusstsein nur zu fordern oder nur dazu zu ermahnen, das hilft nichts. Wo eine freiwillige Verhaltensänderung erfahrungsgemäß nicht zu erwarten ist, kann sie lediglich mit Sanktionen erreicht werden.“ Diese Kritik trifft auch heute noch zu. Allerdings lässt auch Schneider offen, welche Sanktionen hier s.E. angemessen wären. Vorschläge für Sanktionen zur Verhinderung richterlichen Machtmissbrauchs zu unterbreiten, kann auch nicht Ziel dieser Studie sein. Vielmehr richten sich die hier angestellten Bemühungen allein darauf, in einem Teilbereich des Prozessrechts, nämlich dem Recht der außerordentlichen Rechtsbehlfe, legitime Möglichkeiten zu eruieren, durch die der individuelle Schutz vor richterlichen Fehlgriffen in letztinstanzlichen Verfahren deutlich verbessert werden könnte. Angesichts des unstreitig defizitären Zustands der Staatshaftung für judikatives Unrecht, also des sekundären Grundrechtsschutzes, erscheint es ohnehin angebracht, vorrangig den primären Rechtsschutz i.S.d. § 839 III BGB zu verbessern161.
158
Voßkuhle (Fn. 3), § 10, S. 255 ff und 265 ff. So Busse auf dem 66. DJT 2006 laut dem Bericht von Lührig in AnwBl. 06, 704 f; ebenso K.F. Röhl, Justiz als Wirtschaftsunternehmen, DRiZ 2000, 220 f: Kaum werde es ernst mit Reformen, werde „den Reformern der Knüppel der richterlichen Unabhängigkeit zwischen die Beine geworfen“. Auch Pawlowski (in FS Roellecke, 1997, S. 191) stellt klar, dass Richter die Unabhängigkeit nur deswegen beanspruchen dürfen, weil und soweit sie die Gesetzesbindung und damit den Souverän achten, in dessen Namen sie Recht sprechen. 160 E. Schneider, Entlastung der Gerichte – eine Sisyphusarbeit, MDR 1996, 865. Das Thema des Juristentags lautete: „Empfehlen sich im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes Maßnahmen zur Vereinfachung, Vereinheitlichung und Beschränkung der Rechtsmittel und Rechtsbehelfe des Zivilverfahrensrechts?“ 161 Dazu eingehend Marten Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 138 ff. 159
Teil 2
Durchführung der Evaluation: Feststellung des Befunds und Ermittlung der Interventionswirkungen Vordringliche Aufgabe einer Gesetzesevaluation ist es, dem Auftraggeber umfassende Informationen über den Regelungsgegenstand zu beschaffen, d. h. Befunde zu liefern, die ihm die Erlangung von Erkenntnissen über die Wirkungen eines Programms ermöglichen. Bei diesem nicht ausschließlich ziel-, sondern wirkungsorientierten Evaluationsansatz geht es wesentlich um die Erlangung von Erkenntnissen über die infolge der zuvor beschriebenen Interventionen eingetretenen Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit. Mit ihm wird also angestrebt, hypothesengeleitet den intendierten und nicht intendierten Wirkungen (impact) jener Interventionen auf die Spur zu kommen, wobei die Programmziele eine entscheidende Rolle spielen. Folglich sind als erste Aktion der Evaluationsdurchführung die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele zu klären, um anschließend aufzeigen zu können, ob und inwieweit diese Ziele unter Beachtung der hierfür relevanten Verhaltens- und Entscheidungsnormen vom Rechtsstab überhaupt realisiert wurden. Das Mittel, die bewirkten Veränderungen festzustellen und damit den Grad der Zielerreichung, also den „Erfolg“ der Interventionen, ist der Soll-Ist-Vergleich von Ziel und Ergebnis162.
§ 3 Erfassung der gesetzlichen Vorgaben der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile Judikatives Unrecht kann nur effektiv bekämpft werden, wenn die Verfahrensordnung dem Betroffenen ein Instrumentarium bietet, das geeignet ist, sachlich fehlerhafte letztinstanzliche Entscheidungen zu verhindern. Eben deshalb hat das BVerfG wiederholt betont, dass die Grundrechte nicht nur einen materiell-rechtlichen, sondern auch einen prozeduralen Gewährleistungsgehalt haben. Neben dem Grundrechtsschutz im Verfahren stehe derjenige durch Verfahren163. Sicherlich ist
162
Dazu Stockmann/Meyer (Fn. 10), 2.2.2., S. 69, 3.2, S. 89, und 3.4.1., S. 126 f. So u. a. BVerfGE 61, 82, 110 = NJW 1982, 2173; 116, 135, 153 = NJW 2006, 3701, dazu M. Sachs in JuS 2007, 166 ff sowie T. André/D. Sailer in JZ 2011, 555, 561. 163
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
nicht schon jeder Verfahrensfehler als Grundrechtsverstoß zu werten164 und Rechtsschutz muss es nicht ad infinitum geben. Die Frage ist jedoch, ob die Verfahrenswirklichkeit auch hergibt, was die Verfahrensordnung an Rechtsschutz zu leisten vorgibt. Fällt hier Norm und Wirklichkeit auseinander und kommt es dadurch zu grob fehlerhaften Entscheidungen, kann dies – wie schon unter § 2 I. 1. ausgeführt – Ursachen haben, für die sowohl der Normgeber als auch der Normadressat, hier also der Richter, verantwortlich zu machen sind. Im ersteren Fall könnte legislatives, im letzteren Fall judikatives Unrecht vorliegen. Beides kann jedoch nicht voneinander getrennt werden, da letztlich stets das Gericht entscheidet. Unzulänglich implementierte Normen beeinflussen jedoch ganz wesentlich die richterliche Entscheidung. Dafür bietet § 321a ZPO ein ausgesprochen typisches Beispiel. Andererseits kann es jedoch auch dazu kommen, dass eine grundsätzlich zur Anwendung geeignete, wenn auch noch konkretisierungsbedürftige Norm von der Rechtsprechung bewusst ignoriert und damit der Erodierung preisgegeben wird. Dies trifft geradezu exemplarisch auf die Vorschrift des § 339 StGB zu, deren instrumentelle Funktion bereits nahezu vollständig an Bedeutung verloren hat mit der weiteren Folge, dass damit auch der Prozesspartei die Möglichkeit entzogen wurde, insoweit Rechtsschutz gegen rechtskräftige Urteile über die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu begehren. Nachfolgend sind daher im Rahmen des Möglichen sowohl die Spruchtätigkeit des Richters zu beschreiben, der als Leiter eines Gerichtsverfahrens im Rahmen einer instanzinternen Selbstkontrolle – auf grundsätzlich bedenkliche Weise – „in eigener Sache“ fungiert, als auch die Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft nach Kenntniserlangung konkreter Anzeichen für das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer richterlichen Rechtsbeugung. Beides berührt die Frage nach der prozessual statthaften Überprüfbarkeit sachlich unrichtiger rechtskräftiger Endurteile und damit das fundamentale Problem des – primären – Rechtsschutzes gegen die Judikative. Im Rahmen dieser Durchführungsphase sind somit getrennt voneinander zwei unterschiedliche Soll-Ist-Vergleiche anzustellen: In beiden Fällen geht es um den Abgleich des Ist-Zustands der Verfahrenswirklichkeit letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren mit dem von der Verfahrensordnung vorgegebenen Soll, das seinerseits vom Verfassungsrecht und dem europäischen Zivilprozessrecht determiniert wird. Zu unterscheiden ist jedoch auf der einen Seite die Eignung der Verfahrensnormen zur Rechtsschutzgewährleistung verglichen mit den Grundnormen und Leitsätzen der Verfassung und des Unionsrechts von der auf der anderen Seite zu beobachtenden faktischen Handhabung dieser Regularien durch die Gerichte verglichen mit dem Soll des Entscheidungsverhaltens, das den Richtern durch andere, ebenfalls verfassungsrechtliche Rechtsnormen und Grundsätze vorgegeben ist, die sich auf die gesetzestreue Anwendung des Rechts schlechthin beziehen. Ersteres betrifft die Qualität der Rechtsnormen, letzteres die Qualität der Rechtsanwendung. 164
1225.
BVerfGE 53, 30, 65; BVerfG NJW 2004, 151; anders jedoch BVerfG FamRZ 2010,
§ 3 Erfassung der gesetzlichen Vorgaben
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Erst beides zusammen bestimmt die Effektivität des Rechtsschutzes, auf die der Einzelne einen subjektiven Anspruch hat165. Um diese Vergleiche anstellen zu können, bedarf es daher vorab sowohl der Darlegung der für die Rechtsschutzgewährleistung gegen bereits rechtskräftige Urteile maßgeblichen Rechtsnormen und Verfahrensgrundsätze als auch der Schilderung der für das richterliche Entscheidungsverhalten maßgeblichen geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltens- und Sanktionsnormen.
I. Überprüfbarkeit sachlich fehlerhafter rechtskräftiger Endurteile de lege lata Die richterliche Spruchtätigkeit ist bedingt durch die Einstellung, die Kompetenz und die Attitüde des Richters besonders anfällig für vermeidbare Rechtsanwendungsfehler, kann aber auch in Willkür ausarten. Dies hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass jeder Entscheidungsprozess „auch voluntative Elemente aufweist, die sich zu einem spezifischen Entscheidungsspielraum verdichten: Der Richter muss den Entscheidungsgegenstand wie den Entscheidungsmaßstab, also das Gesetz inklusive der Verfassung, erst für sich konkretisieren, wobei er – sei es bewusst oder unbewusst – auch vom Entscheidungsmaßstab abweichen kann“166. Sicherlich ist es Aufgabe der Rechtsprechung, in ihren Entscheidungen Wertvorstellungen, die der verfassungsgemäßen Rechtsordnung immanent sind, auch dann zu realisieren, wenn sie im Gesetzestext nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangten. In diesen Fällen muss jedoch die Entscheidung auf rationaler Argumentation beruhen. Vor allem darf sich der Richter bei der Rechtsfortbildung nur in dem zur Rechtsverwirklichung im konkreten Fall unerläßlichen Maß vom geschriebenen Gesetz entfernen167. Nur dann kann das Ergebnis der schöpferischen Fortbildung des Rechts in Ergänzung des geschriebenen Gesetzes als „Recht“ im Sinne des Art. 20 III GG Anerkennung finden168. 1. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand außerordentlicher Rechtsbehelfe Nachdem das Entscheidungsverhalten des Richters hier nur in solchen Abhilfebzw. Wiederaufnahmeverfahren der Betrachtung unterzogen werden soll, die durch die Geltendmachung eines an den judex a quo gerichteten außerordentlichen 165
Vgl. P. M. Huber, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 IV Rn. 459 ff. 166 Voßkuhle (Fn. 3), S. 274. 167 BVerfGE 34, 269, 287 und 292 (Soraya). 168 Siehe dazu Chr. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 59 f.
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
Rechtsbehelfs initiiert werden, ist zunächst darzulegen, welche außerordentlichen Rechtsbehelfe in der ZPO überhaupt dazu vorgesehen sind, derartige Verfahren in Gang zu setzen. Denn wie die Verfassungsbeschwerde zeigt, richtet sich nicht jeder außerordentliche Rechtsbehelf an den judex a quo. Solches trifft jedoch sowohl auf die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO als auch auf die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 5 ZPO zu (§§ 321a II 4 und 584 I ZPO). Gerade sie bieten sich daher hervorragend dazu an, an ihnen beispielhaft zu demonstrieren, welch geringe Effektivität sie als Instrumente zur Kontrolle des richterlichen Entscheidungsverhaltens aufweisen. a) Greifbare Gesetzwidrigkeit als richterlicher Kunstfehler Zur Feststellung greifbar gesetzwidriger Endentscheidungen hatte der BGH bis zur ZPO-Reform 2002 verschiedene Formeln entwickelt, mit deren zunehmender Anwendung sich die „greifbare Gesetzwidrigkeit“ im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu einem allgemeinen Anfechtungstatbestand verselbständigte169. Schwarze hat diese Formeln in zwei Klassen eingeteilt, nämlich in die engere Gesetzesfremdheitsformel und die weitere Evidenzformel, und dabei hervorgehoben, dass die durch sie bewirkte faktische Ausdehnung des Rechtsmittelsystems in keiner Weise dogmatisch legitimiert sei170. Zu beachten sei vielmehr nach wie vor den Vorrang der Rechtskraft. Die Offensichtlichkeit („Greifbarkeit“) der Gesetzwidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidungsbegründung, die nicht mit Grundgesetzwidrigkeit gleichzusetzen sei, dürfe nicht die allgemeine Unanfechtbarkeit außer Kraft setzen, zumal es die gesetzlichen Ausnahmetatbestände der §§ 579, 580 ZPO gäbe. Mangels dogmatischer Absicherung sei die außerordentliche Anfechtbarkeit wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit nur durch den Gesetzgeber zu legitimieren171. Allerdings unterscheidet Schwarze hierbei zutreffend zwischen der außerordentlichen Anfechtbarkeit schlichter Rechtsanwendungsfehler einerseits und der Anfechtbarkeit der Verletzung von Verfahrensgrundrechten andererseits, die er grundsätzlich befürwortet, ohne dies allerdings näher auszuführen. Statt weiter mit jenen unbestimmten Formeln zu arbeiten, sollte daher zumindest für die ganz eklatanten Fälle greifbarer Gesetzwidrigkeit, in denen sogar der Verdacht der Rechtsbeugung begründet wäre, vorrangig nach einer Lösung über eine Reform der 169
Siehe Jauernig (Fn. 2), Außerordentliche Rechtsbehelfe, in FS Schumann, 2001, 241. Schwarze, Außerordentliche Anfechtbarkeit zivilgerichtlicher Entscheidungen wegen offensichtlicher Gesetzwidrigkeit?, ZZP 2002, 25, 33. Die Gesetzesfremdheitsformel lautet: „Die Anfechtung wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit ist auf wirkliche Ausnahmefälle krassen Unrechts beschränkt. Diese Voraussetzung ist dann gegeben, wenn die Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder rechtlichen Grundlage entbehrt und dem Gesetz inhaltlich fremd ist“ und die Evidenzformel: „Greifbare Gesetzwidrigkeit liegt vor, wenn die Entscheidung auf einer Gesetzesauslegung beruht, die offensichtlich dem Wortlaut und dem Zweck des Gesetzes widerspricht und die eine Gesetzesanwendung zur Folge hat, die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte“. 171 So allerdings H.-M. Pawlowski, in FS für Egon Schneider, 1997, S. 39. 170
§ 3 Erfassung der gesetzlichen Vorgaben
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§§ 321a, 581 I ZPO und 339 StGB gesucht werden. Jedenfalls ist in den Fällen, in denen sich die greifbare Gesetzwidrigkeit objektiv tatbestandsmäßig zur Rechtsbeugung gesteigert hat, die Einräumung angemessenen Rechtsschutzes am dringlichsten geboten. aa) Greifbare Gesetzwidrigkeit und objektive Willkür Die Voraussetzungen der „greifbaren Gesetzwidrigkeit“ entsprechen weitgehend denjenigen der „objektiven Willkür“ als einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, evident ungerechten Ungleichheit. Keineswegs darf es sich dabei nur um einfachrechtliche Fehler handeln. Um nur im extremen Ausnahmefall anzuerkennende Verstöße gegen den Gleichheitssatz in Form des Willkürverbots davon klar abzugrenzen, stützt sich das BVerfG auf folgenden Leitsatz: „Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht die Entscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird … Von willkürlicher Missachtung kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt“172.
Als willkürlich will das BVerfG ein Entscheidungsverhalten daher nur und erst dann anerkennen, wenn sich dies bereits in die Nähe der Rechtsbeugung rücken lässt, es sei denn, es lag totale Inkompetenz vor. Nach Ansicht von Röhl liefert die Willkürrechtsprechung des BVerfG daher keinen brauchbaren Fehlerbegriff, sondern nur Beispiele eklatanter richterlicher Fehlgriffe173. Insbesondere sei die „greifbare Gesetzwidrigkeit“ als Fehlermaßstab zu grob. Da sich Rechtsfälle aufgrund des den Richtern zustehenden Beurteilungsspielraums nicht wie mathematische Aufgaben lösen ließen, könnten Fehler in Gerichtsurteilen nur anhand der mitgelieferten Begründungen festgestellt werden, auch wenn dies allenfalls eine Fehlertypologie der falschen Argumentationen ermögliche. Auch die Urteile, die trotz fehlerhafter Begründung nicht zu einem falschen Ergebnis führen, weil sie sich mit anderer Begründung halten lassen, sollten zumindest für die Zwecke einer justizinternen Qualitätsbeobachtung als fehlerhaft bezeichnet werden. Was „greifbar gesetzwidrig“ sei, könne nicht abstrakt definiert werden, sondern müsse ebenso wie eine angebliche Rechtsbeugung in jedem Einzelfall konkret festgestellt werden.
172 173
97.
BVerfG NJW 2010, 1870, 1871 Tz. 12; Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 783 – 793. Klaus F. Röhl, Fehler in Gerichtsentscheidungen, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002, 67 –
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bb) Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung Rechtsbeugung ist kein Amtsdelikt, sondern ein echtes Sonderdelikt174. Eine objektiv-tatbestandsmäßige Beugung des Rechts wird nach der in der Literatur herrschenden objektiven Rechtsbeugungstheorie dann angenommen, wenn der Richtende das Recht objektiv falsch angewandt hat175. Allerdings muss ein eindeutiger Rechtsverstoß vorgelegen haben, d. h., die Grenze des Vertretbaren muss eindeutig überschritten worden sein176. Sollten auch andere Entscheidungen noch vertretbar sein, sich also noch im Rahmen des rechtlich Zulässigen halten, kann daher in der Wahl für die eine oder andere Lösungsmöglichkeit keine Rechtsbeugungshandlung gesehen werden177. Schon aufgrund der Einstufung der Rechtsbeugung als Verbrechen i.S. des § 12 I StGB mit der Folge des § 45 StGB bedurfte es zwingend einer genauen Grenzziehung zwischen der (noch) nicht strafbaren greifbaren Gesetzwidrigkeit und der Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 339 StGB durch die Strafgerichte. Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung schließen sich keineswegs aus, sondern können durchaus in Tateinheit zusammenfallen. Der Übergang vom einen zum anderen ist zweifelsohne ein fließender. Diese Grenzziehung mit Hilfe des Richterrechts vorzunehmen, war Aufgabe des BGH. Was dieser insoweit unternahm, war jedoch kein Versuch einer praxistauglichen Klärung des unbestimmten Begriff der Rechtsbeugung, sondern eine bewusste und gewollte Neudefinition dieses Begriffs mit dem Ziel, den Richter durch ständiges Anreichern jenes Straftatbestands mit weiteren, angeblich ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen möglichst vollständig gegen etwaige Angriffe sein Entscheidungsverhalten betreffend abzuschirmen. Nach dessen „Schweretheorie“ erfüllt wie gesagt allein ein „Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege“ den Tatbestand des § 339 StGB178. Selbst eine unbestreitbar greifbare Gesetzwidrigkeit wird damit noch keineswegs einer Rechtsbeugung im objektiven Sinne gleichgesetzt.
174
LK-Hilgendorf (Fn. 117), § 339 Rn. 5. LK-Hilgendorf, StGB (Fn. 117), § 339 Rn. 5, 47 und 51. 176 KG NStZ 1988, 557; BGH NJW 1999, 1122 mit Anm. von Herdegen in NStZ 1999, 456, der dagegen sehr überzeugend einwendet, dass damit „nur ein undeutlicher Begriff (Rechtsbeugung) durch einen anderen der Präzisierung bedürftigen Begriff (Unvertretbarkeit) ersetzt“ werde. Vertretbar handele nur der Richter, „der … für sein relevantes (die Rechtslage beeinflussendes) Tun oder Unterlassen von Rechts wegen diskussionswürdige Gründe ins Feld zu führen vermag“. In den Fällen ergebnisrelevanten Verfälschens oder Übergehens fundierender Tatsachen läge die Unvertretbarkeit auf der Hand (JZ 1998, 54, 55). 177 Bezogen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, U. Neumann (Fn. 4), S. 56, siehe dazu schon oben A. V. 2. b) mit Fn. 86. 178 Siehe Fischer, StGB (Fn. 112), § 339 Rn. 14, 15. Ablehnend Bemann/Seebode/Spendel (Fn. 112), ZRP 1997, 307; Seebode, Rechtsbeugung und Rechtsbruch, JR 1994, 1; Spendel, Rechtsbeugung und Justiz, JZ 1995, 375 und JR 1996, 215; Dallmeyer GA 2004, 540, 548 ff; Sowada, GA 1998, 177; a.A. Schroeder-Heine, StGB, 28. Aufl. 2008, § 339 Rn. 5c. 175
§ 3 Erfassung der gesetzlichen Vorgaben
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Das Vorliegen einer greifbaren Gesetzwidrigkeit ist danach zwar grundsätzlich notwendige Voraussetzung der Rechtsbeugung, reicht nach Ansicht des BGH aber noch nicht aus, um deren objektiven Tatbestand zu erfüllen. Vielmehr muss noch hinzukommen, dass sich der Richter „in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat“. Objektiv von Recht und Gesetz entfernt hat sich dieser jedoch schon mit der Verwirklichung einer greifbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne der Gesetzesfremdheits- bzw. Evidenzformel des BGH. Die Verwirklichung des objektiven Tatbestands der Rechtsbeugung hängt folglich nur noch davon ab, ob dieses „SichEntfernen“ von Recht und Gesetz im Einzelfall als „schwerwiegend“ zu bewerten ist oder als noch nicht schwerwiegend. Damit erlaubte sich der BGH eine gesetzeskorrigierende Abweichung vom geschriebenen, wenn auch konkretisierungsbedürftigen Recht unter grobem Verstoß gegen die Gesetzesbindung, die nur mit dem „aus dem Korpsgeist der Richterschaft resultierenden Abwehrreflex“179, erklärt werden kann, der gemeinhin auf das „Krähenprinzip“ zurückgeführt wird. Denn für diese Art der Entfernung von der Gesetzesbindung gibt es nun einmal keine „Skala, auf der solche Rechtsverletzungen graduierbar wären“.180. Daher stellte Kargl zutreffend fest, dass diese „Auslegung“ des § 339 StGB, durch die ein normatives Element in den Tatbestand der Vorschrift eingefügt wurde, als eine eigene Rechtssetzung des BGH zu werten sei, mit der sich das Gericht selbst vom Gesetz entfernt habe181. Soweit es gelegentlich dennoch Verurteilungen wegen Rechtsbeugung gab, sei dies allein auf die Beliebigkeit zurückzuführen, mit der sich die Justiz gelegentlich aus dem Werkzeugkasten der Auslegungsmethodik bediene. Im Wege der Auslegung darf schließlich das Gericht nicht das gesetzgeberische Ziel der Norm verfälschen und an die Stelle der Gesetzesvorschrift inhaltlich eine andere setzen182. Das Schwerwiegende des Sichentfernens erweist sich damit als Qualifikationsmerkmal zur Abgrenzung gegenüber der nicht strafbaren greifbaren Gesetzwidrigkeit als unbrauchbar mit der Folge, dass das Problem der Abgrenzung nach wie vor ungelöst ist. b) Greifbare Gesetzwidrigkeit und außerordentliche Anfechtbarkeit der rechtskräftigen Entscheidung Eine außerordentliche Anfechtbarkeit rechtskräftiger Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit sieht die deutsche ZPO generell nicht vor. Dazu gilt der Begriff der greifbaren Gesetzwidrigkeit auch als viel zu diffus. Die Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen nicht rechtsmittelfähige Entscheidungen berührt nach herkömmlicher Prozessrechtslehre das Spannungsverhältnis zwischen den grundsätzlich gleichwertigen wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaats179
F. Wittreck (Fn. 139), Die Verwaltung der Dritten Gewalt, S. 158. K. Volk, Rechtsbeugung durch Verfahrensverstoß, NStZ 1997, 412, 413. 181 W. Kargl, Gesetzesrecht oder Richterrecht? – Eine Existenzfrage für den Tatbestand der Rechtsbeugung, in FS Hassemer, 2010, S. 849, 861 ff und 870 ff. 182 BVerfGE 78, 20, 24. 180
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prinzips Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat dieses Spannungsverhältnis hinsichtlich der Bindungswirkung von Urteilen in § 318 ZPO grundsätzlich zugunsten der Rechtssicherheit gelöst. Aus diesem Prinzip folgt daher zunächst die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen. Nur wenn dieser Grundsatz mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerspruch tritt, ist es nach der Rechtsprechung des BVerfG Sache des Gesetzgebers, das Gewicht, das diesen Grundsätzen im jeweils zu regelnden Fall zukommt, abzuwägen und zu entscheiden, welchem Prinzip der Vorzug zu geben ist183. Räume dieser dabei der Rechtssicherheit den Vorrang ein, handele er nicht willkürlich. Die im Gesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen der §§ 323, 324, 578 ff und 641 i ZPO seien exklusiv. In Abweichung von diesem Grundsatz wurde zwar inzwischen durch die ZPO-Reform 2002 die Anhörungsrüge in die ZPO eingeführt, die damit als Sonderrechtsbehelf neben die Klage aus § 826 BGB trat. Dem dringenden Bedürfnis des Rechtsverkehrs hätte jedoch weit mehr ein Rechtsbehelf entsprochen, der die Prozessparteien in die Lage versetzt hätte, die Verletzung eines jeden anerkannten Verfahrensgrundrechts zu rügen. Die lediglich auf die Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs erweiterte Rechtsschutzgewährleistung dürfte auch kaum der Auffassung von Schwarze gerecht werden. Dieser hatte zwar betont, dass die Anfechtbarkeit rechtskräftiger Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit durch einen einheitlichen Rechtsbehelf nur durch eine bewusste Wertentscheidung des Gesetzgebers im Wege der Rechtsfortbildung legitimiert werden könne184. Auch sei eine außerordentliche Anfechtbarkeit wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit bei fehlerhafter Anwendung des materiellen Rechts grundsätzlich abzulehnen, da die Willkürkontrolle des BVerfG aufgrund einer Verfassungsbeschwerde praktisch deckungsgleich sei mit der von den Fachgerichten praktizierten Rechtsprechung zur greifbaren Gesetzwidrigkeit. Allerdings käme eine Anfechtbarkeit letztinstanzlicher Urteile bei Verfahrensfehlern in Betracht. Es müsse zwischen klaren Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte und bloßen Fehlern bei der Anwendung des materiellen Rechts differenziert werden. Denn erstere würden nach der Gesamtrechtsordung deutlich schwerer wiegen als letztere. Zu empfehlen sei daher eine gesonderte dogmatische Behandlung der Verfahrensfehler, die in einer grob fehlerhaften Anwendung der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien bestünden. Schwarze differenziert dabei nicht zwischen den einzelnen Verfahrensgrundrechten wie der Gesetzgeber, der allein das rechtliche Gehör durch die Einführung eines Sonderrechtsbehelfs vor Verletzungen glaubte schützen zu müssen. Vielmehr will er diesen Rechtsfortbildungsansatzes nur insofern begrenzen, als eben ausschließlich „greifbare“ Verstöße gegen die speziellen Verfassungsgarantien zur außerordentlichen Anfechtbarkeit führen sollen, also le-
183 184
BVerfGE 15, 313, 319 = NJW 63, 851; BVerfGE 19, 150, 166; 29, 413, 432. Schwarze (Fn. 170), II 1 – 2.
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diglich „nicht mehr verständliche, offensichtlich unhaltbare“ Gesetzesanwendungen i.S. der BVerfGE 82, 159, 194185. 2. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO Als statthafter außerordentlicher Rechtsbehelf gegenüber dem judex a quo, dessen Entscheidungsverhalten Gegenstand dieser Untersuchung ist, kommt in erster Linie die durch die ZPO-Reform 2002 neu in die ZPO eingeführte Anhörungsrüge in Betracht, die nach den Gesetzesmaterialien vom Gesetzgeber ausdrücklich als eine Art wiedereinsetzungsähnliche, befristete gesetzliche Gegenvorstellung gerichtet an den judex a quo ausgestaltet wurde186. Mit der Einführung des § 321a ZPO hatte dieser bekanntlich das Ziel verfolgt, die vom BVerfG aus Art. 2 I GG in Verb. mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG entwickelte Garantie wirkungsvollen (effektiven) Rechtsschutzes für die Rechtspraxis in die Tat umzusetzen, nachdem die Fachgerichte zuvor vom BVerfG ausdrücklich ersucht worden waren, ihnen unterlaufene Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte, so insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, zur Vermeidung des Umwegs über die Verfassungsbeschwerde möglichst instanzintern im Wege der Selbstkontrolle zu beheben. Voraussetzung der Rüge ist, dass der Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör vom judex a quo „in entscheidungserheblicher Weise“ verletzt wurde. Ist dies der Fall gewesen, hat das Gericht gemäß § 321a V 1 ZPO der Rüge abzuhelfen, „indem es das Verfahren fortführt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist“. Damit wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor Schluss der mündlichen Verhandlung befand. Dies jedenfalls war die Vorstellung des Gesetzgebers. Aufgabe dieser Evaluation ist es festzustellen, ob sich die Vorschrift des § 321a ZPO dieser Zielsetzung entsprechend nicht nur bei gerichtlichen Pannen, sondern auch und gerade bei bewussten, also mit Problembewusstsein verübten richterlichen Verstößen gegen Art. 103 I GG als faktisch geltendes Recht in der Rechtspraxis durchgesetzt hat. Die Beschränkung des Rechtsbehelfs auf die Fälle der Verletzung des rechtlichen Gehörs hat erhebliche Kritik ausgelöst. Denn es gab keinen zwingenden Grund, den durch die Anhörungsrüge gebotenen Rechtsschutz nicht auf die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte zu erstrecken187. Zwar mag zutreffen, dass in der Gerichtspraxis statistisch gesehen das rechtliche Gehör von allen Verfahrensgrundrechten weitaus am häufigsten verletzt wird. Das macht die übrigen Verfah185
Schwarze (Fn. 170), II 2. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 103 und § 321a ZPO Rn. 1; Vollkommer, NJWSonderheft BayObLG 2005, S. 64, 69; Zuck, Die Anhörungsrüge im Zivilprozess, 2008, Rn. 16. 187 Siehe zur Frage der überwiegend abgelehnten analogen Anwendung des § 321a ZPO bei Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte, BGH NJW 2008, 2126 f; BVerfG NJW 2009, 3710; Musielak, ZPO, § 321a Rn. 14; Schnabl, Die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO, 2007, S. 79, 166 ff; Schneider (Fn. 112), S. 973; Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 3a. 186
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rensgrundrechte jedoch nicht weniger schutzwürdig. Auch vom BVerfG wurde diese Beschränkung nicht gefordert. Darauf wird später einzugehen sein. Vorerst ist Gegenstand der Untersuchung allein der tatsächliche Umgang der Gerichte mit der Anhörungsrüge, um aus diesem Entscheidungsverhalten Rückschlüsse auf die Effektivität dieses Sonderrechtsbehelfs ziehen zu können. D.h., es gilt hier nur feststellen, was ist, also welche Qualität diesem Rechtsbehelf in der Verfahrenswirklichkeit zukommt, und nicht auch das, was verfassungsrechtlich sein sollte188. Daher ist auch die schon recht umfangreiche Kasuistik zur Anhörungsrüge zunächst nur ohne kritische Würdigung in ihrem Einfluss auf die Rechtswirklichkeit darzulegen. Erst wenn der Befund feststeht, kann die Analyse stattfinden.
3. Das richterliche Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB a) Der Funktionsverlust der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als Instrument zur Abwehr strafbaren judikativen Unrechts Mit der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO bietet zwar die ZPO einen außerordentlichen Rechtsbehelf, mit dem grundsätzlich nicht nur eine konkrete Gehörsverletzung, sondern überhaupt jede angeblich „greifbare Gesetzwidrigkeit“ und jedes „grobe prozessuale Unrecht“ des judex a quo im Ausgangsverfahren gerügt werden kann. Zulässig ist dieser Rechtsbehelf jedoch nur dann, wenn die Partei auch noch den Beweis zu führen vermag, dass sich der erkennende Richter ihr gegenüber „einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten … schuldig gemacht“, also eines der Delikte der §§ 331 II, 332 II, 339 oder 343 f StGB begangen hat. Darüber hinaus setzt die Klage dem Wortlaut des § 581 I ZPO entsprechend voraus, dass die Amtspflichtverletzung zur rechtskräftigen Verurteilung des Richters geführt hat, es sei denn, dass „die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen“ konnte. Damit ist de lege lata dessen strafgerichtliche Verurteilung conditio sine qua non für jedes prozessuale Unterfangen, judikatives Unrecht im nicht mehr rechtsmittelfähigen Ausgangsverfahren mittels der Restitutionsklage überprüfen zu lassen189. Die Vorschrift des § 581 ZPO war schon im Zeitpunkt ihrer Implementierung aufgrund der gleichzeitigen Einführung des Prinzips der freien richterlichen Beweiswürdigung, das zum Wegfall der strengen Bindung der Zivilgerichte an straf188
Siehe Rehbinder (Fn. 6), Rn. 29; Röhl/Röhl (Fn. 7), § 81 I. § 580 Nr. 5 ZPO enthält für alle in § 579 ZPO nicht genannten Gesetzesverletzungen einen Auffangtatbestand für den Fall, dass die Gesetzesverletzung vom Richter unter strafbarer Verletzung seiner Amtspflichten begangen wird und ist auch auf die Rechtsbeugung durch Verletzung formellen Rechts anzuwenden, was schon das RG entschieden hat (Urteil vom 23.03.22, RGSt 57, 31); MK-Braun (Fn. 36), § 580 Rn. 21; KG NJW 1976, 1356. 189
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gerichtliche Urteile führte (§ 14 II Nr. 1 EGZPO)190, „überholt“ und gilt folglich als „Fremdkörper“ in der ZPO191. Trotz der verschiedentlich erhobenen Forderung, sie aus dem Gesetz zu streichen, ist bisher ihre Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt worden192. Da im Zweifel auch verfehlte Gesetze zu beachten sind, müsste sie weiter als normativ geltendes Recht angewandt werden, sofern dadurch das Recht nicht in sich selbst widersprüchlich wurde. Jedenfalls kann die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO aufgrund dieser Zugangssperre im Falle der Rechtsbeugung ihre Funktion als Instrument zur Abwehr strafbaren judikativen Unrechts schon ansatzweise nicht erfüllen. b) Die strafgerichtliche Verurteilung des Richters als Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO § 581 I Hs. 1 ZPO verlangt wörtlich die Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils gegen den Richter wegen Rechtsbeugung. Dementgegen vertritt Braun überzeugend die Ansicht, dass nicht das Strafurteil, sondern die – vollendete – Straftat als Restitutionsgrund zu gelten hat193. Selbst wenn jedoch von dieser berichtigten Fassung der Vorschrift auszugehen ist, ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Effektivität des durch § 580 Nr. 5 ZPO zu gewährenden Rechtsschutzes in vollem Umfang abhängig ist von der instrumentellen Wirksamkeit der Rechtsnorm des § 339 StGB als „lebendes“ Recht. Sollte diese Norm von den Strafgerichten gar nicht mehr angewandt werden, also ihre Wirkungschance eingebüßt haben, würde das bedeuten, dass damit auch die Restitutionsklage insoweit als außerordentlicher Rechtsbehelf eliminiert wäre. Zwar bleibt eine Gesetzesvorschrift grundsätzlich solange anwendbar und verbindlich, als sie nicht aufgehoben ist. Die Fragestellung der Rechtssoziologie ist jedoch eine andere: Während die Rechtsdogmatik den normativen Sinngehalt einer Rechtsnorm zu ermitteln sucht, also danach fragt, unter welchen Voraussetzungen eine Vorschrift für den Normadressaten verbindlich ist, und damit eine Entscheidung über das „Sollen“ im Recht trifft, will die Rechtssoziologie die soziale Wirklichkeit des Rechts, dessen Faktizität, erforschen und damit eine Aussage über das „Sein“ des Rechts treffen, also über die faktische Geltung von Rechtsnormen (Seinsgeltung) oder deren Nichtgeltung. Als wirksames („lebendes“) Recht in diesem Sinne gelten danach nur diejenigen Rechtsnormen, die in der Rechtspraxis auch durchgesetzt
190 Deshalb entfaltet nicht einmal das gegen den Richter erwirkte Strafurteil Tatbestandswirkung auf die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO, da sich das Zivilgericht erst selbst vom Vorliegen der strafbaren Handlung überzeugen muss. BGHZ 85, 32 = NJW 1983, 230; MKBraun (Fn. 36), zu § 581 Rn. 7. 191 Zu dieser „verfehlten“ Vorschrift siehe MK-Braun (Fn. 36), § 581 Rn. 11. Auch wenn sie „glücklicherweise ein Schattendasein“ führt (§ 580 Rn. 35), ist sie zwingend zu reformieren. 192 Die Nachweise finden sich bei Braun, Rechtskraft und Restitution, 1. Teil, 1979, S. 127. 193 MK-Braun (Fn. 36), zu § 580 Rn. 10 und zu § 581 Rn. 5 (dazu unten § 6 II. 1.).
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werden können. Von diesem soziologischen Rechtsbegriff wird hier ausgegangen194. Soweit in Lehre und Rechtsprechung trotz bestehender Zweifel noch von einer „lebenden“ Rechtsnorm des § 339 StGB in diesem Sinne gesprochen werden sollte, erstreckt sich die Untersuchung daher auf die Überprüfung der gegenteiligen Annahme, nämlich darauf, dass jene Norm infolge Nichtanwendung durch die Gerichte gar keine instrumentelle Wirkung mehr zeitigt, sondern allenfalls noch eine rein symbolische, also nur noch den Anschein erweckt, die Nichtbefolgung des ihr zugrundeliegenden Gebots, Rechtsbeugungen zu unterlassen, werde weiter dem Legalitätsprinzip entsprechend als Straftat verfolgt.
II. Feststellung des Gesetzeszwecks der zu evaluierenden Normen Die Erforschung der Wirkungen vom Recht „gehört zu den interessantesten und theoretisch ergiebigsten, zugleich methodisch schwierigsten Forschungsfeldern der empirischen Rechtssoziologie“195. Zu bewältigen sind dabei insbesondere zwei Schwierigkeiten: Die erste besteht gerade bei der Erforschung von Gesetzeswirkungen darin, dass es der Feststellung der eindeutigen, widerspruchsfreien und operationalisierbaren Regelungsziele des Gesetzgebers bedarf. Erst sie versetzen den Evaluator in die Lage, einen sinnvollen Abgleich des Soll-Zustands mit dem IstZustand einer Gesetzesänderung vorzunehmen. In den vorliegend zu untersuchenden Fällen scheinen sie klar erkennbar zu sein, sind es jedoch nur ganz allgemein gesehen. Die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO soll die Prozesspartei vor Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten schützen und die Vorschrift des § 321a ZPO vor entscheidungserheblichen Verstößen des Richters gegen die Garantie des rechtlichen Gehörs in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren. An diesen Regulierungszielen ist die Verfahrenswirklichkeit zu messen. Weshalb der Gesetzgeber im letzteren Fall nicht ein weitergehendes Ziel verfolgte, nämlich den Schutz der Parteien vor der Verletzung der Verfahrensgrundrechte schlechthin, ist eine andere Frage, die es erst bei der abschließenden Bewertung der Evaluationsergebnisse aufzuwerfen und zu beantworten gilt. Die weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen der zu evaluierenden Norm und einem als relevant erscheinenden Verhalten der Rechtsadressaten, das auch auf andere Ursachen als die Befolgung oder Nichtbefolgung jener Norm zurückgeführt werden kann. Diese Schwierigkeit wird die Untersuchung jedenfalls insofern beeinträchtigen, als es 194
Siehe zum soziologischen Rechtsbegriff Rehbinder (Fn. 6), Rn. 3: Dort heißt es: „Lebendes Recht ist geltendes Recht, das wirksam ist. Denn Normativität ohne Faktizität ist totes Recht (d. h., normativ geltendes Recht, das nicht oder nicht mehr durchgesetzt wird: paper rule) und Faktizität im Gegensatz zur Normativität ist Unrecht“. 195 So Armin Höland, Ein Gesetz und seine Folgen. Probleme der Abschätzung, aufgezeigt an einem Beispiel aus der Forschung, FS Rottleuthner, 2011, S. 282, 285.
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kaum gelingen dürfte, genauer zu klären, welche der beiden möglichen Ursachen der Nichtbefolgung der Normen, nämlich entweder deren fehlerhafte Implementierung in das Gesetz oder deren mangelnde Akzeptanz bei der Richterschaft, letztlich den größeren Anteil am festgestellten Befund hat. 1. Zum Regelungszweck des § 321a ZPO Für die ursprüngliche Fassung des § 321a ZPO ergab sich dessen Zweck klar aus den Gesetzesmaterialien. Vordergründig sollte dem erstinstanzlichen Gericht Gelegenheit zur Korrektur eigener Gehörsverletzungen eingeräumt werden, vor allem aber sollte das BVerfG von der „Bagatelljudikatur“ zu Art. 103 I GG entlastet werden. Die Beschränkung auf die Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO erwies sich jedoch als unzureichend, was dazu führte, dass die Rüge auch in höheren Instanzen zugelassen wurde, so insbesondere gegen die nicht mehr anfechtbaren, die Berufung zurückweisenden Beschlüsse gemäß § 522 II ZPO a.F. Deshalb musste die Vorschrift auf Ersuchen des BVerfG nachgebessert werden196. Aufgrunddessen wurde durch Neufassung des § 321a ZPO der Rechtsschutz auf alle letztinstanzlichen Verfahren erweitert. Dennoch verfehlte dies den Gesetzeszweck insofern, als die Urteilsverfassungsbeschwerden keineswegs zurückgingen. Das Problem liegt hier jedoch nicht in der Ermittlung des Gesetzeszwecks, sondern in der Beschränkung des Anwendungsbereichs des außerordentlichen Rechtsbehelfs auf die entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs unter Ausschluss der übrigen Verfahrensgrundrechte. Betroffen von dieser Entwicklung ist insbesondere der von der Rechtsprechung entwickelte außerordentliche Rechtsbehelf der Gegenvorstellung, für den neben der Anhörungsrüge nun angeblich kein Raum mehr besteht. Darauf wird zurückzukommen sein. 2. Zum Regelungszweck der §§ 580 Nr. 5 ZPO mit 339 StGB Dagegen ist der Zweck der §§ 580 Nr. 5 ZPO, 339 StGB evident: Noch weit mehr als § 321a ZPO sind sie dazu bestimmt, die Integrität der Rechtspflege sicherzustellen und die Prozessparteien vor pflichtwidrigem und rechtsmißbräuchlichem richterlichen Entscheidungsverhalten zu schützen. Sie sollen Angriffe gegen die Rechtspflege „von innen“ unterbinden und der Prozesspartei bei Verstößen des Richters gegen dessen strafbewehrte Amtspflichten einen Rechtsbehelf bieten, mit dessen Hilfe selbst ein bereits rechtskräftiges Urteil angegriffen werden kann. Entscheidend hierfür ist nach dem Wortlaut des § 581 I ZPO die Verurteilung des Richters. Diese herbeizuführen, ist allein der Initiative der betroffenen Partei überlassen, notfalls mittels eines Klageerzwingungsantrags. Schließlich gibt es keine Kontrollinstanz, deren Aufgabe es wäre, alle rechtskräftigen zivilgerichtlichen Ur196
Siehe Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 1. Dazu weiter unter § 3 III. 2. d) bb).
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teile von Amts wegen auf ihre strafrechtliche Relevanz im Hinblick auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 339 StGB zu überprüfen. Damit ist die Effektivität der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO letztlich davon abhängig, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen der Partei eines Zivilprozesses als mögliches Opfer einer Rechtsbeugung im Einzelfall ein subjektives Recht gegen die Staatsanwaltschaft auf Erhebung der öffentlichen Anklage gegen den Richter zuzuerkennen ist. Wenn nicht, wäre andernfalls zu prüfen, ob § 581 I ZPO eine verfassungswidrige Zugangssperre zum Wiederaufnahmeverfahren darstellt.
III. Zur Rechtsschutzgewährleistung nach deutschem Zivilprozessrecht 1. Das deutsche Zivilprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht Der deutsche Zivilprozess wird ebenso wie der Strafprozess wesentlich durch Verfassungsnormen bestimmt, auf deren Auslegung das BVerfG starken Einfluss ausgeübt hat197. So hat dieses vor allem klargestellt, dass der Grundrechtsschutz angesichts der nur begrenzten gerichtlichen Kontrollintensität zunächst schon durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken sei198. Denn die Grundrechte beeinflussen nicht nur das materielle Recht, sondern auch das Verfahrensrecht, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist. Außer den in den Art. 101 ff GG verankerten spezifischen Verfahrensgrundrechten sind es vor allem die Grundrechte aus Art. 1 – 3, die Rechtsschutzgarantie des 19 IV und das Rechtsstaatsprinzip des 20 III GG, die die ZPO als „konkretisiertes oder angewandtes (materielles) Verfassungsrecht“ erscheinen lassen. So hindert Art. 1 III GG den Gesetzgeber am Erlass von (Verfahrens-)Gesetzen, die mit den Grundrechten nicht vereinbar sind, und verpflichtet den Richter, diese bei der Gestaltung des Verfahrens zu beachten. D.h., die Verfahrensvorschriften sind grundrechtlich determiniert, und zwar nicht nur durch die Art. 101 I 2 und 103 I GG, sondern auch durch die sonstigen, als grundrechtsgleiche Rechte anerkannten Verfahrensgrundrechte, die den Zugang zum Recht, einen fairen Prozess, das rechtliche Gehör, die Waffengleichheit und den Schutz vor richterlicher Willkür garantieren199. a) Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes Die herrschende Imperativentheorie betrachtet Rechte wesensmäßig als das Komplement von Pflichten (und umgekehrt)200. Nach dieser Prämisse ist jede Be197
64 ff. 198 199 200
BVerfGE 49, 252 ff. N. Fischer, Zivilverfahrens- und Verfassungsrecht, 2002, S. 5 ff, BVerfGE 53, 30, 65 = NJW 1980, 760; 54, 277, 291; BVerfGE 74, 228. Lorenz (Fn. 23), S. 870. Röhl/Röhl (Fn. 7), § 27 III 3 und § 46 III.
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rechtigung das Gegenstück einer Verpflichtung und jede Verpflichtung das Spiegelbild einer Berechtigung. Demnach wird der vom Staat zu gewährende Rechtsschutz von der Pflichtseite her organisiert, und zwar als Leistungsrecht. Für den Staatsbürger als Träger subjektiv-öffentlicher Individualrechte ist folglich auch der Staat selbst als Inhaber des Rechtsprechungsmonopols Subjekt von Rechtspflichten und kann somit auch Anspruchsgegner dieser Rechte sein201. Dessen Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz in Zivilgerichtsverfahren ist Ausprägung des vom BVerfG aus Art. 19 IV, 101 I 2, 103 I GG, Art. 6 I EMRK und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten allgemeinen Justizgewährungsanspruchs202. Dieser garantiert den Zugang zu den Gerichten und beinhaltet die Verpflichtung des Staates zur Ausgestaltung effektiver, waffengleicher und fairer Verfahren vor dem gesetzlichen Richter. Die Verpflichtung trifft in erster Linie den Gesetzgeber, dessen Gestaltungsfreiheit es allerdings überlassen bleibt, „ob er in bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten Rechtszüge einrichtet, welche Zwecke er damit verfolgt wissen will und wie er sie im Einzelnen regelt“203. Adressaten des Anspruchs sind aber auch die Gerichte selbst, indem sie dem Rechtsschutzbegehren des Einzelnen durch Wahrung der Verfahrensgrundrechte gebührend Rechnung zu tragen haben. aa) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Auffangrecht Das an den Staat gerichtete verfassungsrechtliche Gebot der Bereitstellung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes innerhalb angemessener Zeit bildet die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols204. Rechtsdogmatisch musste das BVerfG den diesem Gebot entsprechenden Justizgewährungsanspruch außerhalb des Geltungsbereichs des Art. 19 IV GG aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG in Verb. mit den Grundrechten ableiten, da es sich schon frühzeitig auf die Ansicht festgelegt hatte, dass sich die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG lediglich auf Akte der öffentlichen Gewalt, also auf Maßnahmen der Exekutive, bezieht205. Diese Auslegung ist zwar nicht zwingend, im Ergebnis aber zutreffend. Nur wäre es methodisch sauberer gewesen, die Anwendbarkeit des Art. 19 IV GG durch den Gesetzgeber für Bereiche spezieller Regelungen ausdrücklich auszuschließen, also konkret in die Norm aufzunehmen, dass Akte der Rechtsprechung und der Ge-
201 Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 86 – 90; Röhl/Röhl (Fn. 7), § 45 V. 202 BVerfGE 107, 395, 406 f; Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 874, 882, 888 ff; Schilken (Fn. 201), Rn. 90 und 99; Winterhoff, „… so steht ihm der Rechtsweg offen“, AnwBl 2008, 227, 229 f. 203 BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39; BVerfGE 89, 381, 390 = NJW 1994, 1053. 204 BVerfGE 54, 39, 41; BVerfG NJW 2001, 214 f. 205 BVerfGE 97, 169, 185; BVerfG NJW 2001, 214 f; Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 874 f, 888 f.
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setzgebung nicht in ihren Schutzbereich fallen206. Auch nach Ansicht von Schenke lässt sich die Ausklammerung der Rechtsprechungsakte aus der Rechtsschutzgarantie nur mit einer teleologischen Reduktion des Art. 19 IV GG rechtfertigen207. Allein mittels dieser Konstruktion des ungeschriebenen allgemeinen Justizgewährungsanspruchs als Auffangrecht konnte das Gebot effektiven Rechtsschutzes systemgerecht auch auf zivilgerichtliche Verfahren erstreckt werden, was eine Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts ausmacht. Ebenso wie Art. 19 IV GG garantiert auch er die Durchsetzbarkeit nicht nur der Grundrechte, sondern aller subjektiven Rechte, also auch derjenigen, die dem Einzelnen einfachgesetzlich gewährt wurden. Zur Geltendmachung genügt die schlüssige Darlegung der Möglichkeit einer solchen Rechtsverletzung. Konkretisiert wird er durch die jeweiligen Zulässigkeitsvoraussetzungen in den einzelnen Prozessordnungen. Dementsprechend gilt der allgemeine Justizgewährungsanspruch in gleicher Weise wie Art. 19 IV GG als „formelles Hauptgrundrecht“ des GG und „Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“208. bb) Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes Die Prozessordnungen sollen effektiven Rechtsschutz gewährleisten, wobei der Gesetzgeber auch Regelungen treffen kann, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen. Das Gebot ist ebenso an die Gerichte selbst gerichtet. Auch sie dürfen durch ihre Rechtsprechung ein von der Verfahrensordnung bereitgestelltes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und so für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen209. Maßgeblich für die Effektivität der Rechtsverwirklichung ist faktisch der Wirkungsgrad der Rechtspflege bei der Realisierung des materiellen Rechts. Effektivität des Rechtsschutzes bedeutet danach konkret: – Der Zugang zum Verfahren darf nicht auf unzumutbare, nicht durch Sachgründe zu rechtfertigende Weise erschwert werden. Dies gilt auch für den Zugang zu der von 206 Vgl. Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 879. Gegen die h.A. vertritt lediglich Voßkuhle (Fn. 3), S. 255 ff, die Ansicht, dass sich die Rechtsschutzgarantie auch auf die spruchrichterliche Tätigkeit des Richters erstrecke (dazu § 3 III. 2. b)). 207 Schenke, Verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen Rechtsprechungsakte?, JZ 2005, 116 f; P. M. Huber, in v. Mangold/Klein/Starck (Fn. 165), Art. 19 Rn. 439 f. 208 BVerfGE 58, 1, 30. Auf den Justizgewährungsanspruch lässt sich jedoch nicht die Vorschrift des Art. 19 IV Satz 2 GG übertragen, die den Richter dazu ermächtigt, Rechtsschutzlücken im einfachen Recht unmittelbar selbst im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen. Vielmehr ist dazu allein der Gesetzgeber aufgerufen, so Schenke, Justizgewähr und Grundrechtsschutz, in Merten/Papier (Fn. 124), Bd. III, 2009, § 78, S. 973, 975. 209 BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27 = NJW 1997, 2163; BVerfG NJW 2010, 2864 und 2011, 1497.
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der Verfahrensordnung eingeräumten nächsten Instanz. Auch er darf nicht von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht werden210. – Die Ausgestaltung des Verfahrens durch den Gesetzgeber muss einen wirkungsvollen Rechtsschutz gewährleisten und „geeignet und angemessen sowie für den Rechtssuchenden zumutbar“ sein211; dabei muss insbesondere die persönliche und sachliche Unabhängigkeit des Gerichts sichergestellt sein. – Der Ausgang des Verfahrens muss so geregelt sein, dass Rechtsverletzungen nicht nur festgestellt werden, sondern das Recht nach Möglichkeit wiederhergestellt wird bzw. Rechtsverletzungen tatsächlich kompensiert werden und – schließlich muss der Rechtsschutz „innerhalb angemessener Zeit“ gewährt werden, d. h., dass der Gesetzgeber gehalten ist, auch Vorsorge für den Fall zu treffen, dass der Richter seiner gesetzlichen Pflicht, eine Entscheidung zu treffen, nicht oder nicht innerhalb angemessener Zeit nachkommen sollte212. Fehlt es an diesen Erfordernissen, hat der Gesetzgeber ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, das ihnen entspricht. Als Kontrollmaßstab für die Bestimmung der Geeignetheit und Angemessenheit des jeweiligen Verfahrens dient das Untermaßverbot213. Danach ist zu fragen, ob das Verfahren ein „Zuwenig“ an Rechtsschutz bietet und es daher geboten erscheint, das angeblich verletzte Grundrecht effektiver zu schützen. Primäres Ziel ist der Schutz des konkret betroffenen Grundrechtsträgers unter Berücksichtigung etwaig kollidierender Interessen Dritter. Ein Unterlassen der 210 BVerfGE 40, 272, 274; BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; Michael/Morlock (Fn. 78), Rn. 889. BVerfGE 32, 305, 309; 88, 118, 124; 96, 27 (Tz. 48). Diese Rechtsprechung ist insofern widersprüchlich, als das BVerfG einerseits die Effektivität des Rechtsschutzes in allen von den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen gewährleistet, andererseits aber daran festhält, dass Art. 19 IV GG keinen Instanzenzug garantiert. Dazu Olaf Kamper, Die Anfechtbarkeit richterlicher Entscheidungen nach dem Grundgesetz, 2008, S. 105 f; Gilles, JZ 1985, 253, 260; Michael Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, § 5 B I 2. 211 BVerfGE 60, 253, 269 (Anwaltsverschulden); 109, 279, 364 (Großer Lauschangriff). 212 BVerfGE 55, 349, 369. Inzwischen ist das nach der Ermahnung Deutschlands durch den EGMR verabschiedete „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ vom 24.11.11 in Kraft getreten, das den Anforderungen der Art. 6 I 1, 13 EMRK entspricht; dazu Matusche-Beckmann/Kumpf, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren – nach langem Weg ins Ziel?, ZZP 124 (2011), 173; Althammer/ Schäuble, Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer, NJW 2012, 1. Eine auf Nachlässigkeit des Richters zurückzuführende Verfahrensverzögerung verstößt daher gegen die in § 839 II 2 BGB genannte Amtspflicht zur zügigen Arbeitsweise. Noch zuvor hatte der BGH den Amtshaftungsanspruch eines Klägers wegen richterlicher Verfahrensverzögerung mit der Begründung zurückgewiesen, das Richterspruchprivileg des § 839 II 1 BGB erfasse auch alle prozessleitenden Maßnahmen, die objektiv darauf gerichtet seien, die Rechtssache durch Urteil zu entscheiden (BGHZ NJW 2011, 1072 f). Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit lasse daher nur eine Vertretbarkeitsprüfung zu. Dem hatte Zuck, JZ 2011, 471, zu Recht entgegengehalten, dass eine bloße Vertretbarkeitsprüfung unzureichend sei, da der Gesetzgeber den Maßstabskatalog für die Verzögerungsumstände durchweg nach objektiven Kriterien nachprüfbar festgelegt habe. 213 Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 891, 888 f, 627.
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Verhinderung einer Grundrechtsbeeinträchtigung ist dem Staat als Verstoß zuzurechnen. Wie zu zeigen sein wird, besteht insoweit im deutschen Zivilprozessrecht nach wie vor ein erhebliches Rechtsschutzdefizit, nämlich zum einen insofern, als die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB infolge der nicht mehr vertretbaren Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung faktisch komplett ihre Zweckbestimmung und damit ihre Sanktionsgeltung einbüßte, und zum anderen insofern, als es dem Gesetzgeber mit der Einführung der Anhörungsrüge mangels grundlegender Fehler bei der Implementation des § 321a ZPO nicht gelang, eine effektive instanzinterne Selbstkontrolle zu etablieren. b) Die Gestaltung der deutschen ZPO unter dem Einfluss des BVerfG Außerordentlicher Rechtsbehelfe zur Durchbrechung der materiellen Rechtskraft richterlicher Entscheidungen bedürfte es nicht, wenn dem Rechtsunterworfenen der Rechtsweg auch gegen die richterliche Entscheidung als solche offen stünde. Bekanntlich ist dies jedoch nicht der Fall. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG zählt die Judikative als dritte Gewalt im Staate ebenso wie die Legislative schon tatbestandsmäßig nicht zur öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 IV GG. Auch das Rechtsstaatsprinzip gewährleiste nicht die Einrichtung eines Instanzenzugs214. Aufgrunddessen war es bis zur Einführung der Anhörungsrüge grundsätzlich ausgeschlossen, Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren mit der Begründung anzugreifen, der letztinstanzliche Richter habe bei seiner Spruchtätigkeit in entscheidungserheblicher Weise eines der Verfahrensgrundrechte verletzt. Begründet wurde dies mit einer „zum Schlagwort erstarrten Behauptung“215 des BVerfG, „für die man vergeblich nach einer Begründung sucht“, die aber dennoch in dessen Rechtsprechung als Dogma für den Rechtsschutz gegen zivilgerichtliche Entscheidungen nachhaltig bestimmend wurde: Das Grundgesetz gewährleiste – so schon die Formulierung Dürigs aus dem Jahre 1958 – Rechtsschutz (nur) „durch den Richter“ und nicht (auch) „gegen den Richter“216, und zwar jedenfalls solange nicht, als die Gerichte in voller richterlicher Unabhängigkeit handeln und in ihrer Funktion als neutrale Instanzen der Streitentscheidung tätig werden. Denn Rechtsschutz auch gegen die spruchrichterliche Entscheidung als solche würde deren Zweck unterlaufen, Streitigkeiten beizulegen und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Zwar garantiere das Grundgesetz Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art. 19 IV GG, sondern in Zivilsachen auch aufgrund des ihm zugrundeliegenden allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. 214
BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39; 107, 395, 402; 108, 341, 348. So die treffende Kennzeichnung von Lorenz, Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 241; eingehend dazu Voßkuhle (Fn. 3), S. 1 f, 146 ff, 225 ff; ders., Erosionserscheinungen des zivilprozessualen Rechtsmittelsystems, NJW 1995, 1377. 216 BVerfGE 1, 433, 437; 15, 275, 280 = NJW 1963, 362; 96, 27, 39 = NJW 1997, 2163 f. 215
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Doch auch aus diesem folge kein Anspruch auf eine (stets) weitere Instanz. Denn andernfalls würde ein Rechtsschutz ad infinitum eröffnet. Die äußerst restriktive Auslegung des Art. 19 IV 1 GG durch das BVerfG ist mit beachtlichen Argumenten auf heftige Kritik des Schrifttums gestoßen: So wurde vor allem dagegen vorgebracht, dessen Wortlaut böte gar keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass richterliche Akte von jener Garantie nicht mit erfasst werden217. Selbst ein über mehrere Instanzen geführtes Verfahren begründe keineswegs denknotwendig die Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum. Auch spreche Art. 95 GG zumindest hinsichtlich der dort genannten Gerichtsbarkeiten für die Eröffnung eines Instanzenzuges218. Darüber hinaus sei außer in Bagatellsachen der Ausschluss einer zweitinstanzlichen richterlichen Kontrolle eine begründungsbedürftige Ausnahme und überdies nicht in allen Bereichen zulässig. Dennoch hielt das BVerfG an dem Dogma fest. Bezeichnenderweise blieb in der Debatte über die Legitimität jener Doktrin völlig unerwähnt, dass die ZPO sogar an exponierter Stelle eine Vorschrift enthält, durch die zweifelsfrei „Rechtsschutz gegen den Richter“ gewährleistet wird, wenn auch nur unter sehr erschwerten Bedingungen, nämlich eben § 580 Nr. 5 ZPO. Denn immerhin wird es der Prozesspartei durch diese Vorschrift grundsätzlich ermöglicht, das gegen sie ergangene rechtskräftige Endurteil mit der Begründung anzufechten, der Richter habe sich im vorausgegangenen Verfahren „in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten“ schuldig gemacht. Wenn das BVerfG diese Möglichkeit bei Übernahme der Dürig‘schen Formel ignorierte und auch im weiteren Verlauf totgeschwiegen hat, kann dies nur darauf zurückgeführt werden, dass es die Vorschrift des § 339 StGB schon gar nicht (mehr) zum „lebenden“ Recht zählte, ihr also überhaupt keine instrumentelle Funktion mehr zubilligte, sondern allenfalls noch eine rein symbolische. Andernfalls hätte es sicherlich kundgetan, dass „Rechtsschutz gegen den Richter“ zwar gewährleistet werde, es dafür jedoch nur meistens am Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen fehle. Der Hinweis auf das Dürig’sche Dogma hätte sich daher erübrigt. Ähnlich verhielt es sich mit den Verstößen gegen Art. 103 I GG. Auch gegen diese hätte das Wiederaufnahmerecht in § 579 I Nr. 4 ZPO Rechtsschutz geboten, wären die Gerichte nicht der unzutreffenden These von der Analogieunfähigkeit der Wiederaufnahmevorschriften verfallen219. Somit kann nur festgestellt werden: De jure gab es ihn schon immer, den „Rechtsschutz gegen den Richter“, nur war dieser eben de facto nicht realisierbar. Folglich stellte die vom BVerfG beharrlich beibe217 Vgl. H. Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 100; Lorenz (Fn. 215), S. 241 ff; Voßkuhle (Fn. 3), S. 255 ff; Schenke (Fn. 211), § 78 Rn. 32 ff. 218 Krugmann (Fn. 80), S., 308; Voßkuhle (Fn. 215), NJW 1995, 1377, 1381 f. 219 Nach Ansicht von MK-Braun (Fn. 36), Rn. 7, habe diese These „den Blick darauf verstellt, dass durch § 581 I Hs. 1 ZPO das strafrechtliche Analogieverbot in systemwidriger Weise auf die zivilprozessualen Wiederaufnahmegründe des § 580 Nr. 1 – 5 ausgedehnt wird“. Apel, Zur Nichtigkeitsklage wegen Mängeln der Vertretung im Zivilprozeß, 1995, S. 81 ff.
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haltene Doktrin weit mehr eine ungewollt rechtssoziologische Beschreibung seiner eigenen Entscheidungspraxis dar als ein bewusst aus der Verfassung abgeleitetes Dogma. 2. Exkurs: Rechtshistorischer Rückblick auf die Rechtsschutzgewährleistung unter dem Dogma vom Rechtsschutz durch, aber „nicht gegen den Richter“ a) Anerkennung ungeschriebener Ausnahmerechtsbehelfe In der Zeit vor der ZPO-Reform 2002 hatte sich die Anzahl der überwiegend auf Verletzung des Art. 103 I GG gestützen Urteilsverfassungsbeschwerden derart erhöht, dass sich das BVerfG als bloßer „Pannenhelfer“ unterfordert fühlte und dahingehend Entlastung anstrebte220. Zu diesem Zweck unternahm er es, ohne gleich den Gesetzgeber zu bemühen, die Fachgerichte aufzufordern, ihnen unterlaufene Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte, so vor allem gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, zur Vermeidung des Umwegs über die Verfassungsbeschwerde möglichst instanzintern zu beheben, „sofern die Auslegung der einschlägigen Verfahrensvorschriften dies ermögliche“221. Dieser Aufforderung waren die Fachgerichte zum Teil bereitwillig gefolgt, indem sie praeter legem in Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit neben der bereits gewohnheitsrechtlich anerkannten Gegenvorstellung222 und dem außerordentlichen Rechtsbehelf gemäß § 826 BGB gegen Urteilserschleichung und arglister Titelausnutzung ungeschriebene außerordentliche Rechtsbehelfe gegen rechtskräftig gewordene Entscheidungen zuließen. Vor allem folgende von den oberen Fachgerichten erzeugte Ausnahmerechtsbehelfe fanden dadurch – vorläufig – die ausdrückliche Billigung des BVerfG: – Die „außerordentliche Beschwerde“ gegen Beschlüsse des Oberlandesgerichts als Ausnahme zu § 567 IV ZPO a.F. analog § 568 II ZPO a.F.223, – die „Ausnahmeberufung“ analog § 513 II ZPO a.F.224 und die „Untätigkeitsbeschwerde“ entsprechend Art. 6 I EMRK225 sowie – die auf wirkliche Ausnahmefälle krassen Unrechts beschränkte „außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit und groben prozessualen Unrechts“226.
220 Dazu erstmals Schumann ZZP 1983, 137, 148 und NJW 1985, 1134; Kenntner, Vom „Hüter der Verfassung“ zum „Pannenhelfer der Nation“?, DÖV 2005, 269. Siehe Beispiele für „Pannenfälle“ bei Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 9 f. 221 BVerfGE 42, 248 f; 47, 190 f; 49, 252, 259; 68, 376, 380; 73, 327; BVerfG NJW 87, 1319. 222 Dazu Schumann und H. Roth (Fn. 149) sowie Sangmeister in NJW 2009, 3053 f. 223 BVerfGE 49, 252, 256 = NJW 1979, 538. 224 BVerfG NJW 1999, 1176, dazu Schneider (Fn. 112), MDR 2006, 974 f. 225 Dazu Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 909. 226 BGHZ 119, 372 = NJW 1993, 135; 130, 99; dazu Voßkuhle (Fn. 3), S. 224.
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Diese ungeschriebenen Rechtsbehelfe wurden von den Fachgerichten allgemein anerkannt, ohne dass in Lehre und Schrifttum eine überzeugende dogmatische Grundlage für sie zu entwickelt worden war227. Voßkuhle sah ihre Grundlage im verfassungsrechtlichen Willkürverbot228, andere wollten sie gewohnheitsrechtlich anerkannt wissen. Ihre Zulassung durch das BVerfG mag Ausdruck der Erkenntnis gewesen sein, dass bei grober Verletzung von Verfahrensgrundrechten das Spannungsverhältnis zwischen den beiden angeblich gleichwertigen wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips, nämlich Rechtssicherheit und Gerechtigkeit229, ausnahmsweise zugunsten der Gerechtigkeit gelöst werden müsse. Dabei blieb jedoch völlig offen, unter welchen konkreten Voraussetzungen der jeweils anerkannte Rechtsbehelf zulässig und unter welchen er begründet sein sollte. Augenscheinlich wurden hier nur unbestimmte Rechtsbegriffe durch andere Leerformeln ersetzt. Weil die Duldung dieser Rechtsprechung durch das BVerfG bewusst nicht der Beseitigung einer verfassungswidrigen Regelungslücke, sondern allein seiner eigenen Entlastung dienen sollte, bemühte sich auch der BGH gar nicht erst um eine plausible Begründung der Statthaftigkeit dieser zunächst von ihm anerkannten Rechtsinstitute, sondern wartete insoweit ein Tätigwerden des Gesetzgebers ab. Jedenfalls war abzusehen, dass diese „unübersichtliche Aufsplitterung des Rechtsmittelsystems“ nicht lange aufrechterhalten bleiben konnte230. Faktisch führte diese Aufforderung, auch wenn sie weit mehr der Entlastung des BVerfG dienen sollte als der Qualitätssicherung der letztinstanzlichen Entscheidungen, bereits zu einer Einschränkung der doktrinären Auslegung des Art. 19 IV GG. Zwar wurde dadurch die Doktrin vom „Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben“, nicht außer Kraft gesetzt, zumindest aber bereits deutlich relativiert. b) Die These Voßkuhles vom „sekundären Kontrollanspruch“ Im Jahre 1993 legte Voßkuhle unter dem Titel „Rechtsschutz gegen den Richter“ eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Dogma vom Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben vor. Aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung folge ein Auftrag zur gegenseitigen Kontrolle und Beschränkung der Verfassungsmächte. Da die Rechtsprechungsfunktion als solche vom staatlichen Kontrollsystem kaum erfasst sei, stelle sich umso eindringlicher die Frage, ob nicht dieser im Grundgesetz enthaltene Kontrollauftrag zur Eindämmung staatlicher Herrschaftsmacht eine funktionsinterne Kontrolle der Herrschaftsakte des Richters beinhalte, die ihrerseits nur durch eine zweite richterliche Instanz verwirklicht werden könne. Keines der gesetzlich in den §§ 339 StGB, 839 II BGB i.V.m. Art. 34 GG sowie 26 DRiG vorgesehenen Kontrollinstrumente gewährleiste eine wirksame 227 228 229 230
Dazu Schwarze (Fn. 170), S. 25; P. Günter (Fn. 2), S. 55 f; Chr. Seidel (Fn. 2), § 2. Voßkuhle (Fn. 215), NJW 1995, 1377, 1380. BVerfGE 15, 313, 319 f = NJW 1963, 851. MK-Braun (Fn. 36), zu § 579 Rn. 21 und vor § 578 Rn. 7.
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Kontrolle der richterlichen Entscheidungsmacht. Als Ergebnis seiner Arbeit hielt er fest, dass „eine verfassungsgerechte Auflösung der mit der Problematik des Rechtsschutzes gegen den Richter implizierten Spannungslage zwischen dem Rechtssicherheitsgedanken einerseits und dem Abwehrgedanken andererseits … in Anbindung an die einfachgesetzliche Rechtsmitteldogmatik nur nach Maßgabe des im Gewaltenteilungsdogma angelegten Kontrollauftrags erfolgen“ könne231. Der insoweit gebotenen Integration richterlicher Hoheitsakte in das verfassungsrechtliche Kontrollsystem entspreche auf Seiten des Bürgers ein grundsätzlicher Anspruch auf einmalige Überprüfung der (erstinstanzlichen) richterlichen Tatsachenentscheidung in bezug auf die „Rechtsfrage“ durch eine zweite richterliche Instanz. Dieser sekundäre Kontrollanspruch sei Teil der sich aus Art. 19 IV 1 GG ergebenden Rechtsschutzgarantie. Gegen diesen Ansatz Voßkuhles, dem judikativen Unrecht durch Rückgriff auf den im Grundgesetz enthaltenen Kontrollauftrag zu begegnen, haben sich u. a. Marco Hößlein232 und Michael Stürner233 gewandt. Ersterer meint, ein grundrechtlicher Beseitigungsanspruch bei Beeinträchtigungen durch die Rechtsprechung könne nur aus dem subjektiven Recht und nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG entwickelt werden. Es dürfe nur vom Recht auf die Pflicht und nicht umgekehrt von der Pflicht auf das Recht geschlossen werden. Der Schluss von einer Pflicht auf ein subjektives Recht sei „rechtslogisch nicht zwingend“. Erst das aus dem subjektiven Recht abgeleitete Ergebnis fände seinen Ausdruck in einer korrespondierenden subjektiven Pflicht, wobei jede dem subjektiven Recht korrelierende Pflicht zugleich Bestandteil des objektiven Rechts sei. Dem ist entgegenzuhalten: Zweifelsohne setzt die Geltendmachung eines Rechtsbehelfs gegen eine greifbar gesetzwidrige richterliche Entscheidung ein an die Judikative als Adressat gerichtetes subjektives Recht des Betroffenen auf Restitution des ihm widerfahrenen Unrechts voraus. Mit der herrschenden Imperativentheorie ist jedoch weiter davon auszugehen, dass nicht die Rechte, sondern die Pflichten, die sich jeweils aus den Verhaltensnormen ergeben, als die Grundbausteine des Rechts gelten234. Deshalb stellen die subjektiven Rechte als die daraus abzuleitenden Gewährungen nur die Kehrseite dieser Pflichten dar. Demgegenüber bemängelt M. Stürner unter Hinweis auf Seitz235 die Konzentration Voßkuhles auf das Prinzip der Kontrolle. Die Kontrollinstrumente der Anklage wegen Rechtsbeugung und Einleitung von Disziplinarverfahren würden vom Staat eingesetzt, dagegen dienten die Rechtsmittel dem Individualrechtsschutz. Damit lasse sich das Bindungsgebot des Art. 20 III GG auch durchsetzen. Voßkuhle vermenge diese Konzepte. 231 232 233 234
S. 30. 235
Voßkuhle (Fn. 3), S. 255 ff und 343; ders. (Fn. 215), NJW 1995, 1377, 1383. Marcus Hößlein, Judikatives Unrecht, 2007, A I 2 c und E I 1 d. M. Stürner (Fn. 210), Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 74 ff. Röhl/Röhl (Fn. 7), § 27 III 3; St. Meyer, Juristische Geltung als Verbindlichkeit, 2011, Seitz, NJW 1994, 2011, 2012.
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Abzulehnen ist ein nur auf Rechtsfragen beschränkter sekundärer Kontrollanspruch jedoch aufgrund der Ergebnisse der rechtssoziologischen Attitüdenforschung, die das Urteil im Stimulus/Response-Schema als Reaktion (response) auf einen Fall (stimulus) begreift und davon ausgeht, dass je nach den persönlichen Eigenheiten und Einstellungen des Richters (Attitüden) auf den gleichen Fall unterschiedliche Reaktionen erfolgen236. Aufgrunddessen kommt es bei der Fallentscheidung in der Rechtspraxis zunächst einmal vorrangig auf die Ermittlung der Fakten an und dann erst auf die Lösung der Rechtsfrage. Das von Rottleuthner um die Attitüde erweiterte klassische stimulus-response-Modell beruht auf der Annahme, dass der Sachverhalt, den der Richter seinem Urteil zugrundelegt, durch seine Attitüden geprägt wird. Deshalb sei zwischen S, dem tatsächlichen Sachverhalt, und S’, dem von ihm für relevant gehaltenen Sachverhalt zu unterscheiden. Dies aber führt zu Verzerrungen bei der Entscheidungsfindung. Daher bringt es nichts, wenn der verzerrte Sachverhalt S’ nochmals einer rechtlichen Beurteilung unterworfen wird. Sinnvoll ist nur die Kontrolle einer Entscheidung, bei der auch und gerade die Ermittlung des wahren Sachverhalts überprüft wird, also zuerst die Einhaltung der Verfahrensgrundrechte und dann die Plausibilität der Entscheidungsbegründung237. c) Die Kontroverse „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage“ Der OLG-Richter Seetzen238 hatte die These aufgestellt, es genüge schon aus Gründen der Praktikabilität, gegen die ständig zunehmenden Verletzungen der Garantie des rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte einen Sonderrechtsbehelf, nämlich die Anhörungsrüge, in die ZPO einzuführen, da diese Gehörsverletzungen – wie er fälschlich annahm – ganz überwiegend auf reinem Versehen beruhten und von den Richtern anstandslos korrigiert würden. Eine einfache Gehörsrüge im schriftlichen Verfahren benötige vor allem kein neues Erkenntnisverfahren und sei daher weit weniger „aufwendig und umständlich“ als die Wiederaufnahmeklage. Dagegen verwies Braun auf § 579 I Nr. 4 ZPO und vertrat die Ansicht, dass es der Einführung eines solchen Rechtsbehelfs schon deswegen nicht bedürfe, weil sich entsprechend den Gesetzesmaterialien239 die analoge Anwendung dieser Vorschrift auf alle Gehörsverletzungen gleich welcher Art anbiete, obwohl sich diese ihrem Wortlaut nach nur auf einen Sonderfall der Gehörsverletzung, nämlich denjenigen der nicht ordnungsgemäßen Vertretung der Partei, beziehe240. Die Nichtigkeitsklage müsse daher in allen Fällen der entscheidungserheblichen Verletzung des Art. 103 I GG zuge236
Dazu Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 114 ff Im Ergebnis ebenso Marten Breuer (Fn. 162), § 3 B II 3: Es sei nicht ersichtlich, „warum gegen erstinstanzliche Rechtsfehler ein Instanzenzug verfassungsrechtlich garantiert sein soll, gegen Tatsachenirrtümer hingegen nicht“. 238 Seetzen, NJW 1982, 2337; 1984, 347. Dazu auch schon Schumann, NJW 1985, 1134. 239 Hahn, Die gesammten Materialien zur CPO, 1881, S. 379. 240 Braun, NJW 1981, 425; 1983, 1403; 1984, 348 f; MK-Braun (Fn. 36), § 579 Rn. 23. 237
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lassen werden, zumal es hier gelte, auch einen „Wildwuchs“ der Rechtsbehelfe zu verhindern. Der Einwand von Seetzen, die Wiederaufnahmegründe seien in den §§ 579, 580 ZPO enumerativ und damit abschließend aufgezählt, beinhalte „nichts anderes als eine Neuauflage der (im Zivilrecht) methodisch verfehlten und bereits von Gaul241 widerlegten These, dass Ausnahmerechtssätze nicht analogiefähig seien“. Außerdem sei höchst widersprüchlich, einerseits die Wiederaufnahmevorschriften unter Berufung auf den angeblichen Willen des Gesetzgebers möglichst eng auszulegen, andererseits aber Rechtskraftdurchbrechungen bei auf § 826 BGB gestützten Schadenersatzklagen contra rem judicatam zuzulassen. Bis 1977 war noch im Rahmen des damaligen Schiedsurteilsverfahrens nach § 510c ZPO speziell für die Fälle der Gehörsverletzung und des Fehlens der Entscheidungsgründe in § 579 III 1 und 2 ZPO a.F. die Nichtigkeitsklage als Rechtsbehelf vorgesehen gewesen. Als dieses Verfahren durch die Vereinfachungsnovelle vom 03. 12. 1976 (BGBl. I, 3281) ersatzlos abgeschafft wurde, um erst im Jahre 1990 durch das RpflVereinfG als „Verfahren nach billigem Ermessen“ gemäß § 495a ZPO wieder eingeführt zu werden, unterließ es jedoch der Gesetzgeber, folgerichtig auch eine dem § 579 III ZPO a.F. entsprechende Vorschrift hinzuzufügen. Dadurch entstand eine deutliche Rechtsschutzlücke. Zwar galt jene Vorschrift nur im damaligen Schiedsurteilsverfahren. Statt sie zu streichen, wäre es jedoch weitaus sinnvoller gewesen, ihren Anwendungsbereich auf sämtliche nicht (mehr) rechtsmittelfähige Gerichtsverfahren auszudehnen242. Auf diese Weise hätte eine angemessene und effektive Kontrolle greifbar gesetzwidrigen richterlichen Entscheidungsverhaltens durchaus sichergestellt werden können. d) Einführung der Anhörungsrüge durch die ZPO-Reform 2002 Im Rahmen der ZPO-Reform 2002 führte dann der Gesetzgeber zur Entlastung des BVerfG als „Pannenhelfer“ mit der Vorschrift des § 321a ZPO die Anhörungsrüge in die ZPO ein. Damit wollte er rechtssoziologisch gesehen das geschriebene Recht an das ungeschriebene anpassen. Dieser außerordentliche Rechtsbehelf war als eine Art wiedereinsetzungsähnliche, befristete gesetzliche Gegenvorstellung gegenüber dem Urteil des judex a quo ausgestaltet worden und sollte zunächst auf unanfechtbare Urteile der ersten Instanz beschränkt sein243. Das hinderte die Fach241
Gaul (Fn. 88), S. 37 ff. Braun (Fn. 112), JR 2005, 1 – 5; ders., JZ 2003, 906, 907, sowie NJW 2007, 1621; Siehe zum sog. Schiedsurteilsverfahren gemäß § 510c a.F. ZPO Axel Kunze, Das amtsgerichtliche Bagatellverfahren nach § 495a ZPO, 1995, S. 57 ff, 118. 243 Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 103 und zu § 321a, Rn. 1. Nach Vollkommer, Zur Einführung der Gehörsrüge in den Zivilprozeß, FS Schumann, 2001, S. 507, 511, ist die Gehörsrüge trotz ihrer Ähnlichkeit mit der früheren Nichtigkeitsklage gemäß § 579 III 1 ZPO a.F. kein außerordentlicher Rechtsbehelf, sondern ein „spezifischer Rechtsbehelf zur instanzinternen Behebung von Gehörsverletzungen“. Nach Musielak, ZPO (Fn. 187), § 321a Rn. 2, ist es 242
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gerichte jedoch nicht daran, die Rüge auch in den höheren Instanzen zuzulassen, was zu einem unklaren Rechtszustand führte244. Dies wiederum veranlaßte den 1. Senat des BVerfG, der eine Entscheidung treffen wollte, die der bis dahin von beiden Senaten einhellig beachteten Dürig’schen Doktrin widersprochen hätte, gemäß § 16 I BVerfGG ausnahmsweise das Plenum anzurufen, um von jener bisherigen gemeinsamen Rechtsprechung abrücken zu können. aa) Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30.04.03 Das Plenum des BVerfG stellte daraufhin im Beschluss vom 30.04.03 unter Bezug auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch in der ZPO eine verfassungswidrige Rechtsschutzlücke fest und erklärte das Fehlen „einer Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch oberlandesgerichtliche Berufungsurteile außerhalb der streitwertabhängigen Revisionen“ für grundgesetzwidrig245. Zugleich setzte es dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung der Anhörungsrüge bis zum 31.12.04. Die Garantie wirkungsvollen (effektiven) Rechtsschutzes verlange ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten des Einzelnen246. Die Rechtsschutzgarantie gelte nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern auch für die höheren Instanzen und bedeute Anspruch auf ein effektives, angemessen ausgestaltetes Gerichtsverfahren in angemessener Zeit. Es verstoße „gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verb. mit Art. 103 I GG, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsehe, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt“. Allerdings sei diese Garantie auf eine Instanz beschränkt, da der garantierte Rechtsschutz nicht notwendig zur Befassung einer höheren Instanz führen müsse. Es genüge daher ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt wurde. Diesen Plenumsbeschluss besprach Voßkuhle in der NJW unter der an sich nicht zutreffenden Überschrift „Bruch mit einem Dogma. Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter“247. Denn Gegenstand des Plenarverfahrens war gar nicht die Problematik des „Rechtsschutzes gegen den Richter“ in verfassungsrechtlicher Hinsicht, sondern lediglich die Frage, „ob und in welchem Umfang es das Grundgesetz erfordert, dass Verstöße eines Richters gegen das grundrechtsgleiche „ein Rechtsbehelf eigener Art, durch den das Gericht von der Bindungswirkung des § 318 ZPO … sowie von der formellen und materiellen Rechtskraft … freigestellt wird, wenn sich die Rüge als begründet erweist“. 244 Musielak (Fn. 187), § 321a, Rn. 6. 245 BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924; Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 874, 882 – 890 f; Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 49 ff und 103. 246 So schon BVerfGE 91, 181; 93, 107; BVerfG NJW 2007, 2241, 3118. 247 Voßkuhle, NJW 2003, 2193; dazu auch Vollkommer (u. Fn. 249), FS Gerhardt 2004, 1023.
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Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) durch die Fachgerichte selbst behoben werden können“248. D.h., es ging dort ausschließlich um die Frage der Zulässigkeit der Etablierung einer instanzinternen Selbstkontrolle der Fachgerichte nach Beendigung letztinstanzlicher Verfahren. Diese Frage aber hatte das BVerfG schon längst beantwortet, als es an die Fachgerichte appelliert hatte, Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte zu seiner Entlastung als „Pannenhelfer“ möglichst noch innerhalb der Instanz selbst zu beheben. Insofern diente der Beschluss im Grunde nur der nachträglichen Rechtfertigung dieser Vorgehensweise. Jedenfalls änderte die Entscheidung am Kerngehalt des Dogmas, wonach es keinen Anspruch auf einen Instanzenzug gibt, im Ergebnis nichts. Eingeräumt wurde vielmehr nur „eine punktuelle (gegenständlich beschränkte) Kontrolle der behaupteten Verfahrensgrundrechtsverletzung“ durch den judex a quo selbst249, wobei die Möglichkeit einer solchen Kontrolle keineswegs auf den Fall der Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs begrenzt wurde. Außerdem stellte das BVerfG noch lediglich allgemein fest, dass eine instanzinterne Selbstkontrolle den rechtsstaatlichen Anforderungen nur dann entspräche, „sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden“ könne250. Diese nicht näher konkretisierte Bedingung, mit der im Grunde nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit ohne weiteren Erkenntniswert zum Ausdruck gebracht wurde, nannte Voßkuhle den „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG251. bb) Neufassung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügengesetz Mit dem Anhörungsrügengesetz, das am 01. 01. 2005 in Kraft trat, setzte der Gesetzgeber die Vorgaben des BVerfG allerdings nur teilweise um. Die Neuregelung blieb in mehrfacher Hinsicht unvollständig und ergänzungsbedürftig. Denn zwar ließ der neu gefasste § 321a ZPO (§§ 152a VwGO, 133a FGO, 33a StPO, 29a FGG, 78a ArbGG, 178a SGG, 69a GKG, 157a KostO, 4a JVEG, 71a GWB, 12a RVG)252 die Rüge nunmehr uneingeschränkt gegen jede unanfechtbar gewordene Entscheidung gleich welcher Instanz zu. Nach wie vor wurde jedoch die Möglichkeit ausgeschlossen, auch die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte zu rügen. Das Gesetz löste heftige Kritik aus, die vor allem darauf gestützt wurde, dass bei Einführung der Rüge das psychologische Problem der mangelnden Bereitschaft der Gerichte, eigene 248
BVerfGE 107, 395, = NJW 2003, 1924. M. Vollkommer, Bundesverfassungsgericht, Justizgewährleistung durch das Grundgesetz, Verfahrensgrundrechte und Zivilprozess, speziell: Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts als Ersatzgesetzgeber?, in FS Gerhardt, 2004, S. 1023, 1028. 250 BVerfGE 107, 395, 416 ff = NJW 2003, 1924, 1928 ff. 251 Voßkuhle (Fn. 247), NJW 2003, 2193, 2197. 252 Besser wäre eine einheitliche, für alle Prozessordnungen geltende Regelung im GVG gewesen, so Rieble/Vielmeier, Riskante Anhörungsrüge, JZ 2011, 923, 924. 249
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Fehler einzuräumen, völlig unberücksichtigt geblieben sei253. Schon das BVerfG habe in seinem Plenarbeschluss darüber hinweggesehen mit der Folge, dass es dann auch der Gesetzgeber unbeachtet gelassen habe. cc) Wegfall der Ausnahmerechtsbehelfe als nicht geplanter Nebeneffekt? Nach der Neufassung des § 321a ZPO blieb umstritten, ob sich damit die gewohnheitsrechtlich anerkannten, ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe erledigt hatten oder ob von ihnen noch (teilweise) Gebrauch gemacht werden durfte, auch soweit mit ihnen bislang die Verletzung sonstiger Verfahrensgrundrechte und greifbarer Gesetzwidrigkeiten gerügt werden konnte. Dazu hatte das BVerfG überraschend festgestellt, dass „die von der Rechtsprechung geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe … den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit“ nicht genügten254. Rechtsbehelfe müssten „in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt“ und in „ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein“. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit seien bei den gegenwärtig verfügbaren außerordentlichen Rechtsbehelfen nicht erfüllt. Unmittelbar nach Einführung der Anhörungsrüge hatte auch schon der BGH mit Beschluss vom 07.02.02255 festgestellt, dass aus Gründen der Rechtsmittelklarheit die bislang an ihn gerichtete Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit nicht mehr zum faktisch geltenden Recht zu zählen sei. Diese habe der Gesetzgeber mit der Einführung der Rechtsbeschwerde des § 574 ZPO praktisch abgeschafft256. Nach den Gesetzesmaterialien zu § 321a ZPO sollten die Ausnahmebeschwerde und die Gegenvorstellung durch die Einführung der Anhörungsrüge jedoch gerade nicht ausgeschlossen werden257. Anscheinend wollte hier vielmehr der Gesetzgeber abwarten, ob sich in der Rechtspraxis die Notwendigkeit ergeben 253 Sangmeister (Fn. 112), S. 657; ders., NJW 2007, 2363, 2369; Kirchberg, Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag?, FS Krämer 2009, 43, 46 f; Schneider (Fn. 112), MDR 2006, 969; Vollkommer (Fn. 249), S. 1023; Zuck, NJW 2005, 1226, 1229. 254 BVerfGE 107, 395, 416 f, dazu Vollkommer (Fn. 249) in FS Gerhardt, 2004, 1023, 1032 ff. Zu den Unklarheiten der Anhörungsrüge als Voraussetzung der Rechtswegerschöpfung bei der Verfassungsbeschwerde Rieble/Vielmeier (Fn. 252), JZ 2011, 923. 255 BGHZ 150, 133 = NJW 2002, 1577. 256 Mit Beschluss vom 16.01.07 bestätigte dann auch das BVerfG (NJW 2007, 2538 mit Anm. von Sangmeister), unter Hinweis auf seinen Plenumsbeschluss vom 30.03.03 (BVerfGE 107, 395) eine Entscheidung des BFH, mit der eine außerordentliche Beschwerde gegen eine Kostenentscheidung des FG wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit als unstatthaft zurückgewiesen worden war. 257 BT-Dr. 15/3706, S. 14. Deshalb meinten Bloching/Kettinger, Verfahrensgrundrechte im Zivilprozess – Nun endlich ein Comeback der außerordentlichen Rechtsbehelfe?, NJW 2005, S. 860, dass nach den Gesetzesmaterialien die Vorschrift des § 321a ZPO einer Klärung dieser Fragen durch die Rechtsprechung nicht entgegenstehen sollte.
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werde, künftig auch die Verletzung der anderen Verfahrensgrundrechte in letztinstanzlichen Urteilen als angreifbar anzuerkennen. Ebenso lässt sich jedoch die Ansicht vertreten, dass die Beschränkung des § 321a ZPO auf Gehörsverletzungen eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers darstellte, was gegen eine analoge Anwendung dieser Vorschrift spricht. Folglich muss die Rechtslage insoweit als ungeklärt bezeichnet werden258. Das veranlasste Voßkuhle, in seiner Besprechung der Plenarentscheidung auf die „radikale Kehrtwendung“ des BVerfG hinzuweisen259 und die Frage aufzuwerfen, wie es denn nunmehr mit dem Rechtsschutz gegen sachlich evident unrichtige Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren bestellt sei, wenn auf die bis dahin gewohnheitsrechtlich anerkannten, ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe wie vor allem die Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit tatsächlich nicht mehr zurückgegriffen werden könne, weil sie gegen das Gebot der Rechtsmittelklarheit verstießen. Im Zweifel müsse nämlich davon ausgegangen werden, dass mit der Neuregelung der Anhörungsrüge jene Rechtsbehelfe ihre Erledigung gefunden hätten, wobei Voßkuhle zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht das damals noch zu erlassende Anhörungsrügengesetzes kannte. Da der allgemeine Justizgewährungsanspruch nach Ansicht des BVerfG nur Rechtsschutz gegen die Verletzung von Verfahrensgrundrechten garantiere, seien die Fachgerichte nicht verpflichtet, gegen greifbare Gesetzwidrigkeiten entsprechende Beschwerdemöglichkeiten vorzusehen mit der Folge, dass dem Betroffenen letztlich nur die Verfassungsbeschwerde bliebe, die aber einen Grundrechtsverstoß voraussetze. Auch „krasse richterliche Fehlentscheidungen, wie sie aller Erfahrung nachgerade dort zu erwarten sind, wo mit einer Kontrolle durch Kollegen nicht gerechnet werden muss“, seien insoweit „von Verfassungs wegen hinzunehmen“. Diesen Umstand hatte das BVerfG noch mit der Floskel beschönigt260, dass „im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens das verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzsystem … ein verbleibendes Restrisiko falscher Rechtsanwendung durch das Gericht in Kauf“ nehme. Zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite beim Grundrechtsschutz ist die Verfassungsbeschwerde daher keineswegs geeignet. Auch unter dem Gesichtspunkt der Justizgewährungspflicht vermag sie als ein „Rechtsbehelf von anderer Qualität“ im Einzelfall keinen zureichenden Rechtsschutz zusätzlich zum fachgerichtlichen Verfahren zu gewährleisten261.
258 259 260 261
Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 4; Musielak (Fn. 187), § 321a Rn. 6 und 14. Voßkuhle (Fn. 247), S. 2198. BVerfGE 107, 395, 416 = NJW 2003, 1924. BVerfGE 107, 395, 413 = NJW 2003, 1924, 1927; Vollkommer (Fn. 249), S. 1037.
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IV. Die Rechtsschutzgewährleistung nach Europäischem Zivilprozessrecht und deren Einfluss auf die deutsche und schweizerische ZPO 1. Die Rechtsschutzgarantie nach Unionsrecht und der EMRK Inzwischen hat eine „Europäisierung“ des Zivilprozessrechts eingesetzt mit zunehmendem Einfluss auch auf das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten der EMRK262. Nach Burkhard Hess übernahm das Europäische Zivilprozessrecht sogar „eine Vorreiterrolle im europäischen Harmonisierungsprozess“, nachdem der Europäischen Union (EU) mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags am 01.05.99 auch die Gesetzeskompetenz für Maßnahmen im Bereich der judiziellen Zusammenarbeit mit grenzüberschreitenden Bezügen übertragen worden war263. Zuletzt wurde aufgrund des Vertrags von Lissabon vom 07.12. 07, durch den die EU den Status eines Völkerrechtssubjekts erlangte, noch in Art. 6 I EUV festgelegt, dass die EU die am 01.02.03 im Vertrag von Nizza verkündete Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) vom 07. 12.00 anerkennt. Durch die so geänderte Fassung des Vertrags über die Europäische Union vom 01.12.09 (EUV) erhielt auch das bisherige Europäische Gemeinschaftsrecht, nunmehr „Unionsrecht“ genannt, in Art. 47 I GRC eine alle Mitgliedstaaten bindende Regelung zur Rechtsschutzgarantie. Diese steht als „Grundsatz der gerichtlichen Überprüfbarkeit“ im Range eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts und kann von jedermann mit der Menschenrechtsbeschwerde nach Art. 34 f EMRK innerhalb von 6 Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltendgemacht werden264. Der außerdem in Art. 6 II EUV vereinbarte formelle Beitritt der EU zur EMRK wird zugleich die Übernahme der Judikatur des EGMR bewirken. Die EMRK verfügt ebensowenig wie die EU über eine eigene Zivilgerichtsbarkeit. Vielmehr erschöpft sich ihre Kompetenz darin, den Mitgliedstaaten Standards für die Gestaltung ihrer nationalen Prozessordnungen vorzugeben. Einfluss will die EMRK vor allem auf die Verfahrensgarantien in den Mitgliedstaaten ausüben. Damit haben die Verfahrensgrundrechte der Art. 6 I EMRK für das Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten überragende Bedeutung erlangt, so jedenfalls als prozessuale 262 Dazu Heinze, Zivilprozessrecht unter europäischem Einfluss, JZ 2011, 709; Classen, Effektive und kohärente Justizgewährung im europäischen Rechtsschutzverbund, JZ 2006, 157; Gilles, Vereinheitlichung und Angleichung unterschiedlicher nationaler Rechte – Die Europäisierung des Zivilprozessrechts als ein Beispiel, ZZPInt 7 (2002), 3, 21 ff. 263 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 7; ders., Die „Europäisierung“ des internationalen Zivilprozessrechts durch den Amsterdamer Vertrag, NJW 2000, 23. Von dieser Kompetenz hat die EU durch Erlass diverser Verordnungen Gebrauch gmacht, so zum Mahnverfahren, zur Zwangsvollstreckung, zur Mediation etc., vgl. Ahrens/Lipp/Varga (Hrsg.), Europäisches Zivilprozessrecht – Einfluss auf Deutschland und Ungarn, 2011. 264 Jarass, Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nationale und EU-Gerichte, NJW 2011, 1393.
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Mindeststandards265. Dies folgt auch daraus, dass die Rechtsweggarantie des EMRK über Art. 6 III EUV die unionsrechtliche Rechtsweggarantie beeinflusst und als Rechtserkenntnisquelle dient. a) Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz Mit der Anerkennung der Grundrechts-Charta durch die EU erlangten die darin verankerten Grundrechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die sich aus der EMRK ergebenden Menschenrechte (Art. 52 III GRC). Die in Art. 47 I GRC verankerte Befugnis der EU-Bürger, ihre Rechte vor einem Gericht im Rahmen eines wirksamen Gerichtsverfahrens geltend machen zu können, stellt ein Grundrecht des Unionsrechts dar. Danach hat jede Person „ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Diese Vorschrift gilt anders als Art. 19 IV GG wie Art. 6 I EMRK auch „für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen“. Demzufolge hat die Justizgewährleistung durch die nationalen Gerichte voll dem Durchsetzungsanspruch des integrierten Unionsrechts zu entsprechen. Das bedeutet auch, dass die Mitgliedstaaten ein angemessenes System von Rechtsbehelfen und Verfahren bereitzustellen haben, das jenem Anspruch gerecht wird. Die Verpflichtung dazu folgt aus dem Grundsatz der Unionstreue des Art. 4 III EUV266. Nach den Erläuterungen zu Art. 47 GRC, die gemäß Art. 52 VII GRC gebührend zu berücksichtigen sind, gründet sich Absatz 1 des Art. 47 GRC auf die Vorschrift des Art. 13 EMRK und Absatz 2 des Art. 47 GRC auf die Vorschrift des Art. 6 I EMRK. Die Auslegung dieser Grundrechte hat auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR zu erfolgen. Damit stimmen die Anforderungen des Unionsrechts und der EMRK, die an die Rechtsstaatlichkeit und Qualität der Verfahrensordnungen ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten gestellt werden, weitgehend überein. Folglich kann die schweizerische ZPO in gleicher Weise wie die deutsche an den gemeinsamen Standards der EMRK und des Unionsrechts als tertium comparationis gemessen werden. Nachdem am 01. 01. 2011 die bundeseinheitliche schweizerische ZPO in Kraft getreten ist, bietet sich daher an, ergänzend zu den Evaluationen auch rechtsvergleichende Feststellungen zum Recht der Wiederaufnahme des Verfahrens in beiden Staaten im Hinblick auf die Effektivität der Rechtsschutzgewährleistung zu treffen. Die Grundrechte des Art. 47 GRC überschneiden sich hinsichtlich der Garantie des Zugangs zum Gericht und des Rechts auf ein faires Verfahren267. Letzteres umfasst anders als im deutschen und schweizerischen Recht auch die Gewährung 265 Die Bedeutung der EMRK für die Auslegung der Gemeinschaftsgrundrechte wurde vom EuGH erstmals in EuGH, Rs 222/84 (Johnston), Slg. 1986, 1651, Rn. 18, betont. 266 Oliver Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 3, 45 ff. 267 Dazu Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, EuR 2008, 654, 657.
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rechtlichen Gehörs. Das Fairnessgebot ist verletzt, wenn das Gericht Verfahrensvorschriften erkennbar missbräuchlich einsetzt268, also etwa die Waffen- und Chancengleichheit missachtet. Um bei den nationalen Gerichten die Bindung an die Grundrechte der Union auszulösen, reicht es aus, dass eine nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Die Verletzung eines subjektiven Rechts im Sinne der deutschen Schutznormtheorie ist nicht Voraussetzung. Art. 13 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten, die in der Konvention festgelegten Rechte auf effektive Weise durch die nationalen Verfahrensordnungen zu schützen, und gewährt dem Bürger bei Verletzung dieser Pflicht das Recht auf eine wirksame Beschwerde. Die Vorschrift erfasst auch die Justiz, aber nur, soweit es nicht um die Spruchtätigkeit als solche geht269. Vor allem fordert der EGMR, dass das nach nationalem Prozessrecht bereitgestellte Rechtsmittel nicht nur in rechtlicher, sondern auch in praktischer Hinsicht effektiv sein muss270. Beschränkungen der Grundrechte sind möglich „nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen“ (Art. 74 I GRC). So bleibt die Ausgestaltung des Rechtsschutzes zwar im Einzelnen weiter dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten. Dennoch gebietet auch der Grundsatz der Verfahrensautonomie, das nationale Prozessrecht vorrangig gemeinschaftskonform zu gestalten und auszulegen271. Ergänzt werden die geschriebenen Grundrechte durch zwei ungeschriebene Verfahrensgebote, den Äquivalenz- oder Nichtdiskriminierungsgrundsatz und das Effektivitätsgebot272. Beide Gebote werden abgeleitet aus dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit und gebieten den nationalen Gerichten als unmittelbar wirksame Handlungsanweisungen die Anpassung ihrer Rechtsprechung an die Vorgaben des Unionsrechts, D.h. die nationalen Vorschriften dürfen zur Durchsetzung des Unionsrechts weder ungünstiger ausgestaltet sein als die Vorschriften zur Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts (Äquivalenzgrundsatz) noch die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). b) Verpflichtung zur Einführung effektiver Rechtsbehelfe Der Grundsatz der Effektivität verlangt, dass der Zugang zum Gericht in wirksamer Weise gewährleistet wird. Bei der Überprüfung der nationalen Verfahrensvorschrift anhand jenes Grundsatzes ist diese „im Einzelfall unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamtverfahren, des Verfahrensablaufs und der Verfahrensbe-
268 269 270 271
577. 272
Eser in Meyer (Hrsg.), GRC, 3. Aufl. 2011, Art. 47, Rn. 16. Slg. 2000 – XI, 199 §§ 150 ff. – Kudla, dazu Classen (Fn. 262), S. 165. EGMR, Urt. v. 05.02.02 – 51564/99 Rn. 75 – Conka gegen Belgien. Hess, Die Integrationsfunktion des Europäischen Zivilprozeßrechts, IPRax 2001, 573, Vgl. Hess (Fn. 263), § 4 IV 5, Rn. 38, sowie § 11 I 2, Rn. 4 ff.
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sonderheiten zu würdigen“273. Erfüllt sie den Mindeststandard der EMRK nicht, besteht nach Art. 19 I UAbs. 2 S. 2 EUV für den nationalen Gesetzgeber die Verpflichtung, zur notwendigen Anpassung der Verfahrensordnung an die Standards der Art. 6 I, 13 EMRK und 47 GRC entsprechende Institute und Rechtsbehelfe einzuführen274, d. h. ein effektives Rechtsschutzsystem einzurichten, das dem eigenen System zur Durchsetzung des nationalen Rechts gleichwertig ist, durch das also die Einhaltung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (mindestens) ebenso gewährleistet ist. Das bedeutet, dass dem innerstaatlichen Gesetzgeber die Ausgestaltung der entsprechenden gerichtlichen Verfahren obliegt. Die Rechtsweggarantie der EMRK wirkt insofern mittelbar auf die nationalen Verfahrensordnungen ein, als sie zur effektiven Durchsetzung des Konventionsrechts die Klagebefugnis des einzelnen Bürgers erweitert. Das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der Art. 6 I, 13 EMRK, 47 GRC bezieht sich nicht nur auf Akte der öffentlichen Gewalt wie Art. 19 IV GG, sondern auch auf zivilrechtliche Verfahren und Gerichtsurteile ebenso wie der allgemeine Justizgewährungsanspruch. Es soll die richterliche Kontrolle der Einhaltung des Unionsrechts samt dessen innerstaatlicher Umsetzung sicherstellen. Insbesondere darf der Zugang zum Gericht nicht durch schwer zu überwindende Verfahrens- oder Beweishindernisse unverhältnismäßig behindert werden275. Art. 6 I EMRK, 47 GRC verbürgen zwar ebensowenig wie Art. 19 IV GG und der allgemeine Justizgewährungsanspruch einen mehrstufigen Instanzenzug. Stellt jedoch das nationale Rechtsschutzsystem Rechtsmittel bereit, müssen auch sie den unionsrechtlichen Verfahrensgarantien entsprechen276. Allerdings wird der Zugang zum Gericht nicht absolut und uneingeschränkt garantiert. Den Mitgliedstaaten bleibt grundsätzlich die Verfahrensautonomie, also die Ausgestaltung der Verfahrensmodalitäten vorbehalten (Art. 291 I AEUV). Es gilt grundsätzlich der Vorrang der nationalen Gesetzgebungskompetenz, so u. a. was die Regelung der Rechtskraft anbelangt. Dieser Grundsatz beinhaltet aber auch das Gebot, das nationale Prozessrecht gemeinschaftskonform auszulegen. Das Europäische Zivilprozessrecht will die Verfahrensrechte in den Prozessordnungen der Mitgliedstaaten also nicht verdrängen, sondern nur koordinieren und teilweise harmonisieren mit dem Ziel, sie dadurch zu effektuieren. Wesentlich geht es dabei um die Einhaltung prozessualer Mindeststandards (als Vorstufe für ein einheitliches Europäisches Prozessrecht), an denen die Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten zu messen sind277. Das Unionsrecht fordert nicht, dass im innerstaatlichen Prozessrecht nach Erschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der Rechtsmittelfristen von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zur Rechtskraft abgesehen wird, 273 274 275 276 277
Heinze (Fn. 267), S. 662. Dazu Jarass, EU-Grundrechte, 2005, Teil VII § 40 III 1, Rn. 15. EuGH, Urt. v. 07.06.07 (van der Weerd), C 222/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 33. Jarass (Fn. 274), EU-Grundrechte, Teil VII § 40 III 2, Rn. 22. Hess (Fn. 263), § 11 I 2, Rn. 10; § 3 III 3, Rn. 46.
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wenn auf diese Weise ein Verstoß gegen das Unionsrecht in einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung geheilt werden könnte. Ein Rechtsbehelf gegen letztinstanzliche Entscheidungen wie die Verfassungsbeschwerde in Deutschland wird nicht bereitgestellt. Es fehlt im Unionsrecht an einer europäischen Grundrechtsbeschwerde zum EuGH278. Die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 IVAEUV ist nur gegen Rechtsakte der EU statthaft. Auch die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG kann nicht unmittelbar auf einen Verstoß gegen die EMRK-Grundrechte gestützt werden. Denn Prüfungsmaßstab sind hier ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes. Insoweit ist es nur möglich, die Missachtung der Beachtenspflicht mittelbar als Verstoß gegen die Gesetzesbindung in Verbindung mit dem konkret betroffenen Unionsgrundrecht zu rügen. Das BVerfG erkennt jedoch an, dass die EMRK einschließlich der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfen bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätzen zu berücksichtigen sind279. c) Vorabentscheidungsverfahren und Vorlagepflicht Zusätzlich soll die Effektivität des Rechtsschutzes durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 19 III lit. b EUV mit Art. 267 AEUV auf ganz besondere Weise sichergestellt werden. Dieses Verfahren ermöglicht es dem EU-Bürger, vorab durch den EuGH einen möglichen Verstoß des nationalen Gerichts gegen das Unionsrecht bei dessen Anwendung feststellen zu lassen, und dient dadurch der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Nach Art. 267 III AEUV sind in den nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Verfahren die nationalen Gerichte zur Anrufung des EuGH und Aussetzung des Verfahrens sogar verpflichtet. Dies gilt auch für das BVerfG. Allerdings fordert das Unionsrecht vom nationalen Gesetzgeber nicht die Einführung eines Rechtsbehelfs gegen die Verletzung der Vorlagepflicht. Wird diese Pflicht vom Fachgericht missachtet, stellt dies eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 101 I 2 GG dar, was mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann, da der EuGH „gesetzlicher Richter“ im Sinne dieser Vorschrift ist280. Noch nicht abschließend geklärt ist, welchen Maßstab das BVerfG bei der Beurteilung dieser Pflichtverletzung zugrunde zu legen hat. Bislang stellte es allein auf das Willkür-
278 Heinze (Fn. 267), S. 665 f. Dies auch zur Vermeidung der Überschwemmung des EuGH mit Beschwerden wegen Nichterfüllung der Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV, Jarass (Fn. 275), Teil VII § 40 III 2, Rn. 21; MK-Rauscher (Fn. 36), Einl. Rn. 196. 279 Vgl. M. Gerhardt, Europa als Rechtsgemeinschaft: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts, ZRP 2010, 161. Siehe allgemein zur Rolle des BVerfG Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt/Lepsius/ Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77. 280 BVerfGE 73, 339, 366 ff – Solange II; BVerfGE 75, 223, 245 f. Nach Ansicht von Matthias Bäcker, Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot, Eu-GRZ 2011, 222, bedarf der Rechtsschutz gegen die Verletzung der Vorlagepflicht keines eigenen Rechtsbehelfs, weshalb dieser in der Hand des BVerfG belassen bleiben könne.
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verbot ab, stützt sich in neueren Entscheidungen aber auch auf die Kriterien der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 267 III AEUV281. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland allein im Jahre 2010 insgesamt 28 mal wegen Verletzung der EMRK verurteilt wurde (Ende 2010 waren es seit deren Ratifizierung am 05.12.52 insgesamt 127 Verurteilungen), wird vom BVerfG bereits eine gewisse Bevormundung durch den EGMR befürchtet und dessen Selbstbeschränkung angemahnt282. Ungeachtet dessen sind die Aussichten, vor dem BVerfG und dem EGMR zum Erfolg zu gelangen, abgesehen von der überlangen Verfahrensdauer derart gering, dass kein Bürger und kein Anwalt im Zweifel auf diese Gerichte setzen sollte. Kleine-Cosack hat sie daher sarkastisch als „Nichtannahmegerichte“ bezeichnet und betont, dass schließlich schon die Instanzgerichte die Verpflichtung hätten, die Grund- und Menschenrechte zu beachten283. Angesichts der zahlreichen Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR müsse sogar festgestellt werden, dass in den letzten Jahren das BVerfG den Grundrechtsschutz vernachlässigt habe284. 2. Die Rechtsschutzgarantie nach der Schweizerischen Bundesverfassung Von der Europäisierung des Zivilprozessrechts ist ebenso wie Deutschland auch die Schweiz als Mitglied der EMRK betroffen, nachdem sie sich ausdrücklich zum autonomen Nachvollzug des EU-Rechts entschlossen hat. Die EMRK wurde von den 47 Staaten, die sie ratifiziert haben, unterschiedlich inkorporiert: So erlangte sie in Österreich Verfassungsrang und steht in den Niederlanden sogar über der Verfassung, während ihr in Deutschland gemäß Art. 59 II GG lediglich der Rang eines einfachen Gesetzes zugestanden wurde285. Die Bundesversammlung der Schweiz beschloss 1974 die Ratifikation der EMRK. Das Schweizerische Bundesgericht geht von einer Sonderstellung der Konvention aus. Da die dort verbürgten Rechte ihrer Natur nach verfassungsrechtlichen Inhalt hätten, könnten sie auch in gleicher Weise wie die 281 BVerfG in NJW 2010, 1268 f und NJW 2011, 288 f. Dazu Haensle, Der Willkürmaßstab bei der Garantie des gesetzlichen Richters bei Nichtvorlagen – bewährter Maßstab oder gemeinschaftsrechtliche Notwendigkeit einer Neuausrichtung?, DVBl 2011, 811, 816. 282 Das BVerfG erkennt den Vorrang des Unionsrecht nur soweit an, als es nicht zu „ausbrechenden Rechtsakten“ des EuGH kommt (vgl. BVerfGE 89, 155, 188, also zu Urteilen, die der Ultra-vires-Kontrolle unterworfen werden müssen, weil sie vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht gedeckt sind). Siehe zum Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EGMR Udo Steiner in FS Bethge, 2009, S. 653, 666 f; ferner Ekkehard Schumann, Die vorbildliche Rolle des BVerfG als Verteidiger und Vollzugshelfer der Europäischen Gerichtshöfe, FS Schellenberg, 2010, 729; Stefan von Raumer, Wozu braucht Deutschland einen EGMR – wenn es ein BVerfG hat?, AnwBl 2010, 195 und 2011, 512; Christian Winterhoff, Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH, AnwBl 2011, 506, 507. 283 Kleine-Cosack, Grund- und Menschenrechte im „Bermuda-Dreieck“, AnwBl 2011, 501. 284 Kleine-Cosack, Grundrechte auf dem Abstellgleis … oder warum es um die Grundrechte in Deutschland nicht so gut bestellt ist, wie viele glauben, AnwBl 2010, 41. 285 BGBl. II 2002, 1054, bestätigt durch BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 311.
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Verletzung verfassungsmäßiger Rechte gerügt werden286. Das Bundesgericht prüft daher auch die Vereinbarkeit der kantonalen Gesetze mit der EMRK, die sich insofern auf diese präventiv auswirkt. Die Schweiz kannte lange Zeit keine umfassende Rechtsweggarantie, sondern nur ein Verbot der Rechtsverweigerung, das den Bürgern Schutz bot vor einer beliebigen Anwendung des Rechts durch die Behörden und den Gerichten untersagte, untätig zu bleiben287. Erst im Jahr 1999 wurde der Artikel 29a in die Bundesverfassung eingeführt, der auch dem Schweizer Bürger grundsätzlich einen den Art. 6 I, 13 EMRK und 47 I GRC entsprechenden Rechtsschutz garantiert288. Art. 6 I ERMK hatte schon zuvor maßgeblich die Verfahrensgrundrechte der Art. 29, 30 und 32 BV geprägt. Danach steht dem Einzelnen in Rechtsstreitigkeiten ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf eine tatsächlich wirksame und umfassende gerichtliche Kontrolle der Rechts- und Sachverhaltsfragen zu. Statuiert wurde ein „Anspruch auf Beurteilung von Rechtsstreitigkeiten durch eine richterliche Behörde“ im Allgemeinen, der weiter reicht als derjenige aus Art. 13 EMRK, da er nicht nur zivil- und strafrechtliche Verfahren betrifft. Insbesondere darf demzufolge der Zugang zum Gericht weder grundsätzlich ausgeschlossen noch in unzumutbarer Weise erschwert werden. Art. 29a BV unterscheidet sich von Art. 13 EMRK zum einen in der Weise, dass die Rechtsweggarantie aus Art. 29a BV einen Anspruch auf Beurteilung durch ein Gericht einräumt, während Art. 13 EMRK eine Überprüfung durch eine unabhängige und unparteiische Verwaltungsbehörde genügen lässt, und zum anderen dadurch, dass Art. 29a BVauch andere Rechtsverletzungen als EMRK-Verletzungen erfasst289. Die Rechtsweggarantie gewährt grundsätzlich nur eine einmalige Sachverhalts- und Rechtskontrolle durch ein Gericht auf beliebiger Stufe der Gerichtsorganisation. Auch gilt der Anspruch nicht absolut, da nach Art. 29a S. 2 BV Bund und Kantone in Ausnahmefällen die richterliche Beurteilung ausschließen können, wofür es jedoch einer gesetzlichen Grundlage bedarf290. Effektiver Rechtsschutz wird gewährleistet durch die Art. 29, 30, 31 und 32 BV. Dazu wurden in Art. 30 BV in Anlehnung an Art. 6 I EMRK die früher verstreut geregelten Verfahrensgarantien zusammengefasst. Allerdings kam es nicht zur Anerkennung eines selbständigen Grundrechtscharakters des Willkürverbots, das im 286
Grabenwarter, Nationale Grundrechte und Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, in Merten/Papier (Fn. 124), Bd. VI/2, 2009, S. 33, 37; BGE 117 Ib 367 (371). 287 H. Keller, Garantien fairer Verfahren und rechtliches Gehör, in Merten/Papier (Fn. 124), Bd. VII 2, 2007, § 225 Rn. 15. 288 Dazu Markus Müller, Die Rechtsweggarantie – Chancen und Risiken, ZBJV 2004, 162: Die Garantie weise drei Normgehalte aus, nämlich als individuelles Verfahrensgrundrecht, als Organisationsgarantie und als verfahrensrechtliche Leitplanke für die Ausformung der zentralen Verfahrensinstitute im Bund und in den Kantonen. 289 Schweizerisches Bundesgericht, NVwZ 2010, 662 mit Hinw. auf Rhinow/Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 542, Z. 2832. 290 Vgl. Kley, Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. 2008, zu Art. 29a, Rn. 5 ff; Rhinow/Schefer (Fn. 289), S. 541 ff.
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
Entwurf der neuen Verfassung ausdrücklich als Individualrecht vorgesehen war. Obwohl der Schweizer Bundesrat das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit als „Rechtsschutzlücke“291 beanstandet hatte, ist eine solche nach Durchführung der Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28.02.01 nicht verwirklicht worden. Deshalb besitzt das Bundesgericht auch nicht die Kompetenz zur Durchführung einer Normenkontrolle (Art. 189 BV). 3. Zur „Revision“ i.S.d. bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO Die neue bundeseinheitliche schweizerische ZPO kennt zwar auch den außerordentlichen Rechtsbehelf im Sinne des deutschen Prozessrechts als Rechtsinstitut, verwendet diesen Begriff im Gesetz aber ebenso wenig wie denjenigen der Wiederaufnahme des Verfahrens. Stattdessen gebraucht sie dafür in Art. 328 schwZPO den Terminus „Revision“. Obwohl dieses Rechtsinstitut etwas irritierend als „Rechtsmittel“ bezeichnet wird, fehlt ihm die Suspensivwirkung (Art. 331 I schwZPO). Folgerichtig gilt die Revision im Gegensatz zu den „ordentlichen Rechtsmitteln“ der Berufung und Beschwerde als „außerordentliches Rechtsmittel“. Das Institut der Wiedererwägung wurde fallengelassen. Damit handelt es sich bei ihr abgesehen von der unterschiedlichen Terminologie wie bei den deutschen „Rechtsbehelfen“ um ein außerordentliches, nicht devolutives (Art. 328 I schwZPO), befristetes (Art. 329 schwZPO), reformatorisches (Art. 333 schwZPO) Rechtsmittel, mit dem die Partei die Abänderung eines bereits in Rechtskraft erwachsenen „Entscheids“ (Art. 236 ff schwZPO) begehren kann und das auf Neudurchführung des Prozesses auf verbesserter Grundlage abzielt292. Hierbei können „echte“ Noven nach Maßgabe des Art. 328 I lit. a schwZPO die Revisionsgründe bilden. Als solche gelten „erhebliche Tatsachen oder entscheidende Beweismittel“, welche die Partei nachträglich erfahren bzw. aufgefunden hat und daher „im früheren Verfahren nicht beibringen konnte“. Zweck dieser Regelung ist, der materiellen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Insoweit stellt dies anders als das deutsche Wiederaufnahmerecht eine (nahezu) reine Ergebnisrestitution dar. Folgerichtig entfällt die Berücksichtigung von Verfahrensfehlern, wie dies in § 579 I der deutschen ZPO vorgesehen ist, mit der einzigen Ausnahme, dass gemäß Art. 51 III schwZPO die Revision auch dann statthaft ist, wenn bei dem angegriffenen 291
Eine Rechtsschutzlücke (ein Rechtsschutzdefizit) liegt nach Uhlmann/Biaggini/Auer, den Verfassern des 1. Zwischenberichts des Zentrums für Rechtssetzungslehre der UZH Zürich „Rechtsschutzlücken – Zur Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege, Projekt Rechtsschutzlücken“, Zürich 2010, (nur) dann vor, „wenn ein Recht nicht durchgesetzt werden kann, der Rechtsschutz nicht effektiv ist oder ein Recht nicht von einem Gericht … gewährleistet wird“. Nicht jede Rechtsschutzbegrenzung stelle schon eine Rechtsschutzlücke dar. Insofern führten die nach Art. 29a Satz 2 BV zugelassenen Begrenzungen in einzelnen Sachbereichen nicht zu einem Rechtsschutzdefizit (dazu III des Berichts). 292 Stephen V. Berti, Einführung in die schweizerische Zivilprozessordnung, 2011, S. 145.
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Entscheid eine nach Art. 47 ff schwZPO zum Ausstand verpflichtete Gerichtsperson mitwirkte und dies erst nach Abschluss des Verfahrens entdeckt wird293. Dagegen entspricht die Regelung in Art. 328 I lit. b schwZPO grundsätzlich den Erfordernissen der Restitutionsklage des § 580 Nr. 1 – 6 ZPO mit dem allerdings erheblichen Unterschied, dass es – anders als in § 581 I ZPO noch immer ausdrücklich gefordert – der Vorlage eines Strafurteils nicht bedarf. 4. Folgen der Verurteilungen durch den EGMR Hat das nationale Gericht durch sein Urteil vorrangiges Unionsrecht verletzt, so erwächst dieses Urteil trotz jenes Verstoßes in formelle und materielle Rechtskraft. Weder der EuGH noch der EGMR sind Superrevisionsinstanzen in der Hierachie über den Gerichten der Mitgliedstaaten und daher nicht zur Aufhebung der Urteile deren Gerichte befugt. Zur Aufhebung des Urteils ist der Mitgliedstaat auch nicht als Rechtsfolge der Amtshaftung nach Art. 268, 340 EMRK verpflichtet294, zumal die EMRK gemäß § 59 II GG lediglich Gesetzesrang besitzt. Allerdings hatten sich die Vertragsparteien in Art. 46 I EMRK verpflichtet, die endgültigen Urteile des EGMR zu befolgen und Wiedergutmachung für die sich aus der Konventionsverletzung ergebenden Folgen zu leisten (restitutio in integrum). Andernfalls läge darin auch ein Verstoß gegen das Effektivitätsgebot der Art. 6 I, 13 EMRK, 47 I GRC. Folglich waren die nationalen Gesetzgeber gehalten, eine jener Verpflichtung entsprechende Regelung für den Fall zu treffen, dass der EGMR einen Verstoß eines deutschen Gerichts gegen die Konvention feststellen sollte. Dem ist der deutsche Gesetzgeber durch Einführung des § 580 Nr. 8 ZPO nach Erlass des 2. Justizmodernisierungsgesetzes mit Wirkung vom 31.12.06 nachgekommen. Die dem § 580 Nr. 8 ZPO entsprechende Vorschrift der schweizerischen Zivilprozessordnung findet sich in Art. 328 II schwZPO. Danach kann die „Revision“ verlangt wer-den, wenn der EGMR festgestellt hat, dass durch einen rechtskräftigen Entscheid des nationalen Gerichts die EMRK oder eines der Protokolle verletzt wurden. Das Gleiche gilt, wenn die vom EGMR zugesprochene Entschädigung nicht dazu geeignet sein sollte, die Folgen der Verletzung auszugleichen. Die Revision muss notwendig sein, um die Verletzung zu beseitigen. Nach § 580 Nr. 8 ZPO findet die Restitutionsklage gegen ein rechtskräftiges Urteil dann statt, wenn nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs der EGMR auf Beschwerde gemäß Art. 34, 35 EMRK hin eine Verletzung der EMRK im Verfahren vor Erlaß dieser Entscheidung festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Art. 6 I EMRK gewährleistet Rechtsschutz auch bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten, ohne dass es der Vorlage eines 293
Vgl. Spühler/Tenchio/Infanger, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, Art. 328 Rn. 35. 294 Dazu D. Poelzig, Die Aufhebung rechtskräftiger zivilgerichtlicher Urteile unter dem Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts, JZ 2007, 858, 860.
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rechtskräftigen Strafurteils gegen den Richter bedarf. Im Gegensatz zu §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO ist daher die Restitutionsklage gemäß § 580 Nr. 8 ZPO nach Feststellung der Verletzung der EMRK durch den EGMR selbst dann statthaft, wenn es nicht zu dessen strafgerichtlicher Verurteilung kam. Braun sieht darin zu Recht einen evidenten Wertungswiderspruch im Gesetz295. Schließlich habe der EGMR keine besseren Erkenntnismöglichkeiten als das mit der Restitutionsklage befasste innerstaatliche Gericht. Der deutsche Gesetzgeber habe damit ungewollt bestätigt, dass das Erfordernis strafgerichtlicher Verurteilung unter den Voraussetzungen freier Beweiswürdigung verfehlt sei. Statt daraus die Konsequenz zu ziehen, habe dieser die miteinander unvereinbaren Regelungen systemwidrig nebeneinander stehen lassen.
§ 4 Erfassung der für die Richterkontrolle maßgeblichen sekundären Sanktionsnormen I. Zu den gesetzlichen Vorgaben der richterlichen Entscheidungsfindung Nach Art. 92 Hs.1 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern „anvertraut“. Dieser Ausdruck spricht dafür, dass über die Aufgabenzuweisung hinaus programmatisch auch die Art und Weise der Aufgabenerledigung angedeutet werden sollte. Nach Paul Kirchhof baut hier das Grundgesetz nicht allein auf die Gesetzesbindung des Richters, „sondern ebenso auf seine Gewissenhaftigkeit, Unbefangenheit und Unbestechlichkeit“296. Außer der Gesetzesbindung hat der Richter bei seiner Entscheidungsfindung daher noch weitere Erfordernisse zu beachten, die sich für ihn als maßgeblich aus anderweitigen geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltens- und Sanktionsnormen ergeben. Auch diese Vorgaben gilt es ausfindig zu machen und darzulegen. 1. Gesetzesbindung und Kontrolle der richterlichen Spruchtätigkeit Die Bindung des Richters an vorgegebene Entscheidungsmaßstäbe ist Voraussetzung der Nachprüfbarkeit der Entscheidung und damit auch des Vertrauens der 295 Braun, Restitutionsklage wegen Verletzung der EMRK, NJW 2007, 1620, 1621, sowie MK-Braun (Fn. 36), vor § 578, Rn. 11 – 14. 296 P. Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, gebunden an Recht und Gesetz, NJW 1986, 2275. Die Bedeutung des Richterspruchs lege dem Richter vier weitere Bindungen auf: Die Entscheidungspflicht, das Gesetzesrecht nicht absterben zu lassen, die Unbefangenheit, „d. h. die Freiheit und Offenheit des Richters für das Recht“, das Willkürverbot als Sicherheit gegen die Überlagerung von Recht und Gesetz durch den Willen des Richters sowie die Kontinuitätsgewähr zur Vermeidung des abrupten Abbruchs mit dem Herkömmlichen.
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Rechtsunterworfenen in die Rechtspflege297. Sie ist die Kehrseite des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts und notwendiges Korrelat der zugleich verbürgten richterlichen Unabhängigkeit298. Vorgegeben als Entscheidungsmaßstab sind nach Art. 20 III Hs. 2 und 97 I Hs. 2 GG ausschließlich „Gesetz und Recht“. Eine Richterkontrolle in Anwendung der außerordentlichen Rechtsbehelfe setzt demgemäß voraus, dass der Rechtsstab in seiner Funktion als Kontrollorgan überhaupt imstande ist, die Gesetzmäßigkeit richterlichen Handelns unter Wahrung der Gesetzesbindung jeweils anhand des geltenden Rechts zu überprüfen, und zwar besonders im Hinblick auf die Beachtung der Verfahrensgrundrechte und des Willkürverbots. Hierbei ist er jedoch dem Dilemma ausgesetzt, dass die Gesetzesbindung ein Gebot darstellt, dem der Richter naturgemäß nicht immer voll gerecht zu werden vermag. a) Die Kontroverse Hassemer – Rüthers zur Bedeutung der Gesetzesbindung Mit dieser Problematik haben sich u. a. besonders Hassemer und Rüthers auseinandergesetzt, wobei ersterer den Diskurs mit folgender These begann299 : „Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur unaufhebbaren Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen oder zum je differenten richterlichen Vorverständnis darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht (Hervorhebung vom Verfasser). Konsequenz einer solchen, sich scheinbar rechtsstaatlich begründenden Forderung kann nicht sein, dass die Rechtsprechung sich nunmehr exakter an gesetzliche Vorschriften hält, sondern vielmehr, dass sie so tut, als folge sie nur dem Gesetz …“.
Die Fallentscheidung – so ebenfalls Hassemer – sei nicht das Implikat des Gesetzeswortlauts und der Richter nicht der „Mund des Gesetzes“ im Sinne Montesquieus. Vielmehr sei allgemein anerkannt, dass der Richter rechtsschöpferisch mit dem Gesetz umgehe, zumal es auch keine Meta-Regel der Interpretationsregeln gebe300. Ähnlich äußerte sich D. Simon301 in einem am 03.11.08 gehaltenen Vortrag an der Humboldt-Universität unter Bezugnahme auf den „Zwischenruf“ des ehemaligen BGH-Präsidenten G. Hirsch302, der reichlich gewagt den Richter als Interpret des Gesetzes mit einem „mehr oder weniger virtuosen Pianisten“ verglichen 297
259. 298
Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, in Kaufmann/Hassemer/N. (Fn. 8), S. 251,
Hillgruber (Fn. 155), JZ 1996, 118, 123 f. Hassemer (Fn. 297), S. 260; ders, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213. 300 Hassemer (Fn. 297), S. 261 ff; s. auch Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rechtstheorie, Rn. 704. 301 Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, Vortrag vor dem BAR Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit, HU Berlin, 2009, www.recht-und-wirklichkeit.de. 302 Hirsch, Der Richter wird’s schon richten, ZRP 2006, 161 und ZRP 2009, 61. Dazu kritisch u. a. Gregor Kirchhof, Höchstrichterliche Rechtsprechung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, DVBl 2011, 1068, 1070. 299
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hatte, indem er auf Friedrich Müller und darauf verwies, dass die Norm, unter die es den Fall zu subsumieren gilt, erst mit ihrer Anwendung vom Richter erzeugt werde. Dieser habe „mit dem beunruhigenden Paradoxon zu leben …, dass er erst jene Bindung herstellt, an die gebunden zu sein er anschließend erklärt“. Das BVerfG habe es sogar ausdrücklich für zulässig erachtet, dass sich der Richter bei unmenschlichen Gesetzen unter Berufung auf das „überpositive Recht“ selbst über einen eindeutigen und gewollten Gesetzesbefehl hinwegsetzt. Der Imperativ der materiellen Gerechtigkeit sei in diesem Fall höher zu bewerten als die Geltung der geschriebenen Ordnung. Ausgehend von diesen Vorstellungen muss eine Richterkontrolle, welche die strikte Einhaltung des Bindungsgebots zum Ziele hätte, von vornherein an ihrer Undurchführbarkeit scheitern, da ein Verstoß gegen das Postulat der Gesetzesbindung kaum noch schlüssig zu begründen wäre. Wie Hillgruber unter Hinweis auf Rüthers und Jestaedt dargelegt hat, erlaubt jedoch „selbst eine erwiesene Unmöglichkeit effektiver Gesetzesbindung nicht, von ihr Abschied zu nehmen. Denn selbst wenn es sie nicht gäbe, müsste ihre Möglichkeit unter der Geltung des Grundgesetzes normativ unterstellt und somit „notfalls als Fiktion angesehen werden“303. D.h., gäbe es sie nicht, müsste sie ersonnen werden: „Auch die Einsicht, daß die Rechtsgewinnung ein mehrschichtiger, aus Rechtserkenntnis und sich anschließender Rechtserzeugung in Individualisierung und Konkretisierung der erkannten abstrakt-generellen Normen zusammengefaßter Prozeß ist, führt … nicht zu einer Lockerung oder gar Auflösung der Gesetzesbindung, sondern nötigt vielmehr zur präzisen Abschichtung der Erkenntnis- und Rechtssetzungsanteile an der rechtsprechenden Tätigkeit des Richters. Richterliche ,Rechtsanwendung bedeutet Rechtsetzung in Bindung an bestehendes Recht‘.“
Mit wohl etwas überzogener Schärfe wandte sich dann auch Rüthers selbst gegen die von Hassemer, Hirsch und Simon vermeintlich hingenommene, wenn nicht gar befürwortete Verwässerung des Gesetzesbindungspostulats. Diese zeige sich darin, dass Recht „nicht von der Gesetzgebung, sondern in einem mehr oder weniger undurchsichtigen Diskurs zwischen Gesetzgebung, Rechtswissenschaft, Prozessparteien und Gericht geschaffen“ werde304. Hassemer kämpfe „noch gegen das 303
Hillgruber, Neue Methodik – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung, JZ 08, 745; Dazu auch Kargl (Fn. 181), S. 852: „An dem Postulat der Gesetzesbindung kommt auch nicht vorbei, wer den Willlen des Gesetzgebers ignorieren will und … die Möglichkeiten, Texte zu verstehen, gering schätzt.“ Ähnlich Röhl am 06.03.12 unter rsoz.blog.de (Postmoderne Methodenlehre I) gegen die Ansicht derjenigen, welche die Gesetzesbindung zur Fiktion erklärt haben: Richtig sei zwar, dass jede Heranziehung einer Norm als Entscheidungsgrundlage auf die Norm selbst zurückwirke und die Norm im Zuge ihrer Verwendung eine inhaltliche Veränderung erfahren könne. Weit überwiegend führe deren Anwendung jedoch zu ihrer Verfestigung. Demgegenüber erwiesen sich die auf Veränderung abzielenden Anwendungen als marginal. Wer die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter aufgeben wolle, ignoriere die im Grundgesetz vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter. 304 Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen, Rechtstheorie 40 (2009), 253, 271; ders., Richter ohne Grenzen, FAZ vom 17.06.10, S. 7.
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verstaubte Bild des ,Richters als Subsumtionsautomaten‘ und den ,Traum von der juristischen Logik‘ im Sinne der Begriffsjurisprudenz (was sicherlich polemisch übertrieben sein dürfte). Unrichtig sei insbesondere dessen Behauptung, die Interessenjurisprudenz habe „mit der Freirechtsschule die Tendenz gemeinsam, die gesetzlichen Regulierungen gering zu achten‘“. Vielmehr treffe das Gegenteil zu. Die präzise, besonders strenge Definition der richterlichen Gesetzesbindung sei eines der Hauptanliegen Philipp Hecks gewesen. Eine kurze Stellungnahme Hassemers zu dieser harschen Kritik Rüthers findet sich in der Fußnote 25 dessen Beitrags zur Festschrift Jung: Man streite „niemals über das Postulat der Gesetzesbindung, sondern nur über den Weg, sie herzustellen“305. b) Die Diskrepanz zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung In diesem Zusammenhang stellt Hassemer die Frage nach dem Verhältnis von juristischer Methodenlehre und richterlicher Pragmatik und verweist auf den seit Hermann Isay306 zu beachtenden Unterschied zwischen der Herstellung und der Darstellung des richterlichen Urteils, also zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung307. Diese Frage beruht auf der Erkenntnis, dass das, was in den Urteilsgründen steht (Darstellung), nicht notwendigerweise das ist, was den Inhalt und das Ergebnis des Urteils produziert hat (Herstellung), dass also die Darstellung nicht den tatsächlichen Herstellungsprozess der Entscheidung wiedergibt, sondern konstruktiv ein deduktives Entscheidungsprogramm im Sinne eines Subsumtionsschlusses vorgibt, während die tatsächliche Entscheidungsher305 Hassemer, Juristische Methodenlehre u. richterliche Pragmatik (I), FS Jung, 2007, S. 231, 253 f; ders, Juristische Methodenlehre u. richterl. Pragmatik (II), Rechtstheorie 2008, 1 – 22. 306 H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929. Isay, der zur Freirechtsschule gezählt wird, hatte die These aufgestellt, dass juristische Entscheidungen zunächst „durch konstruktive Phantasie und nachfolgendes Wertfühlen oder durch Intuition“ gefunden und erst nachträglich an einer Rechtsnorm kontrolliert und dadurch rationalisiert würden. Zugleich betonte er jedoch, dass die Erklärung des Vorgangs der Entscheidungsfindung „nicht der Psychologie zugewiesen werden“ dürfe, da dieser dadurch in den Bereich der Willkür und Unredlichkeit gedrängt werde. Diese These hat auch Luhmann vertreten (Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 51): „Der Schluß vom Tatbestand auf eine Rechtsfolge ist für den Juristen die Endgestalt, in der einer sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit. Die logische Form hat eine Darstellungsfunktion. Die juristische Entscheidung wird mithin durch bestimmte Darstellungserfordernisse, nicht aber im Prozeß ihrer Herstellung gesteuert.“ Und schließlich legte auch Esser (Fn. 35, S. 133 ff) dar, dass der Jurist, der einen Fall zu lösen habe, immer schon eine Vorstellung von der „gerechten“ Lösung mitbringe bevor er das Gesetz mit den herkömmlichen Methoden auslege. Erst danach werde über eine Richtigkeits- und Stimmigkeitskontrolle geprüft, ob die gefundene Lösung auch „konsensfähig“ und „plausibel“ sei. Die Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses werde schon mit der ersten Anpeilung von potentiell hilfreichen Normen eingeleitet und nicht mehr außer Acht gelassen“ (S. 139). 307 Hassemer (Fn. 297), S. 268; ders., in FS Jung (Fn. 305), S. 252 ff.
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stellung induktiv und problembezogen erfolgt. Bezogen auf den Rechtsfindungsaspekt bleibt daher „das Gebot der Gesetzesbindung ebenso ein (nicht kontrollierbares) Postulat wie die Forderungen nach einer transparenten, auf Konsens angelegten Rechtsprechung oder einer ,offenen‘ Dogmatik“. Was dagegen den Rechtfertigungsaspekt betrifft, so meint Hassemer, dass insoweit die Funktion des Bindungsprinzips evident sei: „Bindung an das Gesetz“ bedeute danach, „dass der Richter sich in der Begründung seiner Entscheidung an Sprache, Problemdifferenzierung und Entscheidungsregeln des Gesetzes (soweit konkretisiert vorhanden) und an Richterrecht bzw. Rechtsdogmatik zu halten“ habe. Insofern sei „die Beachtung des Bindungspostulats auch kontrollierbar“. Die Beachtung sei „überdies Voraussetzung dafür, dass sich Richterrecht und Rechtsdogmatik konsistent fortentwickeln können“. Die Hoffnungen auf Regeldurchsetzung, wie sie die juristische Methodenlehre hege, seien in der Phase der Herstellung das reine Wunschdenken. Erst die Darstellungsphase mache „sichtbar, welche Pfade des methodologischen Regelwerks begangen, welche vielleicht übersehen und welche verlassen worden sind“. Die juristische Methodenlehre sei daher „eine Lehre nicht des Findens, sondern des Begründens richterlicher Entscheidungen unter dem Gesetz“308. Ganz in diesem Sinne macht auch Christensen verständlich, dass die Gesetzesbindung, die Recht von Willkür unterscheide, nicht „auf einen angeblich vorgegebenen Inhalt des Gesetzes bezogen“ sei, sondern „auf die Struktur eines Herstellungsprozesses“ und damit erst „im Prozess der Herstellung der Rechtsnorm verwirklicht“ werde309. Die Rechtsnorm sei dem Richter nicht vorgegeben, sie werde von ihm „hergestellt“. Aber er müsse sie „dem einschlägigen Normtext rechtsstaatlich kontrolliert zurechnen“. Inwieweit ergangene Urteile „den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung genügen“, sei anhand der Begründung zu untersuchen, „die zwischen Urteil, Gesetz und Verfahren vermitteln soll“. Als Instrumente der Untersuchung könnten dabei die juristische Methodik, die Argumentationstheorie und die Sozial- und Textwissenschaften dienen“. Der Richter führe „keine theoretisch-kognitive Rechtserkenntnis durch“, vielmehr übe er „praktische Gewalt“ aus. Ob er legitime oder illegitime Gewalt ausübe, hänge davon ab, „ob er sich mit seiner Entscheidung innerhalb der Grenzen des Rechts hält oder nicht“. Höre er auf zu interpretieren und verwende er den Text „nur noch zu Machtzwecken“, übe er eine illegitime Gewalt aus, die demokratisch nicht mehr gerechtfertigt werden könne. Folglich sei „die methodische Abschichtbarkeit der Interpretation von machtfunktionaler Benutzung des Gesetzes … das Nadelöhr, durch das die Unterscheidung von gerechtfertigter und nicht mehr zu rechtfertigender staatlicher Gewalt hindurch“ müsse. Damit stehe „im Mittelpunkt juristischer Methodik die Frage, ob und wie in der praktischen Rechtsarbeit 308
Hassemer (Fn. 297), S. 254. Christensen, Die Paradoxie der Gesetzesbindung, in Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 2005, 1, 75 f. 309
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eine Grenze zwischen legitimer richterlicher Gewalt und illegitimer Machtanmaßung gezogen werden“ könne. Der Richter sei daher bei der Herstellung der Bedeutung der Rechtsnorm „nicht frei, sondern an die von den rechtsstaatlichen Vorgaben sanktionierten Standards einer Argumentationskultur gebunden“. Zwar habe ihm die Verfassung auch die Gewalt übertragen, „den methodologischen Konflikt verschiedener Interpretationsvarianten zu entscheiden. Dies jedoch nicht unbegrenzt, sondern erschwert durch die Vorgabe, in der Begründung darzulegen, dass und wie er seine Entscheidung am Normtext und den damit verbundenen methodisch operationalisierten Anschlusszwängen des juristischen Sprachspiels legitimieren kann“. Auch für Christensen ist somit entscheidend, ob es dem Richter im Einzelfall gelungen ist, in seiner Begründung den Bezug zum Normtext und zu den argumentativen Standards plausibel darzulegen. Denn „mit der Anforderung der Begründung als Sicherheit gegen subjektives Belieben ist … eine Schranke gegen Willkür gesetzt, welche die vom Richter ausgeübte Gewalt mindestens irritiert, indem sie sein Tun kontrollierbar macht“310. Es ist zu bedauern, dass das positive Recht wesentlich genauer die Darstellung der Entscheidungen regelt als deren Herstellung311, weshalb die offene und wahrheitsgemäße Darlegung der Bildung richterlicher Überzeugung häufig hinter der unkritischen Übernahme der höchstrichterlichen Rechtsprechung zurücktritt. Diese Gefahr verringerte sich jedoch bei erhöhten Anforderungen an die Urteilsbegründung. 2. Der Rechtsstab als Adressat von Verhaltensund Sanktionsnormen a) Unterscheidung Verhaltens- und Sanktionsnormen Entsprechend der einerseits regulativen und andererseits integrativen Funktion des Rechts unterscheidet die Rechtssoziologie nach Eugen Ehrlich zwischen den Primär- oder Verhaltensnormen und den Sanktions- oder Entscheidungsnormen312. Erstere richten sich als Bestimmungsnormen an den einzelnen Staatsbürger, um ihm ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, Letztere sind als Sekundär- oder Reaktionsnormen ausschließlich an die Judikative und die vollziehende Gewalt adressiert, also unmittelbar an den Rechtstab selbst. Durch sie wird diesem die Aufgabe zugewiesen, bei Nichtbeachtung der Verhaltensnormen gegen die Adressaten die dafür vorgesehenen Sanktionen festzusetzen. Damit wird die jeweils angewandte Vorschrift als faktisch wirksam bestätigt. Die allgemeinen Verhaltensnormen sind folglich den Sanktionsnormen vorgelagert und lassen sich im Gegensatz zu jenen keinem Rechtsgebiet zuordnen. Eine lex perfecta enthält daher zwei Komponenten, 310 311 312
Lerch, Recht verhandeln, in ders. (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, (Fn. 309), S. XXIV. So Kühne DRiZ 1974, 114 f. Rehbinder (Fn. 6), Rn. 96; Röhl/Röhl (Fn. 7), § 26 I; Raiser (Fn. 7), S. 222.
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den Verhaltensbefehl des Gesetzgebers und die Sanktionsandrohung für den Fall der Zuwiderhandlung, wobei auch letztere als Befehl zu verstehen ist, nämlich als Anordnung, die Sanktion zu vollziehen. Die Sanktionsnormen fungieren dabei ihrerseits bezogen auf den Rechtsstab als spezielle Zielgruppe zugleich als Verhaltensnormen, nämlich insofern, als sie regeln, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall überhaupt von ihm Sanktionen gegen einen Delinquenten verhängt werden können oder müssen. b) Die auf die richterliche Spruchtätigkeit bezogenen Verhaltensnormen aa) Das Postulat der Gesetzesbindung als sekundäre Verhaltensnorm Das führt zurück auf das Postulat der Gesetzesbindung als die für den Richter maßgeblichste Verhaltensnorm, die die Verfasser des Grundgesetzes in Art. 97 I, Hs. 2 GG nur sehr knapp in die „sibyllinische Formel“ fassten, dass die Richter unabhängig und „nur dem Gesetz unterworfen“ sind313. Obwohl durchaus verständlich wurde diese höchst bedeutsame Vorgabe stilistisch insofern nicht ganz korrekt zum Ausdruck gebracht, als dort ohne ersichtlichen Grund die Statusbestimmung und die Verhaltensnorm in eine einzige Formulierung gezwängt wurden314. Der Vorrang des Gesetzes beinhaltet sowohl ein Anwendungsgebot als auch ein Abweichungs- bzw. Derogationsverbot, so dass der Richter das Gesetz, soweit er es nicht für verfassungswidrig hält, anzuwenden hat. Fraglich ist nur, inwieweit er dabei rechtsergänzend vorgehen kann, d. h. inwieweit seine Befugnis reicht, das Gesetz im Rahmen der Verfassung fortzubilden315. Dazu hat sich das BVerfG in einem jüngeren Beschluss vom 25.01.11 zur unterhaltsrechtlichen Berechnungsmethode der „Dreiteilung“ des Familiensenats des BGH, die auf eine nicht mehr vertretbare Auslegung des § 1578 I 1 BGB gestützt wurde, sehr klar wie folgt geäußert316 : Der Grundsatz der Gewaltenteilung schließe aus, „dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, 313 Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 711; Rehbinder (Fn. 6), Rn. 21 mit Hinweis auf Ernst E. Hirsch, Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz als Garantie des Rechtsstaats, in ders., Rechtssoziologie für Juristen, 1984 314 Die Konnexion beider Satzteile mittels zweier Konjunktionen unterschiedlicher Bedeutung, d. h. sowohl mit „und“ (Konjunktion) als auch mit „nur“ (restriktive Subjunktion), ist schief, da sie auch keine Parakonjunktion sein soll, Duden, Grammatik, 2006, Rn. 1734, 934, 937. 315 Siehe zur Verknüpfung von richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung Hassemer, Politik aus Karlsruhe, JZ 2008, 1, 5; ders. Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213; sowie zur Beeinflussung der Rechtsweggarantie durch die Gesetzesbindung des Richters Meinhard Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 299 ff. 316 BVerfG NJW 2011, 836 (Tz. 53 f); so schon u. a. BVerfGE 96, 375, 394 f; 109, 190, 252.
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indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen. Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt. … Der Richter … muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers „unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. … Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratischen legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212, 243 = NJW 2007, 2977)“. Der Vorrang des Gesetzes, der Grundsatz der Gewaltenteilung und der justiziable Gleichheitssatz317 untersagen dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Die Grenze der Rechtsfortbildung zu „ausbrechenden Rechtsakten“ der richterlichen Spruchtätigkeit ist jedenfalls dann überschritten, wenn sich der Richter aus der Rolle des Normanwenders heraus in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entzogen hat318. Daher darf sich das Gericht aufgrund seiner Justizgewährungspflicht im Einzelfall nur dann als Ersatzgesetzgeber betätigen, wenn der Gesetzgeber unter Verletzung des Parlamentsvorbehalts auf eine notwendige Regelung verzichtet hat, um sie der Rechtsprechung zu überlassen319. Was im Schweizer Zivilgesetzbuch in Art. 1 Abs. 2 und 3 ausdrücklich geregelt ist, entspricht im deutschen Recht in etwa der sog. Schumannschen Formel, wonach in solchen Fällen bei der Anfechtung von Gerichtsurteilen zu prüfen ist, ob ein Richterspruch seinem Inhalt nach vom Gesetzgeber als Norm hätte erlassen werden dürfen320. Bei diesem Ansatz wird allerdings verkannt, dass die Judikative im Vergleich zum Gesetzgeber einer engeren Normbindung unterliegt, da sie nach 317
Dazu G. Kirchhof (Fn. 302), S. 1073. Die Entscheidung haben u. a. sowohl Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819, als auch Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 2011, 1856, kommentiert. Rieble will trotz des klaren Wortlauts der Begründung eine „familienpolitische Intervention des BVerfG“ nicht ausschließen, der die Beanstandung des Verstoßes gegen die Gesetzesbindung nur als Vorwand diente, und zweifelt daher an der Entschlossenheit des BVerfG, den „strengen Bindungs-Maßstab“ dessen Beschlusses auch in künftigen Fällen zugrunde zu legen. Denn schon zu häufig habe sich das BVerfG bedenkenlos selbst über die Gesetzesbindung hinweggesetzt, obwohl es diese ebenso zu beachten habe. Davon abgesehen sei die Dreiteilungsmethode des BGH „nicht greifbar gesetzwidrig“ gewesen. Dagegen stimmt Rüthers dem Beschluss vorbehaltslos zu, ohne die Bedenken Riebles zu teilen. Die Theorien, wonach die Gesetzesbindung der Gerichte ein „unerfüllbarer Traum“ sei, hätten sich damit für die Gerichtspraxis in der Bundesrepublik erledigt. 319 Dazu Rüthers/Fischer (114), Rechtstheorie, Rn. 832 ff, 850 ff, 878 – 887; v. Münch/ Kunig, Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 97 Rn. 23 – 25. 320 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1969, S. 206 f. 318
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Art. 20 III GG auch an das einfache Gesetz gebunden ist, während die Legislative im Rahmen der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative inhaltlich nur die Vorgaben der Verfassung zu beachten hat321. bb) Spezielle Verhaltensnormen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit Die Verfahrensgrundrechte sind nach dem Plenarbeschluss des BVerfG vom 30.04.03 dadurch gekennzeichnet, dass dem Verstoß gegen sie Allgemeinbedeutung i.S. der Revisionszulassungsgründe zukommt. Konkrete Sollensanordnungen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit enthalten die Art. 3 I GG (Willkürverbot), Art. 101 I 2 GG (gesetzlicher Richter), Art. 103 I GG (Garantie des rechtlichen Gehörs) und Art. 103 II und III GG (Analogieverbot, Rückwirkungsverbot und ne bis in idem). Weniger konkret geregelt sind dagegen der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz322, das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Zeit, das aus Art. 2 I GG in Verb. mit Art. 20 III GG (sowie Art. 6 I EMRK, 47 II GRC) abgeleitet wird323, und das Gebot der Waffengleichheit. Wie der Anspruch auf ein faires Verfahren ist auch das Gebot der Waffengleichheit eng mit der Garantie des rechtlichen Gehörs verbunden. Die EMRK rechnet diese Garantie zum fair-trial-Grundsatz. Die Rechtsgleichheit und das Willkürverbot sind „grundlegende Gerechtigkeitspostulate“ i.S. des des Art. 79 III GG. cc) Das ungeschriebene Gebot der Unterlassung greifbarer Gesetzwidrigkeiten und elementarer Rechtsverstöße Als das durch § 339 StGB geschützte Rechtsgut gilt wie gesagt herrschend die innerstaatliche Rechtspflege in Form der staatlichen wie vom Staat anerkannten richtigen und unparteiischen Rechtsprechung, die auch vor Fehlgriffen ihrer eigenen berufenen Vertreter von innen zu schützen ist. Der Schutz der Rechtspflege zielt dabei in zwei Richtungen: Er dient zum einen dem Interesse des Staates als Gesetzgeber dahingehend, dass die Richter als Vertreter der Judikative dem Grundsatz der Gesetzesgebundenheit entsprechend agieren, und zum anderen dem Schutz des Interesses der rechtssuchenden Bürger dahingehend, dass die Richter (und Amtsträger) bei ihrer Spruchtätigkeit jegliche Rechtsbeugung unterlassen324. Etwas davon abweichend vertritt Roland Kern die Ansicht, dass § 339 StGB „die Unparteilichkeit der Rechtspflege“ schütze325. Die Vorschrift wolle verhindern, dass die zum Täterkreis gehörende Person bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache eine 321 322 323 324 325
Vgl. Pieroth/Schlink (Fn. 132), Rn. 1283. Dazu Zöller-Vollkommer (Fn. 6), Einl. Rn. 47 – 51 und 100. BVerfG NJW 1991, 3140; 2004, 2887; 2008, 2243; Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 905. LK-Hilgendorf (Fn. 117), § 339 Rn. 8. Roland Kern (Fn. 116), Rechtsbeugung durch Verletzung formellen Rechts, S. 110, 137.
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Beugung des Rechts vornimmt, die zur Entstehung eines Vor- oder Nachteils einer Partei führt. Verhindern wolle sie daher nicht sämtliche Rechtsverletzungen, sondern nur solche, die darüber hinaus den Eintritt eines Vor- oder Nachteils einer Partei bewirken. Unter Strafe gestellt werden sollen also lediglich parteiische Verhaltensweisen des Richters, wobei eine nur subjektive Parteilichkeit nicht ausreiche. Die Rechtspflege sei Bezugsobjekt der Unparteilichkeit. Zu deren effektiven Schutz müsse deshalb „auf der Ebene der Tathandlung jede Rechtsverletzung von § 339 StGB erfasst werden“. Für die solchermaßen sanktionierte Beeinträchtigung der Unparteilichkeit der Rechtspflege genüge es daher, dass durch eine Beugung des Rechts eine Partei in tatsächlicher Hinsicht besser oder schlechter gestellt werde326. Damit aber stellt die Parteilichkeit des Richters auch nach Kern einen Angriff gegen die Rechtspflege „von innen“ dar, den es durch § 339 StGB zu verhindern gilt. Auch er räumt damit ein, dass diese Norm mittelbar dem Individualrechtsschutz dient. Die der Norm zugrundeliegende, an den Rechtsstab gerichtete Sollensanordnung, Rechtsbeugungen zu unterlassen, erfasst jedoch nur einen speziellen Teilaspekt einer weitaus umfassenderen ungeschriebenen Verhaltensnorm, die dem Postulat der Gesetzesbindung der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG zugrundeliegt. Diese ist ebenso unmittelbar an den Richter als Adressaten gerichtet, wird in Art. 3 I GG als faktisch geltend vorausgesetzt und besagt ganz konkret im Sinne der Eidesformel des § 38 DRiG sowie der beamtenrechtlichen Vorschriften der §§ 46 DRiG mit 54 BBG, dass jener bei seiner Spruchtätigkeit nicht nur jede strafbewehrte Verletzung von Amtspflichten zu unterlassen hat, sondern überhaupt jede greifbare Gesetzwidrigkeit und damit auch jeden Verstoß gegen die Verfahrensgrundrechte. Geschützt wird durch diese generelle sekundäre Verhaltensnorm als Korrelat der Gesetzesbindung noch wesentlich umfassender als durch die speziellen Verbote, die den Strafvorschriften der §§ 339, 332 II und 344 StGB zugrundeliegen, die Rechtsordnung als ganze, nämlich zum einen als von Verfassungs wegen den Richtern anvertraute Kontrolle staatlicher Macht (Art. 92 GG) und zum anderen als Legitimationsgrund der Rechtsgeltung schlechthin327. Geschütztes Rechtsgut dieser Verhaltensnorm ist somit das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit und Willkürfreiheit bei der Leitung und Entscheidung von Rechtssachen328. Sie zielt ab auf die Sicherung und Wahrung der Verantwortlichkeit des Richters und die Achtung von Recht und Gesetz auch durch diesen selbst und ist damit das Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit. 326
Jahn. 327
Roland Kern (Fn. 116), S. 139. Vgl. dazu OLG Naumburg JuS 2012, 950 mit Bespr.
Fischer, StGB (Fn. 112), Rn. 2; MK-Uebele, StGB, 3. Aufl. 2006, § 339 Rn. 1, mit Hinw. auf Bemmann/Seebode/ Spengler (Fn. 112). Soweit der BGH in BGHSt 10, 294, 298 noch davon ausging, dass „die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit das durch § 336 erstrebte Ziel“ sei, traf dies gerade nicht zu, vgl. LK-Hilgendorf (Fn. 117), § 339 Rn. 89. In der Schweiz bildet die Rechtsbeugung lediglich einen Unterfall des Missbrauchs der Amtsgewalt gem. Art. 312 schweizerisches StGB, vgl. Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, 1982, S. 113. 328
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Die Tatsache, dass diese Sollensanordnung nicht ausdrücklich kodifiziert wurde, bedeutet keineswegs, dass es sie nicht gibt. Denn es kommt sogar sehr häufig vor, so vor allem im Strafrecht, was gerade § 339 StGB zeigt, dass die Verhaltensnorm, die eigentlich teleologisch die Hauptsache bildet, nur mittelbar aus der sie ergänzenden Sanktionsnorm erschlossen werden kann: „Obwohl die Verhaltensnormen als solche nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, sind sie doch die selbstverständliche Voraussetzung der Sanktionsnormen und damit Inhalt des Strafgesetzes selbst“329. Solche ungeschriebenen Verhaltensnormen lassen sich aber nicht nur aus den Vorschriften des Strafgesetzbuchs ableiten. Denn nicht jedes Verhalten, das von der Rechtsordnung missbilligt wird, muss zwangsläufig strafbar sein. Daher lässt auch die verfassungsrechtliche Garantie der Integrität der Rechtspflege durchaus den Rückschluss zu, dass dieser Garantie die Verpflichtung des Rechtsstabs zugrundeliegt, überhaupt alles zu unterlassen, was als greifbare Gesetzwidrigkeit oder gar elementarer Rechtsverstoß zu bewerten ist, ohne dass dies auf einem Zirkelschluss beruht. Für den Rechtsschutz entscheidend ist jedoch letzten Endes, ob diese Sollensanordnung auch konsequent durch eine auf sie bezogene Sanktionsnorm zu einer lex perfecta ergänzt wurde.
II. Das Entscheidungsverhalten des Richters im Kernbereich seines Wirkens (der Spruchtätigkeit) als Sanktionsgegenstand Auch soweit der Rechtsstab aktiv Kontrollorgan ist, kann er als Adressat der an ihn gerichteten Verhaltens- und Sanktionsnormen passiv Objekt einer Untersuchung sein, die darauf gerichtet ist festzustellen, inwieweit er seine Kontrollaufgaben gegenüber den Berufskollegen tatsächlich wahrgenommen hat. Zweifelsohne ist der Rechtsstab insoweit auch kontrollbedürftig. Es fehlt aber an einer externen Institution, deren Aufgabe es wäre, die Ordnungsmäßigkeit der originär wahrzunehmenden Aufgaben des Rechtsstabs zu überwachen. 1. Bedeutung und Funktion der sekundären Sanktionsnormen Sanktionsnormen können vom Rechtsstab auch rechtsmissbräuchlich angewandt werden, was es zu verhindern gilt. Folglich muss es auch Sanktionsnormen geben, die wiederum gegen den Richter selbst gerichtet sind und in denen festgelegt ist, was zu geschehen hat, wenn dieser gegen die ihn betreffenden Verhaltensnormen (als primäre Sanktionsnormen) maßgeblich verstoßen haben sollte. D.h., die sekundären Normen benötigen ihrerseits aus denselben Gründen wie die primären Verhaltensnormen einen Überbau aus sekundären Gesetzen. Gemeint sind damit die sog. se329
Röhl/Röhl (Fn. 7), § 26 III.
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kundären Sanktionsnormen330. Allein um diese für die Beschreibung (und Kontrolle) des richterlichen Entscheidungsverhaltens eminent wichtigen sekundären Sanktionsnormen geht es im vorliegenden Zusammenhang. Denn einerseits muss der Rechtsstab als Kontrollorgan hinreichend mit Sanktionspotential ausgestattet sein, um die Kontrolle sicherzustellen, andererseits sollten aber auch seine Eingriffsmöglichkeiten begrenzt sein, um etwaigem Machtmissbrauch der Judikative im Umgang mit den Sanktionsnormen gegenüber den Rechtsunterworfenen vorzubeugen. Das aber lässt sich nur dadurch erreichen, dass auch der Rechtsstab selbst bei der Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe mittels sekundärer Sanktionen in Schranken gehalten wird331. Fraglich ist nur, wo diese selten auftretenden partikularen Normen, die gemäß ihrer repressiven Funktion der Restitution judikativen Unrechts dienen, überhaupt im Gesetz verborgen sind332. Zu suchen sind also Vorschriften, in denen festgelegt wurde, unter welchen Voraussetzungen Sanktionen gegen den Justizapparat selbst zu verhängen sind, sollte in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren der Richter als Organ der Rechtspflege gegen bestimmte, sein Entscheidungsverhalten regelnde Verhaltensnormen verstoßen haben. Um diese sekundären Sanktionsnormen ausfindig zu machen, ist auszugehen von den zuvor genannten geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltensnormen, die das richterliche Entscheidungsverhalten betreffen, da erst nach Ermittlung der sich aus ihnen ergebenden Pflichten festgestellt werden kann, ob das Gesetz überhaupt derartige Sanktionsnormen für den Fall deren Verletzung enthält. Damit sie als solche erkannt werden, sind folglich die zuvor genannten, an den Rechtsstab adressierten (sekundären) Verhaltensnormen darauf zu überprüfen, ob es sich bei ihnen um sanktionslose Rechtsnormen handelt, also um leges imperfectae mit lediglich starkem symbolischen Gehalt, die zwar einen Normadressaten, einen Tatbestand und eine Sollensanordnung aufweisen, nicht aber auch eine Rechtsfolgeanordnung333, oder ob sie unvollständige Normen334 darstellen, die vom Gesetzgeber lediglich aus Gründen der Gesetzestechnik unvollständig belassen wurden, um sie an anderer Stelle des Gesetzes umso besser komplettieren zu können. Im ersten Fall würde schon von vornherein die Verhängung von Sanktionen gegen den Rechtsstab entfallen. Dagegen müsste sich im zweiten Fall die fehlende Rechtsfolgeanordnung aus einer sich an anderer Stelle im Gesetz befindlichen Vorschrift ergeben. Ihr müsste sowohl entnommen werden können, unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte, offenkundig gegen das Bindungsgebot verstoßende richterliche Verhaltensweise als entweder rechtsfehlerhaft, unvertretbar, 330
Renzikowski (Fn. 136), S. 10; Röhl/Röhl (Fn. 7), § 26 I. Popitz (Fn. 93), S. 48 ff. 332 Raiser (Fn. 7), S. 164, 232. 333 Zu ihnen zählten bis zur ZPO-Reform 2002 die Hinweis- und Erörterungspflichten aus §§ 139 und 278 II 2 ZPO. Deren Verletzung gilt als Verfahrensfehler wegen Verstoßes gegen Art. 103 I GG, der nunmehr mit der Anhörungsrüge und nach Rechtswegerschöpfung mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar ist (Zöller-Greger (Fn. 6), § 139 Rn. 20). 334 Röhl/Röhl (Fn. 7), § 25 V sowie § 27 II. 331
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rechtsmissbräuchlich oder gar als kriminell zu bewerten ist, als auch, welche Maßnahmen der Rechtsstab zum Zwecke der Restitution des judikativen Unrechts zu treffen hat, falls dieses Fehlverhalten die spezifischen Voraussetzungen für die Verhängung der Sanktion erfüllt haben sollte. 2. Sanktionierung der Missachtung des Postulats der Gesetzesbindung? Was zunächst die Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG als Verhaltensnormen anbelangt, so spricht der erste Anschein dafür, dass es sich bei ihnen um sanktionslose Normen handelt. Denn es bietet sich keine Vorschrift an, die unmittelbar bezogen auf das Bindungsgebot als Rechtsfolgeanordnung für den Fall dessen Missachtung erkennbar wäre. Die Verletzung des Art. 20 III GG kann demzufolge nach allgemeiner Ansicht nicht mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Mit einem bloßen Rechtsanwendungsfehler ist eine solche jedenfalls nicht zu begründen. Vielmehr bedarf es dazu stets einer „spezifischen Verfassungsverletzung“, wonach der Einfluss der Grundrechte bei der Auslegung des einfachen Rechts grundlegend verkannt worden sein muss335. Genauer betrachtet ist jedoch festzustellen, dass die Rechtsordnung durchaus eine solche auf jene Verhaltensnormen bezogene, ungeschriebene sekundäre Sanktionsnorm enthält, nämlich den aus Art. 3 I GG abgeleiteten allgemeinen Gleichheitssatz. Denn nachdem unstreitig die Gleichheit „vor dem Gesetz“ die Gleichheit bei der Anwendung des Rechts umfasst, übernimmt insoweit jener Gleichheitssatz als Auffangrecht die Funktion der Sanktionsnorm, indem er als subjektiv-grundrechtliches Pendant zur objektiv-rechtlichen Bindung der Judikative an „Gesetz und Recht“ nach Art. 20 III GG der Durchsetzung der Rechts- und Gesetzesbindung dient336. Folgerichtig steht dem Betroffenen als Normbenifiziar zur Realisierung seines daraus folgenden subjektiven Rechts auch die Klageberechtigung zu337, wenn auch nur in Form der Verfassungsbeschwerde mit all den Einschränkungen, die nach Art. 93 I Nr. 4a GG und dem BVerfGG mit diesem Rechtsbehelf verbunden sind. Hier kann nur das BVerfG kontrollieren, ob das Fachgericht die gesetzgeberische Grundentscheidung bei der Rechtsanwendung oder -fortbildung respektiert hat, ob also die zur Begründung der Entscheidung angestellten Erwägungen erkennen lassen, dass es objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen.
335 336 337
BVerfGE 1, 418, 429; 4, 1, 7; 18, 85 92 f; ständige Rechtsprechung. Michael/Morlok (Fn. 78), Rn. 753 und 783. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 7), § 46.
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3. § 26 DRiG als Sanktionsnorm das sonstige richterliche Verhalten betreffend Was das abweichende Verhalten des Richters bei seiner Spruchtätigkeit anbelangt, käme, als – repressive – Sanktionsnorm grundsätzlich auch die Vorschrift des § 26 DRiG in Betracht, welche die Dienstaufsicht über die Richter regelt. Nach allgemeiner Ansicht bezieht sich diese Norm jedoch ganz im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung des preußischen Großen Disziplinarsenats, der die Disziplinierung des Richters auch im Falle einer Pflichtwidrigkeit bei dessen Spruchtätigkeit für zulässig erklärte338, schon von vornherein nicht auf die Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG etc. bzw. auf das in diesen Artikeln normierte Postulat der Gesetzesbindung. Vielmehr ist anerkannt, dass sie nur das außerdienstliche Verhalten des Richters und dessen besondere Pflichten nach §§ 38 ff DRiG und dem BBG betrifft und damit nicht auch den von der Garantie des Art. 79 I GG umfassten „Kernbereich“ der richterlichen Tätigkeit, die Spruchtätigkeit339. Dies hat zur Folge, dass die Dienstaufsicht gezwungen ist, auch solche Beschwerden abzuwehren, die an sich aufgrund offensichtlicher Kunstfehler des Richters berechtigt wären340. Dazu wird von Schmidt-Räntsch – allerdings ziemlich vage – Folgendes ausgeführt: Bei der Beaufsichtigung des Verhaltens der Richter innerhalb der richterlichen Tätigkeit sei die Dienstaufsicht „eng begrenzt“. Die durch die Unabhängigkeit gekennzeichnete Stellung des Richters lasse eine uneingeschränkte Disziplinierung von Pflichtwidrigkeiten bei einer richterlichen Entscheidung nicht zu. Zwar könne der Rechtssuchende erwarten, dass ein pflichtgemäß handelnder Richter nach bestem Wissen und Gewissen seine Sache entscheidet. Eine volle disziplinarische Verantwortung des Richters auch bei der richterlichen Entscheidung würde jedoch zu einem „widersprüchlichen Ergebnis“ führen, nämlich insofern, als ihm andernfalls im Wege des Disziplinarverfahrens ein Verhalten vorgeworfen werden könne, dass ihm nach § 26 DRiG nicht vorgehalten werden dürfte (was offenkundig auf einem Zirkelschluss beruht)341. Erst unter der Rn. 18 vor § 63 heißt es dann deutlich, der Inhalt der Entscheidung könne Gegenstand eines Disziplinarverfahrens nur sein, wenn der Richter das Recht im Sinne des § 339 StGB gebeugt habe. § 26 DRiG scheidet daher als Rechtsfolgeanordnung bezogen auf jene Grundrechtsartikel aus, so wenig zwingend dies auch erscheinen mag. Immerhin räumt Schmidt-Räntsch ein, dass die Kernbereichstheorie, an der der BGH festhalte, „in ihrer ,reinen Form‘ in einer Reihe von Fällen zu Ergebnissen (führe), die weder der Öffentlichkeit noch juristisch vermittelbar“ seien. Noch 1977 hatte das Dienstgericht beim BGH in den Fällen einer „offensichtlich fehlerhaften Amtsführung“ eine Ausnahme von dieser Auslegung des
338 339 340 341
Schmidt-Räntsch, DRiG, 6. Aufl. 2009, vor § 63 Rn. 15. BGHZ 42, 163, 169 f; 67, 184, 188; 90, 41, 45. Röhl (Fn. 173), Fehler in Gerichtsverfahren, S. 23. Schmidt-Räntsch (Fn. 338), § 26 Rn. 22 ff und 28 – 34 sowie Rn. 15 – 20 vor § 63.
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§ 26 DRiG angenommen342. Der Dienstvorgesetzte dürfe dem Richter im Falle eines „jedem Zweifel entrückten, offensichtlichen Fehlgriffs“ vorhalten, dass er sich nicht gesetzestreu verhalten habe. Demgegenüber wird heute die Ansicht vertreten, dass sich die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nicht auf den Kernbereich der richterlichen Tätigkeit beschränkt, sondern sich ausnahmslos auf alle richterlichen Tätigkeiten bezieht mit der Folge, dass der sachliche Inhalt einer jeden richterlichen Tätigkeit unangetastet bleiben müsse343. Die Judikatur, die eine Ausnahme von der Kernbereichslehre zuließ, hat nach zutreffender Ansicht Wittrecks trotz ihrer Systemwidrigkeit die Schwäche der Kernbereichslehre aufgezeigt344. Sie habe auch in die richtige Richtung gewiesen, nämlich insofern, als die unabdingbare Bindung des Richters an Recht und Gesetz neben der allgemeinen Justizgewährungspflicht die „zentrale Rechtfertigung der Dienstaufsicht“ darstelle. Es spräche vieles dafür, „an die Stelle der gesetzesfernen und in ihren Ergebnissen oft genug zufällig anmutenden Kernbereichslehre des BGH ein einheitliches Modell zu setzen, das die gesamte richterliche Tätigkeit der Dienstaufsicht unterwirft, diese aber wiederum an die Unabhängigkeitsgarantie bindet“. In der Tat wäre dies ein Gedanke, der umgesetzt werden sollte. Dem Richter bleibt gemäß § 26 III DRiG immer die Möglichkeit, gegen Maßnahmen der Dienstaufsicht das Richterdienstgericht anzurufen. Eine spürbare Verkürzung der richterlichen Unabhängigkeit wäre daher nicht zu besorgen.
III. Lückenhafte Sanktionierung der Verletzung der Verfahrensgrundrechte Im Folgenden ist zu unterscheiden zwischen der unmittelbar an den Rechtsstab als Meta-Kontrollinstanz gerichteten Sanktionsnorm des § 321a ZPO und den anscheinend oder auch nur scheinbar nicht vorhandenen (ungeschriebenen) Sanktionsnormen die sonstigen Verfahrensgrundrechte betreffend. 1. Die Ausnahmevorschrift des § 321a ZPO bei Gehörsverletzungen Einzig gesetzlich geregelt ist der Fall der Gehörsverletzung, da insoweit der Gesetzgeber die bislang sanktionslose Verhaltensnorm des Art. 103 I GG durch die Einführung des § 321a ZPO ausdrücklich mit einer Rechtsfolgeanordnung (der restitutiven Art) dahingehend ausstattete, dass bei einer entscheidungserheblichen Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs der judex a quo verpflichtet ist, 342 BGH NJW 77, 437 mit Anm. Wolf, NJW 77, 1063; Schmidt-Räntsch (Fn. 338), § 26 Rn. 27. 343 Schmidt-Räntsch (Fn. 338), § 26 Rn. 33. 344 Wittreck (Fn. 139), S. 146 f.
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zugunsten der betroffenen Partei ein Abhilfeverfahren durchzuführen. § 321a V 1 ZPO ist somit als Sanktionsnorm zu verstehen, die dem Rechtsstab in einem solchen Fall die geeignete und angemessene Wiedergutmachung des vorausgegangenen fehlerhaften richterlichen Verhaltens dem Betroffenen gegenüber vorschreibt. Auch wenn deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen hinreichend klar bestimmt wurden, bestehen angesichts der auffällig geringen Erfolgsquote der Anhörungsrüge als Sonderrechtsbehelf doch starke Zweifel an ihrer faktischen Wirksamkeit, nämlich zum einen schon aufgrund ihrer mangelhaften Konzeption und zum anderen aufgrund ihrer offenbar fehlenden Akzeptanz bei der Richterschaft. 2. Keine Sanktionierung der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte Dagegen gibt es bislang keinerlei Anzeichen dafür, dass der Gesetzgeber beabsichtigt, zur Komplettierung des Rechtsschutzes in den nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren einen außerordentlichen Rechtsbehelf auch für die Fälle der Verletzung der übrigen Verfahrensgrundrechte in die ZPO einzuführen. Demnach ist die Vorschrift des § 321a ZPO insoweit sogar als verfassungswidrig zu betrachten, als sie es in Bagatellstreitigkeiten nicht zulässt, auch die Verletzung jener sonstigen Verfahrensgrundrechte zu rügen345. Fraglich ist daher, ob hier eine Rechtsschutzlücke vorliegt, die es etwa durch analoge Anwendung des § 321a ZPO auf die übrigen Verfahrensgrundrechte auszufüllen gilt. Schließlich waren es doch gerade diese Verstöße gewesen, die dazu führten, dass die Fachgerichte unter ausdrücklicher Billigung des BVerfG jene ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe entwickeln konnten. Insofern lag es ja auch durchaus nahe, vom Fortbestehen dieser Sonderrechtsbehelfe auszugehen346. Dementgegen hat das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30.04. 03 ausdrücklich auf den Grundsatz der Rechtsmittelklarheit hingewiesen, wonach die Rechtsbehelfe „in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar“ sein müssen. Dieser Grundsatz steht daher der weiteren Anerkennung der ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe entgegen, so vor allem der außerordentlichen Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit. Aber auch was die analoge Anwendung der §§ 321a ZPO, 152a VwGO usw. anbelangt, muss festgestellt werden, dass sich diese trotz des erheblichen Bedürfnisses der Rechtspraxis und trotz der beachtlichen Argumente u. a. Schnabls347 bislang in keiner Weise gegen die Richterschaft durchgesetzt hat. Insofern bleibt abzuwarten, ob es hier noch zu einer Nachbesserung seitens des Gesetzgebers kommt. Feststeht jedenfalls, dass es verfassungsrechtlich dringend geboten ist, die 345 So Raeschke-Kessler, Die Rechtsmittelreform im Zivilprozess von 2001 – ein Fortschritt?, AnwBl 2004, 321, 324. 346 So Bloching/Kettinger (Fn. 257), NJW 2005, 860, 863; Seer/Thulfaut, BB 2005, 1085. 347 D. Schnabl (Fn. 187), S. 93 ff.
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bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten auf die Fälle der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte zu erweitern, da insoweit die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde keineswegs ausreicht348. 3. Kein effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten Ebenso wie die Regelungen über die Anhörungsrüge stellt sich auch die Vorschrift über die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 5 ZPO als Sanktionsnorm der restitutiven Art dar. Auch sie ist an den Rechtsstab als Kontrollorgan gerichtet und bezieht sich, wenn auch nicht ausdrücklich, so jedenfalls ihrer ratio entsprechend auf den Kerngehalt der in Art. 20 III und 97 I 2. Halbs. GG enthaltenen Sollensanordnung, elementare Rechtsverstöße, Rechtsmissbrauch und blanke Willkür strikt zu unterlassen. Die von ihr vorgesehene Sanktion, die Aufhebung des angefochtenen Urteils, greift allerdings wie gesagt nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 581 I ZPO erfüllt sein sollten. Da es sich bei der richterlichen Spruchtätigkeit anerkanntermaßen nicht um einen reproduzierenden, sondern um einen rechtsschöpferischen Akt handelt, bei dem eine Rechtsfortbildung durch Rechtsfindung in den vom Gesetzgeber nicht geregelten Fällen keineswegs ausgeschlossen sein soll349, lässt sich naturgemäß im Einzelfall nur schwer beurteilen, wann eine Entscheidung als noch gerade vertretbar und wann sie als schlechthin nicht mehr akzeptabel zu bewerten ist. Demzufolge hat der Gesetzgeber auch nur eine einzige, extrem gesetzwidrige Verhaltensweise des Richters als so schwerwiegend erachtet, dass er sich veranlasst sah, sie sogar unter Strafe zu stellen, d. h. förmlich zu kriminalisieren, nämlich eben die Rechtsbeugung des § 339 StGB. Damit aber wollte er der freien Rechtsfindung der Judikative durchaus eine klare, wenn auch konkretisierungsbedürftige Grenze setzen. Die Tatsache, dass er diese Straftat sogar als Verbrechen mit der Folge des Amtsverlustes gemäß § 45 I StGB einstufte, zeigt jedenfalls, welch außerordentlich hohen Stellenwert er der Aufrechterhaltung der Integrität und Unparteilichkeit der Rechtspflege und damit deren Schutz gegen Angriffe „von innen“ ursprünglich beigemessen hat. Umso seltsamer erscheint, dass es einer einzelnen Prozesspartei in einer Zivilsache dennoch so gut wie nie gelingt, selbst einen angeblich „jedem Zweifel entrückten, offensichtlichen Fehlgriff“ des Richters prozessual daraufhin überprüfen zu lassen, ob dieser angebliche Fehlgriff nun den Tatbestand des § 339 StGB erfüllt hat oder nicht. Selbst in den Fällen, in denen die Partei an einer Bestrafung des Richters gar nicht interessiert ist, weil es ihr allein um die Aufhebung der Entscheidung geht, muss sie zunächst einmal durch eine Strafanzeige gegen diesen dafür Sorge tragen, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wird, damit überhaupt ein Strafurteil 348 A. Kettinger, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten – Die Flucht des Gesetzgebers vor seiner Verantwortung, ZRP 2006, 152; ders., Die Verfahrensgrundrechtsrüge, 2007. 349 BVerfGE 71, 354.
§ 5 Durch die Interventionen in die ZPO bewirkte Veränderungen
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gegen ihn ergeht, auf das sie sich dann in ihrer Restitutionsklage ggf. beziehen kann. Zu einer Anklageerhebung wird jedoch die Staatsanwaltschaft jedenfalls aus Opportunitätsgründen nicht bereit sein, sofern sie das gegen den Richter eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht schon sofort mangels Tatverdachts wieder eingestellt haben sollte. Zwar hat dann die Partei noch die Möglichkeit, durch Einleitung eines Klageerzwingungsverfahrens nach § 172 StPO beim Oberlandesgericht selbst die Voraussetzungen für eine Anklage herbeizuführen. Aber auch damit wird sie scheitern, selbst wenn sie die diffizilen Zulässigkeitserfordernisse dieser Klage erfüllen sollte350, da das Oberlandesgericht als Zivilgericht bei der Beurteilung des Sachverhalts im Zweifel nicht von der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH abweichen wird. Diese Umstände erweisen sich somit letzten Endes als praktisch unüberwindbare Zugangssperre. Damit stellt sich die Frage, ob in den Fällen judikativen Unrechts ein Strafjustizgewährungsanspruch der Partei zumindest auf Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens gegen die Staatsanwaltschaft anzuerkennen ist (dazu § 7 II. 2.).
§ 5 Schilderung der durch die Interventionen in die ZPO bewirkten Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit Im Folgenden ist zunächst anhand ausgewählter Entscheidungen festzustellen, inwieweit es zum einen dem Gesetzgeber gelungen ist, mit der Anhörungsrüge den tragenden Gründen des Plenumsbeschlusses entsprechend einen funktionsgerechten Rechtsbehelf zu implementieren, und zum anderen, inwieweit sich die Gerichte auch dazu bereit gefunden haben, der Vorschrift des § 321a ZPO durch sachgemäße Anwendung die ihr zugedachte Geltung zu verschaffen. Anschließend soll dann entsprechend mit den Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO, 339 StGB verfahren werden, wobei nur jetzt schon gesagt werden muss, dass die gefestigte Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB trotz der an ihr geübten Kritik keine Änderung erfahren hat. Insoweit kann daher nur die fortgeschrittene „Entkriminalisierung“ dieser Norm und die damit einhergegangene Verkümmerung des § 580 Nr. 5 ZPO zu einem nudum jus empirisch belegt werden. Erst aufgrund des festgestellten Befunds kann dann nach den Ursachen gesucht und beurteilt werden, ob es geboten erscheint, den „Rechtsschutz gegen den Richter“ dem unabweisbaren Bedürfnis des Rechtsverkehrs entsprechend auszubauen.
350
Dazu § 6 II. 3.
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
I. Evaluierung der Vorschrift des § 321a ZPO Die Einführung der Anhörungsrüge in die ZPO und deren notwendige Nachjustierung durch das Anhörungsrügengesetz und die Justizmodernisierungsgesetze auf Veranlassung des BVerfG war sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung und schien zunächst auch einen Fortschritt in den Bemühungen um eine weitere Effektuierung des Rechtsschutzes in Zivilsachen darzustellen. Für die Rechtspraxis kommt es jedoch darauf an, ob diese (weitere) „Intervention“ des Gesetzgebers in die Verfahrenswirklichkeit von den Gerichten inzwischen auch in geltendes (d. h. im Sinne Eugen Ehrlichs „lebendes“) formelles Recht umgesetzt wurde. Folglich ist nunmehr als zweite Aktion der Evaluationsdurchführung der Frage nachzugehen, ob sich jener bescheidene Ansatz eines „Rechtsschutzes gegen den Richter“ auch in der Rechtspraxis als durchsetzbar erwiesen hat, d. h., inwieweit sich aufgrund der neueren Rechtsprechung Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit feststellen lassen, die sich auf die eingangs geschilderten „Interventionen“ zurückführen lassen. Inzwischen ist das Schrifttum zur Anhörungsrüge mit massiver Kritik am Gesetzgeber, dem vorgeworfen wird, den Fachgerichten die Verpflichtung zur internen Selbstkontrolle in völliger Verkennung der Eignung des § 321a ZPO zur Realisierung der mit ihm verfolgten Ziele auferlegt zu haben, nahezu unübersehbar geworden351. Kurze Zeit nach der ZPO-Reform 2002 wurden von einigen Rechtswissenschaftlern sogar beachtliche Versuche unternommen, die Implementation des § 321a ZPO auf empirischer Basis zu überprüfen. Obwohl diese Arbeiten nicht explizit der Effektivitäts- und Implementationsforschung zugeordnet wurden, stellen sie faktisch Gesetzesevaluationen dar, die es hier zwingend zu berücksichtigen gilt. Insofern hat Röhl zu Recht darauf hingewiesen, dass auch solche „Äußerungen unter fremder Flagge“, wie sie sich als kritische Jurisprudenz in rechtsdogmatischen, politik- oder verwaltungswissenschaftlichen Schriften finden, der Rechtssoziologie durchaus zugerechnet und von ihr vereinnahmt werden sollten352. 1. Bisherige Ansätze zu Evaluationen die Anhörungsrüge betreffend Von diesen Arbeiten ist insbesondere der „Erfahrungsbericht“ Vollkommers aus dem Jahre 2004 hervorzuheben353, aber auch der besonders kritische Beitrag Schneiders über die Gehörsrüge als „legislative Missgeburt“354. Die durchweg zutreffenden Feststellungen dieser Autoren gilt es zunächst wiederzugeben. Nach Diekmann sollte zwar bei der Hypothesenprüfung an die Stelle der Beachtung aller 351 Siehe insbesondere Kirchberg (Fn. 253), Die Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag, FS Krämer, 2009, S. 43, sowie die unter der Fn. 112 angeführte Literatur. 352 So eine Äußerung von Klaus F. Röhl 2010 auf seinem Webblog „rsozblog.de“. 353 Vollkommer in FS für Musielak 2004, S. 619. 354 Schneider (Fn. 112), FS Madert 2006, S. 187 ff.
§ 5 Durch die Interventionen in die ZPO bewirkte Veränderungen
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sich bietenden Informationen als Prüfkriterium nicht die Übereinstimmung der eigenen Hypothese mit den Ansichten einer allseits anerkannten Autorität treten355. Darüber hinaus gibt es jedoch keinen Grund, diese Feststellungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und sie nach eigener Einschätzung bei der Überprüfung der eigenen Hypothese nicht mit zu verwerten. a) Der Erfahrungsbericht Vollkommers aus dem Jahr 2004 Vollkommer publizierte seinen Bericht unter dem Titel „Erste praktische Erfahrungen mit der neuen Gehörsrüge gemäß § 321a ZPO“. In ihm wertete er insgesamt 16 unveröffentlichte Entscheidungen der Amtsgerichte München, Köln, Nürnberg und Schwabach zu § 321a ZPO aktenmäßig aus und kam dabei zu Ergebnissen, die heute niemand mehr zu überraschen vermögen: aa) Feststellung der Problematik des Anhörungsrügenverfahrens Wie schon der Titel besagt, beschreibt der Autor lediglich den ersten praktischen Umgang der Richterschaft mit der neuen Vorschrift, wobei er anfangs darauf hinweist, dass in jenen 16 Abhilfeverfahren nicht die unbeabsichtigten Gehörsverletzungen den Schwerpunkt der Rügen bildeten, sondern die Sachverhaltserfassung und die „bewussten“356 Verfahrens- und Entscheidungsfehler wie das Übergehen bzw. die Nichtberücksichtigung von entscheidungserheblichem Vorbringen und Beweisangeboten, die unterbliebenen Hinweise gemäß § 139 ZPO und der Erlass von Überraschungsentscheidungen. Dennoch behandelt der Bericht bereits exakt die wesentlichsten Probleme des Anhörungsrügenverfahrens, die sinngemäß wie folgt beschrieben werden: – Zunächst bestünde die von den rechtspolitischen Gegnern der Einführung des § 321a ZPO geäußerte Befürchtung der rechtsmissbräuchlichen Verwendung der Rüge als verkappte Berufung. – Dann läge das Hauptproblem des Verfahrens schon per se in der Unzulänglichkeit der Selbstkontrolle357, da der Richter, der gerügt wurde, einen der tragenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätze verletzt zu haben, „psychologisch in eine Verteidigerposition gedrängt (werde), die er durch eine begründete Zurückweisung der Anhörungsrüge rechtfertigen“ werde. – Ferner gäbe es Schwierigkeiten beim Nachweis der Gehörsverletzung in den Fällen des Übergehens des Kerngehalts des Parteivortrags aufgrund der Tendenz zur
355
Diekmann (Fn. 98), S. 63 f. Siehe zu diesem Begriff Schnabl (Fn. 187), S. 211; Bloching/Kettinger (Fn. 257), S. 863. 357 Vollkommer (Fn. 353), S. 653 f. 356
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
Überspannung der Formalvoraussetzungen des notwendigen Inhalts der Rüge vor allem bezüglich der Entscheidungserheblichkeit. – Schließlich sei entgegen § 321a IV 4 ZPO („kurz zu begründen“) häufig eine nur formelhafte Zurückweisung der Rüge festzustellen ohne jede Auseinandersetzung mit dem (oft umfangreichen) Rügevorbringen. bb) Die Schlußfolgerungen Vollkommers aus den Fallanalysen Obwohl diese Erkenntnisse nur auf der Grundlage einer minimalen Anzahl ausgewählter Entscheidungen gewonnen wurden und in dem Bericht nicht als Schlussfolgerungen einer absolut methodengerecht durchgeführten Datenanalyse präsentiert werden, können sie dennoch durchaus den Anspruch erheben, als Thesen empirisch verifiziert worden zu sein358: – Ob die Befürchtung gerechtfertigt sei, die Anhörungsrüge werde als verkappte Berufung missbraucht, sei zuverlässig erst nach einer empirischen Untersuchung zu beantworten. Wenn „man einerseits dem Richter große Freiheiten bei der ,Verbescheidung‘ des Parteivorbringens in den Urteilsgründen“ zugestehe und ihm darüber hinaus auch noch die nachträgliche Erklärung gestatte, „er habe das Vorbringen doch zur Kenntnis genommen und erwogen und hätte auch ohne den Verfahrensfehler keine andere Entscheidung getroffen“, so müsse man auch „andererseits der Partei, die ihren vorgetragenen Standpunkt im Urteil ,nicht wiederfindet‘, zubilligen, die Gehörsrüge zu erheben“. Es gehe daher nicht an, „die ,wegen angeblicher Gehörsverletzung ohne berechtigten Hintergrund‘ und die ,von Rechtsanwälten evtl. auch aus Haftungsgründen‘ erhobenen Rügen in die Nähe von Missbräuchlichkeit und Querulantentum zu rücken“. – Da bei den nicht berufungsfähigen Urteilen gemäß § 313a I 1 ZPO kein Tatbestand geschrieben werden müsse, fehle der Begründungszwang als Mittel zur Sicherung des rechtlichen Gehörs und als Hilfe für den Nachweis einer Gehörsverletzung359. Denn „aus dem ,Schweigen‘ der ohnehin knappen Entscheidungsgründe (werde) man in der Regel nicht auf eine in der Unvollständigkeit der Begründung zum Ausdruck kommende Gehörsverletzung schließen können“. In der Praxis werde von der Erleichterung der §§ 313a I 1 mit 511 II ZPO reichlich Gebrauch gemacht. – Die geringe Erfolgsquote der Rüge habe ihre Ursache vor allem in der strukturellen Schwäche des Rügeverfahrens, „das den judex a quo gleichsam zum Richter über die eigenen Gehörsverletzungen setzt“, weshalb „dessen Erfolg wesentlich von der ,Mitwirkung‘ des Richters bei der Feststellung des Verstoßes und seiner Entscheidungserheblichkeit abhängt“. Auf dessen Kooperation sei jedoch keineswegs Verlass, zumal dann der Fehler auch noch nach außen hin dokumentiert werden 358 359
Vollkommer (Fn. 353), S. 665 ff. Vollkommer (Fn. 353), S. 630 f.
§ 5 Durch die Interventionen in die ZPO bewirkte Veränderungen
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müsste. Das Ablehnungsverfahren sei nicht dazu in der Lage, dieser Schwäche abzuhelfen. – Effektiv sei das Abhilfeverfahren nur in den sog. Pannenfällen, also in den Fällen der „unbeabsichtigten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör“, problematisch dagegen bei „bewussten“ Fehlern des Richters, also in den Fällen, in denen dieser mit Problembewußtsein handelte und dabei falsche rechtliche Erwägungen zu dem Verfahrens- oder Entscheidungsfehler führten. Denn die Praxis zeige, dass bei einem Richter, der im Ausgangsverfahren das Recht auf Gehör (z. B. durch Unterlassen von Hinweisen gemäß § 139 ZPO) gröblich verletzt hat, wenig bis keine Neigung bestehe, durch Eingeständnis seines Fehlers das versagte Gehör im Abhilfeverfahren nachzuholen. In Bagatellsachen könne man sich mit dem „geminderten“ Rechtsschutz des Abhilfeverfahrens durch den judex a quo begnügen360. Es wäre aber „ein Irrweg …, im Ausbau des § 321a ZPO zu einem für sämtliche nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen auch der höheren Instanzen geltenden allgemeinen Prinzip die Lösung des Problems des innerprozessualen Grundrechtsschutzes zu suchen“. Dennoch ist der Gesetzgeber diesem „Irrweg“ auf Anregungen des BVerfG gefolgt und ließ die Gehörsrüge gegen jede Entscheidung gleich welcher Instanz zu, soweit die ZPO insoweit kein Rechtsmittel vorsah. Zwar war dies durchaus konsequent, beruhte jedoch auf einer völlig unrealistischen Vorstellung von der Bereitschaft der Richter zu einer effektiven Selbstkontrolle. b) Die massive Kritik Egon Schneiders am Anhörungsrügengesetz Schneider bemängelt vor allem die verfehlte Zielsetzung des ZPO-ReformG 2002 sowie zahlreiche handwerkliche Fehler des Gesetzgebers: Bei Einführung der Anhörungsrüge aufgrund jenes Reformgesetzes sei es Ziel des Gesetzgebers gewesen, das BVerfG „von der Korrektur objektiver Verfahrensfehler“ zu entlasten, „die einfacher und ökonomischer instanzintern behoben werden“ könnten (BT-Drs. 15/ 3706). Denn die Duldung der Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit und der übrigen von den Fachgerichten entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe durch das BVerfG habe keineswegs ausgereicht, ein weiteres Ansteigen der Beschwerden zu verhindern. Dem sollte nunmehr mit der gesetzlich geregelten Anhörungsrüge begegnet werden. Wie ähnlich schon von Vollkommer festgestellt, sei es hierbei jedoch zu gravierenden Implementationsfehlern gekommen. Im Einzelnen: – Schon bei der Formulierung der Vorschrift sei verabsäumt worden, zwischen den versehentlichen, fahrlässigen und vorsätzlichen Gehörsverletzungen zu differenzieren, also vor allem zwischen den sog. Pannenfällen und den „bewussten“ 360
Vollkommer (Fn. 353), S. 654, mit Hinweis auf K.G. Deubner, JuS 2003, 896.
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
Verstößen gegen Art. 103 I GG361. Denn die Reaktion der Richter falle je nach der Schwere des Vorwurfs sehr verschieden aus. So würden diese zwar bereitwillig Fehler einräumen, die ihnen rein versehentlich unterlaufen sind, doch seien sie im Zweifel keineswegs geneigt, auch „bewusst“ falsche Entscheidungen als Verstöße gegen die Verfassung einzugestehen. Vielmehr würden gerade in diesen Fällen bei ihnen Abwehrmechanismen aktiviert wie das schlichte Leugnen des Fehlers oder dessen Entscheidungserheblichkeit. Diese unterschiedlichen Verfahrensverstöße gleichbehandelt zu haben, sei eine unbegreifliche Nachlässigkeit des Gesetzgebers gewesen. Allem Anschein nach waren also die Gerichte davon ausgegangen, die Behandlung der „bewussten“ Fehlgriffe weiter dem BVerfG überlassen zu können. Sinn und Zweck der Gehörsrüge war aber selbstverständlich auch der – vorgelagerte – Grundrechtsschutz der Parteien. Schließlich waren dem judex a quo in § 321a ZPO bezogen auf mögliche Verstöße seinerseits gegen Art. 103 I GG keineswegs eingeschränkte, sondern umfassende Kontrollbefugnisse eingeräumt worden, die es pflichtgemäß zu nutzen galt, die wider Erwarten aber gar nicht genutzt wurden. Schneider bezeichnete daher die Begründung des Gesetzesentwurfs, in der die Rechtswirklichkeit grundlegend verkannt worden sei, „als zu Papier gebrachtes Wunschdenken“362. – Vor der Implementierung des § 321a ZPO habe der Gesetzgeber das ihm verfassungsrechtlich obliegende Vorprüfungsgebot unbeachtet gelassen. Die gravierenden Mängel der Vorschrift, die sich zeigten, wären klar vorhersehbar gewesen. Auch dieser Vorwurf ist berechtigt: Das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entnommene Gebot der Gesetzesfolgenabschätzung ist zwar vorrangig bei Eingriffen des Gesetzgebers in die Grundrechte zu beachten, während es hier um eine Programmintervention in Form der Erweiterung des Rechtsschutzes zugunsten der Prozessparteien ging. Dabei hätte aber auch der sachgemäße Vollzug der Vorschrift durch den judex a quo sichergestellt werden müssen. Gerade daran scheiterte jedoch die Reform. – Die ohnehin bereits äußerst begrenzte Bereitschaft der Richter, eigene Fehler einzugestehen, sei noch zusätzlich dadurch eingeschränkt worden, dass in § 321a IV 4 ZPO der auf eine Gehörsrüge ergangene Beschluss für unanfechtbar erklärt wurde. Sinnvoller wäre es gewesen, dem Vorschlag Gravenhorsts363 zu folgen, den judex a quo im Falle der Nichtabhilfe zu verpflichten, die Rüge dem übergeordneten Gericht zur Entscheidung vorzulegen. – An diesen Mängeln habe auch die Neuregelung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügengesetz nichts geändert, weil damit nur den Mindestanforderungen der BVerfGE 107, 395 entsprochen worden sei. Hinzugekommen sei auch noch, dass 361 362 363
Dazu Schnabl (Fn. 187), S. 209 ff mit Hinw. auf Vollkommer (Fn. 353), S. 522. E. Schneider (Fn. 112), Die Gehörsrüge, S. 189. Gravenhorst, MDR 2003, 888.
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der beantragte Beschluss, der nach der früheren Fassung des § 321a IV 4 ZPO noch entsprechend § 313 I Nr. 6, III ZPO zu begründen war, nach der Neufassung nur noch „kurz“ zu begründen sei. Die Neuregelung sei daher nichts als „legislatives Flickwerk“. c) Weitere kritische Äußerungen zur Vorschrift des § 321a ZPO Was die übrige umfangreiche Kritik an der Anhörungsrüge betrifft, so seien insoweit nur die krasser formulierten Kernsätze folgender Autoren abgekürzt wiedergegeben: Braun zur Fristenregelung des § 321a ZPO: Diese Regelung offenbare „ein Chaos unterschiedlicher Wertungen, das so nicht bestehen bleiben kann, wenn der Rechtssuchende am Recht nicht verzweifeln soll“364. Kirchberg365: Die Anhörungsrüge habe sich „ganz überwiegend als erfolglos bzw. ineffektiv“ erwiesen. Derselbe zu § 321a IV 5 ZPO: Zur Entlastung der BVerfG sollte der Beschluss „nicht nur ,kurz‘, sondern jedenfalls so umfangreich begründet werden, dass ein präsumtiver Beschwerdeführer die Chancen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens wegen Verletzung des Art. 103 I GG einigermaßen realistisch einschätzen kann und … tatsächlich in die Lage versetzt wird, sich inhaltlich mit der Begründung … auseinanderzusetzen. Sangmeister366 : „Die Annahme des BVerfG, wer bei Gericht formell ankommt, solle auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden, bleibt angesichts der alltäglichen Gehörsverletzungen ein uneinlösbares Heilsversprechen“. Derselbe zur instanzinternen Selbstkontrolle: „Nicht dass auch Richter Fehler machen, ist das Problem, sondern, dass sie diese nicht einräumen … und nicht zur Verantwortung gezogen werden können“. Schellhammer zu § 321a IV 5 ZPO: „Wieder einmal hat sich der Gesetzgeber der trügerischen Hoffnung hingegeben, eine kurze Begründung mache weniger Mühe und koste weniger Zeit als eine lange, und dies ausgerechnet im Umgang mit dem Vorwurf, das rechtliche Gehör sei verletzt worden“. Derselbe zur instanzinternen Selbstkontrolle: „Die Einsicht des Gerichts in den eigenen Fehler bleibt regelmäßig ein frommer Wunsch, solange die Zurückweisung der Rüge unanfechtbar ist“367. Zuck zum Anhörungsrügengesetz: Dieses sei „eine gesetzliche Anleitung zum Unglücklichsein“368. Dagegen Treber in NJW 2005, 97, 99: „Dass es das Vermögen des Richters generell übersteigt, einen Irrtum – und gar schwarz auf weiß – zugeben zu müssen, ist eine nicht näher belegbare Vermutung.“
364
MK-Braun (Fn. 36), am Ende der Rn. 22 zu § 579 ZPO. Kirchberg (Fn. 253), S. 46 und 57. 366 Sangmeister (Fn. 112), S. 659; ders., „Oefters todtgesagt bringt langes Leben“ – Doch noch ein (kleiner) Hoffnungsschimmer für die Anhörungsrüge?, NJW 2007, 2363, 2369. 367 Schellhammer, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl. 2010, Rn. 833. 368 Zuck, Die Anhörungsrüge im Zivilprozess, NJW 2005, 1226, 1229. 365
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2. Ablehnende Haltung der Justiz zur Anhörungsrüge Damit ist nunmehr die gegenwärtige Verfahrenswirklichkeit des „Rechtsschutzes gegen den Richter“ im Hinblick auf etwaig eingetretene Veränderungen zu beschreiben. Dabei darf auch die erneute Änderung der seit der ZPO-Reform 2002 äußerst umstrittenen Vorschrift des § 522 II ZPO durch das Gesetz vom 07.07.11 nicht übergangen werden, die zu einer widersprüchlichen Regelung der Angreifbarkeit der Beschlusszurückweisung substanzloser Berufungen geführt hat. Gerade diese Beschlusszurückweisungen nach § 522 II ZPO a.F. waren das Hauptangriffsziel der Anhörungsrüge. Durch die Änderung ist deren Anwendungsbereich auf Berufungszurückweisungen in Fällen mit einem Beschwerdewert bis zu einschließlich 20.000 E extrem reduziert worden. Dadurch, dass dieser Sonderrechtsbehelf künftig nur noch zur Klärung von Fällen mit geringem Streitwert als Mittel zur Rechtsschutzgewährleistung angeboten wird, ist deutlich geworden, dass er inzwischen selbst seitens der Justiz als weitgehend verfehlt und unbrauchbar eingeschätzt wird. a) Die Rechtsprechung zur Garantie des rechtlichen Gehörs Der in Art. 103 I GG verbürgte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht dient nicht nur der Abklärung der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung, sondern auch der Achtung der Würde des Menschen, der die Möglichkeit haben muss, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten369. Aufgrund seiner Pflicht zur Kenntnisnahme hat sich das Gericht ausdrücklich mit dem Parteivorbringen in den Entscheidungsgründen zu befassen, auch wenn das nicht für jedes Vorbringen gilt370. Im Zweifel wird jedoch davon ausgegangen, dass dies zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen wurde. Demzufolge sind Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung des Art. 103 I GG nach Zurückweisung der Anhörungsrüge nur äußerst selten erfolgreich, zumal das BVerfG die Gehörsverletzung dahingestellt bleiben lässt, wenn es der Sache selbst den Erfolg versagt371. Erfolgsaussichten bestehen nur, wenn das Fachgericht auf den Kerngehalt des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingegangen ist, so dass dies auf eine Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen lässt, es sei denn, der Vortrag war unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert. So hat der BGH einen Verstoß gegen Art. 103 I GG bejaht, wenn die Begründung der angefochtenen Entscheidung nur den Schluss zulasse, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Parteivortrags erfassenden Wahrnehmung beruht372. Gleiches gilt für die so genannten Überraschungsentscheidun369
BVerfG NJW 1980, 2698. BVerfG MMR 2009, 605. 371 BVerfGE 6, 334, 340; vgl. dazu Zuck (Fn. 112), AnwBl. 2008, 168; ders., Praxishinweise zur zivilprozessualen Anhörungsrüge, MDR 2011, 399, 400. 372 BVerfGE 86, 122, 133; BGH NJW 2009, 2137 mit Anm. von Mark und Schütt. 370
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gen. Diese zu vermeiden, ist Zweck der richterlichen Hinweispflicht, die damit zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör konkretisiert373. Von einem Überraschungsurteil geht das BVerfG374 jedoch nur aus, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, mit denen „auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte“. Die Gehörsverletzung setzt also eine gewisse Evidenz, d. h. eine gravierende Enttäuschung prozessualen Vertrauens voraus. Die Partei muss daher in ihrer Rüge besondere Umstände des Einzelfalls aufzeigen, aus denen deutlich wird, dass ihr tatsächliches und rechtliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls bei der Entscheidung nicht erwogen wurde, d. h., sie müsste an sich sogar noch schlüssig darlegen, dass ihr Vorbringen nicht einmal als unwesentlich beurteilt wurde. Obwohl es auch aufgrund der umfassenden Rechtsprechung zu Art. 103 I GG nicht geschehen sollte, dass relevanter Vortrag der Partei bei der Entscheidungsfindung übergangen wird, ist vor Gericht keineswegs sichergestellt, dass dieser Vortrag auch tatsächlich Berücksichtigung findet, so z. B. der Sachvortrag zu streitigen Fragen des Vertragsabschlusses (BGHZ 173, 40), der Anfechtung (BGH, Beschl. v. 27.09.07 – V ZR 9/07 – juris) oder der Schadenshöhe (BGH RuS 09, 155). Im Wesentlichen bezieht sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Art. 103 I GG, was die Ermittlung des Sachverhalts anbelangt, abgesehen von den Überraschungsentscheidungen aufgrund unterbliebener Hinweise nach § 139 II ZPO auf fünf Fehlerkomplexe, nämlich: auf das fehlerhafte Zurückweisen von Vorbringen als präkludiert375, auf das fälschliche Nichtberücksichtigen des Parteivortrags als unsubstantiiert376, auf das unrichtige Behandeln von bloßem Nichtbestreiten nach § 138 III ZPO als bindendes Geständnis nach §§ 288, 290 ZPO377, auf das unzulässige Übergehen entscheidungserheblicher Beweisanträge sowie auf die Berücksichtigung vermeintlicher Tatsachen und Beweise, die nicht ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt wurden und daher nicht hätten verwertet werden dürfen378. Im letzteren Fall ist Art. 103 I GG verletzt, „wenn aufgrund einer fortgebildeten Prozessrechtsnorm entscheidungserheblicher Tatsachenvortrag nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wird, erhebliche Beweisangebote übergangen oder umgekehrt Tatsachen und Beweise verwertet werden, die nicht Gegenstand des Verfahrens waren“379.
373 374 375 376 377 378 379
BGH MDR 2009, 998. BVerfGE 83, 24, 35 = MDR 1991, 893; BVerfGE 86, 133, 144 f; 98, 218, 263. BVerfGE 60, 305, 310; 75, 302, 316; 81, 97, 105 f. BVerfGE 84, 188, 190 = NJW 1994, 1274. BVerfG NJW 2001, 1565. BVerfGE 69, 141, 144; BVerfG NJW 1994, 1210; NJW-RR 2004, 1150 f. BVerfG NJW 2009, 1585; BGH NJW 2009, 2139; Chr. Fischer (Fn. 168), S. 478.
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Dagegen verstößt nicht schon die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften als solche gegen Art. 103 I GG, es sei denn, das Gericht habe bei deren Anwendung die Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt380. Gleiches gilt, wenn die Gehörsverletzung für die Entscheidung nicht kausal war. Diese beruht nur dann auf der Verletzung, falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass anders entschieden worden wäre, wenn sich das Gericht mit dem Vortrag auseinandergesetzt oder der Partei Gelegenheit gegeben hätte, zu den gerichtlichen Bedenken Stellung zu nehmen381. Auch dies muss gesondert vorgetragen werden. Es genügt nicht, dass sich die Erheblichkeit ohne weiteres als selbstverständlich aus dem Vortrag ergibt. b) Abwehrhaltung und Abwehrmechanismen der Richterschaft Die geringe Akzeptanz, die der Anhörungsrüge seitens der Richterschaft entgegengebracht wird, hat noch einen anderen Aspekt: Sehr häufig erweist sich die Kontrolle des richterlichen Verhaltens über den außerordentlichen Rechtsbehelf des § 321a ZPO als undurchführbar, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung die Richter durch fragwürdige Entscheidungen zu deren Schutz in die Lage versetzt hat, ihr Entscheidungsverhalten durch den Einsatz mehr oder weniger subtiler Abwehrtaktiken bzw. -mechanismen382 von vornherein gegen Angriffe mittels der Anhörungsrüge zu immunisieren. Meist betrifft das genau die Fälle, in denen eine Überprüfung zwingend geboten wäre. Im Wesentlichen können hier drei Fallgruppen unterschieden werden: aa) Zunächst einmal kann der Richter das Gehörsrecht in seiner Wirksamkeit schon leicht dadurch unterlaufen, dass er einen entscheidungserheblichen Vortrag der Partei zwar scheinbar zur Kenntnis nimmt, diesen aber in seiner Entscheidung mit der Bemerkung abtut, dass er ihn als unwesentlich beurteilt habe. Gewöhnlich heißt es dann in den Gründen entweder, das Vorbringen sei nicht übersehen, sondern nur nicht besonders erörtert worden, oder das Gericht habe den Sachvortrag der Partei durchaus zur Kenntnis genommen, sei aber ihrem Standpunkt nicht gefolgt. Denn in der Tat gilt in diesen Fällen die Rüge nach der Rechtsprechung des BVerfG als unbegründet, wobei auch nicht auf ein Verschulden des Gerichts abgestellt wird383. bb) Sehr häufig ist bei den Rügeentscheidungen der unteren Fachgerichte festzustellen, dass sich der judex a quo bei der Bearbeitung der Rüge einfach darüber hinweggesetzt hat, dass das Rügeverfahren als unselbständiges zweiseitiges Annexverfahren in zwei Stufen abläuft, wenn eine Abhilfe tatsächlich veranlasst sein sollte, da in diesem Fall das Ausgangsverfahren fortzusetzen ist, § 321a V 1 und 2 380
BVerfGE 54, 277, 291; 74, 228. BGH WuM 2009, 113. 382 Schneider, Die Gerichte und die Abwehrmechanismen, AnwBl 2004, 333. 383 BVerfGE 58, 353; vgl. dazu die drastische Schilderung von Sangmeister (Fn. 366), NJW 2007, 2363, 2367 sowie 2369. 381
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ZPO. D.h., er unternimmt es, der Rüge scheinbar abzuhelfen, indem er in den Gründen seines ablehnenden Beschlusses nachträglich auf das im Ausgangsverfahren übergangene Vorbringen der Partei eingeht, macht dies jedoch nur in der Weise, dass er feststellt, die Entscheidung wäre auch dann nicht anders ausgefallen, wenn das Gericht dieses Vorbringen schon sofort berücksichtigt hätte. Gemäß § 321a V 1 und 2 ZPO hätte jedoch gerade dann das Verfahren erst einmal zwingend in die Lage vor Schluss der mündlichen Verhandlung unter Beteiligung des Gegners als Partei zurückversetzt werden müssen384. Unter solchen Umständen kommt es in diesen Fällen schon von vornherein zu keiner ernsthaften Begründetheitsprüfung. In diesem Fall hat das BVerfG die Gehörsverletzung allerdings für nicht mehr als „geheilt“ erachtet385. cc) Selbst dann, wenn der judex a quo über die Rüge der Gehörsverletzung hinaus von der Partei sogar beschuldigt werden sollte, er habe sich zugleich mit der Verletzung dieses Verfahrensgrundrechts auch einer greifbaren Gesetzwidrigkeit in Form der Rechtsbeugung schuldig gemacht, nämlich etwa im Wege der Tatbestandsverfälschung, kann sich dieser darauf berufen, dass er seine Entscheidung für sachgerecht und rechtlich vertretbar befunden habe, weshalb keine Veranlassung bestehe, von ihr abzurücken. In diesem Fall verwirklicht er den Tatbestand des § 339 StGB nach herrschender Ansicht selbst dann nicht, wenn er die Unrichtigkeit seiner Entscheidung für möglich hielt386 und sich später deren Unrichtigkeit tatsächlich herausstellen sollte. Diese Auslegung der Norm kommt einer regelrechten Immunisierung der Richterschaft gleich. Auch wenn einem Straftäter nach § 46 StGB das Fehlen „voller Unrechtseinsicht“ nicht strafschärfend angelastet werden darf387, so muss diese Einstellung bei einem Richter noch lange nicht zu einem persönlichen Strafausschließungsgrund i.S der §§ 28 I, 14 I StGB führen. c) Zwischenergebnis die Anhörungsrüge betreffend Angesichts des nach Einführung der Anhörungsrüge eingetretenen Stillstands des nötigen Ausbaus eines effektiven Rechtsschutzes gegen evident unrichtige Endurteile, dürfte die Feststellung zutreffen, dass sich insgesamt gesehen der Rechtsschutz gegen greifbare Gesetzwidrigkeiten durch § 321a ZPO weit eher verringert als vergrößert hat, zumal die analoge Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Fälle der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte zu Recht abzulehnen ist. Dies hatte ja schon Voßkuhle zu der Bemerkung veranlasst, dass hier das BVerfG „bei seinem anerkennenswerten Bemühen um die Entwicklung einer verfassungsrechtlich fundierten Rechtsmitteldogmatik leider auf halbem Wege stehengeblieben“ ist388. Al384 385 386 387 388
Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a, Rn. 12 a.E. BVerfG NJW 2009, 1584; BVerfG ZEV 2009, 142. Vgl. Fischer (Fn. 112), § 339 Rn. 18 m.w.N. Vgl. Fischer (Fn. 112), § 46 Rn. 50. Voßkuhle (Fn. 247), S. 2188; dazu Schnabl (Fn. 187), S. 93.
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lerdings hätte das den Gesetzgeber nicht am Erlass eines besseren Gesetzes hindern müssen. Schließlich muss er dazu nicht auf Vorgaben des BVerfG warten389. Folglich ist zu prüfen, ob hier nach wie vor die Voraussetzungen für die Annahme eines regulierungsbedürftigen Sachverhalts vorliegen, d. h., ob vom Vorhandensein einer verfassungswidrigen Rechtsschutzlücke in Form einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ und damit von einem deutlichen rechtsstaatlichen Defizit der ZPO ausgegangen werden muss. Dieserhalb sprach Kettinger schon 2006 von der „Flucht des Gesetzgebers vor seiner Verantwortung“390. – Zunächst aber ist einzugehen auf die erneute, nachgerade kuriose Änderung der umstrittenen Vorschrift des § 522 III ZPO durch den Gesetzgeber, bei der die notwendige Reform des § 321a ZPO voll auf der Strecke blieb. 3. Anhörungsrüge und Nichtzulassungsbeschwerde Zugleich mit der Anhörungsrüge hatte der Gesetzgeber im Rahmen der ZPOReform 2002 mit der Vorschrift des § 522 II ZPO (alt) die sog. Beschlusszurückweisung eingeführt. Danach hatte das Richterkollegium der Berufungsgerichte substanzlose Berufungen unverzüglich ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen, falls es einstimmig zu der Überzeugung gelangt war, dass für diese Zurückweisung die eigens in § 522 II 1 Nr. 1 – 3 ZPO festgelegten Voraussetzungen vorlagen. Die Berufung musste dazu nicht einmal offensichtlich unbegründet sein. Die Vorschrift war bewusst als zwingendes Recht konzipiert worden, um dadurch einen möglichst großen Entlastungseffekt für den BGH zu erzielen. Insbesondere wurde in § 522 III ZPO (alt) die Anfechtbarkeit des Beschlusses ausgeschlossen. Obwohl diese Regelung vom BVerfG mangels Verstoßes gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht für verfassungswidrig erklärt worden war391, hatte sie erhebliche Kritik ausgelöst392, die sich sowohl gegen den Wegfall der mündlichen Verhandlung richtete393 als auch vor allem gegen den „Ausschluss der drittinstanzlichen Kontrolle“ der Beschlusszurückweisung394. Letztlich zur Neuregelung veranlasst sah sich der Gesetzgeber jedoch erst, nachdem durch die Justizstatistik offenbar wurde, dass die einzelnen Berufungsgerichte höchst unterschiedlich von der Beschlusszurückweisung Gebrauch gemacht hatten395. Erst dieser 389
S. zur Problematik der Vorgaben des BVerfG an den Gesetzgeber Hesse, JZ 1995, 267. Kettinger (Fn. 348), ZRP 2006, 152. 391 BVerfGE 122, 248, 271 = NJW 2009, 1469; BVerfG NJW 2004, 1371. 392 Siehe Reinelt, Die unendliche Geschichte – § 522 ZPO, ZRP 2009, 203; Rimmelspacher, Bessere Kontrolle zivilprozessualer Berufungsentscheidungen, ZRP 2010, 217; Trimbach, Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess – notwendig und verfassungsgemäß, NJW 2009, 401. 393 So Chr. Wolf, BRAK-Mitteilungen 2010, 194. 394 So Rimmelspacher (Fn. 392), S. 218. 395 Begr. des RegE zum Änderungsgesetz, BT-Dr. 17/5334, S. 6. Dieser Anlass war jedoch keineswegs zwingend. Vielmehr beruhte die Gesetzesbegründung, bei der es die Autoren unterlassen hatten, die vorliegenden Daten wie jedem Statistiker geläufig zuvor entsprechend zu 390
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Umstand führte zur erneuten Änderung des § 522 II und III ZPO mit einem auch für die Evaluation der Anhörungsrüge relevanten Ergebnis. a) Das Gesetz vom 07.07.11 zur erneuten Änderung des § 522 ZPO Durch das Änderungsgesetz vom 07.07.11 wurde Abs. 3 der Vorschrift, der bislang die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses nach Abs. 2 Satz 1 angeordnet hatte, aufgehoben und durch die Vorschrift ersetzt, dass dem Berufungsführer gegen den Beschluss das Rechtsmittel zustehe, „das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre“, also die Nichtzulassungsbeschwerde des § 544 ZPO. Damit setzte sich der Vorschlag Rimmelspachers durch, der es für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten hatte, dass Abs. 3 die Überprüfbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses auch insoweit ausgeschlossen hatte, als dieser die revisions- oder rechtsbeschwerdewürdige Bedeutung der Rechtssache verneinte396. Überraschenderweise wurde dann noch auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags Satz 1 des Absatzes 2, dessen zwingender Charakter nach dem Änderungsvorschlag des Bundesjustizministeriums sogar noch eigens unterstrichen werden sollte, nur als Soll-Vorschrift verabschiedet. Dies wurde damit begründet, dass durch den Wegfall der Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses der wesentliche Grund für die Aufrechterhaltung als zwingendes Recht entfallen sei, so dass die Entscheidung in das gebundene Ermessen des Berufungsgerichts gestellt werden könne. Außerdem kam es noch zu einer Ergänzung des Abs. 2 S. 1 durch eine Nr. 4 dahingehend, dass dem Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses zusätzlich die Prüfung vorauszugehen habe, dass eine mündliche Verhandlung „nicht geboten“ sei. Dieses weitere Erfordernis sollte dem Schutz des Berufungsführers dienen. Auch wenn die Berufung letztlich keine Erfolgsaussicht habe, solle mündlich verhandelt werden, „wenn dies aus anderen Gründen angezeigt“ erscheine, so vor allem wenn die Rechtsverfolgung für diesen „existentielle Bedeutung“ habe. Ferner wurde klargestellt, dass die Beschlusszurückweisung nur noch in den Fällen offensichtlicher Unbegründetheit397 der Berufung in Betracht komme, und in Absatz 2 wurde noch als Satz 2 eingefügt, dass ein anfechtbarer Beschluss „darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten“ habe. Der BGH „gewichten“, auf „reichlich naiver Zahlengläubigkeit“, so Nassall (Rechtsanwalt beim BGH), Zehn Jahre ZPO-Reform vor dem BGH, NJW 2012, 113, 117. 396 MüKo-Rimmelspacher (Fn. 36), § 522 Rn. 35. 397 Rottleuthner (Fn. 7), S. 54 bezweifelt zu Recht, ob das, was „offensichtlich unbegründet“ sein soll, überhaupt zu begründen ist. Die Anforderung sei paradox, zumal sich gezeigt habe, dass Zurückweisungsbeschlüsse (zu § 313 II StPO) häufig keine Begründung im üblichen Sinne aufwiesen. Ähnlich verhält es sich mit dem nur einer höchst subjektiven Wahrnehmung zugänglichen Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“ in § 543 II Nr. 1 ZPO.
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hat nach der Vorstellung des Gesetzgebers auf die Nichtzulassungsbeschwerde der betroffenen Partei den Zurückweisungsbeschluss wie ein Berufungsurteil auf das Vorliegen der Revisionszulassungsgründe des § 543 II ZPO zu prüfen. Sollten diese Gründe vorliegen, ist die Revision zuzulassen. b) Einschränkung des Anwendungsbereichs der Anhörungsrüge Entgegen der Konzeption einer reinen Zulassungsrevision ist die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH nach § 544 ZPO als „Anhörungsbeschwerde“ zum judex ad quem398, aufgrund der – bis vorläufig 2014 geltenden – Regelung des § 26 I Nr. 8 EGZPO nur insoweit statthaft, „als der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 E übersteigt“. Höchst inkonsequent war es hier zum Zwecke der Entlastung des BGH „zur Wiedereinführung der alten (in der Begründung der Reform wortreich verdammten) wertgrenzenabhängigen Revision durch die Hintertür“ gekommen, wenn auch auf niedrigerem Niveau399. Aufgrunddessen kommt die Anhörungsrüge jetzt nur noch gegen Berufungsurteile der Land- und Oberlandesgerichte mit nicht zugelassener Revision sowie gegen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 522 II ZPO in Rechtssachen mit einem Streitwert bis zu einschließlich 20.000 E in Betracht. Fraglich konnte nicht sein, ob überhaupt Rechtsschutz gegen den Zurückweisungsbeschluss gewährleistet werden sollte, sondern nur, auf welche Weise dies zu geschehen hatte, um diesen Beschluss als solchen zu rechtfertigen. Wenn es das erklärte Ziel der ZPO-Reform 2002 war, Fehlsteuerungen in der Berufungsinstanz zu beseitigen, deren Ursache u. a. darin bestand, dass die in erster Instanz unterlegene Partei auch in aussichtslosen Fällen noch die Möglichkeit hatte, die „Flucht in die Berufung“ mit Anspruch auf eine nochmalige mündliche Verhandlung zu ergreifen, so dürfte dieses Ziel mit der erneuten Änderung des Gesetzes noch weniger erreicht werden als dies mit der bisherigen Fassung des § 522 II ZPO gelungen war: aa) Gleichstellung der Zurückweisungen durch Urteil und Beschluss Obwohl das BVerfG einen Verstoß des § 522 III ZPO gegen das Recht auf gleichen Rechtsschutz aus Art. 3 I in Verb. mit Art. 20 III GG insofern verneint hat, als Verwerfungs- und Zurückweisungsentscheidungen nach der ZPO unterschiedlich anfechtbar sind, hatte Rimmelspacher seine Ansicht darauf gestützt, dass die unterschiedliche Behandlung der Zurückweisungsbeschlüsse einerseits und der Zurückweisungsurteile andererseits, was den Rechtsschutz anbelange, „unter dem
398 399
Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 4. Zöller-Heßler, § 26 EGZPO Rn. 12 mit Hinw. auf Piepenbrock/Schulze, JZ 2002, 911.
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Blickwinkel des Art. 3 I GG“ verfassungsrechtlich bedenklich sei400. Für eine Ungleichbehandlung gäbe es keine sachliche Rechtfertigung. Dass diese Gleichsetzung verfassungsrechtlich geboten sei, hatte der Rechtsausschuss verneint, wobei er auch noch plausibel darlegte, dass es dadurch wieder vermehrt zu Berufungen aus verzögerungstaktischen Gründen kommen werde. Zweifellos war der Gesetzgeber aufgrund seiner Gestaltungsautonomie dazu berechtigt, die Nichtzulassungsbeschwerde gegen Zurückweisungsbeschlüsse in gleicher Weise zuzulassen wie gegen Zurückweisungsurteile. Allerdings handelte es sich hierbei keineswegs um zwei (völlig) gleichgelagerte Sachverhalte. Denn eine Berufung, die aufgrund des Vorprüfungsverfahrens nach § 522 II 1 Nr. 1 – 4 ZPO schon eine aufwendige Sonderbehandlung durch ein Kollegialgericht erfahren hat, ist jedenfalls nicht ohne weiteres einer Berufung gleichzustellen, die das übliche Verfahren nach §§ 522 I 1, 523 ZPO beim Einzelrichter durchlaufen hat. Die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte ist Sache des Gesetzgebers, solange es dieser nicht unternimmt, wesentlich ungleiche Sachverhalte gleichzubehandeln, es also unterlässt, zwischen nur unwesentlichen Unterschieden zu differenzieren. Hier aber gab es Unterschiede, wenn auch nur unwesentlicher Art. Folglich bestand umgekehrt auch kein zwingender Grund zur Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber hätte daher auch dann nicht gegen Art. 3 I GG verstoßen, wenn er es bei der bisherigen Regelung belassen hätte401. bb) Folgen der Änderung des § 522 II ZPO in eine Soll-Vorschrift Wie sich schon kurze Zeit nach der ZPO-Reform 2002 herausgestellt hatte, wurde das Berufungsverfahren durch die nach Abs. 2 nötige Vorprüfung weder vereinfacht noch beschleunigt, sondern verzögerte sich durch die mit ihr verbundene Mehrbelastung der Richter sogar noch deutlich mit der Folge, dass manche Gerichte unter Missachtung des fehlenden Ermessensspielraums allein schon aus arbeitsökonomischen Gründen auf die Berufungszurückweisung durch Beschluss verzichteten402. Denn der durch den Wegfall der mündlichen Verhandlung ersparte Aufwand wurde bereits durch den nach Abs. 2 S. 2 zu erlassenden Hinweisbeschluss und die dazu erforderlichen Beratungen mehr als ausgeglichen. Dies zumal dann, wenn jener Hinweis „zu einer Art zweiter Berufungsbegründung“ geführt hatte, die das Gericht
400
BVerfG NJW 2005, 659; Rimmelspacher (Fn. 392), S. 218. Auch Meller-Hannich, Die Neufassung von § 522 ZPO – Unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessen und ein neuartiges Rechtsmittel, NJW 2011, 3393, 3396, weist darauf hin, das die Konstruktion mit der Nichtzulassungsbeschwerde „ziemlich gewagt“ sei, da diese Beschwerde an sich nur in Betracht komme, wenn das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen hat. Gerade das entfalle jedoch bei der Beschlusszurückweisung. 402 Greger, Die ZPO-Reform – 1000 Tage danach, JZ 2004, 805, 813. Dagegen spricht Rimmelspacher (Fn. 392), S. 217, sogar – ironisch – von „einer Erfolgsgeschichte der Norm“. 401
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zu einem weiteren rechtlichen Hinweis nötigte403. Dadurch, dass die Land- und Oberlandesgerichte die Vorschrift des § 522 II ZPO in einem nicht feststellbaren Umfang de facto wie eine Ermessensregel gehandhabt hatten, statt sie regulär als zwingendes Recht anzuwenden, hatten sie folglich von einer Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht, die ihnen das Gesetz gar nicht eingeräumt hatte404. Genau deswegen sollte ja gerade dieses den zwingenden Charakter des Gesetzes missachtende Entscheidungsverhalten der Berufungsgerichte durch die noch deutlichere Formulierung des Abs. 2 S. 1 „Das Berufungsgericht hat … zurückzuweisen“ unterbunden werden. Soweit es dort jetzt nur noch heißt, „das Berufungsgericht soll … zurückweisen“, mag dies durch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gedeckt sein, dürfte aber möglicherweise dazu führen, dass sich die Berufungsgerichte im Zweifel gar nicht mehr für die Beschlusszurückweisung entscheiden werden mit der weiteren Folge, dass ein spürbarer Entlastungseffekt für den BGH ausbleiben wird. Denn angesichts dieser Anreize für die Richter, dem zusätzlichen Aufwand einer gesetzestreuen Anwendung des § 522 II ZPO folgenlos auszuweichen, wird jedenfalls kaum damit zu rechnen sein, dass sich die Richter bei substanzlosen Berufungen noch regelmäßig der Mühe unterziehen werden, akribisch das Vorliegen der Voraussetzungen der Erfordernisse des § 522 II 1 Nrn. 1 – 4 ZPO für den Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses zu prüfen405. Insbesondere dürfte zweifelhaft sein, ob sie sich mit dem Berufungsführer eingehend darüber auseinandersetzen werden, ob hier aus spezifischen, allein in dessen Person liegenden Gründen dennoch eine mündliche Verhandlung anzuberaumen ist oder nicht. Schließlich kann das Gericht nicht daran gehindert werden, das Vorprüfungsverfahren dadurch zu unterlaufen, dass es im Zweifelsfall zugunsten des Berufungsführers befindet und die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung trotz Aussichtslosigkeit der Berufung schon von vornherein bejaht, auch wenn dies in erster Linie der eigenen Entlastung dienen sollte. Ohnehin hatte die Beschlusszurückweisung schon zu einem erheblichen Akzeptanzverlust bei den Parteien insofern geführt, als der Verzicht darauf, ihnen im Rechtsgespräch die Rechtslage zu erklären und die beabsichtigte Entscheidung verständlich zu machen, bei ihnen den Eindruck erweckte, ihr Anliegen werde nicht angemessen gewürdigt406. Sollten jedenfalls die Berufungsgerichte die Vorschrift wie zu erwarten trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen gar nicht mehr regelmäßig zur Anwendung kommen lassen, sie also gar nicht mehr zwingend einem gerichtlichen „Test“ unterwerfen, würde damit auch die Entwicklung zu einer einheitlichen Rechtsprechung die Beschlusszurückweisung des § 522 III ZPO betreffend hinfällig werden. Unter 403 Vgl. Debusmann, Die Beschlusszurückweisung nach § 522 II ZPO – „Kurzer Prozeß“ in der Berufungsinstanz?, NJW-Sonderheft BayObLG, 2005, 15 ff. 404 Vgl. Reinelt (Fn. 392), 204 mit Hinw. u. a. auf Schellenberg, MDR 2005, 610. 405 Dies bestätigt auch Nassall (Fn. 395), S. 115, mit den Worten, „… eine Berufungszurückweisung durch Beschluss nach § 522 ZPO kam – und kommt – (bei den Berufungsgerichten) kaum vor, sondern sie verhandelten – und verhandeln“. 406 Debusmann (Fn. 403), S. 17.
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diesen Umständen wäre es daher in der Tat sinnvoller gewesen, der Ansicht Reinelts zu folgen, nämlich § 522 II und III ZPO aufzuheben und wieder zum früheren Rechtszustand vor der ZPO-Reform 2002 zurückzukehren407. cc) Die nicht genutzte Alternativlösung: Reform des § 321a ZPO Verfassungsrechtlich bedenklich wäre der Ausschluss der drittinstanzlichen Kontrolle auch nicht im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie gewesen, hätte die ZPO den Prozessparteien einen außerordentlichen Rechtsbehelf zum judex a quo bereitgestellt, mit dem diese ebenso wirkungsvoll gegen die Beschlusszurückweisung hätten vorgehen können. Denn Rechtsschutz muss nicht zwingend durch eine weitere Instanz gewährleistet werden. Vielmehr reicht nach dem Plenarbeschluss des BVerfG vom 30.04.03 wie dargelegt auch ein gerichtlicher Rechtsschutz durch dieselbe Instanz408, wenn auch nur unter der strengen Voraussetzung, dass „auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden kann. Immerhin hatte deswegen der Gesetzgeber zusammen mit der Beschlusszurückweisung auch die Anhörungsrüge des § 321a ZPO eingeführt, um damit den Parteien gleichzeitig ein Instrument zur Abwehr solcher Beschlüsse zur Verfügung zu stellen, und zwar unabhängig vom Streitwert409. Nun trifft zweifellos zu, dass sich dieser Sonderrechtsbehelf aufgrund der genannten Implementationsfehler als für die Rechtspraxis unbrauchbar herausgestellt hat, nachdem durch ihn Rechtsschutz nicht effektiv gewährleistet, sondern nur vorgespiegelt wird. Erst dadurch ergab sich das rechtsstaatliche Defizit. Dann aber hätte man aus dieser Situation auch die Konsequenz ziehen und die Anhörungsrüge gleichzeitig mit der Einführung eines neuen effektiven Rechtsbehelfs endgültig abschaffen müssen. Doch statt nun diese Ursache zu beheben und die weitaus dringendere Reform der „Placebo-Vorschrift“ des § 321a ZPO endlich in Angriff zu nehmen, unternahm es der Gesetzgeber, die Nichtzulassungsbeschwerde unnötigerweise auch noch gegen die Beschlusszurückweisung zuzulassen. Hätte er stattdessen § 321a ZPO aufgehoben und der Forderung Brauns nach einer grundlegenden Reform des Wiederaufnahmerechts folgend410 die Wiederaufnahmegründe der §§ 578 ff ZPO dem Bedürfnis des Rechtsverkehrs entsprechend ausgedehnt, hätte sich sowohl die letztlich unergiebige Diskussion um die Beschlusszurückweisung als auch die Reform der Reform des § 522 III ZPO erübrigt, bei der die Vorschrift des § 321a ZPO nicht einmal Erwähnung fand. Die Einräumung weiterer Instanzen mag sinnvoll sein und muss aus funktionalrechtlichen Gründen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Hier lag das Problem 407
VII. 408
Reinelt (Fn. 392) S. 203; ders., NJW-Editorial Heft 44/10 und BRAK-Mitt. 6/2010, S.
BVerfGE 107, 395, 408, 412 = NJW 2003, 1924, 1927. Die Rüge hat zwar keine rechtskrafthemmende Wirkung, durchbricht die Rechtskraft aber im Falle ihrer Begründetheit, Zöller-Stöber (Fn. 6), § 705 Rn. 1. 410 MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 7 – 9, § 579 Rn. 20 – 22, § 581 Rn. 11 f. 409
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jedoch nicht in der Vorschrift des § 522 III ZPO a.F., sondern in der mangelnden Effektivität des Rechtsschutzes aufgrund der missglückten Implementierung der Anhörungsrüge. Soweit es der Gesetzgeber für notwendig erachtete, die Zurückweisungsbeschlüsse auch noch der Überprüfung durch eine dritte Instanz zu unterwerfen, wäre folglich eher der Ansicht derjenigen Rechtswissenschaftler zuzustimmen, die von einer „Hypertrophie der Rechtsmittel“ und „Instanzenseligkeit“ in Deutschland sprechen und einen Abbau der Kontrollintensität fordern. Dies zumal hier der Gesetzgeber vorrangig die angeblich gefährdete Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherstellen wollte, ohne dabei zugleich ein unabweisbares Bedürfnis in der Rechtspraxis nach einer solchen Regelung eruiert zu haben. Im Gegenteil hatte er nämlich sogar angenommen, dass aufgrund der erweiterten Voraussetzungen des § 522 II ZPO „tendenziell … die durch Zurückweisungsbeschlüsse entschiedenen Berufungssachen … eindeutiger und damit deutlich weniger rechtsmittelanfällig (werden), so dass von einer erheblich niedrigeren Anfechtungsquote auszugehen“ sei. Deshalb bestand auch kein zwingender Anlass, von der Doktrin des BVerfG abzuweichen, wonach aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG kein Anspruch auf einen (mehrstufigen) Instanzenzug folge. c) Willkürliche Ungleichbehandlung der Beschlusszurückweisungen nach der Höhe des Beschwerdewertes Wie erwähnt ist die Nichtzulassungsbeschwerde gegen Beschlusszurückweisungen aufgrund der Neuregelung erst ab einer Beschwer über 20.000 E statthaft. Je nach der Höhe der Beschwer kommt daher zur Abwehr jener Zurückweisungen entweder die Anhörungsrüge oder die Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht. Wenn es sich jedoch so verhält, dass letztere in erster Linie eine einheitliche Rechtsprechung zu den Zurückweisungsbeschlüssen sicherstellen soll, ist eine Differenzierung nach einem willkürlich festgelegten Beschwerdewert zumindest widersprüchlich. Schließlich gibt es Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung auch in Fällen mit einem Streitwert bis zu 20.000 E411. Gerechtfertigt werden könnte diese Differenzierung daher allenfalls mit einem außerrechtlichen Grund, nämlich damit, dass andernfalls eine Überlastung des BGH mit der Bearbeitung von Nichtzulassungsbeschwerden drohte. Nach der Gesetzesbegründung wird aber eine solche gerade nicht befürchtet. Der Gesetzgeber hätte daher abwägen müssen, ob es einer Partei in Fällen mit einem Streitwert bis zu 20.000 E überhaupt zugemutet werden kann, sich zur Abwehr eines Zurückweisungsbeschlusses mit dem „ganz überwiegend als erfolglos bzw. ineffektiv“ geltendenden Sonderrechtsbehelf der Anhörungsrüge abzufinden. Dass eine solche Abwägung stattfand, ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Doch stellt sich die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde schon offensichtlich 411 Die schweizerische BV lässt in Art. 191 II BV Rechtsschutzbeschränkungen durch Festlegung von Streitwertgrenzen nur für Fälle zu, die keine grundsätzliche Bedeutung haben.
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als eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung derjenigen Parteien dar, die sich statt ihrer mit dem Pseudo-Rechtsbehelf der Anhörungsrüge begnügen müssen. Insoweit wurde hier in der Tat der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Die Forderung Rimmelspachers nach einer Anfechtbarkeit der beschlussmäßigen Zurückweisung war zwar durchaus berechtigt. Doch war hierfür die Nichtzulassungsbeschwerde nicht das geeignete Rechtsmittel, zumal es dabei auch zu bedenken galt, dass nach § 544 IV 2 ZPO die Beschlüsse vom BGH nur „kurz“ zu begründen sind bzw. von einer Begründung sogar abgesehen werden kann. Dies obwohl durch sie die Parteien doch gerade darüber aufgeklärt werden sollten, warum ihrer Beschwerde nicht entsprochen werden konnte412. Da diese Lösung nicht einmal der Beschleunigung des Berufungsverfahrens dient, hatte der Rechtsausschuss des Bundestags empfohlen, gemäß Art. 77 II GG den Vermittlungsausschuss anzurufen, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.
II. Evaluierung der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB Obwohl es wie dargelegt aufgrund der Rechtsprechung des BGH praktisch zu keiner Verurteilung mehr wegen Rechtsbeugung kommt, wurde noch nicht die rechtssoziologisch relevante Frage aufgeworfen, inwieweit die Vorschrift des § 339 StGB überhaupt noch dem „lebenden“ Recht zugerechnet werden kann, d. h., inwieweit sie überhaupt noch Seinsgeltung besitzt. Anscheinend hat sich in der Strafrechtslehre noch nicht die Erkenntnis Kargls verbreitet, dass der BGH die Norm mittels seiner „Schweretheorie“ nicht auf eine methodisch noch vertretbare Weise „auslegte“ und konkretisierte, sondern sie inhaltlich durch eine andere Norm ersetze und damit deren gesetzgeberisches Ziel massiv verfälschte413. Aufgrunddessen wurde deren Erodierung zu einer Vorschrift mit allenfalls noch symbolischer Geltung auch noch nicht von der Effektivitätsforschung als Forschungsgegenstand „entdeckt“.
412
Sehr kritisch zu dieser Einschränkung des Begründungszwangs gerade bei den Entscheidungen über Verfahrensrügen Sangmeister, Aushöhlung des rechtlichen Gehörs durch Begründungsverzicht bei der Zurückweisung von Verfahrensrügen, NJW 2009, 2087. Dazu auch Zöller-Heßler (Fn. 6), § 544 Rn. 21c. Ganz in diesem Sinne wendet sich auch Nassall (Fn. 394), S. 118, gegen die „stets gleichlautende Formalbegründung“ des BGH bei der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerden. Nach Zuck (Fn. 186, Rn. 145 ff) befindet sich der Rechtssuchende von der Nichtzulassungsbeschwerde an, was die Begründung angeht, in einer „Leerlaufkette“. Die Erhebung der Beschwerde muss auf der „Begründung“ der Nichtzulassungsbeschwerdeentscheidung aufbauen. Da diese aber regelmäßig begründungslos bleibt, kann er sich gar nicht mit der Entscheidung auseinandersetzen. 413 Kargl (Fn. 181), S. 861 f.
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
1. Die Rechtsprechung des BGH zum Verbrechen der Rechtsbeugung Das „Recht“ bildet bei der Rechtsbeugung sowohl das Angriffsobjekt der Tathandlung als auch den alleinigen Maßstab der Beurteilung dieser Handlung. Nachdem gewiss nicht schon jeder Rechtsanwendungsfehler den objektiven Tatbestand des § 339 StGB verwirklichen sollte, die Unvertretbarkeit der Entscheidung entgegen BGHSt 41, 274 (251) im Zweifel aber durchaus414, war es Aufgabe der Rechtsprechung zu klären, welche Verstöße des Richters gegen Gesetz und Recht nach Art und Umfang der Gesetzgeber überhaupt als strafbar behandelt wissen wollte. Mit dem Kriterium, wonach sich der Richter „in schwerwiegender Weise von Gesetz und Recht entfernt“ haben muss415, setzte der BGH die Grenze zur Strafbarkeit jedoch derart hoch an, dass ein Richter selbst im Falle einer offenkundigen greifbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne der früheren BGH-Formeln noch keineswegs zu befürchten braucht, wegen Verstoßes gegen § 339 StGB angeklagt zu werden. Anscheinend sollte die Einführung dieses normativen Elements in den Tatbestand der Vorschrift einzig dem Zweck dienen, die Tat zum Schutz der Richter als noch nicht verwirklicht bezeichnen zu können. Da jedoch der Tatbestand des § 339 StGB „im Blick auf die Opfer keinen elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, sondern nur einen vorsätzlichen Normbruch“ verlangt, entfernte sich der BGH durch diese Normsetzung selbst vom Gesetz und verbrämte diese Abkehr auch noch dadurch, dass er seine Entscheidung äußerlich als das Ergebnis einer Gesetzes“auslegung“ präsentierte416. Als zwingende Folge einer an der herrschenden Methodik orientierten Interpretation der Vorschrift hätte er jedoch die Schweretheorie nur ausgeben können, wenn er zumindest Bezugspunkte genannt hätte, von denen aus hätte gemessen werden können, wann sich der Richter in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt hat. Solche Kriterien wären zu formulieren gewesen417. Aber auch darauf verzichtete er. Entgegen der h.A. entschied er außerdem, dass für die Strafbarkeit ein nur bedingter Vorsatz nicht ausreiche418 und in einer früheren Entscheidung verfälschte er auch noch den offenkundigen Gesetzeszweck419. So meinte er, Ziel des (damaligen) § 336 StGB sei die „Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit“, obwohl die Vorschrift durch die Betonung der Gesetzesbindung im Gegenteil gerade die Verantwortlichkeit des Richtenden wahren soll und damit zwangsläufig die Einschränkung seiner Entscheidungsfreiheit rechtfertigt. Als letzte Steigerung berief er sich sogar noch darauf, dass die restriktive Auslegung dieser Vorschrift als Korrektiv 414 Dazu auch BGH NJW 1997, 1455 und NJW 1999, 1122 mit Anm. von Herdegen (Fn. 176). 415 Urteil vom 29.10.92, BGHSt 38, 381; Fischer (Fn. 112), Rn. 9 und 14. 416 Kargl (Fn. 181), S. 870. 417 Vgl. Seebode (Fn. 178), JR 1994, 1 ff. 418 Dagegen Lehmann (Fn. 121), S. 131 sowie LK-Hilgendorf (Fn. 117), Rn. 86 – 92. 419 BGHSt 10, 294, 298. Dazu näher Spendel, in FS Heinitz, S. 448 f.
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gegen eine sonst zu befürchtende Überflutung der Justiz mit Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung mit dem Ziel der erneuten Überprüfung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen gerechtfertigt sei. Dazu heißt es wörtlich im Urteil BGHSt 41, 247, 251 f: „Vor dem Hintergrund, dass die Annahme von Unvertretbarkeit bei der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen nicht etwa auf extreme Ausnahmefälle beschränkt ist – z. B. bei revisionsgerichtlicher Überprüfung von Strafaussprüchen … und bei Annahme ,objektiver Willkür‘ im Verfassungsbeschwerdeverfahren -, sind gesteigerte Anforderungen an den Rechtsbeugungstatbestand ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung erneuter Sachprüfung durch die Justiz zu unterstellen.“ (Siehe dazu Fischer (Fn. 112), § 339 Rn. 15a).
Im Gegensatz zu dieser den Rechtsbeugungstatbestand manipulativ ändernden Rechtsprechung des BGH waren die Bemühungen, die im Jahre 1839 der württembergische Gesetzgeber bei der Konkretisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen an den Tag legte, als er bei der Rechtsbeugung allein darauf abstellte, ob „wesentliche Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens vorsätzlich verletzt“ wurden420, geradezu vorbildlich. 2. Faktische Entkriminalisierung des § 339 StGB In einer ausführlichen Besprechung der Entscheidung des BGH vom 05.12.96 (BGHSt 42, 343), in der diese rigorose Restriktion des Tatbestands des § 339 StGB erneut bestätigt wurde, hat Sowada421 nachgewiesen, dass die Rechtsprechung im Bereich des § 339 StGB „eine faktische Entkriminalisierung“ betreibt, „indem sie ihre Maßstäbe am ,Antimythos des ,bösen‘ Terrorrichters‘ ausrichtet“. Dies sei Ausdruck einer „Vermeidungsstrategie“, die angesichts der harten Rechtsfolgen der Straftat (Amtsverlust kraft Gesetzes, § 45 StGB) offenbar allein vom gewünschten Ergebnis diktiert werde. Dementgegen halte der Gesetzgeber nach außen hin konsequent an der harten Linie dieser Vorschrift fest, indem er jegliche Ansätze für legislatorische Auflockerungen422 zurückweise, um dadurch der Bevölkerung und den Richtern „den prinzipiellen Wert einer auch strafrechtlich abgesicherten Gesetzesbindung … klar vor Augen zu stellen“. Die Konzeption trage „Züge eines symbolhaften Strafrechts423, bei dem es weniger um die konkreten Rechtsbeugungsverfahren als um das allgemeine Bekenntnis des politischen Systems zur strikten Unverbrüchlichkeit des Rechtsstaates“ gehe. Um dieses politischen Zieles 420
Seebode (Fn. 178), JR 1994, 5. Sowada, Zur Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung bei angemaßter richterlicher Zuständigkeit, GA 98, 177, 196; Volk (Fn. 180), NStZ 97, 412. 422 Einen solchen Ansatz stellt der Reformvorschlag von Bemmann/Seebode/Spendel (Fn. 112) dar, der auch damit gerechtfertigt wurde, dass die einengende Auslegung des § 339 StGB „bis zur Gesetzwidrigkeit“ ginge. 423 Siehe zur symbolischen Geltung von Rechtsnormen Raiser (Fn. 6), 243 ff; Rehbinder (Fn. 6), Rn. 125; Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, S. 12 ff. 421
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
willen werde „die Latte der Rechtsfolgen so hoch gelegt, dass sich die Rechtspraxis unter dem Eindruck der gravierenden Realfolgen in weitem Maße schlicht weigert, diese Norm umzusetzen und zur Anwendung zu bringen“. Es könne aber „der Justiz nicht das Recht zugestanden werden, im Wege der Selbsthilfe die gesetzgeberischen Anordnungen einfach leerlaufen zu lassen“, und zwar insbesondere dann nicht, wenn es sich um eine Vorschrift handele, deren Zweck gerade in der Sicherung der Gesetzesbindung bestehe. Demnach war der BGH nicht darum bemüht, durch Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Rechtsbeugung den Anwendungsbereich des § 339 StGB der Sache entsprechend angemessen einzugrenzen. Vielmehr unternahm er es mehr oder weniger bewusst, die Vorschrift durch Fiktion nicht vorhandener Tatbestandsmerkmale als Rechtsnorm mit Verhaltensgeltung faktisch außer Kraft zu setzen. Dieses Unterfangen aber kam einer Derogation durch den Gesetzgeber gleich, zu der er keinesfalls ermächtigt war. Denn auch für ihn galt der Vorrang der Gesetzesbindung, der einer gesetzesergänzenden „Auslegung“ klar entgegenstand424. An einer Lückenausfüllung solcher Art ist nämlich ein Gericht nur dann nicht gehindert, wenn der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum bei der Formulierung der Vorschrift bewusst nicht (voll) ausgeschöpft, sondern deutlich erkennbar an die Rechtsprechung weitergegeben hat425. Von einer solchen Ermächtigung durfte der BGH im Fall des § 339 StGB jedoch keineswegs auszugehen. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, den unbestimmten Begriff „Rechtsbeugung“ so zu konkretisieren wie andere zum überlieferten Bestand der Strafrechtsnormen gehörende unbestimmte Rechtsbegriffe, also z. B. wie denjenigen der Beleidigung426. Mitnichten stand ihm dabei das Wahlrecht zu, die Vorschrift überhaupt anzuwenden oder auch nicht. So, als könne er sich selbst vom Gesetzesgehorsam dispensieren, gerierte er sich aber. Zweifelsohne wäre er berechtigt gewesen, die Vorschrift unter Hinweis darauf, dass sie nicht die Bestimmtheitserfordernisse des Art. 103 II GG, § 1 StGB erfülle, nach Art. 100 I GG dem BVerfG zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit vorzulegen. Hierbei hätte er sich sogar darauf berufen können, dass eine Strafrechtsnorm umso präziser sein müsse, je schwerer die angedrohte Strafe ist427. Dieser Ansicht aber war er offenbar selber nicht. Den Tatbestand der Vorschrift durch weitere 424
Siehe dazu die Ausführungen von A. Röthel, Verfassungsprivatrecht aus Richterhand? – Verfassungsbindung und Gesetzesbindung der Zivilgerichtsbarkeit, JuS 2001, 424, 426, die sich ebenso auf die Strafgerichtsbarkeit übertragen lassen. 425 Vgl. Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 851, 944ff, 952ff, 959ff, 965 ff. 426 Die Verwendung unbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger Begriffe durch den Gesetzgeber ist unbedenklich, wenn sie zum überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen gehören und sich durch den Normzusammenhang sowie die gefestigte Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung gewinnen lässt, vgl. Fischer (Fn. 112), § 1 Rn. 5c m.w.N.. Einen Nachweis dafür, dass es schon vor seiner Zeit keine gefestigte Rechtsprechung zur Rechtsbeugung gab, hat der BGH aber nicht erbracht. 427 Siehe dazu Fischer (Fn. 112), § 1 Rn. 5 – 5c.
§ 5 Durch die Interventionen in die ZPO bewirkte Veränderungen
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Elemente ergänzt zu haben, um sie dadurch praktisch unanwendbar zu machen, stellte daher außerdem einen groben Verstoß gegen das Verwerfungsmonopol des BVerfG dar. Vielleicht wollte ihr der BGH nur die instrumentelle Funktion absprechen, um sie allein in ihrer symbolischen Funktion aufrechtzuerhalten. Struck428 führt als Beispiel für eine Rechtsnorm mit nur symbolischer Funktion und damit für eine reine „Alibigesetzgebung“ die Vorschrift des § 108e StGB (Abgeordnetenbestechung) an. Eine Verurteilung wegen dieses Delikts sei nicht bekannt geworden. Die Vorschrift stelle sich als das Ergebnis eines blinden, wenn auch unschädlichen Aktionismus des Gesetzgebers dar. § 339 StGB ist jedoch kein Produkt einer Alibigesetzgebung, sondern eine Vorschrift, die erst nachträglich infolge bewußter Nichtanwendung seitens der Strafverfolgungsbehörden faktisch bis zur Nichtgeltung verkümmerte. Wenn jedoch ein Täter schon gar nicht mehr zu befürchten braucht, dass seine „Tat“ entdeckt und entsprechend als Straftat verfolgt wird, ist die Strafandrohung selbst in ihrer Funktion als psychologischer Zwang untauglich. Folglich kann § 339 StGB nicht einmal insoweit als faktisch wirksam gelten, als dessen Appelwirkung gegenüber den Richtern greift. Ohnehin dürfte die Sanktionserwartung, also die Furcht, sich wegen Rechtsbeugung strafbar zu machen, als Motiv für das in der Regel „Gesetz und Recht“ beachtende Entscheidungsverhalten der Richter selbst im Unterbewusstsein kaum eine Rolle spielen. Vielmehr entscheiden und begründen Richter ihre Urteile im Zweifel rein pragmatisch so, dass diese im Rechtsmittelzug möglichst aufrechterhalten bleiben429. 3. Der Sonderfall der Rechtsbeugung des Kollegialgerichts Einen Sonderfall bildet die Verfolgung der Rechtsbeugung von Mitgliedern eines Kollegialgerichts: Wenn hier ein Mitglied gegen das Fehlurteil der anderen Richter gestimmt hat, soll nicht einmal Versuch, geschweige denn Vollendung in Betracht kommen, auch wenn es am Zustandekommen der Entscheidung durch seine Zugehörigkeit zum Spruchkörper und seine Anwesenheit bei der Urteilsverkündung mitgewirkt hat. Werde durch eine Mehrheit im Kollegialgericht das Recht eindeutig verletzt, so werde „durch die ,Beteiligung‘ des überstimmten Richters … der objektive Rechtsbeugungstatbestand ebenso wenig für den richtig Urteilenden begründet wie für die falsch Entscheidenden ausgeschlossen“. Denn Beugung des Rechts als Tathandlung sei „nicht schon jede für ein Fehlurteil tatsächlich mitbedingende (kausale), sondern nur eine auch als rechtsverletzend bewertete Tätig428
Struck (Fn. 50), S. 178 f. Das bestätigen die Beobachtungen Lautmanns (Fn. 50), S. 167, die zeigen, wie sehr es den Vorsitzenden Richtern darauf ankommt, die Urteile ihrer Kammern „revisionssicher“ zu begründen“. In Strafsachen kann deren Angst vor einem erfolgreichen Rechtsmittel sogar dazu führen, dass von zwei angeklagten Delikten das schwerer nachzuweisende einfach fallen gelassen und dafür das Strafmaß für das andere entsprechend erhöht wird. 429
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Teil 2: Durchführung der Evaluation
keit“430. Es bedürfe insofern einer teleologischen Reduktion des § 339 StGB. Dagegen meint Erb, dass jedes Verhalten dessen Tatbestand erfülle, „durch das der Täter an der Inkraftsetzung einer rechtsbeugerischen Entscheidung mitwirkt“431. Besonders problematisch wird die Verfolgung der Straftat dadurch, dass die Aufklärung des Falles von den Aussagen der beteiligten Richter abhängt, jedoch nach h.M. aufgrund des richterlichen Beratungsgeheimnisses keine Aussagepflicht besteht, weshalb das OLG Naumburg im Fall Görgülü die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Richter unter Hinweis auf § 43 DRiG i.V.m. § 202 S. 1 StPO verhinderte432. Dieses Problem dürfte nur de lege ferenda zu lösen sein. 4. Zwischenergebnis bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO: Auswirkungen der Entkriminalisierung des § 339 StGB Die Reduktion der Vorschrift des § 339 StGB auf ihren rein symbolischen Bedeutungsgehalt hat entscheidenden Einfluss auf die Effektivität des § 580 Nr. 5 ZPO als außerordentlicher Rechtsbehelf. Dieser wird zur Gänze von deren faktischer Unwirksamkeit erfasst. Denn dem Erfordernis der rechtskräftigen Verurteilung des Richters kann angesichts der Rechtsprechung zu § 339 StGB schlechthin nicht entsprochen werden, so sehr sich auch der Richter von Recht und Gesetz entfernt haben mag. Das Problem liegt dabei weniger in der Vorschrift des § 581 ZPO als vielmehr darin, dass zum einen schon aufgrund fehlender Aufklärung der Opfer nur äußerst selten Strafanzeigen gegen Richter wegen Rechtsbeugung erstattet werden und zum anderen die Staatsanwaltschaft trotz erfolgter Anzeige selbst in denjenigen Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit, in denen i.S. des § 170 I StPO an sich hinreichender Tatverdacht der Rechtsbeugung bestünde (meist in Form der Tatbestandsverfälschung), im Zweifel die Anklageerhebung mit floskelhafter Begründung unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH verweigert. Damit erweist sich das Erfordernis des Nachweises der Rechtsbeugung als strafbewehrte Amtspflichtverletzung des Richters für den Zugang zum Restitutionsverfahren jedenfalls in den Fällen, in denen die Klage auf das Vorliegen dieser Straftat gestützt werden sollte, nicht nur als bloße, noch hinnehmbare Barriere, sondern als eine auf zumutbare Weise nicht zu überwindende Zugangssperre. Denn nachdem auch der Zugang zum Klageerzwingungsverfahren aufgrund der Rechtsprechung des BGH ähnlich erschwert ist, bleibt der Prozesspartei in der Regel nicht 430
LK-Hilgendorf Fn. 117), § 339 Rn. 123 m. w. Nachw. Erb, Überlegungen zur Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens, in FS Küper, S. 29, 31 ff; sowie NStZ 2009, 193. 432 OLG Naumburg, NJW 2008, 3585; dazu Erb (Fn. 431); Schönfeld, Zur Rechtsbeugung des Kollegialrichters, JA 2009, 401; Mandla, Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen, ZiS Zeitschrift für intern. Strafrechtsdogmatik, 09, 143 (Online-Zeitschrift); Marsch, Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt und der Fall Görgülü, NJ 2009, 152; Chr. Putzke, Rechtsbeugung in Kollegialgerichten, 2012. 431
§ 5 Durch die Interventionen in die ZPO bewirkte Veränderungen
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einmal eine reelle Chance, ihre Behauptung, der Richter habe den objektiven Tatbestand des § 339 StGB erfüllt, überhaupt gerichtlich auf ihre Richtigkeit hin überprüfen zu lassen. Zweifelsohne muss einem Missbrauch dieser Rechtsschutzmöglichkeit vorgebeugt werden. Das, was der Prozesspartei insoweit von der Rechtsprechung an Zugangshindernissen in den Weg gestellt wurde, geht jedoch bei weitem über das verfassungsrechtlich noch vertretbare Maß hinaus. Dem Missbrauch könnte nämlich leicht durch Einführung einer Missbrauchsgebühr begegnet werden, die hier noch weit mehr gerechtfertigt wäre als im Falle der Erhebung offensichtlich unbegründeter Urteilsverfassungsbeschwerden. Anwaltszwang besteht für den Klageerzwingungsantrag gemäß § 172 III 2 StPO ohnehin.
Teil 3
Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung der Evaluationsergebnisse Die vorausgegangenen auf die Verfahrenswirklichkeit bezogenen Feststellungen konnten die eingangs aufgestellte Hypothese, dass weder die Anhörungsrüge des § 321a noch die Restitutionsklage der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO in Verb. mit § 339 StGB den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Effektivität gesetzlich gebotenen Rechtsschutzes gerecht werden, zwar nicht streng methodengerecht verifizieren, dürften sie aber zumindest hinreichend illustriert, also plausibel gemacht haben. Dies mit der Folge, dass „im Sinne einer untechnischen Umkehr der Beweislast“ von demjenigen, der diese Hypothese für falsch halten sollte, verlangt werden kann, dass er durch eine eigene empirische Untersuchung Belege beibringt, die gegen die Ergebnisse dieser Evaluation sprechen433. Dem rechtssoziologischen Ansatz dieser Untersuchung folgend sind daher nunmehr die Ursachen dieser mangelnden Effektivität zu ermitteln. Denn die der Datenerhebung folgende Ursachenforschung ist das eigentliche Ziel, die zentrale Aufgabe der Rechtssoziologie434. Demgegenüber fällt die Auswertung der Evaluationsergebnisse in den Bereich der soziologischen Jurisprudenz. Die Ursachenermittlung erfolgt getrennt zunächst bezogen auf die Anhörungsrüge und dann auf die Restitutionsklage.
§ 6 Ursachenanalyse I. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Anhörungsrüge betreffend Zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Effektivität der Anhörungsrüge kommt es bereits dadurch, dass Unklarheiten darüber bestehen, wie eine Gehörsverletzung im Einzelfall von der Verletzung eines der anderen Verfahrensgrundrechte abzugrenzen ist. Denn die Konkurrenz der Verfahrensgrundrechte untereinander ist dogmatisch ungeklärt435. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis der 433
Rehbinder (Fn. 6), Rn. 24 und 59; siehe dazu bereits oben Fn. 99. Rehbinder, Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, Jb. Rechtssoziologie u. Rechtstheorie Bd. 1, 1979, S. 334, 358. 435 Siehe Zuck, Die Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten, in FS A. Krämer, 2009, S. 85, 91; ders., Anwalt oder Gericht – wer sichert das rechtliche Gehör?, AnwBl 2006, 773, 776. 434
§ 6 Ursachenanalyse
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Gehörsverletzung zum prozessualen Willkürverbot und zum Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes sowie zum Anspruch auf ein faires Verfahren. Wenn aber die Anhörungsrüge nur auf Verletzung des Art. 103 I GG gestützt werden kann, muss „verlässlich geklärt werden, was zur Verletzung des rechtlichen Gehörs gehört und was nicht“436. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht jedenfalls sicherstellen, dass Entscheidungen überhaupt frei von Verfahrensfehlern ergehen, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und damit Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben437. Zwar können mit der Anhörungsrüge auch angebliche Verstöße gegen andere Verfahrensgrundrechte gerügt werden438. Darauf einzugehen braucht das Gericht jedoch nicht. Denn die analoge Anwendung des § 321a ZPO auf die sonstigen Verfahrensgrundrechte ist angesichts der insoweit bewussten Beschränkung des Gesetzgebers auf den Schutz der Garantie des Art. 103 I GG mit der herrschenden Meinung abzulehnen. Dies obwohl die instanzinterne Abhilfe bei Verstößen gegen die sonstigen Verfahrensgrundrechte in gleicher Weise geboten ist wie bei den Gehörsverletzungen und sich aus § 156 II Nr. 1 ZPO sogar die Verpflichtung zu einer umfassenden Abhilfe ableiten lässt439. Es fehlt insoweit am Vorliegen einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes440. Was vorliegt, ist vielmehr eine bewusste, planmäßige, dennoch aber verfassungswidrige Gesetzeslücke441, also ein rechtsstaatliches Defizit, das entsprechend dem Gebot der Bereitstellung eines lückenlosen Rechtsschutzes vom Gesetzgeber durch Einführung eines Rechtsbehelfs beseitigt werden sollte, der geeignet wäre, die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte abzuwehren.
1. Fehlerhafte Implementierung des § 321a ZPO in das Gesetz Dem Vorgehen der Implementationsforschung entsprechend sind daher nunmehr retrospektiv die beim Vollzug des § 321a einerseits und der §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB andererseits aufgetretenen Störungen zu untersuchen, um danach weiter zu fragen, wie diese beseitigt und künftig vermieden werden können. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage, inwieweit die faktische Unwirksamkeit jener Vorschriften schon durch deren unzulängliche Konzeption vorprogrammiert wurde: Wie eingangs dargelegt hat der Gesetzgeber die Gehörsrüge als eine Art wiedereinsetzungsähnliche befristete Gegenvorstellung in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Verfahren ausgestaltet. Als nur außerordentlicher Rechtsbehelf fehlt ihr ebenso wie der Verfassungsbeschwerde die rechtskrafthemmende Wirkung. Ist sie be436 437 438 439 440 441
Zuck (Fn. 439), FS Krämer, S. 97. BGH WM 2009, 2212. Siehe Sangmeister (Fn. 366), S. 2368; Zuck (Fn. 186), Rn. 149. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 17. So auch Breuer (Fn. 161), S. 282 f; Schnabl (Fn. 187), S. 96 ff; Zuck (Fn. 186), Rn. 73. Schnabl (Fn. 187), S. 96 ff; Breuer (Fn. 161), S. 284.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
gründet, kommt es gemäß § 321a V 1 ZPO unter Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils zur Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens, „soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist“442. Dann allerdings stellt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber die entscheidungserhebliche Verletzung des Art. 103 I GG nicht in den Katalog der Nichtigkeitsgründe des § 579 ZPO oder der Restitutionsgründe des § 580 ZPO aufgenommen hat. Denn nur das hätte der Gesetzessystematik entsprochen. Zwischen dem Fortsetzungsverfahren nach § 321a V ZPO und der Neuverhandlung in Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 578 ff ZPO ergeben sich nämlich weder hinsichtlich der (ausschließlichen) Zuständigkeit des judex a quo noch hinsichtlich des eingeschränkten Streitgegenstands erhebliche Unterschiede443, weshalb überhaupt kein zwingender Grund bestand, die Vorschrift des § 321a ZPO in die Normen des Abschnitts 1 des Buchs 2 der ZPO über das Urteil im Verfahren vor den Landgerichten einzufügen. Eher schon wäre hierfür § 318 ZPO als Regelungsort in Betracht gekommen. Somit war es schon verfehlt, die Anhörungsrüge als eigenständigen Rechtsbehelf isoliert von den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens vorwiegend nur zur Korrektur gerichtlicher Pannen zu konzipieren, obwohl sich zwingend angeboten hatte, die Rüge nach dem Vorbild des früheren § 579 III 1 ZPO a.F. als Nichtigkeitsklage auszugestalten. Insbesondere wurde dabei versäumt, das Konkurrenzverhältnis des § 321a ZPO zu dem bereits in § 579 I Nr. 4 ZPO geregelten Sonderfall der Gehörsverletzung zu regeln. Vom Wortlaut her erfasst nämlich § 321a ZPO diesen Sonderfall ebenso wie den Fall, dass eine Partei durch einen Vertreter ohne Vertretungsmacht vertreten wurde. Es war daher abwegig, so Braun, „die Korrektur anderer Gehörsverletzungen losgelöst vom Wiederaufnahmerecht zu regeln und dafür einen eigenen Rechtsbehelf zu schaffen“444. Hinzu kommt der „Missgriff“, dass § 321a II 1 ZPO für die Erhebung der Rüge im Gegensatz zu § 586 ZPO nur eine Notfrist von 2 Wochen vorsieht. Dass diesem Sonderrechtsbehelf, der in erster Linie der Entlastung des BVerfG dienen sollte und nur höchst sekundär dem Grundrechtsschutz der Prozessparteien, seitens der Richterschaft nicht die nötige Akzeptanz entgegengebracht wurde, muss daher keineswegs verwundern. 2. Fehlen der psychischen Wirksamkeitsfaktoren der Effektivität Da die Vorschriften der §§ 321a, 580 Nr. 5 ZPO, 339 StGB als Sanktionsnormen an den Rechtsstab gerichtet sind, kommt es für deren Wirksamkeit maßgeblich auf deren Akzeptanz an. Die Akzeptanz einer Rechtsnorm als deren innere Bejahung (Internalisierung) ist neben der Sanktionsorientierung und der Identifikation uner-
442 443 444
Zöller-Stöber (Fn. 6), zu § 705 Rn 1; BGH NJW 2005, 1432. Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 18, sowie Zöller-Greger, § 590 Rn 9. Braun (Fn. 112), Die Korrektur von Gehörverletzungen im Zivilprozess, JR 2005, 1, 4 f.
§ 6 Ursachenanalyse
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lässliche Voraussetzung für deren Effektivität445. Um dieses „Rechtsbewußtsein“ bei den Richtern zu erzeugen, hätten die hinter diesen Normen stehenden Wertentscheidungen und Zweckmäßigkeitserwägungen auch und gerade dem Rechtsstab gegenüber überzeugend offengelegt und übermittelt werden müssen. Das aber wurde bei § 321a ZPO vom Gesetzgeber schon insofern versäumt, als nicht einmal klargestellt wurde, dass die Anhörungsrüge keineswegs nur auf „unbeabsichtigte“ Fehler des Gerichts, also auf relativ geringfügige richterliche Pannen446, Anwendung finden sollte, sondern selbstverständlich auf jede entscheidungserhebliche Gehörsverletzung, und zwar vor allem auf solche, die den Kerngehalt des Parteivortrags betreffen447. Verschiedentlich entstand nämlich bei der Richterschaft der Eindruck, es müsse zur Unterbindung der für das BVerfG so lästigen „Pannenjudikatur“ nur der Rüge unbeabsichtigter Gehörsverletzungen abgeholfen werden, während für Beanstandungen, die sich gegen die bewusste, mit Problembewußtsein erfolgte Nichtberücksichtigung von Parteivortrag richteten, weiter das BVerfG zuständig bleiben solle. Demgemäß zeigte sich bei den Richtern auch nur in den Fällen bloßen Versehens, in denen kein eigener schwerwiegender Fehler eingeräumt und dokumentiert zu werden brauchte, willfährige Bereitschaft zur Selbstkorrektur, während in den Fällen der bewussten Nichtberücksichtigung des Vortrags – wie die Fallanalysen von Vollkommer und Schneider gezeigt haben – eine deutlich ablehnende Haltung eingenommen wurde. Somit hat sich gezeigt, dass die Effektivität der Anhörungsrüge in erster Linie durch die mangelnde Bereitschaft des judex a quo zur rückhaltlosen Selbstkontrolle verhindert wird, was wiederum vor allem darauf zurückzuführen ist, dass dieser bei gegebenem Anlass seinen Fehler pflichtgemäß nach außen hin dokumentieren müsste. Die größten Bedenken gegen die Zuweisung der Rüge an ihn als „Richter in eigener Sache“ betreffen daher gerade die Fälle, in denen er gehalten wäre, vorurteilslos über sein eigenes Entscheidungsverhalten zu urteilen, das von der beschwerten Partei etwa wegen „evidenter Verfehlung des Sachverhalts“ oder „offenkundiger Unrichtigkeit aufgrund grober Verfahrensfehler“ auch noch als objektiv willkürlich gerügt wurde448. Weshalb sollte er sich da selbst belasten, wo er doch keine Überprüfung seiner Entscheidung mehr zu befürchten braucht. Nach Ansicht Schneiders könnte er sich sogar als „Beschuldigter“ fühlen und sich darauf berufen, 445
Vgl. Rehbinder (Fn. 6), Rn. 127. Wie der Begründung des ZPO-RG-Entwurfs, BT-Drucks. 14/4722, S. 63, zu entnehmen ist, wurde mit der Einführung des § 321a ZPO in der Tat vor allem das Ziel verfolgt, eine instanzinterne Korrektur gerade für die unbeabsichtigten Gehörsverletzungen zu schaffen. 447 Erst der BGH verdeutlichte in seinen Beschlüssen vom 09.02.09, BGH NJW 2009, 2137 (mit Anm. von Mark und Schütt), und 06.04.09, BGH NJW 2009, 2139, dass eine Gehörsverletzung dann vorliegt, wenn die Begründung der angefochtenen Entscheidung nur den Schluss zulässt, dass diese Entscheidung „auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Parteivortrags erfassenden Wahrnehmung beruht“. 448 Dazu Sangmeister (Fn. 366), S. 2368, mit Hinw. auf BVerfG NJW 2006, 2248 sowie BVerfGE 86, 133; Zöller-Vollkommer (Fn. 6), zu § 321a Rn. 11. 446
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
dass er durch die Selbstbelastung in seinen Grundrechten beeinträchtigt würde449. In diesen Fällen wird die Rüge vom Richter meist sogar als Affront empfunden, und zwar jedenfalls dann, wenn sie – aus anderen Gründen – auch noch mit einem Ablehnungsgesuch verbunden wurde450. Wie gekränkt sich hier der Richter fühlt, kann dann seiner dienstlichen Äußerung gemäß § 44 III ZPO entnommen werden, die häufig gesetzwidrig nicht einmal eine sachliche Stellungnahme zu dem geltend gemachten Ablehnungsgrund enthält451. Im Zweifel folgt darauf die Abweisung auch des Ablehnungsgesuchs durch den oder die Richterkollegen in falscher Solidarität mit reinen Scheinbegründungen. 3. Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument? Im Rahmen der Selbstkontrolle hat der Richter Rechtsnormen anzuwenden, die sich von den primären Verhaltens- und Sanktionsnormen dadurch unterscheiden, dass sie die eigene Entscheidungsfindung und Spruchtätigkeit im vorausgegangenen Verfahren betreffen, was in dessen Person bei der Bearbeitung der Rechtsbehelfe erhebliche Konflikte auslösen kann. Er selbst nämlich muss hier darüber befinden, ob diese Normen voll gegen ihn als Spruchkörper anzuwenden sind. Außer dem BVerfG gibt es keine Instanz mehr, die im Fall der Zurückweisung des Rechtsbehelfs noch seine Gesetzestreue überprüfen und ggf. Sanktionen gegen ihn festsetzen könnte. Nachdem die freiwillige Anerkennung einer Norm einerseits und der erzwungene Gehorsam andererseits die komplementären Elemente der faktischen Rechtsgeltung bilden452, demgegenüber aber bei der in § 321a ZPO geregelten Selbstkontrolle jeder erzwingbare Gehorsam entfällt, sind schon grundsätzlich größste Zweifel hinsichtlich der Effektivität dieser Selbstkontrolle angebracht. Jedenfalls stellt die von einem aus derart psychologischen Gründen voreingenommenen oder vorbelasteten Richter durchgeführte Überprüfung seiner eigenen Entscheidung kein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes neutrales Verfahren dar453. Die einzige Möglichkeit, die der Partei unabhängig von der ohnehin wenig erfolgversprechenden Verfassungsbeschwerde dann noch zur Abwehr einer angeblich greifbaren Gesetzwidrigkeit grundsätzlich zur Verfügung steht, ist der Weg über die Strafanzeige gegen den Richter wegen Rechtsbeugung. Dieser Weg aber ist, wenn auch in gewisser Weise verständlich, durch ähnliche Hindernisse blockiert (dazu unten § 6 II. 3. und § 7).
449
Schneider (Fn. 112), MDR 2006, 969, 971: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 2 Rn. 34. 450 Die Kombination von Rüge und Ablehnung ist unstatthaft, Zöller-V. (Fn. 6), § 321a Rn. 4. 451 Dazu E. Schneider, Die dienstliche Äußerung im Ablehnungsverfahren, NJW 2008, 491. 452 Raiser (Fn. 7), S. 178 und 180 f. 453 So bereits Schnabl (Fn. 187), S. 214.
§ 6 Ursachenanalyse
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a) Der „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG im Plenarbeschluss E 107, 395 Trotz der Bedenken Vollkommers unternahm es der Gesetzgeber, die Anhörungsrüge auch gegen die nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen der höheren Instanzen zuzulassen. Dabei verwirklichte er jedoch die Vorgaben des BVerfG im Ergebnis nur höchst unzureichend. Dieser hatte nämlich in seinem Plenarbeschluss vom 30.04.03 wie gesagt deutlich erklärt, dass er eine an den judex a quo gerichtete Rüge nur dann als zum Schutz des Art. 103 I GG geeignet erachte, „sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden“ könne. Tatsächlich entsprechen die Regelungen des § 321a ZPO diesem von Voßkuhle so bezeichneten „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG jedoch nicht annähernd. Jedenfalls gilt dies für die „bewussten“, mit Problembewusstsein begangenen Verfahrensverstöße wie etwa die Überraschungsentscheidungen und die gesetzwidrigen Präklusionen. Denn unbestreitbar entscheidet hier der judex a quo „nicht mit der notwendigen inneren Unparteilichkeit als ,unbeteiligter Dritter‘, sondern als Betroffener über seine eigene Arbeitsbelastung“. Da die Neutralität und Distanz des agierenden Richters zu den Kernelementen des gerichtlichen Rechtsschutzes gehört, sollte dieser daher grundsätzlich nicht Kontrolleur in eigener Sache sein454. So wie die Anhörungsrüge gestaltet wurde, war daher von vornherein abzusehen, dass sie mangels einer zusätzlichen Kontrolle durch einen neutralen Richter weitgehend leer laufen werde. Insofern scheint nur noch fraglich zu sein, ob diese angeblich notwendige weitere Kontrolle im Falle der Nichtabhilfe durch den judex a quo vom übergeordneten Gericht vorgenommen werden sollte, also vom judex ad quem, wie dies Gravenhorst, Schneider und Vollkommer befürwortet haben, oder von einem „anderen Richter“ derselben Instanz, wie dies Schnabl vorgeschlagen hat455, der letztlich allerdings auch die Kontrolle durch den judex ad quem vorzieht. So gesehen entfiele eine instanzinterne Selbstkontrolle, die abschließend vom judex a quo durchgeführt wird, von vornherein als sinnvoll. Damit aber stellt sich sogleich die Frage, wie es denn dem BVerfG angesichts dieser Umstände einfallen konnte, seine „Anweisung“ an den Gesetzgeber, bei den Fachgerichten durchgehend eine instanzinterne Selbstkontrolle zu etablieren, überhaupt mit der Forderung zu verbinden, dass jene Verfahren unabdingbar dem verfassungsrechtlichen Effektivitätsgebot zu entsprechen haben. Offensichtlich setzte hier das BVerfG den Idealtyp eines Richters voraus, der jederzeit dazu bereit ist, auch bewusst verübte Entscheidungsfehler sofort einzugestehen und angemessen auszuräumen. Gerade davon, dass der einzelne Richter diese Bereitschaft üblicherweise aufbringt, kann jedoch, wie die Fallanalysen Vollkommers, Sangmeisters und Schneiders deutlich gemacht haben, keine Rede sein. Die Analysen bestätigen vielmehr, dass jener im Zweifel ganz im Gegenteil alle sich ihm bietenden, scheinbar legalen Möglichkeiten nutzt, die eigene Entscheidung nicht revidieren zu müssen. 454 455
Voßkuhle (Fn. 3), Rechtsschutz gegen den Richter, S. 142 f, sowie (Fn. 247), S. 2197. Schnabl (Fn. 187), S. 242 ff.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Genau dies hat das BVerfG offensichtlich falsch eingeschätzt, weshalb es auch folgerichtig darauf verzichtet hatte, dem Gesetzgeber konkrete Vorstellungen zu unterbreiten, wie denn die Anhörungsrüge hätte gestaltet werden müssen, um den Prozessparteien auch effektiven und damit verfassungskonformen Rechtsschutz zu bieten. Folglich müsste an sich all denjenigen zugestimmt werden, welche die interne Selbstkontrolle als mögliches Instrument effektiven Rechtsschutzes schon grundsätzlich ablehnen. b) Die Anhörungsrüge als Produkt einer Alibi-Gesetzgebung Hinzu kommt Folgendes: Selbst dann, wenn der Richter als Adressat einer Gehörsrüge nicht als „Beschuldigter“ im Sinne der Ansicht Schneiders anzusehen ist, wird man einräumen müssen, dass er im Rahmen der Selbstkontrolle jedenfalls nicht dem non-liquet-Verbot ausgesetzt ist mit der Folge, dass er auf die Rüge des Betroffenen hin zwar eine Entscheidung treffen kann und sollte, dazu aber keineswegs verpflichtet ist, falls er selbst nicht voll davon überzeugt sein sollte, dass er tatsächlich einen entscheidungserheblichen Verfahrensfehler beging. D.h., es bleibt völlig seinem Gutdünken überlassen, sich überhaupt mit der Rüge zu befassen oder bei vermeintlich begründeten Zweifeln an deren Berechtigung schlicht eine nonliquet-Entscheidung zu treffen, also eine Nicht-Entscheidung, die wie im Strafverfahren einem Freispruch seiner eigenen Person mangels Beweises gleichkäme. Dass er sich dabei vorzugsweise darauf berufen wird, er sei nicht von einem Fehlverhalten überzeugt worden, dürfte auf der Hand liegen. Dies macht deutlich, dass § 321a ZPO in der Tat, wie dies Schneider nachzuweisen versucht hat, faktisch „eine PlaceboVorschrift“ darstellt, also nur eine Pseudo-Rechtsschutzmöglichkeit bietet, mit der effektiver Rechtsschutz nicht gewährt, sondern nur vorgespiegelt wird, da sie nichts als eine Alibifunktion erfüllt. Somit wäre die Selbstkontrolle schon per se kein geeignetes Kontrollinstrument und da auf einen Richter unmittelbar kein Druck ausgeübt werden kann, einen Fehlgriff einzugestehen, gibt es anscheinend auch keine Möglichkeit, dieses Mittel effektiver zu gestalten. Dadurch, dass so gesehen die Rügeentscheidung letztlich in das Belieben des judex a quo gestellt ist, das durchaus auch in Willkür ausarten kann, kommt dem Sonderrechtsbehelf des § 321a ZPO in dessen derzeitiger Fassung als Produkt einer reinen Alibi-Gesetzgebung bestenfalls die rechtliche Qualität einer förmlich geregelten Petition i.S. des Art. 17 GG zu. Folglich war die Umsetzung der Vorstellungen des BVerfG zur Verbesserung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Gehörsverletzungen durch den Gesetzgeber aufgrund der Fehleinschätzung der für das richterliche Entscheidungsverhalten maßgeblichen Akzeptanz der Regelungen des § 321a ZPO seitens der Richterschaft schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies muss jedoch keineswegs bedeuten, dass auf eine instanzinterne Selbstkontrolle überhaupt verzichtet werden sollte (dazu unter § 6 III. 2.).
§ 6 Ursachenanalyse
143
II. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Restitutionsklage betreffend Ursache für den Ausfall der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als außerordentlicher Rechtsbehelf im Falle der Rechtsbeugung ist zwar vordergründig die längst „überholte“ Vorschrift des § 581 I ZPO, die noch immer die Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils verlangt. Tatsächlich ist dieser Ausfall jedoch maßgeblich auf die Unbestimmtheit des § 339 StGB und die dazu ergangene Rechtsprechung des BGH zurückzuführen, die bewirkt haben, dass die Vorschrift mangels Vollzugs faktisch zu einer Rechtsnorm mit allenfalls noch symbolischer Funktion erodierte. Selbst wenn die erste Zugangssperre entfiele, würde sich daher nichts an der Tatsache ändern, dass mit der Restitutionsklage in Verb. mit § 339 StGB kein effektiver Rechtsschutz gewährleistet wird. 1. Die Zugangssperre des § 581 I ZPO Bei der Restitutionsklage des § 580 Nr. 1 – 5 ZPO geht es um die Korrektur elementarer Verstöße gegen die richterlichen Verfahrenspflichten. Wie auch aus den Vorschriften der §§ 579 I Nr. 1 – 4 ZPO zu erkennen ist, beruht damit das deutsche Wiederaufnahmerecht, wie Braun nachgewiesen hat456, ganz wesentlich auf der Konzeption der Verfahrensfehlerrestitution im Gegensatz zur Ergebnisrestituion im Sinne der von Gaul vertretenen „Theorie der Beweissicherheit“. Wie dargelegt unterscheidet sich die Wiederaufnahmetheorie Brauns von derjenigen Gauls darin, dass diese auch der Rechtskraft als solcher einen eigenen Wert zuerkennt, und zwar unabhängig von der sachlichen Richtigkeit des Urteils, während jene allein auf das materielle Recht abgestellt. Soweit es den Anschein hat, dass dementgegen die Vorschrift des § 581 I ZPO Ausfluss der Theorie der Beweissicherheit Gauls ist, weil bei deren wörtlicher Auslegung nicht schon die Straftat, sondern erst das Strafurteil den Restitutionsgrund bildet, hat Braun überzeugend dargelegt, dass diese Vorschrift zwingend als „überholt“ berichtigt werden muss: a) Notwendigkeit der Berichtigung des § 581 I ZPO Nach Braun gilt es klar zwischen dem Restitutionsgrund einerseits und dessen Beweis andererseits zu unterscheiden. Beides hänge insofern miteinander zusammen, als das eine die gedankliche Voraussetzung des anderen sei. Was Gaul als Restitutions“gründe“ bezeichne, seien in Wahrheit die zum Nachweis der eigentlichen Gründe bestimmten Beweismittel. Deren Bedeutung aber läge nicht darin, „dass sie die Restitution begründen, sondern darin, dass sie die Durchbrechung der Rechtskraft aus unterschiedlichen Gründen begrenzen“. Im Interesse der Rechtskraft 456 Braun (Fn. 192) Rechtskraft und Restitution, 2. Teil: Die Grundlagen des geltenden Restitutionsrechts, 1985; MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 1 – 9; § 580 Rn. 1 – 12 (oben § 1 V. 2. c)).
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
reiche es nicht aus, die Urteilsunrichtigkeit durch ein Strafurteil als qualifiziertes Beweismittel darzutun. Vielmehr müsse diese Unrichtigkeit unabhängig davon in allen Fällen zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demnach sei das Vorliegen des behaupteten Wiederaufnahmegrunds auch bei Vorliegen eines Strafurteils dennoch von Amts wegen zu prüfen. Restitutionsgrund sei folglich nicht das Strafurteil, sondern allein die Straftat457. Die Vorschrift des § 581 I ZPO müsse somit dahingehend berichtigt werden, „dass der Nachweis des Restitutionsgrundes in entsprechender Anwendung von Abs. 1 Halbs. 2 auch in anderen als den dort genannten Fällen ohne vorherige strafgerichtliche Verurteilung geführt werden kann“. Die Straftatbestände, an welche die Nrn. 1 bis 5 des § 580 ZPO anknüpfen, könnten dann methodisch so behandelt werden, als ob sie nicht im StGB, sondern unmittelbar in § 580 ZPO selbst stünden. Dadurch eröffne sich die Möglichkeit einer analogen Anwendung der Wiederaufnahmegründe und zugleich entfiele damit die Rechtfertigung der systemwidrigen Schadensersatzklage wegen Urteilserschleichung gemäß § 826 BGB. b) Die Gegenansicht des BGH zur Auslegung des § 581 I ZPO Diese Ansicht hat der BGH in einem Urteil vom 12.05.06 unter Hinweis auf Stein/ Jonas/Grunsky458 mit allerdings sehr oberflächlicher Begründung abgelehnt: Es sei schon den Gesetzesmaterialien zu entnehmen, dass „grundsätzlich zunächst die Strafverfolgungsbehörden mit dem strafbaren Verhalten, um dessentwillen die Restitutionsklage zulässig sein soll, befasst werden müssen“. Daher sei die Ermittlung und die Prüfung der behaupteten Straftat durch jene Behörden vom Gesetzgeber als ein für die Restitutionsklage „notwendiges Vorverfahren“ bestimmt worden, so dass diese nur zulässig sei, „wenn der Kläger die ihm vorliegenden Erkenntnisse über eine Straftat und die ihm bekannten Beweismittel unverzüglich zur Einleitung von Ermittlungen angezeigt hat“. Habe er diese Anzeige unterlassen, lägen „die Voraussetzungen des zivilrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens auch dann nicht vor, wenn sie hätten erfüllt werden können“. Diese Gründe vermögen die Ansicht Brauns jedoch weder zu widerlegen noch auch nur ernsthaft in Zweifel zu ziehen: Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage ist das Vorliegen einer strafbewehrten Amtspflichtverletzung des Richters. Ob eine solche vorliegt, ist nach schlüssiger Behauptung der betroffenen Prozesspartei vom Gericht von Amts wegen zu prüfen. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob das von der Staatsanwaltschaft eingeleitete Strafverfahren auch tatsächlich zur Verurteilung geführt hat, wenn der objektive Tatbestand des § 339 StGB verwirklicht wurde, was auch das Zivilgericht beurteilen kann, es sei denn, der Tatverdacht gegen den Richter habe sich schon im Ermittlungsverfahren als unbegründet herausgestellt. Sicherlich wollte der damalige Gesetzgeber verhindern, dass in Zivilverfahren über 457 458
MK-Braun (Fn. 36), zu § 581 Rn. 11 – 13. BGH NJW-RR 2006, 1573; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 581 Rn. 4.
§ 6 Ursachenanalyse
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eine Straftat gestritten wird, um grundsätzlich jeden Widerspruch zwischen Zivilund Strafurteil zu vermeiden. Gerechtfertigt war diese strikte Trennung jedoch nur zur Zeit der uneingeschränkten Geltung des Legalitätsprinzips. Deshalb kamen nach Einführung des Opportunitätsprinzips und der freien richterlichen Beweiswürdigung auch Ausnahmen für den Fall in Betracht, dass eine Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff StPO aus Opportunitätsgründen erfolgte. Der Hinweis des BGH auf die Gesetzesmaterialien geht daher fehl. 2. Wegfall der Sanktionsgeltung des § 339 StGB Die Wirksamkeit eines Gesetzes im instrumentellen Sinn zeigt sich im Vollzug. Genau daran fehlt es jedoch bei der Vorschrift des § 339 StGB. Zu verzeichen ist hier ein noch weit größeres Vollzugsdefizit als es erwiesenermaßen z. B. im Umweltschutzrecht besteht459. Die Aktivierung der Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungen wegen des Verdachts einer Rechtsbeugung ist wie bei jeder anderen Straftat abhängig von der Anzeigebereitschaft der angeblichen Verbrechensopfer. Tatsächlich wird jedoch selbst in krassen Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit eines Zivilurteils kaum je eine richterliche Fehlentscheidung zur Anzeige gebracht. Wesentlicher Grund dafür dürfte der Glaube der Opfer an die Geltung des Krähenprinzips sein, also daran, dass die Anzeige schon deswegen keine Erfolgsaussicht habe, weil es bereits an der Bereitschaft der Staatsanwaltschaft fehle, den Tatvorwurf überhaupt einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Dieser Glaube ist keineswegs abwegig. Für die Judikative ist das Delikt der Rechtsbeugung ohnehin nur ein Mythos460. Nur symbolische Wirkung hat die Gesetzgebung, „wenn der Gesetzgeber einen normativen Anspruch erhebt, ohne die Voraussetzungen für die Wirksamkeit dieses Anspruchs schaffen zu wollen“461. Scheitert ein Gesetz, kann dies sowohl daran liegen, dass es der Gesetzgeber von vornherein nur mit symbolischer Wirksamkeit ausstatten wollte, als auch daran, dass es die Judikative nicht durchsetzen konnte oder wollte. Von nur symbolisch wirksamer Gesetzgebung ist jedenfalls dann zu sprechen, wenn der Gesetzgeber gar nicht erst den Versuch unternimmt, auch die Voraussetzungen für den Vollzug zu schaffen, die er hätte schaffen können.
459
Vgl. z. B. Jens Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung, 2003. Schloderer (Fn. 119), S. 574 ff und 613 ff. 461 Blankenburg, Rechtssoziologie und Rechtswirksamkeitsforschung. Warum es so schwierig ist, die Wirksamkeit von Gesetzen zu erforschen, Plett/Ziegert (Hrsg.), Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik, 1984, S. 62 ff, 64; Kindermann, Symbolische Gesetzgebung, in Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 222, 227. Vgl. auch Rehbinder (Fn. 6), Rn. 125 und 205. 460
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
a) Instrumentelle oder symbolische Geltung des § 339 StGB? Daher fragt sich, ob der deutsche Gesetzgeber bei Einführung des StGB im Jahre 1871 ähnlich vorgegangen ist wie der norwegische Gesetzgeber im Jahre 1948 bei Einführung des Norwegischen Hausangestelltengesetzes, nämlich so, dass er zwar einerseits nach außen hin durchaus den Anschein erwecken wollte, die im Gesetz enthaltene Sanktionsnorm werde im Falle der Zuwiderhandlung auch durchgesetzt (hier gegen die Richter wie dort gegen die arbeitgebenden Hausfrauen), andererseits aber der Norm aus Rücksicht auf die widerstreitenden Interessen der betroffenen Richter eine Fassung gab, die es diesen ermöglichen sollte, in gleicher Weise wie bisher ohne gesteigerten Sanktionsdruck weiterarbeiten zu können462. Dafür spricht zwar die wenig konkrete Ausgestaltung des § 339 StGB, dessen Anwendung auf den Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Diese Tatsache allein rechtfertigt jedoch noch keineswegs die Annahme, die Vorschrift sei schon von vornherein so konzipiert worden, dass sie nur symbolisch wirksam werden solle. Im Gegenteil folgt aus deren Entstehungsgeschichte aus dem Preußischen StGB von 1851, dass ihr durchaus eine instrumentelle Wirkung zukommen sollte463. Andernfalls wäre nicht zu erklären, weshalb der preußische Große Disziplinarsenat für Richter noch 1927 die Disziplinierung richterlicher Pflichtwidrigkeiten bei der Entscheidungsfindung für zulässig hielt. Zweifellos hat der Gesetzgeber die Vorschrift mit einem hohen Symbolgehalt ausgestattet. Gewiss lag es jedoch nicht in seiner Absicht, ihr eine ausschließlich symbolische Funktion beizumessen, sie also schon von vornherein gar nicht faktisch wirksam werden zu lassen. Demgegenüber gilt sie heute aufgrund der Rechtsprechung des BGH bestenfalls noch insoweit, als ihre Appel- bzw. Suggestivwirkung reicht. Jedenfalls aber fallen bei ihr die instrumentelle und die symbolische Geltungsquote derart auseinander, dass sie sich trotz ihrer klaren Zweckbestimmung, die „Herrschaft des Rechts“ zu gewährleisten, praktisch nicht (mehr) zur zwangsweisen Durchsetzung eignet. b) Unzulängliche Konzeption des § 339 StGB Verantwortlich für die Erodierung der Sanktionsnorm des § 339 StGB zu einer Rechtsnorm mit allenfalls noch symbolischer Geltung ist sicherlich in erster Linie die verfassungswidrige Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung, die nicht einmal mehr den bedingten Vorsatz für ausreichend hält. Wegen des Fehlens konkreter Tatbestandsmerkmale ist die Anwendbarkeit der Vorschrift jedoch schon in den Grenzfällen zur straflosen schlicht fehlerhaften Rechtsanwendung höchst problematisch. Hinzu kommt die überzogene Strafandrohung mit der Folge des Amts-
462 463
Dazu Raiser (Fn. 7), 14. Abschnitt III 3, S. 252 f. Dazu Schmidt-Speicher (Fn. 328), Hauptprobleme der Rechtsbeugung, S. 14 ff, 51, 91.
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verlusts gemäß § 45 StGB, die auf den Rechtsanwender abschreckend wirkt464. Von Rechtsbeugung ist zwar schon im Alten Testament die Rede465. Gemeint ist damit eine „Verkehrung“ des Rechts zum Unrecht, die noch dazu „im Gewand des Rechts und damit unverdächtig auftritt“466. Auch diese Charakterisierung der Tat erleichtert die Anwendung der Vorschrift jedoch ebenso wenig wie die Beschreibung der Rechtsbeugung als „unvertretbare“ Rechtsanwendung. Vor jeder Anwendung bedarf es daher zwingend einer erneuten Konkretisierung der Norm bzw. deren „Herstellung“ im Sinne Christensens. Schon aufgrund ihrer Unbestimmtheit und der Tatsache, dass sie gegen Angehörige des eigenen Berufsstandes gerichtet ist, war daher abzusehen, dass der Rechtsstab zu einer weitgehend restriktiven Auslegung hin tendieren werde. Jedenfalls erklärt dies das Ausbleiben der für die Sanktionsgeltung der Norm relevanten psychischen Wirksamkeitsfaktoren, was inzwischen schon zu einem bewussten Sanktionsverzicht des Rechtsstabs geführt hat. Äußerst treffend bringt die Problematik des § 339 StGB der Kommentar von Fischer wie folgt zum Ausdruck467: „Einer symbolisch überhöhten Bestimmung des Unrechtsgehalts, die sich in der hohen Strafdrohung widerspiegelt, steht eine Rechtswirklichkeit gegenüber, die dem Bild der Rechtsbeugung als schwerwiegendem Verbrechen mit zwingendem Amtsverlust kaum gerecht wird. Das praktische Bild bewusster Verstöße gegen Rechtsnormen prägen nicht Fälle rechtsfeindlicher Entscheidungen gegen ,elementare Rechtsgrundsätze‘, sondern Fälle bewusst unvertretbarer Verfahrensbehandlungen, teils zur Arbeitserleichterung, teils zur Erzielung ,gerechter‘ Ergebnisse, deren Erfassung durch § 339 umstritten ist. Dem Ansehen und der Autorität des Rechtsstaates sind auch sie abträglich.“
Gemeint ist damit vor allem die mangelnde Entsprechung von Normbruch und Sanktion, da letztere nicht der tatsächlichen Schwere der Tat im „Normalfall“ der Rechtswirklichkeit angepasst wurde468. Der Vorschrift wird so bescheinigt, dass sie sich als „missglückt“ erwiesen hat, weil sie die ihr vom Gesetzgeber zugewiesene Funktion als Sanktionsnorm zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Bindungsgebots nicht mehr effektiv wahrzunehmen vermag. 3. Regelmäßiges Scheitern des Klageerzwingungsantrags Der Prozesspartei, die meint, das gegen sie ergangene letztinstanzliche Urteil beruhe auf einer Rechtsbeugung des Richters, und die deswegen Strafanzeige gegen diesen erstattet hat, um dadurch die Voraussetzungen für die Erhebung einer Re464
Rasehorn, NJW 1969, 457, 458, fragte sogar, ob die Norm angesichts der praktischen Schwierigkeiten ihrer Anwendung nicht aus dem Gesetz gestrichen werden sollte. 465 5. Buch Mose, Kap. 27, Vers 19. 466 Saliger, Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung, ARSP Beiheft 104 (2005), S. 138, 139. Siehe zum Begriff „Rechtsbeugung“ LK-Hilgendorf (Fn. 117), Rn. 1 ff und 10 ff. 467 Fischer, StGB (Fn. 112), § 339 Rn. 4. 468 Dazu Popitz (Fn. 93), S. 59.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
stitutionsklage zu schaffen, bleibt zwar nach endgültiger Einstellung des gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens noch grundsätzlich die Möglichkeit, gemäß § 172 StPO beim Oberlandesgericht Antrag auf Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens zu stellen. Doch auch dieser Antrag scheitert regelmäßig. Entweder weist ihn das Gericht mit der Behauptung als unzulässig zurück, der Antragsteller habe bestimmte ungeschriebene Zulässigkeitserfordernisse nicht erfüllt (also z. B., die Schilderung des Sachverhalts sei nicht „in sich geschlossen“, sie sei unvollständig, sie enthalte unzulässige abkürzende Verweise auf beiliegende Akten und Urkunden bzw. es fehle an der umfassenden Auseinandersetzung mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft)469, oder es hält ihn unter Berufung auf die angeblich gefestigte Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB jedenfalls für unbegründet. Von einer Stärkung der Stellung des Opfers im Strafverfahren im Sinne des 2. Opferrechtsreformgesetzes von 2009 kann daher insoweit keine Rede sein.
III. Zusammenfassung und Bewertung der Evaluationsergebnisse Nach der Beschreibung des Ist-Zustands des durch die genannten außerordentlichen Rechtsbehelfe gebotenen Rechtsschutzes ist dieser Befund nunmehr zusammenfassend unter Beachtung der Wirkungszurechung zu bewerten. Maßstab der Erfolgsbewertung sind die Programmziele, hier also die jeweiligen vom Gesetzgeber mit der Einführung des § 321a und der §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB beabsichtigten Rechtsschutzeffekte. Programmziel des Gesetzgebers bei Einführung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO war der Schutz der Prozessparteien vor Nachteilen durch Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten, und Programmziel bei Einführung der Anhörungsrüge im Jahre 2002 mit Erweiterung im Jahre 2004 war deren Schutz gegen entscheidungserhebliche Gehörsverletzungen in den nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren. Keines dieser Ziele kann derzeit als auch nur annähernd realisiert bestätigt werden. Beide außerordentlichen Rechtsbehelfe haben sich vielmehr nachhaltig als nahezu ineffektiv erwiesen. Eine Ausnahme gilt allein für die dem Richter rein versehentlich unterlaufenen Gehörsverletzungen. Rechtssoziologisch betrachtet muss daher festgestellt werden, dass die Vorschriften der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO (mit § 339 StGB) ausgesprochen typische Fälle von nur normativ geltendem Recht (law in books) darstellen, das sowohl aufgrund der gesetzgeberischen Implementationsfehler als auch aufgrund der fehlenden Akzeptanz seitens der Richterschaft schon vom Ansatz her nicht dazu geeignet war, sich auch zum faktisch geltenden Recht, also zum law in action, zu 469 Dazu Wohlers in SK-StPO, 4. Aufl., 2010, § 172 Rn. 70 ff; Schulz-Arenstorff, Die Zulässigkeitserfordernisse des Klageerzwingungsantrags, NJW 78,1302; BVerfG NStZ 93, 497.
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entwickeln. Als Grund dieser mangelnden Verhaltensgeltung ist bezüglich der Restitutionsklage in erster Linie die Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB zu nennen und bezüglich der Anhörungsrüge deren von vornherein falsche Konzeption als Sonderrechtsbehelf außerhalb des Rechts der Wiederaufnahme des Verfahrens: 1. Bewertung des Befunds bezogen auf die Anhörungsrüge Was die Anhörungsrüge anbelangt, so hat sich diese bezogen auf „bewusste“ Gehörsverletzungen als ein nur scheinbarer Rechtsbehelf ohne jede feststellbare Effektivität erwiesen, der im Ergebnis nicht mehr Aussichten hat als eine Petition i.S. des Art. 17 GG. Dass es ausgerechnet bei schweren Verstößen gegen Art. 103 I GG nicht zum Fortsetzungsverfahren nach § 321a V ZPO kommt, liegt meist nicht an der Unbegründetheit der Rügen, sondern an dem erheblichen Spielraum und den zahllosen Möglichkeiten, die dem judex a quo zur Verfügung stehen, sie ohne eingehende Sachprüfung zurückzuweisen. Diese Fehlentwicklung hätte weitgehend ausgeschlossen werden können, wenn der Gesetzgeber das Abhilfeverfahren nicht als ein rein schriftliches Verfahren geregelt hätte, sondern der rügenden Partei in gleicher Weise, wie dies nunmehr in § 522 II Nr. 4 ZPO für den Berufungskläger vorgesehen ist, das Recht eingeräumt hätte, Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zur detaillierten Erörterung des Rügevorbringens zu stellen. Das rechtspolitische Ziel des § 321a ZPO war die möglichst weitgehende Reduzierung der permanent auftretenden Verletzungen des rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte. Um dieses Ziel durch die Befolgung jener Vorschrift seitens der Rechtsadressaten (der Richter) auch zu erreichen und dabei zu vermeiden, dass sich die Regelung als „ein Schuss ins Dunkle“ erweist, hätte der Gesetzgeber schon vor deren Erlass zwingend eine Gesetzesfolgenabschätzung durchführen müssen, die es trotz der zuvor jahrzehntelang geführten Diskussion unter der Rechtswissenschaftlern nicht gegeben hat. Offenbar fehlte diesem bereits der entscheidende politische Willen zum Erlass einer instrumentell wirksamen Norm, also einer Norm, die ihm als Instrument zur Erreichung eines erwünschten bzw. zur Beseitigung eines unerwünschten Zustands dienen sollte, weshalb er sich insoweit mit einer nur symbolhaften Gesetzgebung begnügte. Zwar hat der Gesetzgeber grundsätzlich ein Recht auf „prognostischen Irrtum“470. Stellt sich jedoch das von der Legislative eingesetzte Mittel als objektiv untauglich und schlechthin ungeeignet heraus oder war die legislative Prognose bereits im Ansatz verfehlt, so berechtigt dies zur Kassation des Gesetzes durch das BVerfG und zu einer erneuten Aufforderung an den Gesetzgeber, umgehend ein besseres Produkt zu liefern.
470
BVerfGE 16, 147, 181; Schnapp, Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, JuS 89, 1, 4.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
2. Bewertung des Befunds bezogen auf die Restitutionsklage Noch krasser verhält es sich mit der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in den Fällen der Rechtsbeugung, die aufgrund der Verkümmerung des § 339 StGB zu einer allenfalls noch symbolisch geltenden Strafrechtsnorm keinerlei Rechtsschutz mehr zu bieten vermag. Das Auffällige und für den gesamten Rechtsschutz gegen den Richter Bezeichnende ist, dass ausgerechnet der völlig unverzichtbare Rechtsschutz gegen sogar strafbewehrtes richterliches Entscheidungsverhalten mit praktisch unüberwindbaren prozessualen Hindernissen ausgestattet wurde. Das vermeintliche Opfer einer Rechtsbeugung hat keine reelle Chance, seinen Fall vor Gericht zu bringen. Und da es kaum noch zu Anklagen wegen Rechtsbeugung kommt, erhält der BGH auch keine Gelegenheit, seine greifbar gesetzwidrige Rechtsprechung zu § 339 StGB im Allgemeinen und zum Vorsatz der Rechtsbeugung im Besonderen nachhaltig zu überprüfen. Insofern könnte die Vorschrift ersatzlos aus dem Gesetzbuch gestrichen werden, wenn sie nicht auch noch an andere Straftaten im Amt anknüpfen würde wie an diejenigen gemäß §§ 331 II, 332 II, 344 und 348 StGB. Die Möglichkeit, sich als Partei in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren mittels der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO einer greifbaren Gesetzwidrigkeit mit der Behauptung zu erwehren, diese erfülle sogar den Tatbestand des § 339 StGB, bestünde folglich selbst dann nicht effektiv, wenn man hierfür als Zulässigkeitsvoraussetzung im Wege einer berichtigenden Auslegung der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO den plausiblen Nachweis des Vorliegens dieser Straftat genügen ließe. Da es schon gar nicht erst zur Einleitung eines Restitutionsverfahrens kommt, bringt es dem Anzeigenerstatter auch nichts, dass nach wohl h.A. der judex a quo in diesem Verfahren, würde es durchgeführt werden, ausnahmsweise analog § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen wäre, obwohl die Restitutionsklage kein Rechtsmittel darstellt471. D.h., es würde sich für ihn im Fall des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB das Problem der zweifelhaften Effektivität der Selbstkontrolle gar nicht erst stellen, da es ihm schon gar nicht gelingen wird, das Wiederaufnahmeverfahren überhaupt in Gang zu setzen. Als Ergebnis der Beobachtung der Rechtspraxis ist daher festzuhalten, dass mit der Restitutionsklage gestützt auf die Behauptung, die letztinstanzliche Entscheidung beruhe auf einer Rechtsbeugung, ein außerordentlicher Rechtsbehelf gegen elementare richterliche Rechtsverstöße nur scheinbar bereitgestellt wird, der effektiv keinerlei Rechtsschutz bietet.
§ 7 Auswertung der Evaluationsergebnisse Der Wert einer Evaluation wird bestimmt nach deren Nützlichkeit für den Adressaten, hier also für den Gesetzgeber. Damit ist nunmehr in die Phase der Auswertung des festgestellten Befunds einzutreten. Der Zielsetzung dieser Studie 471
So Jauernig/Hess (Fn. 32), § 14 I; Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 41 Rn. 14.
§ 7 Auswertung der Evaluationsergebnisse
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entsprechend sollte der Befund dem Gesetzgeber nicht nur Anlass zur Reform der gegenständlichen außerordentlichen Rechtsbehelfe bieten (und der Vorschrift des § 339 StGB), sondern auch Grundlage zu deren Neugestaltung. Auszugehen ist davon, dass hinsichtlich der Effektivität des de lege lata bestehenden Rechtsschutzes vor allem gegen die Verfahrensgrundrechtsverletzungen in den nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren ein erhebliches rechtsstaatliches Defizit besteht und zugleich ein unabweisbares Bedürfnis in der Rechtspraxis nach dessen Beseitigung. Dies bestätigte Vollkommer schon 2004, indem er darauf hinwies, dass selbst die 2002 reformierte ZPO noch eine verfassungswidrige Regelungslücke aufweise, „soweit eine Abhilfemöglichkeit bei entscheidungserheblichen Gehörsverletzungen durch unanfechtbare Entscheidungen außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereichs von den in § 321a ZPO genannten Verfahren nicht besteht“472. Demzufolge sind nunmehr Möglichkeiten der Effektuierung und Erweiterung dieses unzulänglichen Rechtsschutzes de lege ferenda zu prüfen, und zwar zunächst für die Fälle der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten (II), dann für die Fälle der Verletzung der Verfahrensgrundrechte jeder Art (III) und schließlich für die Fälle der Verstöße gegen die Entscheidungsbegründungspflicht (IV). Einzugehen ist dabei auch auf die unterschiedlichen Konzeptionen des Wiederaufnahmerechts, nämlich die „Verfahrensfehlerrestitution“ der deutschen sowie auf die „Ergebnisrestitution“ der schweizerischen ZPO.
I. Zu den Versuchen der Effektuierung des durch die Anhörungsrüge gewährleisteten Rechtsschutzes Angesichts der Ergebnisse dieser Studie betreffend die Evaluation der Anhörungsrüge dürfte es naheliegen, die Frage aufzuwerfen, ob es sinnvoll ist, überhaupt noch an diesem auf Gehörsverletzungen beschränkten Sonderrechtsbehelf festzuhalten. Die Alternative wäre, auf ihn zugunsten einer angemessenen Erweiterung der Wiederaufnahmegründe der §§ 578 ff ZPO gänzlich zu verzichten, wie dies bereits Anfang der 80-iger Jahre der spätere Passauer Ordinarius Braun im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem OLG-Richter Seetzen zur Frage „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage?“ vorgeschlagen hatte (siehe oben unter § 3 III. 2. c)). Denn wie dargelegt wurden dessen Argumente im Verlauf der späteren zweifelhaften „Karriere“ jenes Rechtsbehelfs473 vollauf bestätigt. Vorab sind jedoch die diversen Vorschläge aus dem neueren Schrifttum wiederzugeben, wonach die Anhörungsrüge unter bestimmten Bedingungen aufrechterhalten bleiben könnte.
472 473
Vollkommer (Fn. 249), FS Gerhardt, S. 1037 und 1040. Dazu Kirchberg (Fn. 253), S. 45 ff.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
1. Die Vorschläge aus dem Schrifttum zur Rettung der Anhörungsrüge Im Schrifttum haben diverse Autoren den Versuch unternommen, die Effektivitätsproblematik der Anhörungsrüge durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 321a ZPO in den Griff zu bekommen, nämlich dem Grundsatz der Normerhaltung entsprechend in Richtung auf eine Anpassung des de lege lata bestehenden Rechtsschutzes an die verfassungsrechtliche Mindestgarantie des Justizgewährungsanspruchs. Obwohl hier die Ansicht vertreten wird, dass eine extensive Auslegung des § 321a ZPO schon wegen des Widerspruchs zu den exklusiven Vorschriften der §§ 578 ff ZPO ausscheidet, sollen nachfolgend diese Versuche einer verfassungskonformen Auslegung jener Ausnahmevorschrift wiedergegeben und kritisch gewürdigt werden. a) Die Reformvorschläge im Einzelnen: aa) Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Vorlage an den judex ad quem Als erster schlug Gravenhorst vor474, das Anhörungsrügenverfahren im Fall der Nichtabhilfe vor dem judex ad quem des übergeordneten Gerichts fortzuführen. Dem judex a quo sei daher für diesen Fall eine Vorlagepflicht ähnlich § 572 I ZPO aufzuerlegen. Diesen Vorschlag einer Kombination des Abhilfeverfahrens mit einer Vorlagepflicht befürworten auch Vollkommer sowie Bloching/ Kettinger, denen zufolge eine instanzinterne Selbstkontrolle bei „bewussten“ Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte nicht ausreiche, weshalb „eine Überprüfung nur durch einen absolut unvoreingenommenen Richter denkbar“ sei475. In Betracht käme nur ein Rechtsbehelf mit Devolutiveffekt, ausnahmsweise eine Überprüfung durch einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts. Ebenso betont Krugmann, dass es einer übergeordneten Instanz sowohl zur Wahrung der Rechtseinheit als auch insbesondere zur Sicherstellung der Qualität des Rechtsschutzsystems bedarf476. bb) Seer/Thulfaut: Beschwerde zum judex ad quem Diese Autoren bezweifeln bereits die Effektivität der Anhörungsrüge als Hilfsmittel bei „schlichten Pannen“ des Gerichts. Auch hier bedürfe es „einer gewissen Größe des Richters“, eine solche einzugestehen und nach außen hin offen einzuräumen477. Umso mehr dürfte es in den Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit an dessen 474
Gravenhorst, MDR 2003, 887. Vollkommer (Fn. 249), S. 1037 und 1040; Bloching/Kettinger (Fn. 257), S. 863. 476 Krugmann (Fn. 80), S. 307. 477 Seer/Thulfaut, Die neue Anhörungsrüge als außerordentlicher Rechtsbehelf im Steuerprozess, BB 2005, 1085, 1088. 475
§ 7 Auswertung der Evaluationsergebnisse
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Bereitschaft fehlen, eigene Fehlentscheidungen in einem Selbstprüfungsverfahren zu korrigieren. Da sich der Gesetzgeber auf das Minimalziel des Schutzes vor Gehörsverletzungen beschränkt hat, würde sich bei der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte anbieten, weiter von der (ungeschriebenen) außerordentlichen Beschwerde (wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit bzw. groben prozessualen Unrechts) zum judex ad quem Gebrauch zu machen, die nach der Gesetzesbegründung zu § 321a ZPO (BT-Drs. 14/ 4722, 14) nicht ausgeschlossen werden sollte, was vom IV. Senat des BFH ausdrücklich bestätigt worden sei (BFH vom 13.05.04, BB 2004, 1726). Wenn das Rügeverfahren „nicht zur Farce werden“ solle, seien außerdem im Wege der verfassungskonformen Auslegung des § 321a ZPO „Mindestvoraussetzungen an die Begründung eines die Rüge zurückweisenden Beschlusses zu stellen“. Denn auch eine Kurzbegründung müsse erkennen lassen, dass das Gericht den Rügevortrag (im Kerngehalt) zur Kenntnis genommen hat. cc) Schnabl: Analoge Anwendung des § 42 II ZPO Nach Ansicht Schnabls könne „das Effektivitätsdefizit schon durch die Entscheidung eines anderen Richters behoben werden. Zu diesem Ergebnis führe der Weg über die Richterablehnung analog § 42 II ZPO. Die Richterablehnung stelle „wohl die einzige Möglichkeit“ dar, „in den problematischen Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts effektiven Rechtsschutz zu erlangen“. Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes unter Berücksichtigung des Art. 101 I 2 GG gebiete eine verfassungskonforme Auslegung des § 42 II ZPO dahingehend, dass anstelle des judex a quo ein „anderer“ Richter im Sinne des § 45 II ZPO über die Anhörungsrüge zu entscheiden hat, der dann wohl eigens im Geschäftsverteilungsplan als hierfür zuständig bestimmt werden müsste. Besser noch sei allerdings eine Lösung de lege ferenda im Sinne des Vorschlags von Gravenhorst. b) Kritische Würdigung der Lösungsvorschläge aa) Zum Vorschlag von Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Dieser dürfte, weil zu weitgehend, jedenfalls nicht durchsetzbar sein. Denn er würde faktisch auf die Anerkennung einer weiteren (dritten) Instanz hinauslaufen, auf die nach der – wenn auch sehr umstrittenen – Rechtsprechung des BVerfG gerade kein Anspruch besteht. Die Anhörungsrüge würde nämlich dadurch von einem nur außerordentlichen Rechtsbehelf faktisch zu einem zusätzlichen Rechtsmittel gleich der sofortigen Beschwerde gemäß §§ 567 ff ZPO mutieren mit der Folge, dass dadurch die mit der Rüge angefochtene Entscheidung gar nicht in Rechtskraft erwachsen könnte. Dieser Lösungsvorschlag scheidet daher von vornherein aus, abgesehen davon, dass er auch mit den exklusiven Vorschriften der §§ 578 ff ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht vereinbar wäre. Doch ist nochmals zu erwähnen, dass nach den Materialien zu § 321a ZPO (BTDrs. 15/3706 S. 14) der Anwendungsbereich der
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
außerordentlichen Beschwerde nicht ausgeschlossen wurde, weshalb die Frage deren gewohnheitsrechtlicher Fortgeltung derzeit als ungeklärt gilt (oben § 5 III. 2. d) cc)). bb) Zum Vorschlag von Seer/Thulfaut: Deren Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf die Empfehlung, die Parteien sollten in den Fällen, in denen es um die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte geht als um diejenige der Garantie des rechtlichen Gehörs, weiter die angeblich noch immer bestehende Möglichkeit der (ungeschriebenen) außerordentlichen Beschwerde nutzen. Dies würde allerdings dazu führen, dass die Rüge einer Gehörsverletzung vom judex a quo, die Rüge der Verletzung eines der übrigen Verfahrensgrundrechte dagegen vom judex ad quem zu beurteilen wäre. Angesichts der Problematik der Selbstkontrolle wäre dann ausgerechnet dasjenige Verfahrensgrundrecht, dem das BVerfG von allen Verfahrensgrundrechten die größte Bedeutung beimisst, nämlich eben die Garantie des rechtlichen Gehörs, effektiv deutlich weniger geschützt als die übrigen angeblich weniger bedeutsamen Verfahrensgrundrechte. Das aber widerspräche krass sowohl der Intension des BVerfG als auch dessen Effektivitätsvorbehalt. Folgerichtig meinen daher die Autoren, dass es besser wäre, die Anhörungsrüge den Regeln des Beschwerdeverfahrens anzupassen. Dabei übersehen sie jedoch ebenso wie Gravenhorst und Bloching/Kettinger, dass diese Rüge dann kein außerordentlicher Rechtsbehelf mehr wäre, sondern ein neu in die ZPO implementiertes Rechtsmittel mit allen Folgen für die Rechtskraft der damit angegriffenen Entscheidung. Diese Lösung entfällt daher ebenso. Der Beitrag jener Autoren ist jedoch insofern überzeugend, als darin eine verfassungskonforme Auslegung des § 321a IV 4 ZPO dahingehend gefordert wird, dass auch an die Kurzbegründung, die dem judex a quo abverlangt wird, Mindestanforderungen zu stellen seien. Die hierfür vorgebrachten Argumente dürften kaum zu widerlegen sein: Denn selbstverständlich muss auch die Kurzbegründung erkennen lassen, dass das Gericht den mit der Rüge unterbreiteten Vortrag zur Kenntnis genommen und sich damit auseinandergesetzt hat. Ob dies anzunehmen ist, kann nur an Hand der Begründung des zurückweisenden Beschlusses überprüft werden. Lässt diese keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rüge erkennen, muss davon ausgegangen werden, dass es den Rügeführer auch im Anhörungsrügeverfahren nicht wirklich angehört hat. Der Verstoß gegen das rechtliche Gehör wird schließlich nicht schon durch die bloße Befassung des Gerichts mit der Rüge geheilt. Der Betroffene bleibt somit weiterhin auf die Verfassungsbeschwerde angewiesen. Sangmeister hat gezeigt, dass die den Revisionsgerichten in § 564 ZPO eingeräumte Möglichkeit des Begründungsverzichts bei der Zurückweisung von Verfahrensrügen bei „erfolglosen“ Revisionen schon weitgehend zur Aushöhlung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geführt hat478. cc) Zum Vorschlag Schnabl: Die analoge Anwendung des § 42 II ZPO erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel, zumal die (zu kurzen) Begründungen der Zurückweisungsbeschlüsse häufig durchaus vermuten lassen, dass Ablehnungsgründe 478
Sangmeister (Fn. 412), NJW 2009, 2087.
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beim judex a quo bestanden. Auch bei dieser Lösung ist jedoch keineswegs sichergestellt, dass jener „andere“ Richter tatsächlich als neutraler Richter mit „innerer Unabhängigkeit“ über die Arbeitsleistung seines kraft Gesetzes „abgelehnten“ Richterkollegen urteilen wird, worauf die Partei gemäß Art. 101 I 2 GG einen subjektiven Anspruch hat. Als „unbeteiligter Dritter“ gilt er nämlich nicht schon dann, wenn er am Verlauf und Ausgang des Verfahrens kein eigenes Entscheidungsinteresse verfolgt und es unterlässt, einem Prozessbeteiligten faktisch oder rechtlich eine Lage zu verschaffen oder zu belassen, „die ein Mehr an begünstigenden oder benachteiligenden Momenten gegenüber der objektiv-rechtlich gewährten Lage in sich schließt“, sondern erst, wenn auch seine Akzeptanz seitens der Parteien gewährleistet ist479. An dieser Voraussetzung fehlt es jedenfalls. Denn die Vermutung der Partei wird nicht zu widerlegen sein, dass erfahrungsgemäß jener „andere“ Richter ebenso voreingenommen und skeptisch an die Bearbeitung der Rüge herangehen wird, wie dies immer wieder bei Richtern festzustellen ist, die über Ablehnungsgesuche zu entscheiden haben und dabei die notwendige Distanz für eine unbefangene Entscheidung vermissen lassen. Für die Annahme solcher „Berufskumpanei“ kommt es nicht darauf an, ob der andere Richter eine Bloßstellung des Richterkollegen im Zweifel vermeiden will480. Vielmehr genügt es schon, dass diese Konstellation aus der Sicht der Prozessparteien geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Objektivität zu rechtfertigen. Zwar würde hier der Ausschluss des Richters schon kraft Gesetzes feststehen. Das muss den anderen Richter jedoch nicht daran hindern, Überlegungen (auch) darüber anzustellen, ob der Ausschluss unter den gegebenen Umständen wirklich gerechtfertigt war. Deshalb könnte die Lösung Schnabls sogar einen negativen Effekt haben, nämlich dann, wenn jener andere Richter in der Tat dazu neigen sollte, die Anhörungsrüge wie ein Ablehnungsgesuch zu behandeln, wodurch sich die Erfolgsquote der Anhörungsrüge zwangsläufig der noch geringeren Erfolgsquote der Ablehnungsgesuche annähern würde. Der Vorschlag vermag daher nicht zu überzeugen und hat daher zu Recht weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum Zustimmung erfahren. 2. Nochmals: Zur Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument Die zuvor erörterten allesamt nicht zufriedenstellenden Anregungen zur Verbesserung des Rechtsschutzes gegen Verletzungen der Verfahrensgrundrechte im Allgemeinen und des Art. 103 I GG im Besonderen werfen erneut die Frage nach der Sinn- und Zweckmäßigkeit der dem Anschein nach ineffektiven instanzinternen Selbstkontrolle auf. Doch so fragwürdig auch deren Effektivität sein mag, keineswegs ist sie schon per se als Kontrollinstrument ungeeignet. Schließlich gilt es zu 479
Eichenberger (Fn. 156), S. 25. Dazu Sangmeister, NJW 2007, 2363, 2369 mit Hinw. auf die Anmerkungen Wittrecks zur Novellierung des Richtergesetzes: Anwälte als Richter über Richter?, NJW 2004, 3011. 480
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bedenken, dass es zum einen mangels einer weiteren Instanz keine Alternative zu dieser Kontrolle in letztinstanzlichen Verfahren gibt und zum anderen gemäß § 584 ZPO das Ausgangsgericht auch für die Nichtigkeits- und Restitutionsklage zuständig ist. Folglich bleibt ohnehin nur die Möglichkeit, die Rahmenbedingungen der instanzinternen Selbstkontrolle zu verbessern, sie also so zu gestalten, dass sie dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG entspricht und damit möglichst uneingeschränkt effektiven Rechtsschutz gewährleistet. Dieser Aspekt wurde in der bisherigen Auseinandersetzung, die das Anhörungsrügeverfahren allein in der Gestalt zum Gegenstand hatte, die ihm der Gesetzgeber in § 321a IV ZPO verlieh, außer Acht gelassen. Als hinreichend effektiv im Sinne jenes Vorbehalts müsste das Verfahren aber dann betrachtet werden, wenn es dabei ebenso zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung käme, wie dies gemäß §§ 585, 128 ZPO im Wiederaufnahmeverfahren vorgesehen ist (siehe auch § 590 II ZPO). Dafür spricht insbesondere Folgendes: Einerseits bietet die mündliche Verhandlung der rügenden Partei nochmals Gelegenheit, dem Richter dessen angebliches Fehlverhalten plausibel vor Augen zu führen, und andererseits wird jener dadurch gleichzeitig in die Lage versetzt, sein Entscheidungsverhalten ihr gegenüber detailliert zu rechtfertigen. Denn das Abhilfeverfahren ist kein kontradiktorisches Erkenntnisverfahren mehr, in dem sich die Parteien weiter streitend gegenüberstehen, sondern ein Verfahren sui generis, das einzig die Begründetheit bzw. Unbegründetheit des behaupteten Verfahrensverstoßes im Sinne des § 321a I 1 Nr. 2 ZPO zum Gegenstand hat481. Dieser ist streng zu unterscheiden von dem nur noch eingeschränkten Gegenstand des Fortsetzungsverfahrens und der Neuverhandlung nach § 321a V 1 ZPO im Falle der Begründetheit der Rüge. Bis dahin geht es ausschließlich darum festzustellen, ob der Rüge überhaupt abzuhelfen ist, und nur mittelbar um die materielle Richtigkeit der Entscheidung. Darüber hinaus wird durch die obligatorische mündliche Verhandlung auch der Grundgedanke der ZPO-Reform 2002 in die Tat umgesetzt, dass die Parteien als Subjekte und nicht als Objekte des Verfahrens zu behandeln sind. Denn gerade dieses Verfahren soll doch die unterlegene Partei in die Lage versetzen, auch das für sie negative Ergebnis des Prozesses zu akzeptieren. Außerdem kann der Richter im Rahmen einer mündlichen Verhandlung schon aufgrund der ihm durch § 139 ZPO auferlegten Erörterungs- und Hinweispflichten weit weniger einer sachlichen Argumentation der Partei ausweichen als ihm dies im schriftlichen Verfahren möglich ist, wobei auch etwaige sonstige mit der Gehörsverletzung in Verbindung stehende Verfahrensgrundrechtsverletzungen erörtert werden können, so aufwendig dies auch sein mag. D.h., er ist verpflichtet, sein Entscheidungsverhalten der Partei gegenüber zu rechtfertigen, andernfalls er einen Ablehnungsantrag riskiert482, es sei denn, die Rüge diente nur der Verzögerung oder sei rein querula481
Hingewiesen wird von Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 18, allerdings nur auf den Streitgegenstand der Neuverhandlung. 482 Die Vorbefassung und die Unrichtigkeit der Entscheidung rechtfertigen als solche die Ablehnung außer im Fall der Willkür nicht, Zöller-Vollkommer (Fn. 6), § 321a Rn. 4.
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torischer Natur. Damit tritt an die Stelle der monologischen Beziehung zwischen Richter und Gesetz ein dialogischer Argumentationsprozess zwischen Richter und Partei. Ein Abhilfeverfahren im Rahmen der instanzinternen Selbstkontrolle, das wie gemäß 590 II ZPO einer mündlichen Verhandlung bedarf, entspricht folglich auch dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG, weshalb ein solches unter dieser Voraussetzung auch zu akzeptieren ist, und zwar auch deswegen, weil es dann zu einem Urteil kommt und nicht zu einem nur kurz zu begründenden Beschluss. In diesem Sinne meint auch Braun: Wäge man Vor- und Nachteile gegeneinander ab, so erscheine die Kontrolle durch den judex a quo als der einfachere, klarere und weniger aufwendige Weg und somit „als das kleinere Übel“ gegenüber der Weiterleitung der Rüge an den judex ad quem483. Und schließlich läßt sich noch anführen, dass das Abhilfeverfahren vor dem judex a quo auch eine erzieherische Wirkung auf diesen ausübt, wie dies Schneider hervorgehoben hat, da „Fehler, die im Ergebnis zu Mehrarbeit führen, weil eine Sache zweimal bearbeitet werden muss, … erfahrungsgemäß sehr schnell vermieden werden“484. Hier hängt eben viel von der Kompetenz und der Persönlichkeit des Richters ab, an dessen Rechtsbewusstsein und Rechtsethos es daher notfalls durch Hinweis auf die zwingenden Vorschriften der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG, §§ 1 GVG, 38, 46 DRiG, 54 BBG zu appellieren gilt.
II. Notwendigkeit der Reaktivierung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO Um die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in den Fällen der Rechtsbeugung zu effektuieren, kommt es nicht nur auf die ohnehin notwendige Berichtigung der „nach verbreiteter Meinung verfehlten Vorschrift“485 des § 581 I ZPO an. Vielmehr bedarf es dazu in erster Linie entweder einer nachhaltigen Änderung der Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB oder einer grundlegenden Reform dieser Vorschrift durch den Gesetzgeber unter Mithilfe der Strafrechtswissenschaft. Zu prüfen wäre aber auch, ob der Prozesspartei als mögliches Opfer einer Rechtsbeugung ein Anspruch auf Strafjustizgewähr gegen die Judikative zugestanden werden muss, also ein subjektiv-öffentliches Recht zumindest auf Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens gegen die Staatsanwaltschaft derart, dass in diesem Fall keine gesteigerten Anforderungen an die Zulässigkeit des Klageerzwingungsantrags gestellt werden dürften. Selbstverständlich müssen die Richter gegen überzogene Angriffe geschützt werden. Daher wäre eine Regelung abzulehnen, die es jeder rechtskräftig verurteilten Partei uneingeschränkt gestattete, das gegen sie ergangene Urteil mit der Behauptung anzufechten, dieses beruhe auf einer Rechtsbeugung i.S. des § 339 StGB. Denn 483 484 485
Braun (Fn. 112), JR 2005, S. 3. E. Schneider, Grundrechtsverstöße als greifbare Gesetzwidrigkeiten, MDR 1997, 991. So Zöller-Greger (Fn. 6), zu § 581 Rn. 3 mit Hinw. auf MK-Braun, § 581 Rn 11.
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dadurch wäre ein ordnungsmäßiger Ablauf der Rechtspflege nicht mehr gewährleistet und die obsiegende Partei käme womöglich nicht mehr zu ihrem Recht. Dies zumal hier angesichts der Unbestimmtheit des objektiven Tatbestands jener Norm auch noch die Schwierigkeit der Abgrenzung zur (nur) greifbaren Gesetzwidrigkeit der Entscheidung hinzukommt. Der Zugang zum Restitutionsverfahren darf aber auch nicht durch unerfüllbare prozessuale Erfordernisse von vornherein faktisch ausgeschlossen werden, die einen Immunitätsstatus des Richters bewirken würden486. Denn hat der Gesetzgeber einen Rechtsbehelf eingeführt, muss dieser hinsichtlich seiner Effektivität auch den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen entsprechen. Völlig ineffektive Rechtsbehelfe als Produkte einer reinen Alibi-Gesetzgebung dienen weder den Parteien noch der Entlastung des BVerfG. Folglich bedarf es einer Reform, die jenen Mindestanforderungen des Justizgewährungsanspruchs gerecht wird und zugleich die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils unabhängig von dessen sachlicher Richtigkeit rechtfertigt. 1. Zur Problematik einer Reform des § 339 StGB a) Zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift Veranlassung, die Verfassungsmäßigkeit des § 339 StGB überprüfen zu lassen, bestünde für die Strafsenate aufgrund der Unverhältnismäßigkeit sowohl der (zu) hohen Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe, die keine Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO mehr zulässt, als auch des im Falle der Verurteilung kraft Gesetzes ausgelösten Amtsverlustes. Es wäre daher sicherlich nicht abwegig, die Vorschrift nach Art. 100 I 1 GG dem BVerfG zur Überprüfung vorzulegen. Jedenfalls ist festzustellen, dass sich der BGH besser zu einer Richtervorlage hätte entschließen sollen, statt der Vorschrift einen verfassungswidrigen Inhalt zu geben. Allerdings hat auch das BVerfG zur Vermeidung einer „Vorlagenflut“ die Anforderungen an konkrete Normenkontrollanträge durch Errichtung hoher Zulässigkeitshürden derart verschärft, dass sich – so Hillgruber487 – die Fachgerichte teilweise zu einer „unbegrenzten Auslegung“ der Gesetze veranlasst sahen (wie sich dies gerade bei § 339 StGB gezeigt hat). Dadurch wurde nicht nur deren Gesetzesgehorsam unterminiert, sondern auch der Respekt vor den Gerichten geschwächt. Um der Vorlagepflicht nachkommen zu könen, fehlt es aber schon offenkundig am geeignetem Fall- und Anschauungsmaterial. Denn dazu bedürfte es zuerst einer Anklage der Staatsanwaltschaft mit wahrscheinlicher Aussicht auf Verurteilung. Aufgrunddessen entfällt auch die Möglichkeit, die greifbar gesetzwidrige Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB mittelbar über eine Urteilsverfassungsbeschwerde zum Gegenstand einer Überprüfung zu machen, da eine Verurteilung eines Richters unter exakter Anwendung der Schweretheorie von vornherein nicht in 486 487
Dazu Scheffler/Mathies, Rechtsbeugung und Immunität, in FS Seebode, 2005, S. 317. Hillgruber (Fn. 132), JZ 2011, 861, 866.
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Betracht kommen dürfte. Allenfalls könnte das BVerfG dadurch zu einer Überprüfung dieser „Theorie“ veranlasst werden, dass ein „Opfer“ einer Rechtsbeugung den Beschluss des Oberlandesgerichts mit der Verfassungsbeschwerde angreift, durch den sein gegen die Staatsanwaltschaft gerichteter Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Klageerzwingungsverfahren nach § 172 StPO unter Hinweis auf jene Rechtsprechung als unbegründet zurückgewiesen wurde. Aber auch diese Beschwerde müsste erst einmal erfolgreich das Vorprüfungsverfahren nach § 93a II BVerfGG passieren. b) Unzulässigkeit einer „authentischen Interpretation“ des Gesetzgebers Erweist sich ein Gesetz als unklar oder stellt sich nachträglich heraus, dass dessen Auslegung durch die Gerichte der Regelungsintension des Gesetzgebers widerspricht, so hat dieser grundsätzlich die Möglichkeit der Klarstellung oder Selbstkorrektur jenes Gesetzes durch Erlass eines „Reparaturgesetzes“. Wegen des Rückwirkungsverbots kommt solches allerdings nur mit ausdrücklich verordneter Ex-nunc-Wirkung in Betracht, um auch eine als bloß deklaratorische Klarstellung getarnte Rückwirkung zu verhindern. Das gleiche Problem stellt sich bei der sog. authentischen Interpretation488. Denn auch sie beinhaltet notwendig den Anspruch auf Rückwirkung, indem sie die Behauptung impliziert, das Gesetz habe immer schon, also schon seit seinem Inkrafttreten, so verstanden werden müssen. Deshalb ist sie nach unstreitiger Rechtsprechung des BVerfG unzulässig, da zur verbindlichen Auslegung einer Norm letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen ist489. Diese Prüfungskompetenz der Gerichte kann der Gesetzgeber nicht mit der Behauptung unterlaufen, seine Norm habe (nur) klarstellenden Charakter. Eine durch einen Interpretationskonflikt ausgelöste Normsetzung ist somit nicht anders zu beurteilen als eine durch sonstige Gründe veranlasste Gesetzesänderung. Statt über eine Änderung des § 339 StGB Erleichterungen für Anklagen gegen Richter wegen Rechtsbeugung zu schaffen, die kaum zu einer Erhöhung der Verurteilungen führen dürften, wäre es ohnehin sinnvoller, den zivilprozessualen Rechtsschutz gegen greifbar gesetzwidrige richterliche Spruchtätigkeit durch eine Reform der §§ 578 ff ZPO so auszubauen, dass dieser der verfassungsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes auch tatsächlich gerecht wird. Denn den Opfern solcher Spruchtätigkeit geht es wie gesagt nicht um die Bestrafung des tatverdächtigen Richters, sondern ganz vorrangig um einen effektiven Rechtsschutz gegen die greifbar gesetzwidrige Entscheidung auch nach Eintritt der Rechtskraft. Der Verhängung von Sanktionen gegen den Richter persönlich bedarf es ausschließlich
488 Dazu Schnapp, Unbegrenzte Nachbesserung von Gesetzen bei unklarer und verworrener Rechtslage?, JZ 2011, 1125, 1128 f. 489 BVerfGE 126, 369, 392 f.
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zur Reinhaltung der Amtsführung und damit zum Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege. c) Notwendigkeit der Reform des § 339 StGB Die Messung der Wirksamkeit eines Gesetzes muss sich an dessen Zielen orientieren490. Wie sich gezeigt hat, wurden die Ziele, die der Gesetzgeber mit der Kriminalisierung des richterlichen Entscheidungsverhaltens verband, das er nur sehr vage mit dem Begriff „Rechtsbeugung“ umschrieb, jedenfalls insofern verfehlt, als es ihm darum ging, damit gegen die Richter eine wirksame Sanktionsdrohung aufzubauen. Denn in der Tat muss kein Richter selbst bei krassen Fehlentscheidungen ernsthaft befürchten, einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung ausgesetzt zu werden, das mit einer Anklage endet. Daher ist die Strafrechtswissenschaft als empirische Wissenschaft aufgefordert, dem Gesetzgeber die realen Gegebenheiten für die rechtspolitische Umgestaltung der erodierten Vorschrift des § 339 StGB plausibel zu machen. Wenn es nämlich deren Aufgabe ist, „auf der Basis ihrer dogmatischen Einsichten Veränderungen des geltenden Rechts zu fordern und die Ergebnisse der Gesetzgebung nicht nur dogmatisch, sondern auch rechtspolitisch zu bewerten“491, ist gerade sie dazu aufgerufen, dem Gesetzgeber geeignete Vorschläge zu einer solchen Reform auszuarbeiten. Zum Zwecke einer solchen Nachbesserung des § 339 StGB dürfte allerdings der von Bemmann, Seebode und Spendel vorgelegte Entwurf, der eine Herabsetzung des Strafrahmens und die Einführung eines minder schweren Falls der Rechtsbeugung vorsieht, kaum geeignet sein492. Danach soll grundsätzlich jede vorsätzliche „Verletzung“ des Rechts zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten den objektiven Tatbestand der Vorschrift erfüllen. Zwar würde dies mit der herrschenden objektiven Rechtsbeugungstheorie und dem allgemeinen Verständnis der Norm übereinstimmen. Solange jedoch die Rechtsbeugung weiterhin als „eines der übelsten Verbrechen“ gilt, weil sie dadurch gekennzeichnet ist, dass „der Richtende, der berufene Hüter des Rechts, seine hoheitliche Aufgabe ,verkehrt‘ und, statt das Recht zu ,richten‘ und zu wahren, das Recht ,biegt‘ und ,beugt‘, wie es in der Begründung jenes Reformvorschlags heißt, werden die Hemmungen der Strafverfolgungsbehörden, einen Richter an den Pranger zu stellen und damit nachhaltig zu stigmatisieren, selbst durch die Einführung eines minder schweren Fall kaum abgebaut werden. Dazu müsste sich der BGH zuerst einmal von seiner gefestigten Rechtsprechung zu jener Vorschrift distanzieren. Dies wäre umso mehr zu erwarten, als ihm schließlich nicht das Recht zugestanden werden kann, eine wirksam erlassene 490 Amelung, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 1980, 30; Noll, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 1980, 73; Schreiber, Ist eine Effektivitätskontrolle von Strafgesetzen möglich?, in Schäffer/Triffterer (Hrsg.) Rationalisierung der Gesetzgebung, Gedächnisschrift für J. Rödig, 1984, 178, 180. 491 P. Rieß, Wechselbezüge zwischen Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebung, ZStW 95 (1983), 529, 530. 492 Bemmann/Seebode/Spendel (Fn. 112), S. 307.
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Rechtsnorm durch Nichtanwendung einfach leerlaufen zu lassen, wobei noch hinzukommt, dass sich dessen Ungehorsam ausgerechnet gegen eine Vorschrift richtet, deren Zweck gerade in der Sicherung der Gesetzesbindung liegt493. Das Interesse der Justiz müsste daher auch zum Zwecke ihrer Selbstreinigung gerade auf eine Erhellung des Dunkelfelds der Rechtsbeugungen und deren regelmäßige Verfolgung gerichtet sein. Zumindest sollten von der Strafrechtswissenschaft konkrete Kriterien formuliert werden, die eine Beurteilung zulassen, ab wann das richterliche Entscheidungsverhalten als judikatives Unrecht zu gelten hat. Hierbei wäre entscheidend darauf abzustellen, welches Rechtsgut § 339 StGB als echtes Sonderdelikt schützt, also entweder die Rechtspflege gegen Angriffe „von innen“ und/oder die Individualrechtsgüter oder einfach nur die Unparteilichkeit der Rechtspflege494. Dabei könnte die Vorschrift des § 581 ZPO zugleich derjenigen des § 580 Nr. 8 ZPO in der Weise angepasst werden, dass das Vorliegen des objektiven Tatbestands des § 339 StGB auch vom Zivilgericht festgestellt werden kann. 2. Anspruch auf Strafjustizgewähr im Falle einer Rechtsbeugung? Damit bleibt noch zu prüfen, ob der Prozesspartei als potentielles Opfer einer Rechtsbeugung bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ein Anspruch auf Strafjustizgewähr gegen die Judikative dahingehend zusteht, dass gegen den beschuldigten Richter dieserhalb Anklage erhoben und ein Strafverfahren durchgeführt wird. Dies wäre dann anzunehmen, wenn der von Wilfried Holz vertretenen Ansicht zu folgen wäre, wonach der Verletzte einer Straftat ein legitimes Interesse an der Wiederherstellung der individualrechtsgutschützenden Strafnorm in Form des Anspruchs eines Unwerturteils gegenüber dem Täter zur Restitution des durch die Straftat lädierten Normvertrauens habe495. Ihm stehe daher generell ein subjektives Recht gegen den Täter auf Strafjustizgewährung zu. Abzuleiten sei dieses Recht aus der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte, die auch den Schutz des Vertrauens der Bürger auf Gewährung von Sicherheit umfasse. Zwar ist mit der herrschenden Ansicht ein solcher genereller Anspruch abzulehnen, da ein Ausgleichsanspruch des Verletzten gegen den Staat wegen des Verlustes archaischer „Selbstjustizbefugnisse“ nicht anerkannt werden kann496. Es fragt sich jedoch, ob dem potentiellen Opfer einer Rechtsbeugung bei hinreichendem Tatverdacht nicht 493 494
950. 495
Sowada (Fn. 421), S.196. LK-Hilgendorf (Fn. 117), § 339 Rn. 4; Kern (Fn. 116), § 2; OLG Naumburg JuS 2012,
W. Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 133 ff. Th. Weigend, „Die Strafe für das Opfer“? – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, RW 2010, 39, 45, 54. Auch er leitet jedoch aus Art. 2 I mit 1 I GG einen subjektiven Anspruch auf Durchführung eines Strafverfahrens ausnahmsweise für Verletzte schwerer Straftaten ab. Siehe auch R. P. Anders, Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren, ZStW 2012, 375, 387 ff. 496
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zumindest ein subjektiv-öffentliches Recht auf Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens zuzugestehen ist, und zwar entgegen § 172 II 3 StPO auch dann, wenn das Ermittlungsverfahren gegen den Richter aus Opportunitätsgründen eingestellt worden sein sollte497. Nach h.M. soll das Verfahren die Durchsetzung des Legalitätsprinzips gewährleisten. Nur nach einer Mindermeinung dient es auch dem Schutz und der Genugtuung des durch die Straftat Verletzten498. Daher wäre ein solcher Anspruch im Zweifel zu verneinen. Im Falle der Rechtsbeugung geht es dem Opfer jedoch entscheidend um die Herbeiführung der Voraussetzung für die Erhebung der Restitutionsklage, also primär um „sein Recht“, das ihm im vorausgegangenen Zivilprozess angeblich verweigert wurde, und nur höchst sekundär darum, durch eine angemessene Bestrafung des Richters auch noch persönlich Genugtuung zu erfahren. D.h., mit dem Klageerzwingungsverfahren wird von ihm über die Verurteilung des Täters hinaus (noch) ein weitergehender Zweck verfolgt, wobei er das Strafverfahren nicht anstrebt, um ein Beweismittel (im Sinne der Theorie Gauls) in die Hand zu bekommen, sondern allein, um die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Restitutionsklage erfüllen zu können. Zu bedenken ist außerdem, dass die Rechtsbeugung eine Straftat ist, die haftungsrechtlich aufgrund des Richterprivilegs unmittelbar der Judikative zuzurechen ist. Ist aber der Staat selbst Täter, hat er das Recht verwirkt, den Zugang zum Restitutonsverfahren auch noch durch fragwürdige Schranken zu erschweren. Vor allem ist hier auch das Interesse des Opfers zu berücksichtigen, sich aktiv an dem Verfahren beteiligen zu können499. Unter diesen Umständen dürfte es daher gerechtfertigt sein, ein subjektives Recht der Prozesspartei als potentielles Opfer einer Rechtsbeugung auf Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens anzuerkennen, und zwar auch für den Fall, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Richter nach § 253 ff StPO eingestellt wurde. Insoweit greifen hier auch die von Holz angeführten Argumente. 3. Anwendbarkeit des § 580 Nr. 5 ZPO auf greifbare Gesetzwidrigkeiten? Es kann auch weiter danach gefragt werden, ob innerhalb des Wiederaufnahmerechts die Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO über deren ohnehin nötige 497
Die Einbeziehung der Einstellungen gemäß §§ 153 ff StPO in den Anwendungsbereich des Klageerzwingungsverfahrens ist nach Wohlers, SK-StPO (Fn. 469), § 172 Rn. 5, ohnehin dringend geboten. 498 Vgl. Wohlers in SK-StPO (Fn. 469), § 172 Rn. 2; Wohlers NStZ 1990, 98, 99. 499 Vgl. Art. 3 S. 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15.03.01 (ABI. EG L 82/1), in dem es heißt: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.“ Da dieser Beschluss von den Mitgliedstaaten nur mangelhaft umgesetzt wurde, beabsichtigt die Kommission, ihn im Rahmen ihres „Opferschutzpaketes“ vom 18.05.11 durch eine Opferrechte-Richtlinie zu ersetzen, siehe dazu Anders (Fn. 496), S. 383 f.
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berichtigende Auslegung hinaus in Fällen der greifbaren Gesetzwidrigkeit außerdem verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden sollten, dass sie auch diejenigen Fälle erfassen, in denen nicht zugleich der Tatbestand des § 339 StGB verwirklicht wurde. Dieser Frage ist deswegen nachzugehen, weil eben aufgrund der restriktiven Auslegung des § 321a ZPO einerseits und der Sperrwirkung des § 581 I 1 ZPO andererseits mit der Anhörungsrüge (bzw. nach Braun mit der Nichtigkeitsklage nach § 579 I Nr. 4 ZPO) nicht einmal mehr entscheidungserhebliche Gehörsverletzungen effektiv anfechtbar sind, geschweige denn noch weit gröbere greifbare Gesetzwidrigkeiten wie die Verletzung der übrigen Verfahrensgrundrechte und des Justizgewährungsanspruchs. Denn es dabei zu belassen, widerspräche der Rechtsweggarantie. Die Klärung dieser Frage wäre zwar vorrangig Sache des Gesetzgebers. Das BVerfG hat jedoch in seinem Plenarbeschluss ausnahmsweise auch einen praeter legem gewährten Rechtsschutz durch die Gerichte für den Fall anerkannt, dass der Gesetzgeber pflichtwidrig untätig bleiben sollte500. a) Planwidrige oder bewusst geplante Unvollständigkeit der ZPO? Daher ist zu prüfen, ob grundsätzlich eine entsprechende Anwendung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO – ausdrücklich contra legem – auf sämtliche Fälle der Verletzung anerkannter Verfahrensgrundrechte sowie zur Abwehr von Rechtsbeugung und Rechtsmissbrauch in Erwägung gezogen werden sollte. Schließlich kam es aufgrund der „praktisch sinnlosen Diskussion“501 über das (Schein-)Problem der analogen Anwendbarkeit des § 321a ZPO auf die Verletzung der übrigen Verfahrensgrundrechte gar nicht erst zu einer Auseinandersetzung mit dieser an sich weit näherliegenden Frage. Zwar verlangt eine derartige Ausdehnung des Anwendungsbereichs der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO nach einer weiteren Korrektur dieser Vorschriften über die bereits von Braun vorgenommene Berichtigung des § 581 I 1 ZPO hinaus, was einer (zulässigen) teleologischen Extension bedürfte. Als zu weitgehend und verfehlt kann dieses Vorgehen jedoch dann nicht bezeichnet werden, wenn sich die mit jenen Vorschriften verfolgten Regelungsziele des Gesetzgebers als nicht mehr durchsetzbar erwiesen haben, wenn deren Korrektur gerade der Verwirklichung dieser Ziele dienen soll und wenn die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs zwingend deren Anpassung an die veränderten Umstände erfordern502. Frage ist daher, ob eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 5 ZPO auf diejenigen Fälle der greifbaren Gesetzwidrigkeiten vertretbar ist, in denen dahingestellt bleiben könnte, ob dabei zugleich der Tatbestand des 339 StGB im Sinne der BGH-Rechtsprechung verwirklicht wurde oder nicht.
500 501 502
BVerfGE 107, 395, 418 unter IV. 3. So Seer/Thulfaut (Fn. 477), BB 2005, 1085, 1086. Vgl. dazu Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 937.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Die Ansicht, dass diese Analogie „zwingend geboten“ sei, ist bislang nur von H.G. Borck in einem Aufsatz aus dem Jahre 1999 vertreten worden503: Borck stellt der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO die (damals noch gebräuchliche) außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit gegenüber, prüft dann, „ob das, was unter der ,Greifbarkeit‘ der Gesetzwidrigkeit verstanden werden soll, der Bedeutung der Strafbarkeit im System der Restitutionsgründe entspricht“, um daraufhin festzustellen, dass der Zweck der Strafbarkeit nur darin bestehen kann, die Restitutionsklage auf solche Fälle zu beschränken, in denen die Grundlagen des Urteils evident – um nicht zu sagen ,greifbar‘ – erschüttert“ wurden, und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass die greifbare Gesetzwidrigkeit, die auch für den judex a quo evident ist, dem Merkmal der Strafbarkeit des richterlichen Verhaltens in §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO gleichzusetzen sei. Dies mit der Folge, dass die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO auch auf nicht strafbare, aber greifbar gesetzwidrige Spruchtätigkeit analoge Anwendung fände. b) Anspruch auf Wiedergutmachung judikativen Unrechts? Wenn auch über eine dahingehende Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 580 Nr. 5 ZPO letztlich der Gesetzgeber befinden sollte, könnte eine solche extensive Auslegung der Vorschrift durchaus auch von den Gerichten in Erwägung gezogen werden: Was die Anfechtbarkeit eines rechtskräftigen Endurteils anbelangt, das angeblich auf einer Rechtsbeugung beruht, so ist anzunehmen, dass in den §§ 578 ff ZPO insofern nachträglich eine Gesetzeslücke und damit ein Regelungsproblem entstanden ist, als durch die Erodierung des § 339 StGB zu einer allenfalls noch symbolisch geltenden Strafvorschrift, wenn nicht gar zu einem nudum jus, die der Gesetzgeber nicht voraussehen konnte, der Anwendungsbereich des § 580 Nr. 5 ZPO praktisch komplett entfallen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Anfechtbarkeit eines Endurteils, das nach Ansicht der Prozesspartei auf einer greifbaren Gesetzwidrigkeit, wenn auch nicht zugleich auf einer Rechtsbeugung i.S. des § 339 StGB beruht. Diese noch weitaus größere Lücke sollte in einem Teilbereich dem außerordentlichen Bedürfnis des Rechtsverkehrs entsprechend durch Einführung der Vorschrift des § 321a ZPO ausgefüllt werden. Wie dargelegt hat sich dieses Unterfangen jedoch aufgrund der diversen Mängel bei der Implementierung jener Vorschrift und deren äußerst nachlässigen Handhabung durch die Gerichte als untauglicher Versuch einer Lückenausfüllung herausgestellt. Nach wie vor ist daher auch und gerade dieses Problem betreffend von einem höchst regelungsbedürftigen Rechtszustand auszugehen, der wegen des Versagens des Gesetzgebers notfalls durch die Gerichte zu klären wäre, und zwar eben im Wege einer teleologischen Extension des § 580 Nr. 5 ZPO: Bei einer solchen Lückenfüllung wird die angenommene Gesetzeslücke „aus dem weiterreichenden Normzweck einer bestehenden Rechtsnorm begründet und mit 503
Borck, Wiederaufnahme wegen „greifbarer Gesetzwidrigkeit“?, WRP 1999, 478.
§ 7 Auswertung der Evaluationsergebnisse
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einem Analogieschluss ausgefüllt“504. Wie bereits unter Teil 2 § 2 I. 2. b) cc) ausgeführt, beinhaltet die ungeschriebene, an den Richter adressierte Verhaltensnorm, die hinter der Sanktionsnorm des § 339 StGB steht, nicht nur das strikte Verbot, das Recht zu beugen, sondern eine darüber hinaus weitaus umfassendere Sollensanordnung, nämlich die, bei seiner Spruchtätigkeit überhaupt Rechtsmissbrauch, Rechtsbeugung und („bewusste“) greifbare Gesetzwidrigkeiten zu unterlassen. Dass der Gesetzgeber unter diesen Varianten abweichenden richterlichen Entscheidungsverhaltens nur die Rechtsbeugung ausgewählt hat, um sie zu kriminalisieren, steht dazu absolut nicht in Widerspruch und hindert ihn keineswegs, auch greifbare Gesetzwidrigkeiten des judex a quo in Gestalt der entscheidungserheblichen Verletzungen eines Verfahrensgrundrechts als nicht strafbare Amtspflichtverletzung zu sanktionieren, nämlich wie bei § 321a ZPO eben in der Weise, dass der Rechtsstab auf Antrag hin sein Entscheidungsverhalten im Wege der instanzinternen Selbstkontrolle nochmals zu überprüfen und ggf. zu revidieren hat. Die richterliche Unabhängigkeit wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Es geht auch insoweit allein um die Sicherstellung der Sachrichtigkeit der Entscheidung. Der Analogieschluss setzt als wertender Akt des Rechtsanwenders voraus, „dass der ,Rechtsgedanke‘ der analog anzuwendenden Vorschrift nach Sinn und Zweck auch auf den ungeregelten Sachverhalt so weitgehend zutrifft, dass die Gesetzgebung diesen ebenso geregelt haben würde“505. Dementsprechend soll hier die in § 580 Nr. 5 ZPO enthaltene Regelung, wonach die Restitutionsklage dann stattfindet, wenn sich der Richter bei seiner Mitwirkung im Verfahren „einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat“, auf den nicht geregelten Fall ausgedehnt werden, dass diesem anstelle einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten (nur) eine grundsätzlich nicht strafbare greifbare Gesetzwidrigkeit in Form einer Verletzung eines Verfahrensgrundrechts zum Vorwurf gemacht werden kann. Zu fragen ist demnach, ob hier die Wertmaßstäbe, die den Gesetzgeber veranlassten, die Rechtsbeugung zusätzlich mittels der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO zu sanktionieren, in gleicher Weise bei der Beurteilung des strukturell gleichen Falls anzulegen sind, dass dem Richter (lediglich) eine nicht strafbare greifbare Gesetzwidrigkeit zum Vorwurf gemacht werden kann. Bedenkt man, dass die Rechtsbeugung innerhalb der gesamten Breite des greifbar gesetzwidrigen richterlichen Verhaltens nur einen extremen Auswuchs dieses Verhaltens betrifft, der durch offizielle Zuschreibung506 seitens des Gesetzgebers sogar als Straftat stigmatisiert wurde, so muss diese Analogie im Zweifel bejaht werden. Denn keineswegs sollte dadurch das zivilprozessuale judikative Unrecht des übrigen, nicht für strafbar erklärten greifbar gesetzwidrigen Verhaltens des Richters gänzlich verneint oder auch nur relativiert werden. Zwar trifft zu, dass der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Restitutionsklage ausdrücklich an eine strafbare Verletzung der 504 505 506
Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 904. Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 889, 894 f mit 751. Dazu z. B. K.-L. Kunz, Kriminologie, 5. Aufl. 2008, § 1 Rn. 17 ff.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Amtspflichten des Richters geknüpft hat. Aus der Sicht der Prozesspartei ist jedoch gleichgültig, ob der Richter, der sich bei seiner Spruchtätigkeit unbestreitbar einen offensichtlichen, jedem Zweifel entrückten Fehlgriff leistete, damit auch noch den Tatbestand eines Verbrechens verwirklichte. So meint auch Borck, dass schließlich „eine Entscheidung, welche unrichtig ist, weil sie auf einer greifbaren Gesetzwidrigkeit beruht, … nicht dadurch noch unrichtiger (werde), dass der Richter, der sie getroffen hat, hierfür bestraft wird“507. Aus der Existenz der Vorschrift des § 339 StGB kann daher keinesfalls e contrario gefolgert werden, dass greifbare Gesetzwidrigkeiten, die nicht zugleich den Tatbestand des § 339 StGB erfüllen, nach den Vorstellungen des Gesetzgebers keine (zivilrechtlich) beachtlichen Angriffe gegen die staatliche Rechtspflege „von innen“ darstellen sollten und es deshalb auch nicht nötig sei, sie überhaupt zu sanktionieren. Das rechtfertigt es, die Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO auch analog auf Endurteile anzuwenden, die auf elementaren Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte beruhen. Es bedarf aber auch noch der Klageberechtigung. c) Drittschützende Wirkung der sekundären Sanktionsnormen Damit die Prozesspartei, die in einem nicht mehr rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren Opfer einer greifbaren Gesetzwidrigkeit des Gerichts wurde, prozessual in die Lage versetzt werden kann, vom Staat die Wiedergutmachung des ihr zugefügten judikativen Unrechts zu verlangen, muss ihr ein subjektiv-öffentliches Recht dieses Inhalts einschließlich der Klagebefugnis oder Klageberechtigung zustehen. Ein solches Recht ist nach der herrschenden Schutznormtheorie nur gegeben, wenn ein Rechtssubjekt das Verhalten eines anderen Subjekts einklagen kann. Es besteht dort, wo rechtliche Verhaltens- und Sanktionsnormen derart kombiniert sind, dass der Normbenifiziar bei Verletzung von Verhaltensnormen Sanktionen gegen den Urheber dieser Rechtsverletzung auslösen kann“508. Entscheidend ist dabei letztlich die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzbarkeit einer bestimmten Verhaltensnorm: Als solche bietet sich den Prozessparteien die schon genannte, den Vorschriften der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG, § 1 GVG, §§ 38, 46 DRiG, 54 BBG und 339 StGB zugrundeliegende ungeschriebene Verhaltensnorm an, nach deren Sollensanordnung der Richter bei seiner Spruchtätigkeit nicht nur strafbare Amtspflichtverletzungen zu unterlassen hat, sondern überhaupt jede greifbare Gesetzwidrigkeit insbesondere durch Verletzung der Verfahrensgrundrechte. Davon, ob jene Verhaltensnorm drittschützende Wirkung auf die Prozessparteien ausübt, hängt es ab, ob diesen auch eine Klageberechtigung zukommt. Es kommt also darauf an, ob sie nur darauf abzielt, die objektive Rechtsgeltung zu bewahren und Angriffe „von innen“ gegen die Rechtspflege zu verhindern, oder ob sie auch dem Schutz der einzelnen Prozesspartei als Adressat des richterlichen Handelns vor krasser Willkür zu dienen bestimmt ist. 507
Borck (Fn. 502) S. 483. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 7), § 45 III und § 46; Groß, Die Klagebefugnis als gesetzliches Regulativ des Kontrollzugangs, Die Verwaltung 2010, 349, 351 ff. 508
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Für Letzteres spricht klar der Wortlaut des § 339 StGB („zugunsten oder zum Nachteil einer Partei“). Dennoch betrachteten Kuhlen und Lackner/Kühl den Schutz der Individualinteressen der Partei bislang als bloßen Schutzreflex jener Norm, wobei sie ihre Ansicht sogar als herrschend bezeichneten509. Die gegenteilige Ansicht sei „nicht damit verträglich, dass auch eine lediglich zum Vorteil einer Partei erfolgende Fehlentscheidung dem Tatbestand genügt“. Dem hält Kargl entgegen, dass die Tatsache, dass jede Beugung des Rechts die Besser- oder Schlechterstellung einer Partei zur Folge habe, doch nur die Aufwertung des Individualschutzes bestätige510. Unabhängig davon, ob es Fälle der Rechtsbeugung gäbe, bei denen es zu keiner Vorteils- oder Nachteilszufügung komme, werde mit dem Einwand nicht mehr gesagt, als dass eine falsche Entscheidung stets Auswirkungen auf subjektive Rechte habe. Da der Tatbestand mit der Wendung „oder“ einer Herausnahme der ausschließlichen Begünstigung widerspräche, müsse dem Bedenken Rechnung getragen werden, dass es in diesen Fällen eben nicht auf die Verletzung subjektiver Rechte des Einzelnen ankomme. Es sei schon schwierig, bestimmen zu müssen, wo genau die Grenzen zwischen Vorteil und Nachteil verlaufen. Doch selbst wenn man davon ausginge, dass diese Grenzziehung prinzipiell möglich ist und somit „Nur-Begünstigungsfälle“ existierten, führe dies nicht zur Beseitigung des Individualschutzes beim Rechtsgut der Rechtsbeugung. Dem ist zuzustimmen. Denn jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Schutz der Rechtspflege im Zweifel zumindest mittelbar auch der Schutz des Einzelnen intendiert wurde. So meint schließlich auch Kuhlen, dass angesichts der „auch vertretbaren Gegenauffassung“ die seinerseits zugrundegelegte Rechtsgutsbestimmung nicht überbewertet werden dürfe511. Das aber bedeutet, dass der Prozesspartei volle Drittschutzwirkung zukommt und nicht nur ein bloßer Schutzreflex. Auch fehlt es für die Anwendbarkeit der Schutznormtheorie nicht an der hinreichenden Bestimmtheit des geschützten Personenkreises. Nach der Rechtsprechung ist hierfür ein kleiner und exklusiver Personenkreis nicht (mehr) erforderlich. Die Größe des Kreises der aufgrund einer Schutznorm Berechtigten ist vielmehr inzwischen als Abgrenzungskriterium überflüssig geworden512. Damit steht der betroffenen Prozesspartei auch die Klageberechtigung zu. Herzuleiten ist dieses Abwehrrecht als subjektives Recht, das auch die Klageberechtigung mit einschließt, somit nicht aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG, sondern folgt selbst unabhängig vom allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus der Tatsache, dass es dem einzelnen Prozessbeteiligten mittelbar – über die Drittschutzwirkung – kraft öffentlichen Rechts verliehen wurde. Fraglich kann hierbei allenfalls der Umfang der ihm daraus erwachsenen Rechtsposition sein.
509 510 511 512
NK-Kuhlen, StGB, 2003, § 339, Rn 15; Lackner/Kühl, StGB, 2007, § 339 Rn 2. Dazu Kargl (Fn. 181), S. 866 f. NK-Kuhlen (Fn. 508), § 339 Rn. 16. Dazu Groß (Fn. 507), S. 358 f.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Statt die Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO zum Zwecke ihrer erweiterten Anwendbarkeit auf die Fälle greifbarer Gesetzwidrigkeiten über eine aufwendige verfassungskonforme Auslegung in mehrfacher Hinsicht zu berichtigen, sollte jedoch besser der Gesetzgeber veranlasst werden, in das Wiederaufnahmerecht der Empfehlung Brauns folgend eine Vorschrift nach dem Vorbild des § 579 III 1 und 2 ZPO a.F. einzuführen. Eine solche Erweiterung des Rechtsschutzes mittels des außerordentlichen Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage würde sowohl dem Bedürfnis des Rechtsverkehrs und dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit entsprechen als auch angemessen die Gesetzeslücke schließen, die durch § 321a ZPO völlig unzureichend ausgefüllt wurde.
III. Erweiterung der Wiederaufnahmegründe auf die Fälle der sonstigen Verfahrensgrundrechtsverletzungen? Im Wiederaufnahmerecht der §§ 578 ff ZPO haben sich nach Braun Lehre und Rechtsprechung grundsätzlich “um einen Interpretationsrahmen zu bemühen, der den Gedanken der Rechtskraft in gebührender Weise berücksichtigt“513. Umso mehr ist dieser Gedanke bei der hier aufgeworfenen Frage zu beachten, ob über die Gründe hinaus, die der Gesetzgeber in den §§ 578 ff und 321a ZPO als Voraussetzungen für die Durchführung von Wiederaufnahme- bzw. Abhilfeverfahren bestimmt hat, auch noch bislang nicht erfasste Fehlgriffe des letztinstanzlichen Richters bei seiner Spruchtätigkeit dazu Anlass geben sollten, als Wiederaufnahmegründe anerkannt zu werden. Als solche kommen wie gesagt drei Fehlergruppen judikativen Unrechts in Betracht, nämlich: erstens Verstöße gegen die Justiz- oder Verfahrensgrundrechte über die Gehörsverletzung hinaus, zweitens Verstöße gegen die strafbewehrten richterlichen Amtspflichten, soweit sie sich aufgrund der Rechsprechung als unangreifbar erwiesen haben, und drittens Verstöße gegen die unverzichtbaren Begründungspflichten514. Dies alles betrifft die seit einhundert Jahren vergeblich angemahnte dogmatische Modernisierung des Wiederaufnahmerechts515, das in der Tat noch erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufweist. 1. Anforderungen der EMRK an die Effektivität des Rechtsschutzes Über die spezielle Frage hinaus, ob und inwieweit der durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO gewährleistete Rechtsschutz überhaupt hinreichende Effektivität besitzt, ist daher noch festzustellen, ob und inwieweit dieser Rechtsschutz auch den prozessualen Anforderungen der Art. 6 I, 13 EMRK, 513 514 515
MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 2. Dazu K. F. Röhl (Fn. 173), Fehler in Gerichtsentscheidungen, S. 18. Braun (Fn. 295), NJW 2007, 1620, 1622.
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47 II GRC gerecht wird. Denn missachtet der nationale Gesetzgeber bei der Gestaltung der Verfahrensordnung in unzulässiger Erweiterung seiner Verfahrensautonomie den zur Durchsetzung des Unionsrechts verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutzstandard, so verstößt er nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern eben auch gegen den vom Effektivitätsgrundsatz bestimmten Durchsetzungsanspruch des Unionsrechts. Entsprechendes gilt für die Gerichte. Damit auch sie diesen Grundsatz respektieren, sind die Mitgliedstaaten daher verpflichtet, in ihren Verfahrensordnungen auch für den Fall der Missachtung jenes Standards wirksame Sanktionen vorzusehen, die eine effektive Beseitigung sowie ggf. eine spürbare Ahndung der Rechtsverletzung sicherstellen516. Im Zusammenhang mit dem noch keineswegs verstummten Ruf nach einer „Großen Justizreform“517 bemerkt Rauscher, dass dabei im Vordergrund die Frage stehen müsse, „wie der deutsche Zivilprozess dem Rechtsstaatsprinzip weiterhin genügt und wie er sein hohes internationales Ansehen bewahren“ könne518. Dies erfordere „eine ohne politischen Zeitdruck geführte Diskussion, die auch die Erfahrungen anderer Industrienationen vergleichend einzubeziehen“ habe. Soweit er außerdem bemerkt, die Evaluierung der ZPO-Reform 2002 lasse dazu „wenig Handlungsbedarf erkennen“, ist allerdings zu sagen, dass die Behandlung der Fälle greifbarer Gesetzwidrigkeit nicht speziell Gegenstand dieser Evaluierung war. Davon abgesehen wurde die Reform allseits „als praxisuntauglich gebrandmarkt“519. Gerade was den klar unzureichenden Rechtsschutz der ZPO gegen die Verletzung der Verfahrensgrundrechte insgesamt anbelangt, dürfte angesichts der insoweit zu verzeichnenden Zurückhaltung des BVerfG ohnehin nur eine grundlegende, vom Gesetzgeber vorzunehmende Angleichung des Wiederaufnahmerechts der §§ 578 ff ZPO an den grundsätzlich weiterreichenden Rechtsschutz des europäischen Zivilprozessrechts der Vorstellung Rauschers von einem vorbildlichen, dem Rechtsstaatsprinzip entsprechenden deutschen Zivilprozessrecht gerecht werden. 2. Der Regulierungsvorschlag von Christoph Warga Ebenso wie die Arbeiten von Günter, Kamper, Kettinger, Schnabl und Seidel befasst sich auch die von Prof. Braun betreute Dissertation von Christoph Warga520 mit den prozessualen Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen rechtskräftig gewordene Entscheidungen, die auf einer Verletzung der Justiz- oder Verfahrens516
Vgl. Dörr (Fn. 266), Teil 3, B III. Dazu Weth, Die Große Justizreform in Deutschland – Ein Bericht, ZZP 120 (2007), 135. 518 MK-Rauscher (Fn. 36), Einl. Rn. 182. 519 So u. a. von Sangmeister (Fn. 112), FS Korn 2005, 657, 668 f; Kirchberg (Fn. 253), S. 46 f; Piepenbrock, AnwBl 2004,329; Greger, JZ 2004, 805, 816. Bestätigt wird dies auch durch die Tatsache, dass die Vorschrift des § 522 III ZPO inzwischen durch das Änderungsgesetz vom 07.07.11 erneut reformiert werden musste (dazu oben § 5 I. 3.). 520 Chr. Warga, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten im Zivilprozess und ihre Korrektur nach Eintritt der Rechtskraft, 2008. 517
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
grundrechte beruhen. Wie Braun tritt auch er für eine Fortentwicklung der rechtskraftdurchbrechenden Wiederaufnahmeklage ein, indem er die schon von Gaul vertretene Ansicht aufgreift, wonach die Wiederaufnahmegründe der Restitutionsund Nichtigkeitsklage durchaus analogiefähig sind, und schlägt vor, die Vorschrift des § 579 ZPO unter Aufhebung des § 321a ZPO dahingehend zu ergänzen, dass die Nichtigkeitsklage auch stattfindet, „wenn eine Partei in ihrem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, ihrem Recht auf ein faires Verfahren, ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter oder dem Grundsatz der Waffengleichheit verletzt ist“ (S. 127). Eine Regelung dieser Art würde insbesondere durch die Einbeziehung der Verletzung des fair-trial-Gebots als Wiederaufnahmegrund eine außerordentliche Verbesserung des Rechtsschutzes gegen sonst nicht mehr anfechtbare Entscheidungen bewirken und damit zugleich das Bundesverfassungsgericht ganz erheblich entlasten. Allerdings wäre damit das rechtsstaatliche Defizit des Rechtsschutzes der ZPO gegen Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren nur teilweise behoben. Denn es fehlt noch deutlich eine Sanktionsnorm für die Fälle der unterlassenen und der unzulänglichen, nicht nachvollziehbaren Entscheidungsbegründungen, wie es sie früher in Absatz 3 Satz 2 der bis 1976 geltenden Fassung des § 579 ZPO im Rahmen des damaligen Schiedsurteilsverfahrens gab. Außerdem dürfte es sich empfehlen, für die Vorschrift einen Wortlaut zu wählen, der demjenigen der Art. 6 I EMRK, 47 II GRC entspricht oder zumindest auf diese Menschenund Unionsrechte als Mindeststandards verweist. Erst eine solche umfassende Reform des Wiederaufnahmerechts durch Angleichung an das Unionsrecht wäre ein außerordentlicher Fortschritt in Richtung auf eine verfassungsgemäße Effektuierung des zivilprozessualen Rechtsschutzes.
IV. Notwendigkeit der Ausweitung der Wiederaufnahmegründe auf die Fälle des Fehlens hinreichender Entscheidungsgründe 1. Die Entscheidungsbegründung als Kontrollgegenstand Die Notwendigkeit der Begründung von Gerichtsurteilen wird nach deutschem Verfassungsrecht aus dem Rechtsstaatsprinzip und nach Unionsrecht schon aus dem Grundsatz einer geordneten Rechtspflege abgeleitet521. Anerkannt ist, dass nur der Begründungszwang „Sicherheit gegen subjektives Belieben“ des Richters gibt522 und die Kontrolle der Entscheidung möglich macht. Es gilt das Offenkundigkeitsprinzip, das letztlich wie der Grundsatz der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens
521 522
Siehe EGMR NJW 1999, 2429. Isay (Fn. 307), S. 174.
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auf die Französische Revolution zurückgeht523. Die Bekanntgabe der Entscheidungsgründe sollte deren rationale Kontrollierbarkeit ermöglichen und den Richterspruch für den bürgerlichen Gemeinverstand kritisierbar machen. Diese erfüllen somit eine Erläuterungs- und Kontrollfunktion, werden zum „Prüfstein“ der richterlichen Entscheidung und führen zu einer Effektuierung des Rechtsschutzes der Prozessparteien524. Zusammen mit dem Öffentlichkeitsprinzip ist das Begründungserfordernis daher auch wesentlichstes informelles Kontrollinstrument. a) Anforderungen an die Entscheidungsbegründung Die Entscheidungsbegründung muss aber auch ihrerseits inhaltlichen Anforderungen genügen, d. h., sie muss jedenfalls verständlich, vollständig und widerspruchsfrei sein525. Begründen heißt Rechtfertigung einer Rechtsfolge, heißt zu zeigen, dass die Entscheidung aus dem Gesetz abgeleitet ist. Die Prozessparteien haben ein subjektives Recht darauf, dass der Richter seine Entscheidung nicht nur fällt, sondern in der Begründung auch dem demokratisch legitimierten Normtext zuordnet, also seine Argumentation auf den Gesetzestextbezieht526. Die Begründung muss die wesentlichen denkbaren Einwände gegen die Entscheidung ausräumen, da nur dann gewährleistet ist, dass diese Einwände nicht zum Gegenstand eines erneuten Angriffs auf die Entscheidung gemacht werden. Das Ergebnis der Prozesse der Argumentation muss in der Urteilsbegründung nachvollziehbar dargestellt werden. Die Begründung soll zwischen Urteil, Gesetz und Verfahren vermitteln. Damit stellt sich die Frage nach den Gründen der Begründung eines Urteils im Einzelfall527. b) Der Begründungszwang bezogen auf letztinstanzliche Urteile Die Verpflichtung zur Entscheidungsbegründung gilt nicht nur für noch nicht rechtskräftige, also noch mit Rechtsmitteln anfechtbare Urteile, sondern ebenso für Urteile der Gerichte letzter Instanz. Dies hat der EGMR bereits mehrfach entschieden. Er zählt den Begründungszwang zu den zwingenden Bestandteilen der allgemeinen Anforderungen an ein faires Verfahren. Nur so sei erkennbar, dass das
523 Hattenhauer, Zur Theorie und Praxis der Rezeption richterlicher Entscheidungsgründe, in Hof/Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht III, 2001; ders., Kritik des Zivilurteils, 1970. 524 Scheffler, Die Pflicht zur Begründung von Maßnahmen nach den europäischen Gemeinschaftsverträgen, 1974, S. 49 ff. 525 S. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 33, mit Hinw. auf Rudolf Brinkmann, Über die richterlichen Urteilsgründe, Kiel 1826, S. 56; Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971, S. 86; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987. 526 Christensen (Fn. 309), S. 3, 68 f, 84 f. 527 Dazu T.-M. Seibert, Über Begründungen entscheiden, FS Fr. Müller, 2008, S. 235.
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Vorbringen auch tatsächlich gehört wurde528. Die Ansicht des BVerfG, wonach ein Begründungszwang für letztinstanzliche Urteile ausnahmsweise nur dann besteht, wenn entweder vom eindeutigen Wortlaut oder von der bisherigen Auslegung einer Rechtsnorm abgewichen wird529, ist daher mit Kischel abzulehnen530. Denn auch die letztinstanzliche Entscheidung bedarf schon deswegen einer angemessenen Begündung, weil sie – obwohl rechtskräftig – noch keineswegs auch unanfechtbar sein muss, gegen sie also u. U. noch außerordentliche Rechtsbehelfe erhoben werden können. Deshalb hat in diesen Fällen die Urteilsbegründung die gleiche Erläuterungs- und Kontrollfunktion zu erfüllen wie bei den noch nicht rechtskräftigen Urteilen. Schließlich sollen die Parteien auch in diesem Fall nicht in die Zwangslage versetzt werden, Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen einlegen zu müssen, deren Gründe sie nicht kennen (BGHZ 7, 155). Die Begründungspflicht hat vor allem aber auch Bedeutung für die Selbstkontrolle des Gerichts. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens ist auch bei einer nicht nachvollziehbaren Begründung anzunehmen. Auch das rechtfertigt die Anfechtbarkeit nicht hinreichend begründeter Endurteile in nicht mehr rechtsmittelfähigen Verfahren. Schutzwürdig ist zwar auch das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Fortbestand der Rechtskraft des Urteils. Denn auch insoweit gilt die Garantie eines fairen Verfahrens. Regelungen des nationalen Prozessrechts, nach denen ein rechtskräftiges Urteil jederzeit voraussetzungslos wieder infrage gestellt werden könnte, verstießen daher sowohl gegen jene Garantie als auch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit531. Fehlt es jedoch völlig an verständlichen Urteilsgründen, ist in diesem Ausnahmefall das Interesse der unterlegenen Partei, die dem Urteil zugrundeliegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu erfahren, höher zu bewerten. Selbstverständlich sollte insoweit eine Anfechtung nur in den absoluten Extremfällen völlig unzulänglicher Entscheidungsbegründungen in Betracht kommen, die einer gänzlich fehlenden Begründung gleichzusetzen sind. Dazu, wann dies anzunehmen ist, hat die Rechtsprechung jedoch schon seit längerem brauchbare Kriterien entwickelt. Solche hat das BVerwG in einem Beschluss vom 05.06.98532, wie folgt zusammengetragen: Nicht mit Gründen i.S. des § 138 Nr. 6 VwGO (§ 313 I Nr. 6 ZPO) ist eine Entscheidung nur, wenn sie so mangelhaft begründet ist, dass sie weder ihre Erläuterungs- noch ihre Kontrollfunktion erfüllt. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in 528
Siehe Gundel, Verfahrensrechte, in Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 124), Bd. VI 1, Europäische Grundrechte I, 2010, § 146 Rn. 103 f mit Nachw. in Fn. 391 ff. 529 BVerfG NJW 2011, 1497 unter Hinw. auf BVerfGE 118, 212, 238 = NJW 2007, 2977. 530 U. Kischel, Die Begründung – Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2003, 5. Kap. D I 2 b, S. 182 – 185. 531 Gundel (Fn. 528) § 146 Rn. 104 mit Nachw. unter Fn. 394. 532 BVerwG NJW 1998, 3290.
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Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgeblich gewesen sind. Dies gilt auch, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, dass die angeführten Gründe unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen533. Außerdem wird in den Kommentaren zu § 547 Nr. 6 ZPO seit langem davon ausgegangen, dass nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln fehlenden Urteilsgründen gleichstehen534. Das gleiche gilt für bloße Scheinbegründungen535. Denn „Scheingründe sind … Nicht-Gründe schlechthin, da sie der bestimmungsgemäßen Funktion von Gründen nicht entsprechen“536. Eingeschränkt werden diese Grundsätze allerdings von der Rechtsprechung wiederum insofern, als es nicht genügt, wenn die Gründe lediglich unklar, unvollständig, oberflächlich oder unrichtig sind. Bei der Abgrenzung wird es daher stets auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. Jedenfalls ist, was diese Problematik betrifft, von einer Regelungslücke der ZPO auszugehen, die die Einführung einer Vorschrift rechtfertigt, wonach die Nichtigkeitsklage des § 579 ZPO auch dann zuzulassen ist, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen im Sinne des § 313 I Nr. 6 ZPO versehen wurde, es sei denn, man habe auf solche verzichtet. 2. Rechtsmethodik und Entscheidungsbegründung Der Richter hat bei der Konkretisierung und Fortbildung des Rechts methodengerecht vorzugehen; seine Methodik muss dem Grundgesetz entsprechen537. In der Vorbemerkung zu Essers „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ stellt dieser allerdings zu Recht fest, dass die akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeute. In der Tat wird in Gerichtsurteilen nur selten explizit auf die Standards der Methodenlehre Bezug genommen538. Man begnügt sich mit dem Zitieren von Kommentarstellen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Aufgabe der Rechtsmethodik ist es jedoch zu verhindern, dass die subjektiven Wertvorstellungen des Richters für die Entscheidung bestimmend werden. Daher gilt sie als Brücke zur Sicherstellung der Bindung des Richters an das Gesetz und damit zur Gewährleistung der Gewaltenteilung im Rechtsstaat. Schon Engisch stellte fest, dass „eine richtige Entscheidung eine methodengerecht begründete Entscheidung“ sei539. Auch wenn diese Brücke nicht wirklich trägt, so 533
Zöller-Vollkommer (Fn. 16), § 313 Rn. 19; Musielak (Fn. 187), § 547 Rn. 16; Stein/ Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 313 Rn. 61; Chr. Fischer (Fn. 168), § 12 VI 4 b. 534 BVerfGE 34, 269, 287; BayVerfGH NJW 2005, 3771, 3772; Musielak (Fn. 533), Rn. 16. 535 BVerwG, NJW 1998, 3290. 536 U. Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung in der Zivilgerichtsbarkeit, JZ 2007, 122, 133 ff. 537 BVerfGE 34, 269, 280 (Soraya); Hergenröder (Fn. 46), § 19 III 1 b, S. 363. 538 Rüthers (Fn. 304), S. 276 f mit Hinweis auf die „launige Bemerkung“ des ehem. Präsidenten des BVerfG, W. Zeidler, wonach dort jeder Fall seine eigene Methode habe. 539 Karl Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 14.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
zwingt sie doch den Richter zu einem systematischen Vorgehen bei der Entscheidungsfindung und zur Offenlegung der unvermeidlichen Wertungen, mag er auch niemals frei sein von Präferenzen und subjektivem Vorverständnis540. Angesichts der Tatsache, dass der gerichtliche Alltag laufend unterschiedliche Herangehensweisen der Richter an die ihrerseits zu entscheidenden Fälle offenbart, ausgehend von der streng methodisch bestimmten Gesetzesanwendung über die Ableitung der Entscheidung aus Präjudizien oder unbewußt in Anlehnung an die topische Denkart aus Gesichtspunkten unzulänglich selbst gebastelter Topoikataloge bis hin zum Urteilen lediglich nach dem Rechtsgefühl, kommt es für die Kontrolle der Entscheidung auf das Vorverständnis des Richters auch bezogen auf die diversen Methoden der Rechtsanwandung an541. Deshalb sollte vom Richter grundsätzlich auch die Methodenwahl offengelegt werden. Zwar handelt es sich beim routinemäßigen richterlichen Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Sachverhalt und Norm542 um einen inneren Vorgang, der sich naturgemäß nicht umfassend beschreiben lässt. Weil dieser jedoch stets im Bewusstsein dessen abläuft, dass von den hierbei gewonnenen Erkenntnissen der Filterfunktion der Begründung entsprechend nur verwertet werden kann, was sich auch begründen lässt, kann auch verlangt werden, dass der Richter zusätzlich zu den Schlussfolgerungen aus seinen Bemühungen um Erkenntnis grundsätzlich auch seine methodische Herangehensweise an den Fall den Prozessbeteiligten plausibel darlegt. Insbesondere betont Rüthers die Bedeutung der Methodenlehre für die verfassungsgemäße Rechtsanwendung. Sie schütze den Vorrang der Legislative bei der Normsetzung gegen verfassungswidrige Übergriffe der Justiz. Methodentreue erzwinge rationale Begründungen und erleichtere damit die Überprüfbarkeit der Entscheidungen und das Finden angemessener Ergebnisse. Methodische Beliebigkeit und freie Methodenwahl führe dagegen zur willkürlichen, unkontrollierten „Kadijustiz“ und verletze den Gleichheitsgrundsatz. Das Problem werde verschärft durch den Umstand, dass in Deutschland anders als in der Schweiz (Art. 1 II ZGB) eine gesetzliche Regelung der richterlichen Rechtsfortbildung im Lückenbereich fehlt. Deshalb liefere der von der Methodenlehre gebotene Begründungszwang die 540
Hassemer (Fn. 305), Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik (II), S. 21. Dazu Uwe Kischel (Fn. 529), 1. Kap. A I 4 b, S. 9 f, 14 f. 542 Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 14 f. Im Zusammenhang mit der bekannten Wendung Engischs vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen juristischem Obersatz und Lebenssachverhalt spricht J. Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004, S. 26, von einer communis opinio in der Methodenlehre dahingehend, dass „Subsumtion gleich Syllogismus plus Wanderblick“ sei. Dieser Blick verändert nicht nur den zu beurteilenden Sachverhalt, sondern umgekehrt kann der Sachverhalt auch auf die Norm zurückwirken (W. Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. III, S. 750 f). Vgl. zum rechtstheoretischen Diskurs über die Eignung des Justizsyllogismus zur Entscheidungsfindung Carsten Bäcker, Der Syllogismus als Grundstruktur des juristischen Begründens, Rechtstheorie 2009, 404; Gräfin v. Schlieffen, Wie Juristen begründen, JZ 2011, 109, 111; D. Simon, Alle Quixe sind Quaxe – Aristoteles und die juristische Argumentation, JZ 2011, 697; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, 19 – 28. 541
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Grundlage für die Akzeptanz oder für die kritische Analyse und Diskussion gerichtlicher Entscheidungen543. Damit tritt „an die Stelle der absoluten Richtigkeit … die Suche nach der überzeugendsten Begründung“ der Entscheidung544. Soweit demgegenüber Dworkin meint, es komme in einer Rechtssache in erster Linie auf das Ergebnis an und weniger auf die Begründung545, so trifft dies zwar insofern zu, als eben das Urteil den Rechtsstreit entscheidet, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich allein anhand der Gründe Fehler in Gerichtsentscheidungen feststellen lassen. 3. Vorschlag für eine Gesetzesänderung zur Anhebung der Effektivität des durch die außerordentlichen Rechtbehelfe gebotenen Rechtsschutzes Auszugehen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG einerseits davon, dass die Verfahrensgrundrechte auch den Gesetzgeber binden, weshalb es vorrangig vor den Gerichten zuerst dessen Aufgabe ist, diese zu konkretisieren546, und andererseits davon, dass der Rechtssuchende aufgrund der staatlichen Justizgewährungspflicht Anspruch auf einen lückenlosen und auch qualitativen Rechtsschutz hat547. Auch gebieten es die grundsätzlichen Erwägungen des BVerfG in dessen Plenarbeschluss vom 30.04.03, „die Rechtsschutzgarantie auch auf den Richter zu erstrecken“548. Demzufolge muss es den Prozessparteien ermöglicht werden, Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht auch nach letztinstanzlichen Gerichtsverfahren einzufordern. Dem deutschen Gesetzgeber wird daher als Fazit dieser Evaluation zur Verbesserung der Effektivität des von der ZPO nur unzulänglich gewährleisteten Rechtsschutzes gegen entscheidungserhebliche Verletzungen der Verfahrensgrundrechte in den letztinstanzlichen Verfahren der Vorschlag unterbreitet, unter Aufhebung des § 321a ZPO die Vorschrift des § 579 ZPO über die Nichtigkeitsklage in Anpassung an das Unionsrecht um einen dritten Absatz mit folgendem Wortlaut zu erweitern: (3) Die Nichtigkeitsklage findet außer in den Fällen des Absatzes 1 auch dann statt, wenn das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung ein Verfahrensgrundrecht im Sinne der Art. 6 Abs. 1 EMRK, 47 Abs. 2 GRC in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Soweit der Rechtsschutz nach deutschem Recht weiter reicht, ist diesem der Vorrang einzuräumen. Das gleiche gilt, wenn das Urteil nicht mit Entscheidungsgründen im Sinne des § 313 Abs. 1 Nr. 6 mit Abs. 3 ZPO versehen wurde, es sei 543
Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre?, JuS 2011, 865, 868 f; ders., JZ 2006, 53. Marco Staake, Das Ziel der Auslegung, JURA 2011, 177, 184. 545 R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 247 f: “Fitting what judges did is more important than fitting, what they said.” 546 BVerfGE 10, 200, 213 und 63, 45, 61. 547 Krugmann (Fn. 80), S. 306 f; Huber, in v. Mangold/Klein/Starck (Fn. 165), Art. 19 Rn. 467. 548 Huber, in v. Mangold/Klein/Starck (Fn.165), Art. 19 Rn. 443 m. Hinw. a. Voßkuhle (Fn. 3). 544
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denn, dass die Parteien in der Verhandlung vor Gericht ausdrücklich auf eine schriftliche Begründung verzichtet haben. Durch eine solche Regelung mit Verweis auf die Mindeststandards der EMRKund Unionsverfahrensgrundrechte unter dem Vorbehalt, dass die deutschen Verfahrensgrundrechte Anwendungsvorrang genießen, falls diese dem Betroffenen weitergehenden Rechtsschutz einräumen sollten549, würde entsprechend dem Ziel eines effektiven und kohärenten Grundrechtsschutzes in Europa eine „Dopplung des Grundrechtsschutzes“ vermieden550, die zu divergierenden Entscheidungen der nationalen und europäischen Gerichtshöfe führen kann und die die Gefahr eines unübersichtlichen Rechtsschutzes in sich birgt. Zugleich würde dadurch die angestrebte Harmonisierung der mehrschichtigen Grundrechtsgarantien gefördert. Nachdem Verstöße gegen die strafbewehrten richterlichen Amtspflichten zwangsläufig auch zu Verletzungen der Verfahrensgrundrechte führen, durch welche die Prozessparteien hinreichend abgesichert wären, bedürfte es über die von Braun empfohlende Berichtigung des § 581 I ZPO hinaus auch keiner Änderung der Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO, sondern allein einer Reform des § 339 StGB.
V. Folgerungen für den schweizerischen Gesetzgeber Die Revision nach Art. 328 schwZPO beschränkt sich im Gegensatz zu einigen Regelungen der früheren kantonalen Verfahrensordnungen551 ausdrücklich auf die Anerkennung der angeblich „klassischen“ Revisionsgründe. So wird die Regelung des Art. 328 I lit. a schwZPO wie folgt erklärt552 : Aus Gründen der Rechtssicherheit müssten zwar die vom Streitgegenstand des Verfahrens erfassten Tatsachen durch die Rechtskraft präkludiert werden. Eine endgültige Präklusion solcher Tatsachen, welche eine Partei im früheren Prozess nicht geltend machen konnte, würde jedoch das rechtliche Gehör verletzen, da diese Tatsachen auch bei gehöriger Sorgfalt nicht hätten geltend gemacht werden können. Dies bestätige deutlich den Zusammenhang zwischen materieller Rechtskraft und rechtlichem Gehör553. Ob es einen solchen Zusammenhang gibt, ist jedoch fraglich. Denn wie schon Puttfarken klargestellt hat, 549 Zu der Idee einer Umkehr des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681, 3686. 550 Siehe Papier, In Vielfalt geeint, in FAZ vom 03. 07. 2008; ferner F. Kirchhof, (Fn. 548), S. 3885 m. Hinw. a. Art. 52 IV GRC, der vorschreibt, dass für die Auslegung der Grundrechte die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen wesentlich sein sollen (unter Beibehaltung der „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ – Art. 52 VI GRC), wodurch ein Gleichklang der europäischen und nationalstaatlichen Grundrechte angestrebt wird. 551 Eine dem deutschen und französischem Recht entsprechende Regelung hatten die Kantone Waadt, Basel und Neuenburg. Siehe dazu Edgar Habscheid, Der Ausschluß des nicht vorgebrachten Prozeßstoffes durch die materielle Rechtskraft (Präklusion) und die Revision (Wiederaufnahme des Verfahrens) nach Schweizer Recht, ZZP 2004, 235. 552 Spühler/Tenchio/Infanger (Fn. 293), Art. 328 Rn. 34. 553 Spühler/Tenchio/Inganger (Fn. 293), Vorbem. zu Art. 236 – 141 Rn. 21.
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ist es verfehlt, die Rechtskraft aus ihrem Verhältnis zum materiellen Recht zu erklären554. Mit dieser Grundentscheidung für die „klassischen“ Revisionsgründe unter Verzicht auf deren enumerative Aufzählung durch Regelbeispiele lässt die Schweiz sowohl das Problem der analogen Anwendung dieser Gründe dahingestellt als auch die fundamentale Frage, „was die Durchbrechung der Rechtskraft und die damit verbundene Enttäuschung des Vertrauens der Gegenpartei auf den Bestand des Urteils überhaupt rechtfertigt“555. Damit unterscheidet sich die Schweizer Revision von den Vorschriften des deutschen Wiederaufnahmerechts sehr deutlich jedenfalls in zweierlei Hinsicht: Zum einen beruht Abs. 1 lit. a des Art. 328 schwZPO, der die nachträgliche Entdeckung neuer Tatsachen und Beweismittel (der sog. unechten Noven) voraussetzt, auf der Konzeption einer reinen Ergebnisrestitution und zum anderen wird in Abs. 1 lit. b jener Vorschrift nicht wie in § 581 I 1. Alt. der deutschen ZPO die Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils verlangt. Vielmehr genügt insoweit der Nachweis, dass durch ein Verbrechen oder ein Vergehen zum Nachteil der Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde. Eine Verurteilung des Täters durch das Strafgericht ist nicht erforderlich. Falls das Strafverfahren nicht durchführbar sein sollte, kann der Beweis der Straftat auch auf andere Weise erbracht werden. Letzteres entspricht weitgehend der Regelung in § 581 I 2. Alt. ZPO. Mit Ausnahme des dem Art. 51 III schwZPO zugrundeliegenden Falls, dass nachträglich die Mitwirkung eines zum Ausstand verpflichteten Gerichtsperson an dem Entscheid bekannt wurde, können hingegen keine Verfahrensfehler mit der Revision gerügt werden556. 1. Unzulänglichkeit der Ergebnisrestitution der schweizerischen ZPO Die „Kunst der Gesetzgebung“ ist gerade in der Schweiz hoch entwickelt und in der Handhabung dieser Kunst gilt die Schweiz sogar mit als führend in Europa557. Dennoch ist festzustellen, dass das grundsätzliche Bekenntnis des schweizerischen Gesetzgebers zur Konzeption der „Revision“ als Ergebnisrestitution verbunden mit dem nahezu völligen Ausschluss der Verfahrensfehlerrestitution nicht dem Standard der modernen Zivilprozessrechtswissenschaft entspricht, wobei sich diese Kritik ausschließlich auf die Regelungen der Art. 328 f schwZPO bezieht. Denn das Erkenntnisverfahren des neuen Gesetzes wird den rechtsstaatlichen Ansprüchen an ein Rechtsschutzverfahren durchaus gerecht. Davon abgesehen will das Gesetz notwendige Ergänzungen keineswegs ausschließen558. 554
Dazu oben § 1 II. 2., Fn. 38. MK-Braun (Fn. 36), vor § 578 Rn. 8 a.E. 556 Spühler/Tenchio/Infanger (Fn. 293), Rn. 35. 557 Ulrich Karpen, Schweizerische Rechtsetzung und Rechtsetzungslehre – ein Blick von außen, ZG 2012, 68. 558 Berti (Fn. 292), § 1 Rn. 2. 555
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Wie dargelegt wird die grundsätzliche Entscheidung des deutschen Gesetzgebers für die Verfahrensfehlerrestitution von Braun damit begründet, dass die Rechtskraft die Aufgabe habe, das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils zu schützen, wobei der Vertrauende auch dann zu schützen sei, wenn es sich in Wahrheit anders verhalten hat. Der bloße Umstand, dass ein Urteil im Ergebnis unrichtig ist, reiche zur Rechtfertigung der Wiederaufnahme nicht aus, und dies gelte selbst dann, wenn die Unrichtigkeit „beweissicher“ (im Sinne Gauls) dargetan werden könne. Denn schon die Zulässigkeitsprüfung, ob überhaupt ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, bewirke einen Verstoß gegen die Rechtskraft, da sie deren Durchbrechung voraussetze. Die Wiederaufnahme müsse deshalb auf die Korrektur solcher Urteilsmängel beschränkt bleiben, die ohne erneute Sachprüfung festgestellt werden könnten. Nachdem ohne eine erneute Sachprüfung nur Verfahrensfehler festgestellt werden könnten, seien folglich auch nur Verfahrensfehler als Wiederaufnahmegründe anzuerkennen und somit nicht auch Ergebnisfehler. Kriterien zur Beurteilung der Qualität eines Gesetzes sind vor allem Zielgenauigkeit (efficacy), Durchsetzbarkeit (effectiveness) und Kostengünstigkeit (efficiency) sowie Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit559. Misst man die Qualität der Vorschriften der Art. 328 I lit.a mit 329 II schwZPO anhand dieser Kriterien, so ergeben sich nach dem Vorhergesagten begründete Zweifel sowohl an der Durchsetzbarkeit als auch an der Verhältnismäßigkeit der darin getroffenen Regelungen. Ein rechtskräftig gewordener Entscheid kann danach bis zum Ablauf von 10 Jahren nach Eintritt der Rechtskraft selbst dann noch mit der Revision angefochten werden, wenn der Revisionskläger eine ihm nachträglich bekannt gewordene erhebliche Tatsache lediglich durch einen von ihm erst später ausfindig gemachten Zeugen unter Beweis stellen kann. Nach der Entdeckung des Revisionsgrundes hat er 90 Tage Zeit, das Revisionsgesuch „schriftlich und begründet einzureichen“ (Art. 329 I schwZPO). Bis zu diesem Zeitpunkt ist der rechtskräftige Entscheid für den Revisionsbeklagten lediglich „konditioniert“, d. h., es kann bis zu 10 Jahre dauern, bis feststeht, dass der Entscheid endgültig Bestand hat. Demgegenüber hat der deutsche Gesetzgeber eine Ausnahme von dem Grundsatz, wonach schon zur Zeit des Vorprozesses vorhandene, aber erst später aufgefundene Beweismittel die Wiederaufnahme nicht rechtfertigen, gemäß § 580 Nr. 7 b ZPO allein für den Fall zugelassen, dass die Partei nachträglich eine Urkunde auffinden sollte, „die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde“. Selbst in diesem Fall muss jedoch die Urkunde innerhalb von 5 Jahren nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils aufgefunden worden sein und der Partei steht dann nur noch eine Frist von einem Monat zur Klageerhebung zur Verfügung (§ 586 I 1 u. 2 ZPO). Somit stellt sich die Frage, wie ein Schweizer Gericht den Wahrheitsgehalt der Aussage eines Zeugen über einen Vorfall beurteilen soll, der u. U. mehrere Jahre zurückliegt. Im Zweifel ist hier jedes Gericht überfordert. Dagegen ist dies bei der 559 Vgl. U. Karpen (Fn. 555), S. 76; Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S. 123; Noll (Fn. 108), S. 244 ff.
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Beurteilung einer Urkunde keineswegs der Fall. Ohne zwingenden Grund wird hier dem Interesse des Revisionsklägers an der Wiederaufnahme des Verfahrens der Vorzug vor dem Interesse des Revisionsbeklagten an der Aufrechterhaltung des rechtskräftigen Entscheids eingeräumt, obwohl Ersterer u. U. dennoch nicht mit einem Erfolg rechnen kann. Damit fehlt es an der praktischen Durchsetzbarkeit und Verhältnismäßigkeit des Art. 328 I lit. a schwZPO. Auch die Garantie des rechtlichen Gehörs rechtfertigt die Durchbrechung der Rechtskraft nicht in diesem Ausmaß. 2. Empfehlung zum Ausbau der Verfahrensfehlerrestitution Im Ergebnis bedeutet der weitgehende Ausschluss der Verfahrensfehlerrestitution, dass selbst elementare Verstöße des Berufungsgerichts gegen die Verfahrensgrundrechte, obwohl in Art. 29 und 30 BV verfassungsrechtlich garantiert, nicht mit der Revision geltend gemacht werden können. Eine Erklärung für diese grundsätzliche Ablehnung der Konzeption der Verfahrensfehlerrestitution ist den einschlägigen Kommentaren zur neuen bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO nicht zu entnehmen. Auch gibt es keinen Hinweis auf die unterschiedliche Regelung im deutschen Wiederaufnahmerecht. Verwiesen wird lediglich darauf, dass für die Rüge von Verfahrensfehlern ausschließlich die Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde zur Verfügung stehen, die jedoch beide ein noch nicht rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren voraussetzen. D.h., auf Verfahrensgrundrechtsverletzungen beruhende Entscheide der schweizer Berufungsgerichte sind endgültig unanfechtbar, sofern nicht die Voraussetzungen der subsidiären Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 ff BGG erfüllt sein sollten560. Dieser Befund rechtfertigt nach deutschem Rechtsverständnis die Annahme eines Rechtsschutzdefizits, da hier die Partei u. U. auf die Erhebung der Individualbeschwerde zum EGMR angewiesen bleibt. Umso weniger problematisch ist die in Art. 328 I lit. b schwZPO getroffene Regelung des Falls, dass durch eine Straftat zum Nachteil einer Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde. Zu Recht hat der Schweizer Gesetzgeber offenbar kein Problem darin gesehen, die Zivilgerichte auch über das Vorliegen einer Straftat entscheiden zu lassen. Einer Auseinandersetzung, wie sie Braun mit dem BGH geführt hat, bedurfte es daher nicht. Zu den infrage kommenden Straftaten zählt selbstverständlich auch der Amtsmissbrauch des Richters nach Art. 32 schwStGB und damit auch das Delikt der Rechtsbeugung. Allerdings kennt die schweizerische Strafprozessordnung kein Klageerzwingungsverfahren, das die Einhaltung des Legalitätsprinzips sicherstellen könnte561. Im Falle des Verdachts eines richterlichen 560 Dazu R. J. Schweizer, Durchsetzung des Grundrechtsschutzes, in Merten/Papier (Fn. 124), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2009, § 229 Rn. 10 und 91 f. 561 Weigert sich die Staatsanwaltschaft, einer Strafanzeige eines angeblichen Opfers i.S. des Art. 116 I schwStPO nachzukommen, indem sie gemäß Art. 310 I lit. a schwStPO eine „Nichtanhandnahmeverfügung“ erlässt, kann sie allerdings auf Beschwerde jener Person nach Art. 396 schwStPO bzw. Art. 78 BGG vom Gericht unter Aufhebung der Verfügung gemäß Art. 387 III schwStPO zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Täter angewiesen
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Amtsmissbrauchs ist der Bürger daher darauf angewiesen, dass die Strafverfolgungsbehörde die Richteranklage für opportun hält, ohne dass er die Möglichkeit hat, diese Ermessensentscheidung überprüfen zu lassen. Konsequent wäre die Einführung eines solchen Verfahrens daher durchaus, erscheint jedoch angesichts der in der Schweiz stattfindenden Direktwahl der Richter durch das Volk auf Zeit562 nicht so zwingend wie in Deutschland, wo die Richter in der Regel auf Lebenszeit bestellt werden und es keine Abberufungsmöglichkeit gibt.
VI. Abschließende Feststellungen 1. Gerichtsentscheidungen erfahren ihre Legitimation nicht schon durch den autoritären Richterspruch als solchen im Wege der Fiktion ihrer „Richtigkeit“. Legitimität beanspruchen kann vielmehr nur das begründete Entscheiden, das sich an den Kriterien der sachlichen Richtigkeit und rechtlichen Regelhaftigkeit orientiert563. Zwar verbietet die Rechtskraft grundsätzlich die Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung. Zur Abwehr judikativen Unrechts in letztinstanzlichen Verfahren ist jedoch den Prozessparteien durch Bereitstellung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs auch „Rechtsschutz gegen den Richter“ zu gewährleisten, wie dies das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30.04.03 (BVerfGE 107, 395, 411) grundsätzlich anerkannt hat, wenn auch nur für den dort streitgegenständlichen Fall der Verletzung des Art. 103 I GG. Der zu diesem Zweck in die ZPO eingeführte Sonderrechtsbehelf der Anhörungsrüge hat sich allerdings in jeder Hinsicht als ungeeignet erwiesen. Entscheidender Grund hierfür war, dass der Gesetzgeber, statt die seit langem dringend gebotene, grundlegende Reform des Wiederaufnahmerechts in Angriff zu nehmen, mit der auf Gehörsverletzungen beschränkten Vorschrift des § 321a ZPO ebenso halbherzig wie systemwidrig eine Sonderregelung traf, die schon aufgrund der deutlich ablehnenden Haltung der Richterschaft den Prozessparteien effektiven Rechtsschutz nicht zu bieten vermochte. Zwingend notwendig ist insbesondere die vom BVerfG keineswegs ausgeschlossene Ausdehnung des Rechtsschutzes auf die entscheidungserhebliche Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte in den letztinstanzlichen Verfahren durch eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe des § 579 ZPO. Demgegenüber ist die gegen die instanzinterne Selbstkontrolle als solche gerichtete Kritik des Schrifttums überzogen. Wie in § 584 I ZPO geregelt, ist es werden, siehe dazu Bundesgericht, Urteil vom 07.06.12, 1 B 156/ 2012, forumpoenale 2012, S. 268 (betrifft eine fahrlässige schwere Körperverletzung beim Golfen). 562 Dazu Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2009, § 8 I 1, S. 273 ff. 563 U. Neumann, Wahrheit statt Autorität. Möglichkeiten und Grenzen einer Legitimation durch Begründung im Recht, in Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 369, 382; Chr. Bumke, Verfassungsrechtliche Grenzen fachrichterlicher Rechtserzeugung, in ders. (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 33, 34, 46.
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durchaus sinnvoll und vertretbar, die ausschließliche Zuständigkeit des Ausgangsgerichts in den Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren beizubehalten, sofern erstens das hierfür gesetzlich festgelegte Abhilfeverfahren die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorsehen sollte, zweitens der „Zugang zum Recht“ nicht durch unangemessene Schranken versperrt wird und drittens im Ausnahmefall die Vorschrift des § 41 Nr. 6 ZPO entsprechende Anwendung findet564. Unter diesen Bedingungen entspräche die interne Selbstkontrolle als Kontrollinstrument auch dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG. 2. Beim jahrzehntelangen Festhalten des BVerfG an dem angeblichen „Dogma“ vom „Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben“ wurde bewusst über die Tatsache hinweggetäuscht, dass die ZPO entgegen dieser Behauptung durchaus „Rechtsschutz gegen den Richter“ gewährt und schon immer gewährt hat, wenn auch nur unter besonderen Voraussetzungen, nämlich mittels der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB. Diese Tatsache wurde in voller Absicht ignoriert zu verhindern, dass es zu Anklagen gegen Richter wegen Rechtsbeugung kommt, was ja auch Zweck der verfassungswidrigen „Auslegung“ der §§ 339 StGB und 172 StPO durch den BGH war. Der dadurch bewirkte Wegfall der Verhaltens- und Sanktionsgeltung des § 339 StGB hatte zur Folge, dass diese Vorschrift zu einer Rechtsnorm mit nur noch symbolischer Funktion erodierte und damit der Restitutionsklage gestützt auf das Verbrechen der Rechtsbeugung jede Anwendungsmöglichkeit entzog. Rein symbolische Strafvorschriften aber sind unberechenbar und widersprechen liberalem Strafrecht. Denn dieses will nur sanktionieren, was direkt sozialschädlich ist565. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beinhaltet aber auch den Vorrang des auf die Verhinderung eines rechtswidrigen Zustands abzielenden Primärrechtsschutzes gegenüber dem auf Zahlung von Schadenersatz beschränkten Sekundarrechtsschutz in Form des – ausdrücklich nur subsidiären – Amtshaftungsanspruchs (§ 839 III BGB). Diesem Gebot genügt nicht jeglicher Primärrechtsschutz, sondern eben nur ein wirklich effektiver. Die faktische Verkümmerung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu einem nudum ius widerspricht daher auch krass dem Effektivitätsgebot des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Demzufolge gilt es diesen außerordentlichen Rechtsbehelf unabhängig von der Berichtigung des § 581 I ZPO durch eine Änderung der BGH-Rechtsprechung und Reform des § 339 StGB zu reaktivieren. Maßgeblich für die Prozesspartei in Zivilsachen ist dabei nicht, ob der Richter auch tatsächlich bestraft wird, sondern allein, ob sie den ihr von der ZPO bereitgestellten Rechtsbehelf auch effektiv gegen ihn einsetzen kann, dass also der Zugang zum Restitutionsverfahren für sie nicht unzumutbar erschwert wird. 3. Dass es der Gesetzgeber nicht fertigbrachte, mit der Anhörungsrüge einer angemessenen Lösung des Grundproblems der Vermeidung letztinstanzlicher 564 In den Fällen des § 580 Nr. 5 ZPO ist der judex a quo nach h.A. ausnahmsweise analog § 41 Nr. 6 ZPO von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen, Zöller (Fn. 16), § 41 Rn. 14. 565 So deutlich Steinberg, Aus der Zeit gefallen, FAZ vom 16.05.12, S. 8.
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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung
Fehlentscheidungen näher zu rücken, hat in erster Linie das BVerfG zu verantworten, dessen dahingehende Verlautbarungen unklar und widersprüchlich waren. Soweit es die Fachgerichte anfangs dazu aufrief, den Verletzungen der Verfahrensgrundrechte durch „eine grundrechtsorientierte Handhabung der Prozessvorschriften“ zu begegnen und dabei einfachgesetzlich nicht vorgesehene Rügemöglichkeiten zu entwickeln, war dies zu begrüßen, da zuerst einmal ein dringendes Bedürfnis der Rechtspraxis nach dem Einsatz außerordentlicher Rechtsbehelfe herausgefunden werden musste. Demgegenüber hieß es dann jedoch überraschend in der Kammerentscheidung NJW 2007, 2538, 2539, die Fachgerichte verstießen gegen die im Plenumsbeschluss vom 30.04.03 entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn sie außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts entwickelten, um damit tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bestehenden Rechtsmittelsystem zu schließen. Auch das wurde jedoch später zum Teil wieder zurückgenommen, indem das BVerfG die Gegenvorstellung betreffend durch Senatsbeschluss verkündete566, die fehlende Rechtsmittelklarheit als solche führe noch nicht zur Unzulässigkeit der außerordentlichen Rechtsbehelfe, ohne zugleich klarzustellen, was dann hinsichtlich der übrigen ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe gelten solle. Vor allem übermittelte das BVerfG dem Gesetzgeber keine hinreichend klar umsetzbaren Vorgaben für eine effiziente Implementierung der Anhörungsrüge, die seinen Vorstellungen von der Effektivität einer instanzinternen Selbstkontrolle entsprochen hätte. Keineswegs genügte dazu der allgemeine Hinweis, dass zum Schutz des rechtlichen Gehörs nur ein Rechtsbehelf in Betracht komme, durch den die fehlerhafte Verfahrenshandlung „effektiv beseitigt werden“ könne. Infolgedessen gab es eigentlich keinen trifftigen Grund, jenen Plenarbeschluss euphorisch als „Bruch“ eines Dogmas567 und als „geradezu revolutionären Schritt weg vom traditionellen Dogma des ,Kein Rechtsschutz gegen den Richter‘ hin zu einem umfassenden Rechtsschutzkonzept gegen judikatives Unrecht“ zu begrüßen568.
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BVerfG NJW 2009, 829, 830 Tz. 34, dazu Sangmeister, NJW 2009, 3053 f. So Voßkuhle (Fn. 247), wenn auch mit Einschränkungen. 568 So M. Breuer (Fn. 161), S. 55; dagegen zu Recht skeptisch Redeker, Verfahrensgrundrechte und Justizgewährungsanspruch, NJW 2003, 2956. 567
Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse I. bezogen auf die Anhörungsrüge: 1. Wenn die verfassungsrechtliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten der Prozessparteien verlangt und Grundrechtsschutz vom Gesetzgeber auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist, dann bedarf es nach Beendigung letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren zur Verhinderung sachlich fehlerhafter Endurteile unabhängig von der Verfassungsbeschwerde auch eines effektiven „Rechtsschutzes gegen den Richter“ durch Bereitstellung eines hierfür geeigneten außerordentlichen Rechtsbehelfs. Gerade weil diese Notwendigkeit auch vom BVerfG anerkannt werden musste, kam es schließlich zur Einführung der Anhörungsrüge. Dieser ultimative Rechtsschutz, der auch der Stärkung des primären Rechtsschutzes gegen judikatives Unrecht dienen soll, muss nicht durch Einräumung einer weiteren Instanz gewährleistet werden. Vielmehr genügt dazu, wie das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30.04.03 (BVerfGE 104, 395) grundsätzlich dargelegt hat, auch ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt werden soll. Diese justizinterne Selbstkontrolle ist jedoch nicht auf die Prüfung von Gehörsverletzungen zu beschränken, sondern muss zwingend auf die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte erstreckt werden. Nur dadurch würde das BVerfG nachhaltig entlastet werden. 2. Die Effektivität dieses Rechtsbehelfs ist allerdings nur dann sichergestellt, wenn der Gesetzgeber entsprechend dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG in jenem Plenarbeschluss dem Antragsteller auch das Recht einräumt, im Rahmen des Vorprüfungsverfahrens, ob ein Verfahrensgrundrecht auf entscheidungserhebliche Weise verletzt wurde (vgl. §§ 321a IV 1 und 590 II 1 ZPO), die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen, etwa so, wie dies in den Vorschriften der §§ 522 II S. 1 Nr. 4 und 585 mit 128 ZPO geregelt ist. Denn die Bereitschaft des judex a quo, sich ernsthaft mit der Verfahrensrüge auseinanderzusetzen, dürfte aufgrund des dadurch zwangsweise stattfindenden Dialogs zwischen Richter und Anwalt nachhaltig gefördert werden. Schließlich handelt es sich insoweit nicht mehr um ein zwischen den Parteien fortgeführtes kontradiktorisches Erkenntnisverfahren, sondern um ein Verfahren sui generis, das allein die Feststellung der Schlüssigkeit des behaupteten Verfahrensverstoßes zum Gegenstand hat. Durch eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe würde sich dieses Problem gar nicht erst stellen. Erst wenn deutlich erkennbar wird, dass es an der Bereitschaft des Richters fehlt, den Kerngehalt der Rüge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, sollte von der Möglichkeit der Richterablehnung Gebrauch gemacht werden. Dagegen sollte in den
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besonders groben Fällen der greifbaren Gesetzwidrigkeit, die bereits den Verdacht der Rechtsbeugung nahelegen, die Vorschrift des § 41 Nr. 6 ZPO analoge Anwendung finden, wonach der Richter wegen Vorbefassung mit der Sache von der weiteren Mitwirkung am Verfahren ausgeschlossen ist. 3. Die Anhörungsrüge erfüllt selbst die Mindestvoraussetzungen eines effektiven Rechtsschutzes gegen judikatives Unrecht in keiner Weise. Grund hierfür sind die erheblichen Fehler des Gesetzgebers bei der Implementierung des § 321a ZPO im Rahmen der ZPO-Reform 2002 (u. a. Einführung als Sonderrechtsbehelf außerhalb der Vorschriften des vierten Buches der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens, nur beschränkt auf Gehörsverletzungen, keine mündliche Verhandlung, systemwidrige Fristenregelung, unklares Verhältnis zu § 579 I Nr. 4 ZPO, nur kurze Begründung des Beschlusses). Insbesondere wurde unterlassen, auch für die nötige Akzeptanz des neu geschaffenen Abhilfeverfahrens bei der Richterschaft als zwingende Voraussetzung der Verhaltens- und Sanktionsgeltung des § 321a ZPO Sorge zu tragen. Folglich sollte diese Vorschrift mangels Durchsetzbarkeit wieder aufgehoben werden. Stattdessen sollte ähnlich wie von Braun vorgeschlagen in einem dritten Absatz des § 579 ZPO bestimmt werden, dass die Nichtigkeitsklage auch bei der entscheidungserheblichen Verletzung der in Art. 6 I EMRK anerkannten Verfahrensgrundrechte Anwendung findet. Darüber hinaus sollte als weiterer Wiederaufnahmegrund neben der Verletzung der Verfahrensgrundrechte auch die massive Verletzung der Entscheidungsbegründungspflicht anerkannt werden. Denn die rationale Begründung des Urteils ist notwendige Bedingung für deren rationale Kritik. Gerichtsentscheidungen sind nicht ausschließlich „Akte der schöpferischen Erkenntnis“ des Richters, die die Parteien schon aufgrund dessen Autorität und Entscheidungskompetenz hinzunehmen haben. Legitimation genießt vielmehr allein das auf Richtigkeit hin ausgerichtete begründete Entscheiden des Gerichts (Ulfrid Neumann). II. bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO: 1. Entgegen der leeren Behauptung des BVerfG, die Verfassung gewährleiste nur Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben, die noch dazu jahrzehntelang als „Dogma“ kaschiert wurde, enthält die ZPO in § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB eine unmissverständliche Regelung, wonach Rechtsschutz auch gegen den Richter gewährt wird, wenn auch nur in den Fällen der Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten. Die Rechtsbeugung ist jedoch kein Mythos, sondern durchaus Teil der Realität, so insbesondere in ihrer Ausprägung als Tatbestandsverfälschung. Von der de lege lata gebotenen Möglichkeit, rechtskräftig gewordene Endurteile anzufechten, kann von den Parteien nur deswegen nicht effektiv Gebrauch gemacht werden, weil die Vorschrift des § 339 StGB aufgrund ihrer verfassungswidrigen „Auslegung“ durch den BGH faktisch zu einer Rechtsnorm mit nur noch symbolischer Funktion erodiert ist und sich daher wegen Wegfalls ihrer Sanktionsgeltung nicht mehr zur Durchsetzung eignet. Somit handelt es sich bei der Behauptung des BVerfG, die Verfassung gewährleiste keinen Rechtsschutz gegen
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den Richter, tatsächlich gar nicht um eine aus dem Grundgesetz abgeleitete Doktrin, sondern nur um die Beschreibung der eigenen Rechtspraxis und damit um eine bloße Illustration der Verfahrenswirklichkeit. 2. Um die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu effektuieren und damit zu reaktivieren, reicht es nicht aus, die ohnehin „überholte“ Vorschrift des § 581 I ZPO mit Braun dahingehend zu berichtigen, dass Zulässigkeitsvoraussetzung nicht das Strafurteil, sondern die Straftat ist. Vielmehr bedarf es dazu außerdem einer grundlegenden Änderung der Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB durch Weglassung aller in den Tatbestand hineininterpretierten normativen Elemente wie insbesondere der reinen Fiktion, dass sich der Richter „in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“ haben muss. Außerdem ist der bedingte Vorsatz anzuerkennen und die überzogene Strafandrohung, die offenbar die besondere Verwerflichkeit der Tat betonen soll, der Schwere der Tat anzugleichen. Allerdings würde eine Herabstufung des Verbrechens zu einem (Quasi-)Alltagsdelikt der Rechtsfriedensfunktion der Rechtsprechung widersprechen und ist daher abzulehnen569. Außerdem könnte die Vorschrift durch das Anfügen von Regelbeispielen die Tatbegehung betreffend konkretisiert werden (z. B. grobe Verfälschung des Sachverhalts, evident falsche Rechtsanwendung, massive Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte). Bei den Bemühungen um eine Reform des § 339 StGB sollte aber auch darauf Bedacht genommen werden, dass dieses Delikt Tatbestandswirkung auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO entfaltet und das Opfer in erster Linie eine Wiederaufnahme des Zivilgerichtsverfahrens anstrebt. 3. Schließlich sollte beim Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts einer Rechtsbeugung ein subjektiv-öffentliches Recht des angeblichen Opfers dieser Straftat auf Strafjustizgewährung mit der Folge anerkannt werden, dass nach Stellung des Antrags gemäß § 172 I StPO das Klageerzwingungsverfahren ohne akribische Prüfung der Zulässigkeitserfordernisse zwingend vom Oberlandesgericht gegen die Staatsanwaltschaft durchzuführen ist. Denn wenn es sich so verhält, dass die Straftat von der Judikative selbst zu vertreten ist, hat der Gesetzgeber in diesem Fall das Verfahren so zu gestalten, dass dem Antragsteller die Prüfung der Frage, ob das Legalitätsprinzip von der Staatsanwaltschaft eingehalten wurde, uneingeschränkt garantiert wird. Andernfalls müsste angenommen werden, dass die Vorschrift des § 581 I ZPO auch noch in ihrer berichtigten Fassung eine unzumutbare und damit verfassungswidrige Zulassungsschranke enthält. III. bezogen auf die Artikel 328 I lit. a und 329 II schwZPO: Die Regelung in Art. 328 I lit. a schwZPO, wonach zur Sicherstellung der Garantie des rechtlichen Gehörs ein rechtskräftiger Entscheid erst 10 Jahre später endgültig unanfechtbar wird, wobei zum Nachweis der Tatsachen, die nicht vorgebracht werden konnten, auch Zeugen als Beweismittel benannt werden können, dürfte gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. 569
So zu Recht Fischer (Fn. 112), § 339 Rn. 15b.
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Der Rechtskraft ist mit Braun ein eigener Wert beizumessen, der zu einer gegenseitigen Abwägung der Interessen der obsiegenden und unterlegenen Prozesspartei zwingt. Demnach wäre einer Regelung wie derjenigen der §§ 580 Nr. 7 b, 586 I ZPO klar der Vorzug einzuräumen.
Anhang Beispiel einer letztinstanzlichen, auf evidenter Verletzung der Verfahrensgrundrechte der Klägerin beruhenden Kostenentscheidung des OLG München, die trotz Anhörungsrüge und Gegenvorstellung aufrechterhalten wurde (OLG München, Beschlüsse vom 12.03. u. 12.04.10, Gz: 27 W 53/10): I. Instanz, LG Augsburg (richtige Entscheidung, aber falsche Begründung) 1. Sachverhalt: Die Parteien sind Grundstücksnachbarinnen. Die Klägerin ist Eigentümerin des größeren unbebauten Flurstücks, die Beklagte Eigentümerin des kleineren, mit einem Eigenheim bebauten Flurstücks. Entlang beider Flurstücke führt eine öffentliche Straße bis hin zu einer verkehrsbelebten Kreuzung an der Grundstücksgrenze des Flurstücks der Beklagten. Eine Zufahrt von der Straße aus befindet sich lediglich auf dem Flurstück der Klägerin ca. 25 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernt. Diese wurde unstreitig vor über 20 Jahren vom inzwischen verstorbenen Ehemann der Beklagten ohne Genehmigung der Rechtsvorgängerinnen der Klägerin und unter Täuschung des Liegenschaftsamtes auf ihrem Flurstück errichtet. Da die Klägerin ihr Flurstück verkaufen will, fordert sie die Beklagte gemäß § 1004 I BGB auf, die weitere Nutzung der Zufahrt zu unterlassen. Dagegen wendet die Beklagte ein, dass ihr ein Notwegrecht zustehe und damit ein Duldungsanspruch i.S. des § 1004 II BGB. Der Sachgebietsleiter Tiefbau des Liegenschaftsamtes (v. R.) habe ihrem Sohn auf Anfrage telefonisch erklärt, dass sie angesichts des zunehmenden Verkehrs an der Kreuzung nicht mit der Zustimmung des Amtes zur Errichtung einer eigenen Zufahrt zu ihrem Flurstück rechnen könne. Diese Behauptung wird von der Klägerseite nach Rückfrage beim Amt als unwahr bestritten und Gegenbeweis angeboten. 2. Verfahrensablauf: Nach Klageerhebung zum LG Augsburg bestätigt der Leiter der Liegenschaftsabteilung K. dem Klägervertreter schriftlich, dass es sich bei dem Einfahrtstor um einen „Schwarzbau“ des Ehemanns der Beklagten handele und auf älteren Luftaufnahmen des Areals zu erkennen sei, dass sich auf deren Flurstück früher eine eigene Zufahrt befunden habe. Der Klägervertreter legt daraufhin die Bestätigung als öffentliche Urkunde i.S.d. § 418 I ZPO vor und verweist auf § 918 I BGB. In der mündlichen Verhandlung lehnt er einen Vergleichsvorschlag des Einzelrichters ab, gibt aber zu Protokoll, dass die weitere Nutzung der Zufahrt solange geduldet werde, bis die Beklagte eine eigene Zufahrt zu ihrem Flurstück errichtet habe, sofern dies unverzüglich erfolgen sollte. Dies sagt der Beklagtenvertreter zu. Darauf ordnet das Gericht das Ruhen des Verfahrens an. Nach dessen Wiederaufnahme auf Antrag der Klägerin wird Termin zur Beweisaufnahme anberaumt. Kurz
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davor teilt jedoch der Beklagtenvertreter mit, dass die Beklagte inzwischen eine eigene Zufahrt errichtet habe, und erklärt die Hauptsache für erledigt. Daraufhin wird der Termin abgesetzt und es ergeht Beschluss nach § 91a I ZPO, wonach die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. In den Gründen heißt es: „Zwar hält das Gericht an seiner im Termin vom 3.11 09 geäußerten Rechtsauffassung fest, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 03.11. 09 die Klage schon alleine deshalb nicht hätte erfolgreich sein können, weil zu diesem Zeitpunkt für die beklagte Partei ein Notwegrecht gemäß § 917 I BGB bestand …. Dennoch hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits in vollem Umfang zu tragen, weil zum Zeitpunkt der maßgeblichen Entscheidung sie sich auf dieses Notwegrecht nicht mehr berufen kann und sie selbst nach der klägerischen Aufforderung mit Schreiben vom 15.9.08, die Zufahrt zu ihrem Grundstück wieder auf eigenem Grundstück zu errichten, gehalten gewesen wäre, diese Errichtung einer Zufahrt auf dem eigenen Grundstück nachhaltig zu verfolgen.“ Die vom Klägervertreter vorgelegte Bestätigung des Leiters des Liegenschaftsamtes K. findet in dem Beschluss keine Erwähnung. II. Instanz, OLG M (Fehlentscheidung aufgrund schwerer Verfahrensmängel) 1. Kostenbeschwerde der Beklagten: Veranlasst durch diese Gründe erhebt der Beklagtenvertreter sofortige Beschwerde gem. § 91a II ZPO mit Hinweis darauf, dass das Erstgericht ein Notwegrecht der Beklagten bejaht habe, weshalb folgerichtig der Klägerin die Verfahrenskosten hätten auferlegt werden müssen. Dementgegen bezeichnet der Klägervertreter die Gründe der im Ergebnis richtigen Entscheidung zwar als reichlich verworren, dennoch seien der Beklagten die Kosten zurecht auferlegt worden, da sie sich durch das faktische Anerkenntnis des Unterlassungsanspruchs der Klägerin und den konkludenten Verzicht auf die falsche Zufahrt freiwillig in die Rolle der Unterlegenen begeben habe (Zöller, zu § 91a, Rn. 25). Außerdem verweist er auf die vom Erstgericht ignorierte Urkunde des Liegenschaftsamtes und rügt die grobe Verletzung des Art. 103 I GG. 2. Der Beschwerdebeschluss des OLG München: Mit Beschluss vom 12.03. 10 hebt das OLG die erstinstanzliche Entscheidung auf und beschließt, dass die Kosten des Verfahrens gemäß § 92 ZPO gegeneinander aufgehoben werden. Zur Begründung wird ausgeführt: „Die Behauptung der Beklagten, ihr Sohn habe bei einer Vorsprache bei Herrn v. R. (dem Sachgebietsleiter Tiefbau) die Auskunft erhalten, ,eine andere Grundstückseinfahrt als die (auf dem klägerischen Grundstück) bestehende komme im Hinblick auf das geplante Gewerbe- oder Industriegebiet nicht in Frage … Die Beklagte solle sich die Kosten für einen entsprechenden Bauantrag, der ohnehin keinen Erfolg haben könne, sparen‘, ist weder bestätigt noch widerlegt. (Tatsächlich hatte jedoch die Beklagte inzwischen eine eigene Zufahrt von der öffentlichen Straße aus zu ihrem Grundstück mit Zustimmung des Liegenschaftsamtes errichtet, weshalb die Auskunft des Herrn v. R. erwiesenermaßen falsch war, sofern sie überhaupt mit diesem Inhalt dem Sohn der Beklagten erteilt wurde, was völlig ungeklärt blieb!). Dass es sich um eine unverbindliche Auskunft einer unzuständigen
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Person handelt, ist ohne Beweiserhebung nicht belegt. Immerhin ist Herr v. R. Sachgebietsleiter des Tiefbauamtes und daher sicher nicht sachfremd. Nachdem das Ergebnis der Beweisaufnahme, die auch weitere strittige Fragen zum Gegenstand hatte, vor dem erledigenden Ereignis noch offen war, ist eine Aufhebung der Kosten angezeigt und entspricht der Prozesssituation.“ III. Anhörungsrügeverfahren (Rüge der Verfälschung des Sachverhalts) 1. Anhörungsrüge des Klägervertreters: Dieser rügt die grobe Verletzung des Art. 103 I GG auf zweifache Weise: Zum einen habe der Einzelrichter des OLG wider alle Beweisregeln die Behauptung der Beklagten als wahr unterstellt und entsprechend verwertet, ihr Sohn habe vom Sachgebietsleiter des Tiefbauamtes auf dessen Anfrage die Auskunft erhalten, dass sie nicht mit der Zustimmung des Liegenschaftsamtes zur Errichtung einer eigenen Zufahrt zu ihrem Grundstück rechnen könne, obwohl die Richtigkeit dieser Behauptung, die sogar nur auf der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen beruhte, vehement bestritten worden sei, und dies noch dazu, obwohl der Einzelrichter noch im Satz zuvor völlig richtig festgestellt habe, dass die dahingehende Behauptung der Beklagten wegen Nichtdurchführung der Beweisaufnahme „weder bestätigt noch widerlegt“ worden sei. Dies habe zu einer eklatanten Tatbestandsverfälschung geführt, der ein „elementarer Rechtsverstoß“ (BGH 47, 109) zugrundelag. Und zum anderen habe es der Einzelrichter grob widerrechtlich unterlassen, bei seiner Entscheidungsfindung die Bestätigung des Leiters des Liegenschaftsamtes K. zu berücksichtigen, obwohl es sich hierbei um eine Urkunde i.S. des § 418 I ZPO handelte, die im Rahmen der nach § 91a ZPO zu treffenden Kostenentscheidung zwingend hätte berücksichtigt werden müssen (Musielak, § 91a Rn. 22; Zöller, § 91a Rn. 26). 2. Beschluss des OLG München vom 12.04.10: Mit diesem Beschluss wird die Gehörsrüge der Klägerin zurückgewiesen, „da keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dargelegt wurde“. Die für eine Entscheidung nach § 91a ZPO maßgebliche Beweiswürdigung hätte vorausgesetzt, dass „sämtliche“ angebotenen Beweise erhoben wurden. Dass es dazu nicht gekommen sei, habe an der Prozesssituation gelegen. Da die Beweissituation offen sei, sei Kostenaufhebung angezeigt gewesen (Zöller, § 91a, Rn. 26). 3. Gegenvorstellung des Klägervertreters: Diese wurde ebenso wie die Gehörsrüge sowohl darauf gestützt, dass das OLG die angeblichen Auskünfte des – ohnehin für die Versagung der Zustimmung zur Errichtung von Grundstückszufahrten nicht zuständigen – Sachgebietsleiters Tiefbau schlichtweg fingiert und damit unzulässigerweise zum Gegenstand der Entscheidung gemacht habe, als auch darauf, dass es das Schreiben des – hierfür durchaus zuständigen – Leiters der Liegenschaften unberücksichtigt gelassen habe, obwohl bei der Ermessensentscheidung nach § 91a ZPO aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärung der Parteien selbst in der Beschwerdeinstanz nach h.A. noch neues Beweismaterial wie z. B. eine Urkunde berücksichtigt werden müsse. Wenn dem so sei, müsse dies erst
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recht für Urkunden gelten, die dem Gericht schon vor den Erledigungserklärungen vorgelegt wurden. 4. Beschluss des OLG München vom 05.05.10: Auch der Gegenvorstellung wird keine Folge geleistet. Da es aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen nicht mehr zur vollständigen Erhebung der Beweise gekommen sei, wäre das Beweisergebnis offen geblieben. Dem trage die Kostenaufhebung Rechnung (OLGR Koblenz 2007, 215 Rn. 7; OLG Oldenburg 2007, 35 Rn. 5). Das Vorliegen von Urkunden, die möglicherweise den Klagevortrag stützen, sei ungeeignet, eine abschließende Prognose über den Verfahrensausgang zu treffen, bevor alle Beweismittel ausgeschöpft seien. Auf die primär vorgetragene Rüge, dass das Gericht rein fingierte Tatsachen zum Gegenstand der Entscheidung gemacht habe, wurde wiederum ebenso wenig eingegangen wie auf die beachtliche Kritik Smids an der Rechtsprechung des OLG Koblenz und des OLG Oldenburg in ZZP 97, 278. Die Sache war damit abgeschlossen. Auf die Erhebung der Verfassungsbeschwerde wurde verzichtet. IV. Stellungnahme Die Behauptung der Beklagten, ihr habe ein Notwegrecht am klägerischen Flurstück zugestanden, war bereits vor Abgabe der übereinstimmenden Erledigungserklärungen mit Vorlage des Bestätigungsschreibens des Leiters der Liegenschaften K widerlegt worden. Davon abgesehen waren die Voraussetzungen des Ausschlusses des Notwegrechts nach § 918 I BGB unbestreitbar nachgewiesen worden. Die Beweissituation war daher zu keinem Zeitpunkt offen geblieben, weshalb der Klage schon in der mündlichen Verhandlung hätte stattgegeben werden können, ohne dass es dabei noch auf die Frage ankam, ob das Gericht auch nach Abgabe der Erledigungserklärungen berechtigt war, zur Klärung der Kostentragungspflicht gemäß § 91a ZPO eine Beweisaufnahme durchzuführen. Es war also überhaupt nicht nötig gewesen, durch eine Beweisaufnahme noch zu weiteren Erkenntnissen für die zu treffende Kostenentscheidung zu gelangen. Vielmehr hätte das Gericht aus dem bereits durch Urkundenvorlage geführten Gegenbeweis lediglich gem. § 91a ZPO die Schlussfolgerungen für die Kostentragungspflicht der Beklagten ziehen müssen. Das rechtliche Gehör der Klägerin wurde daher auf geradezu sträfliche Weise verletzt.
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Sachwortverzeichnis Abhilfeverfahren 14, 23, 59, 115, 156, 181 Äquivalenzgrundsatz 87 Akzeptanz 38, 41, 45, 109, 138, 185 Amtspflichten – nicht strafbewehrte 165 – strafbewehrte 93, 103, 110, 185 Amtspflichtverletzung 66, 75, 165 f Analogieschluss 84, 164 f Anhörungsrüge 14, 37, 48, 54, 137 f – als Sonderrechtsbehelf 65 f, 79ff (Fn. 243) – als Placeborechtsbehelf 127, 129, 142 – Begründetheitsprüfung 121 – Implementierung 17, 45, 115, 137ff, 182 Anhörungsrügengesetz 116 Anhörungsrügenverfahren 43, 113, 153 Auslegung – authentische 159 – berichtigende 67 f, 143, 157, 163 – gesetzesergänzende 132 – teleologische Extension 163, 165 Ausnahmerechtsbehelfe, ungeschriebene 76 f, 115 außerordentliche Beschwerde 22, 23 f, 52, 60, 153 außerordentliche Rechtsbehelfe 13, 76 – Entwicklung 14, 22, 31 (Fn. 76), 59 f – Legitimation 22, 23 f Begründung, s. Entscheidungsbegründung Begründungszwang 114, 129 (Fn. 412), 172, 175 beobachtende Teilnahme 25, 41 Beschlusszurückweisung 122ff Beseitigungsanspruch, ungeschriebener 48 (Fn. 124) Beweisanträge 107 Bindung an Gesetz und Recht, siehe Gesetzesbindung Bindungswirkung des § 318 ZPO 22, 64, 80 (Fn. 243) Bundesverfassungsgericht
– als Pannenhelfer 69, 80, 82 – als unkontrollierbarer Kontrolleur 50 – Effektivitätsvorbehalt 82, 141 f, 154, 156, 181, 184 – Verwerfungsmonopol 133 Charta der Grundrechte 85 Code de procédure civil 19 Corpus Juris Fredericianum 19, 21 CPO Reichscivilprozeßordnung 19, 21 Dienstaufsicht, richterliche 107 f Dürig’sches Dogma, 74, 81, siehe auch Rechtsschutz gegen den Richter Dunkelfeld, -ziffer 42, 45 f (Fn. 119), 161 Effektivität des Rechts, siehe Seinsgeltung Effektivität des Rechtsschutzes 15, 17, 27, 59, 72 f – Rechtsbefolgung 17, 45 (Fn. 115), 68 – verfassungsrechtliche Anforderungen 72 f – Wirksamkeitsfaktoren 38, 147, s. auch Akzeptanz Effektivitätsforschung 17, 43, 112 Effektivitätsgebot 32, 49, 70 f, 72, 86 f, 88, 93, 141, 182 Einmannstudien 40 Entkoppelung von Verbindlichkeit und Richtigkeit 14, 34 Entscheidung – Herstellung und Darstellung 42, 97ff – Idee der einzig richtigen 33 f Entscheidungsbegründung – als Kontrollgegenstand 98, 154, 170 f – Anforderungen 99, 171 – Erläuterungs- und Kontrollfunktion 173ff – kurze 114, 117, 129, 154 – letztinstanzlicher Urteile 172, 182 – Scheingründe 173 – Unvollständigkeit 114 Entscheidungsfindung, richterliche
Sachwortverzeichnis – Gesetzesbindung, siehe dort – gesetzliche Vorgaben 94ff Entscheidungsverhalten, richterliches – als Sanktionsgegenstand 104 – als soziale Praxis 25 – greifbar gesetzwidriges 15, 66 Erodierung der Norm 58, 111, 129, 164 EU-Kompatibilitätsprüfung 30 Europäische Menschenrechtskonvention 85ff, 169, 176, 185 Europäisierung des Zivilprozessrechts 85 f Evaluation 13, 15ff – des § 321a ZPO 58, 112 – des § 580 Nr. 5 ZPO 129ff – Durchführbarkeit 36, 39ff – Zielsetzung 38 f, 65 Evaluationspflicht 16 (Fn. 10), 26 Evaluationsstandards 39 f Evidenzformel des BGH 60, 63 faires Verfahren 70, 86 f, 102, 170, 172 Fehlerbegriff 61 Freirechtslehre 97 Gegenvorstellung 54, 65, 69, 76, 182 Gehörsverletzung 108ff, 114 f, 119, 121 – bewusste 113, 141, 149 – unbeabsichtigte 115, 139 Geltung der Rechtsnormen – Nichtgeltung 38, 67 – Sankionsgeltung 38, 47, 145 – Seinsgeltung, siehe dort – Verhaltensgeltung 38 Gerichtsverfahren, überlange 73 (Fn. 212) Gesetzesbindung 55, 63, 94ff, 96, 100 f, 130 Gesetzesevaluation, siehe Evaluation Gesetzesfolgenabschätzung 26,116, 149 Gesetzesfremdheitsformel des BGH 60, 63 Gesetzeslücke 29, 68ff, 101, 122, 151, 164 Gesetzeszweck 130 Gesetzgeber – Einschätzungsprärogative 102 – Interventionen, siehe dort – Nachbesserungspflicht 149 – Regelungsziele 68, 129, 148 Gesetzgebung – Alibi-Gesetzgebung 133, 142 – symbolische 131, 145, 181
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Gewaltenteilung 39, 55, 100 Gleichheitssatz 101, 106 greifbare Gesetzwidrigkeit 14, 43, 60 f, 103, 121, 163, 165 Grundrechtsschutz 90 – Doppelung 176 – durch Verfahren 57, 70, 184 – kohärenter 176 – primärer 56, 58, 182 – sekundärer 56, 182 Hypothese 17 – Konkretisierung 36 f – Überprüfung, Illustrierung 40 f, 112 – Wirkungshypothese 36 Imperativentheorie 70, 78 Implementierung 17, 45, 115, 137ff Instanzenzug 13, 53, 74ff, 128 instanzinterne Selbstkontrolle 40, 53 f, 59, 82, 118, 140, 155, 181 Interventionen des Gesetzgebers 16, 18 – ungeplanter Nebeneffekt 83 – Wirkungen 111ff judex a quo, Ausschluss 181 (Fn. 565) judikatives Unrecht 14, 106 – Fehlergruppen 28, 168 – Rechtsschutz, siehe dort – Staatshaftung 48, 56 – Wiedergutmachung, siehe Restitution Jurisprudenz – als Handlungswissenschaft 25 – als Wirklichkeitswissenschaft 27 – soziologische 136 Justiz – als stille Gewalt 25 – Statistik 42, 50 (Fn. 133) Justizgewährungsanspruch 38, 54, 71 f Justizreform, große 26 Kernbereichstheorie 107 f Klageberechtigung 106, 167 Klageerzwingungsverfahren 111, 134, 147, 157, 159, 162, 180 Kompetenz-Kompetenz der Justiz 52 Kontrollanspruch – sekundärer 77 f
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Sachwortverzeichnis
– substantieller 32, 56 Kontrolldefizit 51 Kontrolle, siehe Richterkontrolle Kontrollinstrument 60, 140 Kontrollintensität 24, 70 Krähenprinzip 63, 145 law in action, law in books 25, 148, 164 Legalitätsprinzip 66 f, 68, 162 Legitimation – der sachlich unrichtigen Entscheidung 19 f, 22, 103 – durch Verfahren 20, 32, 70 Lücken, siehe Gesetzeslücke Methodik – der empirischen Sozialforschung 40 – juristische 98, 173 f Missbrauch richterlicher Gewalt 21, 36, 54 f, 98, 104 Mobilisierung von Recht 43 (Fn. 107) mündliche Verhandlung 156, 184 NSM Neues Steuerungsmodell 31, 51 (Fn. 137) Nichtigkeitsklage 79 f, 138, 163, 168, 170, 176, 185 Nichtzulassungsbeschwerde 122ff, 129 non-liquet-Verbot 24 (Fn. 46), 142 Novenverbot 29 nudum jus 111, 164, siehe law in books Opferrechte-Richtlinie 162 (Fn. 499) Opferschutz 148, 150, 159 Opportunitätsprinzip 145 paper rule, Fn. 195, siehe law in books Parteivortrag, Kerngehalt 123, 139, 184 Plenarbeschluss E 107, 395: 44, 81 f, 102, 175, 182 Reaktionstheorie 37 (Fn. 91) Recht – Faktizität 44, 65, 67 – lebendes 45, 67, 112 siehe Seinsgeltung rechtliches Gehör – Aushöhlung 129 (Fn. 412), 154 – Rechtsprechung 118 f
Rechtsbegriff, soziologischer 68 (Fn. 194) Rechtsbeugung 47, 107, 110 – als Sonderdelikt 62 f, 161 – als unvertretbare Rechtsanwendung 34, 62 (Fn. 176), 130 f, 147 – als Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage, 51, 67, 150, 162 – Altes Testament 147 – Begriff 132 – des Kollegialgerichts 133 f – durch Verletzung formellen Rechts 66 (Fn. 189) – Entkriminalisierung 13, 111, 131 f – normative Elemente, s. Schweretheorie – Rechtsgut 46, 102, 161 – Reform des § 339 StGB 132, 158, 160 f – Strafanzeigen 37, 140 Rechtsbeugungstheorie, objektive 62, 160 Rechtsfolgeanordnung 105, 108 Rechtsfortbildung, richterliche 59, 101 Rechtskraft, materielle 35, 88 – Durchbrechung 19, 22, 31 f, 179 – Rechtskrafttheorien 30 – 36 Rechtsmissbrauch, s. Missbrauch Rechtsmittel 14 – ~beschränkung 24 (Fn. 43) – Hypertrophie der 24, 128 – ~klarheit 23, 83, 109 – ~system, s. Rechtsschutzsystem Rechtsnormen – partikulare 105 – Qualität 38 (Fn. 91), 58, 178 – sanktionslose 105 – Sanktionsnormen, siehe dort – symbolische 131, 145, 181 – unvollständige 105 – Verhaltensnormen, siehe dort Rechtspflege – innerstaatliche 46, 102 – Unparteilichkeit der 102, 110, 161 Rechtsschutz – ad infinitum 58, 75 – Begriff 48 f – defizite 80, 92 (Fn. 291), 109, 143, 180 – Effektivität, siehe dort – gegen den Richter 17, 44, 74 f, 81, 111 f, 118, 180 f – qualitativer 32 (Fn. 80), 33, 137, 152
Sachwortverzeichnis – ~system 23, 28, 49, 77, 182 Rechtsschutzgarantie – der EMRK/GR-Charta 85ff, 88 – der schweizerischen BV 90ff – des Grundgesetzes 70 f, 175 Rechtssoziologie – als die wiss. Lehre vom Recht 25 – Bedeutung 27 (Fn. 109) – empirische, s. Rechtstatsachenforschung – Erkenntnisziel 44 (Fn. 109) Rechtsstaatsprinzip 71, 77, 81, 169 Rechtsstab – als Kontrollorgan 95, 104 f, 110 – als Normadressat 51 – Begriff und Funktion 44 (Fn. 110) Rechtstatsachenforschung 39 f (Fn. 97) Rechtswissenschaft s. Jurisprudenz Restitution 48, 164 f – Ergebnisrestitution 35, 92, 143, 177 f – Verfahrensfehlerrestitution 35, 143, 178ff Restitutionsgründe, siehe Wiederaufnahmegründe Restitutionsklage 16, 37, 48, 51, 65 f, 93 Revision i.S. der schw. ZPO 14, 92 f, 176 Richter – ~ablehnung 53, 115, 140, 153ff – Abwehrverhalten 116, 118 f, 120 f – als la bouche de la loi 20, 95 – ~anklage 52 – Entmythologisierung 24 – Entscheidungsverhalten, siehe dort – in eigener Sache, 58, 139 siehe auch instanzinterne Selbstkontrolle – innere Unabhängigkeit 155 – strafgerichtliche Verurteilung 51, 69 f, 92, 144, 182 Richterkontrolle 21, 49ff, 52, 54 f, 95 richterliche Autorität 22, 34 richterliche Gewalt, s. Missbrauch richterliche Unabhängigkeit 21, 53, 55, 95 Richterprivileg 47 (Fn. 122) Richtervorlage 158 Richtigkeitsgewähr 19, 30ff, 140, 184 Sanktion – Begriff 95 f – Wirksamkeit 45 – Zweck 45
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Sanktionsandrohung 100, 133, 146, 160 Sanktionserwartung 47, 133 Sanktionsnormen 59, 94, 99 – als Verhaltensnormen 100 – sekundäre 104 f, 166 – ungeschriebene 108 Sanktionsverzicht 147 Schiedsurteilsverfahren 80 Schumann’sche Formel 101 Schutznormtheorie 87, 167 Schweretheorie des BGH 45, 61 f, 128 Seinsgeltung 17, 38, 44 f, 67, 129 Selektivität der Strafverfolgung, siehe Staatsanwaltschaft Sollensanordnung 24, 102, 166 Soll-Ist-Vergleich 49, 58 soziale Differenz 27 Staatsanwaltschaft 37, 58, 70, 111, 145 Stakeholder 41 Stimulus/Response-Schema 79 Strafjustizgewähr des Tatopfers 111, 157, 161 Subsumtion 20, 97 Tatbestandsverfälschung 121, 134, 185 Theorie der Beweissicherheit 35, 143, 178 Überraschungsentscheidung 113, 118 f, 141 Untermaßverbot 73 Urteilsverfassungsbeschwerde 50, 53, 76, 84 Vereinfachungsnovelle 80 Verfahren nach billigem Ermessen 69, 97 Verfahrensautonomie 88 Verfahrensfehler 64, 178, siehe auch Gehörsverletzung Verfahrensgrundrechte 60, 64 f – Konkurrenz der 136 – Schutz der 48, 182, 103 Verfahrenswirklichkeit 13, 58, 68 – Feststellung der 44, 57ff – Veränderung der, s. Interventionswirkung Verfassungsrecht, spezifisches 54, 106 Verfassungsbeschwerde, siehe Urteilsverfassungsbeschwerde Verhaltensnormen 37, 44, 59, 94, 99 – sanktionslose 108 – ungeschriebene 103, 166
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Sachwortverzeichnis
Vollzugsdefizit 43, 145 Vorabentscheidungsverfahren 89 f Vorrang des Gesetzes 47, 100 Vorrang des Unionsrechts 90 (Fn. 282), 176 Wiederaufnahmegründe 35, 67, 143 – Analogiefähigkeit 75, 79 f – Erweiterung der 127, 170 f Wiederaufnahmeklage, siehe Restitutionsklage Wiederaufnahmerecht 53 f, 75, 80, 138, 176 – der schweizerischen ZPO 92, 176ff – Rechtsfortbildung 31 (Fn. 76) – Reformbedürftigkeit 127, 159, 168
Wiederaufnahmeverfahren 43, 138 Willkürverbot 31, 61, 90 f, 95, 102 Wirkung des § 339 StGB – instrumentelle 58, 68, 75, 133, 146, 149 – symbolische 68, 75, 131, 133, 145 f Wirkungsforschung 15, 40 (Fn. 99), 68 f Zielerreichung 17, 57 Zivilprozessrechtsvergleichung 28 ZPO-Reform 2002: 26, 31, 51, 112, 115, 124, 156, 169 Zugangsschranken 14, 43, 88, 111, 134, 143, 162, 181 Zweck des Zivilprozesses 18, 20 f